Fremde unter einem Dach?: Die theologischen Fächerkulturen in enzyklopädischer Perspektive 3110310856, 9783110310856, 9783110310924

Die heterogenen Disziplinen der Theologie lassen sich nicht mehr durch einen dogmatischen Machtspruch auf ein thematisch

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Fremde unter einem Dach?: Die theologischen Fächerkulturen in enzyklopädischer Perspektive
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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung. Schleiermachers ›Kurze Darstellung des theologischen Studiums‹ als Impuls für das gegenwärtige enzyklopädische Gespräch
Das Alte Testament im Kreis der theologischen Fächer. Theologische Wahrnehmung altorientalischer und jüdischer Religion innerhalb des christlichen Kanons
Das Neue Testament im Kreis der theologischen Fächer. Neutestamentliche Wissenschaft als Beitrag zur Erschließung eines evangelischen Wirklichkeitsverständnisses
Die Kirchengeschichte im Kreis der theologischen Fächer. Historische Offenlegung der vielfältigen Möglichkeiten christlicher Religion
Die Dogmatik im Kreis der theologischen Fächer. Entfaltung der christlichen Lehre und Plausibilisierung ihres Wahrheitsanspruchs in Verantwortung vor der Gegenwart
Die Ethik im Kreis der theologischen Fächer. Hermeneutische Reflexion des geschichtlichen Wandels christlich-religiöser Lebensführung
Die Interkulturelle Theologie im Kreis der theologischen Fächer. Differenzsensible Wahrnehmung der weltweiten Christentümer
Die Praktische Theologie im Kreis der theologischen Fächer. Theorie der religiösen Praxis des Christentums
Schleiermachers Idee theologischer Bildung. Zur Aktualität der ›Kurzen Darstellung des theologischen Studiums‹
Die Autorin und die Autoren
Namensregister

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Fremde unter einem Dach?

Theologische Bibliothek Töpelmann

Herausgegeben von Bruce McCormack, Friederike Nüssel und Christoph Schwöbel

Band 163

Fremde unter einem Dach? Die theologischen Fächerkulturen in enzyklopädischer Perspektive

Herausgegeben von Markus Buntfuß und Martin Fritz

DE GRUYTER

ISBN 978-3-11-031085-6 e-ISBN 978-3-11-031092-4 ISSN 0563-4288 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort

VII

Markus Buntfuß/Martin Fritz Einleitung Schleiermachers ›Kurze Darstellung des theologischen Studiums‹ als Impuls 1 für das gegenwärtige enzyklopädische Gespräch Jürgen van Oorschot Das Alte Testament im Kreis der theologischen Fächer Theologische Wahrnehmung altorientalischer und jüdischer Religion 23 innerhalb des christlichen Kanons Stefan Alkier Das Neue Testament im Kreis der theologischen Fächer Neutestamentliche Wissenschaft als Beitrag zur Erschließung eines 43 evangelischen Wirklichkeitsverständnisses Volker Leppin Die Kirchengeschichte im Kreis der theologischen Fächer Historische Offenlegung der vielfältigen Möglichkeiten christlicher 69 Religion Christine Axt-Piscalar Die Dogmatik im Kreis der theologischen Fächer Entfaltung der christlichen Lehre und Plausibilisierung ihres 95 Wahrheitsanspruchs in Verantwortung vor der Gegenwart Reiner Anselm Die Ethik im Kreis der theologischen Fächer Hermeneutische Reflexion des geschichtlichen Wandels christlich-religiöser 115 Lebensführung Andreas Nehring Die Interkulturelle Theologie im Kreis der theologischen Fächer Differenzsensible Wahrnehmung der weltweiten Christentümer

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VI

Inhalt

Christian Albrecht Die Praktische Theologie im Kreis der theologischen Fächer Theorie der religiösen Praxis des Christentums 149 Martin Fritz Schleiermachers Idee theologischer Bildung Zur Aktualität der ›Kurzen Darstellung des theologischen Studiums‹ Die Autorin und die Autoren Namensregister

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Vorwort Im Frühjahr 1811, kurz nach der Eröffnung der dortigen Universität, erschien in Berlin ein Büchlein mit dem etwas umständlichen Titel ›Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen entworfen von F. Schleiermacher‹. Für den Gebrauch von Einführungsveranstaltungen für Theologiestudenten konzipiert, enthält die Schrift zugleich einen avancierten Entwurf zur theologischen Enzyklopädie, der sowohl in der Auffassung der Problematik neuzeitlicher Theologie als auch in der Erschließung von Lösungsperspektiven Maßstäbe gesetzt hat. Im Frühjahr 2012 fand mit geringfügiger Verspätung zum 200jährigen Erscheinungsjubiläum der Kurzen Darstellung an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau eine interdisziplinäre Arbeitstagung statt, die sich aufs Neue der enzyklopädischen Frage nach dem differenzierten Zusammenhang der unterschiedlichen theologischen Disziplinen widmete. Unter dem Motto „zusammen-denken. Die theologischen Fächerkulturen und das Ganze der Theologie“ versammelten sich am 17. und 18. Februar renommierte Vertreterinnen und Vertreter der theologischen Kerndisziplinen auf dem winterlichen Campus, um gemeinsam in Auseinandersetzung mit Schleiermachers Programmschrift und unter Berücksichtigung der veränderten Bedingungen seit deren Erscheinen Vorschläge zur Verhältnisbestimmung der theologischen Fächer zu diskutieren. Im Frühsommer 2014 erscheint, nun wieder in Berlin, mit der üblichen Verspätung ein Büchlein, das jene denkwürdigen Konsultationen dokumentiert – und damit auch das aktuelle enzyklopädische Potenzial und die Grenzen von Schleiermachers Theologieprogramm. Neben den ausgearbeiteten Tagungsvorträgen enthält der Band einen ergänzenden Beitrag aus der Perspektive der Ethik und, gleichsam anhangsweise, eine Untersuchung zur Bildungsidee der Kurzen Darstellung, die durch die lebendigen Tagungsdebatten in Neuendettelsau angeregt wurde. Wir danken der Autorin und den Autoren herzlich für ihre Gedankenarbeit, ferner der Herausgeberin und den Herausgebern der Reihe Theologische Bibliothek Töpelmann für die Aufnahme des Buches, Herrn stud. theol. Johannes Graßmann für die aufmerksame Korrekturlektüre und die Erstellung des Registers, Herrn Dr. Albrecht Döhnert von De Gruyter für die verlegerische Betreuung und der Leitung der Augustana-Hochschule für die Bereitstellung eines namhaften Druckkostenzuschusses. Für eine Besinnung auf die Klassiker ist es nie zu spät. Möge die Erinnerung an Schleiermachers Kurze Darstellung das enzyklopädische Gespräch auch weiterhin befeuern! Neuendettelsau, im Februar 2014

Markus Buntfuß Martin Fritz

Markus Buntfuß/Martin Fritz

Einleitung

Schleiermachers ›Kurze Darstellung des theologischen Studiums‹ als Impuls für das gegenwärtige enzyklopädische Gespräch

1 Das enzyklopädische Problem Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Theologie als akademisches Fach, dass sie die Selbstverständigung über den Zusammenhang ihrer Einzeldisziplinen – unter dem Titel ‚theologische Enzyklopädie‘ – zu einem eigenen Forschungsgegenstand erhebt. Bereits in diesem Sachverhalt deutet sich an, dass sich Wesen und Struktur der wissenschaftlichen Theologie nicht von selbst verstehen. Studierende der Theologie werden mit dieser Problematik schnell konfrontiert, auch ohne den einschlägigen Fachterminus zu kennen. Zwar ist das Studium durch die Differenzierung in die Fächer ‚Altes Testament‘, ‚Neues Testament‘, ‚Kirchengeschichte‘, ‚Systematische Theologie‘ und ‚Praktische Theologie‘ nebst dem jüngeren Fach ‚Religions- und Missionswissenschaft‘ äußerlich klar gegliedert. Die innere Einheit der vielfältigen Studien in diesen Fächern bleibt jedoch erst einmal verborgen. Denn was ein Seminar über die Literargeschichte der Abrahamerzählungen mit einem Seminar über „Reformation und Krieg“, mit einer Übung über Tillichs Theologie der bildenden Kunst oder einer Vorlesung über die Geschichte des evangelischen Pfarrberufs sachlich verbindet, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Immer wieder muss es Studierenden so vorkommen, als würden sie in unterschiedlichen Spezialdisziplinen ausgebildet, ohne dass sich die erworbenen Kenntnisse in eine Gesamtperspektive einfügen. Auch die mittlerweile obligatorische „Integrationsphase“ im Studium darf eher als Anzeige eines Problems gelten, denn als dessen Lösung. „Die Absolvierung des theologischen Studiums gleicht […] nicht selten einem Wechselbad, das keineswegs als therapeutisch empfunden wird und auch selten genug als Therapie zu wirken vermag.“¹ In der Forschung lässt sich das fragliche Strukturproblem gut an dem geläufigen Ideal der Interdisziplinarität greifen. Auf der einen Seite ist in den einzelnen theologischen Disziplinen die Bezugnahme auf außertheologische Nach-

 Eberhard Jüngel: Das Verhältnis der theologischen Disziplinen untereinander, in: Ders.: Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen, München 1972, 34– 59, 34.

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barfächer wissenschaftliche Normalität. Dies tritt in den exegetischen und historischen Fächern besonders augenfällig hervor. In der alttestamentlichen Exegese sind die ständigen Gesprächspartner vorwiegend Altorientalistik und Judaistik, im Neuen Testament Judaistik und klassische Altertumswissenschaft, die Kirchengeschichte wiederum befindet sich im ständigen Austausch mit der Allgemeinhistorie. Aber selbstverständlich leben auch Systematische und Praktische Theologie vom Kontakt mit anderen Geistes- bzw. Kulturwissenschaften, sei es der Philosophie, sei es den Human- und Sozialwissenschaften. Dem steht auf der anderen Seite die befremdliche Erfahrung gegenüber, dass sich die Kooperation mit Vertretern der jeweils anderen theologischen Fächer oft schwieriger gestaltet. Oft herrscht zwischen den Kolleginnen und Kollegen derselben Fakultät „ein völliges gegenseitiges Unverständnis“², was die Fragestellungen und Erträge der Forschung des und der je anderen angeht. Eine Expertin für neuere Pentateuchtheorien und ein Spezialist für zeitgenössische Trinitätskonzeptionen haben sich wissenschaftlich nicht viel zu sagen. In Zeiten einzelwissenschaftlicher Spezialisierung ist also nicht etwa die Ignoranz der Theologen und Theologinnen gegenüber der Forschung an außertheologischen Fakultäten das eigentliche Problem, sondern die drohende innertheologische Entfremdung zwischen den Teildisziplinen. Die moderne Ausdifferenzierung der Theologie hat die binnentheologische Interdisziplinarität zu einem wissenschaftlichen Desiderat werden lassen, auf das in unterschiedlicher Weise reagiert wird. Zum einen sind hier Projekte konkreter interdisziplinärer Kooperation zu nennen, wobei jeweils bestimmte Themen aus der Perspektive der verschiedenen theologischen Fächer beleuchtet werden, um in der Zusammenschau der Ergebnisse zu einem synoptischen Ertrag zu kommen.³ Tiefer setzen Unternehmungen an, die sich unmittelbar dem enzyklopädischen Thema der Einheit der Theologie in der Vielfalt ihrer Fächer widmen.⁴ Hier wird – auf dem Hintergrund der aktuellen Forschungswirklichkeit – in größerer Allgemeinheit die Frage gestellt, wie sich die einzelnen theologischen Disziplinen  Ebd.  Ein instruktives Beispiel aus neuester Zeit ist die wissenschaftliche Reihe Themen der Theologie (hg.v. Christian Albrecht, Volker Henning Drecoll, Hermut Löhr, Friederike Nüssel und Konrad Schmid), Tübingen 2011ff (Mohr Siebeck/UTB).  Aus der neueren Literatur seien genannt: Konrad Stock: Art. Theologie III. Enzyklopädisch, in: TRE 33 (2002), 323 – 343; Ingolf U. Dalferth: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung (THLZ.F 11/12), Leipzig 2004; Konrad Stock: Die Theorie der christlichen Gewißheit. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 2005; Ingolf U. Dalferth (Hg.): Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen (ThLZ.F 17), Leipzig 2006; Eve-Marie Becker/Doris Hiller (Hg.): Handbuch Evangelische Theologie. Ein enzyklopädischer Zugang, Tübingen 2006.

Einleitung

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grundsätzlich zuordnen lassen, damit sie zusammen ein sinnvolles Ganzes ausmachen. Denn nur, wenn sich die verschiedenen Fächer in eine gemeinsame Perspektive einzeichnen lassen, hat auch die konkrete Zusammenarbeit in der Forschung sowie die Integration der unterschiedlichen Inhalte im Studium Aussicht auf Erfolg – und die Theologie als akademische Disziplin Aussicht auf plausible Rechtfertigung ihres eigenständigen Fakultätsstatus’ an den Universitäten.

2 Theologische Enzyklopädie als Aufgabe moderner Theologie Die Geschichte der enzyklopädischen Klärungsversuche hebt im 18. Jahrhundert parallel zur modernen Ausdifferenzierung der theologischen Fächer an, die maßgeblich durch die Etablierung der historischen Methode innerhalb der Theologie vorangetrieben wurde.⁵ Vor allem verselbständigt sich in diesem Prozess die Bibelexegese, insofern sie sich nicht mehr als Teil oder als Zuarbeiterin der Dogmatik begreift. Die Dogmatik wiederum versteht es nicht mehr in erster Linie als ihre Aufgabe, die Ergebnisse der biblischen Theologie zu systematisieren. Die Problematik der besagten Ausdifferenzierung reflektiert sich unmittelbar in der enzyklopädischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Entstanden aus dem propädeutischen Bestreben, die Studenten der Gottesgelehrsamkeit zu einem fruchtbaren Studium anzuleiten, wird die ‚theologische Enzyklopädie‘ zu derjenigen Disziplin, in der man die fraglich gewordene Einheit der Theologie gewissermaßen zu restituieren sucht. Eine Vorlesung mit dem Titel ‚Theologische Enzyklopädie‘⁶ wird erstmals im Zuge der pietistischen Studienreform an der Universität Halle zum Zweck einer

 Vgl. dazu Michael Roth: Die Ausdifferenzierung der theologischen Wissenschaften als Problemstellung der evangelischen Theologie, in: Matthias Petzoldt (Hg.): Evangelische Fundamentaltheologie in der Diskussion, Leipzig 2004, 73 – 94; zur Geschichte generell Gert Hummel: Art. Enzyklopädie, theologische, in: TRE 9 (1982), 716 – 742; Leonhard Hell: Entstehung und Entfaltung der theologischen Enzyklopädie, Mainz 1999.  Das Wort ‚Enzyklopädie‘ leitet sich aus dem griechischen ἐνκύκλιος παιδεία ab. In der Antike wurde damit die Gesamtheit derjenigen Wissenschaften und Künste bezeichnet, die ein freier Mann erwerben musste, um als rundum gebildet zu gelten. Die Vorstellung umfassender Kenntnisse und Fähigkeiten bestimmt auch das spätere Bildungsideal des Humanismus. Der deutsche Begriff ‚Enzyklopädie‘ ist dementsprechend „eine Neuschöpfung humanistischer Gelehrsamkeit am Ausgang des 15. Jh.“ (G. Hummel: Art. Enzyklopädie [s. Anm. 5], 716).

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ersten Orientierung für die Studierenden der Theologie eingeführt⁷ und bleibt bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts eine Standardveranstaltung. Das Format verdankt sich somit einem pädagogisch-didaktischen Impuls zur einführenden Überschau, zur Elementarisierung und Konzentration auf das Wesentliche in der sich auffächernden Theologie. Neben einem Überblick über die Inhalte und Methoden der einzelnen Fächer bot diese Vorlesung überdies eine Vorstellung der einschlägigen Literatur, die sogenannte ‚Theologische Bücherkunde‘. Wie bereits angedeutet diente und dient theologische Enzyklopädie jedoch nicht nur pädagogisch-didaktischen Zwecken. Sie war und ist auch ein bevorzugter Ort innerhalb der Theologie, an dem diese in Gestalt theoretischer und methodischer Grundlagenreflexionen Rechenschaft über sich selbst ablegt. Theologische Enzyklopädie nimmt damit die förmliche Gestalt einer Theorie der Theologie an und bildet eine Metaebene zu den einzelnen Disziplinen. Sie ist dann auch nicht mehr eine (Teil‐)Aufgabe eines einzelnen Faches, etwa der Systematischen Theologie, sondern eine gemeinsame Aufgabe aller Fächer. Ausgehend von dieser Funktion der Selbstverständigung zielt theologische Enzyklopädie – drittens – auch auf die wissenschaftliche Rechtfertigung und Selbstdarstellung der Theologie nach außen. Denn nicht erst heute wird das Existenzrecht theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten infrage gestellt. Bereits zu Zeiten der Gründung der Berliner Universität wurde die Auflösung der Theologie als eigenständiger Disziplin von nicht wenig prominenter Seite gefordert.⁸ Angesichts ihrer neuzeitlichen Strittigkeit und ihrer kontrovers beurteilten Stellung an der Universität kommt enzyklopädischen Fragestellungen also eine eminent wissenschaftspolitische Bedeutung zu. Das drückt sich auch in den jüngsten Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen seitens des Wissenschaftsrates aus. Dort heißt es: „Die Fächer der theologischen Fakultäten sollten stärker als bisher auch in der Forschung ihren theologischen Zusammenhalt pflegen und sich zugleich noch mehr an fakultätsübergreifenden interdisziplinären Forschungen beteiligen.“⁹

 Vgl. Marianne Schröter: Enzyklopädie und Propädeutik in der Halleschen Tradition, in: PuN 35 (2009), 115 – 147.  Hier ist vor allem Johann Gottlieb Fichte zu nennen. Vgl. E. Jüngel: Das Verhältnis der theologischen Disziplinen (s. Anm. 1), 40 f.  Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, Köln 2010, 7.

Einleitung

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Die Forderung an die theologischen Disziplinen, „ihren theologischen Zusammenhalt zu pflegen“, setzt ein Einvernehmen in der Frage voraus, worin dieser „theologische Zusammenhalt“ sachlich überhaupt besteht. Dies wäre die Basis für eine weiterführende Verständigung darüber, wie gemeinsame Forschungsvorhaben zu konzipieren wären, in denen exegetische und historische, systematische und praktische Perspektiven nicht nur additiv aneinandergereiht, sondern konstruktiv aufeinander bezogen werden sollen. Auch im Interesse einer produktiven innertheologischen Interdisziplinarität – das wäre eine vierte Funktion theologischer Enzyklopädie – hat die Theologie die methodische Reflexion auf ihre neuzeitliche Ausdifferenzierung voranzutreiben und dabei ein wissenschaftstheoretisches Instrumentarium zur Beschreibung des bleibenden Ganzheitshorizontes ihrer unterschiedlichen Disziplinen auszubilden. Als erster hat Friedrich Schleiermacher die Aufgabe der theologischen Enzyklopädie in ihrer Mehrdimensionalität erkannt und darauf mit einem bis heute maßgeblichen Entwurf reagiert. Eine Erinnerung und Anknüpfung an diesen klassischen Vorschlag verspricht deshalb auch heute noch gewinnbringend zu sein, vorausgesetzt es gelingt, alle theologischen Fächer daran zu beteiligen.

3 Schleiermachers ›Kurze Darstellung‹ als epochaler enzyklopädischer Entwurf Schleiermacher publizierte die Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen 1811 zum ersten Mal als Grundlage für seine Vorlesung über theologische Enzyklopädie. In dieser Bearbeitung umfasste das Buch nur die Lehrsätze, die in der Vorlesung mündlich expliziert wurden.¹⁰ Für eine selbständige Lektüre ohne begleitende Vorlesung war das Werk damit ungeeignet, wodurch die zeitgenössische Rezeption stark behindert wurde. Die zweite Auflage von 1830 erschien deshalb mit erläuternden Zusätzen. Erst in dieser Fassung erlangte die Kurze Darstellung klassischen Rang. Gegenüber den damals geläufigen Anleitungen zum Studium der Theologie, die Schleiermacher unter anderem in Halle vorfand, ist sein Entwurf in mehrfacher Hinsicht ein Novum.¹¹ Schon der Zugriff auf das Thema weicht vom seinerzeit

 Auf welche Weise dies geschah, ist der überlieferten Vorlesungsnachschrift von David Friedrich Strauß zu entnehmen: Friedrich Schleiermacher: Theologische Enzyklopädie (1831/ 32). Nachschrift David Friedrich Strauß, hg.v. Walter Sachs (SchlA 4), Berlin/New York 1987.  Vgl. zu Kontext und Konzeption von Schleiermachers Kurzer Darstellung Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm (1986), in:

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Üblichen ab. Schleiermacher rückt nämlich – philosophischerseits vergleichbar mit Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817/ 30) – nicht die konkreten Stoffe, sondern die Struktur und den logischen Zusammenhang der theologischen Fächer in den Mittelpunkt. Der Vorteil dieses formalen Verfahrens besteht darin, dass die Orientierungsleistung vom jeweiligen Stand der fachwissenschaftlichen Erkenntnisse unabhängiger ist als in einer materialen Enzyklopädie. Sie wird daher von der Forschungsentwicklung nicht einfach überholt. Außerdem befähigt dieses Verfahren dazu, die Kenntnisse der einzelnen Disziplinen im Hinblick auf ihre Stellung und Funktion im Ganzen der Theologie kritisch zu beurteilen. Eine formale Enzyklopädie der Theologie zielt nicht darauf ab, die Akkumulation und Entwicklung des theologischen Fachwissens überblicksartig abzubilden, sondern dieses Fachwissen generell im Hinblick auf seine jeweilige Funktion für das Gesamte der Theologie zu qualifizieren. Auch für ein angemessenes Verständnis von Schleiermachers Programm und für seine gegenwärtige Bewertung ist es von daher entscheidend, dass man seine formal-strukturellen Überlegungen von seinen stärker zeitbedingten fachwissenschaftlichen Standpunkten unterscheidet. Als grundlegende Struktureinsicht der Kurzen Darstellung ragt heraus, dass sie erstmals einen integralen Begriff für die Einheit der Theologie in der Unterschiedenheit differenzierter Fächer aufbietet. Zwar sind auch schon die frühen enzyklopädischen Versuche des 18. Jahrhunderts als Reflexe der Verselbständigung unterschiedlicher theologischer Fächer zu lesen; aber sie dokumentieren diese Verselbständigung mehr, als dass sie dieselbe grundsätzlich reflektieren oder gar plausible Gesichtspunkte bleibender Einheit formulieren. Stattdessen begnügt man sich häufig mit einer bloß reihenden Aufzählung verschiedener Disziplinen, ohne auch nur die Abfolge im Einzelnen zu begründen.¹² Demgegenüber besteht die epochale Bedeutung der Kurzen Darstellung zunächst darin, die im Laufe des 18. Jahrhunderts heraufgeführte strukturelle Lage der Theologie klar beschrieben zu haben. „Es macht die Eigenart und den Rang von Schleiermachers enzyklopädischem Entwurf aus“ zu erfassen, „was das eigentliche Charakteristikum der Theologie in ihrer neuzeitlichen Entwicklung darstellt, nämlich ihre methodische und thematische Auffächerung, samt den damit gegebenen methodischen und thematischen Beziehungen zu außertheo-

Ders.: Schleiermacher-Studien (SchlA 16), hg.v. Hermann Fischer, Berlin/New York 1996, 285 – 305; jetzt auch Ulrich Barth: Schleiermachers Theorie der Theologie in der ‚Kurzen Darstellung des theologischen Studiums‘, in: Martin Ohst (Hg.): Schleiermacher-Handbuch (Abschnitt 3.5.2.3.1), Tübingen: Mohr Siebeck (in Vorbereitung). Wir danken Ulrich Barth herzlich für die Übersendung des Manuskripts.  Vgl. G. Hummel: Art. Enzyklopädie (s. Anm. 5), 730.

Einleitung

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logischen Disziplinen.“¹³ Schleiermacher begreift die moderne Theologie als ein Konglomerat von Fächern, die sachlich und methodisch jeweils ebenso gut verschiedenen anderen nicht-theologischen Wissenschaften zugerechnet werden könnten. Der einschlägige Schlüsselterminus für diese Einsicht ist der von Schelling entlehnte Begriff der „positiven Wissenschaft“: „Eine positive Wissenschaft überhaupt ist nämlich ein solcher Inbegriff wissenschaftlicher Elemente, welche ihre Zusammengehörigkeit nicht haben, als ob sie einen vermöge der Idee der Wissenschaft nothwendigen Bestandtheil der wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur sofern sie zur Lösung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind.“¹⁴

Nach dieser Bestimmung umfasst eine ‚positive Wissenschaft‘ das in sich womöglich durchaus disparate Wissen, das zur Ausübung bestimmter Professionen notwendig ist. Dabei ist vorwiegend an die Funktionsträger kultureller Schlüsselbereiche gedacht, die in Recht und Verwaltung, Gesundheitsfürsorge und Religionspflege dem Wohl von Staat und Gesellschaft dienen: an Juristen, Mediziner und eben – Theologen. Theologie unterscheidet sich damit von den ‚reinen‘ Wissenschaften, die sich allein aus der inneren Systematik des Wissens ergeben. Wie die beiden anderen ‚oberen Fakultäten‘ Medizin und Jurisprudenz ist sie nicht der Pflege eines bestimmten Gebietes im Kosmos des reinen Wissens gewidmet, sondern der Erfüllung einer bestimmten gesellschaftlichen Aufgabe. Während es der Medizin und der Jurisprudenz obliegt, die Gesundheit und das Recht zu erhalten und zu fördern, ist die Theologie auf die Erhaltung und Förderung von christlicher Frömmigkeit und Kirche ausgerichtet. Folglich setzt sie sich aus unterschiedlichen Elementen des Wissens zusammen, die sämtlich zu diesem Zweck, nämlich zum

 H.-J. Birkner: Schleiermachers „Kurze Darstellung“ (s. Anm. 11), 293.  Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2. Auflage (1830), in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. HansJoachim Birkner u. a., Bd. I/6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg.v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998 (Studienausgabe Berlin/New York 2002), 321– 446 (Sigle KD2), § 1 Zs., 326. In der enzyklopädischen Skizze in der Einleitung seiner Vorlesung zur Praktischen Theologie formuliert Schleiermacher, es sei der „Charakter“ der positiven Wissenschaften, „daß wissenschaftliche Elemente, die in der Behandlung nicht zusammengehören, zusammengestellt werden in Beziehung auf eine gewisse Praxis“ (Friedrich Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Bd. I/13: Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg.v. Jacob Frerichs, Berlin 1850 [Ndr. Berlin/New York 1983], 8). Ihrer eigentlichen sachlichen Herkunft nach handelt es sich bei den fraglichen „wissenschaftlichen Elementen“ also um „Elemente aus verschiedenen Wissenschaften“ (aaO. 9).

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Zweck der „Kirchenleitung“ bzw. des „Kirchenregiments“ dienlich sind. Entsprechend definiert § 5 der Kurzen Darstellung die christliche Theologie als den „Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Anwendung ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist“¹⁵. Und § 6 fügt hinzu: „Dieselben Kenntnisse, wenn sie ohne Beziehung auf das Kirchenregiment erworben und besessen werden, hören auf theologische zu sein, und fallen jede der Wissenschaft anheim, der sie ihrem Inhalte nach angehören.“¹⁶

Mit der Formel von der Theologie als „Inbegriff wissenschaftlicher Kenntnisse und Kunstregeln“, die „ihrem Inhalt nach“ anderen Wissenschaften zugehören, hat Schleiermacher die neuzeitliche Ausdifferenzierung der Theologie in heterogene Fächer mit unbestechlicher Nüchternheit aufgefasst. Zugleich hat er aber auch eine Konvergenzperspektive beschrieben, welche die entstandene Heterogenität übergreift – und die sie nicht nur als Resultat einer schicksalhaften Entwicklung, sondern als sachlich angemessen zu begreifen lehrt. So legitimiert Schleiermacher die Theologie mit der Einstufung als ‚positive Wissenschaft‘ als Einheit vielfältiger Fächer, und zwar durch die allen theologischen Einzelfächern zukommende Aufgabe, das Ihrige für die adäquate Ausbildung eines bestimmten Berufsstandes zu leisten, nämlich für die Ausbildung all derer, die zur Leitung der Kirche bestellt sind. Das heißt: Schleiermacher begründet die Zusammengehörigkeit der theologischen Fächer funktional. Die methodisch und inhaltlich verschiedenartigen wissenschaftlichen Bemühungen fügen sich zum Zusammenhang eines akademischen Faches, sofern sie allesamt, wenn auch in unterschiedlicher Weise, der Ausbildung einer bestimmten gesellschaftlichen Funktionselite und damit der Erfüllung einer bestimmten gesellschaftlichen Aufgabe dienen. Betrachtet man den „Complex“¹⁷ der theologischen Disziplinen im Horizont dieser funktionalen Begründungsstrategie, dann ist der theologische Fächerkanon grundsätzlich offen zu denken, so dass er auf wechselnde Erfordernisse flexibel reagieren kann. Das Ganze der Theologie in der Vielfalt ihrer Fächer ist dann weder nur das Ergebnis einer zufälligen historischen Entwicklung noch einer abstrakten systematischen Konstruktion, sondern einer immer neu zu vollziehenden und den gegenwärtigen Erfordernissen anzupassenden Zusammenstellung wissenschaftlicher Kenntnisse und methodischer Kompetenzen. Die bleibende Orientierungsleistung und Aktualität von Schleiermachers Programm wird

 KD2 § 5, 328.  KD2 § 6, ebd.  F. Schleiermacher: Praktische Theologie (s. Anm. 14), 6.

Einleitung

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insofern schon daran erkennbar, dass eine funktionale Auffassung der Theologie die vielgestaltige Landschaft von wissenschaftlichen Disziplinen an heutigen theologischen Fakultäten zu legitimieren vermag, wo neben den traditionellen Kernfächern inzwischen auch Biblische Archäologie, Feministische und Interkulturelle Theologie, Kirchliche Publizistik, Kirchenbau, Kirchenmusik und anderes mehr gelehrt wird. Will man Schleiermachers Auffassung von Einheit und Differenz innerhalb der neuzeitlichen Theologie gerecht werden, ist nun freilich noch eine zweifache Präzisierung vorzunehmen – und damit ein häufig anzutreffendes doppeltes Missverständnis des funktionalen Theologiebegriffs der Kurzen Darstellung auszuräumen. Zum einen wird der konstitutive Bezug aller theologischen Disziplinen auf die „Kirchenleitung“ oftmals zu eng verstanden. Schleiermacher war keineswegs ein Befürworter einer auf institutionelle und organisatorische Belange reduzierten Amts- und Ausbildungstheologie. Dies wird deutlich, wenn man zur Interpretation seines Begriffs von Kirche und Kirchenleitung die Formel von der „Beziehung auf das Christenthum“ hinzuzieht, die in § 1 als gemeinschaftlicher Horizont der ‚positiven Wissenschaft‘ Theologie und ihrer „Theile“ angeführt wird.¹⁸ Wie bereits verschiedentlich hervorgehoben wurde,¹⁹ dient in der Kurzen Darstellung der Begriff des Christentums als organisierendes Zentrum für den Zusammenhang und die Aufgabenteilung der theologischen Disziplinen. Wesen und Aufgabe der Theologie im Ganzen sowie ihrer unterschiedlichen Fächer bestimmen sich nach ihrem spezifischen Beitrag zur Bewahrung und Förderung der christlichen „Glaubenweise“, die in der „Kirche“ notwendig eine sichtbare Gemeinschaftsform annimmt. Nimmt man die Schlüsselstellung des Christentumsbegriffs in der Kurzen Darstellung wahr, ergibt sich noch eine zweite Korrektur am gängigen Bild von Schleiermachers Theologiekonzeption.²⁰ Mit dem Ausweis des gemeinsamen praktischen Zwecks hat es nämlich keineswegs sein Bewenden, sondern ihm  KD2 § 1, 325.  Vgl. Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion (BHTh 96), Tübingen 1996, 100 f; U. Barth: Schleiermachers Theorie der Theologie (s. Anm. 11), Ms. S. 5.  Vgl. zum Folgenden neben den beiden zuletzt genannten Texten Martin Laube: Das Wesen des Christentums als Organisationsprinzip der Theologie. Überlegungen im Anschluss an die ‚Kurze Darstellung‘ Friedrich Schleiermachers, in: Andreas Kubik/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Die Unübersichtlichkeit des theologischen Studiums heute. Eine Debatte im Horizont von Schleiermachers theologischer Enzyklopädie (Beiträge zur rationalen Theologie 21), Frankfurt/ M. 2013, 29 – 54, 34 u. 45; Martin Fritz: Schleiermachers Idee theologischer Bildung. Zur Aktualität der ‚Kurzen Darstellung des theologischen Studiums‘ (in diesem Band), § 2.

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korrespondiert der Ausweis eines übergreifenden Themas der theologischen Fächer. Der gemeinsamen praktischen entspricht eine gemeinsame theoretische Aufgabe, der funktionalen eine materiale Bestimmung der Theologie. Dieser übergreifende wissenschaftliche Inhalt wird nicht dogmatisch gesetzt, etwa im Rückgriff auf die überkommene Definition der Theologie als „Wissenschaft von Gott“, sondern aus der Zweckbestimmung der Kirchenleitung oder Christentumsförderung hergeleitet. Das Axiom dieser Herleitung lässt sich auf die einfache Formel bringen: Wer das Christentum in einem kirchenleitenden Beruf professionell fördern will, braucht einen Begriff von dem, „was das Christenthum sey“²¹. Es geht darum in allen theologischen Disziplinen um die Erarbeitung eines „Wissen[s] um das Christenthum“²², das die angehende Kirchenleitungsperson – den Theologiestudenten – in den Stand setzt, seinen künftigen Aufgaben gerecht zu werden. In Abwandlung von § 5 lässt sich somit definieren: Die christliche Theologie ist der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Disziplinen, die ein solches Wissen um das Christentum bereitstellen, ohne dessen Besitz und Gebrauch eine professionelle Leitung der christlichen Kirche und mithin eine erfolgreiche Förderung des Christentums nicht möglich ist. Von dieser erweiterten Theologiedefinition aus muss auch Schleiermachers eigener Vorschlag zur Fächeraufteilung verstanden werden, der sich durch einige Besonderheiten auszeichnet. Die Kurze Darstellung teilt nämlich die theologischen Disziplinen in drei statt in die üblichen vier Bereiche ein und ersetzt die Gliederung in exegetische, kirchengeschichtliche, dogmatische (oder systematische) und praktische Theologie durch eine Dreiteilung in Philosophische, Historische und Praktische Theologie, wobei sowohl die exegetische als auch die dogmatische zur Historischen Theologie gerechnet werden. Diese Neuaufteilung ergibt sich konsequent aus der angesprochenen „funktional-materialen Doppelbestimmung der Theologie“²³. In der Praktischen Theologie ist der Zweck der gesamten Theologie, Kirche und Christentum zu fördern, unmittelbar einschlägig, insofern hier ein ‚technisches‘ Wissen um das Christentum zu erwerben ist: Die Praktische Theologie hat „Kunstregeln“ aufzustellen, die helfen, durch besonnene Einwirkung auf die Kirche das Christentum „immer reiner“²⁴ zu verwirklichen. Um ihre Aufgabe erfüllen zu können, muss allerdings Klarheit darüber herrschen, was das Christentum ist bzw. wie es von

 F. Schleiermacher: Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 10), 35.  KD2 § 10, 330.  M. Laube: Wesen des Christentums (s. Anm. 20), 45.  Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 1. Auflage (1811), in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, Bd. I/6: Universitätsschriften (s. Anm. 14), 243 – 315, 7 (Orig.pag.) § 28, 253; vgl. KD2 § 263.

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Missverständnissen oder Missbräuchen gereinigt und in seinen maßgeblichen Zügen möglichst lebendig realisiert werden kann. Neben dem technischen Wissen bedarf es daher zur Erfüllung der allgemeinen Zweckbestimmung der Theologie eines historischen Wissens um das Christentum, dem die Historische Theologie gewidmet ist. Sie zielt auf die Erhebung eines profilierten Bildes vom Christentum in seiner geschichtlichen Entwicklung, die in der Exegese des Alten und Neuen Testaments, in Kirchengeschichte und Dogmatik von den Anfängen bis zur Gegenwart verfolgt und dargestellt wird.Wegen Umfang und Bedeutung dieser Aufgabe gilt Schleiermacher die Historische Theologie als „der eigentliche Körper des theologischen Studiums“²⁵. Indem sie das fragliche Bild des Christentums nicht allgemein konstruiert, sondern aus dem geschichtlichen Prozess gewinnt, dient sie zunächst der kritischen Relativierung absoluter Geltungsansprüche etwa in Gestalt einer biblischen, konfessionellen oder kirchlichen Theologie. Denn die Historische Theologie schärft das Bewusstsein für die Tatsache, dass sowohl die biblischen als auch die unterschiedlichen kirchlichen Lehrbegriffe immer nur für einen bestimmten zeitlichen Moment und eine bestimmte religionskulturelle Formation Gültigkeit beanspruchen können. Sie führt insofern zu dem negativen Ergebnis, dass es im Christentum keinen zeitlos gültigen Lehrbestand gibt. In diesem Sinne fordert Schleiermacher neben der „orthodoxen“ Kontinuität eine „heterodoxe“ Flexibilität bei der je aktuellen Bestimmung des Christlichen.²⁶ In der Historischen Theologie wird das in und für eine Zeit Gültige mit seiner Genese verbunden und als das aus der geschichtlichen Entwicklung hervorgegangene momentan Geltende verstanden. Auf diese Weise wird die jeweilige Gegenwart als Teil der Geschichte des Christentums historisiert und die Vergangenheit im Blick auf ihre Geltungsdimension für die Gegenwart des Christentums evaluiert. Aber das Christentum fällt nicht nur nicht mit einer seiner geschichtlichen Phasen (Urchristentum, Reformation, Moderne) zusammen, es resultiert auch weder einfach aus der Summe seines geschichtlichen Verlaufs noch zerfällt es in eine bloße Masse von historisch dokumentierten Materialien. Nicht nur die abstrakt-dogmatische, sondern auch die historisch-empirische Methode ist von daher für sich genommen ungeeignet zur Gewinnung eines aussagekräftigen Bildes vom Christentum. Dazu bedarf es vielmehr eines gesonderten Verfahrens in Gestalt der Philosophischen Theologie. Realiter ist diese allerdings weniger ein selbständiges Fach im eigentlichen Sinn als eine Funktion und Aufgabe aller theologischen Fächer und jedes einzelnen Theologen.

 KD2 § 28, 336.  Vgl. KD2 § 203, 398.

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Methodisch erfüllt die Philosophische Theologie ihre Aufgabe durch ein kritisches Gegeneinanderhalten des geschichtlichen gegebenen Stoffs mit bestimmten philosophischen Begriffen.²⁷ Schleiermacher präzisiert dieses Verfahren durch einen doppelten Schritt, der der klassischen Definitionslogik gehorcht. Im methodischen Anschluss an die Philosophische Ethik ist zunächst die Aufstellung und Entfaltung eines allgemeinen Religionsbegriffs zu bewerkstelligen, der das genus proximum aller religiösen Erfahrungen, Artikulationen und Gemeinschaftsformen erfasst. Dem hat im Anschluss an die „Religionsphilosophie“ (d. h. an eine Theorie der Religionsgeschichte) die Aufstellung und Entfaltung einer vergleichenden Christentumstheorie zu folgen, welche die differentia specifica der christlich religiösen Erfahrungen, Artikulationen und Gemeinschaftsformen beschreibt. Heute würde man von einer kulturphilosophischen und einer religionswissenschaftlichen Bestimmung des Christentums als einer eigentümlichen Erscheinungsform des religiösen Lebens sprechen. Dieser in der Philosophischen Theologie konturierte Begriff vom Christentum findet in der Historischen Theologie seine geschichtliche Explikation, Anreicherung und Bewährung, um daraufhin der Praktischen Theologie als Horizont für die Auffindung von technischen Regeln für die Kirchenleitung zu dienen – und darüber hinaus als Leitbild für die Kirchenleitungspraxis selbst. Der praktische Zweck der Theologie, die Befähigung künftiger Kirchenleitungsverantwortlicher zur Förderung von Kirche und Christentum, fordert nach Schleiermachers Auffassung als gemeinsames Thema der theologischen Fächer eine theoretische und eine praktische Theorie des Christentums. Um eine besonnene und adäquate Kirchenleitungspraxis zu gewährleisten, muss die Theologie im Zusammenspiel von philosophischen und historischen Reflexionen einen konturierten Begriff von dem gewinnen, was das Christentum ist – Schleiermacher spricht von der Bestimmung des „Wesens“ des Christentums – und sie muss in unmittelbar praxisbezogenen Reflexionen Regeln aufstellen, mit deren Hilfe sich dieses Wesentliche in der jeweiligen Gegenwart möglichst vollkommen verwirklichen lässt. Dies ist, in aller Kürze formuliert, die Essenz von Schleiermachers funktional begründetem und material konkretisiertem Theologiekonzept, das mit seiner doppelten Einheitsperspektive nicht nur der modernen Ausdifferenzierung der Theologie gerecht zu werden sucht, sondern damit zugleich auf eine Reform der theologischen Ausbildung dringt. Die Leistung der skizzierten Konzeption besteht darin, die einführend-didaktische und die selbstreflexiv-wissenschaftstheoretische Dimension der theologischen Enzyklopädie mit einem programmatischen Verständnis von Theologie

 Vgl. KD2 § 32.

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als Christentumstheorie zu verbinden. Außerdem hat Schleiermacher mit seiner funktionalen Bestimmung der Theologie die heute weithin akzeptierte Zielbestimmung des Theologiestudiums als Erwerb von theologischer Kompetenz methodisch begründet. Dabei lässt sich seine Auffassung von Theologie wohlgemerkt nicht auf den Erwerb von pastoralem Berufswissen reduzieren, da es vielmehr auf einem umfassenden Begriff theologischer Bildung basiert. Die Verbindung dieser unterschiedlichen Dimensionen zu einem komplexen und hoch verdichteten Text macht die Kurze Darstellung zu einem Klassiker der theologischen Enzyklopädie mit bleibendem Orientierungswert.

4 Zur Aktualität von Schleiermachers Theologiekonzeption – Impulse und Anfragen Der epochale Rang von Schleiermachers Kurzer Darstellung und ihr Erschließungspotential für die gegenwärtige theologische Selbstverständigung werden von aktuellen Entwürfen zur theologischen Enzyklopädie auch dann anerkannt, wenn sie in ihren eigenen Anliegen von Schleiermacher abweichen. Das gilt vor allem für die programmatische Skizze von Ingolf U. Dalferth.²⁸ Sie ist als „Neuentwurf theologischer Enzyklopädie“ charakterisiert worden, „der Schleiermachers Erbe mit Grundeinsichten der Wort-Gottes-Theologie zu verbinden sucht“.²⁹ Wie gut eine solche Verbindung gelingen kann und wie überzeugend das Ergebnis ist, soll hier nicht im Einzelnen diskutiert werden. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass Dalferth an Schleiermachers Begriff der ‚positiven Wissenschaft‘ anknüpft,

 Ingolf U. Dalferth: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung (THLZ.F 11/12), Leipzig 2004. Diese Programmskizze legen in irgendeiner Weise auch die meisten Beiträge des von Dalferth herausgegebenen Bandes zur theologischen Enzyklopädie zugrunde: I. U. Dalferth (Hg.): Eine Wissenschaft oder viele? (s. Anm. 4).  Ulrich H. J. Körtner: Rez., in: ThLZ 130 (2005), 452 f, 452. Ähnliches ließe sich auch von dem Handbuch Evangelische Theologie (hg.v. Eve-Marie Becker/Doris Hiller; s. Anm. 4) sagen. Schleiermachers Position wird darin referiert, um daraufhin inhaltlich im Wesentlichen gegenläufige Aussagen zu treffen. Als integraler Einheitspunkt der theologischen Disziplinen gilt hier nicht etwa ihr Bezug auf die kirchliche Praxis, sondern eine offenbarungstheologische Setzung: „das Ereignis des Wortes Gottes“ (aaO. 18). Im Hinblick auf die naheliegende Frage, wie eine solch erklärtermaßen unwissenschaftliche Prämisse die differenzierte Einheit einer Wissenschaft begründen soll, wird an anderer Stelle noch einmal pointiert die „kirchliche Positionalität“ (Martin Hailer: Warum Theologie ein positionelles Geschäft ist – Vorüberlegung zur Systematischen Theologie, in: aaO. 215 – 219, 215) der Theologie ins Feld geführt und mit der These gerechtfertigt, „dass im Grunde jede Wissenschaft auf gesellschaftliche Gruppierungen bezogen ist und deren Interessen zum Ausdruck bringt“ (216).

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indem er die Theologie als Interpretation der christlichen „Kommunikation des Evangeliums“³⁰ konzipiert. Theologie insgesamt ist für Dalferth keine theoretische, sondern eine praktische Wissenschaft, genauer: eine wissenschaftliche „Interpretationspraxis“. Noch näher scheint Dalferth Schleiermachers funktionalem Theologieverständnis mit der These zu kommen, die „christliche Glaubenspraxis“ sei der „Ausgangs- und Zielpunkt evangelischer Theologie“³¹ – man assoziiert unwillkürlich die Wendung von § 1 der Kurzen Darstellung, wonach sich die Theologie in ihren verschiedenen „Theilen“ durch ihre „gemeinsame Beziehung“ auf die christliche „Glaubensweise“ konstituiert. Andererseits kritisiert Dalferth an diesem funktionalen Theologiebegriff, dass er „von einer zu einlinigen Zuordnung von ‚theologischer Theorie‘ und ‚kirchlicher Praxis‘ ausgeht“.³² Die Ergebnisse und Einsichten der wissenschaftlichen Theologie würden in der Kurzen Darstellung nur als „Anwendungswissen“³³ für kirchenleitendes Handeln relevant. Dadurch werde „die Differenz zwischen den Aufgaben der theologischen Ausbildung und denen der Theologie als kritischer wissenschaftlicher Reflexionsarbeit verwischt. Beide hängen zusammen, sind aber nicht dasselbe.“³⁴ Offenbar fürchtet Dalferth bei Schleiermacher um die Eigenständigkeit des wissenschaftlich-theologischen Denkens gegenüber den konkreten Ausbildungsanforderungen der kirchlichen Praxis.³⁵ Diese Furcht relativiert sich jedoch, wenn man die Korrelation von funktionaler und materialer Seite in Schleiermachers Theologiebegriff zur Kenntnis nimmt. Die Theologie wird in ihren unterschiedlichen Dimensionen von Schleiermacher in hochdifferenzierter Weise zwischen den Polen der Wissenschaft auf der einen und der christlich-religiösen Praxis auf der anderen Seite ausgespannt. Der Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis ist also deutlich komplexer gefasst, als es bei Dalferth den Anschein hat. Zum einen ist die praktische Zweckbestimmung der Theologie – wie bereits ausgeführt – als Bewahrung und Förderung des Christentums und der Kirche als dessen Sozialgestalt in einem weiteren Sinne zu verstehen und darf weder mit kirchlichen Belangen im engeren Sinn noch mit der Ausbildung des pastoralen Nachwuchses schlichtweg gleichgesetzt werden. Zum anderen ist bei Schleiermacher die doppelte inhaltliche Aufgabe der Theologie, einen Begriff vom Wesen des Christentums und Kunstregeln zu dessen Gestaltung auszubilden, nur

 I. U. Dalferth: Evangelische Theologie (s. Anm. 28), passim.  AaO. 176.  AaO. 36.  Ebd.  Ebd. (Hvhg. i. O.).  Ähnlich bereits Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt/M. 1973, 254 f.

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im Falle der Letzteren, d. h. in der Praktischen Theologie, unmittelbar, ansonsten lediglich mittelbar auf die Christentumspraxis ausgerichtet. Das heißt: Die „wissenschaftlichen Kenntnisse“, die im Zusammenspiel zwischen Historischer und Philosophischer Theologie zu erwerben sind, haben bei Schleiermacher gegenüber dem Praxiszweck der Theologie insgesamt eine größere sachliche Unabhängigkeit, als dies von Dalferth und anderen wahrgenommen wird. Dalferths Einwand müsste demnach dahingehend präzisiert werden, dass die sachlich eigenständige Theoriearbeit der nicht-praktischen Fächer am Verständnis des Christentums bei Schleiermacher womöglich trotzdem eine zu enge oder zu einseitige Begründung erfährt, indem sie durch den funktionalen Bezug auf die Praxis von Kirche und Christentum – sie hat der theologischen Bildung künftiger Kirchenleitungsverantwortlicher zu dienen – motiviert wird. In diesem Sinne hat etwa Emanuel Hirsch gegen Schleiermacher geltend gemacht, die Theologie entspringe ursprünglich nicht praktischen Obliegenheiten, sondern einem dem christlichen Glauben selbst eignenden Streben nach reflexiver Selbstdurchklärung.³⁶ Zumindest die Rechtfertigung der Theologie als akademisches Fach an staatlichen Universitäten wird sich mit diesem Argument freilich ebenso wenig überzeugend durchführen lassen wie mit Schleiermachers Auskunft, die Theologie verdanke ihren Status als eigenständige akademische Disziplin der Aufgabe, die kirchliche Funktionselite für ihre Leitungsaufgaben auszubilden.³⁷ Denn in Zeiten der Pluralisierung, Privatisierung und Individualisierung der Religion

 Vgl. Andreas Kubik: Wahrheitserkenntnis oder Frömmigkeitshermeneutik? Schleiermachers Theologiebegriff und seine enzyklopädische Relevanz angesichts der Kritik Emanuel Hirschs, in: Ders./M. Murrmann-Kahl: Unübersichtlichkeit (s. Anm. 20), 129 – 148, 135 f. Vgl. auch Heinrich Scholz: Einleitung, in: Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hg.v. Heinrich Scholz, Leipzig 1910 (Ndr. Darmstadt 1993), XII–XXXVII: „Wissenschaft ist methodisch geschulter Wahrheitssinn, sonst nichts“ (XXIX), und wissenschaftliche Theologie folglich „ein Postulat des nach methodischer Selbstbesinnung im weitesten Umfange strebenden Glaubens“ (XXXII).  Vgl. W. Pannenberg: Wissenschaftstheorie (s. Anm. 35), 250, der gegen Schleiermacher einwendet, „daß es keineswegs die Kirche für sich ist, die die Stellung der Theologie an der Universität begründet, und daß deren Fortdauer vielmehr davon abhängen muß, ob Gesellschaft und Staat auch fernerhin Gründe haben, eine in Schleiermachers Sinne konzipierte Theologie als Universitätsfakultät beizubehalten“. Demgegenüber billigt Eilert Herms Schleiermachers ‚ethisch‘, also fundamentalanthropologisch und gesellschaftstheoretisch fundiertem Konzept universitärer Theologie eine nach wie vor ungebrochene Evidenz zu: Theologie an der Universität. Die Gegenwartsrelevanz von Schleiermachers Programm, in: Wilhelm Gräb/Notger Slenczka (Hg.): Universität – Theologie – Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher (Arbeiten zur Systematischen Theologie 4), Leipzig 2011, 24– 50.

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dürften beide Rechenschaftsversuche nicht selten mit dem Verweis auf die Existenz kirchlicher Hochschulen hinterfragt werden.³⁸ Bei der Suche nach alternativen Begründungswegen wird man auf eine funktionale Argumentation nicht gänzlich verzichten können. Es wäre dabei aber Schleiermachers Bestimmung des praktischen Zwecks der ‚positiven Wissenschaft‘ Theologie zu modifizieren. In Anknüpfung an das Schleiermacher’sche Verständnis der Theologie als Fächerkonglomerat zur Erforschung des Christentums ist zu fragen, ob es nicht auch noch andere gute Gründe gibt, warum unsere Gesellschaft ein Interesse an der Erforschung von Geschichte und „Wesen“ des Christentums haben sollte, als die Förderung der christlichen „Glaubensweise“³⁹. Denn soll nicht der labile gesellschaftliche und politische Konsens über den universitären Status der Theologie weiter unterhöhlt werden, bleibt deren wissenschaftliche Reflexion an ein Interesse der Gesellschaft am Christentum zurückgebunden, ohne welches für diese spezifische Form akademischer Arbeit weder Aufmerksamkeit noch finanzielle Mittel erwartet werden können. Nur als ‚positive Wissenschaft‘ hat die Theologie an der Universität eine Zukunft: als Wissenschaft, deren Bedeutung sich einem geschichtlich-konkreten, gesellschaftlichen Anliegen verdankt, das im Fall der gelebten christlichen Religion nicht auf die institutionellen und organisatorischen Belange der verfassten Konfessionskirchen reduziert werden darf. Lässt sich ein entsprechendes gesellschaftliches Interesse am Christentum begreiflich machen, wird zugleich auch der akademische Status der Theologie durch den gemeinsamen Bezug ihrer Einzeldisziplinen auf das Christentum als gesellschafts- und kulturprägende Macht plausibel.⁴⁰ Die gesellschaftliche Relevanz von Christentum und Theologie besonders zur Geltung gebracht und die diesbezügliche Relevanz von Schleiermachers Theologiebegriff nicht nur klar gesehen, sondern für seinen eigenen enzyklopädischen Entwurf auch produktiv genutzt zu haben, ist das Verdienst von Konrad Stock.⁴¹ Stock würdigt die Kurze Darstellung als „das einschneidende Ereignis“⁴² in der Geschichte der Theologischen Enzyklopädie und betont, dass sie „– sofern sie nur

 Daran wird deutlich, dass die enzyklopädische Fragestellung mit dem Verhältnis von akademischer Theologie und Glauben bzw. Kirche auch die nicht immer spannungsfreie Beziehung von kirchlichen Hochschulen und staatlichen Fakultäten berührt.  KD2 § 1, 325.  Entsprechende Überlegungen finden sich übrigens auch bei Hirsch: Vgl. A. Kubik: Wahrheitserkenntnis oder Frömmigkeitshermeneutik (s. Anm. 36), 137.  Konrad Stock: Die Theorie der christlichen Gewißheit. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 2005; vgl. Ders.: Art. Theologie III. (s. Anm. 4).  AaO. 3.

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im Kontext seines gesamten Werks gelesen wird – noch immer eine unüberholte Genauigkeit und Aktualität besitzt“⁴³. Seine eigenen Bemühungen versteht Stock deshalb dezidiert „als eine Fortschreibung seines [sc. Schleiermachers; M.B./M.F.] Projekts der Theologie als positiver Wissenschaft“⁴⁴. In der Durchführung orientiert er sich auch durchgängig an Schleiermachers Konzeption und versucht, deren Intentionen für die gegenwärtige Selbstbesinnung der Theologie fruchtbar zu machen, wobei er neben der Kurzen Darstellung auch die Philosophische Ethik, die Dialektik sowie die christliche Glaubens- und Sittenlehre mit einbezieht und auf diese Weise spezifische Interpretationsschwerpunkte setzt. So stellt Stock heraus, dass „die praktische Aufgabe des kirchenleitenden Handelns“ etwa im Beruf des Religionslehrers oder der Pfarrerin „stets auf die umfassende praktische Aufgabe des christlichen Lebens im Alltag der Gesellschaft bezogen ist“.⁴⁵ Stärker als in Schleiermachers Kurzer Darstellung erkennbar wird die allgemeingesellschaftliche Funktion des Christlichen hervorgehoben und damit eine bedenkenswerte Erweiterung von Schleiermachers funktionalem Theologiebegriff vorgenommen. Eine weitergehende Modifikation zeigt sich indessen am titelgebenden Schlüsselterminus. Als „Theorie der christlichen Gewißheit“⁴⁶ schreibt Stock der Theologie insgesamt eine apologetische Funktion zu, insofern sie im Horizont des gegenwärtigen Wahrheitsbewusstseins „in ihren verschiedenen Disziplinen die notwendigen und die hinreichenden Bedingungen einer selbständigen Ausübung des christlichen Glaubens zu erkennen“⁴⁷ und damit den Glauben intellektuell zu bewähren habe. Mithilfe einer religionsphilosophischen bzw. fundamentaltheologisch-anthropologischen Grundlegung weist der Systematische Theologe allen Fächern eine bestimmte Ausrichtung zu, etwa indem er der Exegetischen Theologie ein Verständnis der Bibel „als kanonische Darstellung der urchristlichen Wahrheitsgewißheit“⁴⁸ empfiehlt. Hinzu kommt eine dogmatische Festlegung, insofern für die Theologie insgesamt ein Gegenstand normativ definiert wird. Es ist dies „die gegenwartsbestimmende Macht des Evangeliums von Jesus als dem fleischgewordenen Wort des Schöpfers und von seiner Herrlichkeit, wie es der Gewißheit des Glaubens durch Gottes Geist erschlossen ist“⁴⁹. Offensichtlich liegt Stock mit dieser inhaltlichen Definition des theologischen Generalthemas nicht auf der Linie von Schleiermachers phänomenologisch-de-

      

AaO. VII. Ebd. AaO. 5. Ebd. Ebd. AaO. 129. AaO. 6.

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skriptivem Programm einer Dogmatik bzw. Glaubenslehre, die den gegenwärtigen Zustand der christlichen Vorstellungen und Lehraussagen reflektiert, sondern votiert – wie übrigens auch Dalferth –⁵⁰ für ein strikt geltungstheoretisches Konzept. Ob dies wirklich überzeugender und unter modernen Bedingungen erschwinglich ist, muss hier nicht beurteilt werden. Worauf es in diesem Zusammenhang ankommt, sind die Konsequenzen für die Grundanlage der theologischen Enzyklopädie. Indem es Schleiermachers Einordnung der Dogmatik in die Reihe der historischen Fächer zurücknimmt, impliziert ein solch normatives Dogmatikverständnis zwangsläufig den Anspruch, dass der Dogmatiker mehr oder weniger deutlich vorzugeben hat, welche Themen in den anderen Fächern als wesentlich anzusehen sind – was in der Regel von den jeweiligen Fachvertretern und -vertreterinnen nicht allzu dankbar aufgenommen wird und sachlich entsprechend folgenlos bleibt. Dies gilt vermutlich auch dann, wenn sich jener normative Anspruch in der weicheren Formulierung artikuliert, der Dogmatiker gebe lediglich enzyklopädische „Orientierung“⁵¹. Der von Stock wie von Dalferth vorgebrachte dogmatische Orientierungsanspruch bringt ein Spezifikum von Schleiermachers Enzyklopädie zum Leuchten, das in Zeiten einer verschärften Ausdifferenzierung der Theologie in heterogene Fächerkulturen besondere Aufmerksamkeit verdient. So problematisch nämlich die in der Kurzen Darstellung für die Philosophische und die Historische Theologie avisierte Aufgabenstellung sein mag, eine Wesensbestimmung des Christentums vorzunehmen, so darf doch eine Pointe dieser Aufgabenstellung nicht übersehen werden: Sie impliziert, dass die enzyklopädische Verhältnisbestimmung der theologischen Fächer selbst auf eine vorlaufende Fixierung dessen, was das wesentlich Christliche sei, gerade verzichtet.Wenn es dem philosophischen und dem historischen Teil der Theologie obliegt, gemeinsam einen überzeugenden Begriff vom Wesen des Christentums auszuarbeiten, dann kann ein solcher Begriff nicht vorab schon festgeschrieben werden, sondern bleibt – bis zur Lösung bzw. bis zu je und je vorläufigen Lösungen der fraglichen Aufgabe – ein Forschungsdesiderat. Mehr noch: Die gemeinschaftliche Suche nach einem überzeugenden Verständnis des Christlichen wird zur zentralen wissenschaftlichen Angelegenheit der theologischen Fächer. Zieht man die aktuellen Enzyklopädien in Betracht, tritt die Differenz zu Schleiermacher in dieser konzeptionellen Schlüsselfrage deutlich zutage. Denn

 Vgl. I. U. Dalferth: Evangelische Theologie (s. Anm. 28), 196 f.  Vgl. Ingolf U. Dalferth: Vorwort, in: Ders. (Hg.): Eine Wissenschaft oder viele? (s. Anm. 4), 5 f, 6: „[E]nzyklopädische Entwürfe haben bestenfalls die Funktion eines Orientierungsvorschlags.“ Vgl. auch die Untertitel der beiden oben besprochenen Entwürfe: „Eine systematische Orientierung“ (Dalferth); „Eine enzyklopädische Orientierung“ (Stock).

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die genannten Entwürfe zeichnet gerade aus, dass sie ihrer enzyklopädischen Orientierung dogmatische Begriffe vom Wesen des Christentums bereits zugrundelegen – und ihre enzyklopädische Orientierungskraft steht und fällt folglich mit der Frage, ob man jene Begriffe teilt oder nicht. Dass mit seiner oben zitierten Definition des theologischen Gegenstandes eine Wesensbestimmung des Christentums verbunden ist, gibt Konrad Stock an der fraglichen Stelle selbst zu erkennen.⁵² Christentum konstituiert sich demnach eben durch „die gegenwartsbestimmende Macht des Evangeliums von Jesus als dem fleischgewordenen Wort des Schöpfers und von seiner Herrlichkeit, wie es der Gewißheit des Glaubens durch Gottes Geist erschlossen ist“⁵³. Ausgehend von dieser traditionellen dogmatischen Bestimmung wird daraufhin der „Gegenstand der Theologie“ weiter entfaltet (Kap. III) und die „Gliederung der Theologie“ erläutert (Kap. IV). Ähnlich kündigt sich bei Dalferth die dogmatische Wesensbestimmung des Christlichen mit dem Topos der „Kommunikation des Evangeliums“ an. Vollends deutlich wird der christentumstheoretische Stellenwert des Evangeliumsbegriffs in Dalferths Darlegung dessen, was wahrhaft evangelische Theologie zu nennen sei: „Evangelisch im hier vertretenen Sinn ist eine Theologie, die das, was ‚christlich‘ heißt, durch den normativen Bezug auf das Evangelium von Jesus Christus bestimmt: Hier entscheidet sich, was ‚christlich‘ genannt zu werden verdient und was nicht“⁵⁴ – hier bestimmt sich also, so lässt sich paraphrasieren, das wesenhaft Christliche. Selbiges wird in diesem Sinne wenig später näher bestimmt als „die Orientierung am Evangelium von Jesus Christus, also an der biblisch bezeugten Heilsbotschaft von Gottes rettender, befreiender, zurecht bringender Zuwendung zu den Menschen in ihrer selbst nicht zu überwindenden Gottferne“⁵⁵. Diese und ähnliche Reformulierungen der reformatorischen Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen sind jedem protestantischen Theologen so geläufig, dass man die damit gesetzten Vorentscheidungen über das Wesen des Christentums kaum noch wahrnimmt. Es ist mit diesem Hinweis auch gar nicht gesagt,

 Vgl. aaO. 6 die Parallelsetzung von „Gegenstand der Theologie“ und „Wesen des Christentums“.  Ebd.  I. U. Dalferth: Evangelische Theologie (s. Anm. 28), 18.  AaO. 19. Dalferth bezeichnet diese Wesensbestimmung als „Selbstverständlichkeit“, die in seinem enzyklopädischen Programm „vorausgesetzt“ ist, obgleich sie „längst alles andere als selbstverständlich geworden ist“ (aaO. 202). Schleiermacher hat aus der von Dalferth beklagten Nicht-Selbstverständlichkeit die Konsequenz gezogen, sich in der Theologiekonzeption der Voraussetzung von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten zu enthalten.

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dass solche Wesensbestimmungen inadäquat seien; nur dass mit den betreffenden Wendungen überhaupt Wesensbestimmungen (und zwar im Sinne traditioneller protestantischer Dogmatik) vorgenommen werden, soll ins Bewusstsein gehoben werden. Folgt man Schleiermachers Einschätzung, das Signum insbesondere des modernen Protestantismus sei gerade die Pluralität der Auffassungen vom Wesen des Christentums,⁵⁶ dürfte die Reichweite eines enzyklopädischen Verfahrens, das von solchen dogmatischen Vorentscheidungen ausgeht, recht begrenzt sein. Demgegenüber scheint der Vorzug von Schleiermachers Vorgehen gerade darin zu bestehen, dass mit der mehrfach gestuften Aufgabenbeschreibung der Theologie (funktionale/materiale Zielbestimmung, ‚technisches‘/‚historisches‘ Wissen um das Christentum) die verschiedenen Fächer und Fächergruppen zu einer Zusammenarbeit angewiesen werden, deren maßgebliche Ergebnisse nicht von vornherein normativ determiniert, sondern tatsächlich dem offenen wissenschaftlichen Diskurs anheimgestellt werden. Dass dabei der Dogmatiker als gleichberechtigter Partner und nicht mehr als Vormund der anderen Fachvertreter auftritt, wird diesem Diskurs im Übrigen kaum schaden – und wird jenem womöglich bei den Kolleginnen und Kollegen sogar neues Gehör verschaffen. Es wäre also aufs Neue zu erwägen, ob Schleiermachers Aufgabenbeschreibung, der Frage nach Wesen und Eigenart des Christentums nachzugehen, nicht doch ein geeigneter gemeinsamer Nenner für die unterschiedlichen sachlichen Fragestellungen in den theologischen Fächern sein könnte⁵⁷ und damit „eine Klammer […], welche die Disziplinen zusammenhält“⁵⁸ (vgl. den Beitrag von Christine Axt-Piscalar). Dabei wären freilich die historiographischen Vorbehalte gegenüber einer essentialistischen Wesensbestimmung des Christentums zu berücksichtigen und die Vielfalt der „weltweiten Christentümer“ in Geschichte und Gegenwart mit einzubeziehen (vgl. die Beiträge von Volker Leppin und Andreas Nehring). Und es wäre an jener gemeinsamen Fragestellung neben der Ethik auch die Praktische Theologie zu beteiligen, die sich selbst kaum noch auf Angele Vgl. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube, nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 1. Auflage (1821/22), 2 Bde., hg.v. Hermann Peiter, Berlin/New York 1984 (Studienausgabe, seitengleich mit: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Berlin/New York 1980ff, Bde. I/7.1 und 7.2), § 5, Bd. 1, 18: „In der gegenwärtigen Lage des Christenthums dürfen wir nicht als allgemein eingestanden voraus sezen, was in den frommen Erregungen der Christenheit das wesentliche sei oder nicht.“  In diese Richtung votiert bereits Friederike Nüssel: Die Aufgabe der Dogmatik im Zusammenhang der Theologie, in: I. U. Dalferth (Hg.): Eine Wissenschaft oder viele? (s. Anm. 4), 77– 98.  Rolf Schäfer: Welchen Sinn hat es, nach einem Wesen des Christentums zu suchen?, in: ZThK 65 (1968), 329 – 347, 344.

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genheiten der Kirchenleitungstechnik reduzieren lässt, sondern sich zugleich als genuiner Teil einer hermeneutischen Kulturwissenschaft des Christentums versteht (vgl. die Beiträge von Reiner Anselm und Christian Albrecht). Sollten die Reserven gegenüber dem Ziel der Wesensbestimmung überwiegen,⁵⁹ wäre darüber nachzudenken, welche sachliche Frage den theologischen Fächerkulturen stattdessen – über die bloße praktische Funktion hinaus, aber unabhängig von dogmatischen Vorentscheidungen – eine Aussicht auf einen gemeinschaftlichen inhaltlichen Horizont eröffnen könnte. In der theologischen Forschung würde das klare Bewusstsein einer gemeinsamen offenen Frage dann auch das Bedürfnis nach interdisziplinärem Austausch zwischen den verschiedenen Fachwelten neu beleben. Und für das Studium der Theologie böte es einen integrativen Fluchtpunkt für Wissensbestände, die ansonsten wie Inseln nebeneinander liegen. Trotz der lohnenden Neubesinnung auf die konzeptionellen Stärken der Schleiermacher’schen Programmschrift dürfen natürlich auch die problematischen Aspekte seines Entwurfs weder übersehen noch geleugnet werden. Dazu zählen die veränderte Einschätzung der Bedeutung des Alten Testaments für das Christentum und die fachwissenschaftliche Problematisierung des sog. Urchristentums (vgl. die Beiträge von Jürgen van Oorschot und Stefan Alkier). Darüber hinaus ist es vor allem auch die von den faktischen Gegebenheiten abweichende Fächereinteilung und -zuordnung, die die theoretische und praktische Leistungsfähigkeit von Schleiermachers Entwurf nicht nur erhellt, sondern auch verstellt haben. Als problematisch muss heute außerdem die zugrunde liegende Organismus-Vorstellung beurteilt werden, wonach die theologischen Fächer wie Glieder oder Organe das Ganze der Theologie bilden, was wiederum zu starken Rollen- und Funktionszuschreibungen an die jeweiligen Disziplinen führt und letztlich die Frage nach der Deutungshoheit über das Ganze der Theologie aufwirft – wovon bereits die Rede war. Demgegenüber wird man heute nicht mehr von Fächern im Sinne von separaten Wissensbereichen oder Aufgaben, sondern von ausdifferenzierten Fächerkulturen auszugehen haben, die nicht nur gegenstandsbezogen, aufgabenbezogen oder methodenbezogen arbeiten, sondern eigene Diskurse mit eigenen Terminologien, Rationalitätsstilen, Anrainerdisziplinen und nationalen Besonderheiten ausgebildet haben. Im Gegenzug lassen sich historische, hermeneutische, systematische und praktische Zugänge nicht mehr säuberlich auf einzelne Fächer verteilen, sondern bestimmen die Arbeit von mehreren oder sogar allen Disziplinen. An die Stelle der Organismus-Vorstellung

 Zur Auseinandersetzung mit diesen Reserven und zum methodischen Aufklärungspotenzial des Gedankens der Wesensbestimmung s. M. Fritz: Schleiermachers Idee theologischer Bildung (s. Anm. 20; in diesem Band), Teil II.

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ist deshalb heute die Metapher der ‚Perspektive‘ getreten. Jedes Fach stellt demnach aus einem bestimmten Gesichtspunkt das Ganze der Theologie dar bzw. jedes Fach vertritt eine theologische Gesamtperspektive. Nimmt man diese veränderten Bedingungen wahr und ernst, dann liegt die Aufgabe einer künftigen theologischen Enzyklopädie weniger in der akkuraten fachlichen Einteilung und funktionalen Zuordnung der theologischen Disziplinen, sondern in der Moderation unterschiedlicher theologischer Gesamtperspektiven bei gleichzeitiger Beteiligung und Integration des jeweiligen Selbstverständnisses der Fächer und ihrer Fächerkulturen. Ob dabei Schleiermachers epochaler Entwurf in seinen Grundentscheidungen ein wegweisendes Vorbild zu sein vermag, darüber kann nur das freie Gespräch zwischen gleichberechtigten Beteiligten entscheiden. Anregungen für die enzyklopädische Selbstbesinnung der Theologie bietet die Kurze Darstellung jedenfalls auch nach 200 Jahren reichlich.

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Das Alte Testament im Kreis der theologischen Fächer Theologische Wahrnehmung altorientalischer und jüdischer Religion innerhalb des christlichen Kanons Die Aufgabe dieses Beitrages ist ebenso klar wie herausfordernd: Das Selbstverständnis des eigenen Faches soll mit seinen propria dargestellt und zugleich die eigene Sicht auf das Gesamte der Theologie dargelegt werden, und dies auf dem Hintergrund der Schleiermacher’schen Kurzen Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen aus dem Jahr 1811 bzw. 1830 (2. Auflage). Gestellt wurde diese Aufgabe nun weder einem Spezialisten für die Theologie Schleiermachers oder die Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts noch einem Fundamentaltheologen. Eher könnte man den Verfasser dieser Zeilen als Fachmann für alttestamentliche und frühjüdische Weisheit ansprechen – übrigens ein Bereich des Alten Testaments, den Schleiermacher für seine vergleichsweise wenigen, nämlich knapp 40 von insgesamt 400 überlieferten, alttestamentlichen Predigten und Predigtentwürfe häufig als Textgrundlage wählte.¹ Indessen versteht der Verfasser seine philologische und historische Arbeit als alttestamentlicher Exeget immer auch als eine theologische und sieht sich daher gezwungen, zugleich darüber Auskunft zu geben, was ihn vom Altorientalisten oder Semitisten unterscheidet und was ihn mit einem Homiletiker oder Konfessionskundler verbindet. Die Überlegungen folgen einem Dreischritt: Zunächst stelle ich kurz Schleiermachers Position zum Alten Testament dar, ohne dabei auf die historische Tiefendimension eingehen zu können. Danach beziehe ich aus der heutigen Sicht der alttestamentlichen Wissenschaft dazu Position. Im dritten Abschnitt trage ich Elemente zu einer „Anschauung von dem Zusammenhang der verschiedenen Theile der Theologie“² bei.

 Mit dieser Predigtpraxis bzw. Nicht-Praxis hat sich ein ehemaliger Alttestamentler der Augustana-Hochschule Neuendettelsau in einem ausgesprochen instruktiven Aufsatz auseinandergesetzt: Horst Dietrich Preuss: Vom Verlust des Alten Testaments und seinen Folgen (dargestellt anhand der Theologie und Predigt F. D. Schleiermachers), in: Joachim Track (Hg.): Lebendiger Umgang mit Schrift und Bekenntnis, Stuttgart 1980, 127– 160, 131– 143.  Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2. Auflage (1830), in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. HansJoachim Birkner u. a., Bd. I/6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theolo-

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1 Friedrich Schleiermacher und das Alte Testament 1.1 Theologie als positive Wissenschaft Schleiermachers Einordnung der Schriften des Alten Testaments und seine Bestimmung der Aufgabe einer alttestamentlichen Wissenschaft, die – und das muss man sich vor Augen halten – damals als ausdifferenzierte, eigenständige Disziplin noch nicht existierte,³ ist rasch umrissen. Im ersten Paragraphen seiner Kurzen Darstellung grenzt er Theologie zunächst als „positive“, praxisbezogene Wissenschaft von den theoretischen ab und bestimmt darüber zugleich ihre Einheit: „Die Theologie […] ist eine positive Wissenschaft, deren Theile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d. h. eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins; die der christlichen also durch die Beziehung auf das Christenthum.“⁴

Theologie gibt es demnach in der Vielfalt ihrer Methoden und Disziplinen als gemeinsame Bemühung um die christliche Glaubensweise. In § 2 formuliert Schleiermacher eine allgemeine Grundregel für den Zusammenhang zwischen Religion und Theologie. Je größer die Bedeutung von „Vorstellungen“ (sprich: inhaltlicher Entfaltung der Glaubensweise) im Vergleich mit symbolischen Handlungen und je größer die geschichtliche Bedeutung und die soziale wie kulturelle Selbständigkeit der Glaubensgemeinschaft wird, desto stärker der Bedarf an Theologie.⁵ Dies gilt, wie es im Zusatz zu § 2 im Umkehrschluss heißt, „weil in einer Gemeinschaft von geringem Umfang kein Bedürfniß einer eigentlichen Theologie entsteht, und weil bei einem Uebergewicht symbolischer Handlungen die rituale Technik, welche die Deutung derselben enthält, nicht leicht den Namen einer Wissenschaft verdient.“⁶

gischen Studiums, hg.v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998 (Studienausgabe Berlin/New York 2002), 321– 446 (Sigle KD2), § 18, 332.  Vgl. Johannes Wischmeyer: Theologiae Facultas. Rahmenbedingungen, Akteure und Wissenschaftsorganisation protestantischer Universitätstheologie in Tübingen, Jena, Erlangen und Berlin 1850 – 1870 (AKG 108), Berlin/New York 2008, und Markus Iff: Liberale Theologie in Jena. Ein Beitrag zur Theologie- und Wissenschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts (TBT 154), Berlin/New York 2011.  KD2 § 1, 325.  KD2 § 2.  KD2 § 2 Zs., 326 f.

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1.2 Protestantisches Christentum Ausführlicher wird zu diesen Zusammenhängen in anderen Beiträgen dieses Bandes gehandelt. Daher beschränke ich mich hier darauf, noch auf das Proprium hinzuweisen, das Schleiermacher für die protestantische Kirche als „höhere Kritik“ reklamiert. In § 110 schreibt Schleiermacher dazu: „Die protestantische Kirche muß Anspruch darauf machen, in der genaueren Bestimmung des Kanon noch immer begriffen zu sein; und dies ist die höchste exegetisch-theologische Aufgabe für die höhere Kritik.“⁷

Ein in seinem Umfang offener Kanon muss genauso wie die außerkanonische Literatur immer wieder darauf hin befragt werden, ob sich darin das wesentlich Christliche ausspricht oder nicht: „§ 111. Die Kritik hat beiderlei Untersuchungen anzustellen, ob nicht im Kanon [B]efindliches genau genommen unkanonisch, und ob nicht außer demselben [K]anonisches unerkannt vorhanden sei.“⁸ „§ 112. Beide Aufgaben gelten nicht nur für ganze Bücher, sondern auch für einzelne Abschnitte und Stellen derselben.“⁹

Damit markiert Schleiermacher nicht nur ein spezifisches Kanonverständnis, sondern zugleich eine profilierte Zuordnung von wissenschaftlicher Kritik und heiliger Schrift.

1.3 Das Alte Testament und die protestantische Kirche „Dasselbe“ – und nun kommen wir mit § 115 zur spezifischen Sicht auf das Alte Testament – „dasselbe gilt von der Stellung der alttestamentischen Bücher in unserer Bibel.“¹⁰ Sie sind einer solchen Prüfung zu unterziehen, aber können trotz erwiesener Differenz zu den neutestamentlichen Büchern im Kanon behalten werden,¹¹ auch wenn man von der altkirchlichen Tradition abweichend das Alte Testament nicht mit dem Neuen als Bibel betrachten müsse. Erläuternd fügt Schleiermacher die Prognose hinzu: „Daß der jüdische Codex keine normale Darstellung eigenthümlich christlicher Glaubenssäze enthalte, wird wol bald  KD2 § 110, 367 f.  KD2 § 111, 368.  KD2 § 112, ebd.  KD2 § 115, 369.  Vgl. KD2 § 114.

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allgemein anerkannt sein.“¹² Mit Eilert Herms lässt sich dies näher an der sonstigen Sprache und Gedankenführung Schleiermachers so aussagen: „Erstens, ein Zeugnis des das Christsein begründenden Offenbarungsgeschehens, ein Zeugnis der effektiven Kommunikation des Gottes-, Welt- und Selbstverständnisses Jesu, bietet das AT nicht. Wohl aber bietet es zweitens, Zeugnisse der Kommunikation desjenigen Gottes-, Welt- und Selbstverständnisses, in dessen Kontext und unter dessen Voraussetzung die durch Jesus begonnene Kommunikation des christlichen Gottes-, Welt- und Selbstverständnisses in die Welt gekommen ist. Ausschließlich in dieser Einbettung sind der Beginn der christlichen Frömmigkeitskommunikation und diese selbst reale Vorgänge.“¹³

Zum Wesen des Christentums gehört das Alte Testament nicht. Zum Verständnis seiner geschichtlichen Entstehung aber ist es unerlässlich. Dass sich alttestamentliches Schrifttum im Kanon befindet, erklärt Schleiermacher in § 132 der Glaubenslehre entsprechend aus der Genese der christlichen Bibel: „Die alttestamentischen Schriften verdanken ihre Stelle in unserer Bibel theils den Berufungen der neutestamentischen auf sie, theils dem geschichtlichen Zusammenhang des christlichen Gottesdienstes mit der jüdischen Synagoge, ohne daß sie deshalb die normale Dignität oder die Eingebung der neutestamentischen theilen.“¹⁴

Diese historischen Sachverhalte machen es nach Schleiermachers Auffassung auch bis heute notwendig, sich mit den Sprachen und dem Inhalt des Dokuments einer eigentlich fremden Religion zu beschäftigen. Entsprechend fordert § 131 der Kurzen Darstellung von jedem Theologen „die Kenntniß beider alttestamentischen Grundsprachen, und vermittelst derselben eine klare Anschauung von dem Wesen und dem Umfang des neutestamentischen Hebraismus“¹⁵. Und in § 141 heißt es: „Der geschichtliche Apparat zur Erklärung des neuen Testamentes umfaßt daher die Kenntniß des älteren und neueren Judenthums, so wie die Kenntniß des geistigen und bürgerlichen Zustandes in denen Gegenden, in welchen und für welche die neutestamen-

 KD2 § 115 Zs., 369.  Eilert Herms: Welt – Kirche – Bibel. Zum hermeneutischen Zentrum und Fundament von Schleiermachers Verständnis der Christentums- und der Sozialgeschichte, in: Albrecht Beutel/Stephen B. Chapman/Christine Helmer/Christof Landmesser (Hg.): Biblischer Text und theologische Theoriebildung (BThSt 44), Neukirchen-Vluyn 2011, 105 – 134, 129 – 130.  Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube, nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Auflage (1830/31), 2 Bde. in 1 Bd., hg.v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008 (Studienausgabe, seitengleich mit: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bde. I/13.1 und 13.2, Berlin/New York 2003 – Sigle CG2), § 132, Bd. 2, 337 (Orig.pag. 378).  KD2 § 131, 374.

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tischen Schriften verfaßt wurden. – Daher sind die alttestmentischen Bücher zugleich das allgemeinste Hülfsbuch zum Verständniß des neuen Testamentes, nächstdem die alttestamentischen und neutestamentischen Apokryphen, die späteren jüdischen Schriftsteller überhaupt, so wie die Geschichtschreiber und Geographen dieser Zeit und Gegend. Alle diese wollen ebenfalls in ihrer Grundsprache kritisch und nach den hermeneutischen Regeln gebraucht werden.“¹⁶

2 Historische und theologische Positionierung zu Schleiermachers Einordnung des Alten Testaments 2.1 Schleiermachers Bewertung des Alten Testaments sowie des frühen Judentums und seine Haltung zur jüdischen Religion und dem Judentum seiner Zeit Schon Schleiermachers grundsätzliche Sicht auf die Theologie als einer ‚positiven Wissenschaft‘ legt es nahe, dass sich auch seine eigenen Positionierungen nicht ohne einen Rekurs auf den öffentlichen Raum seiner Zeit und die darin von ihm wahrgenommene Gestaltungsaufgabe verstehen lassen. Dieser schlichten Überlegung folgend taucht der Theologe Schleiermacher in der neueren Forschung mehr und mehr auch in seinem politischen Wirken vor uns auf, das ihn nach 1806 Seit’ an Seit’ mit der preußischen Reformpartei und Bemühungen um eine Vereinbarkeit von Jude- und Bürgersein findet. Die Schleiermacherforschung der letzten 10 – 15 Jahre hat auf diesen Hintergrund auch für seine Sicht auf das Alte Testament immer deutlicher hingewiesen. Hier ist neben der SchleiermacherBiographie von Kurt Nowak aus dem Jahr 2001¹⁷ vor allem die einschlägige Monographie von Klaus Beckmann zu erwähnen, der unter dem Titel Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts unter anderem ausführlich auf den protestantischen „Kirchenvater“ eingegangen ist.¹⁸

 KD2 § 141 mit Zs., 377.  Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001.  Klaus Beckmann: Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts (FKDG 85), Göttingen 2002, bes. 31– 135.

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Deutlich wird bei Beckmann und analog in einer Monographie von Matthias Wolfes aus dem Jahr 2004¹⁹ eine zwiespältige Haltung zum Judentum. Zum einen finden sich klare Sympathien für eine bürgerliche Integration der in Preußen lebenden Juden in den sich von oben her reformierenden Staat. So verteidigt Schleiermacher das Judentum etwa gegen den Vorwurf einer antibürgerlichen Gesinnung. Ganz entsprechend zeigt er innerhalb des Berliner Kulturlebens keine Berührungsängste gegenüber Juden. Zum anderen erlebt und klassifiziert er das Judentum unmissverständlich als etwas Fremdes. Auf der politischen Ebene seiner Zeit fordert er als Loyalitätsbekundung der Juden gegenüber dem preußischen Staat dreierlei: (1) Deutlich müsse die Einhaltung der kultischen Vorschriften der Beachtung der staatlichen Gesetze nachgeordnet werden. Im Konfliktfall dürfe sich niemand durch den Verweis auf das Zeremonialgesetz den bürgerlichen Pflichten entziehen. (2) Eine nationale Hoffnung, die sich auf das Heilige Land richte, sei mit einer jüdischen Eingliederung unvereinbar und daher aufzugeben. (3) Gleichfalls müsse die Messiasidee aufgegeben werden. Theologisch verbindet sich damit eine Religionstypologie, die das Judentum als eine statuarische Gesetzesreligion versteht, die mit einer bloß äußerlichen Gesetzesbefolgung deutlich hinter dem christlich-paulinischen Heilsuniversalismus zurückbleibe. Im Ergebnis stimmt Schleiermacher mit Kants moralisch begründeter Abwertung des Judentums überein, bei ihm nun allerdings auf Grund eines ästhetischen Urteils über die „Authentizität der Anschauung“²⁰.

2.2 Ein vormodernes Judentum und ein modernes Christentum – eine in die Geschichte zurückgespiegelte Diastase Über diesen Kontext hinaus muss man Schleiermachers theologisches und historisches Urteil zum Alten Testament noch in den Zusammenhang der krisenhaften Herausforderungen und Umformungen stellen, denen sich der Protestantismus im 19. Jahrhundert gegenüber sah. Ich kann dies in unserem Zusammenhang nur plakativ einspielen. Eingebettet in die massiven politischen und gesellschaftlichen Transformationen nötigten das historische Bewusstsein und das neue naturwissenschaftliche Paradigma je länger je mehr zur Neujustierung von Theologie und Kirche. Auf Grund von Schleiermachers positiver

 Matthias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit – Schleiermacher-Studien (AKG 85), Tl. 1, Berlin/New York 2004; vgl. Ders.: Schleiermacher und das Judentum. Aspekte der antijudaistischen Motivgeschichte im deutschen Kulturprotestantismus, in: Aschkenas 14 (2004), 485 – 510.  K. Beckmann: Fremde Wurzel (s. Anm. 18), 43.

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Haltung zur Rolle der Wissenschaft als Leitgröße in dem sich verändernden Preußen konnte es in der Fortentwicklung von Religion und Kirche aus seiner Sicht nur um eine konstruktive, mit dem historischen und naturwissenschaftlichen Denken kompatible Theologie und Kirche gehen. Dieses moderne Christentum wurzelt für Schleiermacher in der individuellen Christuserfahrung und lässt die überkommenen Formen von Religion und Kirchlichkeit hinter sich. Dieser Verabschiedung vormoderner Religion fällt auch das Alte Testament mitsamt dem frühen Judentum zum Opfer. In einem Brief an den Bonner Exegeten Friedrich Bleek vom 23. April 1830 hält Schleiermacher fest: „Der dogmatischen Adhibition des alten Testaments verdanken wir doch entsezlich viel übles in unserer Theologie. Und wenn man den Marcion richtig verstanden und nicht verkezert hätte, so wäre unsere Lehre von Gott viel reiner geblieben. Dies halte ich für nothwendig aufs allerstärkste zu sagen, und für mich ist es eine Gewissenssache…“²¹

Entsprechend sollte „vielen altgewohnten weltbildhaften Implikationen vormodernen Christentumsverständnisses“²² der Abschied gegeben werden. In den Auseinandersetzungen seiner Zeit firmiert das Alte Testament als Belastung, von der es sich zu trennen galt. Noch einmal Originalton Schleiermacher: „Ich fürchte, je mehr wir uns, statt die reichen Gruben des neuen Bundes recht zu bearbeiten, an das Alte halten, um so ärger wird die Spannung werden zwischen der Frömmigkeit und der Wissenschaft.“²³ Die Bestimmung des Wesens dieses modernen Christentums, bei Schleiermacher eine Aufgabe der philosophischen Theologie, erfolgt nun aus dem Gottes-, Welt- und Selbstbewusstsein Jesu. In ihm fällt Geschichte und Urbild des Christlichen zusammen.²⁴ Als Besonderheit gegenüber der Rolle anderer religiöser Stifterfiguren kommt beim christlich-religiösen Bewusstsein hinzu, dass das Christentum es ablehnt, über das Bewusstsein des Stifters hinauszugehen, dieses also absolut setzt. Im Ergebnis drängt diese Fokussierung auf das Urbild Christi alle anderen vor und im Umfeld Christi befindlichen historischen Gestalten von Religion beiseite bzw. lässt diese zu bloßer historischer Illustration werden. Dies gilt auch für die alttestamentlich-frühjüdischen Wurzeln des Christentums. Die Folge ist eine dogmatische Verzeichnung des frühen Judentums und mit ihm des  Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 4, hg.v. Wilhelm Dilthey, Berlin 1863, 396.  Martin Ohst: Theologiegeschichtliche Bemerkungen zu Ernst Haeckels „Monismus“, in: BThZ 15 (1998), 97– 111, 102.  Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bd. I/10: Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg.v. HansFriedrich Traulsen, Berlin/New York 1990, 354 f.  Dazu vgl. auch K. Beckmann: Fremde Wurzel (s. Anm. 18), 64 f. 97 f.

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Alten Testaments, auf die Rudolf Smend 1985 zurecht das pointierte Diktum angewandt hat: „Die Bilder, die Schleiermacher vom Alten Testament und vom damaligen Judentum gezeichnet hat, sind großenteils Karikaturen.“²⁵ Die Stereotypen sind allerdings ebenso klar wie wirkmächtig gewesen: Die veräußerlichte, sinnliche, diesseitige Religion versus der verinnerlichten, geistigen, jenseitigen; die Bindung an ein Volk versus die Universalität des Christlichen; das Gesetz versus Christus als den Erlöser – um nur einige zu nennen, die sich bis heute großer Beliebtheit erfreuen. Beleuchtet man diesen Vorgang noch einmal von der Wissenschaftssystematik her, die Schleiermacher mit seinem Programm der Philosophischen Theologie formuliert hat, so zeigt sich schon bei ihm selbst, dass die Etablierung einer von den historischen Disziplinen gesonderten Philosophischen Theologie nicht gelingt.²⁶ Programmatisch forderte Schleiermacher, dass die Philosophische Theologie als kritische Disziplin nach den Kriterien der Bewertung der Phänomene in der Historischen Theologie fragt und zugleich der Praktischen Theologie die Norm des wesenhaft Christlichen benenne.²⁷ Werden Kritik bzw. Normfrage und Geschichte nicht sauber getrennt, so verderbe leicht beides.²⁸ Faktisch zeigt sich in der Bewertung des Alten Testaments und des frühen Judentums exakt eine solche Verderbnis. Die historische Analyse wird durch eine normative Setzung verfremdet, indem Positionierungen des 19. Jahrhunderts als Typisierungen und kategoriale Muster ins Alte Testament und frühe Judentum zurückgespiegelt werden. Über die Markierung dieser folgenreichen Verderbnis hinaus werden wir im dritten Teil zu fragen haben, ob die Verhältnisbestimmung zwischen den historischen, praktischen und systematischen Disziplinen, wie Schleiermacher sie in seinem Ansatz fordert, angemessen und praktikabel ist.²⁹

 Rudolf Smend: Schleiermachers Kritik am Alten Testament, in: Ders.: Gesammelte Studien, Bd. 3: Epochen der Bibelkritik (BevTh 109), München 1991, 128 – 144, 139.  S. dazu das abschließende Votum von Martin Rössler: Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie (SchlA 14), Berlin/New York 1994, 219 f.  AaO. 94 ff.  So argumentiert Schleiermacher im Kontext der Ethik von 1816/17; vgl. Friedrich Schleiermacher: Werke. Auswahl in 4 Bdn., hg.v. O. Braun, Bd. 2: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, Leipzig ²1927, § 109 Zs., 549.  S.u. 3.3.

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2.3 Zur Kanonfrage: Mit Schleiermacher gegen Schleiermacher! Mit Schleiermacher teilen weite Bereiche der evangelischen Theologie die Sicht auf den biblischen Kanon als einer vom Textbestand her prinzipiell offenen literarischen Größe. Hier gilt die pointierte Zusammenfassung des Schleiermacher’schen Kanonverständnisses durch Herms: „Was die Bibel ist, kann nur aus ihrem Gebrauch verstanden werden. Begegnung mit der Bibel ist Begegnung mit ihrem Gebrauch. Verstehen der Bibel kann nur das Verstehen ihres Gebrauchs sein.“³⁰ Kanon einer Glaubensgemeinschaft ist das in dieser Glaubensgemeinschaft rezipierte Schrifttum. Dem formalen Kanon korrespondiert ein materialer, der mit der Suche nach dem, „was Christum treibet“ (Luther), nach dem „Wesen des Christentums“ (Schleiermacher oder Harnack) oder nach den Kriterien des Christlichen erfragt wird. Die Kriterienfrage ist aus meiner Sicht eines evangelischen Verständnisses je neu und von jedem Theologen/jeder Theologin selbstverantwortet im Gespräch mit der kanonischen Überlieferung zu beantworten. Dieser Prozess ist prinzipiell unabschließbar, da die Wahrheit des Christlichen sich abschließender menschlicher Feststellung entzieht. Dies hat eine grundlegende Konsequenz für den Umgang mit der Bibel, sprich: dem Kanon. Über eine Bestimmung des wesentlich Christlichen und somit des christlich Unwesentlichen darf es nicht zu einer faktischen oder tendenziellen Entscheidung der Kanonizität von Schriften kommen, die in einem christlichen Kanon überliefert werden sollen. Mit dem Alten Testament liegt unbestritten durch die Alte Kirche rezipiertes frühjüdisches Schrifttum vor, das insofern zentraler Gesprächspartner bei der Frage nach dem originär und wesentlich Christlichen zu sein hat.³¹ Darüber hinaus falsifizierte die Christentumsgeschichte des 20. Jahrhunderts deutlich Schleiermachers These von der schwindenden Bedeutung des Alten Testaments in der christlichen Kirche. So unterschiedlich die Rezeption alt- und neutestamentlicher Schriften in evangelischen Kirchen heute ist, eine Verdrängung des Alten Testament lässt sich dabei als genereller Trend nicht konstatieren.³² Dies soll noch einmal in Anwendung evangelischen Kanonverständnisses

 E. Herms: Welt – Kirche – Bibel (s. Anm. 13), 134.  Soll die Frage nach dem Christlichen nicht ohne Berücksichtigung der Ursprünge und der weiteren Wirkungsgeschichte gestellt werden, sind die rezipierten Ursprungsschriften von Belang. So hängen die historische Frage nach den Ursprüngen und die systematische nach dem Wesen zusammen. Löst man diesen Zusammenhang, dann erfindet man das Christentum neu.  Vgl. etwa Jörg Lauster: Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (HUTh 46), Tübingen 2004.

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zugespitzt werden: Der Schriftgebrauch im 20. Jahrhundert selbst falsifizierte eine Bestimmung des wesentlich Christlichen, die in Antithese zum Alten Testament vorgenommen wurde. Denn „was die Bibel ist, kann nur aus ihrem Gebrauch verstanden werden“ (s.o.).

2.4 Ansätze frühjüdischer Theologie – Schleiermacher weiterdenkend Blickt man von heutigen Ergebnissen alttestamentlicher Wissenschaft aus auf die Einschätzung dieses Schrifttums im 19. Jahrhundert, dann wird auch anhand konkreter Befunde die Korrekturbedürftigkeit der durch Schleiermacher mit breiter Wirkung vertretenen Sicht auf das Alte Testament deutlich. Nach § 2 der Kurzen Darstellung ist, wie bereits eingangs dargestellt, die Ausbildung einer Theologie in einer religiösen Gemeinschaft von folgender Grundregel abhängig: Je größer die Bedeutung von „Vorstellungen“, sprich: inhaltlicher Entfaltung der Glaubensweise, im Vergleich zu symbolischen Handlungen wird und je größer die geschichtliche Bedeutung und die soziale wie kulturelle Selbständigkeit der Glaubensgemeinschaft wird, desto stärker wird der Bedarf an Theologie. Nun haben Forschungen zur Theologiebildung etwa im Bereich der frühjüdischen Weisheit durch Hans-Peter Mathys³³ oder zum Psalter und Großjesaja-Buch bzw. dem Dodekapropheton durch Erich Zenger, Frank-Lothar Hossfeldt, Odil Hannes Steck und Jörg Jeremias die zunehmende Vernetzung der Schriften sowie der Traditions- und Denkwelten im frühen Judentum der ausgehenden Perserzeit und des aufkommenden Hellenismus gezeigt und gleichzeitig Ansätze von Systematisierung in diesen Sammlungs- und Redaktionsprozessen deutlich werden lassen.³⁴ Es wäre eigene Studien wert, die Schleiermacher’schen religionstypologischen Indizien für eine Theologiebildung heuristisch in diesem Bereich der historischen Untersuchung des frühjüdischen Schrifttums zu bedenken und deren Leistungsfähigkeit zu erproben. Das Interesse der alttestamentlichen Wissenschaft am spätperserzeitlichen und frühhellenistischen Schrifttum des Alten Testaments und frühen Judentums hat jedenfalls schon jetzt eine Morgendäm-

 Hans-Peter Mathys: Dichter und Beter. Theologen aus spätalttestamentlicher Zeit (OBO 132), Göttingen 1994.  Vgl. dazu Odil Hannes Steck: Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis. Wege der Nachfrage und Fährten zur Antwort, Tübingen 1996, und die Beiträge in Reinhard G. Kratz/ Thomas Krüger/Konrad Schmid (Hg.): Schriftauslegung in der Schrift. FS Odil Hannes Steck (BZAW 300), Berlin/New York 2000, sowie Markus Saur: Sapientia discursiva. Die alttestamentliche Weisheitsliteratur als theologischer Diskurs, in: ZAW 123 (2011), 236 – 249.

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merung der Theologie im Alten Testament erkennen lassen. Der Übergang vom frühen Judentum zum Christentum ist auch in dieser Hinsicht ein gradueller und kein prinzipieller.

3 „Anschauung von dem Zusammenhang der Teile der Theologie“ – Elemente einer enzyklopädischen Selbstverortung 3.1 Zur Rezeption der theologischen Enzyklopädie Schleiermachers Die Bedeutung Schleiermachers für das deutsche Universitätswesen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, im Grunde bis zur gegenwärtigen, radikalen Umgestaltung durch den sogenannten Bologna-Prozess, ist unbestritten. Die von Preußen ausgehende Erneuerung des Universitätswesens trug maßgeblich auch seine Handschrift. Dabei kommt der Bestimmung der Theologie als einer ‚positiven‘, praktischen Wissenschaft sowohl wissenschaftstheoretisch als auch staatskirchenrechtlich eine bis heute andauernde Bedeutung zu.Wissenschaftlich bestimmt sie sich dadurch als geschichtlich-bedingte, funktionale Wissenschaft, die vergleichbar der juristischen und medizinischen nicht theoretisch-spekulativ aus einem Wissenschaftsbegriff abgeleitet wird. In der funktionalen Zuordnung zu Kirche und religiöser Bildung werden ihr Zweck und ihre Sinnhaftigkeit ebenso aussagbar wie die gleichwertige Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Methoden und Fächer. Ersteres verschafft der wissenschaftlichen Theologie in ihrem positiven Kirchenbezug auch Freiheit gegenüber einer Legitimation universitärer Wissenschaft und Ausbildung, die sich einlinig an staatlichen oder wirtschaftlichen Interessen orientiert.³⁵ Letzteres misslingt häufig bei einem theoretisch abgeleiteten Wissenschaftsbegriff, sei es auf der Basis eines bestimmten Theologieoder Religionsverständnisses. Historische und praktisch-theologische Disziplinen können dabei allzu leicht in die Rolle bloß historischer Illustration oder einer Anwendungswissenschaft von auf höherer Ebene erworbenen Erkenntnissen geraten.³⁶

 Der damit gegebene Freiraum wird aus meiner Sicht durch die evangelisch-theologischen Fakultäten und Fachbereiche kaum wahrgenommen und deutlich zu defensiv genutzt.  Vgl. die Darstellung bei Ingolf U. Dalferth: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung (THLZ.F 11/12), Leipzig 2004, 31– 52.

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Theologische Wissenschaft in dieser Weise funktional ausgerichtet zu verstehen, bildet zugleich die Basis der evangelischen und katholischen Vereinbarungen zur Regelung aller Fragen von wissenschaftlicher Theologie an staatlichen Universitäten. Die Ausbildung von Religionslehrerinnen und -lehrern sowie Pfarrerinnen und Pfarrern wird dabei als eine Aufgabe zum Wohl des gesamten Gemeinwesens verstanden, die universitär einem Kooperationsmodell entsprechend geregelt wird. Die universitäre Einbindung sichert den wissenschaftlichen Standard sowie die Freiheit von Forschung und Lehre. Die kirchliche Beteiligung garantiert das Selbstbestimmungsrecht der religiösen Gemeinschaft. Dieses Modell ist politisch bis heute weitgehend akzeptiert und hat durch die Empfehlungen des Wissenschaftsrats aus dem Jahr 2010 zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogener Forschung an den Hochschulen nun auch einen Modellcharakter für die Etablierung islamischer und jüdischer universitärer religiöstheologischer Studien bekommen.³⁷ Hinter dieser breiten Rezeptionsgeschichte der Ansätze Schleiermachers werden zwei Momente eher selten wahrgenommen. Zum einen ist gegenüber bestimmten Akzentsetzungen in der Aufnahme von Gedanken Schleiermachers deutlich auf die doppelte Funktion wissenschaftlicher Theologie hinzuweisen. Mit Dalferth betone ich dabei „die Differenz zwischen den Aufgaben der theologischen Ausbildung und denen der Theologie als kritischer wissenschaftlicher Reflexionsarbeit“. „Beide hängen zusammen, sind aber nicht dasselbe.“³⁸ Auch eine mit Schleiermacher funktional auf die Kirchenleitung bezogene Theologie kann recht verstanden nur dann diese Funktion erfüllen, wenn sie ihrer kritischen Reflexionsarbeit in wissenschaftlicher Freiheit und in interdisziplinärer Vernetzung innerhalb der Universität nachgeht. Auch nachvollziehbare Legitimations- und Absicherungsinteressen dürfen diese Grundspannung nicht durch eine Reduktion auf eine bloße Ausbildungsaufgabe oder durch eine einseitige Betonung der Kirchlichkeit der Theologie auflösen.³⁹ Zum anderen ist anzumerken, dass Schleiermachers enzyklopädische Zuordnung der theologischen Fächer in weiten Teilen nicht rezipiert wurde. Ab Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologie und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, Köln 2010.  I. U. Dalferth: Interpretationspraxis (s. Anm. 36), 36.  Bedenklich erscheint es mir in diesem Zusammenhang auch, wenn Schleiermacher die Dualität von religiösem Interesse und wissenschaftlichem Geist ausschließlich im theologischen Subjekt und nicht in der Wissenschaft selbst sowie ihren institutionellen wie rechtlichen Ausgestaltungen verankert (vgl. M. Rössler: Philosophische Theologie [s. Anm. 26], 214 f). Hier dürfte eine Engführung und tendenzielle Überforderung des Subjekts vorliegen. Zugleich wird dabei verkannt, dass die doppelte Einbindung der wissenschaftlichen Theologie immer auch einen überindividuellen, strukturellen und rechtlichen Ausdruck findet.

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kürzend und ohne dies ausführen zu können, merke ich hier nur die als Problem in der Rezeptionsgeschichte begegnenden Aspekte an: die Konzeption der Philosophischen Theologie, den Vorwurf der Klerikalisierung der Theologie, die Beschränkung der Exegese auf die genetische Perspektive nebst ihrer unterschiedslosen Einreihung in die historischen Fächer, eine die Symbolik einschließende kirchliche Statistik und die Zuordnung der Dogmatik zur historischen Theologie.⁴⁰ Immer wieder wird dabei ein Theorie-Praxis-Kontrast bei Schleiermacher sichtbar, der „in einem Gefälle von den begrifflichen Grundbestimmungen (Philosophische Theologie) über die historische Bestandsaufnahme des theologischen Wissens (Historische Theologie) auf die (in diesem Sinne) ,technische‘ Anwendung dieses Wissens zur Bearbeitung der praktischen Zwecke der Theologie insgesamt hin denkt“⁴¹.

Dass sich weder heutige Exegese noch die Praktische Theologie in diesen Platzanweisungen angemessen wiederfinden, macht etwa dieser Band deutlich. Für die alttestamentliche Wissenschaft will ich dies nun zu Protokoll geben.

3.2 Die alttestamentliche Wissenschaft als historische Wissenschaft jenseits des Historismus Die alttestamentliche Wissenschaft als eine philologische und historische Disziplin zu definieren, überrascht seit nunmehr gut 150 Jahren niemanden mehr. Und doch wird diese Einordnung noch viel zu häufig so verstanden, als erschöpfe sich die alttestamentliche Exegese in der Rekonstruktion geschichtlicher Fakten und/ oder hypothetischer Vorformen der heutigen Bibeltexte. Weitere Stereotype aus wissenschaftstheoretisch längst vergangenen Zeiten sind dann rasch bei der Hand. Da gehört die historische Exegese zu den Wissenschaften mit rein antiquarischem Interesse, die ohne Gegenwartsbezug abständige Materialien liefern. Wer sich für die Gegenwart in Kirche, Gesellschaft oder Wissenschaft interessiert, werde hier auf eine dürre Steppe geführt. Auch wenn ich zugeben muss, dass einzelne Fachkollegen diesen Vorurteilen immer wieder einmal Vorschub leisten, hat die Debatte um das Verständnis von Geschichte und damit auch um die Bestimmung der Aufgaben einer historischen Disziplin in den zurückliegenden 60 Jahren doch aus den Engführungen des Historismus deutlich herausgeführt. Forschung zur Geschichte verbindet empi-

 Vgl. I. U. Dalferth: Interpretationspraxis (s. Anm. 36), 34 f.  AaO. 35.

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risch-rezeptive Rekonstruktion mit konstruierend-gegenwartsbezogener Arbeit. In diesem Sinne benennt etwa Jörn Rüsen in seinem systematischen Entwurf einer Historik die zwei Pole historisch rekonstruierender und konstruierender Arbeit. Im Verständnis des Phänomens Geschichte beschreitet er dabei einen Weg, auf dem die unbefriedigende Alternative vermieden werden soll, „daß entweder die Erfahrung die Deutung oder die Deutung die Erfahrung überwältigt“⁴². Dazu unterscheidet er drei Faktoren, die im Geschichtsbewusstsein als ungeschiedene Ganzheit vorliegen: Erfahrung, Norm und Sinn. Sie haben jeweils in unterschiedlicher Weise Anteil an der „Sinnbildung über Zeiterfahrung“ mit dem Zweck der Handlungsorientierung, wie Rüsen das Bewusstsein von Geschichte definiert.⁴³ Dies vollzieht sich in einem zunächst nicht methodisierten Erfahrungsbezug als erzählende Erinnerung oder im methodisierten Erfahrungsbezug der Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung. Ersterer kennt noch keinen isolierten Rückgriff auf Erfahrungs- und Tatsachenaussagen. Er erfolgt nur gemeinsam mit der Vermittlung von Bedeutung und Sinn. Die drei Elemente bilden also eine nicht gesonderte Ganzheit. Die wissenschaftliche Forschung erst unterscheidet diese Ebenen und begrenzt zudem den Umfang zulässiger Erfahrungssätze. „Erfahrung ist grundsätzlich nur noch das, was prinzipiell von jedem als tatsächliche Begebenheit anerkannt werden kann und muß.“⁴⁴ In allen drei Bereichen lässt sich nach der Wahrheit und damit dem Geltungsanspruch von Geschichte fragen, als empirischer, normativer oder narrativer Wahrheit oder „Triftigkeit“.⁴⁵

 Jörn Rüsen: Grundzüge einer Historik, Tl. 1: Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, 64.  AaO. 51.  AaO. 91. Im Unterschied zu einem offenen Erfahrungshorizont – „Zur Erfahrung gehört alles das, was der Erzähler und seine Adressaten als tatsächliche Gegebenheiten in ihrem praktischen Lebensvollzug ansehen“ (ebd.) –, der einzig den Konsens zwischen Erzähler und Adressaten fordert, wird im Bereich der Geschichte als Wissenschaft ein fiktiver Kanon von intersubjektiv als Tatsache anzuerkennenden Begebenheiten vorausgesetzt oder gesetzt. Inwieweit eine derart geschlossene, konsensfähige und über die Zeiten gleichbleibende Erfahrungswelt behauptet werden kann, lässt sich auch anhand des Kriteriums der Analogie bei Ernst Troeltsch diskutieren – vgl. Ernst Troeltsch: Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 2 1922, 729 – 753, 732 f, und Beda Thum: Wahrheit und Geschichte in elementarphilosophischer Betrachtung, in: Weisen der Zeitlichkeit. Vorträge und Diskussionen gehalten anläßlich der Arbeitstagung des Instituts der Görres-Gesellschaft für die Begegnung von Naturwissenschaft und Theologie (NWT 12), Freiburg/München 1970, 153 – 161, und Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 243 ff.  „Empirisch triftig sind Geschichten, wenn die in ihnen behaupteten Tatsachen durch Erfahrungen gesichert sind“ (J. Rüsen: Historische Vernunft [s. Anm. 42], 82). „Normativ triftig sind

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Eine so verstandene Geschichtswissenschaft unterscheidet die unterschiedlichen Faktoren und ist sich in ihrer Arbeit der Dimensionen von Fakten, Wirkung und Deutung bewusst, diese unterscheidend und mit unterschiedlichen Methoden erfragend. Zugleich ist ihr deutlich, dass eine objektive Erfassung historischer Phänomene zwar intendiert werden kann, dass aber schon durch die Wahl der Begriffe, durch Zeit- und Epochenabgrenzungen, durch die Zielstellung der Untersuchung und nicht zuletzt im Zuge der Erstellung von historischen Gesamtbildern das Subjekt des Wissenschaftlers setzend und konstruierend mitwirkt. Damit vermehren sich die Kooperationsmöglichkeiten und der Bedarf der Zusammenarbeit mit anderen theologischen und nichttheologischen Disziplinen deutlich.

3.3 Das theologische und kulturwissenschaftliche Potenzial der alttestamentlichen Wissenschaft Unter dieser Überschrift möchte ich knapp einige Momente benennen, die aus meiner Perspektive einen spezifischen Beitrag der alttestamentlichen Wissenschaft zum Ganzen der Theologie darstellen können. Die Reihe der drei Punkte ist offen und insofern je nach Fachperspektive zu ergänzen.

3.3.1 Alttestamentliche Exegese als Begegnungs- und Bewährungsraum des jüdisch-christlichen Gespräches – oder: Das Fremde im Eigenen und das Eigene im Fremden Auf dem Hintergrund der nun schon vier Jahrzehnte andauernden Bemühung um Theologie und damit auch Exegese nach dem Holocaust sowie um das jüdischchristliche Gespräch wird der Kontrast zu Schleiermachers Verständnis von Christentum und Altem Testament in weiten Bereichen der evangelischen Theo-

Geschichten, wenn die in ihnen behaupteten Bedeutungen durch geltende Normen gesichert sind“ (aaO. 83). „Narrativ triftig sind Geschichten, wenn der von ihnen als Kontinuität im Zeitfluß dargestellte Sinnzusammenhang zwischen Tatsachen und Normen durch Sinnkriterien (Ideen als oberste Gesichtspunkte der Sinnbildung) gesichert ist, die in der Lebenspraxis ihrer Adressaten wirksam sind“ (ebd.). In einer allgemeineren Form und somit vor allem für die Geschichte als Erinnerung zutreffend formuliert Rüsen, aaO. 77: „Geschichten sind wahr, wenn diejenigen sie glauben, an die sie adressiert sind. ›Glauben‹ meint hier […]: Die Adressaten der Geschichte sind bereit, mit ihnen ihre Lebenspraxis in der Zeit zu orientieren, weil sie davon überzeugt sind, daß die Geschichten dies auch können.“

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logie in Deutschland klar erkennbar. Und so bedarf es hier vielleicht auch keiner langen Ausführungen. Mit dem Alten Testament bewahrt die christliche Kirche Zeugnisse als Bestandteil ihres Kanons auf, die aus von ihr unterschiedenen religiösen Gemeinschaften im antiken Israel und dem frühen Judentum stammen, und bezieht sich in Aneignung und Selbstunterscheidung je neu auf sie. Nimmt man die religionsgeschichtliche Tiefe mit in den Blick, dann stammen diese Überlieferungen nicht nur aus dem frühen Judentum der Zeitenwende, sondern reichen in ihren ältesten Teilen bis in die Königszeit Judas und Israels zurück. Zugleich bezieht sich mit dem zeitgenössischen Judentum eine andere Religion auf diese Texte als auf ihre heiligen Schriften. Schon dieses kurz umrissene Szenario macht deutlich, dass sich eine historische und am Literalsinn orientierte Exegese des Alten Testaments in einem wissenschaftlichen Verstehensprozess beständig durch Fremdes in eigenen religiös-theologischen Referenztexten herausgefordert sieht. Zugleich wird sie im Gespräch mit diesen Texten sowie im Dialog mit den jüdischen Auslegerinnen und Auslegern dazu herausgefordert, eigenes Verstehen von konkurrierendem wissenschaftlichen wie aneignendem fremden Verstehen zu unterscheiden und sich damit selbst zu identifizieren. Diese hermeneutische und theologische Herausforderung hält das Alte Testament wach. Ihr Anwalt im Ganzen der Theologie ist die alttestamentliche Wissenschaft.

3.3.2 Das Alte Testament als Spiegel verschiedener Typen von Religion – das Oszillieren an den Grenzen von Kultur, Religion und Theologie Das Alte Testament zeigt ein ganz erstaunliches Doppelgesicht: Seine Schriften erhielten ihre heutige Gestalt vor allem in der Zeit der neubabylonischen, persischen und hellenistischen Großreiche. Diesen Zeitabschnitten kommt daher als historischem Hintergrund eine besondere Bedeutung zu. Zugleich blickt Israel und das frühe Judentum bei seiner Suche nach Identität und theologischer Vergewisserung vor allem in die vorstaatliche Zeit⁴⁶ und teilweise in die Königszeit zurück. Infolge dieser Spannweite bekommen wir es alttestamentlich mit sehr unterschiedlichen Spielarten von Religion zu tun. Man hat sie religionswissenschaftlich typisierend immer wieder sehr grob in Kultur- und Bekenntnisreligion

 Vgl. die großen Themen im Hexateuch wie Erzeltern, Mose und Exodus, Sinai und Wüstenwanderung sowie die Landgabe.

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oder in primäre und sekundäre Religionsformen unterscheiden wollen.⁴⁷ Diese Kennzeichnungen sind historisch gesehen sicher zu grobschlächtig. Und doch machen sie dem Alttestamentler deutlich, dass er mit den königszeitlichen Spielarten altorientalischer Religiosität, die ihm in den ältesten Stufen seiner Überlieferungen entgegen kommen, und den Endprodukten der Traditions- und Schriftenbildung in persisch-hellenistischer Zeit deutlich verschiedene Religionstypen vor sich hat. In unterschiedlicher Weise kommen in ihnen implizite Theologie und explizites Bekenntnis, die kosmische und politische Ordnung als theologische Evidenz oder eine ausgefeilte Offenbarungstheologie, faktische oder kontrafaktische Konzepte im Bereich von Recht, Politik oder Religion zur Sprache. Dies wahrzunehmen, eröffnet auch dem Gesamten theologischer Vergewisserung einen weiten Reflexions- und Gesprächsraum. Der alttestamentlichen Wissenschaft obliegt es aus meiner Sicht dabei, diese unterschiedlichen Spielarten von Religion und Theologie durchsichtig für andere theologische Disziplinen zur Sprache zu bringen.

3.3.3 Rede von Gott im Modus diesseitigen Welt- und Selbstverständnisses Als Eigenart des Alten Testaments wurde in der Vergangenheit immer wieder einmal dessen Diesseitigkeit vermerkt. Meist grenzt man so das Alte vom Neuen Testament ab und kennzeichnet eine Gottesvorstellung, der eine Hoffnung auf Auferstehung fehlt.⁴⁸ Im 19. Jahrhundert verbindet sich damit meist eine Defizitanzeige, bei Georg Fohrer in umgekehrter Wertigkeit das Kennzeichen einer gegenwartsbezogenen Theologie.⁴⁹ Ohne hier auf diese Differenzierungen eingehen zu können, wollte ich bei den Hinweisen auf das Potenzial der alttestamentlichen Wissenschaft darauf aufmerksam machen, dass die alttestamentlichen Literaturen in weiten Bereichen von Gott im Modus eines diesseitigen Welt- und Selbstverständnisses sprechen. Sie verzichten in diesen Teilen auf eine Apokalyptik. Ein schlichtes Denken in Tat-Folge-Entsprechungen dient der Weisheit und der Prophetie als Erklärungs- und Begründungsmuster. In umgekehrter Richtung erschließt die Frage nach diesseitiger Theologie dezidierte Gegenentwürfe zu den

 Andreas Wagner (Hg.): Primäre und sekundäre Religion als Kategorie der Religionsgeschichte des Alten Testaments (BZAW 364), Berlin/New York 2006.  Vgl. etwa Eduard Karl August Riehm: Alttestamentliche Theologie, Halle 1889; August Dillmann: Handbuch der alttestamentlichen Theologie, aus dem Nachlaß des Verf. hg.v. Rudolf Kittel, Leipzig 1895; oder Hermann Schultz: Alttestamentliche Theologie. Die Offenbarungsreligion auf ihrer vorchristlichen Entwicklungsstufe, Göttingen 1869.  Georg Fohrer: Theologische Grundstrukturen des Alten Testaments (TBT 24), Berlin 1972.

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politischen und sozialen Lebenswelten, wie sie uns in den alttestamentlichen Theologien begegnen. Diskutiert wird dies etwa für die deuteronomisch-deuteronomistische Berit-Theologie im Gegenüber zum hethitisch-assyrischen Vertragsdenken. Darüber hinaus kann man sich anhand des deuteronomisch-deuteronomistischen Traditionskomplexes die Kontrafaktizität etwa an den sozialen Regelungen zum Schuld- und Sklavenrecht oder an den Bestimmungen zum Königsgesetz und Kriegsrecht deutlich machen. Auch im Bereich der politischen Theologie der deuterojesajanischen Textschichten mit ihrer differenzierten Rede vom Ebed Israel und dem Ebed der Gottesknechtslieder sowie den theokratischen Tendenzen der Zionstheologie kann in dieser Weise Kontrafaktizität beschrieben werden.⁵⁰ Schon die früheren Versuche von Paul D. Hanson in The Dawn of Apocalyptic ⁵¹ hatten den Grad der historischen Vermitteltheit prophetischer Heilsankündigungen beschrieben und anhand dieses Indikators den Übergang von der späten alttestamentlichen Prophetie zur Apokalyptik hin erhellt. Für das Gesamte einer evangelischen Theologie, die den christlichen Glauben denkend in einer Welt zu vertreten hat, in der wir eine spezielle Gemengelage von diesseitigem Welt- und Selbstverstehen verknüpft mit privater und wieder neu auch öffentlich sowie politisch wirksamer Religiosität vorfinden, mag eine Erhebung solcher diesseitiger und jenseitiger Denk- und Glaubensentwürfe erhellend sein.

3.4 Inner- und transtheologische Interdisziplinarität – eine zarte Pflanze Wir hatten beim Blick auf Schleiermachers theologische Enzyklopädie den Versuch der Aufgabenverteilung zwischen den Disziplinen wahrgenommen. Danach sollten die historischen Disziplinen den Stoff aufbereiten; wie Schleiermacher vermerkte, auch zum Schutz vor einer spekulativen Willkür der Theologie insgesamt. Der Philosophischen Theologie oblag danach die Begriffsklärung und das, was Schleiermacher die „Abschätzung“ genannt hatte.⁵² Rezipiert wurde dieses Modell nicht, und es überzeugt – wie oben dargestellt – weder die strikte Trennung der Aufgaben noch das Theorie-Praxis-Gefälle.

 Vgl. die entsprechenden Abschnitte in den gängigen Einleitungen, etwa bei Jan Christian Gertz: Grundinformation Altes Testament, Stuttgart 42010.  Paul D. Hanson: The Dawn of Apocalyptic. The Historical and Sociological Roots of Jewish Apocalyptic Eschatology, Minneapolis 1979.  Friedrich Schleiermacher: Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß, hg.v. Walter Sachs (SchlA 4), Berlin/New York 1987, 44 u. ö.

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Nichtsdestoweniger besteht die Notwendigkeit solch innertheologischer Interdisziplinarität heute mehr denn je. Geschichtliches Verstehen ohne kritische Reflexion der verwendeten Kategorien und der ontologischen wie kosmologischen Perspektiven macht die Exegese zu einem unreflektierten Gefangenen von Modeströmungen und Zeitgeist. Ist es etwa – um nur ein Beispiel zu nennen – angemessen, wenn biblische Exegese inflationär von Identität, Identitätsbildung oder -konstruktion im Blick auf kollektive Vorgänge in ihren Textwelten spricht? Lässt sich eine Rede und Denkform aus dem Bereich der Persönlichkeitspsychologie auf das Gottesvolk Israel übertragen? Welche Konzeptionen werden damit importiert? Verträgt sich dies mit der Eigensprachlichkeit der abständigen Textwelten? Schon dieses Beispiel macht deutlich, dass es des Gesprächs zwischen den Disziplinen bedarf – und dies nicht nur zwischen den theologischen. Solches zu fordern, klingt heute fast nach ministerieller Sonntagsrede. Die entscheidende Herausforderung besteht wohl eher darin, praktikable und angemessene Formen dafür zu finden – kleine und leistungsfähige Formen, die fernab der großen Programmatik auch die relative Nähe der theologischen Fächer neu nutzen. Am Anfang muss eine Klärung stehen: Was kennzeichnet meine Fachkultur und was bedeutet das Ganze der Theologie? Schleiermachers Programmatik und sein wirkmächtiges Handeln als Wissenschaftler und homo politicus fordern hier jedenfalls zu Klarheit und Gestaltungskraft heraus.

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Das Neue Testament im Kreis der theologischen Fächer Neutestamentliche Wissenschaft als Beitrag zur Erschließung eines evangelischen Wirklichkeitsverständnisses Keinen Überblick zu haben, ist der Normalfall des Lebens und folglich auch der wissenschaftlichen Existenz. Den Überblick mit dem eigenen Blick zu verwechseln nutzt weder dem Alltagsleben noch der wissenschaftlichen Realitätserschließung. Angesichts dieser unproduktiven Möglichkeiten, in die Welt zu blicken, erscheint es mehr als verständlich, dass die Geschichte der menschlichen Wissensproduktion wesentlich davon geprägt ist, die Mannigfaltigkeit der Eindrücke, der Informationen und der Interpretationen zu ordnen, um mit ihnen gestalterisch umgehen zu können. Wie schnell daraus aber Ideologien entstehen, die die „Ordnung der Dinge“ festschreiben wollen, nicht zuletzt um sie für eigene Gewohnheiten oder gar Machtansprüche und politische oder soziale Vorteile zu nutzen, hat Michel Foucault¹ eindrucksvoll aufgewiesen. Das enzyklopädische Verlangen war zunächst weitgehend dem Wunsch geschuldet, die Dinge und ihre Ordnung überschaubar darzustellen, um die Elite zu erziehen.² Das relevante verbindliche Wissen sollte eingekreist werden und die in es Hineinerzogenen sollten damit belohnt werden, zum Kreis der Wissenden zu

 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 212009.  Vgl. zur außerordentlich interessanten Wissenschaftsgeschichte der enzyklopädischen Wissensproduktion Peter Burke: A Social History of Knowledge: From Gutenberg to Diderot; based on the first series of Vonhoff Lectures given at the University of Groningen, Cambridge 2000; Richard Yeo: Reading Encyclopaedias: Science and the Organization of Knowledge in British Dictionaries of Arts and Sciences 1730 – 1852, in: Isis 82 (1991), 24– 49; Ulrich J. Schneider: Seine Welt wissen. Enzyklopädien in der Frühen Neuzeit (Katalog zur Ausstellung der Universitätsbibliothek Leipzig und der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel 2006), Darmstadt 2006; Ulrike Spree: Das Streben nach Wissen. Eine vergleichende Gattungsgeschichte der populären Enzyklopädie in Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert (Communicatio 24), Tübingen 2000; Robert Collison: Encyclopaedias: Their History throughout the Ages: A bibliographical guide with extensive historical notes to the general encyclopaedias issued throughout the world from 350 B. C. to the present day, New York 21966; Frank A. Kafker: Notable Encyclopedias of the Late Eighteenth Century: Eleven Successors of the Encyclopédie, Oxford 1994. Vgl. auch: Kurt Nowak: Enzyklopädie – Zur Entstehung der Theologie als Wissenschaft im Zeitalter der Aufklärung, in: Ders.: Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär. Beiträge 1984– 2000, hg.v. Jochen-Christoph Kaiser (KoGe 25), Stuttgart 2002, 61– 79.

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gehören, also zu denen, die wissen, was ist und deshalb auch dazu befähigt sind zu bestimmen, was sein soll. Die enzyklopädische Bildung ist gleichermaßen ein pädagogisches wie ein politisches Kreise-Ziehen. Das gilt auch für die theologischen Enzyklopädien, die angesichts der Komplexität theologischer Bildung vorwiegend als orientierende Lehrbücher für das Theologiestudium mit Blick auf die kirchenleitenden Tätigkeiten angehender Pfarrer verfasst wurden. So schreibt etwa Ludwig Wachler in seinem knappen „Grundriß“ von 1795: „Uebersicht des ganzen theologischen Studiums ist dem jungen Theologen unentbehrlich; durch die Kenntniß des weiten Umfangs und großen Werths desselben wird sein Fleiß angespornt und sein Eifer verdoppelt, und nur durch sie lernt er die wahre Methode, nach welcher die Theologie studirt werden muß“³. Dementsprechend steht die „Theologische Encyklopädie und Methodologie“⁴ am Beginn des von Wachler vorgeschlagenen „theologischen Studienplane[s]“⁵. Die meisten Verfasser theologischer Enzyklopädien im 18. und 19. Jahrhundert sind von dem Grundgedanken bestimmt, dass bei aller Komplexität am Beginn des Studiums der Zusammenhang des Faches begriffen werden muss, oder wie Johann Joachim Bellermann 1803 formuliert: „Die theologische Enzyklopädie entwickelt das gleichnamige Studium in der Vielfalt und Differenz seiner Theile.“⁶ Dabei war nicht erst bei Schleiermacher die kirchenleitende und gesellschaftliche Relevanz der Theologie die plausible Leitidee der Auswahl und Anordnung des Stoffes. Zu viele alttestamentliche Arbeiten der Gegenwart insbesondere aus dem deutschsprachigen Raum scheinen hingegen ihre ausgeprägte Irrelevanz für evangelische Theologie und Praxis in Kirche, Schule und Gesellschaft als Ausweis ihrer Wissenschaftlichkeit zu verstehen. Zu häufig sind dogmatische Publikationen und Symposien unserer Zeit eher der Verwaltung ihrer Fachgeschichte gewidmet und kaum daran interessiert, Impulse für christliche Lebensgestaltung heute zu geben. Zu sehr tritt Praktische Theologie als ästhetischer Wettbewerb einer bildungsbürgerlichen Elite auf mit wenig Interesse an volkskirchlichen und gesellschaftspolitischen Realitäten und Problemen. Zu einseitig fragen neutestamentliche Arbeiten danach, was die kanonischen Texte bedeuteten, und zu selten danach, was sie bedeuten. Die Diskurse in den eingeweihten Kreisen der

 Ludwig Wachler: Grundriß einer Encyklopädie der theologischen Wissenschaften zum Gebrauche bey Vorlesungen, Lemgo 1795, 19.  AaO. 74.  AaO. 73.  Johann Joachim Bellermann: Der Theologe, oder encyklopädische Zusammenstellung des Wissenswürdigsten und Neuesten im Gebiete der theologischen Wissenschaften. Für Protestanten und Katholiken, Erfurt 1803, 19.

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jeweiligen Fächerkulturen funktionieren. Man kennt die Spielregeln. Das Anliegen aber, gemeinsam evangelische Theologie zu betreiben, „zusammen zu denken“⁷, um damit Kirche, Schule und Gesellschaft zu fördern, spielt – wenn überhaupt – auch bei Kirchengeschichtlerinnen, Ethikern und Religionspädagoginnen eine recht untergeordnete Rolle. Gerade das aber kann man von Schleiermachers Enzyklopädie und ihren Vorgängerinnen immer noch lernen: Evangelische Theologie ist eine Funktion der Kirchenleitung im Kontext gesellschaftlicher Aufgaben und Realitäten. Die theologische Syntheseleistung darf nicht länger von den Theologieprofessoren auf die Examenskandidaten, Pfarrerinnen und Lehrer abgeschoben werden. Die Fächer „zusammenzudenken“ muss eine Leitperspektive jeder Fachprofessur werden. Jede Disziplin an einer evangelisch-theologischen Fakultät hat sich als Beitrag zur evangelischen Theologie zu konzipieren. Die evangelisch-theologischen Fakultäten dürfen sich nicht länger damit begnügen, eine Ansammlung unverbunden nebeneinander stehender, recht interessanter Fächer zu sein, die sich aber nichts mehr zu sagen haben. „Zusammen-denken“⁸ sollte zum Motto jedes evangelisch-theologischen Fachbereichs und Instituts werden. Um diesem notwendigen Anliegen gerecht zu werden, genügt es keineswegs, Schleiermachers Enzyklopädie zu lesen. So wegweisend ihr Grundgedanke ist, so unzureichend und zeitverhaftet – wie jede gute Theologie und Philosophie – ist ihre fachspezifische Ausgestaltung. Sie hat mit dazu beigetragen, dass sich die biblischen Fächer in Deutschland als rein historische Disziplinen verstehen und sich von ihrer theologischen Aufgabe der Kirchenleitung entfernt haben. Der Skandal von Schleiermachers Enzyklopädie, nämlich die Abwertung des Alten Testaments,⁹ wird von vielen Schleiermacherverehrern vor allem in der Systematischen und der Praktischen Theologie als solcher noch nicht einmal wahrgenommen. Dabei gab es schon zu Schleiermachers Zeiten alternative Modelle, die die Aufgaben der Bibelwissenschaften breiter anlegten als Schleiermacher, die historische Bestimmtheit jeder Disziplin ins Bewusstsein riefen und die Diversität

 So das Motto der Arbeitstagung an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau (17./18. 2. 2012), auf der dieser Vortrag gehalten wurde: „zusammen-denken. Die theologischen Fächerkulturen und das Ganze der Theologie“.  S.o. Anm. 7.  Vgl. Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2. Auflage (1830), in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. HansJoachim Birkner u. a., Bd. I/6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg.v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998 (Studienausgabe Berlin/New York 2002), 321– 446 (Sigle KD2), § 115.

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des Christentums konstruktiv und nicht wie Schleiermacher vorwiegend polemisch behandelten. Da ich den zur Verfügung stehenden Raum vor allem dazu nutzen möchte, meinen Blick auf das Fach Neues Testament als eine evangelisch-theologische und kulturwissenschaftliche Disziplin vorzustellen, habe ich hier nicht genug Platz, um die zu Unrecht vernachlässigten Enzyklopädiekonzepte von Johann Lorenz von Mosheim, Johann Salomo Semler, Ludwig Wachler oder Johann Ernst Christian Schmidt ins Gedächtnis zu rufen.¹⁰ Man lernt aus diesen Enzyklopädien mit ihren sehr verschiedenen Ansätzen nicht nur, dass Schleiermacher nicht der Erfinder und schon gar nicht der Namensgeber der theologischen Enzyklopädie oder auch nur der Disziplin „Praktische Theologie“ war. Man lernt, wie komplex und engagiert bereits vor Schleiermacher darüber nachgedacht wurde, das Ganze der evangelischen und etwa im Falle von Ignaz Thanners Enzyklopädie auch der katholischen Theologie im jeweiligen Wissenschafts- und Gesellschaftskontext zu umkreisen. Selbst interessante ökumenische Versuche finden sich darunter, wie etwa J. J. Bellermanns Vision, die er als „Gazophilacium Evangelicorum et Catholicum“ im Jahr 1803 vorlegte.¹¹ Vor allem aber wird ersichtlich, dass die Bestimmung der Bibelwissenschaften als historische Disziplinen eine unsachgemäße Reduktion der theologischen und kulturwissenschaftlichen Aufgaben der Bibelwissenschaften darstellt und zugleich die historische Verortung und Bedingtheit jeder theologischen Disziplin vernachlässigt. Der bedeutende Exeget, Historiker und hessische Landtagsabge-

 Vgl. etwa Vincent de Beauvais: Speculum Maius, Venedig 1591; Samuel Mursinna: Primæ lineæ encyclopædiæ theologicæ, Halle 1764; Lorenz von Mosheim: Kurze Anweisung, die Gottesgelahrtheit vernünftig zu erlernen, in academischen Vorlesungen vorgetragen, nach dessen Tode übersehen und zum Druck befördert durch C. E. v. Windheim, Helmstedt 1756; Johann Salomo Semler: Versuch einer nähern Anleitung zu nützlichem Fleisse in der ganzen Gottesgelehrsamkeit für angehende Studiosos Theologiä, Halle 1757; Franz Xaver Gmeiner: Schema encyclopaediae theologicae per terras Austriae, Graz 1786; Franz Oberthür: Encyclopaedia et methodologia theologica, Bd. 1, Salzburg 1786; P. Stephan Wiest: Specimen encyclopaediae ac methodologiae theologicae in usum academicum, Ingolstadt 1788; L. Wachler: Grundriß einer Encyklopädie (s. Anm. 3); J. J. Bellermann: Der Theologe (s. Anm. 6); Jan Clarisse: Encyclopaedia theologicae epitome, Lyon 1809; Ignaz Thanner: Encyklopädisch-methodologische Einleitung zum akademisch-wissenschaftlichen Studium der positiven Theologie, insbesondere der katholischen, München 1809; Johann Ernst Christian Schmidt: Theologische Encyclopädie, Gießen 1811; Johann Traugott Leberecht Danz: Encyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften, Weimar 1832; Karl Rudolph Hagenbach: Encyklopädie und Methodologie der theologischen Wissenschaften, Leipzig 1833; Franz Anton Staudenmaier: Encyklopädie der theologischen Wissenschaften als System der gesamten Theologie, Bd. 1, Mainz 1840.  J. J. Bellermann: Der Theologe (s. Anm. 6), 13.

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ordnete Johann Ernst Christian Schmidt etwa entwarf in seiner 1811 publizierten Theologischen Encyclopädie eine interessante Gliederung evangelischer Theologie, die die exegetischen Fächer nicht den historischen Disziplinen zuordnet, obwohl Schmidt einer der einflussreichsten Vertreter historisch-kritischer Exegese war, und soweit ich sehe, eine der ersten auch so benannten historisch-kritischen Einleitungen in das Neue Testament publizierte. Er eröffnet seine Theologische Encyclopädie mit den Worten: „Der Zweck der theologischen Encyclopädie, (so wie dieser Name hier genommen wird,) ist eine Uebersicht des ganzen Gebietes der Theologie zu geben. Sie gewährt für das theologische Studium den Nutzen, den bey dem geographischen eine General-Karte gewährt.“¹² Er teilt dann die theologische Landschaft in vier Regionen ein: „I. Historische Theologie. Darstellung der Schicksale des Christenthums. II. Exegetische Theologie. Untersuchung der Quellen desselben. III. Systematische Theologie. Darstellung der Lehren desselben. IV. Praktische Theologie. Anweisung zur Anwendung desselben.“¹³ An Schmidts Einteilung finde ich bedenkenswert, dass mit der Voranstellung der Historischen Theologie die geschichtliche Bedingtheit und Positionalität der Theologie als Ganzer, wie auch jeder einzelnen Fragerichtung in den Blick gerät, auch die der philosophischen Theologie. Die Berücksichtigung der historischen Dimension der Theologie als Ganze verhindert, diesen Aspekt auf die Kirchengeschichtsschreibung und die historisch-kritische Exegese abzuschieben. Die Bezeichnung ‚Historische Theologie‘ hält in Erinnerung, dass auch die historische Perspektive im Rahmen der Organisation evangelischer Theologie eine theologische Perspektive bleibt und nicht vom Historischen aufgesogen werden darf. Die Exegese dezidiert als ‚Exegetische Theologie‘ zu bezeichnen, vermeidet den theologischen Rückzug, den viele Exegeten seit dem 19. und mehr noch im 20. und nun im 21. Jahrhundert in der Folge des Fachverständnisses als historische Disziplin vollzogen haben, indem sie sich als „reine Historiker“ und nicht mehr als Theologen verstanden haben. Durch die der exegetischen Theologie zugewiesene Aufgabenbestimmung, die Quellen des Christentums zu untersuchen, verpflichtet Schmidt die Theologie darauf, die Differenz der Theologien der biblischen Bücher zu ihren kirchlichen Auslegungen im Blick zu behalten. Zugleich konzipiert Schmidt die biblische Exegese dahingehend, ihren Gegenstand – die biblischen Bücher und die Bibel als Ganze – immer in Bezug auf christliche Theologie und Praxis hin auszulegen.

 J. E. Ch. Schmidt: Theologische Encyclopädie (s. Anm. 10), 1.  AaO. 3.

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Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, sei an dieser Stelle offen zugegeben, dass ich Johann Ernst Christian Schmidt für einen zu Unrecht vergessenen Neutestamentler aus der Anfangszeit historisch-kritischer Exegese halte, in der man noch um die mit dieser Perspektive verbundenen philosophischen Entscheidungen wusste. Dennoch führe ich ihn nicht als überlegenes Gegenmodell zu Schleiermacher an, sondern als einen anderen Blick auf die Kartographie der Theologie, der verdeutlichen kann, dass es durchaus Alternativen zu eingefahrenen Fachverständnissen gibt, die nicht erst durch den linguistic bzw. cultural turn möglich wurden, sondern im Modus des Vergessenen auf ihre Wiederentdeckung warten. Kurzum: Mit Johann Ernst Christian Schmidt begreife ich das Fach Neues Testament an evangelisch-theologischen Fakultäten nicht als historische, sondern als theologische und kulturwissenschaftliche Disziplin. Allerdings unterscheidet sich mein Blick auf das Gebiet der evangelischen Theologie insgesamt und das Fach Neues Testament im Besonderen auch von Schmidt durch das von mir favorisierte Paradigma der Kommunikation. Wie für alle theologischen Disziplinen spielt darin auch für das Fach Neues Testament die historische Dimension weiterhin eine unverzichtbare Rolle. Aber aus theologischen und semiotischen Gründen dürfen die exegetischen Fächer nicht länger auf Geschichtswissenschaft reduziert werden. Bevor ich aber mein Konzept nochmals¹⁴ anzeige, möchte ich wegen ihrer wirkungsgeschichtlichen Bedeutung zumindest einen kritischen Blick auf Schleiermachers Enzyklopädie werfen, um zu verdeutlichen, warum ich der Auffassung bin, dass Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums so voller Probleme ist, dass sie nicht taugt, die gegenwärtigen enzyklopädischen Probleme des Faches Evangelische Theologie zu bearbeiten.

 Ich habe dies bereits getan in Stefan Alkier: Enzyklopädische Skizzen. Die theologische Aufgabe neutestamentlicher Wissenschaft im interdisziplinären Diskurs, in: Ders./Hans-Günter Heimbrock (Hg.): Evangelische Theologie an Staatlichen Fakultäten. Konzepte und Konstellationen Evangelischer Theologie und Religionsforschung, Göttingen 2011, 322– 344, und in dem Arbeitsbuch Ders.: Neues Testament (utb basics), Tübingen/Basel 2010, 5 – 12. Aus diesen Beiträgen übernehme ich unten im Abschnitt 3 weite Teile, um meine Position, die Bibelwissenschaften als theologische Disziplinen zu markieren, darzustellen. Vgl. zur neueren enzyklopädischen Diskussion Martin Rothgangel/Edgar Thaidigsmann (Hg.): Religionspädagogik als Mitte der Theologie? Theologische Disziplinen im Diskurs, Stuttgart 2005. Auch in diesem Band habe ich den Zusammenhang der evangelischen Theologie als gemeinsame Aufgabe aller Fächer an theologischen Fakultäten angemahnt: Stefan Alkier: Es geht ums Ganze! Wider die geschichtswissenschaftliche Verkürzung der Bibelwissenschaften oder Aufruf zur intensiveren Zusammenarbeit der theologischen Disziplinen, aaO. 165 – 170.

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2 Die organologische Funktion des Ursprünglichen in Schleiermachers enzyklopädischem Ansatz¹⁵ 2.1 Grundzüge des Ursprungsdenkens Schleiermachers organologisches, d. h. dem lebendigen Zusammenhang aller Phänomene verpflichtetes Denken steht im Kontext eines identitätsontologischen Ursprungsdenkens,¹⁶ das im letzten Drittel des 18. und dann vollends im 19. Jahrhundert alle Wissensdiskurse durchzieht. Das Anfangsgeschehen gibt demzufolge in besonderer Weise Aufschluss über Wesen und Wirklichkeit aller Phänomene. Das Hauptanliegen dieses Ursprungsdenkens ist es, Wahrheit und zeitlichen Anfang zusammenzudenken, um ausgehend von einem wesenhaften Anfang den identitätsstiftenden Zusammenhang geschichtlicher Erscheinungen zu begreifen. Diese identitätsontologisch bestimmte Ursprungskonzeption dient zugleich als Bewertungskriterium geschichtlicher Erscheinungen. Was diesem Denken zufolge keinen reinen Anfang aufweisen kann, wie etwa nach Herder und Schleiermacher der Islam und das Judentum, kann auch keine eigenständige Identität ausbilden und gilt daher als minderwertig. Die Frage nach dem zeitlichen Anfang wird daher zur Frage nach dem Wesen und dem Wert der Phänomene. Der jeweilige Ursprung wird in den Kategorien der Genieästhetik beurteilt. Der ideale Ursprung muss original, d. h. rein, natürlich, ungekünstelt, eigenständig und unverwechselbar sein, um eine geschichtliche Erscheinung als herausragend und bedeutend zu bewerten. Wer das Wesen der Sprache verstehen will, muss in diesem Wissensparadigma nach der Ursprache fragen, wer Wesen und Zusammenhang der Pflanzenwelt erforschen möchte, sucht wie Goethe nach der Urpflanze, wer Wesen und Zusammenhang der Evangelien verstehen möchte, rekonstruiert ein Urevangelium und wer das Wesen des Christentums begreifen möchte, erforscht das Urchristentum. Während Zedlers Universallexikon 1746/47 lediglich 23 Worte mit dem Präfix Ur- aufführt, finden sich im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm dann über 800 Komposita mit diesem Präfix. Es handelt sich dabei aber

 Die Ausführungen zu Schleiermacher folgen weitgehend, aber in gekürzter Weise meiner Dissertationsschrift: Stefan Alkier: Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin (BHTh 83), Tübingen 1993, 150 – 161.  Ich habe dieses Denken ausführlich in meiner Dissertation dargestellt (s. Anm. 15). Der vorliegende Abschnitt bietet daraus leicht gekürzte Abschnitte insbesondere der Seiten 110 – 120. 144– 172.

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nicht nur um einen quantitativen Anstieg, sondern vielmehr um einen programmatischen Umbruch. Im Mittelhochdeutschen erzeugte das Präfix Ur- zwar eine komparative Steigerung, jedoch ohne zeitliche Konnotationen. Noch in Zedlers Lexikon ist zu lesen: „Hier erinnern wir, was die Juristen schon vorlängst angemercket, daß nämlich der historische Ursprung einer Sache nicht allezeit der Grund ihrer Rechte sey.“¹⁷ Genau diese Differenz wird aber im Ursprungsdenken bestritten. Wesen und zeitlicher Ursprung fallen zusammen und potenzieren sich gegenseitig. Das Kompositum ‚Urchristentum‘ wird von dem Pädagogen Johann Bernhard Basedow 1779 ganz in der Logik des neuen Ursprungsdenkens gebildet. Er möchte das ihm zufolge verschüttete „ursprüngliche Christentum“ wiederherstellen. Für das Syntagma „ursprüngliches Christentum“ benutzt er ab seiner 1779 verfassten und 1780 publizierten Schrift Friede zwischen dem wohlverstandnen Urchristenthume und der wohlgesinnten Vernunft ¹⁸ die kontrahierte Form ‚Urchristentum‘. Urchristentum ist von Basedow bis Schleiermacher aber kein soziologischer, sondern ein dogmatischer Begriff. Er bezeichnet bei Basedow die wahre, ursprüngliche Lehre Jesu und seiner unmittelbaren Apostel. Der bedeutende Bibelwissenschaftler Johann Philipp Gabler definierte den Begriff im Jahre 1816 dann folgendermaßen: „Urchristenthum im gewöhnlichen Sinn, als Summe der Ideen der ersten Christen, kann also mit dem reinen Christenthum nicht identifiziert werden; denn der Inbegriff aller Ideen der ersten Christen mußte viel lokales und temporelles enthalten, u. sie konnten daher nicht alle zur göttlichen Offenbarung gehören. […] Aber Urchristenthum kann auch heißen der Inbegriff der Urideen oder Grundideen des Christenthums, und damit ist es mit dem reinen Christenthum einerley. Man muß also historisches, wie es in der Wirklichkeit war, u. kritisch geläutertes Urchristenthum unterscheiden.“¹⁹

Schleiermachers Enzyklopädie ist nicht zuletzt eine dem Ursprungsdenken verpflichtete Theorie des Urchristentums, die den Inbegriff der Urideen des Chris-

 Zedlers grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd. 51, Halle/ Leipzig 1747, 610.  Johann Bernhard Basedow: Vorschlag an die Selbstdenker des 19ten Jahrhunderts zum Frieden zwischen dem wohlverstandnen Urchristenthume und der wohlgesinnten Vernunft, 2 Tle., Irenopel in Alethinien 1780.  Johann Philipp Gabler: Biblische Theologie vorgetragen von J.P. Gabler nach Bauer, Breviar. Theol. Bibl. E.F.C.A.H. Netto, Jena 1816, in: Otto Merk: Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen (MThSt 9), Marburg 1972, 114– 134, 126.

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tentums im Leben Jesu als der „Urtatsache des Christentums“ historisch verorten möchte.

2.2 Das Leben Jesu als „Urtatsache des Christentums“ Sahen die meisten Aufklärer die positive Religion im Vergleich zur natürlichen als etwas Unbedeutendes, weil Zufälliges an, so verstand bereits Gotthold Ephraim Lessing die positive Religion als notwendige Konkretisierung der natürlichen Religion. Dabei blieb aber die Wahrheitsfähigkeit der positiven Religion von der ihr zu Grunde liegenden natürlichen Religion abhängig. Johann Gottfried Herder hingegen bewertete die positive Religion höher als die natürliche. Aber erst Friedrich Schleiermacher bestritt in seinen Reden über die Religion (1799) die Möglichkeit einer natürlichen Religion grundsätzlich. Ihm zufolge sind die positiven Religionen die alleinige Wirklichkeit der Religion. Die Unmöglichkeit einer natürlichen Religion begründet er damit, „daß überall gar nichts als etwas Allgemeines und Unbestimmtes, sondern nur als etwas Einzelnes und in einer durchaus bestimmten Gestalt wirklich gegeben und mitgeteilt werden kann, weil es sonst nicht Etwas, sondern in der That Nichts wäre“²⁰. „So wenig ist an eine besondere persönliche Ausbildung zu denken in der natürlichen Religion, daß ihre ächtesten Verehrer nicht einmal mögen, daß die Religion des Menschen eine eigene Geschichte haben und mit einer Denkwürdigkeit anfangen soll.“²¹

Genau das – „eine eigene Geschichte haben und mit einer Denkwürdigkeit anfangen“ – ist eines der beiden Kennzeichen der von Schleiermacher ursprungslogisch konzipierten positiven Religionen. Das andere Merkmal besteht im Grad der Ursprünglichkeit ihres Anfangs, die die unverwechselbare Identität garantiert. Religion als „Anschauung des Universums“²², als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“²³ bedarf Schleiermacher zufolge einer konkreten und ursprünglichen Perspektive der Anschauung, eines „Centralpunkts“²⁴, der „Alles […] fixirt was

 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bd. I/2: Schriften aus der Berliner Zeit (1796 – 1799), hg.v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 185 – 326 (Studienausgabe Berlin/New York 2001), 272 [189]. Die Seitenzahlen in eckiger Klammer beziehen sich auf den Originaldruck von 1799.  AaO. 309 [273 f].  AaO. 240 [118] u. ö. Vgl. aaO. 213 [55].  AaO. 212 [53].  AaO. 303 [259]

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vorher vieldeutig und unbestimmt war“, und der als „bestimmter Geist“ die Identität des daraus Folgenden ermöglicht.²⁵ Ist das Universum unendlich, so sind auch die möglichen Perspektiven unendlich und zunächst gleichberechtigt. Je genauer aber der zeitliche mit dem wesentlichen Ursprung zusammenhängt bzw. im Idealfall zusammenfällt, desto vollkommener ist in Schleiermachers Wertesystem die daraus erwachsene positive Religion. Die christliche Religion ist Schleiermacher zufolge deshalb die vollkommenste, weil ihr geschichtlicher Anfang und ihre „innere Eigenthümlichkeit“²⁶ aufs genaueste zusammenhängen. Jede positive Religion beginnt mit einer „Urtatsache“: „Dieses nun soll durch den Ausdrukk positiv bezeichnet werden, der individuelle Gehalt der gesammten frommen Lebensmomente innerhalb einer religiösen Gemeinschaft, sofern derselbe abhängig ist von der Urthatsache, aus welcher die Gemeinschaft selbst als eine zusammenhängende geschichtliche Erscheinung hervorgegangen ist.“²⁷

Keine andere „Urtatsache“ ist nach Schleiermacher so rein wie die des Christentums: das Leben Jesu. Die Leben-Jesu-Vorlesung Schleiermachers²⁸ wird von dem in der Glaubenslehre formulierten Gedanken getragen, „daß man das Eigenthümliche am wenigsten verfehlen wird, wenn man sich an das mit der Grundthatsache am genauesten zusammenhangende auch vorzüglich hält“²⁹. Das Leben Jesu muss Schleiermachers Ursprungsdenken gemäß rein, unverwechselbar, natürlich und widerspruchsfrei sein, wenn es als Ursprung des Christentums aufgefasst werden soll. Fühlen, Denken, Wollen und Handeln bilden im Leben Jesu eine vollkommene und ungekünstelte Einheit. Jesus ist Schleiermacher zufolge die personifizierte Identität schlechthin: das „Ursprünglichgesetztsein des göttliche Geistes in  AaO. 303 [260].  Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube, nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Auflage (1830/31), 2 Bde. in 1 Bd., hg.v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008 (Studienausgabe, seitengleich mit: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bde. I/13.1 und 13.2, Berlin/New York 2003 – Sigle CG2), § 10.1, Bd. 1, 81 [63]. Die Seitenzahlen in eckiger Klammer beziehen sich auf den Originaldruck von 1830/31.  CG2 § 10 Zs., Bd. 1, 89 [69].  Ich danke Volker Leppin für den Hinweis, dass es auch schon vor Schleiermacher LebenJesu-Vorlesungen in Jena gab. Vgl. dazu Volker Leppin: Auf dem Weg zur Konstitution des Fächerkanons. Zu den Vorlesungsverzeichnissen der Theologischen Fakultät Jena 1749 – 1854, in: Thomas Bach/Jonas Maatsch/Ulrich Rasche (Hg.): ‚Gelehrte‘ Wissenschaft. Das Vorlesungsprogramm der Universität Jena um 1800 (Pallas Athene 26), Stuttgart 2008, 59 – 69.  CG2 § 11, Bd. 1, 94 [74].

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ihm“ streitet nicht „mit dem Wesen einer rein menschlichen Entwikkelung und Persönlichkeit“.³⁰ Das Wirken Jesu Christi setzen die von ihm selbst eingesetzten Apostel fort. Während in den reinen Ursprung des Lebens Jesu nichts Fremdes, Differenz Erzeugendes eindringen konnte, mischt sich in das vom Ursprung abgeleitete Apostolische Differenz. Durch die Notwendigkeit der Vermittlung – also durch Kommunikation – wird aus dem ursprünglich Unmittelbaren ein Vermitteltes und durch die individuell bedingten Unterschiede der Empfänger der Botschaft mischt sich Fremdes darunter. Jesu Gottesbewusstsein, seine Lehre und sein Handeln waren in Bezug auf ihn selbst unmittelbar. Doch bereits im Akt der Kommunikation mit seinen Jüngern wird es ein vor allem sprachlich Vermitteltes. Daher unterscheidet Schleiermacher hinsichtlich der Stiftung der Kirche ihren Ursprung durch Christus und ihre institutionelle Konstituierung durch die Apostel.Vor dem Tod Jesu konnte sich Schleiermacher zufolge noch keine „Gemeinschaft der Gläubigen unter sich“³¹ bilden, weil die Anziehungskraft Jesu zu groß war. Jesus selbst aber legte durch die Bildung des Apostelkreises und durch den Taufbefehl das Fundament der Kirche. In seiner Kirchengeschichtsvorlesung zeigt Schleiermacher ganz in der Logik des Ursprungsdenkens den weiteren Verlauf der Entstehung des Christentums auf. Der Beginn der eigentlichen Kirchengeschichte wird auf Pfingsten datiert. Pfingsten gilt Schleiermacher durch den massenhaften Beitritt zum Christentum entsprechend des Wertesystems des Ursprungsdenkens, wonach stets der Plural den reinen Singular verunreinigt, als „Quelle der Korruption“: „Fragen wir nach der Beschaffenheit solcher Massen, wie die 3000 am Pfingstfeste: so müssen wir sagen, Ja, ergriffen waren sie, sonst hätten sie sich nicht zugesellt, aber wie vieles von dem alten, was im Widerspruch mit dem neuen Princip stand, mag bewußtlos in ihnen zurückgeblieben sein, und dies bewußtlose ist die Quelle der Corruption in der Geschichte.“³²

Schleiermachers ursprungslogische Variante der Verfallstheorie beginnt mit dem „Geburtstag“ der Kirche auf der Basis seiner Diffamierung des Alten Bundes, die in

 Friedrich Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Bd. I/6: Das Leben Jesu. Vorlesungen an der Universität zu Berlin im Jahre 1832 gehalten. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und Nachschriften seiner Zuhörer hg.v. K. A. Rütenik, Berlin 1864, 107.  AaO. 310.  Friedrich Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Bd. I/11: Geschichte der christlichen Kirche. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg.v. C. Bonnell, Berlin 1840, 19.

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der Enzyklopädie mit der Abwertung der alttestamentlichen Schriften³³ ihre konsequente Fortsetzung findet.

2.3 Das Urchristentum in Schleiermachers Enzyklopädie Schleiermacher organisiert die theologische Wissenschaft in seiner Enzyklopädie als philosophische, historische und praktische Theologie. Der philosophischen Theologie kommt die Aufgabe zu, „das eigenthümliche Wesen des Christenthums“³⁴ zu bestimmen. Sie ist unterteilt in die Apologetik und die Polemik. Schleiermacher wendet sich gleichermaßen gegen die Illusion, aus dem historischen „Stoff“³⁵ das Wesen des Christentums „bloß empirisch“ bestimmen zu können, wie auch gegen den Versuch, es „rein wissenschaftlich“ zu „construiren“.³⁶ Seine Alternative zu diesen beiden Verfahren besteht darin, das gegenüber den anderen Religionen Besondere des Christentums mit seinem geschichtlichen Werden in Beziehung zu setzen. Schleiermachers Apologetik versucht, das Wesen des Christentums im Vergleich zu den anderen Religionen herauszuarbeiten. Sie muss begründen, dass und inwiefern das Christentum eine eigenständige Religion ist. Dabei gilt für Schleiermacher die ursprungslogische Regel: „Je mehr auf ursprüngliche Thatsachen zurükkgehend, desto größeres Anrecht auf Selbständigkeit und umgekehrt“³⁷. Hatte Johann Salomo Semler als entschiedener Gegner jeder Ursprungsromantik gerade erst die radikale Diversität des anfänglichen Christentums entdeckt,³⁸ so argumentiert Schleiermacher ganz im Duktus der organologischen Ursprungsideologie dafür, die Verschiedenheit der ältesten christlichen Kirchen als sekundäres Phänomen zu begreifen, da das Christentum als eine „organische Gemeinschaft“³⁹ nicht aus einem anfänglich Gegensätzlichen entsprungen sein könne. Bestimmt die Apologetik das Wesen des Christentums durch den Anspruch des Christentums gegenüber den anderen Religionen, ein organisches Ganzes,  Vgl. KD2 § 115.  KD2 § 32, 338 u. ö.  KD2 § 65, 350.  KD2 § 32, 338.  KD2 § 45, 343.  Vgl. S. Alkier: Urchristentum (s. Anm. 15); Ders.: Unerhörte Stimmen. Bachtins Konzept der Dialogizität als Interpretationsmodell biblischer Polyphonie, in: Melanie Köhlmoos/Markus Wriedt (Hg.): Wahrheit und Positionalität, Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Leipzig 2012, 45 – 69, bes. 47– 52.  KD2 § 49, 344.

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ursprünglich Identisches zu sein, so richtet sich die Polemik nach innen. Schleiermacher überträgt ihr die Aufgabe, die Vielfalt der christlichen Gemeinschaft als pathologisch zu diffamieren und sie als „[k]rankhafte Erscheinungen eines geschichtlichen Organismus“⁴⁰ zu erklären. Diese „können theils in zurükktretender Lebenskraft gegründet sein, theils darin, daß sich beigemischtes [F]remdartige[s] in denselben für sich organisirt“⁴¹. Es entspricht ganz dem organologischen Ursprungskonzept, wenn Schleiermacher Diversität als Verfall und diesen wiederum mit der biologischen Kategorie des Pathologischen als „krankhaft“ begreift. Die organologische Ursprungsideologie Schleiermachers kann nicht lediglich als zu entmythologisierender Zeitgeist verharmlost und vernachlässigt werden. Sie ist auch nicht nur der Grund für eine so offensichtliche Fehlentscheidung im Detail wie Schleiermachers abschätzige Haltung dem Alten Testament gegenüber.⁴² Vielmehr ist sie konstitutiv für die Gesamtanlage der Schleiermacher’schen Enzyklopädie. Ihr ist nämlich die funktionale Voranstellung der philosophischen Theologie geschuldet, der die Aufgabe zukommt, „die eigentlich geschichtliche Anschauung des Christenthums“⁴³ zu begründen. Wenn geschichtliche Erscheinungen als organische Ganzheiten begriffen werden, Identität und Wesen einerseits, Differenz und Verfall anderseits paarig assoziiert und dann gegenübergestellt werden, so kann nur eine das Wesen und damit die Ganzheit bestimmende Disziplin an den idealen Beginn der theologischen Wissenschaft gestellt werden. Dieses Wesen des Christentums muss so konstruiert werden, dass es mit dem Ursprung aufs Genaueste übereinstimmt. Anders wäre der geschichtliche Zusammenhang des Ganzen nicht mehr zu gewähren. Zeitlicher und wesenhafter Ursprung müssen von Schleiermacher aus seinem organologischen Systemzwang heraus als identisch gesetzt werden. Dieser wesenhaften Auszeichnung des Ursprünglichen verdankt die exegetische Theologie, die Schleiermacher in der 1. Auflage von 1811 noch als „Kenntniß von dem Anfang des Christenthums“⁴⁴ und in der 2. Auflage von 1830 als „Kenntniß des Urchristenthums“⁴⁵ definiert, ihre Stellung. Zusammen mit der Kirchengeschichte als „Kenntniß von dem Gesamtverlauf des Christenthums“ und

 KD2 § 54, 346.  Ebd.  Vgl. KD2 § 115.  KD2 § 65, 350.  Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 1. Auflage (1811), in: Ders.: Universitätsschriften (s. Anm. 9), 243 – 315 (Sigle KD1), 28 (Orig.pag.) § 19, 268.  KD2 § 85, 358.

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der in Dogmatik und Statistik unterteilten „Kenntniß von seinem Zustand in dem gegenwärtigen Augenblikk“ bildet sie die historische Theologie.⁴⁶ „Kenntnis des Urchristentums“ als exegetische Aufgabe heißt für Schleiermacher nun aber gerade nicht die historisch-soziologische Erforschung des Erscheinungsbildes des anfänglichen Christentums. Diese Aufgabe bleibt der Kirchengeschichte vorbehalten, die eben nicht die „Kenntnis“, sondern die „Zeit des Urchristenthums“⁴⁷ behandelt. Das Syntagma „Zeit des Urchristentums“ bedeutet dabei nicht, dass in dieser Zeit ausschließlich das Urchristentum existierte. Vielmehr beklagt Schleiermacher verfallstheoretisch bereits hier die „Einwirkung fremder Principien“⁴⁸. Es handelt sich um den Zeitraum, in dem das Urchristentum entsteht. Daher spricht Schleiermacher in seiner Kirchengeschichtsvorlesung auch diesbezüglich konsequent vom „apostolischen Zeitalter“⁴⁹ und nicht etwa von der Geschichte des Urchristentums. Die „Kenntnis des Urchristentums“ muss aus dem Zeitraum des Urchristentums rekonstruktiv ausgesondert werden. Sie kann „nur aus den schriftlichen Documenten, die in diesem Zeitraum der christlichen Kirche entstanden sind, […] gewonnen werden“⁵⁰. Dabei ist es die überzeitlich-normative Perspektive einer auf dem Boden organologischer Ursprungsideologie konzipierten Exegese, „nur dasjenige zur Betrachtung zu ziehen, auch aus verschiedenen Momenten, woraus der reine Begriff des Christenthums dargestellt werden kann“⁵¹. Die Folge dieses Ansatzes zieht eine weitere Begrenzung der exegetischen Arbeit nach sich: „Nicht alle christliche Schriften aus dem Zeitraum des Urchristenthums sind schon deshalb Gegenstände der exegetischen Theologie, sondern nur sofern sie dafür gehalten werden[,] zu der ursprünglichen, mithin […] für alle Zeiten normalen Darstellung des Christenthums beitragen zu können.“⁵²

Diese Einschränkung ist für Schleiermachers organologisches System zwingend, weil die „vollkommene Reinheit“ nur „in Christo“ existierte.⁵³ Die auf ihn folgende „Fülle“, der Plural der „Folgerungen und Anwendungen“, stand aber bereits unter

 Ebd.  KD2 § 161, 383.  KD2 § 160, ebd.  Vgl. Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bd. II/6: Vorlesungen über die Kirchengeschichte, hg.v. Simon Gerber, Berlin/New York 2006, 127. 490 u. ö.  KD2 § 88, 360.  KD2 § 84, 358.  KD2 § 103, 365.  KD2 § 108, 367.

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der Einwirkung der „natürliche[n] Unvollkommenheit“.⁵⁴ Schleiermachers Urchristentum ist also ganz dem Sprachgebrauch seiner Zeit gemäß keine historiographische Kategorie, sondern ein ursprungsideologisch gebildeter dogmatischer Normbegriff, der das identitätslogisch konzipierte Wesen des normalen Christentums der pathologischen Diversität christlicher Lehren und Institutionen entgegenstellt. Es liegt nichts Wegweisendes darin, das organologische Ursprungskonzept der Enzyklopädie Schleiermachers fortzuschreiben. Es ist unauflösbar verbunden mit der Diffamierung des Fremden als Störung des Eigenen, wie sie sich skandalös in der Abwertung des Alten Testaments unverblümten Ausdruck verleiht: „Daß der jüdische Kodex keine normale Darstellung eigenthümlich christlicher Glaubenssäze enthalte, wird wol bald allgemein anerkannt sein. Deshalb aber ist nicht nöthig – wiewohl es auch zuläßig bleiben muß – von dem altkirchlichen Gebrauch abzuweichen, der das alte Testament mit dem neuen zu einem Ganzen als Bibel vereinigt.“⁵⁵

Unter den Bedingungen und Notwendigkeiten gegenwärtigen theologischen Denkens, d. h. im Rahmen pluraler Wissensdiskurse und Lebensräume bedarf es eines Paradigmas, das der Aufgabe gewachsen ist, einen qualitativen, also kritischen Pluralismus zu befördern. Schleiermachers dem organologischen Ursprungsdenken verpflichteter enzyklopädischer Ansatz ist mit dieser Aufgabe überfordert.

3 Neutestamentliche Wissenschaft als Beitrag zur Kommunikation evangelischer Theologie – eine enzyklopädische Skizze Das Fach Neues Testament im Rahmen evangelischer Theologie entspricht der geschichtlichen und semiotischen Komplexität seines Gegenstandes, wenn es als theologische und kulturwissenschaftliche Disziplin angelegt wird, die zur Erschließung christlicher Kommunikation und damit zur kommunikativen Erschließung der Welt beiträgt.⁵⁶ Leitziel neutestamentlicher Wissenschaft als

 Ebd.  KD2 § 115, 369.  Vgl. Reiner Anselm/Stephan Schleissing/Klaus Tanner (Hg.): Die Kunst des Auslegens. Zur Hermeneutik des Christentums in der Kultur der Gegenwart, Frankfurt/M. 1999; Richard B. Hays/Ellen F. Davis (Hg.): The Art of Reading Scripture, Grand Rapids (Mich.)/Cambridge (U.K.)

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theologischer Wissenschaft von der Produktion und Rezeption frühchristlicher Zeichenzusammenhänge ist es, die theologisch sachgemäße Lektüre biblischer Schriften als eine unverzichtbare Stimme im Konzert pluraler Wahrheitskonzeptionen und kultureller Identifikationsangebote der Gegenwart zu erhalten und zu fördern und mit dieser kommunikativen Erschließung der Welt zur Gestaltung evangelischer kirchlicher und schulischer Praxis beizutragen.

3.1 Exegese im Kontext von Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft und Theologie: Verschiedene Kreise, verschiedene Blicke Das Neue Testament wie das Alte und auch die Bibel als Ganze werden nicht nur im Rahmen evangelischer, katholischer oder orthodoxer Theologien zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Es gibt nämlich nicht nur theologische Gründe, die Bibel zu erforschen. Die Bibel ist ein spannendes, höchst abwechslungsreiches Buch. Sie ist nicht nur ein Teil der Weltliteratur,vielmehr hat sie diese in den letzten 2000 Jahren maßgeblich mitgeprägt, ja zu einem großen Teil sogar veranlasst. Biblische Stoffe bilden bis heute den Ausgangspunkt von Romanen, phantastischer Literatur, Science Fiction, Pop Songs, Werbespots etc. Die Bibel als literarisches Werk erster Güte und unerreichter Wirkkraft gehört zum kulturellen Kernbestand menschlicher Kommunikation. Umberto Eco unterstrich diesen Sachverhalt in einem Interview am 28.12. 2009: „Grob geschätzt lassen sich drei Viertel der westlichen Kunst nicht verstehen, wenn man nicht weiß, was Altes und Neues Testament und die Heiligengeschichten erzählen“.⁵⁷ Literaturwissenschaftler und Kunsthistoriker ohne Bibelkenntnisse und ohne Kenntnisse über ihre Rezeptionsgeschichte wären inkompetente Literaturwissenschaftler und Kunsthistoriker. Gleichermaßen werden Exegeten ohne ästhetisches know how ihrem Auslegungsgegenstand nicht gerecht. Die biblischen Texte als Texte zu lesen, nach ihren literarischen und rhetorischen Strukturen und Funktionsweisen zu fragen und die poetische Kraft der Bibel zu erforschen ist kein Zusatz zur „eigentlichen“ Exegese, sondern Grundbedingung exegetischen Verstehens. Daher hat sich die Exegese im Zuge des linguistic turn (etwa seit 1965) und

2003; Eckart Reinmuth: Hermeneutik des Neuen Testaments. Eine Einführung in die Lektüre des Neuen Testaments, Göttingen 2002; Thomas A. Schmitz: Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt 2002; Wolfgang Stegemann (Hg.): Religion und Kultur. Aufbruch in eine neue Beziehung (TA 4), Stuttgart 2003; George Aichele: The Postmodern Bible: The Culture and Bible Collective, New Haven/London 1995.  Zitiert nach WAZ vom 29.12. 2009, 1.

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etwas später des cultural turn (etwa seit 1980) international gesehen darauf eingelassen, sich mit Fragen der Textlinguistik, der Narratologie, der Rhetorik, der Metapherntheorie, der Intertextualität, der Poetik, der Kulturanthropologie und der Kulturtheorie im Ganzen zu befassen und an diesen Forschungen auch mit eigenen Beiträgen interdisziplinär zu partizipieren.⁵⁸ Die historisch-kritische Forschung hat schon seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert mit ihrem literaturgeschichtlichen Methodenrepertoire die Entstehung der biblischen Texte untersucht. Literarkritik, Formgeschichte und Redaktionsgeschichte als historisch-kritische Basismethoden versuchen die Genese biblischer Schriften im Kontext antiker Literaturgeschichte zu verstehen. Die historisch-kritische Exegese ist im Wesentlichen ein literaturgeschichtliches Programm, das sowohl die Mikrogattungen (z. B.Wundergeschichten, Gleichnisse, Streitgespräche) als auch die Makrogattungen (Evangelien, Apostelgeschichte, Briefe, Apokalypse) im Kontext antiken Kulturschaffens begreifen will. Mit diesem literaturgeschichtlichen Interesse auf das Engste verbunden war ebenfalls von Beginn historisch-kritischer Exegese an die Erforschung der politischen Geschichte. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts kam dann noch die für die Erforschung der neutestamentlichen Schriften höchst relevante sozialgeschichtliche Forschung hinzu. Das antike Judentum gehört ebenso wie das sich Schritt für Schritt etablierende frühe Christentum zu den prägenden Faktoren antiker Geschichte. Ohne die solide Kenntnis des antiken Judentums und Christentums kann man nicht Althistoriker sein. Und ohne die Kenntnisse der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Geschichte der Entstehungskulturen des frühen Christentums fehlen der Exegetin Grundkompetenzen ihres Faches. Die frühchristliche Literatur wird nicht in einem luftleeren Raum produziert und rezipiert, sondern mitten in den Konfliktkonstellationen gesellschaftlicher und individueller Kommunikation. Sie nimmt an gesellschaftlichen Prozessen teil, kommentiert, kritisiert, etabliert diese und wird dadurch selbst zu einem einflussreichen gesellschaftlichen und politischen Faktor. Zu den maßgeblichen kulturellen Formatierungsprozessen tragen in der Antike wie in unserer Gegenwart die Religionen erheblich bei. Neben der Literaturgeschichte befasst sich die historisch-kritische Exegese vor allem mit der vergleichenden Religionsgeschichte. Aus dieser exegetischen Forschung heraus etablierte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Religionsgeschichtliche  Dafür standen programmatisch die Zeitschriften Semeia und Linguistica Biblica. Mittlerweile aber ist das zum Allgemeingut des internationalen bibelwissenschaftlichen Diskurses geworden. Auch historisch-kritische Lehrbücher kommen heute nicht mehr ohne linguistische und semiotische Terminologie wie Synchronie, Diachronie, Intertextualität etc. aus.

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Schule,⁵⁹ die entscheidenden Anteil an der Formierung einer vergleichenden Religionswissenschaft hatte. Wie die historisch-kritische Exegese überhaupt ist auch die religionsgeschichtliche Forschung zum Neuen Testament hauptsächlich Erforschung der kulturgeschichtlichen Zusammenhänge der Entstehung biblischer Schriften. Fragt die Literaturgeschichte vornehmlich nach den literarischen Einflüssen bzw. Zusammenhängen der Entstehung der einzelnen frühchristlichen Schriften, so ist die religionsgeschichtliche Forschung an der Verortung des Christentums als einer Religion neben anderen bzw. der verschiedenen christlichen Gruppierungen als religiöser Phänomene neben anderen in der allgemeinen antiken Religionsgeschichte interessiert und versucht so, bestimmte religiöse Vorstellungen, Überzeugungen und Organisationsformen, die sich in frühchristlichen Schriften finden, aus ihren Zusammenhängen mit anderen Religionen zu erklären. Exegese im Kontext evangelischer Theologie kann es sich nicht leisten, auf eine dieser Perspektiven der wissenschaftlichen Erforschung biblischer Texte zu verzichten. Ihre spezifische Aufgabe besteht nun darin, die Vielfalt der Perspektiven mit Blick auf ihren Beitrag zur evangelischen Theologie, also für die theoretische Reflexion der religiösen Kommunikation in Kirche, Schule und Gesellschaft zu gewichten. – Genau diesen praxisbezogenen Aspekt aller theologischen Disziplinen halte ich mit Schleiermachers Bestimmung evangelischer Theologie als eine positive Wissenschaft auch für die gegenwärtige Diskussion zur Organisation evangelisch-theologischer Fakultäten für maßgeblich.⁶⁰ Deshalb muss neutestamentliche Wissenschaft als theologische Disziplin danach fragen, was aus der Vielfalt des exegetisch Wiss- bzw. Erforschbaren theologisch notwendig ist, um im Rahmen evangelischer Gemeinden bzw. evangelischen Religionsunterrichts die theologische Botschaft der neutestamentlichen Schriften in ihrem Zusammenhang mit den alttestamentlichen Schriften unter den

 Vgl. dazu Carsten Colpe: Die religionsgeschichtliche Schule. Darstellung und Kritik ihres Bildes vom gnostischen Erlösermythos (FRLANT 60), Göttingen 1961; Werner Klatt: Hermann Gunkel (FRLANT 100), Göttingen 1969; Gerd Lüdemann (Hg.): Die „religionsgeschichtliche Schule“. Facetten eines theologischen Umbruchs (Studien und Texte zur religionsgeschichtlichen Schule 1), Göttingen 1996.  Vgl. S. Alkier/H.-G. Heimbrock (Hg.): Evangelische Theologie (s. Anm. 14); Jens Schröter (Hg.): Die Rolle der Theologie in Universität, Gesellschaft und Kirche. Beiträge des Symposiums der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie vom 17.–19. September 2010 an der Theologischen Fakultät der Karls-Universität Prag (VWGTh 36), Leipzig 2012; Mareile Lasogga/Martin Heimbucher/Joachim Ochel/Udo Hahn (Hg.): Der Bedeutungswandel christlicher Religion in der Gesellschaft. Herausforderungen für Theologie und Kirche. Dokumentationen der XV. Konsultation Kirchenleitung und wissenschaftliche Theologie, Hannover 2011.

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Bedingungen gegenwärtigen Weltwissens als evangelische Position im gesamtgesellschaftlichen Wissensdiskurs argumentativ zu kommunizieren. Evangelische Theologie dient der Praxis. Anders als Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft usw., die sich qua Fachkonstruktion nicht darum zu kümmern brauchen, ob ihre Ergebnisse Perspektiven für die Praxis des Lebens anbieten, ist gerade dies das leitende Interesse exegetischer Forschung im Kontext evangelischer Theologie. Weil neutestamentliche Wissenschaft auf die Praxis des Lebens und die Praxis der Institutionen Kirche und Schule zielt, stellt sie die Wahrheitsfrage radikal, und das heißt unter den Bedingungen gegenwärtigen Kommunizierens: positionell und dialogisch, aus der Perspektive ihrer Konfession, die damit selbst immer in Frage gestellt wird, und im Wissen darum, dass es andere, konkurrierende argumentationsfähige Perspektiven und Positionen gibt. Diese theologische, auf die Gestaltung evangelischer Kommunikation zielende Arbeit, kann keine andere Disziplin übernehmen. Konfessionsgebundene neutestamentliche Wissenschaft braucht die konfessionsungebundenen Partnerdisziplinen wie Religionswissenschaft, Alte Geschichte, Literaturwissenschaft, Linguistik, Altphilologie, um ihre genuine Arbeit sachgerecht auszuüben, sie kann und darf sie aber nicht an diese Fächer abtreten. Wer nur Religionsgeschichtler, Historiker oder Literaturgeschichtler sein will, hört auf, evangelischer Theologe zu sein.

3.2 Alte, wiederentdeckte und neue Aufgaben neutestamentlicher Wissenschaft Das Fach Neues Testament hat es mit der Exegese, also mit der methodischen Auslegung neutestamentlicher Schriften und mit der kritischen Begleitung seiner Kommunikation in Kirche, Schule und Gesellschaft zu tun. Die historisch-kritische Hermeneutik ⁶¹ hält die Einsicht wach, dass alle Verstehensprozesse geschichtlich verortet sind und deshalb immer Stellung beziehen zu Prozessen, die nicht abgeschlossen sind. Die kategoriale Semiotik ⁶² bringt die Erkenntnis ein, dass es sich

 Vgl. Gerhard Ebeling: Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche, in: Ders.: Wort und Glaube, Tübingen 1960, 1– 49; E. Reinmuth: Hermeneutik des Neuen Testaments (s. Anm. 56).  Vgl. dazu Stefan Alkier: Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung (WUNT 134), Tübingen 2000, 55 – 86; Ders.: Neutestamentliche Wissenschaft – Ein semiotisches Konzept, in: Christian Strecker (Hg.): Kontexte der Schrift II. Kultur, Politik, Religion, Sprache – Text. FS Wolfgang Stegemann, Stuttgart 2005, 343 – 360; Ders.: Die Realität der Auferweckung

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bei allen Kommunikationsprozessen – also auch bei dem des auslegenden Verstehens – um dynamische Zeichenprozesse handelt. Wissenschaftliche Exegese wird diese semiotischen und kontingenten geschichtlichen Bedingungen des Verstehens gleichermaßen bedenken, um die stets begrenzte Reichweite jeglichen Verstehens auszumessen und kritisch zwischen dem Ausleger und dem Auslegungsgegenstand zu unterscheiden. Exegetische Forschung muss deshalb sowohl die historische Verortung der biblischen Schriften in ihrer Entstehungskultur als auch die Bedingungen ihrer Lektüre unter den Gegebenheiten der Gegenwartskultur in den Blick nehmen. Diese Arbeit wird strukturiert durch intratextuelle, intertextuelle und intermediale Verfahren.⁶³ Mit Bezug auf die Entstehungskultur(en) der neutestamentlichen Texte ist es notwendig, neben der politischen Geschichte sowie der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte auch die antike Religions-, Literatur-, Kunst- und Mediengeschichte insbesondere im Rahmen jüdischer, hellenistischer und römischer Kultur zu berücksichtigen. Gleichermaßen muss aber auch die Gegenwartskultur differenziert wahrgenommen werden, und gerade auch die Phänomene gelebter Religion⁶⁴ müssen religionswissenschaftlich und theologisch in den Blick geraten, um die Rezeptionsbedingungen gegenwärtiger Bibellektüre in Schule, Kirche und Gesellschaft zu untersuchen. Diese beiden Pole – kulturelle Produktionsbedingungen der biblischen Schriften auf der einen und die Gegenwartskultur, in der biblische Texte heute kommuniziert werden, auf der anderen Seite – markieren die Brennpunkte einer kategorial-semiotisch gebildeten neutestamentlichen Hermeneutik. Verbunden sind die beiden Pole durch die Rezeptionsgeschichte der biblischen Schriften. Der Schwerpunkt der historischen Studien liegt auf der Fragestellung, wie die anthropologischen, religiösen, politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen, ästhetischen und medialen Strukturen als bestimmende kulturelle Faktoren

in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments (NET 12), Tübingen/Basel 2009; Hermann Deuser: Gott: Geist und Natur. Theologische Konsequenzen aus Charles S. Peirce’ Religionsphilosophie (TBT 56), Berlin/New York 1993; Ders.:: Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus (RPT 12), Tübingen 2004; Ders.: Religionsphilosophie, Berlin/New York 2009; Gesche Linde: Zeichen und Gewißheit. Semiotische Entfaltung eines protestantischtheologischen Begriffs (RPT 69), Tübingen 2013; James J. Liszka: A General Introduction to the Semeiotic of Charles Sanders Peirce, Bloomington u. a. 1996.  Eine Einführung dieser methodischen Verfahren habe ich in meinem Arbeitsbuch „Neues Testament“ vorgelegt (s. Anm. 14).  Vgl. dazu Hans-Günter Heimbrock: Evangelische Theologie als Praxis-Wissenschaft. Empirisch-theologische Erschließung gelebter Religion, in: Ders./S. Alkier (Hg.): Evangelische Theologie (s. Anm. 14), 203 – 240.

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zur Konstruktion von Plausibilitätsstrukturen beigetragen haben, die die neutestamentlichen Schriften setzen und voraussetzen. Die neutestamentlichen Schriften müssen dazu literaturwissenschaftlich im Rahmen antiker Textproduktion untersucht werden. Das erfordert die Weiterarbeit an den klassischen Einleitungsfragen, gattungs-, formkritische und rhetorische Untersuchungen und ebenso die Erforschung produktionsorientierter Intertextualität. Notwendig dazu ist aber auch eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete neutestamentliche Archäologie und Kunstgeschichte, die die sogenannte materiale Kultur der Antike und ihren Mediengebrauch erforscht. Das gemeinsame Ziel dieser Fragenkomplexe ist es, frühchristliche Praxis und Theologie(n) im Rahmen ihrer Entstehungskultur zu rekonstruieren. Das Fach Neues Testament als theologische Disziplin darf aber nicht nur diese historische Perspektive mit Blick auf die Entstehungsbedingungen der neutestamentlichen Schriften einnehmen, sondern muss ebenso die Frage nach den Kommunikationsbedingungen biblischer Schriften unter den kulturellen und politischen Bedingungen der Gegenwart bearbeiten, da die Frage nach der Relevanz biblischer Schriften für die gegenwärtigen Lebenszusammenhänge im schulischen Religionsunterricht und in der kirchlichen Praxis aus evangelischtheologischer Perspektive vornehmliche Aufmerksamkeit verdient. Wie werden gegenwärtige Plausibilitätsstrukturen konstruiert und was geschieht, wenn diese auf diejenigen biblischer Schriften treffen? Hierzu bedarf es der interdisziplinären Ausarbeitung dieser Fragestellung im Gespräch mit der Religionspädagogik, mit Religions- und Sozialwissenschaften, philosophischer Erkenntnistheorie und Hermeneutik sowie literaturwissenschaftlicher Hermeneutik, Medien- und Rezeptionsforschung. Eckart Reinmuth hat mit seinen eigenen Arbeiten⁶⁵, aber auch mit seinen Neuland betretenden Rostocker Symposien zum Thema „Neues Testament und Politik“ das Bewusstsein für die politischen Implikationen der Auslegungen und der Texte selbst geschärft und gezeigt, wie notwendig und ergiebig die Zusammenarbeit zwischen neutestamentlicher und politikwissenschaftlicher Forschung ist.⁶⁶ Semiotik als eine fächerübergreifende Grundlagendisziplin ver-

 Eckart Reinmuth: Anthropologie im Neuen Testament, Tübingen 2006; Ders.: Hermeneutik des Neuen Testaments (s. Anm. 56); Ders.: Neutestamentliche Historik – Probleme und Perspektiven (ThLZ.F 8), Leipzig 2003; Ders.: Neues Testament, Theologie und Gesellschaft. Hermeneutische und diskurstheoretische Reflexionen, Stuttgart 2012.  Eckart Reinmuth (Hg.): Politische Horizonte des Neuen Testaments, Darmstadt 2010; Ders. (Hg.): Neues Testament und politische Theorie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen, Stuttgart 2011. Vgl. auch Stefan Alkier/Richard B. Hays (Hg.): Revelation and the Politics of Apocalyptic Interpretation, Waco/Texas 2012.

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Stefan Alkier

mag diese Fragestellungen mittels einer zeichentheoretisch begründeten Kommunikations-, Kultur- und Interpretationstheorie zu verbinden. Unter einer kommunikationsorientierten Perspektive auf das Fach Neues Testament erweitern sich die Anforderungen stofflich und medial. Neutestamentliche Wissenschaft hat es dann nicht mehr ausschließlich mit den neutestamentlichen Schriften zu tun, sondern auch mit der kritischen Begleitung ihrer Rezeption bis in die Gegenwart hinein in Literatur, Kinderbibeln, Malerei, bildender Kunst, Musik, Videoclips, Filmen und Neuen Medien. Die Einsicht in die Bedeutung der Medien für die Gegenwart ermöglicht aber auch eine größere Sensibilität für medientheoretische und ‐geschichtliche Fragestellungen mit Blick auf die Kulturen der Entstehungszeit der neutestamentlichen Schriften. Eine Medientheorie des Frühen Christentums ist ein Desiderat der Forschung, obwohl einige medientheoretische Fragen wie die nach dem Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit seit Erhardt Güttgemanns Offenen Fragen zur Formgeschichte ⁶⁷ auch in der deutschsprachigen Exegese⁶⁸ und mit anderem Akzent auch in der religionsgeschichtlichen Forschung⁶⁹ diskutiert werden.

3.3 Die Kommunikation des Wortes Gottes Die biblischen Schriften wurden unter den Bedingungen menschlicher Kommunikation produziert und werden unhintergehbar unter diesen Bedingungen rezipiert. Zu Recht hat die historisch-kritische Exegese dafür gestritten, für die Auslegung biblischer Schriften um der Wahrheit willen keine Sonderregelungen gelten zu lassen, die sich aus den Titeln „Heilige Schrift“ oder „Wort Gottes“ ableiten lassen sollten. Die Frage, wie die biblischen Schriften zum Wort Gottes, zur Heiligen Schrift werden, ist eine theologische Frage, die zwar konfessionell, aber im Modus nachvollziehbarer und diskussionswürdiger Hypothesen in den gesamtgesell-

 Erhardt Güttgemanns: Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums. Eine methodologische Skizze der Grundlagenproblematik der Form- und Redaktionsgeschichte (BEvTh 54), München 21971.  S. dazu Stefan Alkier/Anja Cornils: Bibliographie Mündlichkeit-Schriftlichkeit. Eine interdisziplinäre Bibliographie mit Arbeiten aus den Bereichen Theologie, Religionswissenschaften, Geschichtswissenschaft, Altphilologie, Linguistik, Literaturwissenschaft und Philosophie, in: Gerhard Sellin/Francois Vouga (Hg.): Logos und Buchstabe. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Judentum und Christentum der Antike (TANZ 20), Tübingen/Basel 1997, 235– 265.  Vgl. dazu Klaus Hock: Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 22006, 31– 36.

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schaftlichen wie akademischen Diskurs eingebracht werden muss. Es ist eine der entscheidenden Stärken protestantischer Theologie mit der Lehre von der Schrift in der Tradition Martin Luthers, angemessen differenzieren zu können. Sie vermeidet sowohl das bibelfundamentalistische Missverständnis, die Bibel sei ein monolithischer unfehlbarer Block zeitloser Wahrheiten, als auch das moderne römisch-katholische institutionenfundamentalistische Missverständnis, in der Institution der Unfehlbarkeit des Papstes eine sinngarantierende Letztinstanz in Auslegungsfragen zu besitzen. Zur Heiligen Schrift wird die Bibel Luther zufolge im Akt der Lektüre und zwar genau dann, wenn sie den jeweils Lesenden bzw. Hörenden seine Heilsbedürftigkeit erkennen lässt und im selben Augenblick Heil allein aus Gottes Gnade zuspricht.⁷⁰ Nicht der Leser bewerkstelligt diese Pragmatik des Textes, vielmehr ereignet sie sich in der Interaktion von Text und Lesendem; theologisch gesprochen durch das unverfügbare Wirken des Heiligen Geistes. Im Akt des Lesens bzw. Hörens wird dem Leser seine Heilsbedürftigkeit erlebbar und er erfährt im selben Atemzug den Zuspruch von Heil, der ihm Glauben und eine diesem Glauben angemessene gemeinschaftsorientierte Lebenspraxis ermöglicht. Nach protestantischem Schriftverständnis ist die Bibel nicht das Wort Gottes, vielmehr wird biblische Schrift zum Wort Gottes, wenn im Akt des Lesens bzw. Hörens klar und deutlich als Interpretanten des Gelesenen die Verfassung des Menschen vor Gott und der Weg zu seiner Rettung ausgebildet werden und allein Christus (solus Christus) als dieser Weg zur Rettung offensichtlich wird. Dieser Weg wird allein dem auf dieses göttliche Wort vertrauenden Glauben (sola fide) allein durch Gottes Gnade (sola gratia) eröffnet. Diese Kraft der göttlichen Einladung zum Heil entfaltet authentisch nur die so interpretierte Schrift als Quelle der Offenbarung Gottes: Das sola scriptura Luthers als pragmatisch-hermeneutisch-theologisches Schriftprinzip schließt das solus Christus, das sola gratia und das sola fide in sich ein, sodass sie jeweils als eine perspektivische Entfaltung des sola scriptura gelesen werden müssen.⁷¹

 Vgl. zur Karl-Heinz zur Mühlen: Art. Luther II., Theologie, TRE 21 (1991), 530 – 567, 533 f; Ders.: Gotteslehre und Schriftverständnis in Martin Luthers Schrift „De servo arbitrio“, in: JBTh 2 (1988), 210 – 225; Gerhard Ebeling: Luther und die Bibel, in: Ders.: Lutherstudien, Bd. 1, Tübingen 1971, 286– 301.  Vgl. Stefan Alkier: Der christliche Kanon als Quelle der Offenbarung Gottes. Theologiegeschichtliche Anmerkungen zu einem aktuellen Thema, in: Athina Lexutt (Hg.): Relationen – Studien zum Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation, FS Karl-Heinz zur Mühlen (AHSTh 1), Münster u. a. 2000, 115 – 138; Ders.: Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen. Sechs bibelwissenschaftliche Argumente gegen den christlichen Fundamentalismus, in: Ders./Hermann Deuser/Gesche Linde (Hg.): Religiöser Fundamentalismus. Analysen und Kritiken, Tübingen 2005, 191– 224; vgl. zur semiotischen Interpretation der Theologie Martin Luthers grundlegend G. Linde: Zeichen und Gewißheit (s. Anm. 62), Kap 3.

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Diese Theologie der Kommunikation zwischen Gott und Mensch mittels der interpretierten Schrift hat den Leser im Blick und fragt aus soteriologischem Interesse textpragmatisch nach der Interaktion von Text und Leser. Protestantische Theologie der Schrift verlangt nach einer differenzierungsfähigen semiotisch fundierten Kommunikationstheorie, die modellhaft denkbar werden lässt, wie aus Schriftzeichen durch das Wirken des Geistes Wort Gottes wird.⁷²

4 Den Kreis nicht schließen! Oder: Die andauernde Notwendigkeit enzyklopädischer Verständigung Die Auswahl und Organisation des gesellschaftlich relevanten Wissens ist eine kulturpolitische Machtfrage. Gesellschaften müssen darüber entscheiden, was für sie wissenswert ist und wie viel Arbeitskraft, Geld und Zeit für die Erforschung, Tradierung und Verbreitung dieses Wissens investiert werden soll. Mit der Bestimmung des Wissenswerten stecken Gesellschaften die Grenzen ihrer Kultur ab. Sie entwerfen und ordnen damit ihre jeweilige Welt und zeichnen so zugleich ein Bild von sich selbst. Das gilt freilich auch von den evangelischen Landeskirchen und ihrem Umgang mit Ressourcen. Aber nicht nur inhaltliche Fragen wie zum Beispiel die, ob die christliche Bibel weiterhin ein zu erforschender und zu tradierender Wissensbereich bleiben soll, entscheiden über die Gestaltung kultureller Kommunikation mit. Von gesellschaftlicher Relevanz ist nicht nur, was als wissenswert eingeschätzt wird, sondern genauso, wer an der Produktion und Kommunikation des Wissens beteiligt wird und wie es produziert, organisiert und kommuniziert werden soll. Die Bibelwissenschaften wie die evangelische Theologie als Ganze stehen damit wie jede andere Wissenschaft notwendigerweise immer wieder vor der Aufgabe, nicht nur die kulturelle Relevanz ihres Gegenstandes aufzuzeigen, sondern auch die Wahl ihrer Methoden und die Organisation ihres Diskurses mit Blick auf ihren Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft darzulegen.⁷³ Die enzyklopädische Frage heute stellt die evangelische Theologie vor die Aufgabe, sich nicht nur nach innen zu verständigen – was schon viel wäre. Sie muss vielmehr den inner circle so organisieren, dass er befähigt wird, weite Kreise

 Vgl. dazu Stefan Alkier: Vom Geist der Schrift oder: Von der heilsamen Kraft des Unverfügbaren, in: ZNT 25 (2010), 86 – 94; Ulrich Körtner: Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994, bes. 88 – 113.  Vgl. Eilert Herms: Pluralismus aus Prinzip, in: Ders.: Kirche für die Welt. Lage und Aufgabe der evangelischen Kirche im vereinigten Deutschland, Tübingen 1995, 467– 485.

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zu ziehen und das zum Teil ängstlich betriebene Spiel von Innen und Außen so mancher hinterwäldlerischer Kirchenleitungen, Kirchenrechtler und selbsternannter Gralshüter der Reinheit evangelisch-theologischer Fakultäten durch ein konfliktfreudigeres Modell von Positionalität und Dialogizität zu ersetzen, damit aus den evangelisch-theologischen Fakultäten keine sich nur um sich selbst drehenden Hamsterräder werden.

Volker Leppin

Die Kirchengeschichte im Kreis der theologischen Fächer Historische Offenlegung der vielfältigen Möglichkeiten christlicher Religion So groß die Anschlussfähigkeit von Schleiermachers Kurzer Darstellung des theologischen Studiums für heutige Selbstverständigungsprozesse in der Systematischen und der Praktischen Theologie sein mag¹ – in den seit einigen Jahren durchaus regen Debatten um die Stellung der Kirchengeschichte in der Theologie spielt die Schrift kaum eine Rolle. Nicht einmal der große Schleiermacherforscher Kurt Nowak hat sich auf sie bezogen, als er der Frage nachging,wie theologisch die Kirchengeschichte sei.² Hierfür gibt es auch gute Gründe, die den Schleiermacher’schen Text jedenfalls für kirchenhistorisches Arbeiten wenig anregend machen – und die die Frage aufwerfen, ob dergleichen für andere Disziplinen tatsächlich ganz irrelevant sein könne. Den wohl gewichtigsten Anstoß muss heutige historische Forschung an dem Anspruch nehmen, der Kirchenhistoriker möge sich an der Herausarbeitung eines „Wesens des Christentums“ beteiligen.³ Ein solcher Begriff scheint eine Ontologisierung historischer Phänomene nahezulegen, die heutigem historischen Arbeiten schlechterdings widerspricht. Doch selbst wenn man unterstellt, Schleiermacher habe sich von diesem Ballast der Begriffsgeschichte befreit,⁴ bleibt die Schleiermacher’sche Bestimmung der Aufgabe kirchenhistorischen Forschens für das 21. Jahrhundert unpraktikabel.

 S. die Beiträge von Christian Albrecht und Christine Axt-Piscalar in diesem Band.  Vgl. Kurt Nowak: Wie theologisch ist die Kirchengeschichte? Über die Verbindung und die Differenz von Kirchengeschichtsschreibung und Theologie, in: Ders.: Kirchliche Zeitgeschichte interdisziplinär. Beiträge 1984– 2001, hg.v. Jochen-Christoph Kaiser, Stuttgart 2002, 464– 473. Dieses Schweigen ist umso beredter, als Nowak in anderen Zusammenhängen durchaus die Kurze Darstellung würdigt und in ihrer Bedeutung hervorhebt (s. Ders.: Enzyklopädie – Zur Entstehung der Theologie als Wissenschaft im Zeitalter der Aufklärung, in: aaO. 61– 79, 75 – 78; Ders.: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 223 – 234). Eben diese historische Würdigung der Leistung Schleiermachers wird auch durch die folgenden kritischen Anmerkungen aus Sicht gegenwärtiger Theoriebildung nicht im Geringsten in Frage gestellt.  Affirmativ wird der betreffende Begriff u. a. von Christine Axt-Piscalar in ihrem Beitrag für diesen Band aufgegriffen.  K. Nowak: Schleiermacher (s. Anm. 2), 226, scheint diese Begrifflichkeit erheblich relativieren zu wollen, wenn er vermerkt, Schleiermacher habe hier „im damals schon üblichen Sprachgebrauch“ formuliert. Doch Schleiermacher selbst hat in seiner Vorbereitung auf die Dialektik

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Dies liegt an der konkreten Füllung, die Schleiermacher diesem Gebiet gibt: In § 160 weist er dem Historiker die Aufgabe zu, „dasjenige, was aus der eigentümlichen Kraft des Christlichen hervorgegangen ist, von dem, was teils in der Beschaffenheit der in Bewegung gesetzten Organe, teils in der Einwirkung fremder Prinzipien seinen Grund hat“, zu unterscheiden und so jene „eigenthümliche Kraft“ aus dem wandelbaren Geschichtsverlauf herauszupräparieren.⁵ Diese Formulierung erweist nun ihre für heutige Wahrnehmung problematischen Voraussetzungen in ihrer näheren Bestimmung in § 151. Die fragliche „Kraft“ wird hier dem Inneren zugeordnet und dessen Verhältnis zum Äußeren wiederum durch das Bild von der Seele im Verhältnis zum Körper gefasst.⁶ Diese hypostasierende Vorstellung von einer die Geschichte bewegenden Kraft mag unter den Auspizien

durchaus über den engen Zusammenhang von „Wesen“ und „Sein“ und damit eine ontologische Dimension des Wesensbegriffs reflektiert: „Das Wesen selbst ist die Form des Seins; die Form selbst ist das Wesen des Denkens“ (Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bd. II/10: Vorlesungen über die Dialektik, hg.v. Andreas Arndt, Bd. 1, Berlin/New York 2002, 7), und aus einer Vorlesungsmitschrift geht hervor, dass Schleiermacher von dem ‚Wesen‘ auch als von „dem Beharrlichen“ sprechen konnte (aaO., Bd. 2, Berlin/New York 2002, 212). Auch die Einbeziehung einer historischen Dimension in den Wesensbegriff erfolgt nicht ontisch, sondern allein epistemisch. So erklärt Schleiermacher in der ersten Auflage der Glaubenslehre: „Das Wesen des Christenthums von vorne herein bestimmen zu wollen, wäre […] vergeblich“ (Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube, nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 1. Auflage [1821/22], 2 Bde., hg.v. Hermann Peiter, Berlin/New York 1984 [Studienausgabe, seitengleich mit: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bde. I/7.1 und 7.2, Berlin/New York 1980], Bd. 1, 21), und nach § 32 der Kurzen Darstellung (2. Aufl.) lässt sich das Wesen des Christentums aus dem kritischen Verhältnis von geschichtlich Gewordenem und den „Gegensätze[n], vermöge deren fromme Gemeinschaften können voneinander verschieden sein“ (Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2. Auflage [1830], in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bd. I/6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg.v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998 [Studienausgabe Berlin/New York 2002], 321– 446 [Sigle KD2], 338), ableiten. In beiden Fällen geht es also um den Erkenntnismodus. In diesem Sinne macht auch Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion (BHTh 96), Tübingen 1996, 124, deutlich, dass es bei der Einbeziehung der geschichtlichen Dimension nicht um das Wesen selbst, sondern allein um dessen Bestimmung geht. So dürfte Christine Helmer: Schleiermachers exegetische Theologie. Urteilsbildung und Korrespondenz in der neutestamentlichen Wissenschaft, in: Dies. u. a. (Hg.): Schleiermachers Dialektik (RPT 6), Tübingen 2003, 55 – 77, 76, mit Recht festhalten: „Das Wesen des Christentums ist die Konstante, durch die gesamte Geschichte des Christentums hindurch“.  KD2 § 160, 383.  KD2 § 151, 380 f .

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des romantischen Zeitgeistes⁷ nahegelegen haben – heutiges kirchenhistorisches Arbeiten wird sich einer solchen Aufgabenstellung schwerlich verschreiben können, erst recht nicht, wenn man bedenkt, dass es sich nicht allein im Horizont der Theologie vollzieht, sondern unter Bedingungen interdisziplinären Arbeitens, in dem die für jede Forschung erforderliche Klärung der eigenen Vorannahmen nicht die Gestalt intersubjektiv inakzeptabler theologischer Setzungen annehmen kann. Die seit Schleiermacher eingetretenen Unterschiede, die den konstruktiven Umgang mit ihm erschweren, kann man vor allem an der geänderten institutionengeschichtlichen Bezogenheit einer Reflexion auf Kirchengeschichte festmachen: Als Schleiermacher über historische Theologie nachdachte, tat er dies zunächst einmal unter der Voraussetzung, dass die Professoren einer Theologischen Fakultät noch nicht auf einzelne Denominationen im heutigen Sinne begrenzt waren.⁸ Die Einheit, nach der heutige Enzyklopädien suchen, war noch nicht in dem Maße wie heute der Gefahr fachlicher Spezialisierung und übertriebener Ausdifferenzierung in Fachdiskurse ausgesetzt. Hinzu kommt, dass Schleiermacher einem Denkhorizont verpflichtet war, der selbstverständlich die klassische Gegenüberstellung der drei höheren Fakultäten zu den aus den artes hervorgegangenen Fächern voraussetzte.⁹ Eine solche Denkweise verbietet sich aber für die Kirchengeschichte allein schon deswegen, weil ihr wichtigster Gesprächspartner eben ein Fach der Philosophischen Fakultät geworden ist: die Geschichtswissenschaft. Wer heute den Status der Kirchengeschichte bedenkt, wird sich nicht mehr wie Schleiermacher auf einen binnentheologischen Denkvorgang beschränken dürfen, sondern muss eben dieser Zuordnung der Kirchengeschichte zur allgemeinen Geschichte Rechnung tragen. Mit diesen Entwicklungen hängt auch zusammen, dass zum Zeitpunkt des Schleiermacher’schen Entwurfs die Ausgestaltung historiographischer Theorien noch nicht vollzogen war: Droysens Historik erschien erst 1858¹⁰ – mit ihr be-

 Zur Verbindung Schleiermachers mit den Romantikern s. Kurt Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Weimar 1986.  Siehe K. Nowak: Schleiermacher (s. Anm. 2), 220; zur Ausdifferenzierung der Fächer s. am Beispiel Jenas Markus Iff: Liberale Theologie in Jena. Ein Beitrag zur Theologie- und Wissenschaftsgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts (TBT 154), Berlin/New York 2011.  S. hierzu Schleiermachers Gutachten Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende (1808), in: F. Schleiermacher: Universitätsschriften (s. Anm. 4), 15 – 100; vgl. zur geistesgeschichtlichen Einordnung Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt/M. 1973, 147– 149.  Johann Gustav Droysen: Grundriß der Historik, Jena 1858; s. zu ihm Klaus Ries (Hg.): Johann Gustav Droysen. Facetten eines Historikers (Pallas Athene 34), Stuttgart 2010.

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ginnen erst die Prozesse der Selbstverständigung in der Geschichtswissenschaft, die für die Kirchengeschichte jedenfalls nicht irrelevant sein können. Und auch die Kirchengeschichte selbst hat sich fundamental gewandelt. Die große Darstellung von Johann Matthias Schroeckh¹¹, die für das 18. Jahrhundert prägend war und noch in reichem Maße in Schleiermachers Kirchengeschichtsvorlesung einging, stellte als Materialsammlung eine beeindruckende Leistung dar – von einer auch hermeneutisch vorgehenden Geschichtswissenschaft ist sie noch weit entfernt, und es dauerte Jahrzehnte, bis sich in vielfältigen Debatten¹² ein eigenes Verständnis von Kirchengeschichte herauskristallisierte. Die anschließende Entwicklung hat diese Differenzierung eher gefördert als gehemmt. Erkennt man an, dass die Ausdifferenzierung der Fächer in der Theologie wohl auch zur Folge hat, dass der Versuch eines einzelnen Fachvertreters, einen enzyklopädischen Entwurf vorzulegen, die Gefahr mit sich brächte, dass ein Fach den anderen dekretiert, was sie zu tun haben,¹³ so wird man eine solche Enzyklopädie nur von den Fächern aus und durch saubere Rekonstruktion dessen, was in diesen Fächern geschieht, entwerfen können. Hierzu gehört zunächst einmal eine Wahrnehmung der Rahmenbedingungen und der konkreten Ausgestaltung der einzelnen Fächer.

1 Rahmenbedingungen: Zur heutigen Lage der Kirchengeschichte Das Fach Kirchengeschichte gehört unter den Bedingungen der Wissenschaftspolitik im beginnenden 21. Jahrhundert zu den privilegierten Fächern: Wie kaum ein anderes ist es geeignet, in interdisziplinären Projekten mitzuwirken. Kaum ein Germanist wird leugnen, dass sich ein Großteil der Literaturgeschichte nur mit  S. zu ihm Dirk Fleischer: Urchristentum, Reformation und Aufklärung. Zum Selbstverständnis des Wittenberger Historikers Johann Matthias Schroeckh, in: Albrecht Beutel/Volker Leppin/Udo Sträter (Hg.): Christentum im Übergang. Neue Studien zu Kirche und Religion in der Aufklärungszeit (AKThG 19), Leipzig 2006, 269 – 281; zur Benutzung der Schroeckh’schen Geschichte durch Schleiermacher s. Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bd. II/6: Vorlesungen über die Kirchengeschichte, hg.v. Simon Gerber, Berlin/New York 2006, XXV.  Hierzu jetzt, wiederum an einem Jenaer Beispiel, sehr erhellend Magdalena Herbst: Karl von Hase als Kirchenhistoriker (BHTh 167), Tübingen 2012.  Dass diese Gefahr gegeben ist, bestätigt unfreiwillig Konrad Stock: Die Theorie der christlichen Gewißheit. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 2005, dessen Ausführungen zum Fach Kirchengeschichte deren heutige Situation, wie sie sich insbesondere aus ihrer interdisziplinären Einbindung ergeben, gänzlich verfehlen.

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soliden Kenntnissen der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte verstehen lässt. Allgemeinhistorische Forschungen werden immer wieder zu dem Punkt kommen, an dem theologische Kompetenz, und dies möglichst im Modus historischer Forschung, erforderlich ist. Und auch aus der Binnenperspektive der Kirchengeschichte lässt sich sagen, dass die eigenen Forschungen ohne die Nachbardisziplinen der alten philosophischen Fakultäten gar nicht durchzuführen sind. Blickt man auf den aktuellen Publikations- und Kongressbetrieb, so kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass die parallel laufenden säkularen Wissenschaften wichtiger sind als die exegetischen, dogmatischen oder praktisch-theologischen Nachbarn innerhalb der Theologie.¹⁴ Was im Blick auf die Fähigkeit zur Bildung interdisziplinärer Verbünde als Stärke des Fachs erscheint, kann freilich binnentheologisch den Verdacht nähren, man habe es bei der Kirchengeschichte eigentlich mit einem Weltkind zu tun, dessen Ort innerhalb der Theologischen Fakultät allenfalls durch den Begriff der „Hilfswissenschaft“ angemessen beschrieben werden könne.¹⁵ Dieses berühmte Verdikt Karl Barths könnte man zu den Akten legen, in denen der Aufstieg und Niedergang der Wort-Gottes-Theologie dokumentiert ist – wenn schon eine Verständigung darüber erzielt worden wäre, wie die Kirchengeschichte heute zu verorten ist. Eben dies aber ist nicht der Fall – nicht zuletzt deswegen, weil die wohl am breitesten akzeptierte Fachdefinition letztlich noch im Schatten jener Abwertung steht: Albrecht Beutel hat mit seinem Verständnis von der Kirchengeschichte als „Geschichte der Inanspruchnahme des Christlichen“¹⁶ sehr dezi-

 Auf dieses mögliche Missverhältnis weist auch Hubert Wolf: Zwischen Theologie und Geschichte, in: ThRv 98 (2002), 379 – 386, 382, hin.  Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik I/1, Zürich 1932, 3; zur Einordnung in Barths Theologie s. Christian Uhlig: Funktion und Situation der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin (EHS. Reihe XXIII, 269), Frankfurt/M. u. a. 1985, 24– 29.  Albrecht Beutel: Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte. Begriff und Funktion einer theologischen Kerndisziplin, in: Ders.: Protestantische Konkretionen. Studien zur Kirchengeschichte, Tübingen 1998, 1– 27, 5; zur expliziten Auseinandersetzung mit dem Ebeling’schen Modell s. Ders.: Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift. Ein tragfähiges Modell?, in: Wolfram Kinzig/Volker Leppin/Günther Wartenberg (Hg.): Historiographie und Theologie. Kirchen- und Theologiegeschichte im Spannungsfeld von geschichtswissenschaftlicher Methode und theologischem Anspruch (AKThG 15), Leipzig 2004, 103 – 118; explizit schließen sich an dieses Modell an: Markus Wriedt: Über die Nutzlosigkeit der Kirchengeschichte. Anmerkungen zum ökumenischen Gespräch der Gegenwart aus der Sicht eines Kirchenhistorikers, in: Ders./Johannes Brosseder (Hg.): „Kein Anlass zur Verwerfung“. Studien zur Hermeneutik des ökumenischen Gesprächs. FS Otto Hermann Pesch, Frankfurt/M. 2007, 59 – 85, 77– 81; Uta Heil: Wann ist Kirchengeschichte „biblisch“? Anmerkungen zur Bedeutung und Problematik der veritas hebraica et graeca aus altkirchlicher Sicht, in: JBTh 25 (2010), 147– 173, 171 f; vorsichtig-optimistisch auch Sebastian Kranich: Christentumsgeschichte

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diert die alte Ebeling’sche Formel von der Kirchengeschichte als „Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift“¹⁷ fortgeschrieben. Diese verdankte sich ihrerseits einer spezifischen theologiehistorischen Situation: In Zeiten der Dominanz der Wort-Gottes-Theologie¹⁸ konnte Ebeling mit ihrer Hilfe der Kirchengeschichte einen Platz innerhalb der Theologie bewahren oder zurückerobern. Er hat damit freilich einen Aspekt in den Vordergrund gerückt, der für die theologische Einordnung der Kirchengeschichte zwar von großer Bedeutung ist,¹⁹ das Ganze des Faches aber schwerlich erfassen kann.²⁰ Hierauf hat Beutel mit seiner Formel contra Theologische Kirchengeschichte. Beobachtungen zu einem Streit, in: Klaus Tanner (Hg.): Christentumstheorie. Geschichtsschreibung und Kulturdeutung. FS Trutz Rendtorff (Theologie – Kultur – Hermeneutik 9), Leipzig 2008, 55 – 81, 81 f; zur Kritik an Beutels Überlegungen s. Michael Beyer: Historiographische und theologische Urteilsbildung in neueren Gesamtdarstellungen der Kirchengeschichte, in: W. Kinzig u. a.: aaO. 136 – 152, 142 f, sowie vor ganz anderem Hintergrund Martin Greschat: Kirchliche Zeitgeschichte. Versuch einer Orientierung (ThLZ.F 16), Leipzig 2005, 88, der darauf verweist, dass auf diese Weise „Ebelings Intention, den theologischen Charakter der Kirchengeschichte zu sichern, […] entfällt“.  Gerhard Ebeling: Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, in: Ders.: Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen (KiKonf 7), Göttingen 1964, 9 – 27, 22. Rainer Staats: Die Bedeutung der Geschichtstheologie für das Fach „Kirchengeschichte“ und die kirchliche Praxis, in: VuF 50 (2005), 34– 56, 50 f, hat diese Deutung geringfügig modifiziert als „Wirkungsgeschichte der Bibel“ aufgegriffen; beides verbindend, zeigt Wilfried Härle: Dogmatik, Berlin/New York ³2007, 33 f, wie leicht ein solches Verständnis kirchenhistorischer Forschung dogmengeschichtlich enggeführt werden kann.  S. zu den seinerzeitigen Deutungskämpfen um das Fach Kirchengeschichte die instruktive Studie von Klaus Fitschen: „Kirchengeschichtsschreibung muß um das Wesen der Kirche wissen.“ Selbstbestimmung und Selbstbegrenzung des Faches Kirchengeschichte nach 1945, in: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 1 (2007), 27– 46.  So ist es bemerkenswert, in welcher Vielfalt jüngst die Auslegungsgeschichte der Bibel zu einem Gegenstand kirchenhistorischer Forschung geworden ist; vgl. nur Alan J. Hauser/ Duane F. Watson (Hg.): A History of Biblical Interpretation, Bd. 1: The Ancient Period, Grand Rapids 2008; Bd. 2: The Medieval through the Reformation, Grand Rapids 2009; Michael David Coogan (Hg.): The Oxford Encyclopedia of the Books of the Bible, 2 Bde., Oxford 2011, sowie vor allem: Encyclopedia of the Bible and its Reception. Bislang 7 Bde., Berlin/New York 2009 ff.  Fragwürdig erscheint es, wenn Gerhard Besier/Hans G. Ulrich: Von der Aufgabe kirchlicher Zeitgeschichte – ein diskursiver Versuch, in: EvTh 51 (1991), 169 – 182, 179 – 181, hieraus ein Verständnis von Kirchlicher Zeitgeschichte ableiten, wonach jeweiliges historisches Verhalten an der Verkündigung gemessen wird. Gerade die historisch notwendige Einschränkung, es könne nur um das gehen, „was als Auslegung der Heiligen Schrift wirklich zu hören war“ (aaO. 181), wirft die Frage auf, ob hier nicht eine hermeneutische Quadratur des Kreises versucht wird. Dies mag legitim und geradezu erforderlich sein, wo es um die Kategorie der Schuld geht, die von beiden Autoren vehement eingebracht wird (ebd.) – die Frage des Irrtums aber lässt sich so gerade nicht entscheiden, sondern nur sub specie aeternitatis oder eben in der jeweils gegenwärtigen Antizipation: Wer über Geschichte urteilen will, sollte bewusst benennen, dass er dies als Späterer tut. Er kann es nicht anders.

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reagiert, die aber das Problem in sich trägt, so unscharf zu formulieren, dass der von Ebeling bewusst hineingenommene Aspekt einer Zuordnung zu normativen Zugängen zur Theologie gänzlich verschwindet. Die Wendung ‚Inanspruchnahme des Christlichen‘ ist offen genug, um so ziemlich alles zu beschreiben, was in der Kirchengeschichte behandelt wird, aber sie lässt die Frage offen, ob man hierzu eigentlich einer theologischen Disziplin bedarf, für die die Frage, wer wie und wofür das Christliche beanspruchen darf, jedenfalls nicht gänzlich irrelevant sein kann. Innerhalb der Zuordnung von deskriptiven und normativen Aspekten, die das Fach Kirchengeschichte prägen, droht das Beutel’sche Modell damit ganz in den Bereich des Deskriptiven abzurutschen. Wenn es lediglich um die „Inanspruchnahme des Christlichen“ geht, lässt sich nicht einmal erläutern, woher die Kirchengeschichte eigentlich Fragen generieren kann, die innerhalb der Theologie relevant sind – etwa die von Beutel stark in den Vordergrund gerückte predigtgeschichtliche Betrachtung.²¹ Diese Problematik bestätigt noch einmal die Schwierigkeit, in der sich die kirchenhistorische Arbeit befindet, wenn sie sich zwischen Theologie und Geschichtswissenschaft bewegt. Es stellt eine unangemessene Verharmlosung dar, wenn Christoph Markschies dies nur für einen Sonderfall der allgemeinen interdisziplinären Verfasstheit unserer gegenwärtigen Wissenschaftskultur hält.²² Denn zum einen ist die Zwischenstellung der Kirchengeschichte nicht optional, sondern in ihrer Fachdefinition gegeben, zum anderen liegt ihre besondere Schwierigkeit eben in dem Umstand, dass sie sich ebenso in einem Diskurs befindet, der sich als normativ versteht, wie in einem solchen, der sich als deskriptiv versteht. Dieser Unterscheidung entgeht man auch durch den heute wissenschaftstheoretisch selbstverständlichen Hinweis nicht, dass grundsätzlich jede wissenschaftliche Arbeit auf Voraussetzungen aufruht, die die Empirie prägen, dass es also keine reine Empirie gibt. So richtig dieses ist, so richtig ist doch auch, dass ein Unterschied zwischen gegebenenfalls offenzulegenden, in der Regel aber nur impliziten Voraussetzungen empirisch-deskriptiver Forschungen einerseits und normativen Setzungen andererseits besteht. Die deskriptive wissenschaftliche Arbeit ist wenigstens ideell auf allgemeine Akzeptanz im wissenschaftlichen Diskurs angelegt, während die normative Ausrichtung der Theologie an den Hochschulen der Neuzeit, aber auch schon im Mittelalter²³ darum weiß, dass ihre

 A. Beutel: Nutzen und Nachteil (s. Anm. 16), 23 f.  Christoph Markschies: Kirchengeschichte theologisch – einige vorläufige Bemerkungen, in: Ingolf U. Dalferth (Hg.): Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen (ThLZ.F 17), Leipzig 2006, 47– 75, 49.  Vgl. nur die Ausführungen von Thomas von Aquin: Summa theologiae I q. 1 a. 2; zu der für Geschichte entstehenden Problematik des aristotelischen Wissenschaftsverständnisses s. Gan-

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Voraussetzungen der Sache nach gar nicht allgemeinverbindlich sein müssen, ja, im strengen Sinne gar nicht sein können. Die entscheidende Frage für die Kirchengeschichte bleibt damit, wie sich normative und empirische Aspekte in der Kirchengeschichte zueinander verhalten. Ich habe dieses Problem einmal als die Schwierigkeit einer „doppelten Falle“ beschrieben²⁴ – man könnte es auch als doppeltes Misstrauen fassen: Aus theologisch-dogmatischer Perspektive bewegt sich die Kirchengeschichte in der Gefahr, nicht nur ihre Methoden, sondern auch ihre Fragen und Antworten von der allgemeinen Geschichtswissenschaft bestimmen zu lassen. Umgekehrt kann man sich Allgemeinhistoriker vorstellen, die dem historisch orientierten Theologen mit Skepsis entgegentreten und sich, gerade angesichts der Heftigkeit mancher Auseinandersetzungen, in einer rabies theologorum wähnen. Dass letzterer Verdacht heute wohl nur noch selten anzutreffen ist, mag dem erstgenannten Misstrauen weitere Nahrung geben. Die Legitimität beider Anfragen jedenfalls drängt dazu, sich Rechenschaft über den eigenen wissenschaftstheoretischen Stand abzulegen: als Historiker und als Theologe.

2 Der Ausgangspunkt: Heuristik im Horizont der Theologie Karl Barth hat seine Charakterisierung der Kirchengeschichte bekanntlich unter anderem mit dem Hinweis begründet, die Kirchengeschichte verfüge über keine selbständig zu stellende theologische Frage.²⁵ Damit mengt er zweierlei ineinander, was bei sauberer Betrachtung auseinanderzuhalten wäre, nämlich den Aspekt der Selbständigkeit und den des theologischen Charakters einer Frage. golf Hübinger: Theologie und Geschichtswissenschaft. Ihr Verhältnis in Geschichte und Gegenwart, in: K. Tanner (Hg.): Christentumstheorie (s. Anm. 16), 19 – 34, 21.  Volker Leppin: Kirchengeschichte zwischen historiographischem und theologischem Anspruch. Zur Bedeutung der Semiotik für das Selbstverständnis einer theologischen Disziplin, in: W. Kinzig u. a. (Hg.): Historiographie und Theologie (s. Anm. 16), 223 – 234, 223.  K. Barth: Kirchliche Dogmatik I/1 (s. Anm. 15), 3; vgl. die wichtigen Hinweise von Eilert Herms: Karl Barths Entdeckung der Ekklesiologie als Rahmentheorie der Dogmatik und seine Kritik am neuzeitlichen Protestantismus, in: Michael Beintker/Christian Link/Michael Trowitzsch (Hg.): Karl Barth in Deutschland (1921– 1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand, Zürich 2005, 141– 186, 176 – 178, zum theologiegeschichtlichen Kontext dieser Aussage im Œuvre Barths. Auch wenn man Herms darin nicht folgen mag, dass Barths Äußerungen hierdurch ihren pejorativen Charakter gänzlich verlören (aaO. 176), zeigt er doch, dass jedenfalls in der Einordnung der Kirchengeschichte als „unentbehrlich“ durch Barth ein wichtiges Anerkennungsmoment liegt.

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Anders gewendet: Man müsste Barth, wenn man es noch könnte, fragen, ob er der Kirchengeschichte zugestehe, dass sie selbständig zu stellende Fragen aufwerfe, diese aber eben nicht theologisch seien, oder ob in ihr umgekehrt theologische Fragen eine Rolle spielten, denen es nur an Eigenständigkeit fehle.Vielleicht fehlt es ihr ja auch an allem, oder der Satz ist in seinem apodiktischen Charakter schlicht nicht zureichend durchdacht. In jedem Falle verweist er darauf, dass der theologische Charakter der Kirchengeschichte zunächst an ihren Fragen hängt. Daraus ergibt sich als erste These: Der heuristische Grund für den theologischen Charakter der Kirchengeschichte liegt darin, dass sie ihre leitenden Fragen aus dem theologischen Diskurs generiert. Mit dieser These ist mehreres ausgesagt. Zunächst geht es um einen heuristischen Grund, nicht mehr.²⁶ Dies hält dezidiert unterschiedliche Antwortmöglichkeiten offen. Kirchengeschichte würde ihre Einbindung in den allgemeinhistorischen Diskurs aufgeben, wenn sie sich offen oder versteckt Antworten aus dogmatisch gesetzten Inhalten vorgeben oder sich in ihrer Arbeitsweise von einem spezifisch christlichen Wirklichkeitsverständnis leiten ließe.²⁷ Das mag für den Bereich der offenen Vorgaben evident und wenigstens formal unstrittig sein,²⁸ ist freilich auch in dieser Hinsicht schon zumindest begründungspflichtig gegenüber theologischen Vorannahmen, denn gerade für das Profil evangelischer Theologie sind anthropologische Grundkonstanten selbstverständlich, die im Rahmen des allgemeinhistorischen Diskurses problematisch erscheinen. So wird eine konsequent durchdachte Rechtfertigungslehre mindestens die Frage nach der freien Bestimmung des Menschen über seine Handlungen aufwerfen. Luther selbst hat sie in aller Schärfe in De servo arbitrio gestellt und dabei eine Lösung angeboten, die aus historiographischer Sicht nur bedingt schlüssig erscheint: Im Blick auf die Fragen seines Heils verfüge der Mensch nicht über seinen freien Willen, in Fragen,

 Insofern muss man vor der Tatsache, dass kirchenhistorische Forschung immer auch von der Frage gelenkt ist: „Woher kommen wir und wohin gehen wir?“ (s. Willem Frijhoff: Kirchengeschichte ohne Gott oder Glauben?, in: Concilium 42 [2006] 179 – 189, 189), keine Sorgen haben.  So die Lösung von Ch. Markschies: Kirchengeschichte – theologisch (s. Anm. 22), 62. Markschies macht so aus dem selbstverständlichen, zur kritischen Selbstprüfung unaufgebbaren wissenschaftstheoretischen Grundsatz, dass jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin sich von bestimmten Voraussetzungen leiten lässt, ein konstruktives Moment für die Theologizität der Kirchengeschichte.  In diesem Sinne ist der Warnung von K. Nowak: Wie theologisch ist die Kirchengeschichte? (s. Anm. 2), 473, vor einer „Retheologisierung“ der Kirchengeschichte auch nachhaltig zuzustimmen. Sie darf jedoch nicht dazu führen, auf die theologische Einbindung des kirchenhistorischen Fragehorizontes der Kirchengeschichte zu verzichten.

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die irrelevant für das Heil sind, hingegen schon.²⁹ Diese Unterscheidung ist hilfreich, insofern und insoweit sie empirisch nicht erfassbare Grundlagen des menschlichen Seins beschreiben will. Für empirisches Arbeiten ist sie gelinde gesagt nicht operationalisierbar. Nun ist es umgekehrt keineswegs nötig, für die Beschreibung historischer Vorgänge einen freien Willen des Menschen zu postulieren. Im Gegenteil: Historische Erklärungen arbeiten in hohem Maße mit dem Aufweis von Bedingtheiten, die wenn nicht Zwänge, so doch Dispositionen ausüben. Die Feinabgrenzung gegenüber den Thesen Wolf Singers stellt dabei ein eigenes Problem dar,³⁰ dem hier nicht weiter nachgegangen werden kann. Denn für den vorliegenden Zusammenhang ist entscheidend, dass gar nicht das Gegenüber von freiem und unfreiem Willen die entscheidende Schwierigkeit für eine Adaption lutherischer Anthropologie auf kirchenhistorisches Arbeiten darstellt, sondern die Frage nach göttlicher Lenkung einerseits, innerweltlicher Erklärung andererseits. Zu den Grundannahmen kirchenhistorischen Arbeitens seit der Aufklärung aber gehört mit der Entwicklung der pragmatischen Methode durch Lorenz von Mosheim die Erklärung historischer Prozesse aus innerweltlichen Bedingungen. Als solche nennt Mosheim die allgemeine Geschichte der Zeiten, die menschliche Natur, die politischen Zustände, die religionshistorischen Entwicklungen sowie die allgemeine Geistesgeschichte.³¹ Klar ist, dass es sich hier durchweg um innergeschichtliche Phänomene handelt – Schleiermachers Suche

 WA 18,781,8 – 10; entgegen der weitreichenden Ablehnung des Begriffs „Determinismus“ für Luther plädiert Friedrich Hermanni: Luther oder Erasmus? Der Streit um die Freiheit des menschlichen Willens, in: Ders./Peter Koslowski (Hg.): Der freie und der unfreie Wille. Philosophische und theologische Perspektiven, Paderborn/München 2004, 165 – 187, 176, dafür, von einem spezifisch „theologischen Determinismus“ zu sprechen, der besage, dass nichts ohne zureichenden Grund geschehe, dieser zureichende Grund aber durchweg Gottes Wille sei. Damit scheint mir aber gerade die Intention Luthers bei seiner Betonung, dass es in den inferiora durchaus ein liberum arbitrium gebe, nicht erreicht. Näher an der Argumentationsrichtung Luthers scheint mir Harry J. MacSorley: Luthers Lehre vom unfreien Willen nach seiner Hauptschrift De Servo Arbitrio im Lichte der biblischen und kirchlichen Tradition (BÖT 1), München 1967, 300 – 302, wenn er hier auf Spannungen bei Luther hinweist, die er freilich seinerseits überscharf als logischen Widerspruch deutet, ohne ihre jeweilige Aussageintention herauszuarbeiten.  Vgl. grundlegend Wolf Singer: Gehirn und Bewußtsein, Heidelberg 1994; vgl. zur Auseinandersetzung: Norbert Fischer: Philosophische Überlegungen zur Hirnforschung und zur menschlichen Freiheit. Mit kritischen Überlegungen zu Wolf Singer, in: ThGl 100 (2010), 216 – 231.  Johann Lorenz von Mosheim: Vollständige Kirchengeschichte des Neuen Testaments, aus dessen gesammten größern Werken und anderen bewährten Schriften mit Zusätzen vermehret und bis auf die neuern Zeiten fortgesetzet. Des ersten Bandes Erster Theil, welcher die drey ersten Jahrhunderte enthält, Heilbronn/Rothenburg ob der Tauber: Eckebrecht 1770, 9 f.

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nach einer „eigentümlichen Kraft“ jenseits der äußeren Bedingungen stellt gegenüber diesem erreichten wissenschaftlichen Standard eine heikle Retheologisierung dar.³² Dies gilt umso mehr, als auch ein Ansatz bei innerweltlichen Erklärungen auf einer eigenen Deutungsebene die Annahme einer göttlichen gubernatio nicht ausschließen muss.³³ Er bedeutet lediglich, vergleichbar dem Verzicht der Exegeten auf die Inspiration als Erklärungstheorie für die Genese biblischer Texte, den Verzicht auf eine methodische Verwendung des Gedankens göttlichen Eingreifens für die Erklärung des historischen Geschehens. Dieses wird so weit und so gut wie möglich säkular erklärt. Die vorgetragene These lenkt daher von den theologischen Antworten und Vorannahmen fort und verweist lediglich auf die Generierung der für Kirchengeschichte leitenden Fragen aus dem theologischen Diskurs – und das heißt dezidiert gegenüber anderen Ansätzen, die Heuristik zu bestimmen: Die theologischen Interessen des Faches Kirchengeschichte ergeben sich nicht allein aus dem zufälligen individuellen Bildungshorizont des Kirchengeschichte treibenden Theologen³⁴ oder gar seiner individuellen Glaubensüberzeugung³⁵, sondern aus dessen fachlicher Verankerung³⁶. Wenn Karl Barth dies mit der Aussage gemeint haben sollte, dass die Kirchengeschichte nicht über eine eigenständig zu stellende theologische Frage verfüge, so ist ihm nur zuzustimmen – und sogleich hinzuzufügen, dass der Satz genau in dieser Weise auch von allen anderen Fächern zu sagen ist: Eine theologische Frage wird nur zu einer theologischen, wenn sie das

 Vgl. F. Schleiermacher: Vorlesungen über die Kirchengeschichte (s. Anm. 11), XXXVIII.  Erwin Iserloh: Kirchengeschichte – eine theologische Wissenschaft, in: RG 80 (1985), 5 – 30, 25, holt diese Deutungsperspektive sehr unmittelbar in die Arbeit des Kirchenhistorikers hinein. In seinen folgenden Beispielen unterscheidet er dann freilich stets deskriptive und theologisch-deutende Perspektive. Eben im Blick auf Letztere ist dann aber zu fragen, ob es nicht sinnvoller ist, den eigenen, nicht spezifisch-kirchenhistorischen, sondern allgemeintheologischen Diskurszusammenhang deutlich zu machen, in den sie gehören; zu dieser Unterscheidung zweier Ebenen – einer historisch und einer systematisch interpretierenden – vgl. auch Klaus Fitschen: Profane Kirchengeschichte? Ortsbestimmung einer theologischen Disziplin, in: MEKGR 60 (2011), 402– 407.  So die Tendenz bei Hubert Wolf/Jörg Seiler: Kirchen- und Religionsgeschichte, in: Michael Maurer (Hg.): Aufriß der historischen Wissenschaften in sieben Bänden, Bd. 3: Sektoren, Stuttgart 2004, 271– 338, 315.  E. Iserloh: Kirchengeschichte (s. Anm. 33), 26, vertritt dezidiert eine „theologische Betrachtung, die vom Historiker verlangt, gläubiger Katholik zu sein“.  In gewisser Weise kann man damit die Rede von einem theologischen Diskurs als Weiterentwicklung der Vorstellung von einem Bezug der Theologie auf das christliche Kirchenregiment verstehen (KD2 § 5). Der Bezug auf den Diskurs vermeidet aber eine Engführung auf das kirchenleitende Amt, um Raum für die breitere Anlage gesellschaftlicher Ansprüche an Theologie zu lassen.

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Gesamte der Fächer in den Blick nimmt. Die elementare Frage nach Gottes Dreieinigkeit ist nicht eigenständig aus der Dogmatik zu stellen, sondern sie ergibt sich ebenso aus dem biblischen Befund und aus der Kirchen- und Theologiegeschichte und ist auch im Blick auf Verkündigung und Unterricht praktisch zu reflektieren. Das Barth’sche Modell einer impliziten Identifikation von Theologie im eigentlichen Sinne mit Dogmatik funktioniert heute nicht mehr.³⁷ Trutz Rendtorff hat am Beispiel der Ethik deutlich gemacht, dass auf dergleichen Subordinationen zu verzichten ist: „Die Grundfragen der Ethik sind als solche Grundfragen der Theologie; aber auch die Grundfragen der historischen exegetischen Disziplinen des Alten und Neuen Testaments sind Grundfragen der Theologie […]. Entsprechendes ließe sich von den anderen Fächern der Theologie zeigen.“³⁸

In der Tat lässt sich dies auch von den anderen Fächern der Theologie zeigen. Und so lautet, an Rendtorffs Überlegungen anknüpfend, meine zweite, auf das enzyklopädische Ganze zielende These: Die Gesamtheit der Theologie ist nur im Zusammenspiel der Fächer zu erfassen. Jedes theologische Fach bietet einen perspektivierten Zugriff auf das Ganze der Theologie. Man könnte diese These an der Kirchengeschichte durchspielen, die selbstverständlich den biblischen Grund der Theologie von der Kanonbildung bis zu den vielfachen Gestalten der Auslegungsgeschichte zu betrachten hat, die zu großen Anteilen Dogmengeschichte behandelt und meines Erachtens hierauf auch nicht

 Gleichwohl wird dergleichen gelegentlich noch versucht, so etwa in dem ehrgeizigen Versuch einer theologischen Enzyklopädie von K. Stock: Christliche Gewißheit (s. Anm. 13). Stock hält es für eine theologische Historik der Kirchengeschichte für geboten, den „eschatische[n] Horizont“ des christlichen Glaubens „zu einer heilsgeschichtlichen Betrachtung“ auszuformen, die dann als Kriterium für eine „theologische Historik“ zu gelten habe (aaO. 192 f). Mit welchem sachlichen Grund aber in dieser Weise systematisch-theologische Vorgaben für die anderen Fächer der Theologie angewandt werden können, geht aus seiner Enzyklopädie nicht hervor. Für die Kirchengeschichte stellt gewissermaßen das katholische Spiegelbild solcher systematischtheologischer Hegemonialansprüche die dezidierte Auffassung von Hubert Jedin: Kirchengeschichte als Theologie und Geschichte, in: Communio 8 (1979), 496 – 507, 496, dar, dass die Kirchengeschichte ihren Gegenstand von der Dogmatik empfange; zu Jedins Verständnis der Kirchengeschichte s. ausführlich Wolfram Hoyer: Kirchengeschichte als „Heilsgeschichte“? Zum Geschichtsbild Hubert Jedins, in: Ang. 79 (2002), 647– 709.  Trutz Rendtorff: Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Bd. 1, Stuttgart u. a. ²1990, 43.

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verzichten sollte und für die die Formen gelebten Glaubens einen essentiellen Anteil darstellen. Auf andere Weise könnte man diese perspektivierende Zuordnung auch an den anderen Fächern zeigen. Man gewänne damit ein Modell des Zusammenspiels der Fächer, das auf Hierarchisierungen ebenso verzichtete wie auf eine bloß additive Zuordnung. Weder wäre die Praktische Theologie „Krone“ der Theologie noch die Systematische Theologie Richterin oder integrierende Kraft der gesamten Theologie. Und ebenso wenig stünden die Fächer fremd nebeneinander und müssten als Versatzstücke oder, im „Bologna-Slang“ gesprochen, Module zusammengestückelt werden. Das Ganze ist in jedem Fach und kein Fach kann sich vom Ganzen dispensieren. Wenn dem so ist, findet sich das Gemeinsame der Theologie nicht in dieser oder jener Bestimmung, sondern in dem diskursiven Austausch der Fächer miteinander. Und aus diesem Zusammenspiel sind die Fragen zu generieren, mit denen sich die einzelnen Fächer befassen, oder vorsichtiger gesagt: Im Blick auf diesen Diskurs hat ein Fach seine Fragen zu legitimieren, wenn es sich denn als theologisch verstehen will. Diese dezidierte Orientierung am gegenwärtigen Diskurs mag vielleicht deswegen bislang von kirchenhistorischer Seite nicht aktiv vertreten worden sein,weil sie rasch ein Missverständnis mit sich bringt, als solle die historische Nachfrage allein der Erklärung und damit in der Regel der Legitimierung des Gegenwärtigen dienen. Dem gegenwärtigen Diskurs ist auch dann gedient – das werde ich am Ende meiner Ausführungen noch einmal aufgreifen –, wenn die Geschichte dezidiert nach Alternativen zum Gegenwärtigen befragt wird. Dabei können sich dann auch aus der grundsätzlichen Orientierung am theologischen Diskurs Folgefragen entwickeln, die nicht jeweils für sich in ihrer Theologizität erweisbar sind. Nicht jede Archivstudie über die Reformation in einer Reichsstadt lässt sofort ihre Bedeutung für die Gegenwart erkennen – aber solche Untersuchungen sind nicht zuletzt deswegen nötig, weil sich kirchenhistorische Forschung zwar aus theologischen Fragehorizonten ergibt, aber in Felder interdisziplinärer Arbeit hineinführt. Dies ist nicht nur eine Last, sondern eine Herausforderung in eminent positivem Sinn: Die Debatte mit allgemeinhistorischen Ansätzen schärft das eigene Bewusstsein dafür, die heuristische Orientierung an der Theologie nicht normativ werden zu lassen. Und so kann es in Grenzbereichen zu Arbeiten kommen, denen nicht mehr anzumerken ist, ob sie an theologischen oder philosophischen Fakultäten entstanden sind. Das ist nicht das Ideal kirchenhistorischer Arbeiten, aber auch nicht einfach ein Kollateralschaden: Es ist Ausdruck der wissenschaftlich verantwortbaren Arbeit. Und es dient damit, um im gewählten Beispiel zu bleiben, dazu, den Gegenstand, die Reformationsgeschichte, klarer und besser und vor allem mit einem höheren Grad intersubjektiver Verbindlichkeit zu erfassen. Wir würden den Gesamtprozess der Reformation nicht verstehen,

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wenn wir nicht auch solche mühsamen Arbeiten in der historischen Ebene durchführen würden. Und dass die Reformation Relevanz für die gegenwärtige Selbstverständigung evangelischer Theologie besitzt, bedarf keiner weiteren Begründung. In welcher Weise freilich diese Relevanz besteht, unterliegt seinerseits Veränderungen – auch dies ist zu bedenken, wenn man von einer Generierung der kirchenhistorischen Fragen aus dem theologischen Diskurs spricht: Der theologische Diskurs erfährt in seiner Gesamtheit Wandlungen, die aus gesellschaftlichen Erfordernissen, aber auch aus den Fächern selbst heraus entstehen. Nicht einmal die heuristische Orientierung, wie ich sie vorschlage, bringt also ein einfaches Gefälle „vom Diskurs zur Kirchengeschichte“ mit, sondern die Kirchengeschichte prägt wie die anderen Disziplinen den theologischen Diskurs mit. Es handelt sich demnach um ein offenes, höchst dynamisches System, und es gehört zu den Schwierigkeiten, dass in Zeiten reich fließender Gelder die Theologie diese Dynamik auch durch die Generierung neuer Schwerpunkte – ich denke in meinem Fach besonders an die Konfessionskunde und die Kirchliche Zeitgeschichte, an die Gender history oder die Diakoniegeschichte – entsprechen konnte, während wir heute eher, vielfach vergeblich, um den Erhalt dieser neuen Interessengebiete kämpfen müssen und an die Entfaltung neuer Schwerpunkte kaum zu denken ist. Der institutionelle Rahmen, in dem wir uns an Universitäten wie Kirchlichen Hochschulen bewegen, ist nicht eben günstig für ein solches dynamisches Fachverständnis, aber das heißt nicht, dass man die enger werdenden Rahmenbedingungen nicht doch auch dafür nutzen könnte, an einer Dynamisierung der Fächer zu arbeiten.

3 Die Durchführung: allgemeinhistorische Methodik Wenn ich im Blick auf die Heuristik den theologischen Charakter der Kirchengeschichte stark gemacht habe, so war damit auch in der Einzelargumentation schon stets der Blick auf die allgemeine Geschichtswissenschaft und die Notwendigkeit, sich an ihren Standards zu orientierten, verbunden.³⁹ So formuliere ich die unter Kirchenhistorikern⁴⁰ höchst konsensfähige⁴¹ dritte These:

 Verengend ist freilich, wenn Ulrich H. Körtner: Kirchengeschichte und ihre Bedeutung für Theologie und religiöse Bildung. Historische und narrative Theologie. Zur theologischen Funktion der Kirchengeschichte, in: Reinhold Mokrosch/Helmut Merkel (Hg.): Humanismus und Reformation. Historische, theologische Beiträge zu deren Wechselwirkung. FS Friedhelm

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Kirchenhistorische Arbeit besitzt keine eigene Methodik, sondern partizipiert voll und ganz an den geschichtswissenschaftlichen Methoden. Dies muss nicht ausführlich begründet werden, da es die konsequente Folge aus der beschriebenen Orientierung kirchenhistorischer Wissenschaft seit Mosheim und der pragmatischen Methode ist. Kirchengeschichte ist in methodischer Hinsicht Teil der allgemeinen Geschichtswissenschaft. Es kann und darf kein Argument geben, das der Methode nach nicht auch ein Allgemeinhistoriker so ver-

Krüger (Arbeiten zur Historischen und Systematischen Theologie 3), Münster 2001, 185 – 200, 195 f, dem folgend die Begriffe „profane Kirchengeschichtsschreibung“ und „profanhistorische Fremderzählung“ auf die wissenschaftliche Kirchengeschichte anwendet – dies macht aus der Beschreibung der Methodik eine Benennung des Ganzen und hebt das für das Selbstverständnis der Kirchengeschichte wesentliche Gegenüber zu der früher (s. noch Rudolf von Thadden: Weltliche Kirchengeschichte. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1989, 8) als „Profangeschichte“ bezeichneten allgemeinen Geschichte auf; zur Kritik am Begriff „Profangeschichte“ s. Isnard Frank: Das Theologische an der Kirchengeschichte, in: TThZ 107 (1998), 191– 210, 199; Werner K. Blessing: Kirchengeschichte in historischer Sicht. Bemerkungen zu einem Feld zwischen den Disziplinen, in: Anselm Doering-Manteuffel/Kurt Nowak (Hg.): Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden (KiKonf 8), Stuttgart u. a. 1996, 14– 59, 43 f.  Aus systematisch-theologischer Perspektive scheint K. Stock: Christliche Gewißheit (s. Anm. 13), 207, eine eigene kirchenhistorische Methodenlehre auf Grundlage der von ihm postulierten theologischen Historik zu fordern – wie diese konkret aussehen könnte, macht er freilich nicht deutlich.  Vgl. z. B. Eckehart Stöve: Art. Kirchengeschichtsschreibung, in: TRE 18 (1989), 535 – 560, 551 f; A. Beutel: Nutzen und Nachteil (s. Anm. 16), 7; Christoph Markschies: Art. Kirchengeschichte/Kirchengeschichtsschreibung. I. Begrifflichkeit und Voraussetzungen, in: RGG4 4 (2001), 1170 – 1179, 1179, mit der Absage an „eine kirchengeschichtliche Sonderhermeneutik oder eine eigenständige Methodik der KG“; Ders.: Kirchengeschichte – theologisch (s. Anm. 22), 50; Volker Leppin: Art. Kirchengeschichte, in: Friedrich Wilhelm Horn/Friederike Nüssel (Hg.): Taschenlexikon Religion und Theologie, Bd. 2, Göttingen 2008, 630 – 633, 632; für die katholische Kirchengeschichtsschreibung H. Wolf/J. Seiler: Kirchen- und Religionsgeschichte (s. Anm. 34), 311, unter Verweis auf den einschlägigen Artikel im LThK (Klaus Ganzer: Art. Kirchengeschichte, Kirchengeschichtsschreibung, in: LThK³ 7 [1997], 1– 3, 1); Ders.: Vom Nutzen der Kirchengeschichte in der Theologie, in: Karl Hillenbrand/Heribert Niederschlag (Hg.): Glaube und Gemeinschaft. FS Paul-Werner Scheele, Würzburg 2000, 204– 219, 212; für die methodistische Kirchengeschichtsschreibung Ulrike Schuler: Kirchengeschichte – eine theologische Disziplin? Reflexionen aus evangelisch-methodistischer Sicht, in: Lena Lybæk/Konrad Raiser/Stefanie Schardien (Hg.): Gemeinschaft der Kirchen und gesellschaftliche Verantwortung. Die Würde des Anderen und das Recht anders zu denken. FS Erich Geldbach (ÖS 30), Münster 2004, 147– 156, 154. Dass die Orientierung an allgemeiner geschichtswissenschaftlicher Methodik auch die Genderforschung impliziert bzw. implizieren sollte, betont Ute Gause: Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantischer Perspektive, Tübingen 2006, 61, zu Recht.

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wenden und akzeptieren könnte. Freilich ist es ein Kurzschluss, wenn Victor Conzemius erklärt: „Die profanwissenschaftliche Methode ist kein aufgepfropfter Ast auf theologischem Baum: der ganze Baum ist für den Kirchenhistoriker profanhistorisches Gewächs, in welch’ tiefem Erdreich er auch wurzeln oder welche überzeitlichen Früchte er auch tragen mag.“⁴²

Das Bild bei Conzemius ist ohnehin nicht ganz klar: Steht der Baum für den wissenschaftstheoretischen Zugang oder für die Kirche? Der Einstieg über die Methode spricht für Ersteres, die Hinweise auf die Früchte für Letzteres. So oder so werden hier – vermutlich aufgrund der Konfrontation mit spezifischen Auffassungen der katholischen Theologie – Alternativen konstruiert, die so nicht gelten: Aus der Methode folgt keineswegs eine völlige Profanität der Kirchengeschichte, solange und sofern sie in den theologischen Diskurs eingebunden ist. Es folgt aus ihr aber durchaus, dass in den der allgemeinen historischen Methodik verpflichteten Wissenschaften sua res agitur. Die theologische Einbindung kann unter Umständen sogar dazu führen, dass ein von theologischer Heuristik geleiteter Blick auf die Geschichte zu der einen Art von Methoden höhere Affinitäten aufweisen wird als zu der anderen.⁴³ Dabei gibt es grundsätzlich allerdings kein Ausschlusskriterium gegenüber irgendeiner Methodik, und die starke Aufnahme sozialhistorischer Methodik in den sechziger und siebziger Jahren, die sich für die Reformationsgeschichte mit dem Namen Bernd Moeller verbindet,⁴⁴ zeigt, in welcher Breite man am historischen Diskurs partizipieren kann und konnte. Freilich würde eine solche Methodik ihren Bezug verlieren, wenn sie sich nicht für die Berücksichtigung von Deutungsphänomenen öffnen würde, so wie Moeller in der Tat auch stets besonderen Wert auf die theologisch-religiöse Deutung der sozialen Phänomene gelegt hat. Gerade die Öffnung für die Sozialgeschichte⁴⁵ hat auch bewirkt, dass sich die Kirchengeschichte aus einer Fixierung auf reine Theologie- und Geistesgeschichte

 Victor Conzemius: Kirchengeschichte als „nichttheologische“ Disziplin. Thesen zu einer wissenschaftstheoretischen Standortbestimmung, in: ThQ 155 (1975), 187– 197, 190.  Wenn K. Nowak: Wie theologisch ist die Kirchengeschichte? (s. Anm. 2), 472, erklärt, dass „[j]ede Methode […] sub specie theologiae gleich gut oder gleich schlecht“ sei, stimmt dies zwar – ist aber nicht gleichbedeutend mit der Aussage, dass die Theologie nicht auch bestimmte Präferenzen haben könnte, die mit ihrer Heuristik zu tun haben.  Paradigmatisch ist das 1962 erstmals erschienene und mittlerweile geradezu klassische Werk von Bernd Moeller: Reichsstadt und Reformation, Tübingen 32011.  S. auch das Plädoyer für die Sozialgeschichte bei Martin Greschat: Die Bedeutung der Sozialgeschichte für die Kirchengeschichte. Theoretische und praktische Erwägungen, in: A. Doering-Manteuffel/K. Nowak (Hg.): Kirchliche Zeitgeschichte (s. Anm. 39), 101– 124.

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gelöst hat. Solche Zugänge wirkten lange Zeit derart veraltet, dass man sich, hätte man sie stark betont, sehr deutlich vom Hauptstrom der Historiographie gelöst hätte. Inzwischen sieht dies allerdings wieder anders aus: Die Wiederentdeckung von intellectual history insbesondere in der englischsprachigen Politikgeschichte,⁴⁶ aber auch das Konzept der „Vorstellungsgeschichte“, das Hans-Werner Goetz kürzlich in einem eindrücklichen Buch über Gott und die Welt neu zur Diskussion gestellt hat,⁴⁷ zeigen an, dass die Rede über geistige Phänomene auch im historischen Diskurs wieder akzeptiert ist, freilich – und das wird für die Kirchengeschichte im Gespräch mit der Systematischen Theologie von besonderer Bedeutung bleiben – ist dies eine Geistesgeschichte, in der die zeitgenössische Kontextualisierung deutlich mehr Gewicht erhält als die theologische Vergegenwärtigung. Die methodischen Überlegungen, die hier derzeit leitend sind, kann man daran ablesen, dass fast genau gleichzeitig für die Alte Kirche (von Christoph Markschies)⁴⁸ und für das Mittelalter (von mir selbst)⁴⁹ theologiegeschichtliche Darstellungen vorgelegt worden sind, die Theologie dezidiert wissenssoziologisch, das heißt vor allem in Gestalt ihrer Bindung an die sie tragenden Institutionen, in den Blick genommen haben. Theologiegeschichte ist nicht die einzige methodische Gestalt, die das aus der theologischen Heuristik resultierende Interesse an Deutungsfragen gewinnen kann. Die erwähnte Vorstellungsgeschichte von Goetz⁵⁰ will dezidiert keine Theologiegeschichte sein, und auch die Mentalitätengeschichte, die eine Zeitlang den historischen Diskurs dominierte und sich sehr leicht als Frömmigkeitsgeschichte oder Spiritualitätsgeschichte auf kirchenhistorische Themen adaptieren lässt, bewegt sich in einem Bereich, in dem nicht die res gestae im Vordergrund stehen, sondern eben die jeweiligen Deutungen, in denen Menschen sich bewegten und ihre sich historisch wandelnde Wirklichkeit erfuhren.Von hier aus ist dann leicht ein Bogen zu gegenwärtigen theologischen Diskursen zu schlagen. Damit dieser Bogen aber nicht zu schlicht ausfällt, füge ich einen weiteren Gedankengang zum Gegenstand der Kirchengeschichte ein.

 S. paradigmatisch Quentin Skinner: Visions of Politics, 2 Bde., Cambridge 2002; vgl. Luise Schorn-Schütte: Neue Geistesgeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2002, 270 – 280.  Hans-Werner Goetz: Gott und die Welt. Religiöse Vorstellungen des frühen und hohen Mittelalters, Tl. I, Bd. 1: Das Gottesbild (Orbis mediaevalis 13.1), Berlin 2011.  Christoph Markschies: Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen 2007.  Volker Leppin: Theologie im Mittelalter (KGE I/11), Leipzig 2007.  S.o. Anm. 47.

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4 Der Gegenstand: Religionsgeschichte, die offen ist für Gott Für die Gegenstandsbeschreibung einer Spezialgeschichte kann man entweder eine Sektorierung vornehmen, so wie etwa die Medizingeschichte die Geschichte eines bestimmten Wissensbereichs beschreibt, oder eine Perspektivierung, so wie die Sozialgeschichte nicht einen bestimmten definierbaren Objektbereich behandelt, sondern eine Perspektive darstellt, die grundsätzlich auf alle historischen Wissensbereiche anwendbar ist. Prima facie scheint es nahezuliegen, die Kirchengeschichte als eine Bereichsgeschichte im ersten Sinne zu behandeln, und vielfach wird sie aus Sicht der allgemeinen Geschichte auch so interpretiert.⁵¹ Sie hätte dann mit all dem zu tun, was die Institution Kirche mittelbar oder unmittelbar betrifft. In gewisser Weise wird man auch allein schon im Blick auf die Kanonisierung von Lehrstoffen, wie sie spätestens für die Definition von Examensinhalten erforderlich ist, gar nicht anders vorgehen können, als solche Bereiche zu definieren. Allerdings gerät gerade ein mediävistisch orientierter Forscher bei solchen Bereichsbestimmungen rasch in Schwierigkeiten. Man braucht nur etwa das Kaisertum Ottos III. oder Heinrichs II. anzusehen. Der eine setzte auf eine in Rom zentrierte Universalmacht, der andere baute Bamberg zu einem geistlichen Zentrum des Reichs aus, in dem sich in Gestalt der jeweiligen Heiligen alle Herrschaftsträger widergespiegelt sehen konnten.⁵² Beides führt unmittelbar in kaiserliche Herrschaftssymbolik hinein, und beides ist offenkundig so sehr auf Kirche und Religion bezogen, dass eine sektorale Ausgrenzung aus anderen Zusammenhängen unmöglich scheint.

 Als klassisch hierfür kann der in vielem sehr verdienstvolle siebenbändige Überblick von Michael Maurer: Aufriß der historischen Wissenschaften (s. Anm. 34), gelten, bei dem die Kirchengeschichte in dem den „Sektoren“ gewidmeten Band erscheint, freilich etwa neben der Sozialgeschichte, bei der man gleichfalls mit guten Gründen fragen kann, ob sie einen bloßen Sektor der Geschichte betrifft (H. Wolf/J. Seiler: Kirchen- und Religionsgeschichte [s. Anm. 34]; tatsächlich definieren Wolf und Seiler die Kirchengeschichte auch vorwiegend über ihren Gegenstand [aaO. 272]); vgl. auch R. v. Thadden: Weltliche Kirchengeschichte (s. Anm. 39), 8; W. K. Blessing: Kirchengeschichte (s. Anm. 39), 33. Unklar ist, ob Ch. Markschies: Kirchengeschichte – theologisch (s. Anm. 22), 70 – 74, für Kirchengeschichte als Bereichsgeschichte votiert oder lediglich der selbstverständlichen Einsicht Ausdruck geben will, dass jede Erkenntnis, so auch die kirchenhistorische, nur fragmentarisch sein kann.  Zu beiden gibt es jüngere Gesamtdarstellungen von herausragenden Mediävisten, die diese religiöse Dimension eindrücklich herausarbeiten: Gerd Althoff: Otto III, Darmstadt 2005; Stefan Weinfurter: Heinrich II. (1002– 1024). Herrscher am Ende der Zeiten, Regensburg 3 2002; zur Zusammenschau s. Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter: Otto III. – Heinrich II. Eine Wende?, Stuttgart 22000.

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Solche Trennungen mögen in der Antike und in der Neuzeit leichter möglich sein, und sie sind auch nicht der eigentliche Grund, weshalb ich es für schwierig halte, die Kirchengeschichte zu einer bloßen Bereichswissenschaft zu machen. Dieser eigentliche Grund liegt vielmehr in der methodisch adäquaten Bestimmung von Kirche selbst.⁵³ In einem historisch-methodisch verallgemeinerbaren Sinne wird man zunächst statt der spezifischen Ausprägung ‚Kirche‘ von christlicher Religion zu sprechen haben, weswegen in der kirchenhistorischen Forschung auch immer wieder gegenüber dem institutionell verengten Begriff der Kirche der des Christentums vorgezogen wird.⁵⁴ Der Gegenstand der Kirchengeschichte ist, unbeschadet der Frage nach Bereich oder Perspektivierung, die christliche Religion. Bei der Suche nach einem Religionsverständnis, das historisch kommunikabel ist, ohne sich von vorneherein einem theologischen Wirklichkeitsverständnis zu verschließen, bin ich vor einigen Jahren auf die semiotische Theoriebildung gestoßen.⁵⁵ Sie wird nicht nur in vielen Bereichen der Theologie verwendet,⁵⁶ sondern gerade zum Verständnis von Religion auch in der allgemeinen Geschichtswissenschaft.⁵⁷ In Aufnahme von Überlegungen, die ich bei Gerd Theißen, Clifford Geertz, Thomas Luckmann und Kaspar von Greyerz gefunden habe, habe ich seinerzeit folgende semiotisch gefärbte Definition des Gegenstands von Kirchengeschichte vorgetragen, die ich hier, leicht modifiziert, als meine vierte These vorstelle: Gegenstand der Kirchengeschichte ist ein sozialgeformtes Zeichensystem, das durch Theologie, Ritus und Lebenspraxis Weltorientierung in Bezug auf die sozial verfasste

 Entsprechend wendet sich auch A. Beutel: Nutzen und Nachteil (s. Anm. 16), 6, dezidiert gegen ein Verständnis von Kirchengeschichte als einer bloßen Bereichswissenschaft.  S. etwa Bernd Moeller: Geschichte des Christentums, Göttingen 102011; zum Fachverständnis s. S. Kranich: Christentumsgeschichte (s. Anm. 16).  Vgl. daher zum Folgenden V. Leppin: Kirchengeschichte zwischen historiographischem und theologischem Anspruch (s. Anm. 24), 226 – 230.  Rainer Volp (Hg.): Zeichen. Semiotik in Theologie und Gottesdienst, München/Mainz 1982; Wilfried Engemann/Rainer Volp (Hg.): Gib mir ein Zeichen. Zur Bedeutung der Semiotik für theologische Praxis- und Denkmodelle (APrTh 1), Berlin/New York 1992; Stefan Alkier: Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung (WUNT 134), Tübingen 2001; Michael Meyer-Blanck: Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik, Rheinbach ²2002; Martin Vetter: Theologie und Semiotik. Zum Stand des Gesprächs am Beispiel der Peirce-Rezeption in jüngeren Arbeiten evangelischer Theologie, in: Zeitschrift für Semiotik 24 (2002), 111– 129; Gesche Linde: Zeichen und Gewißheit. Semiotische Entfaltung eines protestantisch-theologischen Begriffs (RPT 69), Tübingen 2013.  Kaspar von Greyerz: Religion und Kultur: Europa 1500 – 1800, Göttingen 2000, 11.

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Wirklichkeit bietet und den Einzelnen wie die Gesellschaft transzendierende Sinngebungen ausdrückt. ⁵⁸ Solche Definitionen sind selbstverständlich arbiträr. Anders als bei meinem Versuch, die semiotische Bestimmung in die kirchenhistorische Diskussion einzubringen, geht es mir jetzt auch nicht um die Begründung der einzelnen Elemente dieser Definition – wobei darauf verwiesen sei, dass jedenfalls die Trias von Theologie, Ritus und Lebenspraxis sich offenkundig eng mit der Schleiermacher’schen Trias von Lehre, Kultus und Sitte in den §§ 166 – 168 der Kurzen Darstellung verbinden lässt⁵⁹ –, sondern um ihre Tragfähigkeit im Horizont der Frage nach einer theologischen Enzyklopädie. Diese Tragfähigkeit liegt nun in eben dem Leistungsvermögen, dass die vorgetragene Definition, wie allein schon die Verwendung ganz ähnlicher Bestimmungen in der allgemeinen Geschichtswissenschaft zeigt, in der Lage ist, historische Forschung anzuleiten. Indem sie von einem sozialgeformten Zeichensystem und dessen Ausprägung in Theologie, Ritus und Lebenspraxis spricht, beschreibt sie historisch greifbare und analysierbare Phänomene und konzentriert sich darauf, dass der Gegenstand der Kirchengeschichte niemals mehr sein kann als die Religion, die sich auf diese Weise äußert. Die so untersuchte Religion kann, methodisch gesehen, auch eine Selbsttäuschung sein. Ihre Untersuchung macht jedenfalls keine Voraussetzung positiver oder, wie man vielleicht manchmal auch betonen muss, negativer Art. Sie ist neutral und bedient sich, wie ausgeführt, des historiographischen Handwerkszeugs. Sie ist allerdings als historischer Zugriff nun dezidiert nicht auf eine Bereichswissenschaft zu begrenzen. Denn die Gegenstandsbeschreibung beruht nicht auf einer Aussonderung spezifischer immanenter Gegenstände, Ereignisse und Handlungen, sondern auf deren Bezug. Soweit und sofern etwas einen transzendenten Bezug aufweist, wird dies zum Gegenstand der Kirchengeschichte. Ein solcher transzendenter Bezug kann aber grundsätzlich allem zukommen. Banal gesagt: Die Betrachtung der Welt als Schöpfung Gottes stellt diesen universalen Bezug her. Konkreter und stärker operationalisierbar gemacht, kann man mit Umberto Eco⁶⁰ darauf hinweisen, dass derselbe Gegenstand in unterschiedlichen Zeichensystemen Unterschiedliches bedeuten und eben deswegen nicht bereichsartig separiert werden kann. Einen Hundert-Euro-Schein kann ich als angewandte Kunst betrachten, als Druckerzeugnis, als Ausdruck ökonomischen Handelns oder auch als potenzielle Spende für ‚Brot für die Welt‘ – und spätestens  V. Leppin: Kirchengeschichte zwischen historiographischem und theologischem Anspruch (s. Anm. 24), 229.  KD2 §§ 166 – 168.  S. Umberto Eco: Einführung in die Semiotik, München 92002, 36 f, am Beispiel des Autos.

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im letzteren Zusammenhang wird er in das religiöse Zeichensystem eingefügt. Eine semiotische Reformulierung der Kirchengeschichte würde sich also ihrer Möglichkeiten begeben, wenn sie sich nur auf bestimmte Bereiche der Wirklichkeit einschränken wollte. Sie stellte in der Tat eine Perspektive dar, freilich nicht eine von außen an die Geschehnisse herangetragene, sondern eine solche, die deren historisch gegebene Zeichenhaftigkeit untersuchen will. So kann dann etwa auch das Regierungshandeln Ottos III. oder Heinrichs II. in ihren Gegenstandsbereich hineinrücken. Grundsätzlich also ist die Kirchengeschichte, so meine fünfte These, eine perspektivische Erfassung des Gesamten der Geschichte. Die vorgetragene Definition bestimmt aber nicht nur die Stellung der Kirchengeschichte gegenüber den anderen historischen Disziplinen, sondern sie weist auch darüber hinaus, nämlich durch den Aspekt der die Gesellschaft transzendierenden Sinngebungen. Historische Forschung hat diese transzendente Ebene nur im Modus des Zeichens. Mit dem starken, auch metaphysische Kategorien einbeziehenden Symbolbegriff von Charles Sanders Peirce⁶¹ steht zu deren Deutung ein für die Theologie ausgesprochen anschlussfähiges Konzept bereit, dessen Vorannahmen es aber anderen Fächern erschweren dürften, sich darauf einzulassen. Deswegen sollte sich die Kirchengeschichte meines Erachtens eher an einem Zeichenbegriff orientieren, der neutraler und in höherem Maße allgemein anschlussfähig ist, der also, wie Umberto Eco betont, nicht ontologische Realität behauptet, sondern sich als Operationsverfahren gebrauchen lässt.⁶² Ein ‚Zeichen‘ in diesem Sinne ist ein in bestimmten kommunikativen Zusammenhängen verstehbarer und in unterschiedlichen Graden verbindlicher Hinweis auf eine von den an der Kommunikation Beteiligten vorausgesetzte Realitätsebene jenseits seiner selbst. Der Kirchenhistoriker kann zunächst einmal nicht mehr erwarten, als dass die Frage der Realität des Transzendenzbezuges jedenfalls offengehalten wird. Gleichwohl erscheint es mir mittlerweile unzureichend, dass ich bei meinen früheren Ausführungen über den Aspekt des Offenhaltens kaum hinausgegangen bin.⁶³ Daher füge ich jetzt einen letzten Gedankengang an.

 Vgl. hierzu Hermann Deuser: Religionsphilosophie, Berlin/New York 2009, 485 – 490.  U. Eco: Einführung (s. Anm. 60), 361.  V. Leppin: Kirchengeschichte zwischen historiographischem und theologischem Anspruch (s. Anm. 24), 230. Die Notwendigkeit, den theologischen Charakter der Kirchengeschichte präziser zu bestimmen, ist mir durch Gespräche mit Hermann Deuser und mit meinen Studierenden, die Lehrveranstaltungen zum Thema „Wie theologisch ist die Kirchengeschichte“ in Jena (Sommersemester 2003) und Tübingen (Wintersemester 2010/11) besucht haben, deutlich ge-

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5 Diskursive Applikation: Kirchengeschichte im Konzert der Theologie Meine Überlegungen gingen vom theologischen Diskurs aus und kehren nun zu ihm zurück. Es ist offenkundig, dass die Kirchengeschichte etwas zum historischen Diskurs beizutragen hat, und man kann auch sagen, dass hier gewissermaßen die apologetische Außenfunktion allen theologischen Arbeitens spürbar wird: Im historischen Diskurs kann die theologische Kirchengeschichte die Kraft und Relevanz des religiösen Zeichensystems im historischen Prozess aufweisen. Ihr Ort innerhalb der theologischen Enzyklopädie ist damit aber noch nicht zureichend bestimmt. Dieser resultiert vielmehr aus dem oben beschriebenen Verständnis einer theologischen Gemeinsamkeit als einer diskursiv bestimmten.⁶⁴ Wenn dieser Ansatz richtig ist, wird man auch benennen müssen, was innerhalb der theologischen Urteilsbildung der Ort der Kirchengeschichte ist. Hermann Deuser hat dargelegt, dass Autorität „aus einem Zusammenspiel von jedenfalls vier Faktoren“ entstehe: „aus überlieferten ‚heiligen Texten‘ […]; aus geschichtlicher Traditionsbildung […]; aus lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Überzeugungsbildungen der Menschen […]; aus kritischer Vernunft“.⁶⁵ Mindestens die beiden mittleren Punkte verweisen auf den Gegenstandsbereich der Kirchengeschichte und räumen damit in erfrischender Weise mit einem orthodoxen oder neoorthodoxen Verständnis auf, dass Autorität sich allein aus einem Offenbarungsgeschehen ableiten lasse. Mit einem solchen Verständnis wäre in der Tat eine konstruktive Rolle der Kirchengeschichte im theologischen Diskurs schwer zu bestimmen, denn als eine über die Schrift hinausgehende Offenbarungsquelle wird man in der evangelischen Theologie⁶⁶ die Kirchengeschichte nicht bestimworden. Ihnen allen danke ich herzlich für die Anregungen, die mich in meinem Denken vorangebracht haben.  Die mehrfache Zuordnung der Systematischen Theologie als einer urteilenden Instanz zur Kirchlichen Zeitgeschichte in einem Themenheft der Kirchlichen Zeitgeschichte (Michael Welker: Historik kirchlicher Zeitgeschichte und systematisch-theologische Urteilsbildung, in: KZG 5 [1992], 31– 40; Michael Beintker: Kirchliche Zeitgeschichte und systematisch-theologische Urteilsbildung, aaO. 41– 48; Ernst Feil: Kirchliche Zeitgeschichte und systematischtheologische Urteilsbildung, aaO. 48 – 68) repräsentiert noch ein heute wissenschaftstheoretisch kaum mehr akzeptables Gefälle zwischen den Fächern. Solche hierarchisierenden Konzeptionen sollten einer Vorstellung des im guten Sinne kon-kurrierenden Miteinanders weichen.  Hermann Deuser: Kleine Einführung in die Systematische Theologie, Stuttgart 1999, 36 f.  Hans R. Seeliger: Kirchengeschichte – Geschichtstheologie – Geschichtswissenschaft. Analysen zur Wissenschaftstheorie und Theologie der katholischen Kirchengeschichtsschreibung, Düsseldorf 1981, 231, charakterisiert als das Gemeinsame der von ihm untersuchten ka-

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men können.⁶⁷ Der Versuch von Wolfhart Pannenberg, das Programm „Offenbarung als Geschichte“ auch auf die Kirchengeschichte auszudehnen⁶⁸ ist insofern nicht nur in seinen theologischen Grundannahmen problematisch, sondern hat auch zu Recht unter pragmatischen Gesichtspunkten scharfe Kritik von Ekkehard Mühlenberg erfahren, der deutlich machte, dass eine solche Vorstellung im konkreten kirchenhistorischen Arbeiten schlicht nicht operationalisierbar ist.⁶⁹ Anders steht es mit den von Deuser angesprochenen Aspekten der Traditionsbildung und der Erfahrung,wobei der eigentlich interessante Aspekt der zweite ist.⁷⁰ Der erste, nämlich die Traditionsbildung, läuft letztlich auf eine überwiegend

tholischen Entwürfe seit dem Zweiten Weltkrieg das heilsgeschichtliche Denken. I. Frank: Das Theologische an der Kirchengeschichte (s. Anm. 39), 206, kann aus katholischer Sicht sehr dezidiert die Theologizität der Kirchengeschichte mit der Vorstellung von Offenbarung begründen, ohne freilich deutlich zu sagen, dass der nachbiblischen Zeit eigene Offenbarungsqualität zukomme. Präzise erfolgt eine entsprechende Zuordnung bei E. Iserloh: Kirchengeschichte (s. Anm. 33), 14: „Ist die Offenbarung abgeschlossen mit dem Tode der Apostel, so erfährt sie aber ihre Entfaltung wiederum erst in der Geschichte. Damit hat die Kirchengeschichte zwar nicht Offenbarungscharakter, aber sie macht Inhalt und Tragweite der Offenbarung deutlich und belehrt so die Kirche über ihr Wesen und ihre Aufgabe.“  Insofern ist es so problematisch wie charakteristisch, dass in dem engagierten Plädoyer von Martin Hengel: Heilsgeschichte, in: Jörg Frey/Stefan Krauter/Hermann Lichtenberger (Hg.): Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung (WUNT 248), Tübingen 2009, 3 – 34, auch im evangelischen Raum wieder heilsgeschichtliche Denkfiguren zuzulassen, die Geschichte des Christentums nur sehr schemenhaft erscheint und sich die Argumentation hauptsächlich auf den Zusammenhang der biblischen Schriften ausrichtet. Dass es auch historisch verengend wäre, religiöse Ausrichtung von Geschichtsschreibung nur unter der Perspektive der „Heilsgeschichte“ zu betrachten, zeigt der eindrucksvolle Band von Kerstin Armbrost-Weihs/Judith Becker (Hg.): Toleranz und Identität. Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein zwischen religiösem Anspruch und historischer Erfahrung (VIEG. Beih. 79), Göttingen 2010; vgl. zur Geschichte der Geschichtsschreibung jetzt auch Susanne Rau/Birgit Studt (Hg.): Geschichte schreiben. Ein Quellen- und Studienhandbuch zur Historiografie (ca. 1350 – 1750), Berlin 2010.  W. Pannenberg: Wissenschaftstheorie (s. Anm. 9), 393 – 406. Welche Kraft ein Ansatz, der der Geschichte selbst theologische Relevanz zutraut, katholischerseits entwickeln kann, zeigt Hubert Wolf: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kirchengeschichte? Zu Rolle und Funktion des Faches im Ganzen katholischer Theologie, in: W. Kinzig u. a. (Hg.): Historiographie und Theologie (s. Anm. 16), 53 – 65, 59 f.  Ekkehard Mühlenberg: Gott in der Geschichte. Erwägungen zur Geschichtstheologie W. Pannenbergs, in: KuD 24 (1978), 244– 261; vgl. auch Kurt-Victor Selge: Einführung in das Studium der Kirchengeschichte, Darmstadt 1982, 7 f.  Vgl. auch die Betonung der Gemeinsamkeit zwischen den theologischen Disziplinen vermittels der gemeinsamen Erfahrungen des selbigen Gottes bei Bernd Jaspert: Hermeneutik der Kirchengeschichte, in: ZThK 86 (1989), 59 – 108, 102 f; Ders.: Biblische Theologie und Kirchen-

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legitimatorische Funktion der Kirchengeschichte hinaus, die diese auch gerne annimmt.⁷¹ Sei es im Bereich der Dogmengeschichte der Alten Kirche oder der Bekenntnisschriftenforschung: Kirchengeschichte hat zu guten Teilen die Aufgabe, aufzuweisen, warum etwas so geworden ist, wie es ist. Schon indem sie dabei deutlich macht, dass nicht alles sich aufgrund reiner dogmatischer Lehre entwickelt hat, bringt sie allerdings den wichtigeren Aspekt der Erfahrung in den theologischen Diskurs ein. Diese hat wiederum, wie alle Lebenserfahrung, einen doppelten Aspekt. Sie relativiert,⁷² und sie verweist auf zusätzliche Möglichkeiten. Die Relativierung liegt zum einen in dem für die anderen Fächer vielleicht gelegentlich auch eher störenden Hinweis darauf, dass manches, was als Neuentdeckung erscheint, eine längere Geschichte hat. Sie liegt aber auch in dem Hinweis auf Erfahrung mit Erwartungen, Hoffnungen oder Illusionen. So kann man etwa der einen oder anderen Hoffnung des 20. Jahrhunderts, politische Probleme unter unmittelbarem Rückgriff auf Jesus zu lösen, Differenzierungen angedeihen lassen, indem man darauf hinweist, dass es genau diese Vorstellung auch schon in den ersten Jahren der Reformation gab – und dass es gute Gründe dafür gab, dass Luther ihnen seine Schrift über die weltliche Obrigkeit entgegengestellt hat.⁷³ Aber auch diese Funktion scheint mir noch zu den eher langweiligen Aufgaben der Kirchengeschichte im theologischen Diskurs zu gehören. Die eigentlich interessante Aufgabe ergibt sich aus der oben vorgetragenen semiotischen Reformulierung der Kirchengeschichte, die ja der Sache nach nicht nur für die Vergangenheit gelten kann, sondern auch die Gegenwart erfassen muss. Auch

geschichte, in: Ders./Hans Hübner (Hg.): Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart (BThSt 38), Neukirchen-Vluyn 1999, 143 – 181, 165. Die Engführung auf eine „existentiale Interpretation“ (aaO. 171) ist freilich so heute kaum mehr zu teilen.  H. Wolf/J. Seiler: Kirchen- und Religionsgeschichte (s. Anm. 34), 272. 320, sprechen hier von einer „konstitutiven“ Funktion der Kirchengeschichte.  Dies ist in etwa das, was H. Wolf/J. Seiler, aaO. 272. 320 f, als „kritische […] Funktion“ der Kirchengeschichte fassen. I. Frank: Das Theologische an der Kirchengeschichte (s. Anm. 39), 210, formuliert zugespitzt: „Für Fundamentalisten, die ihre Gegenwart vorschnell und unvermittelt mit den von ihnen beschworenen Anfängen identifizieren, ist der Kirchenhistoriker nicht der richtige Berater.“ Zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund der Relativierungsfunktion der Geschichte s. Eckehart Stöve: Kirchengeschichte und das Problem der historischen Relativität, in: RQ 80 (1985), 189 – 199.  Volker Mantey: Zwei Schwerter – Zwei Reiche. Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre vor ihrem spätmittelalterlichen Hintergrund (SuR 26), Tübingen 2005, 236 – 243; Volker Leppin: Das Gewaltmonopol der Obrigkeit: Luthers sogenannte Zwei-Reiche-Lehre und der Kampf zwischen Gott und Teufel, in: Andreas Holzem (Hg.): Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens (Krieg in der Geschichte 50), Paderborn u. a. 2009, 403 – 414, 404 f.

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unser gegenwärtiger theologischer Diskurs bewegt sich ja auf keiner anderen, tieferen oder besseren Ebene als der des christlichen Zeichensystems und teilt mit diesem die Defizienz gegenüber dem bezeichneten transzendenten Gegenstand. Zeichen verweisen auf eine transzendente Wirklichkeit, enthalten sie aber – jedenfalls gemäß dem von mir angewandten Zeichenbegriff – nicht. Selbst wenn sie sie enthielten, müsste eine Differenz zugrunde gelegt werden. Alle religiöse und alle theologische Sprache also ist grundlegend defizient gegenüber Gott als ihrem Gegenstand. Das heißt aber nicht nur, dass man sie in dem beschriebenen Sinne relativieren muss, sondern dass das von Deuser gebrauchte Bild der Lebenserfahrung auch in der Weise angewandt werden kann, dass die konstruierte, gedachte und abgeleitete Wirklichkeit durch das Füllhorn der Erfahrung bereichert wird, durch die aufgezeigt wird, wie im Laufe der Geschichte das christliche Zeichensystem auf andere Weise versucht hat, dem transzendenten Bezug auf Gott gerecht zu werden. Die Kirchengeschichte hält also jederzeit Alternativen zum Gegenwärtigen parat und erinnert daran, dass diese nicht von vorneherein schlechter als die gegenwärtig dominierenden Zeichen sein müssen. Man braucht nur an einen für die moderne Theologiegeschichte so fundamentalen Vorgang wie die Lutherrenaissance zu erinnern, um sich deutlich zu machen, wie viel Potenzial zur Horizonterweiterung gegenüber der Gegenwart in der Geschichte liegt. In der jüngeren Kirchengeschichte kann man an die Wiederentdeckung mystischer Spiritualität oder auch der Bedeutung der Liturgie im Luthertum erinnern – auch diese neuen Impulse wären nicht denkbar gewesen, wenn nicht die geschichtliche Erfahrung Potenziale bereitgehalten hätte, die jeweils gegenwärtig geltenden Selbstverständlichkeiten zu überschreiten und zu ergänzen. In der Überzeugung, dass gerade so die Kirchengeschichte ihre wichtigsten Beiträge zum theologischen Diskurs bieten kann, lautet meine abschließende sechste These: Kirchengeschichte ist diejenige Teildisziplin der Theologie, die das Ganze des Fachs unter dem Gesichtspunkt der historischen Entfaltung des christlichen Symbolsystems betrachtet. Ihre Funktion im theologischen Diskurs liegt in der Legitimierung und Relativierung theologischer Gegenwartsdeutungen und in ihrer Bereicherung durch Aufweis der vielfältigen Erfahrungsmöglichkeiten im Horizont christlichen Wirklichkeitsverständnisses.

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Die Dogmatik im Kreis der theologischen Fächer Entfaltung der christlichen Lehre und Plausibilisierung ihres Wahrheitsanspruchs in Verantwortung vor der Gegenwart

I Für die Bestimmung und enzyklopädische Einordnung der Dogmatik, wie Schleiermacher sie in der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums vollzieht, sind folgende drei Aspekte grundlegend und im Kontext seiner Zeit spezifisch. Schleiermacher verortet die Dogmatik erstens im Bereich der „historischen Theologie“ – dies bedeutet im Verbund mit der Exegese und Kirchengeschichte – und ordnet ihr die „kirchliche Statistik“ bei. Er verbindet zweitens die Theologie im engeren Sinn mit der „philosophischen Theologie“, wie er diese versteht, und richtet damit die theologischen Disziplinen insgesamt an der Wesensbestimmung des Christentums aus. Er bestimmt schließlich drittens nicht nur die Dogmatik, sondern alle theologischen Disziplinen durch ihren Bezug auf eine „praktische Aufgabe“¹, die Schleiermacher in der Wahrnehmung von „Kirchenleitung“² sieht, welche das „Interesse am Christenthum“³ voraussetzt und auf die Erhaltung und Förderung des Christentums unter sich wandelnden gesamtkulturellen Bedingungen abzweckt.⁴ Die der Theologie als Ganzer aufgetragene praktische Aufgabe zum Zweck der Kirchenleitung schließt die Anerkennung der Selbständigkeit der ausdifferenzierten Disziplinen dezidiert ein. Den jeweiligen theologischen Disziplinen kommt

 Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2. Auflage (1830), in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. HansJoachim Birkner u. a., Bd. I/6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg.v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998 (Studienausgabe Berlin/New York 2002), 321– 446 (Sigle KD2), § 1, 326.  KD2 § 3, 327.  Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 1. Auflage (1811), in: Ders.: Universitätsschriften (s. Anm. 1), 243 – 315 (Sigle KD1), 2 (Orig.pag.) § 8, 250. Vgl. KD2 § 8, 329.  Vgl. KD2 § 11 Zs., 330. Theologie ist nach Schleiermacher’schem Verständnis der „Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besiz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche […] nicht möglich ist“ (KD2 § 5, 328).

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eine ihnen je eigentümliche Aufgabe zu, der sie in freier Anwendung ihrer Methodiken nach rein wissenschaftlichen Kriterien nachkommen sollen. Indes nur im Zusammenwirken der unterschiedlichen Disziplinen kann sich die Theologie ihrem Selbstverständnis gemäß vollziehen. Die theologischen Disziplinen müssen daher allesamt auf die Kirchenleitung zur Förderung und Erhaltung des Christentums unter sich wandelnden geschichtlichen Bedingungen als Zweckbestimmung der Theologie bezogen sein und dazu in der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Aufgaben ineinandergreifen. Nur so werden sie als eigentümlich theologische Disziplinen wahrgenommen. Denn, so schärft Schleiermacher ein: „Dieselben Kenntnisse, wenn sie ohne Beziehung auf das Kirchenregiment erworben und besessen werden, hören auf theologische zu sein, und fallen jede der Wissenschaft anheim, der sie ihrem Inhalte nach angehören.“⁵

Damit scheint Schleiermacher einem rein funktionalen Theologiebegriff das Wort zu reden, indem er das Zusammenwirken der theologischen Disziplinen in ihrer Ausrichtung auf die Kirchenleitung und zum Zweck der Erhaltung und Förderung des Christentums unterstreicht und einer sich von dieser Ausrichtung zunehmend verselbständigenden Ausdifferenzierung der Disziplinen eine Grenze zieht. Die funktionale Bestimmung der Theologie erfährt bei Schleiermacher freilich eine notwendige Ergänzung dadurch, dass alle Disziplinen an der Wesensbestimmung des Christentums teilhaben, ohne welche, wie wir noch sehen werden, die wissenschaftliche, kritisch-konstruktive Wahrnehmung von Theologie nicht vollzogen werden kann, die wiederum die Voraussetzung dafür ist, dass die Theologie zur Erhaltung und Förderung des Christentums überhaupt angemessen fungieren kann.⁶

II Schleiermachers Verständnis von Dogmatik ist nur angemessen erfasst, wenn man die drei genannten Gesichtspunkte zusammenführt und sie in ihrem systemati-

 KD2 § 6, 328. Vgl. KD2 § 11 Zs., 330, wo Schleiermacher für die „wissenschaftliche Wirksamkeit des Theologen“ festhält, sie müsse „auf die Förderung des Wohls der Kirche abzwekken“.  Auf die Erweiterung des rein funktionalen Theologiebegriffs durch die Orientierung am ‚Begriff des Christentums‘ weist Markus Schröder mit Recht gegen entsprechend einseitige Interpretationen hin: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion (BHTh 96), Tübingen 1996, bes. 100 – 124.

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schen Zusammenhang untereinander versteht. Wir versuchen dies in freilich groben Zügen darzustellen. Die Dogmatik gehört dem Bereich der historischen Theologie zunächst einmal dadurch zu, dass sie sich – wie die theologischen Disziplinen allesamt – auf das „geschichtlich gegebene[] Christenthum“⁷ bezieht. Sie ist eine „positive Wissenschaft“⁸, die sich speziell „der geschichtliche[n] Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande des Christenthums“⁹ widmet. Die Dogmatik hat dabei gemäß ihrer Definition in der Kurzen Darstellung die „zusammenhängende Darstellung der Lehre wie sie zu einer gegebenen Zeit […] geltend ist“¹⁰, zu entfalten. Ihr Charakter als eine der historischen Theologie zugeordnete Disziplin wird darin deutlich. Die Dogmatik formuliert keine zeitinvarianten Aussagen der christlichen Lehre. Sie ist vielmehr diejenige Disziplin, welche auf dem Boden der geschichtlichen Kenntnis des Christentums – begriffen nach seinem Ursprung und in seiner Wirkungsgeschichte – sowie in Anbetracht seiner gegenwärtigen Lage die christliche Lehre entfaltet und dabei eine Umbildung derselben vor dem Horizont eines gewandelten gesamtkulturellen Bewusstseins vollzieht. Dass es in der dogmatischen Theologie um die zusammenstimmende und insofern systematische Entfaltung des Gesamtausdrucks der christlichen Lehre zu tun ist, bildet den einen Gesichtspunkt, den Schleiermacher zunächst hervorhebt. Es muss eine gedanklich nachvollziehbare Systematik in der Behandlung des Gesamtausdrucks der christlichen Lehre geben, sodass klar ist, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Schleiermacher hebt mithin den Systemanspruch für die Dogmatik nicht auf. Es geht ihm um das Ganze der christlichen Lehre, und zwar so, dass es als ein systematisches Ganzes zur Darstellung kommt. Das heißt nicht, dass alle überlieferten Lehrstücke unhinterfragt mitgeführt werden. Es heißt aber wohl, dass eine Darstellung des Gesamtausdrucks der christlichen Lehre anzustreben ist und nicht nur eine Ansammlung verschiedener Aufsätze zu bestimmten Themen der Dogmatik. Dieser Anspruch auf Systematizität des Gesamtausdrucks der christlichen Lehre zieht die Frage nach sich, aus welchem Prinzip heraus die dogmatischen Lehrsätze gewonnen werden, um sie als ein solch geordnetes Ganzes darzustellen.¹¹ Bekanntlich hat Schleiermacher diesbezüglich – im Gefolge der erkennt-

 KD1, 12 § 7, 257; vgl. KD2 §§ 32 u. 34.  KD2 § 1, 325.  KD2, Überschrift zum dritten Abschnitt, 393.  KD2 § 97, 363.  Vgl. KD2 § 200, 397: „Alle Lehrpunkte welche durch das die Periode dominirende Princip entwikkelt sind, müssen unter sich zusammenstimmen“, was nicht damit zusammenstimmt, ist als eine bloß „unzusammenhangende Vielheit“ anzusehen.

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nistheoretischen Grundlegung Kants, aber nicht nur und auch nicht primär durch diese, sondern durch das Verständnis vom ‚Prinzip des Protestantismus‘ geleitet¹² – in der eigenen Glaubenslehre die Einsicht umgesetzt, dass alle Sätze der Dogmatik als aus dem christlich frommen Selbstbewusstsein abgeleitet gelten können müssen.¹³ Er hat damit seiner Glaubenslehre ein eigentümliches Konstruktionsprinzip zu Grunde gelegt, in der Folge die dogmatischen Lehrstücke einer anderen Anordnung zugeführt, als dies in der traditionellen, dem heilsgeschichtlichen Schema folgenden Theologie der Fall war, die dogmatischen Topoi im Ausgang vom christlich frommen Selbstbewusstsein insgesamt einer kritischen Bearbeitung und nicht zuletzt einer entsprechenden Umbildung unterzogen. Im Zuge dessen gibt Schleiermacher auch Schrift und Bekenntnis eine andere Funktion, als dies für die altprotestantische Theologie galt, indem er das christlich fromme Selbstbewusstsein als principium cognoscendi der dogmatischen Aussagen handhabt. Dies bedeutet nicht, dass Schrift und Bekenntnis für Schleiermacher keine Rolle mehr spielten. Die anderweitig, nämlich aus dem christlich frommen Selbstbewusstsein gewonnenen Aussagen der Dogmatik werden, so heißt es, an Schrift und Bekenntnis „bewährt“: „Alle Säze, welche auf einen Ort in einem Inbegriff evangelischer Lehre Anspruch machen, müssen sich bewähren […] durch Berufung auf evangelische Bekenntnißschriften und in Ermangelung deren auf die Neutestamentischen Schriften.“¹⁴

Dies impliziert ein bestimmtes Verständnis von Schrift und Bekenntnis in ihrer Bedeutung für die Dogmatik und sagt zugleich etwas über das fromme Selbstbewusstsein in seinem Verhältnis zu Schrift und Bekenntnis aus, worauf wir in unserem Zusammenhang nicht näher eingehen können.¹⁵ Schleiermacher je-

 In erster Linie ist Schleiermacher orientiert am Glaubensbewusstsein. Dass durch diesen Bezug zugleich das erkenntnistheoretische Paradigma der Neuzeit aufgegriffen werden kann, liegt sozusagen in der Natur der Sache: Nach evangelischem Selbstverständnis erweist sich die Wahrheit des Glaubensgehalts darin, dass er nicht auf äußere Autorität hin geglaubt wird, sondern sich dem Subjekt im Glauben als wahr erschließt und so Gewissheit begründet.  Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube, nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Auflage (1830/31), 2 Bde. in 1 Bd., hg.v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008 (Studienausgabe, seitengleich mit: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bde. I/13.1 und 13.2, Berlin/New York 2003 – Sigle CG2), § 15, Leitsatz, Bd. 1, 127 [Orig.pag. 108]: „Christliche Glaubenssäze sind Auffassungen der christlich frommen Gemüthszustände in der Rede dargestellt.“  CG2 § 27, Leitsatz, Bd. 1, 175 [158]. Vgl. KD2 §§ 209 – 211.  Einschlägig ist hier der Leitsatz zu § 128 der Glaubenslehre, wo es heißt: „Das Ansehen der heiligen Schrift kann nicht den Glauben an Christum begründen, vielmehr muß dieser schon vorausgesezt werden um der heiligen Schrift ein besonderes Ansehen einzuräumen“ (CG2, Bd. 2,

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denfalls ist der Überzeugung, dass er dadurch dem evangelischen Verständnis der Schrift sowie der Funktion der Bekenntnisschriften entspricht, indem er deren Geltung für das religiöse Bewusstsein daran bindet, dass dieses sich in ihnen ausgedrückt sehen kann.¹⁶ Dass das christlich fromme Selbstbewusstsein das principium cognoscendi der Dogmatik zu sein habe, steht so ausdrücklich nicht in der Kurzen Darstellung, die rein formal enzyklopädisch die Aufgabe der Dogmatik bestimmt.Wir haben diesen Grundsatz in dem mit ausgedrückt zu sehen, was Schleiermacher als formale Bestimmung der Aufgabe der Dogmatik anführt, nämlich das „Princip der laufenden Periode“¹⁷ zu erfassen und es einer besseren Gestaltung zuzuführen. Das „Prinzip der laufenden Periode“ wiederum ist das durch die Reformation konstituierte Verständnis des Christentums. Um dies in der evangelischen Dogmatik einzuholen, die zu zeigen hat, „wie mannigfaltig und bis auf welchen Punkt das Princip der laufenden Periode sich nach allen Seiten entwikkelt hat, und wie sich dazu die der Zukunft anheim fallenden Keime verbesserter Gestaltungen verhalten“¹⁸, bildet Schleiermacher die christliche Lehre um, indem dem christlich frommen Selbstbewusstsein die Funktion des Begründungszusammenhangs der dogmatischen Lehrstücke zukommt und die Bedeutung von Schrift und Bekenntnis dieser Erkenntnis gemäß verstanden wird. Schleiermacher drückt damit zugleich aus, dass die der Reformation zugrundeliegende Einsicht in einer in dieser Weise durchgeführten Dogmatik allererst wirklich zum Tragen kommt. Erst eine solche Entfaltung der Dogmatik setzt Schleiermachers Überzeugung zufolge das Selbstverständnis reformatorischen Christentums dem ‚protestantischen Prinzip‘¹⁹ gemäß um.²⁰

316 [352]). Zu Schleiermachers Verständnis und eigenem Umgang mit den Bekenntnisschriften vgl. Martin Ohst: Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung (BHTh 77), Tübingen 1989.  Damit entsteht selbstredend die Frage, wie es zum Erlösungsbewusstsein des Einzelnen kommt. Für Schleiermacher ist dafür zum einen der „Totaleindruck“ ausschlaggebend, den der Einzelne durch die Schrift (sic!) von der Person Jesu gewinnt, und zwar so gewinnt, dass es im Glauben zur Teilhabe an der erlösenden und versöhnenden Tätigkeit des Erlösers kommt. Vgl. CG2 §§ 11. 100. 101. Zum anderen ist der Einzelne dafür unabdingbar auf den Lebens- und Überlieferungszusammenhang der christlichen Gemeinde als dem Medium der fortgesetzten Wirksamkeit des Erlösers angewiesen. Denn „[i]n diesem auf die Wirksamkeit Jesu zurükkgehenden Gesammtleben wird die Erlösung durch ihn bewirkt vermöge der Mittheilung seiner unsündlichen Vollkommenheit“ (CG2 § 88, Leitsatz, Bd. 2, 21 [10]).  KD2 § 198, 396.  Ebd.  Zur Debatte um das Prinzip des Protestantismus im 19. Jahrhundert vgl. die knappen Ausführungen in: Ch. Axt-Piscalar: Der Grund des Glaubens. Eine theologiegeschichtliche Un-

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Dazu gehört für Schleiermacher angesichts der Entwicklung der konfessionsbestimmten Kirchentümer, wie sie sich ihm zu seiner Zeit zeigt, auch, dass der dezidierte Gegensatz gegen die Lehre und Sozialgestalt der römischen Kirche in der evangelischen Dogmatik beharrlich mitgeführt wird.²¹ Demgegenüber ist der Gegensatz der evangelischen Konfessionen untereinander einer Überwindung zuzuführen, wofür Schleiermacher mit seiner Glaubenslehre den lehrhaften Ausdruck zu geben versucht. Schleiermacher fügt sogleich hinzu, dass „das die Periode dominirende Princip“²² durchaus verschieden aufgefasst werden könne und insofern mehrere verschiedenartige Darstellungen der christlichen Lehre entstünden, „welche, vielleicht nicht mit Unrecht, auf gleiche Kirchlichkeit Anspruch machen“²³. Kurzum: Über die Bestimmung des dominierenden Prinzips einer laufenden Periode und seine Wahrnehmung in der Durchführung der Dogmatik kann unterschiedlich geurteilt werden. Dadurch erhalten die jeweiligen dogmatischen Entwürfe ein je eigenes Profil. In der Folge ergibt sich daraus eine Pluralität von dogmatischen Konzeptionen, die Schleiermacher als dem ‚Gegenstand‘ der Theologie und seiner immer auch perspektivischen, durch die Sicht des jeweiligen Forschers bedingten Erfassung angemessen begreift. Dies kann jedoch nicht heißen, dass die prinzipielle Anerkennung von Pluralität dogmatischer Konzeptionen auf subjektive Beliebigkeit hinausläuft. Das entscheidende Korrektiv, das bei der Wahrnehmung der dogmatischen Lehre mitzuführen ist, bildet die Wesensbestimmung des Christentums.²⁴ Denn die Aufgabe der Dogmatik besteht im Kern darin, in der christlichen Lehre das Wesen des Christentums unter geänderten gesamtgesellschaftlichen Bedingungen austersuchung zum Verhältnis von Trinität und Glaube in der Theologie I. A. Dorners (BHTh 79), Tübingen 1990, 7– 27.  Diese Überzeugung führt Schleiermacher dazu, nicht nur eine „falsche Orthodoxie“ zu kritisieren, die „auch dasjenige in der dogmatischen Behandlung noch festhalten“ will, „was in der öffentlichen kirchlichen Mittheilung schon ganz antiquirt ist“ (KD2 § 205, 399). Vielmehr macht er sie auch gegenüber den Reformatoren geltend, wo diese die kirchliche Lehre nicht hinreichend ihrer evangelischen Grunderkenntnis gemäß umgebildet haben. Besonders nachdrücklich bringt er diese Kritik gegen die kirchliche Fassung der Trinitätslehre zum Zug. So hält der Leitsatz zu CG2 § 172 fest: „Da wir diese Lehre um so weniger für abgeschlossen halten können, als sie bei der Feststellung der evangelischen Kirche keine neue Bearbeitung erfahren hat: so muß ihr noch eine auf ihre ersten Anfänge zurükkgehende Umgestaltung bevorstehn“ (Bd. 2, 527 [588]).  Vgl. KD2 §§ 212. 217. 219 sowie den einschlägigen § 24 von CG2.  KD2 § 200, 397.  KD2 § 200 Zs., ebd.  Sie ist eine Aufgabe aller theologischen Disziplinen, wie im Folgenden noch gezeigt wird. An dieser Stelle wird zunächst auf die Dogmatik Bezug genommen.

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zusagen. Das heißt, eine Transformation der christlichen Lehre angesichts des gewandelten Zustands von Kirche und gesamtkulturellem Bewusstsein zu vollziehen und dadurch das Wesen des Christentums ‚hineinzubilden‘ in die Gegenwart von Kirche und Kultur. Wir sprechen hier ausdrücklich von ‚Hineinbilden‘ des Wesens in die zeitgenössische Kirche und Kultur, um deutlich zu machen, dass die Wesensbestimmung der Maßstab ist, nach welchem besagte Transformation der christlichen Lehre zu vollziehen ist, was nicht aus-, sondern einschließt, dass die Dogmatik in der Berücksichtigung der Wesensbestimmung – in Anlehnung an Ernst Troeltsch²⁵ gesagt – zugleich eine Wesensgestaltung des Christentums vollzieht. Da dies die Kernaufgabe der Dogmatik ist, welche die christliche Lehre unter sich wandelnden gesamtgesellschaftlichen Bedingungen zu entfalten hat, muss ihr die „kirchliche Statistik“²⁶ zugeordnet werden. Deren spezifische Aufgabe liegt darin, den gegenwärtigen Zustand von Kirche und Kultur – den „Gesamtzustand einer kirchlichen Gesellschaft“²⁷ – zu erfassen; sie hat, wie die erste Auflage der Kurzen Darstellung dazu komprimiert anführt, „die religiöse Entwiklung, die kirchliche Verfassung und die äußeren Verhältnisse der Kirche im gesamten Gebiet der Christenheit“²⁸ zu untersuchen. Schleiermacher gibt zu bedenken, dass diese Disziplin zu seiner Zeit noch überhaupt nicht ausgebildet sei. Am ehesten entspricht dem, was Schleiermacher als Aufgabe für die kirchliche Statistik beschreibt, wohl dasjenige, was in der gegenwärtigen Theologie unter dem Stichwort Christentumstheorie firmiert²⁹ und vom Anspruch und der methodischen Durchführung her in Troeltschs Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen ³⁰ einen prominenten Vorläufer hat. Bevor die Aufgabe der Wesensbestimmung des Christentums, die für die Wahrnehmung von Theologie insgesamt von grundlegender Bedeutung ist, näher entfaltet wird, seien noch einige weitere Aspekte festgehalten, die Schleiermacher als unabdingbare Momente einer geordneten Darstellung der evangelischen Dogmatik ansieht. Mit dem oben zur Transformation Gesagten verbindet sich der sowohl ‚orthodoxe‘ als auch ‚heterodoxe‘ Charakter der Dogmatik. Sie hat einen

 Ernst Troeltsch: Was heißt „Wesen des Christentums“?, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 21922, 386 – 451, hier 431.  Vgl. KD2 §§ 232– 250.  KD2 § 232, 408.  KD1, 65 § 43, 294.  Vgl. dazu Martin Laube: Theologie und neuzeitliches Christentum. Studien zu Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs (BHTh 139), Tübingen 2006.  Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Bd. 1: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912.

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auf die Kontinuität zur bisherigen kirchlichen Lehre gerichteten Zug und insofern bewahrenden Charakter. Sie ist zugleich bestimmt von einem heterodoxen Movens, welches auf die Fortentwicklung und Umbildung der in der Kirche bislang geltenden Lehre angesichts des Wandels von Kirche und Kultur abzielt; insofern ist sie kritisch-konstruktiv umbildend tätig. Es gilt einerseits das in der gegenwärtigen Kirche und Theologie allgemein Anerkannte der christlichen Lehre festzuhalten und zugleich anderen Auffassungen, die einer nötigen konstruktiven Um- und Fortbildung derselben dienen, Raum zu geben.³¹ Die Dogmatik ist mithin durchaus und notwendigerweise orientiert an der bisher gültigen Lehre der Kirche; nicht nur, aber auch darin liegt ihr dezidiert kirchlicher Charakter. Dies wiederum ist nicht Ausdruck eines unreflektierten Traditionalismus, der die Theologie eben an die dogmatischen Gehalte der Tradition gebunden sieht. Vielmehr drückt sich in dieser Option ein bestimmtes Verständnis von kirchlicher Lehre – vom ‚Dogma‘ – aus, nämlich zum einen, dass die christliche Religion eine solche Religion ist, die sich gleichsam ab ovo eine Theologie und eine kirchliche Lehre anbildet, mithin genuin die Reflexion auf sich selbst mitführt: „Jeder bestimmten Glaubensweise wird sich in dem Maaß als sie sich mehr durch Vorstellungen als durch symbolische Handlungen mittheilt, und als sie zugleich geschichtliche Bedeutung und Selbstständigkeit gewinnt, eine Theologie anbilden“³².

Zum andern ist die christliche Religion eine Religion, die über die öffentlich geltende kirchliche Lehre auch die Partizipation der Teilnehmer an dieser Religion, die auf Mitteilung angelegt ist und aus der Mitteilung lebt, etwas unschön gesagt, „steuert“. Hierzu ist neben dem eben zitierten § 2 der Kurzen Darstellung § 39 heranzuziehen, wo es heißt: „Wie Jeder in seiner Kirchengemeinschaft nur ist vermöge der Überzeugung von der Wahrheit der sich darin fortpflanzenden Glaubensweise: so muß die erhaltende Richtung der Kirchenleitung auch die Abzwekkung haben diese Ueberzeugung durch Mittheilung zur Anerkenntniß zu bringen.“³³

Das Christentum bildet sich eine Theologie und kirchliche Lehre an, da „es sich vorzüglich durch den Gedanken darstellt und mittheilt“³⁴. Es ‚steuert‘ die Partizipation seiner Mitglieder auch über die kirchliche Lehre, denn es ist als eine    

Vgl. KD2 §§ 203 – 208. KD2 § 2, 326. KD2 § 39, 340. KD2 § 49, 344.

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organische und zugleich öffentliche Gemeinschaft gebunden an den auch lehrhaften Überlieferungszusammenhang. Die Religionsausübung und die Verbindung der Glieder der jeweiligen Kirchengemeinschaft untereinander zu einem gemeinschaftlichen Ganzen erfordert Theologie und kirchliche Lehre. Denn „Kirche ist eine Gemeinschaft der Lehre sowol als des Lebens“³⁵, wie Schleiermacher betont.

III Hier liegt nun eine kurze Bemerkung zu Johann Salomo Semlers Unterscheidung von privater und öffentlicher Religion und der bei ihm damit verknüpften Funktionsbestimmung der öffentlichen Theologie nahe, um Schleiermachers diesbezügliche Überzeugung zu konturieren. Semler führt die Unterscheidung von privater und öffentlicher Religion ja ein, um die Bedeutung, die der öffentlichen Religionsausübung durchaus zukommt und die als solche auf Theologie und kirchliche Lehre angewiesen ist, zu beschreiben und zugleich die private Religion des Einzelnen, die im Herzen des Menschen wohnt und den höchst individuierten Vollzug persönlicher Aneignung der religiösen Wahrheit darstellt, als weitgehend unabhängig von der öffentlichen Religionsausübung zu behaupten. Die öffentliche Religion ist nach Semler auf kirchliche Lehre und Theologie angewiesen. Denn „im Grunde […] haben alle diese so ungleichen [sc. konfessionellen; Ch. A.-P.] Lehrbegriffe nur eine äußerliche Absicht, nämlich die Vereinigung einer großen Menge zu einer besonderen christlichen Religionsgemeinschaft zustande zu bringen und fortzusetzen“³⁶.

Die Bedeutung von Theologie und kirchlicher Lehre wird damit nicht in Abrede gestellt. Diese soll und muss es geben, nicht zuletzt deswegen, weil die Religion, um geschichtsmächtige Wirksamkeit in der Welt zu entfalten, einer organisierten Form bedarf. Die private Religion im Sinne Semlers hingegen kann sich sozusagen religiös autonom vollziehen und ist auf die öffentliche Religionsausübung offenbar nicht, zumindest nicht konstitutiv, angewiesen.³⁷ Insofern wird Semler

 KD1, 46 § 9, 281.  Johann Salomo Semler: Letztes Glaubensbekenntnis über natürliche und christliche Religion, hg.v. Christian Gottfried Schütz, Königsberg 1792, 48.  Zu Semler vgl. die knappen Bemerkungen in Christine Axt-Piscalar: Was ist Theologie? Klassische Entwürfe von Paulus bis zur Gegenwart, Tübingen 2013, 191– 198. Zur Bedeutung von Semlers Unterscheidung für die neuzeitliche Bestimmung des Christentums vgl. Martin Laube: Die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Religion bei Johann Salomo Semler. Zur

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wohl nicht zu Unrecht als Theologe derjenigen neuzeitlichen Religionspraxis verstanden (bzw. je nach Standpunkt für sie verantwortlich gemacht), die durch die Privatheit des individuellen religiösen Vollzugs und die Abständigkeit gegenüber der kirchlich verfassten Religion charakterisiert ist. Bei Schleiermacher hat die Zuordnung von Theologie und kirchlicher Lehre zur gemeinschaftlichen und privaten Religionsausübung doch ein anderes Profil, insofern er von vorneherein das christlich fromme Selbstbewusstsein von seinem Eingebundensein in den Lebens- und Überlieferungszusammenhang der kirchlichen Gemeinschaft her begreift und es als eine spezifische Gefahr gerade des neuzeitlichen Protestantismus ansieht, in die Unkirchlichkeit abzudriften.³⁸ Alle Interpretationen von Schleiermachers Theorie des religiösen Selbstbewusstseins, die einseitig auf den individuellen religiösen Vollzug abstellen, verfehlen mithin die Grundintention von Schleiermachers Beschreibung des christlich frommen Selbstvollzugs: „[D]a die christliche Frömmigkeit in keinem Einzelnen unabhängig für sich entsteht, sondern nur aus der Gemeinschaft und in ihr: so giebt es also auch ein Festhalten an Christo nur in der Verbindung mit einem Festhalten an der Gemeinschaft.“³⁹

In aller Schärfe bezeichnet Schleiermacher in der Kurzen Darstellung den „Indifferentismus“ gegenüber der kirchlichen Gemeinschaft als einen Zustand, durch den „sich vorzüglich offenbart, dass die christliche Frömmigkeit selbst krankhaft geschwächt ist“.⁴⁰ Schleiermacher versteht zum einen die Form der Vergemeinschaftung als konstitutiv für den individuellen religiösen Vollzug und er sieht zum andern ein Spezifikum der christlichen Religion darin, dass sie gleichsam ab ovo die Reflexion auf sich in Gestalt von Theologie mitführt und dass sie über die kirchliche Lehre die religiöse Mitteilung in der Gemeinschaft gemäß der Wesensbestimmung des Christentums ‚steuert‘. Das aber heißt, dass auch dies – die Ausbildung von Theologie, kirchlicher Lehre und einer entsprechenden Sozialgestalt – zum Wesen des Christentums gehört und mithin aus dem Wesen des Christentums zu begreifen ist.⁴¹

neuzeittheoretischen Relevanz einer christentumstheoretischen Reflexionsfigur, in: ZNThG 11 (2004), 1– 23.  Vgl. CG2 § 24.4.  CG2 § 24.4, Bd. 1, 167 [150].  KD2 § 56, 347.  Vgl. KD1, 46 § 8, 280: „Sobald das Christenthum als thätiges Princip in die Welt eingetreten ist, kann man die Bildung der gemeinsamen Lehre und die Bildung des gemeinsamen Lebens als zwei Functionen desselben unterscheiden.“ Und KD2 § 58, 348, heißt es: „Da das eigenthümliche Wesen des Christenthums sich vorzüglich ausspricht einerseits in der Lehre und andererseits in

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Es bildet aus Schleiermachers Sicht insofern die spezifische Aufgabe der Kirchengeschichte, den Selbstausdruck des Wesens des Christentums in der Entwicklung der Lehre sowie in der Sozialgestalt durch die Geschichte hindurch zu erfassen und dabei „die Bildung des kirchlichen Lebens [als] mitbedingt durch die politischen Verhältnisse und den gesamten geselligen Zustand: die Entwiklung der Lehre […] durch den gesamten wissenschaftlichen Zustand, und vorzüglich durch die herrschenden Philosopheme“⁴² zu verstehen. Auf diese Weise ist auch die Kirchengeschichte auf die Bestimmung des Wesens des Christentums bezogen: Sie bewährt dieselbe an der Rekonstruktion seiner Wirkungsgeschichte im Ausgang vom Wirken des geschichtlichen Christus sowie der Geschichte des Urchristentums, wie sie durch die neutestamentliche Exegese erhoben wird und den zentralen Bezugspunkt bildet für die Bestimmung des Wesens des Christentums. Von daher rückt zugleich die Frage nach dem Übergang vom geschichtlichen Christus zu Paulus und der urgemeindlichen sowie sodann der altkirchlichen Theologie und Sozialgestalt der Kirche und damit verknüpft nach dem Prozess der Anverwandlung der antiken Kultur in den Fokus der Wesensbestimmung: Dieser Übergang und der Prozess der Anverwandlung müssen begriffen werden können aus dem Wesen des Christentums, wie es in der Zusammengehörigkeit von geschichtlichem Christus und urgemeindlicher Verkündigung grundgelegt ist, sodass erfasst wird, dass und inwiefern dem Wesen des Christentums die Kraft zur Anverwandlung nicht nur der antiken Kultur, sondern ganz prinzipiell die Kraft zur Anverwandlung unterschiedlich geprägter Kulturen eignet. Dabei ist der Prozess der Anverwandlung als eine Transformation der jeweiligen Kultur im Geist des Christentums – mithin nicht als Überfremdung von diesem – zu verstehen.⁴³ Die Dogmatik hat wiederum darauf zu sehen, dass bezüglich der Lehre das Gesunde erhalten und das Krankhafte ausgeschieden wird.Was ist das Gesunde? – Das dem Wesen des Christentums Gemäße. Was ist das Krankhafte? – Das vom Wesen des Christentums im Kern Abweichende. „Was als krankhaft aufgestellt wird, davon muß nachgewiesen werden theils seinem Inhalte nach, daß es dem Wesen des Christentums, wie sich dieses in Lehre und Verfassung ausgedrückt hat, widerspricht oder es auflöst, theils seiner Entstehung nach, daß es nicht mit der

der Verfassung: so kann sich in der Kirche auch fremdartiges organisiren, theils in der Lehre als Ketzerei, Häresis, theils in der Verfassung als Spaltung, Schisma“.  KD2 § 167, 385 f.  Versuche, in dieser Weise die Wesensbestimmung des Christentums zu begreifen, haben neben Troeltsch vor allem Adolf von Harnack und Emanuel Hirsch unternommen. Zu Harnacks Konzeption vgl. meine knappen Bemerkungen in: Ch. Axt-Piscalar: Der Sohn des Vaters. Adolf von Harnacks Christologie, in: ThZ 63 (2007), 420 – 447.

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von den Grundthatsachen des Christenthums ausgehenden Entwikklungsweise zusammenhängt.“⁴⁴

Häresie ist das, was das Wesen des Christentums im Kern betrifft,⁴⁵ und kann nicht geduldet werden; alles andere wiederum kann als ein Spektrum möglicher Ausdifferenzierungen in der Lehre und der Sozialgestalt des Christentums geduldet, ja, als solches gewollt werden.

IV Wir wenden uns damit der Frage nach der Wesensbestimmung im Schleiermacher’schen Sinn zu und vergegenwärtigen uns zunächst noch einmal die Funktion derselben. Die Funktion der Wesensbestimmung liegt darin, die faktischen Gestalten des Christentums in Lehre und Sozialgestalt kritisch an ihr zu prüfen, um zu klären, „wie sich irgend ein geschichtlich gegebener Zustand des Christenthums zu der Idee desselben verhält“⁴⁶. Die Wesensbestimmung dient zudem dazu, einen Maßstab zu geben, an dem sich die gegenwartsverantwortete Umbildung der Lehre und Sozialgestalt des Christentums zu orientieren hat. Darin liegt grob gesagt die Bedeutung, welche die Wesensbestimmung für die theologischen Disziplinen – für alle theologischen Disziplinen – hat. Die Bestimmung des Wesens des Christentums wiederum fällt in den Aufgabenbereich der philosophischen Theologie.⁴⁷ Sie ist nach Schleiermacher dezidiert nicht als eine rein spekulative Disziplin zu begreifen. „[D]ie philosophische Theologie würde ganz willkührlich werden, wenn sie sich von der Verpflichtung losmachte alle ihre Säze durch die klarste Geschichtsauffassung zu belegen.“⁴⁸ Die philosophische Theologie ruht auf der geschichtlichen Erfassung des Christentums auf und bewährt die von ihr gewonnenen Begriffe an den Erkenntnissen der historischen Theologie wie umgekehrt diese sich der philosophischen Theologie zu bedienen hat, um ihre Erkenntnisse auf die Bestimmung des Wesens des  KD2 § 60, 348 f.  In der Glaubenslehre bestimmt Schleiermacher das Wesen des Christentums dahingehend, dass es eine teleologische Frömmigkeit sei, in der alles bezogen werde auf die in Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung, und zieht von da ausgehend die Grenzen hin zur Häresie, in der Erlösungsbewusstsein und Erlöser nicht in der besagten Weise miteinander verknüpft sind, mithin entweder Jesus Christus nicht als Erlöser oder das religiöse Bewusstsein nicht als erlösungsbedürftig verstanden werden. Vgl. dazu CG2 § 11.  KD2 § 34, 339.  Vgl. KD2 §§ 32– 68.  KD2 § 254 Zs., 415.

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Christentums hin durchsichtig zu machen. Mithin ist es unbillig, „wenn jemand die Elemente der philosophischen Theologie durch bloße Construction constituiren will, und dann die Begebenheiten darnach deutet“⁴⁹. Vielmehr hat der Forscher darauf zu achten, „daß seine philosophische Theologie, wie sie ihm mit der historischen wird, sich auch durch ihre Angemessenheit für diese bestätigt“⁵⁰. Um das Wesen des Christentums zu erfassen, bedarf es mithin einer Bestimmung des Eigentümlichen des Christentums aus ihm selbst heraus. ⁵¹ Diese Perspektive ist wiederum durch eine religionstheoretische und religionsvergleichende Betrachtung zu ergänzen. Durch die Erweiterung um diese Perspektiven erhält die philosophische Theologie ihren eigentümlichen Charakter und ihre eigentümliche Bedeutung für die Wesensbestimmung des Christentums. Zu dieser ist ein Vergleich der christlichen mit anderen Religionen vonnöten, um das Spezifische des Christentums durch einen solchen Vergleich näher zu konturieren und zu bewähren. Die philosophische Theologie hat darüber hinaus Religion, besser Religiosität, als etwas für das Menschsein des Menschen Konstitutives, als ein anthropologisches Fundamentale, zu begreifen. In der Kurzen Darstellung fasst Schleiermacher die Aufgabe der philosophischen Theologie wie folgt zusammen: „Es giebt kein Wissen um das Christenthum, wenn man, anstatt sowol das Wesen desselben in seinem Gegensaz gegen andere Glaubensweisen und Kirchen [i.e. Religionen; Ch. A.-P.], als auch das Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Thätigkeiten des menschlichen Geistes zu verstehen, sich nur mit einer empirischen Auffassung begnügt.“⁵²

Die philosophische Theologie bestimmt insofern sowohl die Frömmigkeit, i. e. die Religiosität, als auch die Vergemeinschaftung auf der Basis von Religiosität als etwas, was in der Natur des Menschen begründet liegt. „Wenn fromme Gemeinschaften nicht als Verirrungen angesehen werden sollen: so muß das Bestehen solcher Vereine als ein für die Entwikkelung des menschlichen Geistes nothwendiges Element nachgewiesen werden können.“⁵³

 KD2 § 255 Zs., ebd.  Ebd.  Der Christologie kommt bei Schleiermacher die zentrale Bedeutung für die Wesensbestimmung des Christentums zu. Vgl. dazu die Ausführungen von M. Schröder: Kritische Identität (s. Anm. 6), 184– 218.  KD2 § 21, 334.  KD2 § 22, ebd. Es geht darum „das Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Thätigkeiten des menschlichen Geistes zu verstehen“ (§ 21, ebd.) und zu zeigen, dass „fromme Gemeinschaften nicht als Verirrungen angesehen werden“

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Um das geschichtlich gegebene Christentum, das den Gegenstandsbereich der Theologie ausmacht, angemessen zu erfassen, muss das Wesen des Christentums bestimmt werden. Dies impliziert, das Christentum im Vergleich mit anderen Religionen zu begreifen. Es erfordert zudem, Religion als ein anthropologisches Fundamentale zu begründen und ebenso die Sozialgestalt von Religion in Form von ‚Kirchen‘ (sprich: Religionsgemeinschaften) als ein notwendiges, im Wesen des Menschen begründetes Phänomen zu begreifen. Damit sind die zentralen Aufgaben der philosophischen Theologie genannt, die sich dafür nicht-theologischer Disziplinen bedient, insbesondere der philosophischen Ethik, der Religionsgeschichte und Religionstheologie sowie der Religionsphilosophie bzw. Religionstheorie. Insofern nimmt die philosophische Theologie einen Standpunkt „über dem Christenthum“⁵⁴ ein. Schleiermacher sucht so den Wahrheitsanspruch des Christentums wissenschaftlich allgemeingültig zu begründen. Entscheidend ist hier freilich, dass dieser Standpunkt über dem Christentum nicht ohne den Standpunkt auf der Grundlage des geschichtlichen Christentums vollzogen werden kann. Das geschichtlich gegebene Christentum bildet den Ausgangs- und Bezugspunkt auch für die philosophische Theologie. Sie begreift dieses geschichtliche Phänomen nach seinem sich in Frömmigkeit, Lehre und Sozialgestalt ausdrückenden Selbstverständnis, wie es geschichtlich/ übergeschichtlich⁵⁵ geworden ist, sich durch die Geschichte hindurch entwickelt hat und sich gegenwärtig darstellt. Der geschichtliche „Stoff“ ist das „Gegebene“, welches „den Untersuchungen über das eigenthümliche Wesen des Christenthums […] zum Grunde liegt“.⁵⁶ Von daher bildet die „historische Theologie“, wie sie durch die Exegese, Kirchengeschichte und Dogmatik sowie die Statistik wahrgenommen wird, den „eigentlichen Körper“⁵⁷ der Theologie, und zwar auch der philosophischen Theologie, insofern sie die Wesensbestimmung des Christentums im Diskurs mit der philosophischen Ethik und der vergleichenden Religionsgeschichte auf der Grundlage seines Selbstverständnisses zu vollziehen hat. Zum Gegenstandsbereich der historischen Theologie wiederum gehören „Kenntniß des Urchristenthums, Kenntniß von dem Gesamtverlauf des Chris-

können, indem sie als „für die Entwikkelung des menschlichen Geistes nothwendiges Element nachgewiesen werden“ (§ 22, ebd.). Die philosophische Theologie verfährt dabei sowohl empirisch als auch deduktiv.  KD2 § 33, 338.  Vgl. KD2 §§ 71 u. 79 f.  KD2 § 65 Zs., 350.  KD2 § 28, 336.

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tenthums und Kenntniß von seinem Zustand in dem gegenwärtigen Augenblikk“⁵⁸. Dabei kommt der von der exegetischen Theologie erhobenen Kenntnis von Person und Geschichte Jesu Christi und des Urchristentums eine schlechthin grundlegende Bedeutung zu. Denn sie widmet sich der in den christlichen Schriften gegebenen „ursprünglichen, mithin […] für alle Zeiten normalen Darstellung des Christenthums“⁵⁹, zu der „wesentlich sowol die normalen Documente von der Wirksamkeit Christi an und mit seinen Jüngern, als auch die von der gemeinsamen Wirksamkeit seiner Jünger zur Begründung des Christenthums [gehören]“⁶⁰. Die Dignität der biblischen Schriften – und mithin die Kanonfrage⁶¹ – bemisst sich dabei an der „vollkommene[n] Reinheit“, durch die sie die ursprüngliche Darstellung des eigentümlich Christlichen ausdrücken, welche wiederum nicht „anderswo als nur in Christo schlechthinig anzunehmen“ ist.⁶² Die historische Theologie – als Exegese, Kirchengeschichte, Dogmatik und auf den gegenwärtigen Zustand der kirchlichen Gesellschaft bezogen als kirchliche Statistik – begreift den Bezug zum geschichtlichen Grund des Christentums in Person und Wirksamkeit Jesu Christi als konstitutiv und prägend für das Christentum in Geschichte und Gegenwart. Sie versteht die Gegenwart des Christentums als „Ergebniß der Vergangenheit“⁶³ und sie erfasst Gegenwart und Vergangenheit als Ausdruck der von Jesus Christus ausgehenden Wirkungsgeschichte.⁶⁴ In der Verbindung von philosophischer und historischer Theologie vermag die Theologie diejenige Aufgabe zu erfassen, die für die Kirchenleitung zentral ist, nämlich zu einer möglichst umfassenden „geschichtliche[n] Kenntniß des gegenwärtigen Momentes“ zu gelangen, „aus welchem der künftige soll entwikkelt werden“,⁶⁵ will heißen, auf der Grundlage der Wesensbestimmung des Christentums dessen zukünftigen Ausdruck in Lehre und Sozialgestalt zu bestimmen.

 KD2 § 85, 358.  KD2 § 103, 365.  KD2 § 105, 366.  Vgl. dazu KD2 § 106, 366: „Da weder die Zeitgrenze des Urchristenthums noch das Personelle desselben genau bestimmt werden kann: so kann auch die äußere Grenzbestimmung des Kanon nicht vollkommen fest sein.“  KD2 § 108 Zs., 367.  KD2 § 26, 336 u. § 82, 357.  Vgl. KD2 § 27; ferner § 160, 383: „Die Kirchengeschichte im weitesten Sinn […] soll als theologische Disciplin vorzüglich dasjenige, was aus der eigenthümlichen Kraft des Christenthums hervorgegangen ist“, von dem, was „in der Einwirkung fremder Principien seinen Grund hat“, unterscheiden.  KD2 § 81, 357.

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V 1. Die Pointe von Schleiermachers enzyklopädischer Beschreibung der theologischen Disziplinen und ihrer Einheit liegt darin, dass sie alle auf je ihre Weise zur Bewerkstelligung und Bewährung der Wesensbestimmung des Christentums beitragen und auf dieser Grundlage jene praktische Aufgabe angehen, an deren Lösung sie sich sämtlich zu beteiligen haben, nämlich die Funktion der Kirchenleitung auszuüben, die der Erhaltung und Förderung des Christentums in einer sich wandelnden Welt dient. Schleiermacher hat damit ein zentrales mit der Ausdifferenzierung der theologischen Disziplinen einhergehendes Problem benannt, das in deren gegenwärtiger Entwicklung umso dringlicher erscheint: die Einheit der Theologie in der Unterschiedenheit ihrer Fächer zu bestimmen.⁶⁶ 2. Man mag an dem Begriff ‚Wesen des Christentums‘ Anstoß nehmen, den zu bestimmen Schleiermacher als gemeinsame Aufgabe der theologischen Disziplinen ansieht. Die mit ihm verbundene Aufgabe für die Theologie verdient jedoch nach wie vor Beachtung: nämlich eine Bestimmung des Spezifischen des christlichen Glaubens im Ausgang vom geschichtlichen Christus und dem Urchristentum zu vollziehen und von daher zu begreifen, dass und inwiefern die Ausbildung von kirchlicher Lehre, Theologie und Sozialgestalt des Christentums für dieses konstitutiv sowie für eine geschichtliche Entwicklung offen ist – eine Entwicklung, die sich als Ausdruck des am geschichtlichen Christus und dem urgemeindlichen Christentum gewonnenen Wesens des Christentums und seiner Wahrnehmung unter sich verändernden kulturellen Bedingungen verstehen können lassen muss. Dies impliziert keinen einlinigen Entwicklungsbegriff, auch keinen rein dialektisch zu begreifenden, sondern einen solchen, der für Neues und mithin auch für Umbrüche und Diskontinuitäten aufgeschlossen ist. Sodann wäre im Zuge der Wesensbestimmung stärker noch eigens herauszustellen, dass und inwiefern der eine Grund des Glaubens und der Kirche eine gestaltete – mithin nicht beliebige! – Vielheit an Konfessionen, Kirchentümern und Theologien freisetzt. 3. Auch Schleiermachers Aufgabenbestimmung der philosophischen Theologie, Religiosität und die Vergemeinschaftung auf der Basis von Religiosität als ein zur Natur des Menschen Gehörendes zu beschreiben, hat für die Wahrnehmung von Theologie eine besondere Relevanz. Näher zu bestimmen ist jedoch der Status, der

 Dieser Aufgabe haben sich in jüngster Zeit Konrad Stock: Art. Theologie III. Enzyklopädisch, in: TRE 33 (2002), 323 – 343, sowie Ingolf U. Dalferth: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung (THLZ.F 11/12), Leipzig 2004, 26 – 31, gewidmet. Vgl. ferner auch Friederike Nüssel: Die Aufgabe der Dogmatik im Zusammenhang der Theologie, in: Ingolf U. Dalferth (Hg.): Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen (ThLZ.F 17), Leipzig 2006, 77– 98.

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solchen Überlegungen im Zusammenhang der Systematischen Theologie zukommt. Ich selbst spreche von Plausibilisierung, um die Funktion der Religionstheorie für die Theologie zu bestimmen und so festzuhalten, dass durch sie die spezifischen Aussagen der christlichen Lehre nicht im eigentlichen Sinne begründet, jedoch in ihrem Wahrheitsanspruch an der Religiosität des Menschen plausibilisiert werden können. Die Religionstheorie fungiert insofern nicht als Begründungszusammenhang der Theologie. Dies ist auch dann nicht der Fall, wenn die Religionstheorie im Ausgang vom Endlichkeitsbewusstsein des Menschen zu einer kategorial deduzierten Idee des Unendlichen als dem notwendig zu denkenden Sinnhorizont des im Selbstverständnis des Menschen immer schon Mitgesetzten gelangt. Gerade auch dann ist zu zeigen, dass und inwiefern der christliche Gottesgedanke an das religiöse Bewusstsein und die so gewonnene Idee des Unendlichen ‚anknüpft‘, wobei diese Anknüpfung meines Erachtens eher als kritische Aufhebung – verstanden im Hegel’schen Sinne – denn als eine einlinige Anknüpfung zu verstehen ist. Bekanntlich hat die Religionstheorie in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – nicht zuletzt bedingt durch die Schleiermacher-Renaissance und den Gegenstoß gegen Karl Barths strikte Offenbarungstheologie – an Bedeutung gewonnen, um den Anspruch auf vernünftige Allgemeinheit von Religion vor dem Hintergrund ihrer religionskritischen Bestreitung und offenbarungstheologischen Ausschaltung⁶⁷ zu erweisen.⁶⁸ In der Gegenwart ist Religiosität freilich kaum mehr einer religionskritischen Bestreitung ihrer lebensweltlichen bzw. individuellen Bedeutung ausgesetzt, im Gegenteil: Der Zeitgenosse fühlt sich in der Regel irgendwie religiös, wobei er weitgehend abständig ist gegenüber der verfassten Religion. In solchen Zeiten einer verbreiteten „freifluktuierenden Religiosität“,wie ich dies nenne, kommt der Religionstheorie im Zuge einer vernunftgeleiteten Bestimmung von Religiosität verstärkt auch die Funktion einer durchgeführten Kritik der Religion zu.⁶⁹ Dabei ist nicht zuletzt auch Schleiermachers Forderung zu beherzigen, nicht nur den individuellen religiösen Vollzug einer vernünftigen Begründung zuzu So darf formuliert werden, indem Religion bei Karl Barth in der Tat rein menschliche Projektionstätigkeit ist, die zur strikten Aufhebung bestimmt ist, wo im eigentlichen Sinne Offenbarung Gottes geschieht. Vgl. Ders.: Kirchliche Dogmatik, I/2, § 17.  Dezidiert und eindrücklich wird dies in der gegenwärtigen Theologie von Ulrich Barth verfolgt. Vgl. u. a. Ders.: Was ist Religion? Sinndeutung zwischen Erfahrung und Letztbegründung, in: Ders.: Religion und Moderne, Tübingen 2003, 3 – 28.  Vgl. zur Debatte um die herrschende Aufgeschlossenheit gegenüber der Religiosität und das Erfordernis einer Kritik der Religion etwa die Beiträge in dem Band: Ingolf U. Dalferth (Hg.): Kritik der Religion – zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe (RPT 23), Tübingen 2006.

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führen, sondern ebenso die Bedeutung der Vergemeinschaftung sowie die der ‚Systeme‘, welche der Pflege der Vergemeinschaftung dienen, fundamentalanthropologisch zu begründen, um so der Orientierung an einem übersteigerten Individualismus gegenzusteuern. Letzteres scheint mir in der gegenwärtigen Wahrnehmung von Religionstheorie weniger stark verfolgt zu werden als der Fokus auf den individuellen religiösen Vollzug. 4. Schleiermachers Forderung einer religionsvergleichenden Betrachtung hat für die Wahrnehmung von Theologie in unserer Gegenwart besondere Valenz erlangt. Eine religionsvergleichende Theologie bildet eine zentrale Aufgabe zeitgenössischer Theologie, und hier spielt Schleiermacher – stärker noch der Schleiermacher der Reden ⁷⁰ – in der Debatte um die Grundlegung einer Religionstheologie eine zentrale Rolle. Die Bedeutung einer Theologie der Religionen in vergleichender Perspektive ist unstrittig; strittig ist indes die ihr zugrundeliegende Hermeneutik. In der Religionstheologie konzentriert sich die Debatte insgesamt primär auf die hermeneutischen Grundlegungsfragen, während es demgegenüber noch wenige auch materiale Durchführungen einer Religionstheologie gibt.⁷¹ Dabei kann es bei einem Vergleich einzelner Aussagen, die in der einen wie in der anderen Religion gleichermaßen vorkommen, nicht sein Bewenden haben. 5. Schleiermacher hat die Wahrnehmung der Dogmatik, indem er sie an die Religionstheorie und Ethik sowie die Theologie der Religionen gebunden und sie mit den Aufgaben der kirchlichen Statistik verknüpft hat, in einen weiten Bezugsrahmen eingestellt und ihre eigentümliche Bedeutung im Verbund der theologischen Disziplinen in einer gegenwartsverantworteten Transformation der christlichen Lehre auf der Grundlage der Wesensbestimmung gesehen. Dass und unter welchen Bedingungen er damit Anforderungen an die Wahrnehmung von Dogmatik formuliert hat, die durchaus von bleibender Bedeutung sind, wurde angedeutet. Die Überzeugungskraft seines eigenen Entwurfs entscheidet sich freilich an der Durchführung, wie Schleiermacher sie in der Glaubenslehre entfaltet hat. Die kritische Rezeption derselben hat deren zentrale Schaltstellen hinterfragt: Hat Schleiermacher den ersten Teil der Glaubenslehre, der die Aussagen über Gott, Mensch und Welt im Ausgang vom „schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl“ gewinnt, überzeugend mit dem zweiten Teil, dem das christliche Erlösungsbe-

 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), bes. die Fünfte Rede.  Zu nennen ist hier Hans Martin Barth: Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen, Gütersloh 32008; Reinhard Leuze: Christentum und Islam, Tübingen 1994; Klaus v. Stosch: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn 2012.

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wusstsein zugrunde liegt, verbunden? Hat Schleiermacher seiner Auffassung, wonach das christlich fromme Selbstbewusstsein an den Lebens- und Überlieferungszusammenhang der Gemeinde gebunden ist, hinreichend Rechnung getragen? Hat er das christlich fromme Selbstbewusstsein überzeugend auf seinen Grund hin durchsichtig gemacht? Vermag seine Bestimmung des Wesens des Christentums und damit verbunden sein Rückgriff auf die Schrift sowie insgesamt seine Schrifthermeneutik zu überzeugen? Diese Fragen zu stellen heißt, sich an Schleiermachers Anspruch für seine Glaubenslehre kritisch abzuarbeiten. Sollten sie zu anders gestalteten Entfaltungen der Dogmatik führen, lässt sich dies – durchaus mit Schleiermacher – als die Wahrnehmung unterschiedlicher Perspektiven auf das Ganze der christlichen Lehre begreifen, deren Überzeugungskraft sich wiederum im kritischen Diskurs zu bewähren hat. Indem die verschiedenen dogmatischen Entwürfe den Zusammenhang von Gottes-, Selbst- und Weltverhältnis explizieren, sodass die Aussagen der Dogmatik in ihrer Bedeutung für das Selbst- und Weltverständnis des Einzelnen wie der Gemeinde erhellen, nehmen sie ein Grundanliegen Schleiermachers, ja, der reformatorischen Theologie auf und beziehen so die Aussagen der christlichen Lehre auf die Glaubens- und Sinnfragen der Gegenwart.

Reiner Anselm

Die Ethik im Kreis der theologischen Fächer Hermeneutische Reflexion des geschichtlichen Wandels christlich-religiöser Lebensführung

1 Ethik als Grundwissenschaft „Ohne die fortwährende Beziehung auf ethische Säze, kann auch das Studium der historischen Theologie nur unzusammenhängende Vorübung sein, und muß in geistlose Ueberlieferung ausarten; woher sich großentheils der oft so verworrene Zustand der theologischen Disciplinen und der gänzliche Mangel an Sicherheit in der Anwendung derselben auf die Kirchenleitung erklärt.“¹ Recht viel deutlicher und offensiver, als Schleiermacher im Zusatz zum § 29 der Kurzen Darstellung formuliert, kann man die Zentralstellung der Ethik für die Theologie nicht zum Ausdruck bringen. Die Ethik fungiert als Grundwissenschaft der Theologie, indem sie als eine spekulative Disziplin den Zusammenhang und die Strukturierung der Phänomene des geschichtlichen Lebens vornimmt. Erst auf dieser Grundlage lassen sich auch die Konturen des Christentums und der Kirche beschreiben, denn ohne die leitenden Begriffe der Ethik bleiben die empirischen Fakten ein unzusammenhängender Stoff. Ethik und Geschichte bilden somit das Korrelat zu Kants komplementärer Zuordnung von Begriff und Anschauung, und so kann Schleiermacher einprägsam formulieren, die Geschichtskunde stelle das „Bilderbuch der Sittenlehre, und die Sittenlehre das Formelbuch der Geschichtskunde“² dar. Auf der Ethik basieren darum alle Wissenschaften, die es mit dem menschlichgeschichtlichen Leben zu tun haben, mithin auch die Theologie. Jene ermöglicht erst das Zusammendenken und Strukturieren, ermöglicht es auch, den Fortschritt der Geschichte mit dem Ziel einer harmonischen Synthese zu beschreiben und zu moderieren. In ihrer letzten Realisierung muss eine solche Synthese zwar Utopie

 Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2. Auflage (1830), in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. HansJoachim Birkner u. a., Bd. I/6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg.v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998 (Studienausgabe Berlin/New York 2002), 321– 446 (Sigle KD2), § 29 Zs., 337.  Friedrich Schleiermacher: Ethik (1812/13). Mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hg.v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, 217.

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bleiben, dennoch bildet sie die Idealvorstellung für die Entwicklung der gemeinsamen Kultur. Ethik ist, so die bündige Formel aus dem § 29, „die Wissenschaft der Principien der Geschichte“³. Konsequent hat Schleiermacher darum in seiner Glaubenslehre die grundlegenden Passagen zur Kirche als „Lehnsätze aus der Ethik“ konzipiert.⁴ Da die Ethik untersucht, wie sich das Einwirken der formenden Vernunft auf die vorgegebene Empirie vollzieht, untersucht sie auch im Blick auf das Christentum, wie die Bildung der Kirche nach der Maßgabe des Einwirkens der regulierenden Idee auf die historischen, mannigfaltigen Phänomene des Christentums vonstattengeht. In einem ständigen wechselseitigen Bezug von Idee und Empirie – eben nicht durch eine reine Begriffsdefinition – macht sie zudem deutlich, welche Aspekte weiterentwickelt und betont, welche aber auch zurückgewiesen werden müssen. Dementsprechend hält Schleiermacher im § 35 fest: „Da die Ethik als Wissenschaft der Geschichtsprincipien auch die Art des Werdens eines geschichtlichen Ganzen nur auf allgemeine Weise darstellen kann: so läßt sich ebenfalls nur kritisch durch Vergleichung der dort aufgestellten allgemeinen Differenzen mit dem geschichtlich [G]egebenen ausmitteln, was in der Entwiklung des Christentums reiner Ausdrukk seiner Idee ist, und was hingegen als Abweichung hievon, mithin als Krankheitszustand, angesehen werden muß.“⁵

Ethik ist in dieser Perspektive tatsächlich die Grundwissenschaft, da sie die Struktur der Kirche zur Darstellung bringt, in deren Rahmen sich dann die Frömmigkeit ausprägt, welche die Glaubenslehre und die christliche Sittenlehre auf die ihr inhärenten Prinzipien hin analysieren. Die Frage der Grundwissenschaft der Theologie bestimmt in der Nachfolge Schleiermachers, insbesondere durch den Einspruch der Dialektischen Theologie gegenüber den Entwürfen, die wie Wilhelm Herrmann oder Ernst Troeltsch der Ethik den Rang der Fundamentaldisziplin zuschreiben wollten, die theologische Debatte. So hatte ja bereits Herrmann konstatiert, die Ethik bilde „die Theologie schlechthin“, und das Sittliche sei die Legitimationsinstanz für den christlichen Glauben: „Wenn nicht der religiöse Glaube sich im Ganzen als die Form des geistigen Lebens, welche der sittlichen Persönlichkeit entspricht, legitimieren

 KD2 § 29, 337.  Vgl. Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube, nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Auflage (1830/31), 2 Bde. in 1 Bd., hg.v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008 (Studienausgabe, seitengleich mit: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Berlin/New York 1980ff, Bde. I/13.1 und 13.2 – Sigle CG2), §§ 3 – 6.  KD2 § 35, 339.

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kann, so ist ein dogmatischer Beweis desselben unmöglich“⁶. Ernst Troeltsch wiederum war Herrmann in dieser Hinsicht uneingeschränkt gefolgt. Seiner Überzeugung nach handele es sich bei der Ethik um die „übergeordnete und prinzipiellste Wissenschaft, in deren Rahmen die Religionswissenschaft sich einfügt“⁷. Die wachsenden gesellschaftlichen Spannungen am Ende des 19. Jahrhunderts, erst recht natürlich das Erleben der technisierten Gewalt im Ersten Weltkrieg führten zu einem massiven Plausibilitätsverlust derjenigen Theologien, die sich auf Schleiermacher beriefen. Der Gedanke der Ethik als Grundwissenschaft erschien hier – in deutlicher Verzerrung der ursprünglichen Idee Schleiermachers – als der Versuch, die Theologie auf den Fähigkeiten des Menschen begründen zu wollen. Schleiermachers Grundgedanke bestand ja darin, über die Ethik Spekulation und Erfahrung so aufeinander zu beziehen, dass eine Analyse und eine Fortentwicklung des Gegebenen möglich werde; dabei gründete eben das strukturierende, spekulative Element sehr viel weniger in menschlichen Fähigkeiten, als es in der Kritik häufig hervorgehoben wurde. Vielmehr wirkten bei Schleiermacher hier platonische Elemente nach.⁸ Problematischer an Schleiermachers Herangehensweise war der zu undifferenziert, vor allem zu einlinig ausgeführte Fortschrittsgedanke. Dieses Element war angesichts der dominanten Erfahrung der Ambivalenz des Fortschritts unter den Eindrücken des späten 19. Jahrhunderts und eben des Weltkriegs so nicht vermittelbar – obwohl man allen grauenhaften Rückschlägen zum Trotz aus heutiger Perspektive doch die Kulturgeschichte zumindest für Europa als einen Fortschritt der Humanisierung wird beschreiben müssen. Aber dies ist nur dann möglich, wenn man, stärker als das bei Schleiermacher der Fall ist, auch die Schattenseiten der Modernisierung mit aufnimmt und die Grundfigur Schleiermachers, die Überzeugung nämlich, dass es im Verlauf der Kulturgeschichte zu einer Durchdringung der Natur durch die Vernunft kommt, noch deutlicher als Auftrag, nicht bereits als inhärentes Prinzip der Geschichte ausarbeitet. In dem gegebenen Zuschnitt aber erwies sich die Position der Dialektischen Theologie als anschlussfähiger an die Gegenwartswahrnehmung nach dem Ersten Weltkrieg. Die Kriegserfahrungen, das Zerbrechen des protestantischen Überlegenheitsgefühls gegenüber Frankreich, das Revolutionsjahr 1918/19 mit der Auf-

 Wilhelm Hermann: Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit, Halle 1879, 275 f.  Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 553 – 672, 553.  Vgl. dazu auch Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 295 f.

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lösung des landesherrlichen Kirchenregiments – all das hatte ja zu einer Konstellation geführt, in der weite Kreise des Protestantismus auch den Niedergang der christlichen Gesellschaftsordnung befürchteten. Tiefer als das Zerbrechen der äußeren Ordnung wirkte sich dabei das Zerbrechen der inneren Sinngewissheit aus. Der Kriegsverlauf hatte unübersehbar das Vertrauen auf die gestaltende Kraft des Sittlichen erschüttert, ein Vorgang, der lange nicht überwunden wurde. Friedrich Niebergall konnte noch 1927 darauf hinweisen, dass man sich einmal von einem Anhänger der Dialektischen Theologie erzählen lassen müsse, „wie ihm auf dem Schlachtfeld von Lamarck seine ganze bisherige Auffassung von Welt und Leben zerbrach. Es ist ja nichts mit dieser Welt, besonders nichts mit ihrer sogenannten Kultur. Das ist ja Vergänglichkeit, Verderben und Tod“⁹.

Diese Sätze weisen auf einen Erfahrungshorizont, der das Projekt einer auf die Überformung der Natur durch die Vernunft gegründeten Kulturtheorie ebenso als abwegig einschätzen musste, wie es nun nur als Irrweg erscheinen konnte, auf diesem Fundament die Theologie zu begründen. Viel plausibler erschien es dabei doch, die Grunddisziplin der Theologie in der Dogmatik zu verorten, die nun allein das Wort Gottes als Maßstab für die Bewertung und Steuerung von Kirche, Frömmigkeit und moderner Kultur gelten lassen wollte. Die weitere Geschichte dieser Auseinandersetzung, die ihre Energie vor allem aus der Deutung der jeweiligen Gegenwart bezog und bezieht, soll hier nicht weiter rekonstruiert werden. Denn dieser Diskurs ist doch weniger ein Diskurs der Ethik als theologischer Disziplin in ihrem engeren Verständnis als vielmehr eine Debatte der Fundamentaltheologie – an der die Ethik selbstverständlich ihren Anteil hat. Stattdessen soll im Folgenden ein anderer Akzent gesetzt werden, der sich zwar aus dem hier kurz Skizzierten ergibt, der aber doch deutlicher auf die ethik-interne Debatte verweist – die Frage nämlich, wie sich aus heutiger Sicht Schleiermachers Entscheidung darstellt, die Ethik primär als Güterlehre zu entwerfen. Die Gründe für diese Entscheidung sind dabei in den entsprechenden Abschnitten der Kurzen Darstellung nur im Hintergrund präsent, daher müssen ergänzend seine Überlegungen zur Ethik aus anderen Arbeiten herangezogen werden.

 Friedrich Niebergall: Im Kampf um den Geist. Von Weltanschauungen und Religionen, München 1927, 131.

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2 Schleiermachers Zugang zur Ethik über die Güterlehre Schleiermachers Entwurf der Ethik von einer Güterlehre her resultierte aus der Einsicht, dass Immanuel Kants Versuch, die Ethik als eine vernunftbasierte Pflichtenethik zu entwerfen, zwar das Problem einer mangelnden Allgemeinverbindlichkeit der empiristischen Ethik lösen konnte, dabei aber der Vielfalt des individuellen Lebens nicht gerecht wurde und zudem keinen Zugang zu der empirischen Welt des Sittlichen bekam. Mit seinem Ansatz bei der Güterlehre wollte Schleiermacher somit zwei Schwierigkeiten gleichermaßen vermeiden: die Konsequenz eines Zerfalls der Ethik in eine Vielzahl subjektiv empfundener Zwecksetzungen und einen Formalismus, der nun wiederum die Unterschiedlichkeit der Lebensführung und der jeweilig zu verfolgenden Ziele und Zwecksetzungen nicht adäquat in den Blick bekommt. Schleiermachers Ausgangspunkt ist darum die Frage, wie sich die individuellen Zwecksetzungen oder Güter, die das menschliche Leben als historische Fakten immer schon bestimmen, zu einem gemeinsamen Guten zusammenfügen lassen. Seine Antwort besteht darin zu postulieren, dass sich im Verlauf der Geschichte durch das allmähliche Einwirken der Vernunft auf die Natur alle einzelnen gegebenen sittlichen Güter zu einem Ganzen zusammenfügen. Diese Einheit stellt für Schleiermacher das höchste Gut dar. Mit dieser Zugangsweise knüpft Schleiermacher zwar an die antike Tradition der Güterethik an, gibt ihr aber eine charakteristisch andere Wendung: In der Antike hatten zunächst die Sophisten definiert, ein Gut sei etwas, nach dem alles strebt, und damit eine rein formale, zugleich aber auch eine grundsätzlich relative Bestimmung gegeben. Sokrates kritischer Einwand, eine rein formale Vorstellung sei unzureichend, und sein Vorschlag, das Gute sei das, was zur Glückseligkeit führe, wurde von Aristoteles präzisiert und zu einer Hierarchie der Güter weiterentwickelt: Wenn alles Handeln um das Erreichen eines Ziels willens erfolgt, dann muss es auch ein letztes Ziel geben, das um seiner selbst willen erstrebt wird – und das bezeichnet Aristoteles als Glückseligkeit oder als das höchste Gut. Auch Augustin hatte an dieser hierarchischen Vorstellung festgehalten und sie mit der Auffassung kombiniert, Gott sei das höchste Gut: Nur Gott ist um seiner selbst willen zu lieben, alle anderen Güter sind so zu gebrauchen, dass sie dem Ziel der Gemeinschaft mit Gott dienen. Schleiermacher setzt demgegenüber sowohl in der Philosophischen Ethik als auch in der Christlichen Sitte andere Akzente. So hält er in der Christlichen Sitte fest, dass die Auffassung, Gott sei das höchste Gut, „nicht ganz angemessen“ sei, „denn ein Gut ist uns etwas nur, sofern wir etwas besizen oder inne haben“ – aufgrund der konstitutiven Differenz zwischen Gott und

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Mensch ist dies aber nicht möglich.¹⁰ Daher sei es sachgerechter, die Gemeinschaft mit Gott als das höchste Gut zu bezeichnen. Insofern aber diese Gemeinschaft für Christen nicht anders als durch den Erlöser vermittelt zu denken ist, ist mithin „die Erlösung durch Christum selbst das höchste Gut, und wenn dies in dem menschlichen Geschlechte nur dargestellt wird durch das Reich Gottes: so ist also das Reich Gottes das höchste Gute, oder für den einzelnen ein Ort im Reiche Gottes.“¹¹

In der Philosophischen Ethik bestimmt Schleiermacher das höchste Gut nicht als ein einzelnes Gut, das sich als letztes Ziel der jeweils aufeinander aufbauenden, unterschiedlichen Zwecksetzungen ergibt. Vielmehr bildet gerade das Ensemble der einzelnen Güter, vor allem der idealen Güter wie Familie und Ehe, Staat, Wissenschaft, Kirche und Geselligkeit das höchste Gut, wenn diese idealen Güter im Lauf des Geschichtsprozesses durch die Vernunft geformt sind. Ethik ist damit ein fortlaufender Prozess der Kulturwerdung, sowohl auf der Seite der individuellen Lebensführung als auch auf der Seite der gesellschaftlichen Entwicklung. Die Einheit der unterschiedlichen Güter im höchsten Gut nimmt so ihren Ausgangspunkt bei der Mannigfaltigkeit der individuell verfolgten Güter, die der von Natur gegebenen Unterschiedlichkeit der Menschen und ihrer Handlungsziele entspricht. Das Einwirken der Vernunft kommt demgegenüber in der sittlichen Gemeinschaft der Einzelnen zum Ausdruck. Die vernünftige Transformation der naturgegebenen Formen markiert so den Zielpunkt der Sittlichkeit. Da Schleiermacher wie Kant bei der allen Menschen gemeinsamen Vernunft ansetzte, konnte er so auf der Theorieebene die Schwierigkeiten, die sich später bei den Utilitaristen einstellten, scheinbar vermeiden, dass sich nämlich die Bestimmung des Glücks als maßgebliche Instanz für die sittliche Qualifikation von Handlungen in die Vielzahl von individuellen Vorstellungen auflöst. Tatsächlich aber zeigt eine nähere Betrachtung, dass Schleiermacher das jeder Güterethik inhärente Problem, wie die Konvergenz individueller und überindividueller Güter erreicht, wie zwischen konkurrierenden Zielsetzungen entschieden werden soll, nur über die Annahme einer allgemeinen Vernunft lösen konnte; damit bleibt aber diese Ethik ebenso wie die kantische abhängig eben von der Vorstellung einer einheitlichen Vernunft – die sich allerdings bei Schleiermacher, wie Kurt Nowak zu Recht be-

 Friedrich Schleiermacher: Die christliche Sitte nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhänge dargestellt. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg.v. L. Jonas, Berlin 1843, 78.  Ebd.

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merkt, zudem mit der romantischen Vorstellung einer imaginierten, aber unerreichbaren Einheit verbindet.¹² Das ethische Konzept Schleiermachers bringt damit exemplarisch die Leistungskraft, aber auch die Schwäche einer Güterethik zum Ausdruck. Durch ihren Ansatz bei den konkreten Orten und vielfältigen Zielen des Handelns vermag sie der Realität menschlicher Lebensführung besser gerecht zu werden als eine beim Gebot einsetzende Ethik – unabhängig davon, ob dieses durch die Vernunft oder durch göttliche Einsetzung begründet ist. Ihre Schwäche ist es jedoch, die Kohärenz der unterschiedlichen Handlungskontexte nicht ohne weiteres sicherstellen zu können. Diese Schwierigkeit hat sich dabei seit Schleiermachers Entwurf deutlich verstärkt. Moderne, differenzierte Gesellschaften sind durch eine solche Vielzahl von Handlungskontexten, aber auch durch eine solche Vielzahl konkurrierender Güter gekennzeichnet, dass Schleiermachers Grundannahme, durch das Fortschreiten der Geschichte könne es zu einem kohärenten Ensemble dieser Güter kommen, als Illusion erscheint. Schleiermachers Vorstellung, dass das höchste Gut in der „Einheit des Seins der Vernunft in der Natur“¹³ bestehe, orientierte sich am aufklärerischen Perfektibilitätsideal, auch wenn ihm durchaus bewusst war, dass der Aneignungsprozess der Natur für die Vernunft bei dem „Wissen um das Ineinander und Durcheinander aller einzelnen Güter“¹⁴ seinen Ausgangspunkt nehmen müsse. Aber er unterschätzte, darauf hat bereits Ernst Troeltsch hingewiesen, nachhaltig die zentrifugalen Kräfte der einzelnen Güter, vor allem die Konkurrenz zwischen dem christlich formulierten Ziel des Handelns und den davon unterschiedenen Zwecksetzungen der anderen, sich differenzierenden Kultursphären wie Ökonomie und Politik.¹⁵ Troeltsch, der seine eigene Ethik ebenfalls als Güterethik konzipierte, folgerte daraus, dass eine solche dem höchsten Gut entsprechende Kohärenz der Güter nur im kommenden Gottesreich realisiert werden könne. Solange aber müsse es die Aufgabe der Ethik sein, die geschichtliche Entwicklung der Güter, ihr Neben- und Gegeneinander zu erheben und, getragen von der Erwartung des von Jesus verkündigten Gottesreiches, Perspektiven für deren Vereinheitlichung zu entwickeln. Eine solche Vereinheitlichung könne aber aufgrund des eschatologischen Charakters des Reiches Gottes immer nur vorläufig und notwendig kompromissbehaftet sein.

 K. Nowak: Schleiermacher (s. Anm. 8), 296.  Friedrich Schleiermacher: Grundriss der philosophischen Ethik, hg. 1841 v. August Detlef Twesten, Neuer Abdruck, besorgt v. Friedrich Michael Schiele, Leipzig 1911, 27.  Ebd.  Vgl. E. Troeltsch: Grundprobleme (s. Anm. 7), 567.

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3 Die bleibende Bedeutung der Güterlehre für die Ethik Trotz dieser Schwierigkeiten bleibt die Güterlehre ein unverzichtbares Element der Ethik. Denn sie hilft, ein unübersehbares Problem deontologischer Ethiktypen zu überwinden, nämlich deren Indifferenz gegenüber den Zielen spezifischen Kontexten menschlichen Handelns. Dabei ist nicht nur an die viel diskutierte Frage der Pflichtenkollision zu denken, sondern auch an das Problem, dass die Formulierung einer Handlungsregel bereits selbst abhängig sein kann von den Gütern, die durch eine entsprechende Handlung berührt werden. Deutlich ist dies etwa bei der Fortpflanzungsmedizin. Wie das – unbestrittene – Recht auf Fortpflanzung ausgestaltet wird, hängt maßgeblich von den leitenden Bildern von Familie und Elternschaft ab. Je nachdem, ob man bereit ist, zwischen biologischer und genetischer Mutterschaft zu unterscheiden, wird man zu anderen Regeln für die Eizellund Embryonenspende sowie die Leihmutterschaft gelangen. Darüber hinaus ist die Berücksichtigung von Handlungsfolgen und damit eine reflektierte Verantwortungsethik nur möglich, wenn diese Handlungsfolgen an ihren Auswirkungen für bestimmte Güter, etwa Partizipation, Umwelt oder Gesundheit gemessen werden können. Allgemeiner formuliert hilft die Güterlehre dabei, den Übersetzungsprozess zwischen Regeln und Handlungen reflektiert zu gestalten. Dieser Aspekt ist gerade auch für die theologische Ethik von Belang, und zwar dort, wo diese sich als im Glauben verankerte Gebotsethik versteht. Denn auch hier gilt, dass der Übersetzungsprozess von Geboten zu Handlungen stark abhängig ist vom Verständnis der jeweils infrage stehenden Güter. Unterbleibt diese Reflexion, dann ist die Auslegung des Gebots letztlich in das unkontrollierte Empfinden des jeweiligen Interpreten gelegt, dem aber die direkte Ableitung aus dem Gebot Gottes zugleich eine diskursive Unangreifbarkeit verleiht. Darüber hinaus bleibt dabei unberücksichtigt, dass ein Großteil ethischer Kontroversen sich aus einem unterschiedlichen Verständnis der leitenden Güter speist: Die Diskussionen über das adäquate Verständnis von Gerechtigkeit,Wirtschaft oder Familie stellen nur einige Beispiele für diese Schwierigkeit dar. Zu dieser Reflexion gehört es auch, den grundsätzlich wandelbaren Charakter der Güter deutlich zu machen. Dies negiert zu haben, macht den Grundfehler derjenigen theologischen Ethikmodelle aus, die sich in Aufnahme antiker Traditionen an einem statischen Modell der Gesellschaft orientierten und deren Gestalt mithilfe des Konzepts der Schöpfungsordnung theologisch zu legitimieren suchten. Eine solche theologische Absolutsetzung innerweltlicher Güter verfällt letztlich in dieselben Probleme wie eine Gebotsethik: Auch hier wird eine bestimmte, historisch kontingente Ausprägung gesellschaftlicher Ordnung für bin-

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dend erklärt, indem sie unmittelbar auf den Schöpferwillen zurückgeführt wird. Auch dabei wird übersehen, dass jede Konkretisierung dieser Schöpfungsordnung sich der Interpretation des Auslegers verdankt, dass also die theologische Legitimationsstrategie eher der Autorisierung der eigenen Position als der Handlungsorientierung dient. Darum wird sich die Ethik in der Zukunft sehr viel stärker mit den systematischen Problemen ihres Bezugs zur Geschichte und der eigenen Situationsabhängigkeit auseinandersetzen müssen. Das gilt gerade auch für die an der Beschreibung des christlichen Ethos ausgerichteten theologischen Ethikentwürfe: So werden beispielsweise in dem prominentesten und sicherlich auch bedeutendsten Entwurf einer evangelisch-theologischen Ethik in den letzten Jahren, in Johannes Fischers Theologischer Ethik ¹⁶, die Konstruktionsprinzipien und ‐bedingungen für ein entsprechendes christliches Ethos in keiner Weise adäquat thematisiert, sondern letztlich in ein unbestimmtes – und dann eben auch unkontrollierbares – Wirken des Geistes bzw. der Intuition verlagert. Fischers Ethikentwurf partizipiert damit an demselben Mangel, den Ernst Troeltsch bereits der Ethik Herrmanns attestierte, nämlich einem nicht mehr reflektierten und darüber auch nicht mehr theoretisch einholbaren Verhältnis von den vorgegebenen Gütern, Institutionen und Strukturen, in denen sich konkretes moralisches Handeln vollzieht. Dadurch aber kommt es zu einem eigenartigen Changieren zwischen einer faktischen Orientierung am Vorfindlichen (z. B. am Lebensende den Tod abzuwarten)¹⁷ und dessen Kritik (wie im Fall der Ehe)¹⁸. Möchte man diesem Mangel abhelfen, ist es unerlässlich, sich in neuer, vertiefter Weise mit dem Zusammenhang von Ethik und Geschichte, darüber hinaus jedoch vor allem auch mit der Frage nach der Korrelation von Ethik und Geschichtsphilosophie auseinanderzusetzen. Das bedeutet aber zugleich auch: zurückzukehren zu Schleiermachers Grundidee, eine letztlich als Kulturtheorie verstandene Ethik zum Ausgangspunkt aller weiteren wissenschaftlichen Bemühungen werden zu lassen. Allerdings muss dabei dem Geschichtsbezug und damit der Kontingenz und Relativität der infrage stehenden Güter mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden, als das in Schleiermachers Programm geschah. Denn Schlei-

 Johannes Fischer: Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Stuttgart 2002.  So zuerst in Johannes Fischer: Aktive und passive Sterbehilfe, in: ZEE 40 (1996), 110 – 127. Ausgehend von der in diesem Text vorgetragenen Argumentation hat diese Sichtweise sodann auch Eingang in kirchliche Publikationen gefunden, so etwa: Wenn Menschen sterben wollen. Eine Orientierungshilfe zum Problem der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung. Ein Beitrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD-Texte 97), Hannover 2008.  Vgl. Johannes Fischer: Hat die Ehe einen Primat gegenüber der nichtehelichen Lebensgemeinschaft?, in: ZThK 101 (2004), 346 – 357.

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ermachers Durchführung der Ethik läuft Gefahr, die Wandelbarkeit und darin eben auch die Ambivalenzen innerweltlicher Güter aufgrund der sehr stark hervorgehobenen strukturierenden Kraft der Vernunft zu unterschätzen. Demgegenüber bedeutet ein stärker auf die Geschichtlichkeit abhebender Zugriff, den historischkontingenten Charakter leitender Güter als Bezugspunkt der Ethik ernst zu nehmen. Sittliche Urteilsbildung und sittliches Handeln vollziehen sich immer im Horizont des Vorgegebenen, ein Aspekt, den Schleiermacher durch seine Rückbindung der christlichen Sitte an das christliche Leben hervorhebt, weshalb er dementsprechend in § 229 der Kurzen Darstellung eine zu geringe Anbindung der christlichen Sittenlehre an diese Lebenspraxis kritisiert.¹⁹ Die pointierte Feststellung, die Sittenlehre komme gleichberechtigt neben der Glaubenslehre zu stehen, indem diese die theoretische, jene die praktische Seite des christlichen Lehrbegriffs darstelle, untermauert diese Herangehensweise zusätzlich.²⁰ Der Geschichtsbezug wehrt aber auch jeder Essentialisierung leitender Bilder, Strukturen und Institutionen und macht deren Vorläufigkeit deutlich, den Aspekt also, den Ernst Troeltsch in seiner Weiterentwicklung der Güterethik besonders akzentuierte. So wie sich die Auseinandersetzung mit ihnen als praktische Notwendigkeit und ihre je aktuelle Formatierung den unausweichlichen Horizont jeder Urteilsbildung darstellt, so erweisen sie sich im Licht der historischen Betrachtung auch als veränderbar. Die Leitlinien für diese Veränderungen sind wiederum nicht anders als in Auseinandersetzung mit dem Gewordenen verfügbar. Die Aufgabe der theologischen Ethik ist es dabei, im Verein mit einer Geschichtsphilosophie, die, mit Michael Theunissen, nur als Theologie möglich ist,²¹ dem „Trug aller Programme, die partikulare Momente absolut setzen und ideologisieren“²², entgegenzutreten und dadurch eine kontinuierliche, am Idealbild des Reiches Gottes orientierte Verbesserung der Lebensverhältnisse zu erreichen.²³ Das Reich Gottes, darauf hat Wolfhart Pannenberg mit Recht hingewiesen, relativiert nicht nur alle innerweltlichen Zielsetzungen, es ermutigt auch dazu, sich für

 KD2 § 229.  So die Argumentation von KD2 §§ 223 – 231, sowie die Bemerkung in der Glaubenslehre, dass nur Glaubenslehre und Sittenlehre „zusammengenommen die ganze Wirklichkeit des christlichen Lebens darstellen“ (CG2 § 26.2, Bd. 1, 174 [Orig.pag. 157]).  Michael Theunissen: Gesellschaft und Geschichte. Zur Kritik der kritischen Theorie, Berlin 1969, 5 f.  Wolfgang Huber: Kirche und Öffentlichkeit (FBESG 28), Stuttgart 1973, 485.  Zu dieser Aufgabenbestimmung vgl. ausführlicher Stephan Schleissing: Das Maß des Fortschritts. Zum Verhältnis von Ethik und Geschichtsphilosophie in theologischer Perspektive (Edition Ethik 1), Göttingen 2008.

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die Verbesserung der Lebensverhältnisse einzusetzen.²⁴ Worin diese Verbesserung besteht, kann nicht anders erhoben werden als in einem beständigen kritischen Reflexionsprozess zwischen der Analyse der gegenwärtigen Gestalt der einzelnen Kulturgüter, der Ausrichtung an dem Ziel vollendeter Gemeinschaft und der christlichen Grundforderung für die Anteilhabe des Menschen am Reich Gottes, der Ausrichtung des eigenen Handelns am Liebesgebot. Die Vorstellung des Reiches Gottes dient dabei zudem als Leitperspektive und Anstoß, die vorliegende Gestalt der Güter so weiterzuentwickeln, dass ihre gegenseitige Zuordnung dem Gedanken der Egalität aller Menschen und einer dementsprechenden Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse gerade auch für die Schwachen dient.

 Wolfhart Pannenberg: Grundlagen der Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven, Göttingen 1996, 72.

Andreas Nehring

Die Interkulturelle Theologie im Kreis der theologischen Fächer Differenzsensible Wahrnehmung der weltweiten Christentümer Friedrich Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums von 1811 und 1830 liefert für eine Begründung des Faches Interkulturelle Theologie innerhalb des theologischen Studiums auf den ersten Blick nicht die besten Voraussetzungen. „Bedingterweise“, heißt es in § 298 im dritten Teil über die Praktische Theologie, „könnte sich eben hier auch die Theorie des Missionswesens anschließen, welche bis jezt noch so gut als gänzlich fehlt.“¹ Und Schleiermacher schließt unmittelbar daran den Kommentar an, dass sich dieses „[a]m leichtesten freilich nur“ bewerkstelligen lasse, „wenn man davon ausgeht, dass alle Bemühungen dieser Art nur gelingen, wo eine christliche Gemeine besteht“.² Als Teil der Praktischen Theologie gehört die Theorie des Missionswesens nicht zum „eigentliche[n] Körper des theologischen Studiums“, sondern zu demjenigen Aspekt desselben, der „mit dem thätigen christlichen Leben zusammenhängt“.³ Innerhalb der Praktischen Theologie wird die anvisierte Theorie der Mission zwischen Katechetik und Seelsorge eingeordnet. Schleiermacher, mit der Missionsarbeit der Herrnhuter wohl vertraut, war der erste, der die Missionswissenschaft überhaupt in den Kanon der Theologie einordnen wollte. Auch wenn seine Ausführungen dazu in der Kurzen Darstellung eher als rudimentär zu bezeichnen sind, bieten sich auf den zweiten Blick dennoch gerade für gegenwärtige Diskurse zu Interkultureller Theologie Anknüpfungspunkte, die zumindest angesprochen werden sollen, bevor eine Interkulturelle Theologie als theologisches Fach skizziert werden kann. Schleiermachers Kurze Darstellung zeigt nämlich, zumindest in einer bestimmten Lesart, eine erstaunliche Nähe zu theologischen Ansätzen, die man heute unter dem Sammelbegriff ‚Kontextuelle Theologien‘ diskutiert. Da wäre zum einen Schleiermachers Missionsbegriff zu bedenken, zum anderen sein nicht-substantialistisches Theologie-

 Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2. Auflage (1830), in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. HansJoachim Birkner u. a., Bd. I/6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg.v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998 (Studienausgabe Berlin/New York 2002), 321– 446 (Sigle KD2), § 298, 430.  KD2 § 298 Zs., ebd.  KD2 § 28, 336.

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Andreas Nehring

verständnis und schließlich die besondere Rolle, die die Statistik in der Kurzen Darstellung spielt.

Missionswissenschaft und die Ausbreitung der Kirche Zur Zeit Schleiermachers war die protestantische Mission noch in ihrer Aufbauphase, ihren expansiven Höhepunkt sollte sie erst in der zweiten Hälfte des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erreichen. Von existierenden Gemeinden konnte in den meisten Missionsgebieten in Asien und Afrika nur in Ansätzen gesprochen werden. Die Missionswissenschaft entwickelte sich aus der Praxis der Mission. Allerdings sind Schleiermachers Einlassungen für einen von der Romantik geprägten Missionstyp prägend geworden und haben indirekt zu intensiven und teils ausgesprochen kontrovers geführten Debatten innerhalb der sich entwickelnden Missionstheologie geführt, die sich, pauschal gesprochen, um das Thema „Evangelium und Kultur“ drehten und, etwas eingeschränkter formuliert, um die Frage, ob die Kirche Subjekt der Mission sei oder ob sie teilhabe an der Missio Dei. In der Christlichen Sittenlehre von 1822/23 hat Schleiermacher über den „verbreitenden Prozess der Christengemeinschaft“ gehandelt und dabei zwei Formen von Ausbreitung unterschieden, die von Christus eingesetzte Mission und die Form der Ausbreitung, die „sich gleichsam dem Naturgesetze der Kontinuität [nähert], indem das jenige, was dem Raume nach der christlichen Kirche am nächsten steht, von ihr angezogen wird, so daß eine Kohärenz entsteht, die sich immer erweitert“.⁴ Nicht eine dogmatisch-philosophische Bestimmung von Mission steht hier im Vordergrund, sondern die Praxis der Kirche. Entsprechend heißt es in § 260 der Kurzen Darstellung: „Die praktische Theologie will nicht die Aufgaben richtig fassen lehren; sondern indem sie diese voraussezt, hat sie es nur zu thun mit der richtigen Verfahrungsweise bei der Erledigung aller unter den Begriff der Kirchenleitung zu bringenden Aufgaben.“⁵

Die gängige Verfahrensweise der Kirche in der Mission, nämlich Nichtchristen „aufzusuchen“ und sie zu bekehren, wäre längst überholt, wenn die in der Welt zerstreuten Christen, die im Zuge kolonialer Expansionen und Handelsinteressen

 Friedrich Schleiermacher: Christliche Sittenlehre in Vorlesungen (Wintersemester 1822/ 23). Aus Nachschriften hg.v. L. Jonas, Bd. 2, Gotha 1891, 57.  KD2 § 260, 418.

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ihr Heimatland verlassen haben, sich von „christlichem Interesse“ hätten antreiben lassen.⁶ Insbesondere Wilhelm Löhe aus Neuendettelsau und Ludwig Harms aus Hermannsburg haben hieraus ihr Konzept der Siedlermission abgeleitet.⁷ Der Gedanke, christliche Kolonien zu gründen, die die von Schleiermacher anvisierte Kohärenz und Adaption einer Volkskultur an das Christentum wie von selbst nach sich ziehen, ist aber in der deutschen Missionsdebatte um 1850 auch auf heftigen Widerstand gestoßen. Während einer Studienreise nach Südindien erfuhr der Leipziger Missionsdirektor Karl Graul 1851 von den Missionsplänen von Ludwig Harms unter den Galla in Ostafrika. Vor allem Harms’ Überlegungen zu einer missionarischen Kolonisierung von durch Europäer möglichst noch nicht berührten Völkern, die Aussendung von „Kolonisten“ und die strategische Gründung von Missionsstationen stoßen bei Graul auf Widerspruch. Zum einen war er der Ansicht, dass die lutherischen Missionskräfte sich nicht aufspalten und in verschiedenen Bereichen arbeiten dürften. Dies begründet er mit den im Verhältnis zu den englischen Missionen schwachen Mitteln der lutherischen Kirche. Er vertrat zum anderen die Ansicht, dass gerade die lutherische Kirche unter den zivilisierten Völkern arbeiten solle und nicht unter den „rohen Heiden“. Bereits Paulus habe innerhalb der Grenzen des römischen Reiches missioniert und keine Gebiete außerhalb der Zivilisation aufgesucht. Die lutherische Kirche, basierend auf dem Schriftverständnis, solle sich vor allem solchen Kulturen zuwenden, die ebenfalls eine Schrifttradition haben. Für Graul ist dies vor allem Indien. Er stand in regelmäßigem Briefaustausch mit bedeutenden Indologen seiner Zeit wie Max Müller und Christian Lassen und teilte, wenn auch nicht ihre Bewunderung für indische Literatur, so doch ihren methodischen Ansatz, dass man in der Literatur den Kern einer Volkskultur finde und dass solche Kulturvölker sich auf einer anderen Zivilisationsstufe befänden als schriftlose Völker. Graul äußert die Befürchtung, dass der christlichen Mission sehr schnell koloniale Wirtschaftsinteressen folgen würden, sodass sich eine christliche Kultur nicht eigenständig entwickeln könne. Er lehnt daher die Mission in Afrika für die lutherische Kirche ab, „da es eine bekannte Tatsache ist, dass die christliche Mission die abendländische Spekulation nach sich zu ziehen pflegt. Viele englische Missionare machen es gar kein Hehl, dass sie selbst dem Handel, in welchem sie die europ. Cultur verkörpert sehen, neue Bahnen zu öffnen suchen“⁸.

 F. Schleiermacher: Christliche Sittenlehre (s. Anm. 4), 57.  Dazu auch Gerhard Rosenkranz: Die christliche Mission. Geschichte und Theologie, München 1977, 205 ff.  Missionsnachrichten der Ostindischen Missionsanstalt zu Halle, Bd. VII.2, Halle 1855, 57 u. Fn. 2.

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Die Missionsdebatte in Deutschland hat jedenfalls durch Schleiermachers These, dass Mission da am ehesten reflektiert und praktiziert werden kann, wo bereits eine Kirche präsent ist, wichtige Impulse erhalten, und sein Ansatz hat missionswissenschaftliche Diskurse über das umstrittene Feld „Mission – Kultur – Zivilisation“ nachhaltig geprägt.⁹ Etwa 50 Jahre nach Schleiermachers Kurzer Darstellung, 1864, hielt der vormalige Leipziger Missionsdirektor Karl Graul seine Habilitationsvorlesung in Erlangen Über Stellung und Bedeutung der christlichen Mission im Ganzen der Universitätswissenschaften ¹⁰. Er betont darin, dass zum einen zu klären sei, wie sich Mission und Wissenschaft zueinander verhalten, zum anderen, dass Missionswissenschaft, wenn sie als Wissenschaft im Ganzen der Universität eine Stellung einnehmen wolle, einen ihr eigenen Gegenstand („wissenschaftlichen Grundbesitz“)¹¹ nachweisen müsse, und schließlich, dass diese Wissenschaft eine praktische Aufgabe habe, nämlich die Mission „aus dem Halbdunkel sentimentaler Gläubigkeit […] zur Mittagshelle gläubiger Wissenschaftlichkeit“¹² zu führen. Wie Schleiermacher ordnet Graul die Missionswissenschaft als Teil der Praktischen Theologie in das Ganze der Universitätswissenschaften ein; wie er sie sich als Teil der „Evangelistik“ vorstellte, sei hier einmal dahingestellt. Interessanter und für gegenwärtige Debatten um das Fach innerhalb der Theologie relevanter ist Grauls Positionierung der Missionswissenschaft als Helferin der profanen Wissenschaften und als Partnerin der wissenschaftlichen Theologie. Graul betonte nämlich gerade die Bedeutung der wissenschaftlichen Arbeit aus der Mission für die Sprachwissenschaften, die Kulturgeographie, die Ethnologie und die Religionswissenschaft seiner Zeit und sah gerade in den Forschungen der Missionare einen Beitrag, der für die Universität unverzichtbar sei. Religionskunde und die Theorie der Mission wollte er getrennt halten, sah aber in ersterer eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung einer eigenständigen Missionswissenschaft. Graul selber, das sei nur am Rande bemerkt, gilt als bedeutender Tamilologe, der sich mit der Übersetzung südindischer Texte aus der

 Vgl. Johannes Christiaan Hoekendijk: Kirche und Volk in der deutschen Missionswissenschaft, hg.v. Erich-Walter Pollmann (TB 35), München 1967.  Karl Graul: Über Stellung und Bedeutung der christlichen Mission im Ganzen der Universitätswissenschaften, Erlangen 1864.  AaO. 4.  AaO. 5.

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shivaitischen Tradition und der Ausarbeitung einer tamilischen Grammatik einen Namen gemacht hat.¹³

Der Paradigmenwechsel im Missionsverständnis In den 1950er und 1960er Jahren entwickelte sich die Missionswissenschaft im Zuge der Dekolonisierung in den meisten Ländern der südlichen Hemisphäre als Verbindungswissenschaft zu den durch die europäische Mission entstandenen Kirchen in Afrika, Asien und Lateinamerika. Dadurch kam es zu einer Trendwende: Die Mission wurde nun nicht mehr als Ausbreitung des Christlichen vom Westen in andere Teile der Welt verstanden, sondern als partnerschaftlich-ökumenischer Austausch in allen Kontinenten. Missionswissenschaft begann sich im interreligiösen Dialog zu engagieren und sich zunehmend mit Fragen einer Theologie der Religionen auseinanderzusetzen. Zugleich nahm sie aber auch die theologischen Aufbrüche kontextueller Theologien in Asien, Afrika und Lateinamerika auf und wurde so zu einer wichtigen Vermittlerin im theologischen Nord-Süd-Dialog. Interkulturelle und interreligiöse Begegnungen konnten nun insbesondere im ökumenischen Kontext nicht mehr aus dem Missionsverständnis des 19. Jahrhunderts interpretiert werden, sondern Dialog, kontextuelle Theologien und Theologien der Religionen wirkten auch auf die theologischen Entwicklungen in Deutschland zurück. Insbesondere innerhalb der Systematischen Theologie wurden Erfahrungen und Ansätze aus der Weltchristenheit aufgenommen. Konsequent haben auch Vertreter des Faches Religionswissenschaft und Missionswissenschaft ein Papier erarbeitet, das diesen Veränderungen gerecht werden will und Missionswissenschaft nun als Interkulturelle Theologie verortet. Das Konsenspapier ist im Jahr 2005 als Erklärung Missionswissenschaft als Interkulturelle Theologie und ihr Verhältnis zur Religionswissenschaft sowohl von der Fachgruppe Religionswissenschaft und Missionswissenschaft der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (WGTH) als auch vom Verwaltungsrat der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft (DGMW) angenommen worden.¹⁴ Damit ist zum ersten Mal zumindest formal eine Einigkeit darüber erzielt worden, was mit Interkultureller Theologie gemeint sein soll. Ziel dieses Konsenspapiers war es, „den Gegen-

 Dazu Andreas Nehring: Orientalismus und Mission. Die Repräsentation der tamilischen Gesellschaft und Religion durch Leipziger Missionare (Studien zur außereuropäischen Christentumsgeschichte 7), Wiesbaden 2003, 82– 85.  DGMW/WGTH: Missionswissenschaft als Interkulturelle Theologie und ihr Verhältnis zur Religionswissenschaft (http://www.dgmw.org/Missionswissenschaft.pdf).

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standsbereich der Interkulturellen Theologie/Missionswissenschaft innerhalb der Evangelischen Theologie deutlich zu profilieren“¹⁵. Drei Gegenstandsbereiche haben sich dabei als konsensfähig erwiesen: 1. Theologie- und Christentumsgeschichte Afrikas, Asiens und Lateinamerikas; 2. interkulturelle Theologie im engeren Sinne (z. B. Missionstheologie, kontextuelle Theologien, Nord-Süd-Wechselwirkungen und Konflikte in der Weltchristenheit, Migration, Entwicklungsproblematik); 3. Theologie und Hermeneutik interreligiöser Beziehungen (z. B. interreligiöser Dialog, Theologie der Religionen). Mission war und ist kein breit anschlussfähiger systematisch-theologischer Begriff, und der Gedanke einer Missio-Dei, der Anfang der 1950er Jahre aufkam und innerhalb der Missionswissenschaft, der weltweiten Ökumene und den Missionswerken großen Enthusiasmus ausgelöst hatte, wurde innerhalb der deutschen Theologie praktisch überhaupt nicht rezipiert. Das Fach Missionswissenschaft wurde daher in enzyklopädischen Diskussionen allein aus einem tradierten Missionsverständnis aus dem 19. Jahrhundert beurteilt und in seiner Bedeutung marginalisiert. Die von mir genannten Themen, die das Fach heute beschäftigen, werden ihm nur selten als konstituierende theologische Inhalte zugestanden.

Nicht-substantialistisches Theologieverständnis und kontextuelle Theologie Schleiermacher bestimmt die Theologie in der Kurzen Darstellung als „positive Wissenschaft“¹⁶ und zwar als eine solche positive Wissenschaft, die sich nicht bestimmen lässt durch eine spekulative Idee eines dieser Wissenschaft zugrunde liegenden Göttlichen, sondern nur durch die praktischen Aufgaben, die sich für eine „bestimmte Glaubensweise“¹⁷ ergeben. Diese Kernthesen, die Schleiermacher an den Anfang der Kurzen Darstellung stellt, sind insofern einigermaßen radikal, als sie sowohl Form als auch Inhalt theologischer Wissenschaft relativieren und je nach Glaubensweise unterschiedliche Formen wie auch Inhalte von Theologie annehmen. So formuliert Schleiermacher in § 2 (1. Aufl.): „Jeder bestimmten Religion wird sich, in dem Maaß als sie geschichtliche Bedeutung und Selbstständigkeit erhält, das heißt sich zur Kirche gestaltet, eine Theologie anbilden, deren

 AaO. 1.  KD2 § 1, 325.  Ebd.

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Organisation nur aus der Eigentümlichkeit jener zu verstehen, und also für jede eine andere ist.“¹⁸

Nicht nur, dass Schleiermacher hier religionsgeschichtlich argumentiert und Theologie als eine historisch gewachsene Funktion der Kirche bestimmt, die sich je nach Kontext ausbildet – Kontextualität wird so zum hermeneutischen Schlüssel für Theologie überhaupt, und damit ist zugleich eine ökumenischen Forderung der gegenseitigen Anerkennung impliziert. Es ist die bestimmte Glaubensweise bzw. das jeweils bestimmte „Gottesbewusstsein“¹⁹, das Schleiermacher als das einigende Band für die Ausprägung von Theologie voraussetzt, und es ist die Kontextualität dieser Glaubensweise, die die Legitimität von Theologie in Inhalt und Form begründet. Wenn man Schleiermachers einleitende Paragraphen der Kurzen Darstellung so liest, können sie in deutliche Nähe zu theologischen Entwürfen des 20. Jahrhunderts insbesondere aus lateinamerikanischen, asiatischen oder afrikanischen Kontexten gerückt werden, die eine Rekontextualisierung von Theologie fordern.²⁰ Regionale Theologien²¹ sind Theologien, die sich aus der jeweiligen „Glaubensweise“ herausentwickeln und die je nach Kontext anders sein können. Schleiermachers Punkt ist aber, dass jede Theologie mit der Eigentümlichkeit der Glaubensweisen zusammenhängt, also per se kontextuell bestimmt werden muss. 1976 hat die Gründungsversammlung der ‚Ecumenical Association of Third World Theologians‘ (EATWOT) in Daressalam eine Erklärung verabschiedet, die das kontextuelle Anliegen dieser Theologen und Theologinnen zum Ausdruck bringt, insbesondere aber ihre Distanzierung von einer europäisch-nordamerikanischen Theologie, die sie in ihrem dekontextualisierten Universalanspruch als Ausdruck westlicher Hegemonialmacht verstehen: „Die europäischen und nordamerikanischen Theologien herrschen heutzutage in unseren Kirchen und stellen eine Weise kultureller Beherrschung dar. Man muß sie als aus der Situation dieser Länder erwachsen verstehen und kann sie deshalb nicht unkritisch übernehmen, ohne daß wir die Frage ihrer Bedeutung im Kontext unserer Länder stellen. Wir müssen nämlich, um dem Evangelium und unseren Völkern treu zu sein, uns über die Wirklichkeiten unserer eigenen Situation Gedanken machen und das Wort Gottes im Ver-

 Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 1. Auflage (1811), in: Ders.: Universitätsschriften (s. Anm. 1), 243 – 315 (Sigle KD1), 1 (Orig.pag.) § 2, 249.  KD2 § 1, 325.  S. dazu Klaus Hock: Einführung in die Interkulturelle Theologie, Darmstadt 2011, 114 f.  S. dazu die Darstellung von Robert J. Schreiter: Abschied vom Gott der Europäer. Zur Entwicklung regionaler Theologien, Salzburg 1992.

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hältnis zu diesen Wirklichkeiten interpretieren. Eine bloß akademische Theologie, die vom Handeln getrennt ist, weisen wir als belanglos zurück. Wir sind bereit, in der Epistemologie einen radikalen Bruch zu vollziehen, der das Engagement zum ersten Akt der Theologie macht und sich auf eine kritische Reflexion oder die Realitätspraxis der Dritten Welt einläßt.“²²

Es ist dieser Gedanke Schleiermachers, dass Theologie darin eine ‚positive Wissenschaft‘ ist, dass ihre wissenschaftlichen Elemente „zur Lösung praktischer Aufgaben erforderlich sind“, der von Theologen und Theologinnen insbesondere aus der südlichen Hemisphäre heute nach Europa und Nordamerika zurückgespiegelt wird, der eine Interkulturelle Theologie im Kanon der theologischen Wissenschaften heute unabdingbar macht.

‚Kirchliche Statistik‘ und globale Christentumsgeschichte Inzwischen ist das Fach Interkulturelle Theologie an zahlreichen deutschen Fakultäten verankert, meist in der Kombination mit Religionswissenschaft, manchmal auch im Zusammenhang mit Ökumenik. Und gerade in diesem letzten Bereich zeigt sich die besondere Aktualität von Schleiermachers Kurzer Darstellung für das Fach Interkulturelle Theologie. An manchen theologischen Fakultäten wird die Ökumenische Theologie dem Aufgabengebiet der Dogmatik zugerechnet, an anderen dem Fach Interkulturelle Theologie/ Missionswissenschaft. Die oben erwähnte Erklärung Missionswissenschaft als Interkulturelle Theologie und ihr Verhältnis zur Religionswissenschaft bestimmt diese Differenzierung so: „Diese unterschiedlichen Verortungen markieren unterschiedliche Gewichtungen im Ökumeneverständnis. Dort, wo der Akzent stärker auf die theologische Lehrbildung im Austausch mit anderen Konfessionen gerichtet ist, gibt es eine besondere Nähe zur Dogmatik. Dort, wo die Betonung mehr auf der weltweiten Gemeinschaft zwischen Christen bzw. Kirchen in verschiedenen kulturellen und religiösen Kontexten liegt, ist eine enge Verknüpfung zu den Leitfragen der Interkulturellen Theologie/Missionswissenschaft gegeben. Eine klare Abgrenzung und Unterscheidung von der Ökumenik ist nicht möglich, [d]ie Überschnei-

 Schlusserklärung. Ökumenischer Dialog von Theologen der Dritten Welt, Daressalam/Tansania, 5.–12. August 1976, in: Sergion Torres/Virginia Fabella/Kofi Appiah-Kubi (Hg.): Dem Evangelium auf der Spur. Theologie in der Dritten Welt (Texte zum kirchlichen Entwicklungsdienst 22), Frankfurt/M. 1980, 137.

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dungen sind vielmehr Ausdruck der besonderen interdisziplinären Reichweite der Interkulturellen Theologie/Missionswissenschaft.“²³

Schleiermacher hält eine „allgemeine Kenntnis von dem Zustande der gesammten Christenheit“ für eine „unerlaßliche Forderung an jeden evangelischen Theologen“.²⁴ Entsprechend widmet er im zweiten Teil der Kurzen Darstellung über die ‚Historische Theologie‘ einen Unterabschnitt der ‚kirchlichen Statistik‘ (§§ 232– 250). Ziel dieses Abschnitts ist es zu reflektieren, wie der Blick auf den „Gesamtzustand einer kirchlichen Gesellschaft“²⁵ gelenkt werden kann, also auf die Ökumene. Da die Kirchengemeinschaft nicht in ihrer äußeren Form verwirklicht ist,²⁶ ist es für jede Kirche genuine Aufgabe, sich dieser Frage zu stellen. Gerade die Differenzen in Form und Inhalt der christlichen Gemeinschaften verlangen von der Theologie, nicht „bei bloßen Durchschnittsangaben sich zu begnügen“²⁷, sondern die genauen Beziehungsverhältnisse jeweils zu bestimmen. Schleiermacher betont dabei, dass die „äußeren Verhältnisse einer Kirchengemeinschaft“ sowohl die Beziehungen zu anderen Kirchen, also ökumenische Beziehungen, als auch Beziehungen zu anderen Religionsgemeinschaften sowie zu anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen beinhalten.²⁸ Jegliche Formen der Begegnung, des Dialoges sowie apologetischer Abgrenzungstendenzen zu reflektieren und zu begleiten, ist daher Aufgabe des Theologiestudiums. Religionswissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Methodenansätze sind hier bereits angelegt. Die Vielfalt der Aufgaben, die sich aus der Wahrnehmung kirchlicher und gesellschaftlicher Veränderungen ergibt, müsste laut Schleiermacher zunächst in der Kirchengeschichte angesiedelt sein. Darum kritisiert er: „Dass man sich bei uns nur zu häufig auf die Kenntniß des Zustandes der evangelischen Kirche, ja nur des Theiles beschränkt, in welchem die eigene Wirksamkeit liegt, wirkt höchst nachtheilig auf die kirchliche Praxis.“²⁹

Schleiermacher ist sich dessen bewusst, dass dieser Forschungszweig besondere Kenntnisse, inklusive Sprachkenntnisse, erfordert, um Form und Gehalt anderer „kirchlicher Gemeinschaften“ genauer zu bestimmen, und er schlägt daher nicht vor, den Kanon der Theologie um ein weiteres Fach zu ergänzen, sondern be      

DGMW/WGTH: Missionswissenschaft (s. Anm. 14), 3. KD2 § 244, 411. KD2 § 232, 408. Vgl. KD2 § 233, ebd. KD2 § 235, 409. KD2 § 238, ebd. KD2 § 243, 411.

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schränkt sich auf den Hinweis auf die Virtuosität einzelner, die diese Aufgabe übernehmen müssten.³⁰ Auch konstatiert er, dass in neuerer Zeit (also im 19. Jahrhundert) durch die historische Forschung bedeutende neue Erkenntnisse über verschiedene Formen christlicher Gemeinschaften zu Tage gefördert worden seien, dass es aber an umfassenden Überblicken bislang fehle. Inzwischen sind die Erforschung der außereuropäischen Christentumsgeschichte und die Kenntnisnahme kontextueller Theologien aus Afrika, Asien und Lateinamerika soweit vorangeschritten, dass ein Einzelner den Bereich nicht mehr überblicken kann. Eine bloße Anhäufung von Wissen über andere Formen kirchlicher Gemeinschaft ist jedoch nach Schleiermacher als „unkritisches Sammelwerk“³¹ nicht erstrebenswert, solange nicht auf die Praxis der Kirchenleitung Bezug genommen würde. Das betrifft vor allem die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Kulturwissenschaft bzw. Religionswissenschaft. Hier gibt Schleiermacher erste Anstöße, gerade in seiner kritischen Reflexion auf das Verhältnis von „wissenschaftlichem“ und „religiösem Interesse“ im Bereich der kirchlichen Statistik (§§ 247– 248). Aufgrund der gegebenen Komplexität der Fragestellung ist aber heute über ihn hinauszugehen.

Herausforderungen: Religionswissenschaft als theologisches Fach? An mehreren Fakultäten in Deutschland ist das Fach ‚Missionswissenschaft‘ in den letzten Jahren umbenannt worden: Entweder wurde die Religionswissenschaft in den Vordergrund gestellt (in der Verbindung „Religions- und Missionswissenschaft“ beispielsweise an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg) oder „Missionswissenschaft“ durch „Interkulturelle Theologie“ ersetzt (beispielsweise an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau). Auch die Herauslösung des Faches aus der Praktischen Theologie, wo es zum Beispiel in Erlangen nach dem Modell von Schleiermacher über Jahrzehnte verortet war, ist ein Hinweis für die Neukonstituierung des Faches. Umbenennungen des Faches ‚Missionswissenschaft‘ bedeuten auch, dass neu überlegt werden muss, wie sich Theologie und Religionswissenschaft zueinander verhalten. Das betrifft den ganzen Fachbereich, denn es steht ja auch zur Debatte – und die Frage ist 2010 durch ein Papier des Wissenschaftsrates zur Rolle von

 Vgl. KD1, 68 § 57, 296.  KD2 § 247, 412.

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Theologie, Religionswissenschaft und Islamstudien noch drängender geworden – ³², ob Religionswissenschaft als ein theologisches Fach bezeichnet werden kann oder nicht. In der Wissenschaftskultur in Deutschland ist das nach wie vor umstritten: Klar ist, dass Religionswissenschaft mehr ist als Religionsgeschichte. Sie arbeitet heute fast überall gegenwartsorientiert. Allerdings gibt es Differenzen. Theo Sundermeier beispielsweise hat das Studium der anderen Religionen als dezidiert theologische Aufgabe begriffen.³³ Ein Großteil der gegenwärtig an diesen Lehrstühlen arbeitenden Kollegen und Kolleginnen versteht Religionswissenschaft dagegen als eine Kulturwissenschaft, auf deren Expertise die Interkulturelle Theologie/Missionswissenschaft in vielen Arbeitsfeldern angewiesen ist. So sehr es zu begrüßen ist, dass eine theologisch orientierte Religionswissenschaft darum bemüht ist, Religionen zu verstehen, den Anderen als anderen wahrzunehmen, die Verhältnisse zwischen den Religionen zu klären, Probleme im Dialog zu bewältigen, den Glauben gemeinsam zu durchdenken, wofür heute die Komparative Theologie steht, und Spiritualität zu ergründen, so sehr muss doch auch darauf reflektiert werden, dass die Religionswissenschaft bzw. (im Plural) die Religionswissenschaften anders arbeiten als die Theologie. Zugleich wäre die theologische Reflexion m. E. schlecht beraten, wenn sie sich vorschnell aus kulturwissenschaftlichen Diskursen zurückzöge auf theologische Positionen zum Verständnis von Kultur und anderen Religionen. Schleiermacher hat bereits gewarnt: „Ist das religiöse Interesse von wissenschaftlichem Geist entblößt: so wird die Beschäftigung, statt ein treues Resultat zu geben, nur der Subjectivität der Person oder ihrer Parthei dienen.“³⁴

Eine theologische Fakultät wäre aber ebenso schlecht beraten, wenn sich Theologie darauf beschränken würde, das Christentum oder den christlichen Glauben als Gegenstand der Theologie auf ein kulturelles Phänomen oder einen wenn auch wichtigen Aspekt von Kultur zu reduzieren, um ihn im Kontext der Kulturwissenschaften repräsentieren zu können. Diese Tendenz ist heute bei zahlreichen vor allem protestantischen Theologen zu beobachten, die über die kulturbildende Kraft des Christentums die Relevanz von Theologie begründen oder die An-

 Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, Berlin 2010 (http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/9678 – 10.pdf).  Theo Sundermeier: Was ist Religion? Religionswissenschaft im theologischen Kontext, Gütersloh 1999.  KD2 § 248, 412

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schlussfähigkeit der Theologie an kultur- und religionswissenschaftliche Diskurse retten wollen. So nennt beispielsweise Gerd Theißen sein Buch über Die Religion der ersten Christen eine „Theorie des Urchristentums“, mit der er „den urchristlichen Glauben in seiner das ganze Leben bestimmenden Dynamik mit allgemeinen religionswissenschaftlichen Kategorien beschreiben und erklären“³⁵ will. Ich halte diese Tendenz in der Theologie aus mehreren Gründen für problematisch: Zum einen steht das kulturwissenschaftliche Begründungsmodell in der Gefahr, sich selbst als theologische Metatheorie einer allgemeinen Christentumskultur aufzuschwingen, die mit „Durchschnittsangaben“³⁶ wie Modernisierung, Individualisierung, Pluralisierung, Säkularisierung, Globalisierung etc. kulturelle Differenzen und religiöse Pluralität unterläuft oder vollkommen disparate Entwicklungen in der Weltgesellschaft unter einen Hut zu bringen sucht. Im Übrigen ist der immer wieder festzustellende Anspruch systematischer Theologen, letztgültige Begründungsmodelle auch für das Studium der Religionen zu liefern, auffällig, einem interdisziplinären Diskurs aber nicht unbedingt zuträglich. Eilert Herms beispielweise hat in einem 1998 erschienenen Aufsatz Theologie und Religionswissenschaft ³⁷ die Theologie zu einer „im christlichen Vorverständnis“³⁸ betriebenen Religionswissenschaft erklärt. Diese Bestimmung von Theologie begründet er mit neueren Erkenntnissen aus den Kulturwissenschaften, dass nämlich mit der Etablierung eines kulturwissenschaftlichen Paradigmas in den Geisteswissenschaften sich das Bewusstsein durchgesetzt habe, dass jede Wissenschaft unhintergehbar von einem bestimmten Vorverständnis geprägt sei. Dieses Vorverständnis wird von ihm über „ontologische Gewißheitsbestände“³⁹ erschlossen, auf denen jede Kulturwissenschaft beruhe und durch die die Handlungsmöglichkeiten von Handlungssubjekten für diese selbst festgelegt werden; und zu diesen ontologischen Gewissheitsbeständen gehöre neben Weltanschauungen auch die Religion. Indem Herms Religion als „ontologischen Gewissheitsbestand“ definiert, macht er ein wie auch immer geartetes Konzept von Religion, ohne auf gegenwärtige religionswissenschaftlichen Debatten und Positionen zu diesem umstrittenen Begriff weiter eingehen zu müssen, zur Voraussetzung aller theologischen Reflexion, um dann „die konkrete Behandlung von Religion […] als Thematisierung jeweils einer positiven Religion in

 Gerd Theissen: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 17.  KD2 § 235, 409.  Eilert Herms: Theologie und Religionswissenschaft, in: Ders.: Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006, 455 – 475.  AaO. 464.  AaO. 459.

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ihrer geschichtlichen Existenz, in ihrem geschichtlichen Gewordensein, in ihren geschichtlichen Lebensäußerungen und Wirkungen sowie in ihrer Fortentwicklung“⁴⁰ als einzige theoretisch und methodisch angemessene Möglichkeit festzulegen, damit umzugehen. Christliche Theologie ist somit in Herms Konzept eine Religionswissenschaft, die im „exemplarischen Sinn“⁴¹ das Christentum als positive Religion thematisiert. Eine Religionswissenschaft als eigenes Fach, und da ist Herms in der Konsequenz zumindest nahe bei Adolf von Harnacks Rektoratsrede von 1901⁴², wird dann nicht mehr benötigt.

Theologie und Kulturwissenschaft Bisher ist, und das wird wohl auch trotz einiger systematisierender Versuche so bleiben, bei den Kulturwissenschaften weder ein einheitlicher Gegenstand noch eine einheitliche Methodik zu erkennen. Vielmehr handelt es sich bei der Kulturwissenschaft oder den cultural studies um eine Gruppe heterogener wissenschaftlicher Ansätze und Diskursfelder, in denen auch die Theologie untergebracht werden könnte, was ja an einigen Universitäten, in denen sie nur in der Lehramtsausbildung vertreten ist, durchaus der Fall ist. Die Theologie kann ihre eigene Begründung aber weder aus einem wie auch immer gearteten Verständnis von Religion ziehen noch aus den Methoden und Zugangsweisen der Kulturwissenschaften, sondern sie ist auf ihre eigene Tradition gewiesen. Eine allgemeine Religionstheorie, noch dazu eine solche, die sich in ontologischen Gewissheiten gründet, wird kaum anschlussfähig sein können, wenn sie die Pluralität und Heterogenität dieses Feldes als ihr Umfeld begreift. Hier ist vielleicht daran zu erinnern, dass Schleiermacher seine Theologie dezidiert von einer „rationalen Theologie“, die er als „spekulativen Wissenschaft“ bezeichnet, abgegrenzt wissen will.⁴³ Kein Mensch lebt außerhalb seiner Kultur. Theologie entwickelt sich immer kontextuell, das heißt innerhalb eines kulturellen Kontextes. Es ist keine religionswissenschaftliche, sondern eine genuin theologische Aufgabe – und daraus folgend auch eine ökumenische Forderung –, heute interkulturell Theologie zu betreiben. Interkulturalität hat in den letzten Jahren als Gegenstand hermeneu-

 AaO. 462.  Ebd.  Adolf von Harnack: Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte, nebst einem Nachwort, in: Ders.: Reden und Aufsätze, Bd. 2, Gießen 1904, 159 – 187.  KD2 § 1 Zs., 326.

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tischer Forschung an Bedeutung in den Kulturwissenschaften gewonnen, und wenn auch Interkonfessionalität und Interkulturalität nicht gleichgesetzt werden können, so stellt doch die Frage der Wahrnehmung von christlichen Lebensformen in anderen Ländern eher ein interkulturelles denn ein interkonfessionelles Problem dar. Inwieweit der Begriff ‚interkulturell‘ dabei letztlich immer noch dem Herder’schen Modell von je abgeschlossenen Kulturräumen, die nun interagieren, verpflichtet bleibt, wäre gesondert zu diskutieren.⁴⁴ Das Konzept der Interkulturalitäten nimmt als grundlegendes Denkmodell kulturelle Einheiten an, indem es von der Vorstellung ausgeht, dass andere Kulturen anders sind und dass die Differenzen und damit die Schwierigkeiten der Verstehbarkeit in dieser Andersheit zu suchen sind. Daraus wird die Forderung abgeleitet, andere Kulturen nicht zu ignorieren, sondern in einen interkulturellen Dialog mit ihnen zu treten. Dieser Dialog ist allerdings, darauf hat Wolfgang Welsch mehrfach hingewiesen, unter der Voraussetzung der Eigenständigkeit und Abgeschlossenheit von Kulturen letztlich unmöglich. Denn je mehr die andere Kultur anders ist, desto mehr wird das Verstehen bloß oberflächlich sein können, und Verstehen bedeutet letztlich Verstehen in meinen Kategorien. Wird man dieser Tendenz gewahr, wie oftmals im interreligiösen oder auch im ökumenischen Dialog, so kurbelt man weitere, tiefere, gesteigerte Verstehensbemühungen (Kolloquien, Dialogtreffen, Forschungsprojekte, Weltreisen) an, die jedoch an demselben Widerspruch kranken.⁴⁵ Die Feststellung, dass wir in einer Welt leben, kann nur aus einer die eigene lokale Welterfahrung überschreitenden Perspektive formuliert werden, sei es epistemologisch oder normativ/ethisch. Während die Erfahrung für die Zivilgesellschaft relativ neu ist, dass religiöse, kulturelle und politische Differenzen allgegenwärtig sind und die individuelle Weltwahrnehmung heute in unseren Städten und zunehmend auch in den Dörfern prägen, können die Kirchen auf eine relativ lange Geschichte interkultureller Begegnungen, Konflikte und Partnerschaften zurückblicken. Allerdings kann die Betonung von Einheit heute wohl kaum bedeuten, dass Partnerschaft, Konvivenz oder Koinonia schon tatsächlich verwirklicht wären. Ganz im Gegenteil: Wir machen zunehmend die Erfahrung, dass die interkulturelle

 Vgl. dazu Wolfgang Welsch: Transculturality: The Puzzling Form of Cultures Today, in: Mike Featherstone/Scott Lash (Hg.): Spaces of Culture: City, Nation, World, London 1999, 194– 213.  Wolfgang Welsch: Auf dem Weg zu transkulturellen Gesellschaften, in: Lars AllolioNäcke/Britta Kalscheuer/Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, Frankfurt a. M./New York 2005, 314– 341.

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Verständigung auf allen Ebenen schwieriger wird. Unsere ökumenischen Verständigungsbemühungen bzw. die Frage, ob eine ökumenische Hermeneutik gefunden werden kann, die die Vision von einer Welt näher rückt, erscheint heute, gerade auch angesichts sich verändernder kultureller Konstellationen der Zivilgesellschaft, fragwürdiger denn je. Interkulturell orientierte Theologie wird ihre Relevanz im Diskurs der Kulturwissenschaften sicherlich in dem Maß erweisen, in dem sie in der Lage ist, interreligiöse Prozesse, Konflikte, Hybridisierungs- und Synkretisierungsprozesse, Rationalisierungsschübe etc. synchron und diachron zu reflektieren und in den unterschiedlichsten christentumsgeschichtlichen Phasen wie auch in den verschiedenen Kontexten, in Europa, Afrika, Asien und anderswo, als zentrale Aspekte von Kulturbegegnung offen zu legen. Sie wird ihre normative Stärke darin erweisen, inwieweit sie in der Lage ist, interreligiöse Dialoge zu fördern und Positionen der anderen wahrzunehmen. Hier wäre auch von bereits entwickelten Theologien, insbesondere aus asiatischen Kirchen, viel zu lernen. Aber ich möchte noch einmal betonen: Wenn sich auch ihre kulturelle und gesellschaftliche Relevanz gerade aus der interkulturellen und interreligiösen Pragmatik tatsächlicher Begegnungen und Problemstellungen ergibt, so gründet das Identitätskriterium Interkultureller Theologie als universitärer Wissenschaft im Kontext insbesondere der Kulturwissenschaften nicht in diesen pragmatischen Zusammenhängen, sondern wohl doch eher darin, wie Jörg Dierken formuliert hat, dass es „eine Sache der Vernunft ist, die historisch kontingente Dimension der in der Religion enthaltenen Vernunft, die sich immer im Prozess befindet und sich immer auf einen Kontext bezieht, zu reflektieren“.⁴⁶ Mit anderen Worten könnte man das so ausdrücken: Das Identitätskriterium interkultureller Theologie ist in der Christologie begründet. Dass es Überschneidungen von Christentum und anderen Religionen gibt, ist eine Beobachtung, die sowohl aus theologischer wie aus religionswissenschaftlicher Perspektive formuliert werden kann. Allerdings wäre es vorschnell, daraus sogleich religionstheologische Schlüsse zu ziehen, wie sie bei Teilen der sogenannten pluralistischen Religionstheologie zu beobachten sind. Als Wissenschaft, die sich pragmatisch auf fremde Kulturen und Religionen bezieht, bedarf interkulturelle Theologie immer auch der Fundamentaltheologie, will sie der ständigen Gefahr entgegenwirken, in eine allgemeine Vernunftreligion oder ein universales ethisches Programm zu mutieren. Abgesehen davon ist daran zu er-

 Jörg Dierken: Die Selbständigkeit der Religion als Thema der Theologie, in: Dokumentation des Kolloquiums „Die Selbständigkeit der Religion“ anlässlich des 60. Geburtstags von Friedrich Wilhelm Graf am 18.12.08 (im Druck).

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innern, dass Chiffren wie Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus eben keine genuin theologischen Termini sind, sondern kultur- oder sozialwissenschaftliche Außenzuschreibungen.

Religion studieren Angesichts globaler Präsenz der verschiedensten Religionsformen und zunehmend multikultureller Strukturierung unserer Gesellschaften in Europa ist nicht nur das Interesse an anderen Religionen stark gestiegen, es lässt sich zugleich im Bemühen um harmonische Begegnungen auch beobachten, dass die Konturen von Religionsdissensen verschwimmen. Alleinheitsvorstellungen, die mit Hilfe deistischer oder fremdkultureller Philosopheme gebildet werden, scheinen sich dafür ebenso anzubieten wie die Rezeption religiöser Praktiken und Vorstellungen aus in asiatischen Kulturen beheimateten Religionstraditionen: Yoga und Zen rangieren dann als vermeintlich religionsübergreifende Praktiken, die Eigenes bereichern. „Spiritualität“ ist zum Kennwort einer schwebenden Religiosität geworden.⁴⁷ Die Rede von der „Rückkehr der Religion“ oder der „Wiederkehr der Götter“ oder gar vom „Ende der Säkularisierung“ taucht aber immer dann in Diskursen auf, die bisher als wesentlich religionsresistent galten, wenn Konflikte auftreten und sich religiöse Gruppen dem allgemeinen spirituellen Trend widersetzen. Dass diese Diskurse über traditionelle Fachgrenzen hinaus geführt werden, ist allenthalben zu beobachten.⁴⁸ Von den gesellschaftlichen Diskursen über Religion profitieren heute auch die Religionswissenschaften, und insbesondere nach Anschlägen muslimischer Terroristen auf westliche Einrichtungen befinden sich Orientalistik, Islamwissenschaft, Area Studies zum Nahen Osten und ähnliche Fächer im Aufwind. Doch gerade an der Islamwissenschaft zeigt sich eine Problematik sehr deutlich, der auch das Fach Interkulturelle Theologie und Religionswissenschaft sich heute zu stellen hat. Islamwissenschaft, Orientalistik und die Wissenschaften, die sich mit dem islamischen Kulturraum beschäftigen, können und wollen keine islamische Theologie entwickeln, die unter Aufnahme von in der christlichen Theologie entwickelten historisch-kritischen Methoden die Koranexegese an

 Vgl. Hubert Knoblauch: Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York 2009.  Das Zentrum „Anthropologie der Religion(en)“ an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg etwa hat Mitglieder von der Medizingeschichte über Politikwissenschaft bis hin zu Pädagogik und Medienwissenschaft.

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die gegenwärtigen gesellschaftlichen Anforderungen in Deutschland anpasst, um so zur Integration von kulturell Fremden beizutragen.⁴⁹ „Islamstudien“ ist der gegenwärtig weit verbreitete Name für ein Fach, das auch „Islamische Theologie“ genannt werden könnte, ein Fach, das, so die Erwartung der Wissenschaftsministerien, einen „Euro-Islam“ entwickeln soll, der dazu beiträgt, Konfliktbereiche wie Religion und Recht, Religion und Staat sowie insbesondere Religion und Gewalt einzudämmen. Integration wird von einer möglichst nahen Anbindung an Struktur und Methoden der christlichen Theologie erwartet. Und Interkulturelle Theologie scheint sich als das geborene Schwesterfach anzubieten. Das Beispiel macht für die christliche Theologie m. E. aus einer Außenperspektive deutlich, wie schwierig es ist, das Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft zu bestimmen und welche Implikationen dabei eine Rolle spielen. Diese Frage möchte ich in einem zweiten Schritt verfolgen, um dann einige kulturwissenschaftliche Überlegungen zur Religionswissenschaft bzw. zum Studium der Religionen anzustellen.

Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft Sowohl an katholischen als auch an evangelischen Fakultäten im deutschsprachigen Raum gibt es seit mehreren Jahren Versuche, die Religionswissenschaft als integralen Bestandteil des Theologiestudiums zu verankern. Angesichts der oftmals mangelnden Kenntnis anderer Religionen bei zukünftigen Religionslehrern, Priestern, Pastoralreferenten und Pfarrern, sind solche Bemühungen auf jeden Fall zu begrüßen. Man muss sich allerdings darüber im Klaren sein, dass solche Unternehmungen und Projekte von Religionswissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen, die nicht an theologischen Fakultäten lehren, kritisch gesehen werden. Immer wieder wird die Vermutung laut, dass es sich hierbei um eine erneute Vereinnahmung der religionswissenschaftlichen Forschung für die normativen Zwecke von Theologie handele. Man befürchtet staatlich geförderte Rückschritte ins 19. Jahrhundert, als sich die Religionswissenschaft institutionell und methodisch von der Theologie emanzipierte. Aus der Abgrenzung gegen alle theologischen Normativitätsansprüche beziehen Religionswissenschaftler denn auch häufig ein identitätsstiftendes Differenzbewusstsein. Programmatisch erscheint diesbezüglich ein Diktum von Hans-Jürgen Greschat aus dem Jahre 1988: „Theologen sind

 Vgl. J. Dierken: Selbständigkeit der Religion (s. Anm. 46).

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religiöse Spezialisten – Religionswissenschaftler sind Spezialisten für Religiöses.“⁵⁰ Seit gut 100 Jahren gehört es zum Grundverständnis von Religionswissenschaft, anders als Theologie zu sein. Inhaltlich wird das aus religionswissenschaftlicher Perspektive oftmals so formuliert: Wahrheitsüberzeugungen spielen keine Rolle, es zählt nur die historisch-empirische Arbeit inklusive ihrer Methoden; religiöse Institutionen sind allenfalls Gegenstand der Forschung, keinesfalls aber Partner; im Vergleich zwischen den Religionen haben Werturteile zu unterbleiben. Während Religionswissenschaft für sich eine Außenperspektive beansprucht, wird der Theologie eine Binnenperspektive zugeschrieben, die sie aufgrund ihrer Gebundenheit an die Kirche gar nicht verlassen kann und die in der Wahrheitsüberzeugung des christlichen Glaubens ihren Grund hat. Auch wenn solche Pauschalisierungen immer noch vorgetragen werden, lässt sich doch jenseits von institutionspolitischen Machtkämpfen, bei denen die Theologie auf Grund von Konkordat und Staatskirchenverträgen im Vorteil ist, inzwischen ein gegenseitiger Respekt, ja sogar eine Annäherung von Theologie und Religionswissenschaft beobachten, und zwar dann, wenn in Religionsdiskursen die jeweils andere Arbeitsweise zugestanden und ernst genommen wird. Die Erforschung der religiösen Wirklichkeit lebt gerade von solcher Diskursivität, die sich aus der Mehrzahl der Perspektiven ergibt. Religionsforschung kommt zu kurz, wenn sie nicht ihre analytischen Kategorien immer wieder dem aussetzt, was man „Binnenperspektive“ nennen könnte. Dass auch für neutrale Erforschung ‚von außen‘ die mit Religion stets verbundene Binnensicht der Beteiligten in Rechnung zu stellen ist, gehört zum Einführungswissen der Disziplin. Der kanadische Religionswissenschaftler Wilfred Cantwell Smith hat schon in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Forderung aufgestellt, dass religionswissenschaftliche Aussagen nur dann als angemessen gelten können, wenn sich in ihnen religiöse Sprecher selbst wiedererkennen können. Sehr einflussreich waren auch die an der Semiotik orientierten Überlegungen von Clifford Geertz zur „Dichten Beschreibung“ einer fremden Kultur bzw. einer Religion als kulturellem System.⁵¹ Zum Standardwissen gehört inzwischen auch, wie sehr selbst religionswissenschaftliche Konzepte einzelner Religionen aus dem nichtchristlichen Kulturkreis – wie etwa des „Buddhismus“ – von der Optik europäischer Religions- und Konfessionskonflikte geleitet sind. So werden beispielsweise ältere Ansätze der Buddhismusforschung,

 Hans-Jürgen Greschat: Was ist Religionswissenschaft?, Stuttgart u. a. 1988, 129.  Vgl. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1983.

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die den Buddhismus als Reformation des Hinduismus und der Kastenordnung gedeutet haben, auf ihre Einflüsse aus der christlichen und insbesondere der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung hin befragt. Gerade durch die cultural studies sind den Religionswissenschaften die normativen Implikationen ihrer Beschreibungen deutlich gemacht worden. Der amerikanische Religionswissenschaftler Jonathan Z. Smith hat das so formuliert: „The study of Religion is by no means an innocent endeavour.“⁵² Zum Grundwissen der religionswissenschaftlichen Disziplin gehört zudem Problemsensibilität bei allen Versuchen, Tatbestände als ‚religiös‘ zu qualifizieren. Die Kategorie des ‚Heiligen‘ oder des ‚Numinosen‘, in deren Zeichen die vergleichende Religionsphänomenologie dem ‚Wesen‘ von Religion nachspürte und philologische Meisterleistungen vollbrachte, ist zunehmend in den Hintergrund gerückt. Von festen Religionsdefinitionen wird angesichts ihrer Überfülle, Unschärfe und Standpunktrelativität Abstand genommen.⁵³ „Religionswissenschaft ist eine Kulturwissenschaft“⁵⁴. Mit dieser These nimmt Michael von Brück eine programmatische Neubestimmung derjenigen Wissenschaft vor, deren Bezug auf ihren Gegenstandsbereich sich dadurch auszeichnet, dass dieser zwar, wie die Gegenstandbereiche anderer Kulturwissenschaften auch, nur in gesellschaftlichen Diskursen auftaucht, dass er aber daraufhin betrachtet werden soll, inwieweit er innerhalb dieser Diskurse eine „letztgültig begründende und die kulturellen Systeme als Gesamtheit deutende Orientierungsleistung […] darstellt“⁵⁵. Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft geht also nicht von einem „religiösen Apriori“ aus, das gesellschaftlichen Diskursen und Praktiken zugrunde liegt, sondern: „Religionssysteme als soziale Kommunikationssysteme ereignen sich in medialen Strukturen, die zu beobachten und zu analysieren Aufgabe der Religionswissenschaft ist.“⁵⁶ Mit anderen Worten: Es werden die Bedingungen der Möglichkeit von Wissen und Erfahrung untersucht, die Michel Foucault die Positivität des Diskurses genannt hat.⁵⁷ Die diskursanalytisch ar Jonathan Z. Smith: Drudgery Divine. On the Comparison of Early Christianity and the Religions of Late Antiquity, Chicago 1990, 34.  Zur Problematik des Religionsbegriffs siehe neuerdings sehr aufschlussreich Michael Bergunder: Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, in: ZfR 19 (2011), 3 – 55.  Michael von Brück: Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft, in: Anne Koch (Hg.): Watchtower Religionswissenschaft. Standortbestimmungen im wissenschaftlichen Feld, Marburg 2007, 73 – 94.  AaO. 73.  AaO. 74.  Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, 184.

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beitende Religionswissenschaft richtet ihr Augenmerk dementsprechend weniger auf Inhalte von Aussagen und deren Bedeutung, als vielmehr auf die Mechanismen, die diese konstituieren.⁵⁸ Der schon erwähnte Jonathan Z. Smith hat den Gegenstandsbereich der Religionswissenschaft, ‚Religion‘, als einen Metabegriff bezeichnet, ein „secondorder, generic concept“⁵⁹, dessen Definition wesentlich in der Hand der Religionswissenschaftler liegt. So wird die Offenheit des metasprachlichen Begriffs an die Pragmatik und Machtstruktur wissenschaftlicher Aussagen rückgebunden und nicht als positive Aussage und als metasprachliche Aufnahme einer Eigenschaft der religiösen Phänomene angesehen. Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft will also nicht das Heilige, das Numinose, das tremendum fascinosum oder gar seine Erfahrung in die Metasprache aufnehmen, wie es in der Phänomenologie, bei Gerard van der Leeuw, William James, Rudolf Otto, Friedrich Heiler u. a. unternommen wurde, sondern ihre Aufgabe besteht darin, die Wissensformen des Gegenstandes in der Metasprache nachzubilden (körperliches Wissen, technisches Wissen, praktisches Wissen usw.). Solche Formen des Wissens basieren, davon muss die Religionswissenschaft ausgehen, auf impliziten Wissensformen oder Gewissheiten. Wenn Religionswissenschaft zugesteht, dass religiöses Wissen sich auf subjektiven Sinn in seiner Bedeutung für die Lebensführung in sozialen Kontexten richtet, dann ist damit auch die Frage der Individualität verbunden. Denn Sinn ist stets Sinn für jemanden, und Sinn impliziert zugleich den Ausgriff auf weitere Kontextualisierung. Notwendig wird in diesem Kontextualisierungsprozess in einer globalisierten Welt die eigene Sinnkontextualität ständig transzendiert bzw. mit anderen Sinnkontextualitäten konfrontiert. Darauf hat erst kürzlich Hubert Knoblauch hingewiesen.⁶⁰ Dies geschieht, indem der Blickwinkel des anderen mit der eigenen Perspektive gekreuzt wird und zu einer Perspektivenverschiebung durch Erweiterung führt. Diese Verschiebungen kann und muss man religionswissenschaftlich beschreiben. Ihre diskursive Prägung (z. B. durch Orientalismen), ihre impliziten Ethnozentrismen sind synchron wie diachron herauszuarbeiten. Zugleich aber ist es eine zentrale Aufgabe einer interkulturellen Theologie, die Perspektivenverschiebungen auch theologisch zu reflektieren: im interreligiösen Dialog, in komparativen Theologien, in der Rezeption kontextueller Theologien anderer Kulturkreise. Das ist eine spannende und vollkommen fordernde und ausfüllende  Vgl. aaO. 185 ff.  Jonathan Z. Smith: Relating Religion: Essays in the Study of Religion, Chicago/London 2004, 194.  H. Knoblauch: Populäre Religion (s. Anm. 47).

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Aufgabe, die heute eines eigenen Faches innerhalb der Theologie bedarf. Das methodische und theoretische Problem bleibt dabei das umstrittene Verhältnis von kulturwissenschaftlich orientierter Diskursanalyse und theologischer Hermeneutik. Dieses immer wieder zu reflektieren und im Gespräch mit den anderen theologischen wie nicht-theologischen Fächern abzuklären, bleibt eine Herausforderung für interkulturelle Theologie.

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Die Praktische Theologie im Kreis der theologischen Fächer Theorie der religiösen Praxis des Christentums Letzter zu sein, ist ein Schicksal, das der Praktischen Theologie schon vor zweihundert Jahren Friedrich Schleiermacher als sachgemäß und angemessen ins Stammbuch geschrieben hat: „Der Zustand der praktischen Theologie als Disciplin zeigt, daß[,] was im Studium jedes Einzelnen das lezte ist, auch als das lezte in der Entwiklung der Theologie überhaupt erscheint.“¹ Denn diese Disziplin, die sich im Vergleich zu den anderen theologischen Disziplinen wohl am nachdrücklichsten und vor allem dauerhaft mit ihrem enzyklopädischen Selbstverständnis befasst, ist nicht nur die jüngste unter den theologischen Disziplinen, sie ist vor allem diejenige, die sich – theologiegeschichtlich gesehen – am wenigsten von selbst versteht. Sie ist, anders als die anderen theologischen Subdisziplinen, ein Kind der Neuzeit. Die Praktische Theologie verdankt sich der spätestens am Ende des 18. Jahrhunderts unabweisbar gewordenen Einsicht, dass die Theologie nicht mehr identisch war mit der Religion, auf die sie sich zu beziehen meinte. Die Praxis des Christentums hatte sich gegenüber der Theologie verselbständigt. Zunehmend kam zu Bewusstsein, dass die wissenschaftliche Theologie die zeitgenössische Praxis des Christentums nicht mehr vollständig zu erfassen und nicht mehr ohne weiteres zu bestimmen vermochte. Die Praxis, die bisher in der Theologie aufgehoben war, trat dieser nun gegenüber und wurde zur Aufgabe der neuzeitlichen Theologie. Diese neue Aufgabe wurde bald nicht mehr nur so verstanden, dass der Theologie eine neue, zusätzliche Fragestellung zugewachsen war, die sich in das alte Selbstverständnis irgendwie eingliedern ließ. Vielmehr zeigte sich, dass die Theologie im Ganzen in ständiger Rücksicht auf den Unterschied zwischen Religion und Theologie neu aufzubauen und durchzubilden war. Zugleich wurde aber die Einsicht in den Abstand zwischen der Praxis des Christentums und der theologischen Theorie ebenso wie die Einsicht in die Ver-

 Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2. Auflage (1830), in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. HansJoachim Birkner u. a., Bd. I/6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg.v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998 (Studienausgabe Berlin/New York 2002), 321– 446 (Sigle KD2), § 337, 446.

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mittlungsbedürftigkeit dieser Differenz insbesondere zur Aufgabe einer alten, grundlegend erneuerten Disziplin, der Praktischen Theologie. In ihrer vorneuzeitlichen Gestalt als Pastoraltheologie stellte sie eine Sammlung von Klugheitsregeln dar, die als Umsetzungen der dogmatischen, exegetischen und historischen Erkenntnisse in die Wirksamkeit des Geistlichen mehr oder weniger selbstverständlich waren oder doch sein sollten. Jetzt wuchs dieser Disziplin die neue, zusätzliche Aufgabe zu, die religiöse Praxis als ein eigenes Thema der Theologie insgesamt zu reflektieren. Damit ist im Grunde die bleibende enzyklopädische Grundaufgabe der Praktischen Theologie benannt. Sie lässt sich in der Tat am besten im Ausgang von Schleiermachers Bestimmung der Praktischen Theologie beschreiben. Es ist geradezu ein Spezifikum der Praktischen Theologie, dass die für sie relevanten enzyklopädischen Probleme bereits von Schleiermacher beschrieben worden sind oder doch in seiner Aufgabenstellung der Praktischen Theologie zu erkennen sind. Und es zählt zur Signatur der Praktischen Theologie, dass die Ansprüche, die Schleiermacher formulierte, bis heute unhintergehbar sind. In meiner Disziplin, der Praktischen Theologie, ist es so, dass die größte Gegenwartsnähe zu erreichen ist, wenn man sich mit Schleiermachers Ausführungen beschäftigt und diese auf die Gegenwart bezieht. Das will ich im Folgenden tun. Ich beginne an der einleitend markierten Stelle – dort nämlich, wo es um die Begründung der Praktischen Theologie geht. In einem zweiten Schritt werde ich auf den Doppelcharakter der Praktische Theologie zu sprechen kommen und in einem dritten Schritt auf das Verhältnis zu den anderen theologischen Disziplinen.²

1 Zur Begründung der Praktischen Theologie Die Einsicht in die Verselbständigung der religiösen Praxis enthielt, wie gesagt, eine neue Aufgabe der Theologie und wurde zur Aufgabe einer alten, grundlegend erneuerten Disziplin, der Praktischen Theologie. Es zeigt sich schnell, dass auch Schleiermachers Begründung der Praktischen Theologie diese Problemdimension der Differenz zwischen Religion und Theologie konstruktiv aufnimmt. Schon der zweite der Einleitungsparagraphen des einschlägigen Teils der Kurzen Darstellung

 Dabei variiere und präzisiere ich Überlegungen, die ich bereits vorgetragen habe in Christian Albrecht: Enzyklopädische Probleme der Praktischen Theologie (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 10), Tübingen 2011, 11– 62.

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formuliert bündig: „Das Bedürfniß der praktischen Theologie entsteht also nur für den, in welchem religiöses Interesse und wissenschaftlicher Geist vereint sind.“³ Mit dieser Einzeichnung der Unterscheidung von Religion und Theologie in den Begründungszusammenhang der Praktischen Theologie stand Schleiermacher in historischen und sachlichen Kontinuitäten. Botho Ahlers hat vor über dreißig Jahren deutlich gemacht, in welcher Weise die Vor- und Frühgeschichte der modernen Praktischen Theologie sich im 18. Jahrhundert als Konsequenz der Unterscheidung von Religion und Theologie vollzog.⁴ Die zunehmende Einsicht in die Irreduzibilität der historisch gewachsenen Differenz fungierte als Legitimationsfigur für theoretische Programme der Anerkennung dieser Unterscheidung und ihrer Folgen, zugleich aber für die Vermittlung der unterschiedenen Größen. Diese Vermittlung war einerseits nicht anders denn als Reflexion des Verhältnisses denkbar und trug damit eine streng theoretische Gestalt. Andererseits weist die theoretische Reflexion des funktionalen Zusammenhangs von Religion und Theologie in mehrfacher Hinsicht „auf Bewußtsein und Tätigkeit desjenigen Subjekts, das das menschliche Bindeglied zwischen beiden Institutionen darstellt, des Pfarrers also, der in seiner Rolle als ‚Lehrer der Religion‘ theologische Ausbildung mit der Wahrnehmung religiöser Bedürfnisse vermittelt“⁵. Die Deutungstheorie der Unterscheidung von Theologie und Religion, die Theorie und Praxis in ihr je verschiedenes Recht setzt, besaß insofern eine systematisch begründete Affinität zur alten Pastoraltheologie, die – sei es als Anwendung der Dogmatik wie in der Orthodoxie, sei es als Sinnerfüllung aller Theologie überhaupt wie im Pietismus – die Kunstregeln des pastoralen Handelns zusammenstellte. Und dass diese – sachlich konsequente – Verbindung zu Zeiten Schleiermachers nicht unüblich war, ließe auch der Blick in zeitgleich mit der ersten Auflage der Kurzen Darstellung entstandene Grundlegungen der Praktischen Theologie erkennen – zum Beispiel die ebenfalls 1811 erschienene Grundlegung des weitgehend vergessenen Tübinger Theologieprofessors Valentin Friedrich Baur (1757– 1813).⁶

 Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 1. Auflage (1811), in: Ders.: Universitätsschriften (s. Anm. 1), 243 – 315 (Sigle KD1), 72 (Orig.pag.) § 2, 300; vgl. die Parallelformulierung KD2 § 258, 416.  Botho Ahlers: Die Unterscheidung von Theologie und Religion. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Praktischen Theologie im 18. Jahrhundert, Gütersloh 1980.  AaO. 155.  Valentin Friedrich Baur: Ueber das Verhältniß der practischen Theologie zur wissenschaftlichen. Für angehende und wirkliche Religions-Lehrer und zur Beförderung eines gründlichen Studiums der wissenschaftlichen Theologie, Tübingen 1811. Im Einzelnen dazu Ch. Albrecht: Enzyklopädische Probleme (s. Anm. 2), 16 f.

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Mir scheint, dass diese Bestimmung der Aufgabe der Praktischen Theologie auch gegenwärtig schwer übertroffen werden kann. Die Praktische Theologie, so ließe sich vorläufig sagen, hat die Aufgabe, die Selbständigkeit der gelebten Religion in einer theologischen Weise zu erfassen – dies aber nicht so, dass sie primär auf religionstheoretische oder religionssoziologische Phänomene abzielt, sondern dass sie als theologische Subdisziplin den handlungsorientierenden Praxisbezug der Theologie als ganzer repräsentiert, und zwar als eine dem Inneren der Theologie als ganzer entstammende Dimension. Doch das markiert, als eine Aufgabe, eher den Ausgangspunkt als das Ergebnis der Überlegungen und muss nun in vielfacher Hinsicht präzisiert werden, und es ist zweckmäßig, dazu wieder zu Schleiermacher zurückzukehren.

2 Der Doppelcharakter der Praktischen Theologie in Schleiermachers Konzeption Bekanntlich besteht eine wesentliche Bedeutung von Schleiermachers Bestimmung der Praktischen Theologie darin, selbige in den Rang einer vollwertigen theologischen Subdisziplin erhoben zu haben. Man versteht das vollständig nur, wenn man sich kurz den Charakter der vormodernen Praktischen Theologie in Erinnerung ruft. Diese konnte mit Fug und Recht als ein Appendix der eigentlichen, wissenschaftlichen Theologie gelten, der – etwa in Form einer elementarisierten Dogmatik oder Ethik – eine Sammlung von Regeln zur Anwendung der wissenschaftlichen Theologie für die Predigt und den Unterricht enthielt. Demgegenüber liegt Schleiermachers enzyklopädischer Auffassung der Praktischen Theologie eine Konzeption zugrunde, der zufolge ihr ein vollgültiger und eigenständiger wissenschaftlich-theologischer Status zukommen soll. Zunächst einmal: Die Praktische Theologie ist eine technische Disziplin, die „Kunstregeln“⁷ für die Praxis des kirchenleitenden Handelns formuliert. Schon damit ist sie bereits mehr und anderes als eine Sammlung von Anwendungsvorschriften einer elementarisierten Dogmatik oder Ethik und mehr auch als eine bloße Sammlung von Verfahrensrezepten und Klugheitsregeln. Denn die Kunstregeln soll die Praktische Theologie aufstellen in der Orientierung an den philosophisch-theologischen und historisch-theologischen Vorgaben. Dieser Zusammenhang wird von Schleiermacher ausdrücklich präzisiert, insofern die Praktische Theologie nicht die „Aufgaben richtig fassen lehren“ kann, sondern es nur mit der „richtigen Verfahrungsweise bei der Erledigung“ dieser Aufgaben zu  KD2 § 265, 420.

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tun hat.⁸ Das wiederum hörte und hört kein Praktischer Theologe gern,weil es dem Postulat der Vollgültigkeit und Selbständigkeit der Praktischen Theologie entgegenzustehen scheint – und es ist darum kein Wunder, dass diese Vorstellung Schleiermachers von der Generation seiner unmittelbaren Schüler an bis in die Gegenwart in Bausch und Bogen abgelehnt wird. Berührt ist hier, im Kern, das Problem des Verhältnisses zwischen der Praktischen Theologie und den übrigen Disziplinen. Ich komme darauf später zurück. Zunächst geht es mir weiter um die Rekonstruktion dessen, was Schleiermacher meint. Die Aufgabenbestimmung selbst also fällt in den Bereich der Philosophischen und der Historischen Theologie, die deswegen für die Praktische Theologie vorauszusetzen sind: „Die praktische Theologie will nicht die Aufgaben richtig fassen lehren; sondern, indem sie dieses voraussezt, hat sie es nur zu thun mit der richtigen Verfahrungsweise bei der Erledigung aller unter den Begriff der Kirchenleitung zu bringenden Aufgaben. – Für die richtige Fassung der Aufgaben ist durch die Theorie nichts weiter zu leisten, wenn philosophische und historische Theologie klar und im richtigen Maaß angeeignet sind.“⁹

Was macht die „Klarheit“ und das „richtige Maß“ der Aneignung aus? Davon hängt für das Verständnis alles ab. Und auf die Spur wird man gesetzt, wenn man sich noch einmal den beiden Begriffen der ‚Kunstregel‘ und der ‚technischen Disziplin‘ zuwendet. Zunächst zu den Kunstregeln: Die von der Praktischen Theologie aufzustellenden Kunstregeln zielen nicht auf ihre mechanische Befolgung, sondern auf die individuell begründete Inanspruchnahme durch den gebildeten Kleriker. Das Spezifikum der praktisch-theologischen Kunstregeln besteht darin, dass sich ihre Anwendung nicht mehr auf Regeln bringen lässt, sondern ein eigenes Vermögen, ein „Talent“, voraussetzt, das weder mit der theoretischen Kenntnis der Regeln noch der eingeübten Fähigkeit zu ihrem Vollzug identisch ist. Die Anwendung von Kunstregeln der Praktischen Theologie, an die Schleiermacher denkt, setzt also „die subjekthafte Entscheidungskompetenz der im kirchlichen Interesse und auf der Basis ihrer theologischen Bildung Handelnden“¹⁰ voraus. Sodann zu einer Pointe, die in der Qualifizierung der Praktischen Theologie als einer ‚technischen Disziplin‘ enthalten ist. Aus ihr geht nun nämlich eine Näherbestimmung der im Begriff der Kunstregeln geforderten gebildeten Ent KD2 § 260, 418.  KD2 § 260 mit Zs., ebd.  Wilhelm Gräb: Praktische Theologie als Theorie der Kirchenleitung: Friedrich Schleiermacher, in: Christian Grethlein/Michael Meyer-Blanck (Hg.): Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker (APrTh 12), Leipzig 2000, 67– 110, 97.

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scheidungskompetenz hervor. Die Architektonik von Schleiermachers System der Wissenschaften rechnet damit, dass zur Vermittlung von spekulativen und empirischen Wissenschaftstypen überbrückende bzw. verbindende Disziplinen notwendig sind, die sogenannten „kritischen“ und die „technischen“ Disziplinen. Dabei kommt den kritischen Disziplinen (zu ihnen rechnet Schleiermacher etwa die Religionsphilosophie oder die Ästhetik) die Aufgabe zu, das in der Geschichte empirisch Gegebene mit dem in der Vernunft spekulativ Entfalteten so zu vergleichen, dass eine begründete Beurteilung der einzelnen geschichtlichen Erscheinungen ermöglicht wird. Dagegen vergleichen die technischen Disziplinen (zu ihnen zählt Schleiermacher etwa Pädagogik, Hermeneutik oder Praktische Theologie) in umgekehrter Richtung die spekulative Konstruktion mit dem empirisch Gegebenen, um Kriterien für das Handeln im geschichtlich Gegebenen zu gewinnen. „Ihre Aufgabe ist die Ermittlung und Beschreibung derjenigen Bedingungen, die eine angemessene und daher gelungene Praxis innerhalb einzelner geschichtlicher Erscheinungen (Staat, Kirche, Wissenschaft) ermöglichen.“¹¹ Die Kompetenz derer, die die Kunstregeln anwenden, besteht also darin, dass sie vermittels der in der technischen Disziplin der Praktischen Theologie enthaltenen Kunstregeln selbst in die Lage versetzt werden, von diesen Kunstregeln einen der Sache wie der individuellen Situation angemessenen Gebrauch machen zu können¹² – oder anders gesagt: dass sie „auf handlungsorientierende Weise zwischen dem kategorialen Wissen um die konstitutiven Phänomene der menschlich-geschichtlichen Welt einerseits und ihrer empirischen Wahrnehmung andererseits zu vermitteln suchen“¹³. Das aber bedeutet, und darauf kommt es nun entscheidend an, dass die Praktische Theologie selbst über ein reflexionstheoretisches Bewusstsein der Differenz zwischen der theoretisch-theologischen Auffassung christlich-kirchlichen Lebens und den religionspraktischen Lebensformen des kirchlichen Christentums verfügen muss. Dieses Bewusstsein ist nicht einfach identisch mit dem Bewusstsein der Differenz von Religion und Theologie, das ja bekanntlich zu den Konstitutionsmomenten des Schleiermacher’schen Theologieprogramms überhaupt zählt und die Konzeption sowie den Vollzug der Theologie in all ihren Teilen

 Martin Rössler: Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie (SchlA 14), Berlin/New York 1994, 30 f.  Wilhelm Gräb: Kirche als Gestaltungsaufgabe. Friedrich Schleiermachers Verständnis der Praktischen Theologie, in: Günter Meckenstock/Joachim Ringleben (Hg.): Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums (TBT 51), Berlin/New York 1991, 147– 172, 165.  W. Gräb: Praktische Theologie als Theorie der Kirchenleitung (s. Anm. 10), 97.

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bestimmt.¹⁴ Es ist aber so, dass die Differenz von Religion und Theologie für die Konstitution der Praktischen Theologie eine herausragende Bedeutung gewinnt, wenn in der Praktischen Theologie nun insbesondere das Bewusstsein des kirchlich Handelnden für die Differenz zwischen theoretisch-theologischen Lehrbestimmungen und den empirischen Formen der christlich-kirchlichen Lebenswelt geschärft werden soll – und zwar so geschärft werden soll, dass er in die Lage versetzt ist, die von der Theologie unterschiedene Welt der gelebten Religion innerhalb der Theologie selbst thematisch werden zu lassen, als ein Thema der Theologie zu formulieren. Das ist eine, wie sich leicht vorstellen lässt, bis heute gültige, anspruchsvolle Aufgabe der Praktischen Theologie, an der kaum sinnvoll Abstriche zu machen sind. Als vorläufiges Ergebnis kann man also festhalten, dass Schleiermachers Funktionsbeschreibung der Praktischen Theologie zwei Momente erkennen lässt: Zum einen enthält die Praktische Theologie die Kunstregeln des Amtshandelns, zum anderen kultiviert sie auch das theoretische Bewusstsein der Differenz und der Vermittlungsbedürftigkeit zwischen theologisch-theoretischem Lehrbegriff und empirischen Vollzügen der christlich-kirchlichen Lebenswirklichkeit. Es ließe sich nachzeichnen, dass sich alle Grundlegungen der Praktischen Theologie seit Schleiermacher und bis in die Gegenwart unter anderem an dieser von Schleiermacher skizzierten Aufgabe abarbeiten (auch dort, wo das als solches nicht gewusst wird), indem sie eine – und sei es implizite – Bestimmung dieses Verhältnisses vornehmen.¹⁵ Es zeigt sich nun aber, dass im Doppelcharakter der Praktischen Theologie überdies wesentliche Bestimmungen des Verhältnisses zwischen der Praktischen Theologie und den übrigen theologischen Disziplinen angelegt sind – und auch wesentliche Probleme. Dem möchte ich mich im nächsten Abschnitt zuwenden.

 Vgl. dazu nur Martin Laube: Zur Stellung der Praktischen Theologie innerhalb der Theologie – aus systematisch-theologischer Sicht, in: Christian Grethlein/Helmut Schwier (Hg.): Praktische Theologie. Eine Theorie- und Problemgeschichte (APrTh 33), Leipzig 2007, 60 – 136, 68 – 86.  Den Versuch einer solchen Nachzeichnung habe ich unternommen in Ch. Albrecht: Enzyklopädische Probleme (s. Anm. 2), 24– 55.

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3 Das Verhältnis zwischen der Praktische Theologie und den übrigen theologischen Disziplinen Das hier weiter zu verfolgende, tiefere Problem von Schleiermachers Einzeichnung der Praktischen Theologie in den Zusammenhang der theologischen Disziplinen wurzelt, so zeigt sich, in dem Doppelcharakter, der der Praktischen Theologie zukommt. Sie enthält einerseits eine Sammlung von Kunstregeln des Amtshandelns, die sich aus den Vorgaben der anderen Disziplinen ergeben – andererseits muss sie zugleich eine Reflexionstheorie auf die Differenz und die Vermittlungsbedürftigkeit zwischen theologisch-theoretischem Lehrbegriff und empirischen Vollzügen der christlich-kirchlichen Lebenswirklichkeit enthalten, um die Kunstregeln sinnvoll auszuwählen und zu begründen: keine homiletische Kunstregel ohne ein Bewusstsein des Verhältnisses zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Predigt, keine liturgische Kunstregel ohne ein Bewusstsein des Verhältnisses zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Gottesdienstes usw. Die Praktische Theologie ist ebenso sehr Kunstlehre des Amtshandelns wie Reflexionstheorie des Verhältnisses zwischen theologisch-theoretischem Lehrbegriff und empirischen Vollzügen christlich-kirchlicher Lebenswirklichkeit – und zwar, wie man schnell einsieht, einschließlich aller prinzipiellen Voraussetzungen und Bedingungen, die für den Vollzug einer solchen Reflexionstheorie unerlässlich sind. Die Problematik dieses Doppelcharakters der Praktischen Theologie zeigt sich nun in ihrer vollen Schärfe, wenn man ihn in der Perspektive des Verhältnisses der Praktischen Theologie zu anderen theologischen Disziplinen betrachtet. Einerseits: Sofern die Praktische Theologie Elemente einer Kunstlehre des Amtshandelns enthält, deren Begründungen in anderen theologischen Disziplinen liegen, ist sie recht eigentlich nicht eine eigenständige und vollgültige theologische Disziplin, sondern enthält Anweisungen und Regeln, deren Zusammenstellung selbst nicht mehr als wissenschaftlich gelten kann. Andererseits: Sofern die Praktische Theologie Elemente einer Reflexionstheorie des Verhältnisses zwischen theologischem Begriff und christlich-kirchlicher Wirklichkeit ist, behandelt sie Fragestellungen, die zunächst einmal in das Feld anderer Disziplinen gehören, etwa in eine systematisch-theologische Theorie der gegenwärtigen Religion oder in eine historisch-theologische Erfassung des christlich-kirchlichen Lebens in der Gegenwart. Die Praktische Theologie kann also auch in dieser Perspektive ebenfalls nicht ohne weiteres als eine eigenständige theologische Disziplin gelten, sondern nur als eine, die aus den Anleihen bei ihren theologischen Schwesterdisziplinen lebt, deren Erwägungen sie bestenfalls verdoppelt, schlimmstenfalls

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verzerrt. Die Skala dieser Verzerrungen dürfte jedem, der einmal mit der Praktischen Theologie zu tun gehabt hat, vertraut sein. Am äußeren Rand des einen Skalen-Endes sitzt jener Typus des Praktischen Theologen, der die Überlegungen der übrigen Disziplinen souverän ignoriert oder sogar dazu auffordert, die wirklichkeitsfremden, normativ aufgeladenen Überlegungen der Historiker und Dogmatiker jetzt schnell zu vergessen und ganz praktisch zu denken – das ist leider keine Erfindung, wenn man an gewisse Seminare denkt. Am anderen Ende der Skala findet sich jener Typus des Praktischen Theologen, der die Erwägungen anderer Disziplinen unbefangen zu Normen der praktisch-theologischen Reflexion oder gar der praktischen Gestaltung des kirchlichen Lebens macht. Auch das ist leider keine Erfindung, wie jeder weiß, der zum Beispiel auf den präskriptiven Rang exegetischer Ausführungen in bestimmten Lehrbüchern der Praktischen Theologie denkt. Das in der Zuspitzung beschriebene Problem besteht, kurz gesagt, in Folgendem: Entweder respektiert die Praktische Theologie ihre Beschränktheit als Kunstregelsammlung, gibt insofern ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit preis und katapultiert sich damit aus dem Kreis der theologischen Disziplinen – oder sie versucht, dem ihr zugeschriebenen wissenschaftlichen Charakter zu entsprechen, indem sie Begründungsgänge anderer theologischer Disziplinen wiederholt oder umformt, um dabei aber doch zwangsläufig immer wieder in den Konflikt mit diesen anderen theologischen Disziplinen zu geraten. Dieses Grundproblem, das das Verhältnis zwischen der Praktischen Theologie und den anderen theologischen Disziplinen bestimmt, ist der Praktischen Theologie seit Schleiermacher aufgegeben. Es liegt in der Spannung zwischen der Zweckbestimmung der Praktischen Theologie, Kunstregeln enthalten zu sollen, die gerade keinen Wissenschaftsanspruch erheben – und der Verfahrensbestimmung der Praktischen Theologie, für diese Kunstregeln wissenschaftliche Begründungen parat haben zu sollen, deren Entfaltung nicht mit den Zweck- und Verfahrensbestimmungen oder den ausgeführten Themen der anderen theologischen Disziplinen kollidiert bzw. konkurriert. Schleiermacher hat der Praktischen Theologie diese Spannung als stets neu zu reflektierendes Grundproblem ihres Selbstverständnisses nachgewiesen und aufgegeben. Die produktive Wirkung dieser Problemanzeige ist kaum zu überschätzen. Es lässt sich zeigen, dass die praktisch-theologischen Modelle des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen das Verhältnis der Praktischen Theologie zu den anderen theologischen Disziplinen bestimmt werden sollte, gelesen werden müssen als faktische Auseinandersetzungen mit den von Schleiermacher zusammengestellten Aspekten und Elementen, die zu jener Grundspannung geführt haben, und zwar auch dort, wo diese Auseinandersetzung nicht explizit geführt wird.Vielleicht lässt sich sogar sagen, dass die Markierung dieses Grundproblems

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Schleiermachers eigentlichen Rang als „Urheber der prakt[ischen] Theol[ogie] als Wissenschaft“¹⁶ ausmacht; jedenfalls übersteigt die Wirkung dieser Problemanzeige bei weitem die Durchsetzungskraft seiner enzyklopädischen Bestimmungen der Praktischen Theologie. Doch das will ich hier nicht weiterverfolgen. Vielmehr will ich mich im Folgenden zwei Fragen des Verhältnisses zwischen der Praktischen Theologie und den übrigen Disziplinen zuwenden, und zwar jeweils wiederum im Ausgang von Schleiermacher. Zum einen: wie ist das Gefüge zwischen der Praktischen Theologie und den übrigen Disziplinen grundsätzlich gedacht? Und zum anderen: wie ist das Verfahren des Bezugs der Praktischen Theologie auf Einsichten anderer Disziplinen konzipiert?

3.1 Das Programm des Gefüges zwischen der Praktischen Theologie und den übrigen Disziplinen Bekanntlich verdanken sich Schleiermachers Programm zufolge alle drei theologischen Disziplinen, wenn auch in verschieden starkem Maße, dem Zweckmäßigkeitskriterium und dem Praxisbezug der Theologie insgesamt und realisieren den Bezug auf die geschichtliche Praxis der Kirchenleitung auf je eigene Weise.¹⁷ Im Einzelnen ist das Verhältnis der theologischen Disziplinen zueinander dabei aber gleichzeitig durch hierarchische wie durch wechselseitig präzisierende Beziehungen geprägt. Zum einen ist nämlich die Interaktion der Disziplinen durch das Verhältnis einer „gestuften Fundierung“¹⁸ bestimmt: „Die Kunstregeln der Praktischen Theologie setzen die Kenntnisse der Historischen voraus, die ihrerseits auf eine Grundlegung ihrer geschichtlichen Daten durch die Philosophische Theologie angewiesen ist.“¹⁹ Zum anderen ist das Verhältnis der theologischen Disziplinen untereinander aber auch durch das Verhältnis der Komplementarität bestimmt. Sie sind wechselseitig aufeinander angewiesen, sie präzisieren sich gegenseitig und vor allem: Sie beinhalten einander in vermittelter Weise. Denn die Historische Theologie bildet aufgrund der gewaltigen Masse ihres geschichtlichen Materials den „eigentlichen Körper“²⁰ des theologischen Studiums; ihr kommt daher „eine gewisse Universalität“ zu, weil sie „auf geschichtliche Weise“ die

 Ernst Christian Achelis: Praktische Theologie, Bd. 1: Einleitung. – Die Lehre von der Kirche und ihren Ämtern. – Katechetik. – Homiletik. – Poimenik, Freiburg i.B. 1890, 4.  Vgl. KD2 § 66. Vgl. dazu auch M. Rössler: Philosophische Theologie (s. Anm. 11), 141– 146.  AaO. 134 f, in Aufnahme eines Ausdrucks von Hans-Joachim Birkner.  AaO. 134.  KD2 § 28, 336.

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beiden anderen Disziplinen in sich schließt.²¹ Aber auch die Philosophische Theologie umfasst die beiden anderen Disziplinen „implicite, weil sie die Principien enthält“²² und der Historischen Theologie die „Begründung“, der Praktischen Theologie dagegen die „Norm“ bereitstellt.²³ Und schließlich enthält die Praktische Theologie die beiden anderen Disziplinen „auf technische Weise“²⁴, denn sie setzt die „richtige Fassung der Aufgaben“²⁵ durch ihre Schwesterdisziplinen voraus. Insofern sind in jeder Disziplin auch die beiden anderen jeweils in spezifischer Form enthalten. Sie setzen einander wechselseitig voraus und nehmen sich gegenseitig in Anspruch.²⁶ Darin zeigt sich der enge Zusammenhang aller drei Disziplinen: „Dieß ist nun eben das Wesen der Theologie als eines Ganzen, daß […] kein Theil derselben absolut ausser dem anderen ist“²⁷. Daher kann auch keine einzelne Disziplin als „die eigentliche“ bezeichnet werden, der die anderen nur als „Hülfswissenschaften“ untergeordnet wären – vielmehr besteht in Schleiermachers enzyklopädischer Konzeption eine prinzipielle „Gleichstellung“ aller drei Disziplinen.²⁸ Der Betrieb der Praktischen Theologie ist also von demjenigen der übrigen theologischen Disziplinen zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Indem die Praktische Theologie als Theorie in den Zusammenhang der theologischen Gesamtaufgabe eingezeichnet wird und im Horizont ihrer Disziplinen verankert wird, wird die Praktische Theologie zur integralen Reflexionswissenschaft auf die Bedingungen und Möglichkeiten christlich-kirchlichen Handelns überhaupt. Die Praktische Theologie ist nicht mehr einfach der anwendungsorientierte Teil der Theologie. Ihre Aufgabe ist nicht mehr einfach die Anwendung des in anderen theologischen Disziplinen Erarbeiteten, ihre Funktion ist nicht mehr einfach die Sichtung biblisch-theologischer, historisch-theologischer und systematischtheologischer Einsichten mit dem Ziel, überflüssigen Ballast hinauszuwerfen, um dann das Allernotwendigste zu didaktisieren, zu operationalisieren und zu elementarisieren.

 Friedrich Schleiermacher: Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß, hg.v. Walter Sachs (SchlA 4), Berlin/New York 1987, 27.  AaO. 28.  AaO. 41.  AaO. 28.  KD2 § 260 Zs., 418.  Das Folgende nach M. Rössler: Philosophische Theologie (s. Anm. 11), 141.  F. Schleiermacher: Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 21), 28.  Friedrich Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Bd. I/13: Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg.v. Jacob Frerichs, Berlin 1850 (Ndr. Berlin/New York 1983), 12.

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Die Praktische Theologie ist vielmehr seit Schleiermacher die berufsführungsspezifische Perspektivierung der theologischen Gesamtreflexion. Die Praktische Theologie beteiligt sich an der Gesamtheit theologischer Reflexion unter ihrer eigenen Fragestellung, das heißt: Sie setzt die Reflexionsleistungen anderer theologischer Disziplinen voraus, nimmt sie umbildend in Anspruch und ordnet sie in ihre eigenen Fragestellungen ein. Die Aufgabe der Praktischen Theologie besteht also darin, gesamttheologische Wissensbestände unter der ihr eigenen Perspektive zusammenzustellen und zu akzentuieren, nötigenfalls auch zu rekonstruieren und zu reformulieren. Es ist dabei zu unterstreichen, dass die eigene Perspektive der Praktischen Theologie eine Perspektive ist, die der Theologie insgesamt aufgegeben ist und die die Praktische Theologie gleichsam stellvertretend wahrnimmt. Denn die Fokussierung auf das Praxisverständnis christlichkirchlicher Religion ist grundsätzlich ein Anliegen der Theologie insgesamt, das von der Praktischen Theologie im Sinne einer Entlastung der übrigen Disziplinen vertreten wird. Diese Fokussierung auf das Praxisverständnis christlich-kirchlicher Religion ist nicht Vorrecht oder alleinige Aufgabe eines einzelnen Faches, sondern ein Element und Aspekt aller theologischen Fächer. Die Praktische Theologie repräsentiert dabei eine Sachdimension, die der Theologie als ganzer aufgegeben ist. Sie vertritt eine Einstellung des Interesses und des Horizontes auf die Praxis des Christentums, die die Arbeit der Theologie auch in ihren historischen und systematischen Teilen mitbestimmt. Denn die Theologie ist als ganze praktisch, so wie sie auch als ganze historisch und systematisch verfährt. Freilich hat, in wissenschaftsorganisatorischer Hinsicht, genau darum die funktionale Differenzierung der Theologie in verschiedene Disziplinen, die jeweils eine der Theologie als ganzer aufgegebene Fragestellung repräsentieren, ihren guten Grund. Zwar verdankt sich die theologische Disziplinenmatrix vielfach Grenzziehungen, die nicht unbedingt dem tatsächlichen Vollzug der Arbeit in den Disziplinen entsprechen. Aber gerade deswegen muss die Differenzierung der Theologie in mehrere Disziplinen als Ausdruck einer notwendigen und sinnvollen Arbeitsteilung verstanden werden, deren Funktion in der „gegenseitigen Entlastung“²⁹ der Disziplinen besteht. Diese Funktion bildet das Prinzip des Zusammenhanges der theologischen Disziplinen untereinander. „Die Praktische Theologie entlastet die übrigen theologischen Disziplinen von der Notwendigkeit, selber praktisch werden zu müssen, indem sie das Praktisch-Werden-Können der Theologie verantwortet.“³⁰  Eberhard Jüngel: Das Verhältnis der theologischen Disziplinen untereinander (1968), in: Ders.: Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen (BEvTh 61), München 1972, 34– 59, 53 u. ö.  AaO. 59.

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Diese Einsicht stellt die Umsetzung von Schleiermachers Idee der positiven Wissenschaft und ihrer Anwendung auf die Praktische Theologie dar. Die Praktische Theologie verdankt ihre spezifische Funktion, ihre spezifische Fragestellung, ja selbst ihre Praxisperspektive nicht sich selbst, sondern sie verdankt sie dieser ihr von außen, nämlich von der Theologie als ganzer zugeschriebenen Zweckbestimmung. Nun hat allerdings das Entlastungs- oder Delegationsmodell, das in Schleiermachers Bestimmung der positiven Wissenschaft enthalten ist, Konsequenzen nicht nur für den Begründungsvorgang und den Wissenschaftsstatus der Praktischen Theologie, sondern – darin eingeschlossen – auch für das Verfahren, nach dem sie zu ihren eigenen Wissensbeständen kommt. Auf diese Konsequenzen kommt es im vorliegenden Zusammenhang insbesondere an.

3.2 Praktisch-theologische Theoriebildung im Beleihungsverfahren Abschließend gilt die Aufmerksamkeit darum dem Verfahren der Bezugnahme der Praktischen Theologie auf Einsichten der anderen theologischen Disziplinen. Dazu ist in aller Kürze noch einmal an die zentrale Pointe von Schleiermachers Bestimmung einer positiven Wissenschaft zu erinnern: Das wesentliche Kennzeichen positiver Wissenschaften besteht darin, dass in ihnen ganz verschieden herkünftiges Einzelwissen in eigenen, zweckbezogenen Ensembles zusammengeordnet ist. Für die Theologie als positive Wissenschaft heißt dies: Sie ist keine reine, aus der Idee des Wissens selbst sich ergebende Wissenschaft, sondern sie entleiht aus anderen Wissenschaften dasjenige Wissen, das sie zur Erfüllung ihres Zwecks benötigt. Es handelt sich bei der theologischen Wissenschaft um ein Ensemble von solchen Wissensbeständen, die zweckbezogen zusammengestellt worden sind zur Lösung einer praktischen Aufgabe, nämlich zur Leitung der christlichen Kirche. Das Proprium der theologischen Wissenschaft insgesamt sowohl als auch ihrer einzelnen Disziplinen besteht mithin niemals in speziellen Wissensgehalten, sondern vielmehr in der spezifischen Zusammenstellung und Anordnung allgemein verfügbaren Wissens. Was die Theologie zur Theologie macht und von anderen Wissenschaften unterscheidet, ist weder ein Fundus an Sonderwissen, den sie über andere Wissenschaften hinaus besäße noch ein Bestand an eigenen Methoden, die ihr im Unterschied zu anderen Wissenschaften zu Gebote stünden, sondern was die Theologie zur Theologie macht und von anderen Wissenschaften unterscheidet, ist einzig und allein die durch ihren Zweck be-

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stimmte Zusammenstellung von Wissensbeständen aus anderen Wissenschaften.³¹ Dieses Kennzeichen der theologischen Wissenschaft gilt für die Theologie als ganze, es gilt insbesondere aber auch für ihre einzelnen Disziplinen.³² Nicht nur der interdisziplinäre Konstitutionscharakter der Theologie insgesamt ist von Schleiermacher gesehen, sondern es ist damit zugleich auch der interdisziplinäre Konstitutionscharakter ihrer einzelnen Disziplinen bereits erkannt. Das soll im Blick auf das mich hier beschäftigende Beispiel der Praktischen Theologie verdeutlicht werden. Schleiermacher muss zwei Formen des Beleihungsverfahrens voraussetzen. Erstens gilt auch für die Praktische Theologie, was für die Theologie als ganze gilt: Sie stellt aus dem Reich des Gesamtwissens dasjenige zusammen, was sie zur ihrer Zweckerfüllung benötigt. Sie entleiht sich das Wissen aus den realen Wissenschaften.³³ Schleiermacher hat hier, in Bezug auf einige Aufgaben der technischen Disziplin Praktische Theologie, gelegentlich beispielsweise die Rhetorik³⁴, aber auch die Psychologie³⁵ genannt. Dieses Verfahren einer Beleihung von nichttheologischen Disziplinen hat sich in der neuzeitlichen Praktischen Theologie als selbstverständlich, unvermeidlich und unproblematisch eingespielt. Es ist innerhalb und außerhalb der Praktischen Theologie nicht ernsthaft umstritten, und die Geschichte der Praktischen Theologie hält hierfür zahlreiche höchst anschauliche Beispiele bereit. Es sei nur auf die Öffnung etwa der Homiletik für rhetorische Fragestellungen oder die Öffnung der Seelsorgelehre für psychoanalytische Erwägungen verwiesen und zugleich darauf, dass diese Öffnungen stets die allgemeinwissenschaftliche Anschlussfähigkeit der Praktischen Theologie unter Beweis stellten und zu einer Effizienzsteigerung in den jeweiligen Disziplinen führten. Daneben muss für die Praktische Theologie aber noch eine zweite Form des Beleihungsverfahrens vorausgesetzt werden. Denn die Praktische Theologie beleiht faktisch auch ihre Schwesterdisziplinen, die Historische und die Philosophische Theologie. Die Praktische Theologie integriert Kenntnisse und Wissensbestände in ihre eigenen Vollzüge, die sie der Philosophischen und der

 Eine systematische Interpretation von Schleiermachers Konzept der positiven Wissenschaft in der Ausdeutung der zahlreichen, allerdings weit verstreuten Quellenbelege findet sich bei M. Rössler: Philosophische Theologie (s. Anm. 11), 44– 64.  Im Folgenden knüpfe ich an Überlegungen an, die ich vorgetragen habe in Christian Albrecht: Bildung in der Praktischen Theologie, Tübingen 2003, 108 – 113.  KD2 § 6.  F. Schleiermacher: Praktische Theologie (s. Anm. 28), 6.  F. Schleiermacher: Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 21), 10.

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Historischen Theologie entnimmt. Dass jene Schwesterdisziplinen die einschlägigen Wissensbestände ihrerseits zuvor aus nichttheologischen, realwissenschaftlichen Mutterdisziplinen entlehnt haben, ficht die Praktische Theologie dabei nicht an. Für sie wird vielmehr jenes Wissen überhaupt erst dadurch relevant, dass die theologischen Schwesterdisziplinen es aus Zweckmäßigkeitsgründen in ihre Wissensensembles aufgenommen haben. Erst weil jenes Wissen in zweckmäßiges philosophisch-theologisches und historisch-theologisches Wissen transfomiert worden ist, gewinnt die Praktische Theologie Gründe, es selbst zur Kenntnis zu nehmen. In der Tat hat Schleiermacher damit gerechnet, dass die Wesensbestimmungen der Philosophischen Theologie und das empirisch-historische Datenmaterial der Historischen Theologie am jeweiligen Ort zwar bereitgehalten werden, dass beides aber innerhalb der Praktischen Theologie noch einmal eigens rezipiert werden muss, und dass die Rezeption dieser Kenntnisse der Aufstellung der Kunstregeln innerhalb der Praktischen Theologie noch einmal vorangehen muss. Denn Wesensformeln und Datenmaterial, die sogenannten „Zweckbegriffe“, stehen in der Philosophischen und Historischen Theologie nur als Einzelmaterial zur Verfügung, das erst durch die Einordnung in den Zusammenhang der praktisch-theologischen Zwecke seine Relevanz als „Aufgabe“ der Praktischen Theologie gewinnen kann. Denn unbestritten gilt: „Diese Zweckbegriffe selbst, die Aufgaben, sind in der philosophischen Theologie in ihrer Beziehung mit der historischen enthalten, und die praktische Theologie hat nur die richtige Methode der Lösung anzugeben.“³⁶ Dabei rechnet Schleiermacher nun offensichtlich damit, dass eine hinreichende und umfassende Einsicht in die Aufgaben der Praktischen Theologie erst durch die Rezeption der philosophisch- und historisch-theologischen Wissensbestände innerhalb der Praktischen Theologie selbst zustande kommen kann: „Wirklich können die Aufgaben auch nicht in der philosophischen oder historischen Theologie vorkommen, weil sie immer ein schlechthin Einzelnes sind; aber die philosophische und historische Theologie, angewandt auf den gegebenen Kreis der Kirche, geben dann die Aufgaben. Wenn nun aber die Aufgaben selbst nicht vorkommen in der philosophischen und auch nicht in der historischen Theologie, – die praktische Theologie muß sie aber doch voraussezen, wo kommen sie dann vor? Es fehlt hier ein Mittelglied, und es scheint nothwendig, daß die praktische Theologie auch müsse ein Verhältniß zur Feststellung der Aufgaben haben. Allerdings hat die praktische Theologie die Aufgaben, welche jedem aus

 AaO. 251. Eben diesen Gedanken hatte ja auch der oben in anderem Zusammenhang bereits zitierte § 260 von KD2 entfaltet.

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seiner philosophischen und historischen Theologie einzeln entstehen, zu subsumiren und darnach zu classificiren.“³⁷

Das bedeutet, und darauf kommt es hier entscheidend an: An der Hauptfunktion der Praktischen Theologie, „Regel[n] zur Lösung der Aufgaben“³⁸ zu geben, macht Schleiermacher keine Abstriche. Aber er setzt realistischerweise voraus, dass diese Funktion erst erfüllt werden kann, wenn die Praktische Theologie zuvor die philosophisch-theologischen Rahmenbedingungen und die historisch-theologischen Gehalte ihrer Aufgaben in ihren eigenen Zusammenhängen rekonstruiert hat.³⁹ Diese Rekonstruktion oder Rekapitulation in eigenen Zusammenhängen ist erstens deswegen nötig, weil die Praktische Theologie jene Rahmenbedingungen und Gehalte erst in einen zweckmäßigen praktisch-theologischen Zusammenhang stellen muss, der am philosophisch-theologischen und historisch-theologischen Ort schlechterdings noch nicht ohne weiteres erkennbar sein kann. Und sie ist zweitens deswegen nötig, weil philosophisch-theologische Wesensformel und historisch-theologische Datensammlungen selbst der Gesetzmäßigkeit historischer Wandlungen unterworfen sind, mithin als „Urtheil über die Gegenwart nicht als absolut abgeschlossen vorausgesezt werden“⁴⁰ können, sondern innerhalb der Praktischen Theologie noch einmal eigens auf ihre Angemessenheit und Zeitgemäßheit hin befragt werden müssen. Sie müssen befragt werden unter dem Gesichtspunkt, ob sie der praktisch-theologischen Aufgabe einer Optimierung gegenwärtiger und zukünftiger Praxis des christlichen Lebens gemäß sind oder dementsprechend modifiziert werden müssen. Man muss allerdings zugeben, dass diese zweite Form der Beleihung, also: die Zusammenstellung praktisch-theologischen Wissens durch die Integration philosophisch-theologischer und historisch-theologischer Wissensbestände, innerhalb und außerhalb der Praktischen Theologie nach Schleiermacher bei weitem nicht so selbstverständlich und unstrittig eingespielt ist wie die erste Form der praktisch-theologischen Beleihung nichttheologischer Wissensbestände. Dafür wird man eine ganze Reihe von Gründen finden können, die allerdings überwiegend pragmatischer Natur sind, weil sie mit den Notwendigkeiten des wissenschaftsorganisatorischen Alltagsbetriebes der theologischen Disziplinen und

 F. Schleiermacher: Theologische Enzyklopädie (s. Anm. 21), 251.  Ebd.  Für diese Interpretation spricht nicht zuletzt auch die faktische Durchführung, die Schleiermacher seiner eigenen Praktischen Theologie gegeben hat, soweit dies rekonstruierbar ist. Vgl. dazu etwa F. Schleiermacher: Praktische Theologie (s. Anm. 28), 65 – 68. 68 – 70. 347– 349. 466 – 470. 521– 532. 569 – 571. 622– 651.  AaO. 24.

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der Gewöhnung an eingespielte Grenzziehungen zu tun haben. In prinzipieller, wissenschaftssystematischer Hinsicht wird man in der Praktischen Theologie aus Gründen des langfristigen Selbsterhalts darauf bestehen müssen: Es ist nicht schon die Rezeption nichttheologischer Bezugswissenschaftsbestände, sondern erst die stets neu demonstrierte Integrationsfähigkeit philosophisch-theologischen und historisch-theologischen Wissens in die Praktische Theologie, die die allgemeintheologische Anschlussfähigkeit der Praktischen Theologie unter Beweis stellt. Die wissenschaftlich-theologische Legitimität der Praktischen Theologie bemisst sich – neben der zweckmäßigen Belehnung nichttheologischer Sozial- und Kulturwissenschaften – insbesondere danach, in welchem Maße sie sich fähig zeigt, philosophisch-theologische und historisch-theologische Vorgaben zu rezipieren, in eigene Zusammenhänge zu stellen und somit in sich selbst zu integrieren. Damit komme ich zum Schluss meiner Überlegungen. Es ist hoffentlich deutlich geworden, warum ich der oben angeführten Auffassung bin, dass die zwei Jahrhunderte alten enzyklopädischen Bestimmungen Schleiermachers in ihrem differenzierten Problembewusstsein einen Anspruch formulieren, hinter den die Praktische Theologie der Gegenwart nicht sinnvoll zurückgehen kann, ohne ihre Aufgabe im Ensemble der theologischen Disziplinen und ihre wissenschaftliche Satisfaktionsfähigkeit zu verlieren. Die Praktische Theologie der Gegenwart mag ihren Gegenstand begründen wie sie will; in Anlehnung an Schleiermacher oder in Abgrenzung von ihm. Sie mag sich so weit ausdifferenziert haben wie sie will, sie mag ein Bewusstsein ihrer Einheit haben oder nicht. Das alles ist für ihr akademisches Bürgerrecht nicht entscheidend. Entscheidend hierfür ist vielmehr zweierlei: einmal, dass sie eine konstruktive Vorstellung von ihrem Doppelcharakter hat, dem zufolge sie wissenschaftlich-analytische Momente ebenso enthält wie die berühmten Regeln. Entscheidend ist zum anderen, dass die Praktische Theologie sich in ein konstruktives Verhältnis zu den anderen theologischen Disziplinen gesetzt hat, von denen sie sich unterscheidet, aber nicht abschneidet, indem sie es versteht, die unterschiedlichen und vielfältigen Ergebnisse der übrigen Disziplinen in einen einheitlichen, an der praktisch-theologischen Aufgabe orientierten Zusammenhang zu bringen. Es ist, so glaube ich, am Ende ganz schlicht, und ich erlaube mir, es plakativ zu sagen: Wo immer die Praktische Theologie der Gegenwart oder der Zukunft diese an ihrer neuzeitlichen Wiege stehenden, von Schleiermacher formulierten, problembewussten wissenschaftssystematischen Ansprüche aufgäbe, verlöre sie ihre Identität als Theorie der Praxis, fiele aus dem Kreis der theologischen Disziplinen heraus und hinein in die Bedeutungslosigkeit. Doch damit ist, um am Schluss an den Anfang zurückzukommen, schließlich nur eine Gefahr benannt, der die Letzten ständig ausgesetzt sind: Sie müssen stets aufpassen, dass sie den Anschluss nicht verlieren.

Martin Fritz

Schleiermachers Idee theologischer Bildung Zur Aktualität der ›Kurzen Darstellung des theologischen Studiums‹

I 1. Nach dem Erscheinen des Büchleins im Jahre 1811 bedurfte es mehrerer Anläufe, bis Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums die allseitige Würdigung als wegweisender Entwurf zur theologischen Enzyklopädie zuteil wurde. Im 20. Jahrhundert war eine erste und eine zweite Schleiermacher-Renaissance nötig,¹ bevor die epochale Bedeutung der Schrift in allen theologischen Lagern Anerkennung finden konnte.² Gleichwohl wird kaum jemand behaupten, die enthusiastische Einschätzung von Friedrich Lücke habe sich bewahrheitet, die Kurze Darstellung sei „ein wahrhaft prophetisches Werk, welches bei lebendigem Fortschritte in unsrer Wissenschaft und Kirche je länger je mehr in Erfüllung gehen wird“³. Der Klassikerstatus allein garantiert nicht nachhaltige Wirksamkeit. Schon fächermäßig erscheint die Wirkung der Kurzen Darstellung im aktuellen Selbstverständigungsdiskurs der Theologie merkwürdig begrenzt, und zwar auf die Systematische und die Praktische Theologie.⁴ In der methodischen Selbstbesinnung der übrigen Fächer kommt Schleiermacher kaum vor. Diese Limitierung scheint eine Entwicklung widerzuspiegeln, die in der Kurzen Darstellung erstmals

 Zeugnis der ersten Schleiermacher-Renaissance ist die kritische Neuausgabe der Kurzen Darstellung durch Heinrich Scholz (Leipzig 1910; Ndr. Darmstadt 1993), spätes Zeugnis der zweiten diejenige von Dirk Schmid, nach der im Folgenden zitiert wird: Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/1830), in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bd. I/6: Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg.v. Dirk Schmid, Berlin/New York 1998 (Studienausgabe Berlin/New York 2002), 243 – 315 (1. Auflage 1811 – Sigle KD1) und 321– 446 (2. Auflage 1830 – Sigle KD2).  Vgl. z. B. Ingolf U. Dalferth: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung (THLZ.F 11/12), Leipzig 2004, 34– 36; Konrad Stock: Die Theorie der christlichen Gewißheit. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 2005, passim.  Friedrich Lücke: Erinnerungen an Dr. Friedrich Schleiermacher, in: ThStKr 7 (1834), 745 – 813, 773.  Das belegen die Beiträge des vorliegenden Bandes. Selbigen Befund dokumentiert z. B. auch der Band Ingolf U. Dalferth (Hg.): Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen (ThLZ.F 17), Leipzig 2006.

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enzyklopädisch zur Geltung gebracht wird, nämlich die moderne Ausdifferenzierung der Theologie in heterogene Disziplinen: Zur Verschiedenartigkeit der Fächerkulturen gehört die je unterschiedliche Etablierung klassischer Bezugstexte und -autoren – und Schleiermacher „gehört“ trotz seiner disziplinären Vielseitigkeit offenbar nach wie vor fast ausschließlich den Systematischen und Praktischen Theologen. Dies gilt ironischerweise ungeachtet des Umstands, dass die Kurze Darstellung gerade der Frage nach einem fächerübergreifenden Zusammenhang gewidmet ist. Gründe für die begrenzte Wirkung von Schleiermachers „Programmschrift“⁵ sind freilich auch innerhalb des Werkes selbst zu suchen. Der wichtigste: „Die Kurze Darstellung ist […] ein extrem kompliziertes Buch.“⁶ Nicht nur der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. hat sich über dessen enigmatische Kürze beschwert.⁷ Dazu kommen die Überlagerung unterschiedlicher Darstellungsziele und die Fülle an (meist impliziten) Theorievoraussetzungen, welche die Interpretation des Werkes äußerst mühsam und riskant machen – die Gefahr des Missverstehens ist mindestens so groß wie die des Nichtverstehens. Man kann es kaum anders sagen: Schleiermachers Versessenheit auf wissenschaftliche Präzision, die in der Leitsatzform der Kurzen Darstellung ihr kongeniales Ausdrucksmittel hat, ist wohl nach wie vor eines der größten Hemmnisse für die Rezeption.

 Heinrich Scholz: Einleitung, in: Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hg.v. Heinrich Scholz, Leipzig 1910 (Ndr. Darmstadt 1993), XII–XXXVII, XVII.  Ulrich Barth: Schleiermachers Theorie der Theologie in der ‚Kurzen Darstellung des theologischen Studiums‘, in: Martin Ohst (Hg.): Schleiermacher-Handbuch (Abschnitt 3.5.2.3.1), Tübingen: Mohr Siebeck (in Vorbereitung), Ms. S. 2. Ich danke Ulrich Barth herzlich für die Übersendung des Manuskripts.  Vgl. Dirk Schmid: Einleitung des Herausgebers, in: Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1811/1830), hg.v. Dirk Schmid, Berlin/New York 2002 (Studienausgabe), 1– 55, 14– 17. Das Problem der notorischen Kürze der Darstellung wird nicht unwesentlich gemindert durch Schleiermachers Erläuterungen, die uns in einer Vorlesungsmitschrift von David Friedrich Strauß überliefert sind: Friedrich Schleiermacher: Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß, hg. von Walter Sachs (SchlA 4), Berlin/New York 1987 (Sigle ThEnz). Eine weitere erhellende Quelle zur Erläuterung der Kurzen Darstellung ist die enzyklopädische „Vorerinnerung“ (25) in der Einleitung von Schleiermachers Vorlesung zur Praktischen Theologie: Friedrich Schleiermacher: Sämmtliche Werke, Bd. I/13: Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg.v. Jacob Frerichs, Berlin 1850 (Ndr. Berlin/ New York 1983 – Sigle PT), 3 – 63.

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Allerdings hat die Forschungsarbeit der vergangenen Jahre und Jahrzehnte in der Auslegung der Kurzen Darstellung Bedeutsames geleistet,⁸ so dass ein adäquates Verständnis in den Grundlinien eigentlich mehr oder weniger sichergestellt ist, zumindest was Schleiermachers enzyklopädische Theorie der Theologie bzw. des theologischen Wissens angeht. Dagegen ist die propädeutische Seite der Schrift, also ihr Ansinnen, junge Studenten in das „theologische Studium“ einzuführen, allenfalls am Rande thematisiert worden. Auf diese Weise blieb aber ein Gutteil ihres Erschließungspotenzials unerschlossen. Denn Schleiermachers Theologiekonzeption gewinnt erst ihre volle Plastizität und Plausibilität, sobald man unter Berücksichtigung des propädeutischen Zwecks der Enzyklopädie den praktischen Fokus der ‚positiven Wissenschaft‘ Theologie, also die künftigen Kirchenleitungsaufgaben der Studenten, und die Theorie theologischen Wissens beständig aufeinander bezieht. Dann nämlich wird die Idee „theologischer Bildung“⁹ sichtbar, die beiden Seiten zugrundeliegt und die daher als der Nukleus der Kurzen Darstellung angesehen werden darf. Diese Bildungsidee gilt es herauszuarbeiten, um daraufhin ihre gegenwärtige Relevanz für das theologische Studium und für die Selbstreflexion der Theologie und ihrer Fächer auszuloten. 2. Zwei Grundmerkmale kennzeichnen den enzyklopädischen Ansatz der Kurzen Darstellung. Erstens konzipiert Schleiermacher die Theologie nicht von einem ihr vorgegebenen Inhalt, sondern von ihrem praktischen Zweck aus, nämlich dem Zweck, (damals noch ausschließlich) Männer durch das Studium für die praktische Aufgabe der „Kirchenleitung“¹⁰ zu ertüchtigen. In diesem Sinne gilt ihm die

 Grundlegend ist neben dem einschlägigen Artikel von Ulrich Barth im SchleiermacherHandbuch (s. Anm. 6) vor allem Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion (BHTh 96), Tübingen 1996; ferner Martin Rössler: Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie (SchlA 14), Berlin/New York 1994; Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm (1986), in: Ders.: Schleiermacher-Studien, hg.v. Hermann Fischer (SchlA 16), Berlin/New York 1996, 285 – 305; Eilert Herms: Schleiermachers Lehre vom Kirchenregiment (2001), in: Ders.: Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2003, 320 – 399; Ders.: Theologie an der Universität. Die Gegenwartsrelevanz von Schleiermachers Programm, in: Wilhelm Gräb/Notger Slenczka (Hg.): Universität – Theologie – Kirche. Deutungsangebote zum Verhältnis von Kultur und Religion im Gespräch mit Schleiermacher (Arbeiten zur Systematischen Theologie 4), Leipzig 2011, 24– 50; und die historischen Beiträge in dem Sammelband: Andreas Kubik/Michael Murrmann-Kahl (Hg.): Die Unübersichtlichkeit des theologischen Studiums heute. Eine Debatte im Horizont von Schleiermachers theologischer Enzyklopädie (Beiträge zur rationalen Theologie 21), Frankfurt/M. 2013.  ThEnz 13.  Schleiermachers Begriff von ‚Kirchenleitung‘ umfasst sowohl die Leitung der Einzelgemeinde als auch die übergeordnete Leitungsverantwortung für das Ganze einer Kirche, außer-

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Theologie analog zu Medizin und Jurisprudenz als eine „positive Wissenschaft“¹¹. Ausgehend von diesem „funktionalen“¹² Theologiebegriff weist Schleiermacher den theologischen Disziplinen nun aber zweitens eine gemeinsame inhaltliche Aufgabe zu, durch deren Erfüllung sie in seinen Augen eben jene Ertüchtigungsleistung zu erbringen vermögen: Der angehende Theologe muss in seinen unterschiedlichen Studien ein geeignetes „Wissen um das Christenthum“¹³ erwerben, um für seinen späteren Beruf gewappnet zu sein. Denn „es wäre Thorheit wenn sich einer [eine leitende Thätigkeit] anmaßen wollte […] ohne einen Begriff zu haben vom Gegenstande derselben“¹⁴. Insofern der gemeinsamen „Beziehung auf das Kirchenregiment“¹⁵ ein solch übergreifendes Thema entspricht, korrespondiert der funktionalen unmittelbar eine materiale Bestimmung der Theologie.¹⁶ Man muss die beiden Definitionselemente des Theologiebegriffs (gemeinsamer Endzweck und gemeinsamer Inhalt) zusammennehmen, um den vollen Sinn der gemeinsamen – letztinstanzlich praktischen, aber vorderhand theoretischen – „Beziehung auf das Christenthum“¹⁷ zu treffen, die allen verschiedenen theologischen Fächern als solchen eignet und die in § 1 entsprechend als Einheitsmerkmal der unterschiedlichen „Theile“ der Theologie angegeben wird. In eine knappe Formel gefasst ist die christliche Theologie demnach „Wissenschaft vom Christentum zur Förderung des Christentums“¹⁸. dem die freie Einflussnahme einzelner „Geister“ auf Christentum und Kirche. Der Terminus wird im Folgenden grundsätzlich in diesem weiten Sinne gebraucht.  KD2 § 1, 325.  Vgl. H.-J. Birkner: Schleiermachers „Kurze Darstellung“ (s. Anm. 8), 292.  KD2 § 10, 330.  PT 24. Der Satz ist in der – leider immer noch alternativlosen – Frerichs-Ausgabe der Vorlesung zur Praktischen Theologie offenbar hinsichtlich Grammatik und Sinn verdorben. Er lautet dort: „… es wäre Thorheit wenn sich einer anmaßen wollte eine leitende Thätigkeit ohne einen Begriff zu haben vom Gegenstande derselben, und eine noch größere, wenn er das wollte ohne zum klaren Bewußtsein was das Christenthum sei bei sich entwickelt zu haben und sich bewußt zu sein“. Insgesamt ist dennoch klar, was gemeint sein muss.  KD2 § 6, 328. Hier ist ‚Kirchenregiment‘ gleichbedeutend mit ‚Kirchenleitung‘ im allgemeinen Sinne.  Zuerst hat M. Schröder darauf hingewiesen, dass die einseitige Fixierung auf den funktionalen Gesichtspunkt, wie er noch die genannten Arbeiten von H.-J. Birkner (s. Anm. 8) und M. Rössler (s. Anm. 8) bestimmt, Schleiermachers Theologiekonzept verkürzt, und hat zusätzlich auf die Berücksichtigung der „sachlichen Konvergenz der theologischen Disziplinen“ (Kritische Identität [s. Anm. 8], 101) gedrängt. Vgl. dazu jüngst Martin Laube: Das Wesen des Christentums als Organisationsprinzip der Theologie. Überlegungen im Anschluss an die ‚Kurze Darstellung‘ Friedrich Schleiermachers, in: A. Kubik/M. Murrmann-Kahl: Unübersichtlichkeit (s. Anm. 8), 29 – 54, 34 u. 45.  KD2 § 1, 325.  M. Laube: Wesen des Christentums (s. Anm. 16), 45.

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Die doppelte Grundanlage von Schleiermachers Theologiebegriff ist bestechend schlicht. Schwieriger wird es, wenn man sich klarzumachen sucht, wie jene durch den Kirchenleitungszweck bedingte inhaltliche Ausrichtung der Theologie näher gefasst wird. Welche Art(en) von „Wissen um das Christentum“ hält Schleiermacher für geeignet, um die künftigen Amtsträger für die Praxis der Kirchenleitung geschickt zu machen? Erst aus der Antwort auf diese Frage ergibt sich ein adäquates Verständnis der disziplinären Organisation der Theologie, wie sie in der Kurzen Darstellung vorgeschlagen wird. Die Formulierung der Frage deutet an, dass es die darin angesprochene Beziehung zwischen Theoriegehalten und Praxiszweck der Theologie präsent zu halten gilt, um Schleiermachers Konzeption zu verstehen. Die inhaltliche bleibt abhängig von der funktionalen Bestimmung der Theologie.¹⁹ Darin spiegelt sich eines der Spezifika dieser Enzyklopädie, dass sie nämlich nicht als abstrakte Theologietheorie konzipiert ist, sondern im Rahmen der propädeutischen Einführung der Studenten in den Fächerkomplex ‚Theologie‘.²⁰ Das bedeutet, dass bei allen Ausführungen die angehenden kirchlichen Funktionsträger (bzw. ihre künftige Leitungsfunktion) mit im Blick sind, also diejenigen Subjekte, um deren Ausbildung willen jenes eigentümliche Konglomerat von heterogenen Disziplinen überhaupt unter dem Dach einer eigenen Fakultät existiert: Der Theologietheorie liegt eine Theologentheorie zugrunde. Schleiermacher profiliert die grundlegende Idee des kirchenleitenden Theologen bzw. der theologisch gebildeten Kirchenleitungsperson in der Einleitung der Kurzen Darstellung anhand der „Idee eines Kirchenfürsten“²¹. In diesem heuristischen Idealbild sind die affektiv-gesinnungsmäßige wie die intellektuelle Voraussetzung einer Eignung zum theologischen bzw. kirchenleitenden Beruf jeweils „im höchsten Grade“²² erfüllt gedacht. Das ist zum einen der religiöse Wunsch, seine Kräfte der „Förderung des Wohls der Kirche“²³ und des Christentums zu widmen und der entsprechende „Wille[,] bei der Leitung der Kirche wirksam zu

 Auf diese Abhängigkeit richtet sich der Vorwurf, Schleiermacher habe das theologische Wissen „zu ausschließlich als Anwendungswissen für die ‚Leitung der christlichen Kirche‘ konzipiert“ und damit „zwei Aufgaben [verschlungen], die zu unterscheiden sind“ (I. U. Dalferth: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis [s. Anm. 2], 36). Wie im Weiteren zu zeigen ist, trifft die Beschreibung als „Anwendungswissen“ in Schleiermachers Konzeption nur den ‚praktischen‘ Teil der Theologie. Die (nur mittelbare) Beziehung des ‚historischen‘ Teils des theologischen Wissens auf die Kirchenleitungspraxis muss differenzierter gefasst werden.  S. zur Vorgeschichte Marianne Schröter: Enzyklopädie und Propädeutik in der Halleschen Tradition, in: PuN 35 (2009), 115 – 147.  KD2 § 9, 329.  Ebd.  KD2 § 11 Zs., 330.

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sein“²⁴. Mit diesem „religiösen“²⁵ oder „kirchlichen Interesse“²⁶ ist es freilich nicht getan. Um bei allem guten Willen mehr als eine nur „verworrene Einwirkung“²⁷ auf Kirche und Christentum zu erreichen, nämlich eine „besonnene Einwirkung“²⁸, bedarf der zur Kirchenleitung Berufene im Idealfall ein gleich hohes Maß an „wissenschaftlichem Geist“²⁹. Mit dessen Hilfe hat er sich ein „Wissen um das Christentum“ zu eigen zu machen, das seinem kirchenleitenden Handeln eben jene „Besonnenheit“ vermittelt, die es in der Folge „zweckmäßig wirksam“³⁰ werden lässt.³¹ Kurz: Eine professionelle Arbeit für das Christentum erfordert ein wissenschaftliches Studium des Christentums. Damit stellt sich noch einmal die Frage, welche Art von „Wissen um das Christentum“ der Theologiestudent mit seinem „wissenschaftlichen Geist“ zu erwerben hat, um dem kirchenleitenden Handeln später die geforderte Besonnenheit und Zweckmäßigkeit zu verleihen. Welche Art von theologischen Studien befähigt den kirchlichen Funktionsträger zu einem gedeihlichen Wirken zur Förderung von Kirche und Christentum? Das ist nach Schleiermachers Dafürhalten die entscheidende Frage für die Organisation der Theologie in der Vielfalt ihrer Fächer. 3. Schleiermachers Antwort lässt sich in einem Dreischritt fassen, aus dem dann auch unmittelbar die drei Teile der Theologie herzuleiten sind. Auszugehen ist dabei wieder vom praktischen Zweckbezug des theologischen Studiums.

 KD2 § 7, 329. Vgl. ThEnz 10: „Wille[], zum Besten der Kirche thätig zu seyn“.  Vgl. KD2 § 9, 329.  Vgl. KD2 § 12, 330. Vgl. PT 27: „Ein solches Interesse ist nicht ohne Gemüthsbewegung: denn günstige Ereignisse will man fördern, ungünstigen in den Weg treten. Wo günstige und ungünstige Ereignisse hervortreten, werden Gemüthsbewegungen entstehn aus denen ein Handeln hervorgeht.“  KD2 § 12 Zs., ebd.  KD2 § 263, 419; vgl. § 70, 353.  KD2 § 9, 329.  ThEnz 10. Vgl. KD2 § 8, 329.  Nach KD2 § 7, ebd., verhalten sich die notwendigen Kenntnisse vom Christentum innerhalb des Theologensubjekts zum ebenfalls notwendigen Kirchenförderungswillen „wie der Leib zur Seele“. „Auf ihrem Zusammenseyn beruht das Leben der Theologie“ (ThEnz 10). Vgl. zum Ganzen Christian Albrecht: „Religiöses Interesse“ und „wissenschaftlicher Geist“. Zur Grundlage von Schleiermachers Theologiebegriff und ihren Implikationen, in: Jens Schröter (Hg.): Die Rolle der Theologie in Universität, Gesellschaft und Kirche (VWGTh 36), Leipzig 2012, 121– 134. S. zum wissenschaftstheoretischen Hintergrund die systematische Skizze bei E. Herms: Theologie an der Universität (s. Anm. 8), 25 – 37.

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(a) Als professionelle Tätigkeit braucht das kirchenleitende Handeln Anleitung durch praktisches Regelwissen („Kunstregeln“). Selbiges ist durch die Praktische Theologie bereitzustellen. (b) Bei einer isolierten Kenntnis von Kunstregeln besteht die Gefahr, dass der kirchliche Praktiker nicht über routinierte Regelanwendung hinauskommt. Um das praktische Kirchenleitungswissen stattdessen in freier schöpferischer Applikation auf die jeweilige Situation von Kirche und Christentum gebrauchen zu können, benötigt der Amtsträger zusätzlich zu jenem praktischen Wissen eine gründliche Kenntnis des gegenwärtigen Christentums und seines geschichtlichen Gewordenseins. Das ‚technische‘ Wissen aus der Praktischen Theologie muss fundiert werden durch ‚historisches‘ Wissen, welches in der Historischen Theologie zu erwerben ist. (c) Wie das isolierte Regelwissen zu toter Routine tendiert, so droht die nackte Kenntnis geschichtlicher Geschehnisse für die Kirchenleitungspraxis unfruchtbar zu bleiben. Das historische Wissen wird als Horizont für die Förderung des gegenwärtigen bzw. zukünftigen Christentums erst dann produktiv, wenn es reflektierte Urteile über geschichtliche und gegenwärtige Entwicklungen in Kirche und Christentum beinhaltet. Geschichtliche Urteile aber setzen Urteilsprinzipien voraus, die selbst nicht aus den historischen Erscheinungen als solchen zu gewinnen sind. Die betreffenden Wertmaßstäbe in Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Christentums sind Gegenstand der Philosophischen Theologie. In umgekehrter Logik lässt sich der dreistufige Grundaufbau des theologischen Studiums schematisch folgendermaßen angeben: Die Philosophische Theologie mit ihrer Reflexion der Urteilsprinzipien in Hinsicht auf die Christentumsgeschichte begründet das Vermögen zur historischen Beurteilung des Christentums. In Anwendung dieser Urteilsprinzipien entwirft die Historische Theologie ein wertendes Bild von Geschichte und Gegenwart des Christentums, das dann in der Kirchenleitungspraxis einer eigenständigen gegenwartsverantworteten Anwendung des praktischen Regelwissens aus der Praktischen Theologie als Horizont dienen kann. Die Duplizität von ‚historischem‘ und ‚technischem‘ Wissen, welche die Theologie als ‚positive Wissenschaft‘ mit praktischer Ausrichtung kennzeichnet, differenziert sich bei näherem Hinsehen also in den Dreiklang von ‚Wertmaßstabsreflexion‘, ‚Geschichtsbildentwicklung‘ (inklusive Gegenwartsdiagnose) und ‚Kunstregelformulierung‘. Damit ist nach Schleiermacher der Kreis theologischen Wissens grundsätzlich ausgeschöpft: „Faßt man nun diese Elemente zusammen, so lassen sich wohl keine weiteren Theile der christlichen Theologie als positiver Wissenschaft finden. Habe ich die Principien, wonach ich

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den gegenwärtigen Zustand beurtheile, habe ich den gegenwärtigen Zustand selbst nebst seiner Genesis begriffen, und habe ich die Regeln für die Geschäftsführung: so bin ich mit Allem ausgerüstet, was zur Kirchenleitung gehört.“³²

Das skizzierte Dreierschema im Aufbau von Schleiermachers Theologiekonzeption soll im Folgenden eingehender erläutert werden. Dabei ist wieder vom praktischen Zweck von Theologie und Theologiestudium auszugehen. 4.Wer einer praktisch-gestaltenden Tätigkeit nachgeht und diese nicht mit zufällig wechselndem Erfolg, sondern ziel- und mittelbewusst vollziehen will, benötigt ein bestimmtes (im aristotelischen Sinne) „technisches“³³ Regelwissen, er muss verschiedene „Kunstregeln“³⁴ kennen. Dieser allgemeine Sachverhalt wird im Falle des „Klerikers“³⁵ beispielsweise an der Predigttätigkeit deutlich: Wer regelmäßig predigen will und muss, hat es jedes Mal mit dem „Hervorbringen eines Werkes“³⁶, d. h. mit einer „technischen“ Angelegenheit zu tun. Er braucht praktische Grundsätze, die beschreiben, wie man eine gute Predigt macht.³⁷ Diese Kunstregeln stellt seit jeher die Homiletik zur Verfügung, sie sind also, generell gesprochen, Sache der Praktischen Theologie und ihrer Unterdisziplinen. „Da aber alle besonnene Einwirkung auf die Kirche […] nichts anders ist als Seelenleitung“³⁸, handelt es sich bei den in der Praktischen Theologie aufzustellenden Regeln im Allgemeinen um „Methoden“³⁹ der Seelenleitung mit dem Ziel der „Erbauung“⁴⁰ christlicher Gesinnung und christlicher Gemeinschaft. Nun könnte man in Berufung auf Schleiermachers Akzentuierung der praktischen Abzweckung der Theologie meinen, in solch praktisch-theologischem Wissen erschöpfe sich die für die kirchenleitende Praxis wesentliche und notwendige Leistung der Theologie. Tatsächlich war wohl diese Meinung bereits in

 ThEnz 26.  Vgl. PT 25: „Unter Technik versteht man eine Anweisung wie etwas zu Stande gebracht werden soll, um so mehr als es nicht auf eine mechanische Weise zusammengebracht werden kann und dabei keine absolute Willkühr stattfindet, welches beides außerhalb der Technik liegt.“  KD2 § 5, 328.  KD2 § 10, 330.  ThEnz 9.  Freilich garantiert der Besitz solcher Grundsätze noch nicht das Gelingen. Denn anders als bei ‚mechanischen‘ Regeln bedarf es für den erfolgreichen Gebrauch von ‚Kunstregeln‘ zusätzlich des Talents (vgl. PT 44) und im Falle der Kirchenleitungskunst außerdem einer authentischen „christlichen Gesinnung“ (PT 46).  KD2 § 263, 419. Vgl. zu ‚Kunst‘ und ‚Seelenleitung‘ PT 35 – 46.  Ebd.  PT 41.

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Schleiermachers Tagen bei manchem Studenten anzutreffen, sonst würde sie von ihm nicht ausdrücklich verworfen: Nach § 30 der Kurzen Darstellung „[kann] die gewöhnliche Mittheilung der Regeln für die einzelne Geschäftsführung […] nur als mechanische Vorschrift wirken, wenn ihr nicht das Studium der historischen Theologie vorangegangen ist. – Aus der übereilten Beschäftigung mit dieser Technik entsteht die Oberflächlichkeit in der Praxis“.⁴¹

„Oberflächlichkeit in der Praxis“ kommt zustande, weil „man sich“ bei einer isolierten Aneignung von praktisch-theologischem Regelwissen für die unterschiedlichen Tätigkeitsfelder der Kirchenleitung „der Gründe der Thätigkeit nicht bewußt ist“⁴². Wenn einer nur gegebenen Regeln folgt, ohne den geschichtlichen Hintergrund der fraglichen Tätigkeit sowie der betreffenden Regeln zu kennen und ohne ihre Passgenauigkeit für die gegenwärtige Situation beurteilen zu können, so wird seinem Handeln „immer etwas Mechanisches“⁴³ anhaften. Ohne eigenständige Beurteilung des jeweils zum Wohl des christlichen Glaubens und Lebens Geeigneten erstarrt die Kirchenleitung zum leblosen Dienst nach überlieferter Vorschrift, der „ganz in der Praxis wie sie einmal ist, befriedigt ist“⁴⁴ – und von dem kaum förderliche Impulse in der aktuellen Lage des Christentums zu erwarten sind. Ins Positive gewendet besagt Schleiermachers Warnung vor einem einseitig praktisch-theologisch ausgerichteten Studium: Eine lebendige selbsttätige und gegenwartsverantwortete Kirchenleitung setzt zum einen grundsätzlich ein geschichtliches Bewusstsein von der Wandelbarkeit des Christentums und der Anforderungen an seine Gestaltung voraus. Zudem bedarf sie eines eigenständigen gegenwartsdiagnostischen Urteilsvermögens hinsichtlich der Lage von Kirche und Christentum sowie hinsichtlich der in dieser Lage adäquaten Anwendung adäquater Kirchenleitungsregeln. Um gegen die Schwerkraft traditionalistischer  KD2 § 30 mit Zs., 337.  ThEnz 30.  Ebd. Vgl. die frühe Polemik Schleiermachers gegen „geistlose[n] Mechanismus und leere Gebräuche“ (266 [176]) sowie gegen „schülerhaftes, mechanisches Wesen“ (276 [199]) in der Religion: Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bd. I/2: Schriften aus der Berliner Zeit (1796 – 1799), hg.v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 185 – 326 (Studienausgabe Berlin/New York 2001). Die Seitenzahlen in eckiger Klammer beziehen sich auf den Originaldruck von 1799.  ThEnz 31. Ob eine gesellschaftliche Leitungsfunktion lediglich in Fortführung traditioneller Praxis oder kraft eines Wissens um die Grundbedingungen des jeweiligen Funktionsbereichs wahrgenommen wird, ist eine für Schleiermachers Wissenschaftstheorie grundlegende Differenz; vgl. E. Herms: Theologie an der Universität (s. Anm. 8), 26. 29 f. 38.

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Routine gefeit zu sein, ist der künftige kirchliche Amtsträger daher auf den historischen Teil des Theologiestudiums angewiesen. 5. Mit der Unterscheidung zwischen ‚technischen‘ und ‚historischen‘ Kenntnissen über das Christentum ist die grundlegende „Duplicität“⁴⁵ in den Wissensformen angezeigt, die das Theologiestudium kennzeichnet. Die „wissenschaftlichen Elemente“⁴⁶, aus denen sich die Theologie als praxisbezogene ‚positive Wissenschaft‘ zusammensetzt, differenzieren sich in „wissenschaftliche Kenntnisse und Kunstregeln“⁴⁷, in theoretisches Geschichtswissen und praktisches Regelwissen.⁴⁸ Was das ‚historische‘ Element des Studiums angeht ist indessen sogleich herauszustreichen, was manche Leser der Kurzen Darstellung aufgrund der missverständlichen Terminologie übersehen: Das historische Wissen des Theologen ist prinzipiell nicht vergangenheits-, sondern gegenwartsorientiert, nämlich auf die Christentum und Kirche betreffende Gegenwartsdiagnose ausgerichtet.⁴⁹ Nur in dieser Ausrichtung hat es einen Bezug auf die Kirchenleitung und erfüllt mithin das Schlüsselkriterium für die Zugehörigkeit zur Theologie.⁵⁰ Weil die Kirchenleitung „die Kenntniß des zu leitenden Ganzen in seinem jedesmaligen Zustande [erfordert], welcher, da das Ganze ein geschichtliches ist, nur als Ergebniß der Vergangenheit begriffen werden kann“⁵¹, darum gehören zur Theologie als letztinstanzlich praktisch orientierter Wissenschaft konstitutiv historische Studien. Nur aus dem Fortwirken der Vergangenheit kann die Gegenwart von Kirche und Christentum so verstanden werden, dass in ihr zugleich auch „Keime“⁵² künftiger Entwicklungen (und damit Möglichkeiten von deren Förderung

 ThEnz 8.  KD2 § 1 Zs., 326.  KD2 § 5, 328.  Vgl. ThEnz 9: „Aus was für Elementen darf also die Theologie bestehen? Die wissenschaftlichen Kenntnisse müssen historisch seyn, was schon in dem Ausdruck Kenntniß liegt. Das andre Element muß technisch seyn, zu dem Hervorbringen eines Werks gehören, und wir sehen hieraus schon im Allgemeinen die Gestaltung des theologischen Studiums.“  Vgl. H.-J. Birkner: Schleiermachers „Kurze Darstellung“ (s. Anm. 8), 299 f.  Vgl. KD2 § 6.  KD2 § 26, 335 f. Vgl. PT 25 f: „Es ist offenbar daß ein jeder Augenblick nur recht verstanden wird in seinem geschichtlichen Zusammenhang und daß aus Mangel an geschichtlicher oder aus falscher geschichtlicher Ansicht Verwirrungen in der Kirche entstehen müssen“.  Vgl. KD2 § 26 Zs., 336. Vgl. ThEnz 26: „Die Gegenwart ist der Keim der Zukunft, und diese soll aus jenem Keime richtig entwickelt werden. Dieß ist nicht möglich, wenn man nicht weiß, wie das Gegenwärtige sich aus dem Vergangenen entwickelt hat.“ Vgl. Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Bd. II/6: Vorlesungen über die Kirchengeschichte, hg.v. Simon Gerber, Berlin/New York 2006, 489: „Es ist das Ende der Geschichte wenn sie in eine Schätzung des Gegenwärtigen und Ahndung des Künftigen eingehn will; aber

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oder Hemmung) sichtbar werden. Deshalb „ist die geschichtliche Kenntniß des Christenthums […] die unnachläßliche Bedingung alles besonnenen Einwirkens auf die weitere Fortbildung desselben“⁵³. Der herrschende Gegenwartsbezug ist bei den von Schleiermacher ausgewiesenen Disziplinen innerhalb des historischen Teils der Theologie deutlich erkennbar. Am unmittelbarsten fällt er im Falle von ‚dogmatischer Theologie‘ und ‚kirchlicher Statistik‘ ins Auge, welche die „geschichtliche Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande des Christenhums“⁵⁴ behandeln, und zwar im Allgemeinen für den gesamten „gesellschaftlichen Zustand“⁵⁵ der gesamten christlichen Kirche in ihren verschiedenen Teilen (Statistik) sowie in spezieller Fokussierung auf die „jezt in der evangelischen Kirche geltende[] Lehre“⁵⁶ (Dogmatik). „Da aber die Gegenwart nur verstanden werden kann als Ergebniß der Vergangenheit: so ist die Kenntniß des gesammten früheren Verlaufs ein zweiter Theil der historischen Theologie“⁵⁷ – mit diesen Worten weist Schleiermacher Kenntnisse in Kirchen- und Theologiegeschichte⁵⁸ als Voraussetzung einer adäquaten Gegenwartsdiagnose aus. Der exegetischen Theologie und der von ihr zu erlangenden „Kenntniß des Urchristenthums“⁵⁹ hingegen kommt eine Sonderrolle zu, auf die weiter unten einzugehen ist.⁶⁰ Schleiermacher bindet die Historische Theologie inhaltlich in die Handlungsperspektive seines funktionalen Theologiebegriffs ein, indem er ihren Fächern jeweils spezifische Funktionen für die Einschätzung der gegenwärtigen und künftigen Entwicklungen in Kirche und Christentum zuordnet. Die geschichtliche Kenntnis rangiert als Horizont künftiger Gestaltung des Christentums. Leitend ist dabei das Axiom: Nur wer Geschichte und Gegenwart des Christentums kennt, wird zu einem „besonnenen Einwirken“⁶¹ auf das Christentum in der Lage sein.

dies ist auch die Probe der Geschichte, mit der immer eine eigne Ansicht der Gegenwart und Ahndung der Zukunft verbunden ist.“  KD2 § 70, 353.  KD2, Überschrift zum dritten Abschnitt des II. Teils zur ‚historischen Theologie‘, 393. Vgl. KD2 § 85, 358: „Kenntniß von seinem [sc. des Christentums; M.F.] Zustand in dem gegenwärtigen Augenblikk“.  KD2 § 195, 394.  KD2 § 195, 393 f.  KD2 § 82, 357.  Vgl. KD2 § 90 Zs.  KD2 § 85, 358, u. ö.  S.u. Abs. 13.  KD2 § 70, 353; vgl. § 263, 419.

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6. Nun hängt das Junktim von besonnener Amtsführung und historischem Wissen nach Schleiermacher von einer weiteren Voraussetzung ab, die für das Verständnis seines Theologieprogramms schlechthin zentral ist. Die historische Kenntnis muss von bestimmter Art sein, um als Horizont der Kirchenleitung dienen zu können: Sie muss wertende Urteile über die historischen Entwicklungen enthalten.⁶² Genauer: Sie muss Vergangenheit und Gegenwart an einem Normbegriff des Christentums messen, anhand dessen sich bestimmen lässt, wo Christentum und Kirche jeweils „Fortschritte oder Rückschritte“⁶³ gemacht haben. Dementsprechend weist Schleiermacher der Historischen Theologie die Aufgabe zu, „jeden Zeitpunkt [sc. der Christentumsgeschichte; M.F.] in seinem wahren Verhältniß zu der Idee des Christenthums [darzustellen]“⁶⁴. Erst ein derart wertendes Bild des gegenwärtigen Christentums und seines Werdegangs befähigt den Amtsträger,von den Wegen und Abwegen, die in die gegenwärtige Lage geführt haben, Wege für die Zukunft abzulesen, aus denen er Konsequenzen für sein kirchenleitendes Handeln ableiten kann. Folglich steht und fällt der Beitrag der Historischen Theologie zum gegenwarts- und zukunftsdiagnostischen Urteilsvermögen – und damit ihr genuin theologischer Charakter – mit der Ausbildung eines anhand eines Normideals vom Christentum werthaft profilierten Bildes von Geschichte und Gegenwart des Christentums. Dass die Historische Theologie dieser Aufgabe tatsächlich nachkommt, ist allerdings keineswegs ausgemacht – daher auch „der gänzliche Mangel an Sicherheit in der Anwendung derselben auf die Kirchenleitung“⁶⁵. Schleiermacher macht zwei verschiedene Versäumnisse geltend. Im ersten Fall beschränkt sich die Beschäftigung mit der Christentumsgeschichte auf deren „blos empirische Auffassung“⁶⁶, auf „das blose Auffassen einer räumlichen und zeitlichen Erschei-

 An diesem Punkt weicht die vorliegende Auslegung dezidiert von M. Rössler: Schleiermachers Programm (s. Anm. 8), ab. Rössler interpretiert die einschlägigen Aussagen über das historische Urteilen ausdrücklich nicht axiologisch, sondern im Sinne eines mathematischen Wertbegriffs; vgl. aaO. 95 f. Dagegen hat schon Hermann Süskind: Christentum und Geschichte bei Schleiermacher. Die geschichtsphilosophischen Grundlagen der Schleiermacherschen Theologie, Tübingen 1911, hervorgehoben, dass es bei der Beurteilung der Geschichte um „die Abstufung der Erscheinungen nach ihrem Geltungswert“ geht, „also um ein auf bestimmten Norm- und Idealbegriffen fußendes Verfahren“ (71 f; vgl. 61). Ähnlich M. Schröder: Kritische Identität (s. Anm. 8), 168.  Vgl. ThEnz 29: „Es kommt ja darauf an, in der Geschichte zu unterscheiden, was Fortschritt und Rückschritt ist“. Vgl. ThEnz 27 [u.ö.]  KD2 § 27, 336.  KD2 § 29 Zs., 337.  ThEnz 20.

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nung“⁶⁷ ohne „Abschätzung“⁶⁸ des jeweiligen „Entwicklungswerthes“⁶⁹ derselben. Aber, so Schleiermacher, „[w]ollte man den gegenwärtigen Zustand [man ergänze: und sein geschichtliches Gewordensein; M.F.] blos empirisch fassen, so würde dieß nichts helfen, er muß betrachtet werden in seiner Beziehung auf die Idee, ob er dieser angemessen ist oder nicht“⁷⁰.

Wird die Historische Theologie derart „mechanisch betrieben“⁷¹, erreicht sie Schleiermacher zufolge noch gar nicht die „eigentliche geschichtliche Auffassung“ des Christentums, „die immer auch ein Urtheil über die Erscheinung in sich schließt“.⁷² Stattdessen haben wir es dann mit „bloser Chronik“⁷³ und „geistloser Ueberlieferung“⁷⁴ zu tun – die am Ende für die Einschätzung der Gegenwart und mithin für die Kirchenleitungspraxis wenig austrägt. Der Grund für solch unfruchtbaren Urteilsverzicht: „[M]an gebraucht keine Principien, weil man keine hat“⁷⁵. Also bedarf es eines Ortes innerhalb der Theologie, um solche Urteilsprinzipien zu erarbeiten. Anders liegen die Dinge im zweiten Fall. Hier wird der Geschichtsverlauf durchaus nach bestimmten Prinzipien beurteilt, aber diese Prinzipien sind nicht „Resultat eigner Überlegungen“⁷⁶, sondern „blos traditionell“⁷⁷. Dabei denkt Schleiermacher vermutlich an konfessionelle Geschichtsbilder mit ihren explizi-

 ThEnz 29.  ThEnz 44 u. ö..  KD2 § 65 Zs., 350.  ThEnz 26.  ThEnz 30.  ThEnz 29; vgl. KD2 § 65, 350.  ThEnz 44.  KD2 § 29 Zs., 337.  ThEnz 30.  ThEnz 73. Dass jeder Theologe ein eigenständiges Kirchengeschichtsbild entwickeln müsse, betont Schleiermacher auch in einem Kirchengeschichtskolleg von 1825/26 (F. Schleiermacher: Kirchengeschichte [s. Anm. 52], 667– 745). Demnach ist der „Zwekk“ des Kirchengeschichtsstudiums „die Selbständigkeit, d. h. die eigene Anschauung der Geschichte zu bekommen“, und zwar durch „Zusammenschauung“ des mannigfachen, zum Großteil von anderen Kirchenhistorikern zusammengetragenen Materials (aaO. 677). Je besser dabei das Material von dem dabei jeweilig bereits eingegangenen Urteil des jeweiligen Kirchengeschichtlers unterschieden wird, „um desto besser werde ich mein Urtheil bilden. Es kommt also heraus, daß sich jeder seine Geschichte selbst machen muß, die er in sich haben will. Chronik ist allein Aggregat der einzelnen Momente; traditionell kann ich nur etwas aufnehmen, wenn ich auf mein Urtheil verzichte“ (aaO. 669; Hvhg. i. O.).  Vgl. ThEnz 71

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ten oder impliziten Wertungen.⁷⁸ Bemängelt wird an ihnen nicht eine Urteilsenthaltung, sondern die Reflexionsenthaltung hinsichtlich der zugrundeliegenden Wertmaßstäbe, letztlich der in Anschlag gebrachten Normidee vom Christentum. Ein solch selbstverständlicher Gebrauch überlieferter Normen hat betreffs der avisierten Gegenwartskompetenz auch andere Folgen als die historische Urteilsenthaltung: Wenn die Urteile und deren Wertmaßstäbe nicht eigener Überlegung entspringen, sondern auf Autorität hin übernommen werden, dann gelangt das Theologensubjekt zwar überhaupt zu Einschätzungen der gegenwärtigen Lage und ihrer Anforderungen; darin kommt aber nicht die „Selbsttätigkeit“⁷⁹ und „Selbständigkeit“⁸⁰ zum Zuge, welche dem Urteilen und Handeln aus eigener Überzeugung seine besondere innere Beteiligung und Lebendigkeit verleiht. Zudem steht das traditionalistische Urteil immer in der Gefahr, den Blick für die geschichtlichen Veränderungen zu verlieren und damit auch die Anpassungsfähigkeit an veränderte Situationen. Aus alledem ergibt sich die Forderung, dass „sich die historische Theologie immer mehr losmacht von dem blos Traditionellen“⁸¹, sei es im Sinne traditionalistischer Geschichtsbilder oder im Sinne bloßer Archivierung von Geschichtsbeständen. Dafür räumt Schleiermacher der Besinnung auf die Prinzipien der historischen Beurteilung des Christentums – in Abweichung von allen herkömmlichen Einteilungen der Theologie – unter dem Titel ‚Philosophische Theologie‘⁸² einen eigenen Platz in der Organisation der Theologie ein. Zentrales Ziel dieser Maßnahme ist die „Begründung“⁸³ oder „Vervollkommnung der historischen Theologie durch die philosophische“⁸⁴, auf dass Erstere zuverlässig in

 Vgl. ThEnz 27, wo Schleiermacher die unterschiedlichen konfessionellen Geschichtsbilder als Beleg für die Macht impliziter Urteilsprinzipien bei der Geschichtsbetrachtung anführt: „Was die Geschichte anlangt so müsste sie allerdings gemeinsam seyn, wenn die Geschichte etwas rein Objectives […] wäre. Dieß wäre aber gar keine theologische Wissenschaft. Sobald sich aber die historische Theologie dazu versteht, das Verhältniß gegebener Zustände zur Idee des Christenthums zu bestimmen, so ist auch die historische Theologie verschieden, wie zB aus der verschiedenen Auffassung der Reformation erhellt. Die Schäzung der Begebenheiten bey einem protestantischen und katholischen Geschichtsschreiber ist von Anfang an verschieden. Man sagt der Geschichtsschreiber soll unparteyisch seyn; aber dieß kann er doch nicht soweit, daß er aus seiner eignen Haut herausgeht. Unparteylich kann er nur dann in diesem Sinne seyn, wenn er blos bey dem Äusserlichen stehen bleibt.“  ThEnz 72. Vgl. KD2 § 100 Zs., 364.  ThEnz 73.  ThEnz 30.  In den enzyklopädischen Ausführungen in der Vorlesung zur Praktischen Theologie findet sich auch der Terminus ‚systematische Theologie‘: vgl. PT 26.  ThEnz 41.  KD2 § 30, 337.

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den Stand versetzt wird, eine „eigentlich geschichtliche Anschauung des Christenthums“⁸⁵ als produktiven Horizont für eine gegenwartsverantwortete Kirchenleitung hervorzubringen. 7. Dem von Schleiermacher neu konzipierten ‚philosophischen‘ Teil der Theologie obliegt, wie bereits angegeben, die Reflexion der Maßstäbe historischer Beurteilung des Christentums und folglich die Ausarbeitung eines Normbegriffs vom Christentum. Schleiermacher spricht diesbezüglich vom „Begriff“, der „Idee“ oder – am häufigsten – vom „Wesen des Christentums“.⁸⁶ Damit ist der vermutlich schwierigste und für gegenwärtige Ohren sperrigste Begriff von Schleiermachers Theologiekonzeption erreicht. Die Funktion der Christentumsidee, dem Geschichtsbild der Historischen Theologie als Urteilsnorm zu dienen, schlägt sich in der Differenzierung der Philosophischen Theologie in zwei Teildisziplinen nieder.⁸⁷ So hat die ‚Apologetik‘ zuerst eine Bestimmung jener Idee vorzunehmen, bevor die ‚Polemik‘ Prinzipien ihrer Anwendung bei der Geschichtsbeurteilung geben kann. Deren Leitfrage lautet dann, „[w]ie sich irgend ein geschichtlich gegebener Zustand des Christenthums zu der Idee desselben verhält“⁸⁸. Näherhin geht es darum, mittels einer „Gegeneinanderhaltung eines Gegebenen mit dem als Wesen des Christenthums [E]rkannten“⁸⁹ „aus[zu]mitteln, was in der Entwiklung des Christenthums reiner Ausdrukk seiner Idee ist, und was hingegen als Abweichung hievon, mithin als Krankheitszustand, angesehen werden muß“⁹⁰.

 KD2 § 65, 350, vgl. ThEnz 29.  Vgl. ThEnz 37, wo die drei Termini auf engstem Raum als Synonyme gebraucht werden. – S. zur Vorgeschichte und Bedeutung der Formel „Wesen des Christentums“ Rolf Schäfer: Welchen Sinn hat es, nach einem Wesen des Christentums zu suchen?, in: ZThK 65 (1968), 329 – 347; Ders.: Art. Christentum, Wesen des, in: HWPh 1 (1971), 1008 – 1016; Friederike Nüssel: Die Umformung des Christlichen im Spiegel der Rede vom Wesen des Christentums, in: Albrecht Beutel/Volker Leppin (Hg.): Religion und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen „Umformung des Christlichen“ (AKThG 14), Leipzig 2004, 15 – 32 (hier wie dort auch weitere Literatur).  Daneben kommt den beiden Teildisziplinen auch eine unmittelbar praxisbegründende Funktion zu. Entsprechend ist von einem „zunächst auf der Apologetik beruhende[n] Theil der praktischen Theologie“ (KD2 § 39 Zs., 341) sowie von einem „zunächst auf die Polemik zurükkgehende[n] Theil der praktischen Theologie“ (KD2 § 40 Zs., ebd.) die Rede.  KD2 § 34, 339.  KD1, 13 (Orig.pag.) § 9, 257.  KD2 § 35, 339.

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Nachdem die Apologetik einen bestimmten Normbegriff vom Christentum festgesetzt hat,⁹¹ formuliert die Polemik daraufhin Generalkriterien der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Phänomenen der Christentumsgeschichte mit jenem Normbegriff, die dann in der konkreten historischen Arbeit zur Anwendung kommen sollen. Mit dem „Gegeneinanderhalten“ von Idee und historischer Erscheinung und der „Ausmittelung“ von Kongruenz und Divergenz zwischen selbigen beschreibt Schleiermacher die Elemente eines Werturteilsaktes. Demzufolge vollzieht sich ein konkretes Werturteil immer mittels eines idealen Wertmaßstabs, an dem das zu bewertende Phänomen „gemessen“, mit dem es verglichen wird, um auf diese Weise zur „Bemessung“ des Entsprechungsgrades und damit zur eigentlichen Bewertung zu kommen. Dabei geht Schleiermacher natürlich davon aus, dass „keine geschichtliche Erscheinung ihrer Idee rein entspricht, sondern Abweichungen enthält“⁹². Diese Abweichungen, die nach Maßgabe der idealen Verwirklichung immer als Negationen zu Buche schlagen, bezeichnet er mit einer organologischen bzw. medizinischen Metapher als „Krankheitszustände“, um damit griffig den evaluativen Charakter des fraglichen Urteilsvollzuges und zugleich dessen appellative Wirkung hinsichtlich eines steuernden „ärztlichen“ Eingreifens zu unterstreichen.⁹³ Schleiermachers Auffassung vom Werturteil lässt sich auf das einfache Axiom zurückführen:Wer nicht über normative Begriffe vom idealen „Wesen“ einer Sache verfügt, kann an ihrer konkreten Verwirklichung keine Wertdifferenzen, kein

 Die Apologetik differenziert sich noch einmal in einen ‚allgemeinen‘ und eine ‚speziellen‘ Teil (vgl. KD2 § 50): Zuerst ist ein allgemeiner, dann ein konfessionell spezifizierter Begriff vom Christentum zu entwickeln, also im Falle protestantischer Theologie ein spezifisch protestantisches Christentumsverständnis. Diese Differenzierung wird im Folgenden vorausgesetzt, aber nicht eigens berücksichtigt.  KD1, 13 § 8, 257.  Vgl. E. Herms: Kirchenregiment (s. Anm. 8): Das „Innesein der Differenz zwischen dem ‚Ideal‘ und der gewordenen gegenwärtigen Realität“ (321) wirkt als Handlungsimpuls. „Keine Tätigkeit kommt zustande, ohne daß der Handelnde sich aufgrund eines solchen Inneseins schon zum Aussein auf etwas Bestimmtes aufgeregt fühlt“ (ebd.). Folglich gilt für die kirchenleitende Praxis: „Die Erkenntnis des Wesens des Christentums begründet die Möglichkeit und die Unvermeidlichkeit, daß man die besonderen Manifestationen des christlichen Lebens nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern daß man sie stets auch würdigt und schätzt. Diese Schätzung ist dann ihrerseits die Möglichkeitsbedingung und – ein Interesse am Christentum vorausgesetzt – der effektive Impuls für ein Tätigwerden zugunsten einer Annäherung an wesensgemäße geschichtliche Manifestationen des christlichen Lebens. Historische Erkenntnis hat ipso facto eine orientierende Bedeutung für die geschichtliche Praxis, ist ihrer eigenen Form nach ‚Theorie für die Praxis‘“ (327 f). Dies gilt freilich nur, so wäre hinzuzufügen, wenn es sich um eine „eigentlich geschichtliche Anschauung“ (KD2 § 65, 350) im Schleiermacher’schen Sinne handelt, die kraft der Anleitung durch philosophische Prinzipien urteilsfähig ist.

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„besser“ oder „schlechter“ ausmachen. Übertragen auf die Urteilsvollzüge in der Historischen Theologie bedeutet das: Die wertende Beurteilung der Christentumsgeschichte bedarf der Wesensbestimmung durch die Apologetik, „weil krankhaftes in der Kirche nur erkannt werden kann in Bezug auf eine bestimmte Vorstellung von dem eigenthümlichen Wesen des Christenthums“⁹⁴. Mit der Entwicklung einer solch „bestimmten Vorstellung“ (Apologetik) und mit der Reflexion auf deren kriteriologische Anwendbarkeit bei der Geschichtsbetrachtung (Polemik) begründet die Philosophische Theologie die Ausarbeitung eines konkreten Bildes von den „Fortschritten und Rückschritten“ in Geschichte und Gegenwart des Christentums. Nun wird aber diese Gegenwart (und ihr Gewordensein) von dem an Kirchenleitung und Christentumsförderung orientierten Theologen mit einem spezifischen Gestaltungsinteresse wahrgenommen: „als Keim einer dem Begriff [sc. des Christentums; M.F.] mehr entsprechenden Zukunft“⁹⁵. Er sucht an der Gegenwart zu „bestimmen […], was von diesem Momente aus in den künftigen bleiben muß oder was in den künftigen geändert werden muß, d. h. was der Idee angemessen ist oder nicht“⁹⁶. Demzufolge reicht die Normfunktion der Christentumsidee über Geschichte und Gegenwart hinaus in die zu gestaltende Zukunft des Christentums. Die Norm für das historische Urteil dient zugleich als Norm für die Zukunftsgestaltung – und, so darf ergänzt werden, in der Folge auch für die Formulierung von Kunstregeln für diese Zukunftsgestaltung.⁹⁷ In der Vorlesung zur Praktischen Theologie gibt Schleiermacher eine ausführliche handlungstheoretische Begründung für die Notwendigkeit derartiger Normideen für jede Leitungstätigkeit: Eine solche „sezt voraus einen gegebenen Zustand; aber auf diesen wirken und aus diesem etwas bestimmtes hervorbringen wollen, sezt voraus eine Vorstellung von dem was aus dem gegebenen werden soll. Offenbar läßt sich eine leitende Thätigkeit nur denken aus der Voraussezung und zusammen mit dem Bestreben der Fortschreitung; denn wenn nichts werden soll, bedarf es keiner leitenden Thätigkeit. Diese Fortschreitung sezt voraus daß ein vollkommnerer Zustand als der gegebene [d.h. ein Zustand, der vollkommener ist als der gegebene; M. F.] gedacht wird […]. Aber woher ist nun zu nehmen die Idee von dem vollkommenen, was

 KD2 § 63 Zs., 350. Vgl. Ernst Troeltsch: Was heißt „Wesen des Christentums“? , in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 21922, 386 – 451, 410: „Ja die Gesamtanschauung des Wesens wird doch überhaupt nur gesucht, um ein Urteil über das Wesentliche zu finden, von dem aus nicht bloß d[a]s Unwesentliche ignoriert, sondern auch das Wesenswidrige verurteilt werden kann.“  KD2 § 26 Zs., 336.  ThEnz 37.  Darum kann Schleiermacher die Philosophische Theologie auch als „Norm für die praktische Theologie“ bezeichnen, „weil sie angiebt, was erstrebt, und was ausgemerzt werden soll“ (ThEnz 41). Vgl. M. Schröder: Kritische Identität (s. Anm. 8), 119 – 121.

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gedacht wird als Zielpunkt worauf die leitende Thätigkeit gerichtet wird? Das kann in verschiedenen Graden der Bestimmtheit sein, aber irgendwie muß sie sein. […] Das ist das was man bisweilen durch den Ausdrukk des Ideals zu bezeichnen pflegt, einen Zustand von dem ausgesagt wird daß er erreicht werden soll durch die von dem gegenwärtigen ausgehende Thätigkeit, von dem man aber nicht sagen kann, daß er zu irgend einer Zeit erreicht sei.“⁹⁸

Im Falle der kirchlichen Leitungsperson nimmt die Vorstellung vom Wesen des Christentums die Funktionsstelle des Leitideals ein. Sie ist nicht nur Maßstab für Geschichtsbild und Gegenwartsdiagnose, sondern ebenso Zielidee für die ‚technische‘ Theorie und Praxis der Arbeit für das Gedeihen von Christentum und Kirche: Leitbild für den Zukunftsentwurf.⁹⁹ Diese direkt handlungsleitende und -motivierende Funktion der Christentumsidee wird auch an einer Wendung deutlich, die eher en passant in Teil II der Kurzen Darstellung fällt. Dort heißt es, dass „der lezte Zwekk“ der christlichen Theologie „darin besteht, das eigenthümliche Wesen desselben in jedem künftigen Augenblikk reiner darzustellen“¹⁰⁰. Diese Aussage lässt sich als gedrängte Beschreibung des Zusammenhangs der konstitutiven Elemente innerhalb der Theologensubjektivität lesen, also von „kirchlichem Interesse“ (volitives Element) und „wissenschaftlichem Geist“ (kognitives Element). Demnach ist das leitende Willensmotiv des Theologen die möglichst reine „Darstellung“ oder Verwirklichung des „eigentümlichen Wesens“ des Christentums. Damit dieses Leitmotiv aber tatsächlich konkret handlungsleitend werden kann, muss der Theologe eine „bestimmte Vorstellung“¹⁰¹ von diesem eigentümlichen Wesen ausbilden. Darauf aber zielen wesentlich seine wissenschaftlichen Bemühungen im nicht-‚technischen‘ Teil des theologischen Studiums. 8. Angesichts der maßgeblichen Rolle, die Schleiermacher dem Begriff von ‚Wesen‘ oder ‚Idee‘ des Christentums für die Kirchenleitungspraxis und folglich auch

 PT 18 f (Hvhg. i. O.). Im Anschluss an den zitierten Abschnitt wird die Prinzipienfunktion der Normidee für die „tadelnde“ oder „billigende“ Beurteilung geschichtlicher Zustände beschrieben: s. PT 19 f. – Vgl. E. Herms: Kirchenregiment (s. Anm. 8), 321 f.  Vgl. PT 21, wo beide Aspekte zusammengeführt werden: „Was wir der praktischen Theologie vorausschikken müssen, zerfällt also in zwei verschiedene Elemente. Es wird erstens nicht möglich sein ein richtiges Urtheil zu haben über einen Zustand der Kirche, und zweitens eben so wenig von einem gegebenen Zustand einen richtigen Weg einzuschlagen, wenn nicht eine eigentliche Kenntniß von dem Wesen der christlichen Kirche in Beziehung auf die geschichtlichen Elemente klar und vollständig aufgefaßt ist.“  KD2 § 84, 358; vgl. § 263; ferner KD1, 7 § 28, 253: „die Idee des Christenthums immer reiner darzustellen“.  KD2 § 63 Zs., 350.

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für den Begriff von Theologie und theologischem Studium zuschreibt, liegt die fundamentale Bedeutung einer adäquaten Wesensbestimmung am Tage. Die Dringlichkeit der Aufgabe wird noch deutlicher, wenn man in Betracht zieht, dass hinter der Konzeption der Philosophischen Theologie eine weitreichende Krisendiagnose steht.¹⁰² Denn wie ein Seitenblick auf die Glaubenslehre zeigt, hält es Schleiermacher geradezu für ein Signum seiner Zeit, dass im Verständnis des Wesentlich-Christlichen ein allgemeiner „Zwiespalt“¹⁰³ herrscht, und zwar keineswegs nur zwischen den großen Konfessionen, sondern gerade innerhalb des Protestantismus: „Der Streit hierüber ist in der protestantischen Kirche so groß, daß, was Einigen die Hauptsache im Christenthum scheint, Andre für bloße Hülle halten, und daß, was diese wiederum für das wesentliche ausgeben, jenen dürftig erscheint, so daß sie meinen, es lohne nicht[,] das Christenthum um des willen für etwas zu halten.“¹⁰⁴

Schleiermacher konstatiert – die „zerrüttenden Streitigkeiten“¹⁰⁵ zwischen Rationalismus und Supranaturalismus vor Augen¹⁰⁶ – einen allgemeinen „Zustand der Verworrenheit im kirchlichen Denken über das Wesen des Christenthums“¹⁰⁷. Den entscheidenden Grund dafür erkennt er darin, dass die bekenntnismäßig fixierte und dogmatisch gestützte Christentumsauffassung des alten Protestantismus mit dem Aufkommen des allgemeinen historischen Bewusstseins ihre unbefragte Autorität eingebüßt hat. Es wäre daher Schleiermachers Einsicht nach nicht nur „ganz unwissenschaftlich“, sondern verspräche wohl auch nur geringen Erfolg, „wenn wir [sc. in der Wesensfrage; M.F.] bei den erwähnten Verschiedenheiten in der Kirche selbst uns nur auf irgendein Ansehen stüzen wollten. Denn das Ansehen der Bekenntnißschriften gehört für einen Protestanten mit zu den streitig gewordenen Gegenständen“¹⁰⁸.

 Vgl. M. Schröder: Kritische Identität (s. Anm. 8), 13 – 18.  Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube, nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 1. Auflage (1821/22), 2 Bde., hg.v. Hermann Peiter, Berlin/New York 1984 (Studienausgabe, seitengleich mit: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Berlin/New York 1980ff, Bde. I/7.1 und 7.2 – Sigle CG1), Bd. 1, 19. Vgl. § 5, aaO. 18: „In der gegenwärtigen Lage des Christenthums dürfen wir nicht als allgemein eingestanden voraus sezen, was in den frommen Erregungen der Christenheit das wesentliche sei oder nicht.“  CG1 Bd. 1, 19.  Ebd.  Vgl. M. Rössler: Schleiermachers Programm (s. Anm. 8), 72.  CG1 Bd. 1, 19.  CG1 Bd. 1, 20 f.

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Schleiermacher hält es unter den Bedingungen seiner Zeit für eine intellektuelle Unmöglichkeit, sich eine normative Idee vom Christentum von der konfessionellen Tradition autoritativ vorschreiben zu lassen. Infolgedessen herrscht nun aber ein gefährliches Vakuum. Jener „Zustand der Verworrenheit“ schadet nämlich der Einheit der betroffenen Glaubensgemeinschaft, weil die mannigfachen „gefühlten“ Gewissheiten über das Wesentlich-Christliche dazu führen, dass man sich wechselseitig die legitime Kirchenzugehörigkeit abspricht. Denn: „Eine Gefühlsantwort [sc. über das Wesen des Christentums; M.F.] kann freilich jeder geben auf das Ansehn seiner eigenen Ueberzeugung, indem er nachweiset, welche Verschiedenheiten der Lehre ihn nur als Nebensache berühren, ohne das Bewußtsein der Glaubenseinigkeit zu stören [man ergänze: und welche Verschiedenheiten dies durchaus tun; M.F.]. Allein diese Antworten sind nichts anders als die gegeneinander tretenden Aussagen der Partheien selbst, und zeigen eben die Nothwendigkeit einer wissenschaftlichen Auskunft.“¹⁰⁹

Die Ausführungen der Glaubenslehre geben unmissverständlich zu erkennen, dass wir es beim Programm der wissenschaftlichen Wesensbestimmung mit einer Antwort auf den zunehmenden Geltungsverlust der altprotestantischen Christentumsidee zu tun haben. „Der modernen Gestalt des Christentums fehlt eine dogmatisch gesicherte Homogenität der Grundanschauung“¹¹⁰, deshalb entwickelt die neu konzipierte Philosophische Theologie ein neues, den Plausibilitätsstandards der Epoche genügendes Verfahren zur Generierung einer solchen Grundanschauung. Der Entwurf dieses Verfahrens ist der Kern des „theologischen Reformprogramms“ (Birkner), das Schleiermacher mit der Kurzen Darstellung vorgelegt hat.¹¹¹ Als Ort der wissenschaftlichen Entwicklung einer Grundanschauung vom Christentum beerbt die Philosophische Theologie im Übrigen auch einen bestimmten Teil der klassischen Dogmatik, nämlich den Locus über die „Fundamentalartikel der Lehre“¹¹². Hier wurden ehedem die lehrhaften Grenzen der Zugehörigkeit zur protestantischen Kirche definiert, nämlich durch Unterscheidung der zur Kirchengemeinschaft maßgeblichen (articuli fundamentales) von den diesbezüglich unerheblichen Lehrartikeln (articuli non fundamentales). Eine

 CG1 Bd. 1, 21.  M. Schröder: Kritische Identität (s. Anm. 8), 14.  H.-J. Birkner: Schleiermachers „Kurze Darstellung“ (s. Anm. 8), hat diesen Punkt selbst nicht herausgestellt. – Vgl. E. Troeltsch: Wesen des Christentums (s. Anm. 94), 440: Hier wird der „Neuprotestantismus“ durch die „Verlegung des Wesens aus dem autoritativen Dogma der alten katholischen oder protestantischer Orthodoxie in eine neu zu gestaltende Erfassung des christlichen Geistes“ geradezu definiert.  CG1 Bd. 1, 20.

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analoge kriteriologische Funktion, die für die „zusammenstimmende Leitung“¹¹³ der Kirche bedeutsam ist, kommt nun der wissenschaftlichen Wesensbestimmung zu: Indem sie das Wesentliche definiert, was zur christlichen bzw. protestantischen Identität gehört und sonach über die Zugehörigkeit zur christlichen bzw. protestantischen Kirche entscheidet,¹¹⁴ trägt die Wesensbestimmung zu einer inneren Klärung und Stärkung der Gemeinschaft bei.Vor allem kann sie, sofern sie zur Unterscheidung von substantiell und akzidentell, von Haupt- und Nebensache, Zentrum und Peripherie anleitet, im Sinne der irenischen Intention der Lehre von den Fundamentalartikeln¹¹⁵ dazu verhelfen, unnötige Verwerfungen wegen Differenzen nachgeordneten Ranges zu vermeiden. Auch und gerade unter dem Aspekt der Förderung christlich-religiöser Gemeinschaft also nimmt es nicht wunder, dass es Schleiermacher „ein dringendes Bedürfniß ist, mit Anstrengung aller Kräfte das wesentliche des Christenthums endlich festzustellen“¹¹⁶ und „das wesentliche vom zufälligen zu unterscheiden“¹¹⁷. 9. Hinter dem Befund der Pluralisierung von Christentumsauffassungen steht bei Schleiermacher indessen eine noch tiefer greifende neuzeitdiagnostische Problemanzeige. Das tritt besonders im Zweiten Sendschreiben an Lücke (1829) hervor, das unter anderem über den Stellenwert der in der Einleitung der Glaubenslehre gegebenen Wesensbestimmungsskizze Rechenschaft gibt.¹¹⁸ So sieht Schleiermacher durch die Entwicklung der modernen Wissenschaften fundamentale Elemente des überkommenen Christentums erschüttert: Das aufkommende naturwissenschaftliche Weltbild bedroht etwa den Schöpfungs- und den Wundergedanken, die kritische Historie führt eine Krise des protestantischen Schriftprinzips herauf. Die irreversiblen Verschiebungen in den Grundlagen der Weltansicht setzen das Christentum in der Folge unter einen ungekannten Revisionsdruck: „[W]ir werden lernen müssen uns ohne vieles behelfen, was Viele noch gewohnt sind als mit dem Wesen des Christenthums unzertrennlich verbunden zu denken. Ich will gar nicht vom Sechstagewerk reden, aber der Schöpfungsbegriff, wie er gewöhnlich construirt wird […]: wie

 KD2 § 5, 328. Nach Schleiermachers Erläuterung zielt die „zusammenstimmende Leitung“ wesentlich auf die Überwindung von „Entgegensezung“ innerhalb der Kirche: s. ThEnz 8 f.  Vgl. CG1 Bd. 1, 18 f: Unter ‚wesentlich‘ wird demnach verstanden, „was die christlichen Erregungen […] zu christlichen [macht], also das, was nirgends fehlen darf, wenn nicht eben da auch das christliche soll abgeläugnet werden.“  Vgl. Wilfried Joest: Art. Fundamentalartikel, in: TRE 11 (1983), 727– 732.  CG1 Bd. 1, 19 f.  CG1 Bd. 1, 20.  Vgl. dazu M. Schröder: Kritische Identität (s. Anm. 8), 18 – 24.

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lange wird er sich noch halten können gegen die Gewalt einer aus wissenschaftlichen Combinationen, denen sich niemand entziehen kann, gebildeten Weltanschauung?“¹¹⁹

Der Theologe, der um seine Kirchenleitungsverantwortung und damit um seinen „Bezug auf die gegenwärtigen Bedürfnisse unserer Kirche“¹²⁰ und die aktuellen Probleme des Christentums weiß, darf sich nach Schleiermachers tiefer Überzeugung jenem Modernisierungsdruck nicht entziehen und „Alles beim Alten [lassen]“ – dies würde bedeuten, „daß er eigentlich nichts thut, und der Herr ihn nicht wachend findet, wenn er kommt“.¹²¹ Die theologische Aufgabe der Stunde erblickt Schleiermacher darin, in Aufnahme der wissenschaftlichen Geltungsstandards der Gegenwart und in kritischer Prüfung der Tradition eine Auffassung vom Christentum zu entwickeln, die dem allgemeinen Wahrheitsbewusstsein der Zeitgenossen (und mithin auch des Theologensubjekts selbst) standhält. „Grundsatz“ einer verantwortlichen Theologie muss es daher sein, den Wesensbegriff (bzw. die Glaubenslehre als dessen lehrhafte Entfaltung) „nicht zu gestalten, als ob es nur darauf ankäme, in einer fortlaufenden Ueberlieferung alles Bisherige möglichst zu erhalten und weiter zu geben, sondern in Momenten, wie dieser, mit vorherrschender Berücksichtigung der, wie mir scheint, unvermeidlichen nächsten Zukunft. Freilich nicht, um irgend etwas zum Wesen des evangelischen Christenthumes Gehöriges Preis zu geben, oder auch nur zu verstecken; aber um bei Zeiten uns alles dessen zu entledigen, was offenbar nur Nebenwerk ist und auf Voraussetzungen beruht, die nicht mehr gelten können, damit wir uns nicht in einen unnützen Streit [sc. mit der wissenschaftlichen Weltsicht; M.F.] verwickeln, in welchem hernach Viele leicht die Hoffnung aufgeben möchten, auch das Wesen erhalten zu können.“¹²²

Herausgefordert durch die kognitiven Dissonanzen zwischen dem überlieferten Christentum und dem modernen Weltbild, aber getragen von der inneren Gewissheit von der Wahrheit des Christentums¹²³ hat sich der mit ‚religiösem Interesse‘ wie mit ‚wissenschaftlichem Geist‘ begabte Theologe der Herausforderung zu stellen, sein Christentum mit den wissenschaftlichen Standards seiner Zeit zu vermitteln – wenn nicht am Ende die fragliche Wahrheitsüberzeugung unter der Spannung jener Dissonanzen zerreißen soll. Das maßgebliche Medium dieser  Friedrich Schleiermacher: Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke (1829), in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Hans-Joachim Birkner u.a., Bd. I/10: Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg.v. Hans-Friedrich Traulsen, Berlin/New York 1990, 309 – 394, 345 f.  AaO. 345.  AaO. 352.  AaO. 356.  Vgl. CG1 § 6.3, Bd. 1, 21 f.

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Vermittlung aber ist die Wesensbestimmung: die Entwicklung eines Bildes vom Christentum, in dem Peripheres und Zeitbedingtes an dessen traditioneller Gestalt von dem Unaufgebbar-Wesentlichen geschieden wird, um im Zuge dieser Scheidung ein Zentrum auszuweisen, das im Gegensatz zu allem einzuklammernden „Nebenwerk“ von den Umwälzungen im allgemeinen Wahrheitsbewusstsein unbetroffen ist. Es geht um „einen Kern in der Mitte,von dem jeder zugeben muß, daß er das Wesentliche in der Erscheinung des Christenthums sey, während man das Andre bey Seite läßt“¹²⁴. Durch diese geschichtshermeneutische Differenzierung zwischen bleibendem Wesen und wechselnder Erscheinung sucht der Theologe bei sich selbst und anderen die „Hoffnung“ zu unterbauen, trotz allem grundstürzenden Wandel „das Wesen“ des Christentums und mithin das Wesentliche am christlich-religiösen Bewusstsein „erhalten zu können“. Im Interesse der „nächsten Zukunft“ betreibt Schleiermacher mit dem Programm der wissenschaftlichen Wesensbestimmung die Lockerung der Abhängigkeit des gegenwärtigen Christentums von seiner Herkunftsgestalt, um dadurch dessen weltanschaulichem Veralten entgegenzuwirken. Die „Wesensbestimmung“ hat also auch schon für Schleiermacher die essentielle Funktion der „Wesensgestaltung“, wie Ernst Troeltsch später pointiert formuliert hat.¹²⁵ Sie ist der Leitbegriff einer programmatischen „Umformung des Christlichen“¹²⁶, die auf eine wissenschaft ThEnz 36. Die nämliche Scheidung von „Kern“ und „Nebenwerk“ beschreibt Schleiermacher an anderer Stelle mit einer mathematischen Metapher. Demnach erfolgt die Wesensbestimmung so, „daß ich es [sc. das Geschehene, also das geschichtliche Christentum; M.F.] zerlege in eine Mannigfaltigkeit von Factoren, von denen einige besonders hervortreten, wozu die anderen nur Coefficienten sind“ (PT 23).  E. Troeltsch: Wesen des Christentums (s. Anm. 94), 431. Das paradoxe Ziel solcher Wesensgestaltung durch Wesensbestimmung ist nach Troeltsch die „Verjüngung aus der Geschichte“ (aaO. 432). Entscheidend ist daher, dass die historische Wesensbestimmung „vor allem das ausspricht, was für Gegenwart und Zukunft aus der Vergangenheit sich ergibt. Eine Wesensbestimmung, die von der dauernden Lebenskraft des Christentums überzeugt ist und sich dieser Aufgabe entschlägt, wäre völlig sinnlos“ (433). Letztlich handelt es sich also bei der historischen Wesensbestimmung um eine „Synthese von Geschichte und Zukunft (447), um „das Wagnis, aus dem Historischen die lebendige Idee für die Gegenwart hervorzuholen“ (448). – Vgl. M. Schröder: Kritische Identität (s. Anm. 8), 121.  Vgl. zu diesem Zusammenhang F. Nüssel: Die Umformung des Christlichen im Spiegel der Rede vom Wesen des Christentums (s. Anm. 86). Vgl. auch Dies.: Die Aufgabe der Dogmatik im Zusammenhang der Theologie, in: I. U. Dalferth (Hg.): Eine Wissenschaft oder viele? (s. Anm. 4), 77– 98: In dieser enzyklopädischen Ortsbestimmung der Dogmatik wird der Aufgabe der Wesensreflexion – ganz im Sinne Schleiermachers – zentrale Bedeutung für den differenzierten Zusammenhang der theologischen Disziplinen zugeschrieben (vgl. aaO. 91 u. ö.). Die ursprünglich damit verbundene Umformungsintention wird hier indessen nur in einer Fußnote angedeutet, eben mit der Erwähnung des Troeltsch’schen Terminus der ‚Wesensgestaltung‘ (ebd.).

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liche Immunisierung des Christentums gegen die Bedrohung durch das wissenschaftliche Weltbild abzielt. Dass die betreffenden Vermittlungsbemühungen Auswirkungen auf das Kirchenleitungshandeln haben, hebt Schleiermacher selbst hervor. Dafür sei beispielhaft der „Einfluß“ einer revidierten Christentumsidee „auf den öffentlichen Vortrag der christlichen Lehren“ angeführt.¹²⁷ Er liegt offenbar darin, dass das darin mitgesetzte Bewusstsein vom Unterschied zwischen maßgeblichem Zentrum und verzichtbarer Peripherie den Prediger davor bewahren kann, ein „antiquiertes“¹²⁸ Bild vom Christentum zu vertreten, das vor den Zeitgenossen unüberwindbare Zugangshürden aufrichtet, weil darin vieles „als mit dem Wesen des Christenthums unzertrennlich verbunden“¹²⁹ präsentiert wird, was doch für ein waches Wahrheitsgewissen unter den Bedingungen der Zeit ohne Selbstverleugnung nicht mehr erschwinglich ist. 10. Wie seine Überlegungen zum Wesensbestimmungsversuch in der Glaubenslehre nahelegen, rechnet Schleiermacher immerhin für den Bereich der eigenen Kirchengemeinschaft mit einer überindividuellen Ausstrahlung mindestens von herausragenden wissenschaftlichen Leistungen in dieser Frage. Gleichwohl hält er zugleich daran fest, dass jeder Theologe die Wesensbestimmung – im Gegensatz zu anderen Elementen der Theologie – eigenständig zu vollziehen habe: „Da die philosophische Theologie eines Jeden wesentlich die Principien seiner gesammten theologischen Denkungsart in sich schließt: so muß auch jeder Theologe sie ganz für sich selbst produciren.“¹³⁰

Weil die Wesensbestimmung die „Prinzipien“ der „theologischen Denkungsart“, die letzten Grundsätze des theologischen Urteilsvermögens betrifft, darum „muß sie von Grund aus als klare und feste Ueberzeugung angeeignet sein“¹³¹. Das normative Christentumsideal, das den praktischen Gestaltungswillen des Theologen antreibt und anleitet sowie seiner Geschichtsanschauung und seinem Gegenwartsbild evaluative Kontur gibt, ist allein Sache der unvertretbar eigenen Überzeugung – und muss daher deren ureigener Besitz werden. Das heißt: Es darf „nicht blos traditionell“¹³², auf die Autorität von Tradition hin, übernommen

     

F. Schleiermacher: Sendschreiben (s. Anm. 119), 364. Vgl. KD2 § 205, 399. F. Schleiermacher: Sendschreiben (s. Anm. 119), 345 f. KD2 § 67, 351. KD2 § 67 Zs., ebd. ThEnz 71.

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werden. Kein Theologe darf Luthers Bild wahren Christseins annehmen, nur weil es von Vater Luther stammt. „Hiedurch soll keinesweges“, fügt Schleiermacher hinzu, „irgendeinem Theologen benommen werden sich zu einer von einem anderen herrührenden Darstellung der philosophischen Theologie zu bekennen“¹³³. Damit wird dem Studenten die Möglichkeit eingeräumt, sich die christentumstheoretischen Grundlagenreflexionen und Idealbegriffe theologischer Lehrer zu eigen zu machen – ansonsten wäre ja im Übrigen auch nicht der kirchliche Einfluss entsprechender Entwürfe gewährleistet, von dem Schleiermacher ausgeht. Ein weiteres mögliches Missverständnis von Schleiermachers Selbständigkeitsforderung im Zusammenhang mit seinem Modernisierungsinteresse ist an dieser Stelle auszuräumen: Selbständigkeit ist nicht mit „Originalitätssucht“¹³⁴ zu verwechseln. Weil die Kirchenleitung immer „zusammenstimmende“ und sonach die Gemeinschaft „zusammenhaltende“¹³⁵ Leitung sein muss, hat sich jede verantwortliche Wesensbestimmung, die ja letztlich der Kirchenleitung dienen will, im Gegensatz zur „antigeschichtlichen“ Tendenz origineller Privatmeinungen, „durch Anschließung an das Vorhandene“ auszuweisen: durch Anschluss an die Christentumsgeschichte und damit an die verbindenden Herkunftsbezüge der Gemeinschaftsglieder.¹³⁶ Nach Maßgabe des Protestantismus kommt hier neben den reformatorischen Bekenntnissen natürlich dem Bezug zum biblischen Kanon eine Schlüsselrolle zu: „[W]as in diesem enthalten ist hat eine ganz besondere Geltung, und wer seine Produkte in der Kirche will geltend machen, der muß auf dieses zurückgehen, weil alles Andre keine Auctorität hat.“¹³⁷

Man kann festhalten, dass die Kurze Darstellung mit ihrem christentumstheoretischen Modernisierungsimpuls keineswegs auf umstürzende inhaltliche Neuerungen abzielt. Schleiermacher war kein Revolutionär. Sein Programm einer selbständigen, aber zugleich kontinuitätsverpflichteten Neubildung der Idee vom Wesentlich-Christlichen richtet sich sowohl gegen die Versuchung traditionsergebener Reproduktion als auch gegen den Abweg geschichtsblinder Willkürschöpfung.¹³⁸ Der letzte Grund für das große Gewicht der Traditionskontinuität in  KD2 § 67 Zs., 351.  ThEnz 7.  ThEnz 6.  Ebd.  ThEnz 7. Es soll nicht verschwiegen werden, dass Schleiermacher die Art und Weise dieses Rückgangs zugleich problematisiert; vgl. KD2 §§ 103 – 115.  E. Troeltsch: Wesen des Christentums (s. Anm. 94), hat das entsprechende Streben auf die Formel vom „anschlußbedürftigen Subjektivismus“ (439) gebracht.

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Schleiermachers Konzeption der Wesensbestimmung ist die Einsicht in die Geschichtlichkeit positiver Religion. Denn „jeder wird durch das vorangegangene Geschlecht belehrt, und befindet sich ursprünglich im Zustand der Empfänglichkeit, muß daher um sich über eine Ansicht zu beruhigen, zeigen, daß er richtig empfangen hat.“¹³⁹

Allerdings, so gibt Schleiermacher zu bedenken, „ist jeder auch berufen, die menschlichen Dinge weiter fördern zu helfen“¹⁴⁰, und zu solcher Förderung zählt aus seiner Sicht in der Frage der Grundlegung von Theologie und theologischem Studium die Formulierung einer Ansicht vom Wesen des Christentums, die in der Bewusstseinslage der Gegenwart bestehen kann.¹⁴¹ Die Bedeutung der selbständigen Ausbildung oder Aneignung einer Normidee vom Christentum in philosophisch-theologischen Studien lässt sich schließlich noch einmal mit Rekurs auf das Modell des „Kirchenfürsten“ aus der Einleitung der Kurzen Darstellung herausstreichen.¹⁴² Wer ein solches Ideal nicht einmal rudimentär besäße, dem würde bereits eine kategorische Voraussetzung des Theologenberufs fehlen: der religiöse Wille zur Förderung des Christentums, der ohne derlei ideale Triebfedern nicht zu denken ist.¹⁴³ Wer dieses „kirchliche Interesse“ und die darin wirksamen Motive zwar ins Studium mitbrächte, dann aber deren wissenschaftliche Durchklärung und Ausbildung zu einem bewussten und reflektierten Christentumsideal versäumte und stattdessen unbefragt ein traditionelles Christentumsbild übernähme, der brächte (so vorhanden) den „wissenschaftlichen Geist“, die zweite Voraussetzung des Theologeseins, nicht zur erforderlichen Wirksamkeit. Auch er wäre, „weil die Principien nur selbständig angeeignet werden können“¹⁴⁴, nach Schleiermachers Auffassung nicht im vollen und eigentlichen Sinne Theologe zu nennen – und „würde auch in der Kirchenleitung nur eine Maschine seyn“¹⁴⁵.

 ThEnz 7.  Ebd.  Ob Schleiermacher selbst hier immer das Rechte getroffen hat, ist eine eigene Frage. Jedenfalls „weist […] auch Schleiermachers Dogmatik eine ganze Reihe ausgesprochen konservativer Züge auf“ (U. Barth: Schleiermachers Theorie der Theologie [s. Anm. 6], Ms. S. 11). Nach dem Urteil Barths „wird man sagen müssen, dass Schleiermacher die Gegenwartsverpflichtung der Dogmatik nicht in der konsequenten Weise eingelöst hat, die ihre programmatische Inanspruchnahme suggeriert“ (ebd.).  Siehe KD2 § 9.  Vgl. E. Herms: Kirchenregiment (s. Anm. 8), 321.  ThEnz 91.  ThEnz 101.

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11. Wie stellt sich Schleiermacher die Ausbildung des notwendigen diagnose- und handlungsleitenden Christentumsideals vor? Wie hat eine wissenschaftliche Wesensbestimmung zu verfahren? Dass die dogmatische Setzung eines durch Tradition sanktionierten Wesensbegriffs die Kriterien Wissenschaftlichkeit und Zeitgemäßheit nicht erfüllt, ist deutlich geworden. Ebensowenig kommt für Schleiermacher eine freischwebende Konstruktion der Christentumsidee infrage. Denn eine historisch ungebundene, rein philosophische Spekulation würde das Kriterium geschichtlicher Kontinuität verfehlen – und allenfalls originelle „Kabinettsstücke“¹⁴⁶ hervorbringen, ohne theoretische Beglaubigung durch die Christentumsgeschichte und ohne die praktische Aussicht, der Zustimmung einer Mehrheit von Subjekten innerhalb der geschichtlich verwurzelten Gemeinschaft fähig und mithin zur ‚zusammenstimmenden Leitung‘ dieser Gemeinschaft dienlich zu sein. Nun ist mit dem Stichwort der historischen Beglaubigung des Christentumsideals bereits eine wichtige Prämisse von Schleiermachers Konzeption der Wesensbestimmung berührt. Für Schleiermacher impliziert die subjektive Präsenz einer (mehr oder weniger klaren) Normidee vom Christentum im Gemüt des Theologen selbstverständlich die Annahme von deren objektiver Präsenz in der Geschichte. Die Überzeugung von der Wahrheit des Christentums, von der das theoretische wie das praktische Engagement des Theologen lebt, beinhaltet die Überzeugung, dass sich das Wesen des Christentums in Geschichte und Gegenwart bereits verwirklicht hat – wenn auch nur in je unterschiedlichen Graden der Annäherung an die Idee. Sonst hätte jene Wahrheitsüberzeugung samt der in ihr herrschenden Vorstellung vom Wahrhaft-Christlichen in dem betreffenden Subjekt, das sich in dieser Frage „ursprünglich im Zustand der Empfänglichkeit“ und „durch das vorangegangene Geschlecht belehrt“ weiß,¹⁴⁷ gar nicht lebendig werden können. Wer sich aber in seiner Christentumsidee als Erbe der Christentumsgeschichte versteht, dem drängt sich zur wissenschaftlichen Durchklärung dieses vielleicht nur vagen Ideals der Abgleich mit jener Geschichte auf. Er wird, um seine Ansicht zu konturieren und zu prüfen, ob er „richtig empfangen hat“¹⁴⁸, die Geschichte des Christentums daraufhin befragen, was sich in ihren Erscheinungen – wenn auch stets im Modus der Abschattung und Verfehlung – als das Wesen des Christentums manifestiert hat.¹⁴⁹

 Vgl. F. Schleiermacher: Sendschreiben (s. Anm. 119), 364.  ThEnz 7.  ThEnz 4.  Das nämliche Motiv der Selbstprüfung liegt auch nach E. Troeltsch: Wesen des Christentums (s. Anm. 94), 432 f, dem Unternehmen der Wesensbestimmung zugrunde: Sie will „ge-

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Der disziplinäre Ort innerhalb der wissenschaftlichen Theologie, an dem der Theologe die eigene Auffassung vom Wesentlich-Christlichen einerseits mit dem Zeugnis der Geschichte, andererseits mit den Geltungsstandards der Wissenschaften ins Benehmen zu setzen hat, um sie durchzuklären, zu modifizieren und dabei als historisch und wissenschaftlich legitim zu identifizieren, ist die Philosophische Theologie. Ihre Aufgabe ist – das droht das Attribut ‚philosophisch‘ zu verdecken – eine historische Wesensbestimmung zur Konturierung und Korrektur der normativen Idee des Christentums. Hinsichtlich dieser Reformulierung von Ziel und Aufgabe der Philosophischen Theologie ist indessen in Rechnung zu stellen, dass Schleiermacher selbst den Vorbegriff vom Wesentlich-Christlichen, mit dem der Theologe sein Studium antritt, methodisch nicht als eigenständigen Faktor innerhalb der Wesensbestimmung berücksichtigt. So konzipiert er die Aufgabe der Philosophischen Theologie nicht als Abgleich zwischen vorhandener Normidee und historischem Wesensbegriff, sondern lässt beide Ebenen unmittelbar ineinanderfallen. Das heißt die Philosophische Theologie bewerkstelligt in Schleiermachers Konzeption mit der historischen Wesensbestimmung zugleich die Ausbildung jener urteilsfundierenden Normidee. Anders gesagt: Die Philosophische Theologie rangiert infolge dieser methodischen Vereinfachung als der Ort, wo die Normidee der historischen Größe ‚Christentum‘ im Modus einer historischen Wesensbestimmung gewonnen wird, also in der Betrachtung der Geschichte dieser Größe selbst. Wie oben bereits ausgeführt kann diese historische Betrachtung nun aber nicht „rein empirisch“ erfolgen, sondern nur unter Inanspruchnahme bestimmter Reflexionen aus der Sphäre des begrifflichen Denkens. Die Christentumsidee kann sich nur am historischen Stoff selbst bilden, lässt sich ihm aber nicht unmittelbar entnehmen, sondern nur auf dem Wege einer Verstehensoperation, in die zwangsläufig gewisse philosophische Grundbegriffe eingehen. Bei der historischen Wesensbestimmung resp. Idealbildung greifen folglich historische und philosophische Reflexion ineinander – und die Philosophische Theologie als Ort dieses komplexen Unternehmens wird von der Historischen Theologie, die auf deren Grundlage ein detailliertes Geschichtsbild zu zeichnen hat, terminologisch geschieden. Schleiermacher hat für die Verschränkung von historischer und philosophischer Betrachtung bei der Wesensbestimmung eine eigene Methode entwickelt. Dieses voraussetzungsvolle „kritische Verfahren“¹⁵⁰ ist ausführlich beschrieben

rade durch das ganz sachlich erfaßte Gegebene das eigene religiöse Verständnis ausweiten, vertiefen, von Vorurteilen und Begrenztheiten der zufälligen Erziehung und Neigung befreien“.  KD2 § 44 Zs., 343.

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worden¹⁵¹ und soll hier nur knapp skizziert werden. Grundlegend dafür ist Schleiermachers geschichtsphilosophisches Modell, wonach die Historie als Wechselwirkung von Individuen zu denken ist, und zwar von individuellen Personen wie überpersönlichen Individuen (Staaten, Religionen etc.). Nach diesem Modell ist Geschichtsverstehen immer Individualitätsverstehen. Das gilt auch für die historische Bestimmung des Wesens des Christentums: Das WesentlichChristliche begreifen heißt das Charakteristisch-Individuelle am Christentum verstehen, womit es sich – auf der Basis von gattungsmäßigen Gemeinsamkeiten – von den anderen positiven Religionen abhebt; es geht darum, „ein richtiges Bild von seiner constanten Eigenthümlichkeit aufzustellen“¹⁵². Um diesen „individuelle[n] Charakter des Christenthums“¹⁵³ und das „eigenthümliche Gepräge der christlichen Frömmigkeit“¹⁵⁴ zu erheben, bedarf es zuerst eines Allgemeinbegriffs der Religion, um dann durch dessen Zergliederung potentielle Grunddifferenzen zwischen verschiedenen Religionen klassifikatorisch zu ermitteln. In dieses religionsphilosophisch-religionsgeschichtliche Koordinatensystem wird daraufhin das Christentum eingezeichnet, um daraufhin aus der Geschichtsbetrachtung ein nicht begrifflich zu konstruierendes und daher „irrationales“ Individuationsmerkmal zu entnehmen, womit erst das eigentlich „Eigentümliche“ des Christentums in den Blick kommt. Nach Schleiermacher ist dieses (doppelte) Individuationsmerkmal das Auftreten des Stifters Jesus von Nazareth und seine Anerkennung als Erlöser in der von ihm gestifteten religiösen Gemeinschaft.¹⁵⁵ Dieser Abriss soll hier genügen. Für die Frage von Schleiermachers theologischer Bildungsidee sind nicht so sehr die Einzelheiten der inzwischen selbst historisch gewordenen Methode von Belang, sondern die Grundanlage der Wesensbestimmung. Dabei ist zuerst noch einmal der problematische Umstand zu notieren, dass Schleiermacher einen normativen und einen deskriptiven We-

 Siehe M. Schröder: Kritische Identität (s. Anm. 8), Teil B, und M. Rössler: Schleiermachers Programm (s. Anm. 8), Teil III. Eine Zusammenfassung gibt M. Laube: Wesen des Christentums (s. Anm. 16), 38 – 44.  ThEnz 51.  ThEnz 24.  KD2 § 56 Zs., 347.  Vgl. die Wesensformel in der Einleitung der Glaubenslehre: Friedrich Schleiermacher: Der christliche Glaube, nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Auflage (1830/31), 2 Bde. in 1 Bd., hg.v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008 (Studienausgabe, seitengleich mit: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg.v. Hans-Joachim Birkner u. a., Berlin/New York 1980ff, Bde. I/13.1 und 13.2 – Sigle CG2), § 11, Bd. 1, 93 (Orig.pag. 74): „Das Christenthum ist eine der teleologischen Richtung der Frömmigkeit angehörige monotheistische Glaubensweise, und unterscheidet sich von andern solchen wesentlich dadurch, daß alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung.“

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sensbegriff ineinanderblendet: die Funktion der Christentumsidee als geschichtsbzw. gegenwartsdiagnostisches Werturteilsprinzip sowie praktisches Ideal auf der einen und als historiographischer Substanz- oder Totalitätsbegriff auf der anderen Seite. Das in der Geschichte immer nur annäherungsweise verwirklichte und durch die Kirchenleitung künftig möglichst umfassend zu verwirklichende Ideale wird methodisch unmittelbar mit dem im geschichtlichen Wandel Stetigen kurzgeschlossen, ohne dass die Unterschiedenheit und wechselseitige Abhängigkeit der betreffenden Funktionen der Christentumsidee näher berücksichtigt würde.¹⁵⁶ Ansonsten ist noch eine grundlegende Beobachtung festzuhalten. Gegenüber der schrifttheologisch und konfessionell begründeten Setzung eines Wesensbegriffs in der altprotestantischen Dogmatik zeichnet sich Schleiermachers Programm der wissenschaftlichen Wesensbestimmung dadurch aus, dass es auch im Bereich der theologischen Prinzipienreflexion die methodische Eigenständigkeit der Theologie dezidiert aufgibt. Das Signum der Theologie, als positive Wissenschaft ein Konglomerat von unterschiedlichen wissenschaftlichen Fächern mit je eigenen Methoden zu sein, die allein durch den gemeinsamen praktischen Endzweck der Kirchenleitung (und in der Folge durch den gemeinsamen theoretischen Zweck der Ausbildung christentumsdiagnostischer Urteilskraft) zu einem übergreifenden Fach verbunden werden, kennzeichnet auch die „philosophische“ Grundlagendisziplin, insofern dort die Prinzipien des theologischen Urteilens auf theologisch unspezifische Weise erhoben werden: Methodisch ruht die Theologie auf einer Verschränkung von historischer Forschung und philosophischem Denken auf.¹⁵⁷

 Hier bietet Ernst Troeltschs Wesensaufsatz mit der Unterscheidung zwischem dem ‚Wesen‘ als historischem „Abstraktionsbegriff“ und als zukunftsbezogenem „Idealbegriff“ einen klaren methodischen Fortschritt gegenüber Schleiermacher; vgl. E. Troeltsch: Wesen des Christentums (s. Anm. 94), bes. 423 – 436. Troeltsch hat insgesamt viel stärker in Rechnung gestellt, „wie stark persönlich-subjektiv die Wesensbestimmung beeinflußt ist“ (aaO. 420), ohne damit indessen deren grundsätzliche Allgemeinheitsintention infrage zu stellen. Vgl. M. Laube: Wesen des Christentums (s. Anm. 16), 51 f.  Diese prinzipielle Abhängigkeit der Theologie hat Schleiermacher in der zweiten Auflage der Glaubenslehre noch dadurch hervorgehoben, dass er die fundamentalen religionstheoretischen bzw. -wissenschaftlichen Überlegungen in der Einleitung als „Lehnsätze“ aus den betreffenden Wissenschaften (in der Schleiermacher’schen Terminologie: „Ethik“ und „Religionsphilosophie“) gekennzeichnet hat. Ausgehend von Schleiermachers spezifischem Gebrauch der beiden letztgenannten Termini „ist damit gesagt, daß die theologische Dogmatik erst dann wahrhaft theoriefähig ist, wenn sich ihre Inhalte zugleich auch im Rahmen der allgemeinen Kulturwissenschaften (einschließlich der vergleichenden Religionswissenschaft) explizieren lassen“ (Ulrich Barth: Friedrich Schleiermacher [1768 – 1834], in: Friedrich Wilhelm Graf [Hg.]: Klassiker der Theologie, Bd. 2: Von Richard Simon bis Karl Rahner, München 2005, 58 – 88,

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Auf das Subjekt des Theologen und seinen Bildungsgang bezogen bedeutet diese methodische Unselbständigkeit der Theologie: Sein theologisches Urteil, das er mit „wissenschaftlichem Geist“ zu schärfen hat, um seinem „kirchlichen Interesse“ zu Besonnenheit und zweckmäßiger Wirksamkeit zu verhelfen, erhält seine wissenschaftliche Durchklärung in einem historisch-philosophischen Urteilsprozess, der selbst unter Einklammerung des Glaubens vollzogen wird und unabhängig vom Glauben plausibel sein muss. Das dabei erworbene Urteil über das Wesentlich-Christliche gewinnt wiederum einen theologischen Charakter erst durch den Kirchengestaltungswillen, dem es als normative Leitidee und Urteilsprinzip dient, samt der darin wirksamen Überzeugung von der Wahrheit des Christentums, die selbst im Gefühl wurzelt und daher in den historisch-philosophischen Reflexionen über das Wesen des Christentums lediglich eine äußere Bestätigung findet. Dieses für die theologische Existenz charakteristische Wechselspiel von „religiösem Interesse“ und „wissenschaftlichem Geist“, von religiösem Engagement und reflexiver Distanz hat Schleiermacher treffend als Wechsel zwischen dem „Standort im Christentum“ und einem „Standort über dem Christentum“ beschrieben.¹⁵⁸ 12. Im Ausgang vom praktischen Zweck der Kirchenleitung und Christentumsförderung hat inzwischen das inhaltliche Profil von Schleiermachers Theologiebegriff in seiner dreigliedrigen Anlage eine ausführliche Erläuterung erfahren. Das im Theologiestudium zu erwerbende „Wissen um das Christentum“ differenziert sich grundsätzlich in ein ‚technisches‘ und ein ‚historisches‘ Gebiet, in deren Letzterem ein Urteil über positive und negative Entwicklungen in Geschichte und Gegenwart des Christentums begründet wird, auf dass die „Kunstregeln“ der Kirchenleitung in Ersterem auf gegenwartsangemessene Weise entfaltet und dann mithilfe des entsprechend ausgebildeten Urteilsvermögens „besonnen“ und „zweckmäßig“ angewandt werden können. Um freilich das historisch und gegenwärtig Gegebene um künftiger Gestaltung willen bewerten zu können, muss der Theologe auf eine normative Idee vom Wesen des Christentums zugreifen. Da

82). Vgl. bereits H. Scholz: Einleitung (s. Anm. 5), XXXIV–XXXVII, zu Schleiermachers „Einordnung der Theologie in das System der Geistes- oder Kulturwissenschaften“ (XXXIV).  Vgl. CG1 Bd. 1, 22: „Also müssen wir für diese Betrachtung [sc. was das Wesen des Christentums sei; M.F.] unsere fromme Erregbarkeit ruhen lassen, weil es uns nicht darauf ankommt, durch unser Gefühl zu entscheiden, welches wahr ist oder falsch, denn das haben wir schon längst für uns gethan: sondern uns nur scharf einzuprägen, wie das eine und das andere, das christliche und das unchristliche, aussieht und beschaffen ist. Haben wir das nun gefunden: so nehmen wir dann unsern Standpunkt im Christenthum wieder ein, und behaupten ihn mit größerer Sicherheit.“

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wiederum diese Normidee nicht mehr durch Offenbarung und Tradition diktiert wird, ist der Theologe auf eine historisch-philosophische Selbstvergewisserung verwiesen. Er muss seine Christentumsidee einerseits in Einklang mit den Wahrheitsbedingungen der modernen Wissenschaften halten, sich aber zugleich durch Herstellung historischer Kontinuität mit dem überkommenen Christentum der geschichtlichen Herkunftstiefe seiner Idee versichern. Dieser Selbstverständigung räumt Schleiermacher mit der Philosophischen Theologie einen eigenen enzyklopädischen Ort ein, woraus sich die berühmte Dreifaltigkeit theologischer Disziplinen ergibt: Nachdem die Philosophische Theologie mit der Bestimmung eines Begriffs vom Wesen des Christentums die grundlegende Wertmaßstabsreflexion geleistet hat, entwirft die Historische Theologie anhand dieses Wesensbegriffs ein kritisches Bild von der schwankenden Wesensverwirklichung in Geschichte und Gegenwart des Christentums, um daraufhin in der Praktischen Theologie Kunstregeln für eine größtmögliche künftige Annäherung an die Idee des Christentums zu formulieren. In dem geschilderten Dreischritt gewinnt der angehende Theologe eine reflektierte und historisch gesättigte Urteilsfähigkeit, die ihn sowohl theoretisch (Einschätzung des gegenwärtig Gegebenen und Geforderten) als auch praktisch (situationsadäquate Anwendung von Regelwissen) in die Lage versetzt, die kirchenleitenden Aufgaben nicht nur routiniert, sondern eigenständig-produktiv zu erfüllen. Mit der beschriebenen Dreiheit von Disziplinen zeichnet Schleiermacher ein organisch-differenziertes Bild von Theologie und theologischer Bildung, das im Gedanken der Ausbildung theologischer Urteilskompetenz durch reflektierte Aneignung einer Christentumsidee seine inhaltliche Mitte hat.¹⁵⁹ Hinter dieser Bildungsidee wiederum steht eine bestimmte Idee von Kirchenleitung, wonach es nicht mehr genügt, das kirchliche bzw. christliche Leben in möglichst professioneller Fortführung des Überkommenen zu gestalten. Vielmehr erfordern die sich wandelnden Existenzbedingungen des Christentums eine flexiblere Wahrnehmung der Leitungsfunktionen, wozu nur selbständig urteilende Leitungspersonen fähig sind. Der Diagnose vom grundstürzenden historischen Wandel korrespondiert daher das Ideal einer mündigen Theologensubjektivität, bei der die innere Autorität der eigenen reflektierten Überzeugung und ihres Urteils an die Stelle der verlorenen Autorität objektiver Instanzen tritt, um kraft eigenständiger Wesensbestimmung und Wesensgestaltung dem Christentum einen Weg in die Zukunft offen zu halten.  Zieht man die Ausrichtung auf das theologische Urteilsvermögen als dem Vermittlungspunkt zwischen Theorie und Praxis in Betracht, kann von einem „Theorie-Praxis-Kontrast“ (I. U. Dalferth: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis [s. Anm. 2], 35) in Schleiermachers Theologiekonzeption gerade nicht die Rede sein.

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13. Ihrer beeindruckenden Geschlossenheit zum Trotz hat sich Schleiermachers Disposition der Theologie nie durchgesetzt, ein eigenes Fach zur historisch-philosophischen Wesensreflexion konnte sich nicht etablieren. Hat sich die infrage stehende Bildungsidee damit erübrigt? Schleiermacher selbst war der problematische Status der in reformerischer Absicht konzipierten Philosophischen Theologie wohl bewusst. So schließt der einschlägige erste Teil der Kurzen Darstellung in der ersten Auflage von 1811 mit dem Satz: „Es ist natürlich, daß sie [sc. die Philosophische Theologie; M.F.] […] nicht leicht zu einer förmlichen theologischen Disciplin wird ausgebildet werden.“¹⁶⁰ Den Grund für diese Schwierigkeit erblickt Schleiermacher in dem Umstand, dass die „philosophische Theologie eines Jeden […] die gesamten Principien seiner theologischen Denkungsart [enthält]“¹⁶¹. Diese Formulierung hebt offenbar auf die eigentümliche Problematik der Prinzipienreflexion im Gegensatz zur Auseinandersetzung mit konkreten historischen Inhalten oder praktischen Gestaltungsproblemen ab. Die notwendige Abstraktheit und wohl auch die geforderte innersubjektive „Tiefe“ der (zumal kritischen) Reflexion auf die teils unbewussten¹⁶² Fundamente der je eigenen „Denkungsart“ lassen das neu konzipierte Fach als eine unsichere Geburt erscheinen. Es gibt aber noch einen zweiten Grund für den prekären Status der Philosophischen Theologie: Aus ihrer Aufgabenstellung, eine historische Wesensbestimmung des Christentums vorzunehmen, ergibt sich ein interdisziplinäres Abgrenzungsproblem. Denn: „Die philosophische Theologie sezt das materiale der historischen voraus“¹⁶³. Die Wesensbestimmung der historischen Größe ‚Christentum‘ kann sich nur am historischen Stoff vollziehen, der von der Historischen

 KD1, 23 § 6, 264. Vgl. den Brief an Joachim Christian Gaß von 1810, in dem Schleiermacher nach Fertigstellung des Manuskripts der Kurzen Darstellung über mögliche Einwände des Publikums räsoniert: „Mir sind die Sachen nun durch die vielfache Bearbeitung so familiär geworden, daß ich nichts darin finde, was Anlaß dazu geben könnte. Nur daß viele Gespenster darin seien, werden die Leute sagen[,] theologische Disciplinen, die es nie gegeben habe und nie geben werde“ (zit. n. D. Schmid: Einleitung [s. Anm. 7], 13). – Die zweite Auflage der Kurzen Darstellung formuliert etwas optimistischer (§ 68, 351): „Beide Disciplinen der philosophischen Theologe sehen ihrer Ausbildung noch entgegen.“  KD1, 23 § 5, 264.  Vgl. PT 23: „Die Principien sind allerdings die zuerst wirksamen, aber deswegen keineswegs das zuerst erkannte […]. Wenn das Princip vorher zu einem klaren Bewußtsein gebracht wäre […]: so wäre es nicht möglich daß so verschiedene Vorstellungen von dem Umfange und Wesen des Christenthums bestehen könnten.“  KD1, 22 § 2, ebd. Vgl. KD2 § 252. Vgl. M. Rössler: Schleiermachers Programm (s. Anm. 8), 135– 140, zur „wechselseitigen Abhängigkeit“ (aaO. 220) von Philosophischer und Historischer Theologie.

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Theologie dargeboten wird. In der von Schleiermacher entwickelten Methode der Wesensbestimmung spiegelt sich diese Verschränkung von historischer und philosophischer Reflexion in der erwähnten Kombination von deduktiv-spekulativen und induktiv-empirischen Methodenschritten wider.¹⁶⁴ So muss im Wesensbestimmungsversuch der Glaubenslehre die historische Betrachtung insbesondere die Ansicht einbringen, das zentrale Motiv im christlich-frommen Bewusstsein sei generell der Bezug auf die „durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung“¹⁶⁵. Stellt man die beschriebene Verflechtung von philosophischen und historischen Elementen in Rechnung, tritt zutage, dass die Philosophische Theologie ihre Aufgabe im Zuge einer mehrfachen Belehnung erfüllt. Um einen präzisen Begriff vom Wesentlich-Christlichen zu gewinnen, setzt sie verdichtete Ansichten aus der empirischen Geschichtskunde in geeigneter Weise mit Begriffen aus der Religionsphilosophie in Beziehung. Dabei ist nach Schleiermacher vor allem die Exegetische Theologie einschlägig, weil sich am Urchristentum am leichtesten das Charakteristische der neuartigen Religionsgemeinschaft ablesen lässt. So ergibt sich in Schleiermachers Bestimmungsversuch das Individuationsmerkmal des Christentums, das in der Formel vom konstitutiven Bezug des christlich-religiösen Bewusstseins auf die „durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung“ enthalten ist, in erster Linie aus der Zusammenschau exegetischer Studien insbesondere zum Leben Jesu.¹⁶⁶ In Anbetracht dieser Belehnungsakte wird klar: Die Philosophische Theologie hat zwar ein fundamentales Thema und eine eigene Methode; sie ist aber ein Fach ohne eigenen wissenschaftlichen Stoff, und der dazugehörige Fachmann wäre wie ein König ohne Land. Die Abhängigkeit der Philosophischen von der Historischen Theologie ist aber mit der Inanspruchnahme von Resultaten der historisch-theologischen Forschung noch gar nicht vollständig erfasst. Zieht man nämlich die dem Wesensbegriff zugeschriebene normative Funktion für die Historische und die Praktische Theologie sowie für die Kirchenleitungspraxis in Betracht, wird man zu dem Schluss kommen, dass das Resultat der Philosophischen Theologie, die Wesensformel, diese Funktion alleine noch keineswegs erfüllen kann. Sie bedarf vielmehr der „Bewährung“¹⁶⁷ durch das auf ihrer Basis entwickelte Geschichtsbild der Historischen Theologie, weil sie – als Ergebnis einer begrifflich-empirischen Mischreflexion – selbst lediglich den Status eines hypothetischen Urteils hat. „[D]ie philosophische Theologie würde ganz willkührlich werden, wenn sie sich    

S. dazu M. Schröder: Kritische Identität (s. Anm. 8), 124– 158. CG2 § 11, Bd. 1, 93 (Orig.pag. 74). S. dazu M. Schröder: Kritische Identität (s. Anm. 8), Teil C. Vgl. KD2 § 44 Zs., 343. Vgl. dazu M. Schröder: Kritische Identität (s. Anm. 8), 150 – 158.

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von der Verpflichtung losmachte alle Säze durch die klarste Geschichtsauffassung zu belegen.“¹⁶⁸ Ob das Wesentliche der historischen Erscheinung ‚Christentum‘ mit der Formel tatsächlich getroffen wurde, muss sich dadurch bestätigen, dass sich mit ihrer Hilfe das geschichtliche Material zu einem kohärenten Verlauf (samt „Fortschritten“ und „Rückschritten“) zusammenschauen lässt, der zudem „mit dem allgemeinen christlichen Bewußtseyn [zusammenstimmt]“.¹⁶⁹ Freilich ist auch durch solch historische Bewährung, dessen ist sich Schleiermacher wohl bewusst, der Hypothesenstatus und damit die Vorläufigkeit grundsätzlich nicht zu überwinden, die allem historischen Urteilen notwendig anhaften. „Wir müssen uns aber allerdings bescheiden“, gibt er zu bedenken, weil maßgebliche Elemente der Wesensbestimmung des Christentums „doch auf dem historischen Gebiet liegen“.¹⁷⁰ Daraus ergibt sich für jeden (protestantischen) Theologen das Erfordernis, sich – unbeschadet der konstitutiven Funktion der Christentumsidee für sein Kirchenleitungshandeln – für eine mögliche Korrektur der eigenen Ansicht vom Wesentlich-Christlichen offen zu halten.¹⁷¹ Das heißt: „es kann einer sagen, Ich bin im Besiz des reinen Begriffes vom Christenthum; und ein anderer sagt, Das bezweifle ich: die Vorstellung die du hast ist nur ein Resultat von dem was sich bis jetzt entwikkelt hat, […] es kann aber zukünftig eine neuere Ansicht geben. Hiegegen wird niemand etwas einwenden. Die Ueberzeugung ist nur eine subjective. Darin liegt aber gar nicht daß der Zustand der Ueberzeugung aufhöre und ein Skepticismus in dieser Hinsicht

 KD2 § 254 Zs., 415.  ThEnz 26: „[S]o kann die Geschichte diesen Aufstellungen [sc. aus der Philosophischen Theologie; M.F.] zur Bewährung dienen, wenn die Betrachtung gewisser Zustände als Fortschritte oder Rückschritte gemäß der philosophischen Theologie zusammenstimmt mit dem allgemeinen christlichen Bewußtseyn.“ An anderer Stelle spricht Schleiermacher mit Blick auf das „kritische Verfahren“ der Philosophischen Theologie davon, „daß nur eine Annäherung an die Richtigkeit möglich ist, und die Begriffe sich erst in der Anwendung in Wissenschaft und Kirchenleitung bewähren können“ (ThEnz 65). Die Philosophische Theologie kann daher „nur durch unendliche Aproximation“ (ThEnz 69) fortschreiten.  PT 21.  Diese Korrekturbereitschaft im Fundamentalen hält Schleiermacher für „den wesentliche[n] Unterschied des protestantischen und katholischen Charakters. Die Maxime, auch die welche die leitenden sind in der Kirche, sollen sich empfänglich erhalten dafür daß es eine vollkommnere Ansicht geben kann als welche sie besizen, das ist gerade das Läugnen der Unfehlbarkeit auf dem Gebiet der Geschichte selbst, und das ist eigentlich protestantisch; wogegen die Behauptung der Unfehlbarkeit das katholische Princip ist“ (PT 22). Unter den Bedingungen eines unverdrängten historischen Bewusstseins „[muß] jeder, weil die historische Betrachtung immer im Verstehen des gegenwärtigen aus dem vergangenen muß begriffen bleiben, also das Urtheil über die Gegenwart nicht als absolut geschlossen vorausgesetzt werden kann, in der Forschung welches die Grenzen des Christenthums sind und wie mannigfach dasselbe sich gestalten kann, verharren“ (PT 24).

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gefordert wäre, sondern nur daß man sich dessen bewußt und augenblikklich bereit sei eine neue Untersuchung zu beginnen, um andere Elemente die ein anderer gefunden hat, als eine Bereicherung anzusehen.“¹⁷²

In der Konsequenz der damit konstatierten Unabschließbarkeit der historischen Wesensbestimmung rechnet Schleiermacher denn auch mit einer unhintergehbaren Pluralität von Wesensauffassungen innerhalb wie außerhalb des Christentums.¹⁷³ Aber es ist noch ein weiterer Grund für die strukturelle Ergänzungsbedürftigkeit der Philosophischen durch die Historische Theologie zu notieren. Er scheint in der Abstraktheit und „Dürre“ der Wesensformel zu liegen. Es gehen nicht nur Ergebnisse historischer Forschung als Voraussetzungen in die Wesensbestimmung ein, sondern diese Voraussetzungen müssen auch nachträglich wieder entfaltet werden, auf dass die Formel überhaupt verstanden werden kann. Die Historische Theologie hat gewissermaßen eine den Abstraktionsvorgängen der Formelbildung gegenläufige Konkretisierung zu erbringen – nicht zuletzt, so wird man unter psychologischem Gesichtspunkt hinzufügen dürfen, um der abstrakten Formel die nötige Anschaulichkeit zu verleihen, mit deren Hilfe allein der Gestaltungswille, den die Christentumsidee zu motivieren und zu normieren hat, überhaupt zu erreichen ist. Die begriffliche Verdichtung der Auffassung vom Wesentlich-Christlichen, welche die Philosophische Theologie vollbringt, bedarf im Gegenzug der historischen Entfaltung, auf dass die in solchem Wechselspiel zustande kommende Christentumsvorstellung tatsächlich als lebendige Normidee zu wirken vermag.¹⁷⁴

 PT 21.  Eine solche Pluralität von (freilich noch unwissenschaftlichen) Wesensauffassungen ist nach Schleiermacher schon von Alters her gegeben: „Sobald sich Differenzen im Christenthum entwickelt haben, so muß auch Verschiedenheit gewesen seyn in der Vorstellung von dem eigenthümlichen Wesen des Christenthums, zB in dem Gegensaz von Judenchristen und Heidenchristen, – diese hatten eine ganz andre Ansicht vom Wesen des Christenthums als jene, also eine verschiedne philosophische Theologie“ (ThEnz 28). Den Hauptgrund dafür, dass auch gegenwärtig „so verschiedene Vorstellungen von dem Umfange und Wesen des Christenthums bestehen“ (PT 23), erblickt Schleiermacher freilich in der mangelnden („philosophischen“) Reflexion der Prinzipien, die in die Wesensvorstellung – wenn auch ohne „klares Bewußtsein“ (ebd.) – eingehen: „Die Principien sind allerdings die zuerst wirksamen, aber deswegen keineswegs das zuerst erkannte“ (ebd.).  Im Zweiten Sendschreiben an Lücke (s. Anm. 119), 352, spricht Schleiermacher im Blick auf die historische Disziplin Dogmatik von der „Darstellung des eigentlich Christlichen“. Demnach ist die Dogmatik – man denke an Schleiermachers Glaubenslehre und ihre Einleitung – die lehrhaft entfaltende Darstellung eines gegenwärtig gültigen, d. h. allgemein zugänglichen, Christentumsverständnisses auf der Basis einer methodisch-konzentrierten Wesensbestimmung

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14. Die vorausgehenden Überlegungen haben ergeben, dass sich die Aufgabe der Ausbildung einer reflektierten Christentumsidee nicht fein säuberlich auf eine Disziplin begrenzen, sondern vollständig nur im komplexen Zusammenspiel von Historischer und Philosophischer Theologie bewältigen lässt: Beide „können […] nur mit und durcheinander zu ihrer Vollkommenheit gelangen“¹⁷⁵. Obwohl Schleiermacher um die damit angesprochenen Abgrenzungsprobleme wusste, hat er auf die Philosophische Theologie als eigenen „Teil“ der Theologie insistiert: „Philosophische und historische Theologie müssen noch bestimmter auseinander treten“¹⁷⁶. Dabei dürfte ihn vor allem die Absicht geleitet haben, die der Philosophischen Theologie zugewiesene Prinzipienreflexion unübersehbar als eigenständige Obliegenheit der Theologie und als distinktes theologisches Bildungsziel auszuweisen: zum einen gegenüber der notwendigen empirisch-historischen Arbeit der Geschichtsdarstellung und zum anderen gegenüber der traditionalistischen Versuchung der Theologie, die normative Idee des Christentums dogmatisch diktieren zu wollen. Im Festhalten an dieser Absicht war Schleiermacher doch Realist genug, auch die Möglichkeit ins Auge zu fassen, wie der unverzichtbaren Aufgabe der Wesensreflexion auch ohne die Wahrnehmung durch eine eigene Disziplin nachzukommen wäre – also im Rahmen des seinerzeit etablierten und im Wesentlichen heute noch gültigen Fächerkanons. Zuerst ist hier natürlich die Einleitung der Glaubenslehre zu nennen, wo das Geschäft der Philosophischen Theologie in einem knappen Entwurf durchgeführt wird, um der Dogmatik das Prinzip für die Entfaltung der geltenden Lehre bereitzustellen. Schleiermacher hat aber die Reichweite einer solchen Kurzfassung der Philosophischen Theologie nicht überschätzt. Der umfassenden Bildungsaufgabe, die mit dem Terminus der Wesensbestimmung bezeichnet ist, kann sie seiner Auffassung nach nicht gerecht werden. Dies lässt sich aus einer Bemerkung der Kurzen Darstellung schließen. Mangels der „gehörigen Ausbildung“ der Philosophischen Theologie, so Schleiermacher in § 29, „können die einzelnen Theile derselben nur fragmentarisch mit

und ihrem Verdichtungsresultat, der Wesensformel. In abwandelnder Übertragung einer Metapher Schleiermachers zur Beschreibung des Verhältnisses von Ethik und Geschichtskunde auf das Verhältnis der beiden der Christentumsidee gewidmeten Teile der Theologie zueinander könnte man demnach formulieren: Die Historische Theologie im Ganzen ist das „Bilderbuch“ der Philosophischen Theologie, die Philosophische Theologie wiederum das „Formelbuch“ der Historischen Theologie. Vgl. Friedrich Schleiermacher: Ethik (1812/13). Mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hg.v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, 217.  KD2 § 254, 415.  Ebd.

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dem Studium der historischen Theologie gewonnen werden“¹⁷⁷. Eine Erläuterung dieses Satzes bietet die Enzyklopädie-Vorlesung: „Hierüber wird nun gesagt, es müssen eben die einzelnen Theile der philosophischen Theologie fragmentarisch mit dem Studium der historischen gewonnen werden. In dieser kommen nämlich auf eine geschichtliche Weise auch die Hauptsäze der philosophischen Theologie vor, und dadurch muß sich die philosophische Theologie im Studirenden gestalten. In der historischen Theologie müßte also vorkommen, was zu gewissen Zeiten als das Wesen des Christenthums gegolten hat, wie sich die Ansicht darüber verschieden modificirt hat: daraus nun muß sich jeder seine eigne Vorstellung von dem Wesen des Christenthums bilden, und dann hat er das Fundament für sich, worauf er zu bauen hat.“¹⁷⁸

Anstatt den theologischen Bildungsgang mit dem Studium der – als Fach nicht vorhandenen – Philosophischen Theologie zu fundieren, kann sich der Student damit behelfen, die Frage nach dem Wesen des Christentums „auf geschichtliche Weise“ zu verfolgen. Er kann dies tun, indem er sich in seinen historischen Studien die unterschiedlichen Auffassungen des Wesentlich-Christlichen vergegenwärtigt, die innerhalb der Religions- und Theologiegeschichte des Christentums aufgetreten sind. Wird die Frage nach den geschichtlichen „Modifikationen“ der Christentumsidee in dieser Weise zu einer Leitperspektive der Historischen Theologie, insbesondere der Exegese sowie der Kirchen- resp. Theologiegeschichte, wird diese ersatzweise zu dem Ort, an dem die „Bildung“ einer „eigne[n] Vorstellung von dem Wesen des Christenthums“ stattzufinden hat: In der Beschäftigung mit Paulus, Augustin, Thomas oder Luther, um nur einige „Väter“ zu nennen, stehen dann nicht in erster Linie religiöse Biographien oder imposante und einflussreiche Gedankengebäude zur Debatte, sondern Auffassungen von der Mitte des Christlichen, die dem Studenten als exemplarische Varianten vor Augen treten, an denen sich das eigene Ideal profilieren und korrigieren lässt. Voraussetzung für eine solche christentumstheoretische Perspektive ist allerdings, dass die Geschichtsbetrachtung durch religionstheoretische (in Schleiermachers Terminologie: „ethische“) Begriffe geleitet wird.¹⁷⁹ Ohne einen Begriff von Religion lassen sich religiöse oder theologische Äußerungen nicht daraufhin befragen, welche spezifische Auffassung des (Christlich‐)Religiösen sich in ihnen ausspricht. Dann bleiben die historischen Zeugnisse für die Wesensreflexion stumm – oder sie werden dem Geschichtsbild und Christentumsbegriff der konfessionellen Tradition subsumiert, dienen damit aber nur der Reproduktion des Überkommenen.

 KD2 § 29, 336.  ThEnz 29.  Vgl. KD2 § 29, 336 f: „wenn das Studium der Ethik vorangegangen ist“.

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Nimmt man zu Schleiermachers Idealbegriff der Theologie, wie er in der Kurzen Darstellung programmatisch dargelegt ist, die angesprochenen Randbemerkungen zu deren faktischer Gestalt hinzu, ergibt sich, was das nicht-‚technische‘, ‚historische‘ Wissen vom Christentum angeht, ein entsprechend modifiziertes Bild weniger der Aufgaben als der Aufgabenverteilung innerhalb der Theologie. Als unabweisbare theologische Bildungsangelegenheit wird die idealerweise innerhalb der Philosophischen Theologie zu bewerkstelligende Wesensreflexion – auch nach dem Ursprungskonzept Schleiermachers vielfach mit der Historischen Theologie verzahnt – dieser als eine eigene Obliegenheit neben dem ursprünglichen Geschäft der Geschichtsdarstellung und Gegenwartsdiagnose zugeordnet. Der Historischen Theologie in ihren unterschiedlichen Unterdisziplinen kommt also unter den gegebenen Bedingungen die doppelte Aufgabe von Ausbildung und bewährender Anwendung einer reflektierten Christentumsidee zu, die sich wiederum nur unter der Voraussetzung religionsphilosophischer Bildung oder jedenfalls unter Inanspruchnahme religionsphilosophischer Erkenntnisse erfüllen lässt. Es wird an diesem Behelfsmodell noch deutlicher, was auch schon an der Idealkonstruktion zutage trat: Das theologische Bildungsziel der Ausbildung einer reflektierten Christentumsidee, dem der historische Teil der Theologie gewidmet ist, wird in religionsphilosophischen und geschichtshermeneutischen Interpretationsprozessen verfolgt, die notwendig zirkulär sind.¹⁸⁰ Denn die christentumstheoretische Reflexionsperspektive innerhalb der Historischen Theologie fundiert einerseits die Entwicklung eines Geschichtsbildes, aber das Geschichtsbild geht andererseits als Deutungsprämisse wieder in die historische Wesensreflexion ein. Zusätzlich bringen sich dabei religionstheoretische Prämissen zur Geltung, die von dem jeweiligen Stand bzw. der jeweils gewählten Position der einschlägigen philosophischen Disziplin abhängen. Damit zeichnet sich ab, dass Schleiermachers theologische Bildungsidee, so klar sie von sich aus erscheint, in weitreichende methodische Probleme führt, die womöglich noch verwickelter sind, als ihrem Urheber vor Augen stand.¹⁸¹

 Vgl. Schleiermachers Notiz zu KD2 § 252 über das Verhältnis von Historischer und Philosophischer Theologie, „daß beyde gegenseitig einander voraussezen“ (ThEnz 246).  Vgl. die Schlussbemerkungen zu notwendigen Korrekturen an Schleiermachers Methode der Wesensbestimmung bei M. Schröder: Kritische Identität (s. Anm. 8), 230 – 232; ferner insgesamt E. Troeltsch: Wesen des Christentums (s. Anm. 94).

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II 15. Mit der Übersicht über das in der Kurzen Darstellung implizit enthaltene enzyklopädische Behelfskonzept ist der rekonstruktive Teil dieser Untersuchung abgeschlossen. Es folgen einige Überlegungen zur Aktualität des darin entwickelten Bildes von Theologie und theologischer Bildung. Nun mag es so scheinen, als biete Schleiermachers Konzeption in der vorliegenden Wiedergabe für eine gegenwärtige Aneignung geradezu unübersteigbare Hürden; zieht doch bereits die zentrale Formel vom ‚Wesen des Christentums‘ unweigerlich den Vorwurf von „Essentialismus“ und überholter Ontologie auf sich, womit sich für viele die darauf gründende Theorie erledigt hat.¹⁸² Diese Debatte kann hier nicht aufgerollt werden, auch nicht die Frage, ob die Betrachtung der Geschichte überhaupt auf derartige historiographische Substanzbegriffe¹⁸³ und ihre Näherbestimmung sinnvoll verzichten kann – etwa wenn sie die Darstellung einer Geschichte „des Christentums“ unternimmt – und welcher erkenntnistheoretische Stellenwert solchen Begriffen zukommen mag. Es kann auch dahingestellt bleiben, welche ontologischen Hintergrundannahmen bei Schleiermacher mit dem Wesensbegriff verbunden sind.¹⁸⁴ Denn der hier vorgelegte Interpretationsvorschlag zielt auf eine Ebene seiner Theologie- und Theologentheorie, die ganz unabhängig von deren ontologischen Implikaten zugänglich ist.¹⁸⁵ Ausgehend von der Korrespondenz von funktionalem und materialem Aspekt in Schleiermachers Theologiebegriff – der Akzentuierung des praktischen Zwecks entspricht die Leitfrage nach zweckdienlichen Inhalten des theologischen Studiums –, wurde die notwendige Ausbildung einer normativen Christentumsidee zur Begründung einer christentumsgeschichtlichen und gegenwartsdiagnostischen Urteilskraft sowie zur Durchklärung handlungsleitender Willensmotive als Zentralgedanke der Kurzen Darstellung ausgewiesen. Als Maßstab der Urteilskraft und als Triebfeder des Willens ist eine solche Normidee eine konstitutive Instanz innerhalb der Subjektivität des Theologen, von deren Ausprägung die Angemes-

 Vgl. z. B. Michael Moxter: Neuzeitliche Umformungen der Theologie. Philosophische Aspekte in der neueren Schleiermacherliteratur, in: PhR 41 (1994), 133 – 158, 158.  Ein derartiger Substanzbegriff vom Christentum enthält die bewusste oder unbewusste, aber vermutlich historiographisch unvermeidliche Annahme, „daß sich das Christenthum festhalten läßt als geschichtliche Erscheinung, troz allem Wechsel“ (ThEnz 35).  Diesbezüglich ist vor allem das Begriffspaar von ‚Kraft‘ und ‚Erscheinung‘ einschlägig; s. dazu M. Rössler: Schleiermachers Programm (s. Anm. 8), 99 – 105; M. Schröder: Kritische Identität (s. Anm. 8), 158 – 163.  Ähnlich bereits aaO. 159 f.

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senheit seiner Urteile abhängt.Was ihren gnoseologischen Status angeht, handelt es sich bei der fraglichen Idee um einen Reflexionsbegriff der Urteilskraft, der von sich aus keinerlei Anspruch auf Erkenntnis des Ansichseienden erheben muss. Indessen gehört es nach Schleiermacher zum Proprium des religiösen Engagements des zur Kirchenleitung Berufenen, dass es als „kirchliches Interesse“ die eigenen Normideen zur Sicherstellung von deren Gemeinschaftsdienlichkeit und zur Gewinnung von Selbständigkeit einer wissenschaftlichen Prüfung und Näherbestimmung unterzieht. So sucht der Theologe seine christentumstheoretische Normidee einerseits mit dem allgemeinen Wahrheitsbewusstsein der Gegenwart sowie andererseits mit dem Zeugnis der Christentumsgeschichte zu vermitteln. Er tut dies im Zuge der Ausbildung eines möglichst konturierten Begriffs vom Wesen des Christentums, der aus der Verschränkung von historischer Beobachtung und philosophischem Gedanken hervorgeht, wobei Letzterer die aktuellen Wahrheitsbedingungen repräsentiert.¹⁸⁶ Dieser Begriff vom WesentlichChristlichen wiederum hat, wie sich an Schleiermachers Hintergrundtheorien zeigen lässt,¹⁸⁷ grundsätzlich die Signatur eines historiographischen Reflexionsbegriffs, d. h. er ist das Resultat von historisch-philosophischen Interpretationsakten und „bewährt“ sich daraufhin als Urteilsprinzip innerhalb historiographischer Interpretationsakte. Daher behält er durchweg den Rang einer vorläufigen, auf hermeneutische Bestätigung angewiesenen Hypothese – und sofern der Theologe im Zuge der wissenschaftlichen Selbstkritik den historischen Charakter der Wesensreflexion wahrnimmt, wird er sich des hypothetischen Ranges seiner reflektierten Christentumsidee auch immer bewusst sein. Nimmt man beide Dimensionen von Schleiermachers Wesensbegriff zusammen – christentumsdiagnostischer Wertmaßstab und kirchenleitungspraktisches Handlungsideal auf der einen sowie historiographische Kontinuitätsidee auf der anderen Seite – stellt sich der theologische Bildungsprozess als Komplex hermeneutischer Vollzüge dar, die der Ausbildung einer geschichts- und gegenwartsadäquaten theologischen Urteilskraft dienen, ohne dass dabei ontologische Prämissen in Anschlag gebracht und transzendentalphilosophische Grenzziehungen missachtet werden müssten. Dieser „ent-ontologisierte“¹⁸⁸ Begriff von ‚Wesen‘ oder ‚Idee‘ des Christentums eröffnet die Möglichkeit einer aktuellen Applikation von Schleiermachers Theologiekonzeption.

 Vgl. aaO. 121 f.  S. aaO. 124– 183.  AaO. 160.

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16. Schleiermachers Beschreibung eines gelungenen Theologiestudiums besticht schon dadurch, dass sie die diversen Lernprozesse in den methodisch und inhaltlich heterogenen Fächern in eine differenzierte Integrationsperspektive einstellt. Auf der Basis der Unterscheidung von unmittelbar und mittelbar kirchenleitungsbezogenem, von ‚technischem‘ und ‚historischem‘ Wissen wird, was das Letztere betrifft, der Erwerb einer klaren, historisch und philosophisch aufgeklärten Idee von dem, was das Christentum wesentlich ausmacht und woran folglich das Urteil über das real bestehende und zu gestaltende Christentum zu messen und die kirchenleitende Gestaltungsarbeit auszurichten ist, zum übergreifenden Bildungsziel, dem alles Einzelwissen, sofern es wirklich als theologisches Wissen gelten will, zuzuordnen ist. Angesichts der Studienwirklichkeit unserer Tage erscheint diese integrale Bildungsidee nach wie vor bedenkenswert. Denn gegen das Gefühl hoffnungsloser Disparatheit, das Studentinnen und Studenten ob der Fächer- und Wissensmannigfaltigkeit innerhalb der Theologie häufig bestimmt, helfen keine „Integrationsseminare“. Stattdessen werden die Vertreterinnen und Vertreter aller theologischen Fächer von Schleiermacher vor die grundsätzliche Frage gestellt, worin der spezifisch theologische Gewinn des je dargebotenen Wissens – abgesehen von dem allgemeinen wissenschaftlichen Interesse, das es womöglich verdient – bestehen mag. Anders als beim ‚technischen‘ Wissen der Praktischen Theologie geht es dabei aber im Falle des ‚historischen‘ Wissens wohlgemerkt nicht, wie ein verbreitetes Missverständnis von Schleiermachers funktionaler Theologietheorie meint, um eine unmittelbare Relevanz des Wissens für die Kirchenleitungspraxis (im Sinne der geläufigen Frage: „Wozu brauche ich das eigentlich im Pfarramt?“). Das ‚historische‘ Wissen hat sich vielmehr nur mittelbar auf die Kirchenleitung zu beziehen, sofern es einen Beitrag zur Bestimmung und Entfaltung der Christentumsidee und mithin zur Bildung der theologischen Urteilskraft leistet. Indessen werden auch die Studierenden durch Schleiermachers Bildungsideal in die Pflicht genommen. Es setzt bei jedem angehenden Theologen die Bereitschaft voraus, sich in der Reflexion der eigenen Leitbilder vom Entscheidend-Christlichen sowohl mit den allgemein in Geltung stehenden Wahrheitskriterien zu konfrontieren als auch mit den vielfältigen Erscheinungsformen, die das Christentum in Geschichte und Gegenwart hervorgebracht hat. Damit ist eine doppelte Infragestellung der (mehr oder weniger bewusst) vorhandenen Überzeugungen gegeben, der es standzuhalten gilt, um in langwierigen und komplexen Verstehensprozessen zu einer erneuerten Anschauung des Wesentlich-Christlichen zu gelangen, die sich in Kontinuität zur Christentumsgeschichte und in Kongruenz mit dem allgemeinen Wahrheitsbewusstsein (und dem eigenen Wahrheitsgewissen) weiß. Der Erwerb einer solchen Anschauung als Prinzip der

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eigenen theologischen „Denkungsart“ bedeutet denn auch erst eigentlich den Gewinn einer eigenen theologischen Identität. Das dabei geforderte Maß an hermeneutischer Eigenständigkeit freilich vermag nur aufzubringen, wer in Schleiermachers Bildungsidee tatsächlich auch das eigene Bildungsbedürfnis wiederzuerkennen vermag: das religiös motivierte, selbst aber wissenschaftliche Verlangen, das eigene Christsein und das aus ihm geborene Engagement mit der historischen und mit der philosophischen Vernunft in Einklang zu halten.¹⁸⁹ Schleiermachers Mündigkeitsideal mag allerdings erst recht als Überforderung erscheinen, wenn man bedenkt, dass sich die Aufgabe der Entwicklung eines entsprechenden Bildes von dem, „was das Christenthum sey“¹⁹⁰, methodisch noch um einiges schwieriger darstellt, als es Schleiermachers innovativer und hochreflektierter Entwurf insinuiert.¹⁹¹ Dies liegt spätestens seit Ernst Troeltschs ebenfalls klassischen Überlegungen zur Frage der Wesensbestimmung zutage, auf die hier – als weiteres Beispiel und Vorbild methodischer Weiterarbeit an dieser fundamentalen Frage – nur pauschal hingewiesen werden soll.¹⁹²

 Ist das richtig, lebt das Theologiestudium nicht zuletzt von einem Selbstdurchklärungsimpuls, der dem christlichen Glauben unabhängig von Kirchenleitungsobliegenheiten und Christentumsverbesserungsintentionen eignet. Hier liegt wohl ein Wahrheitsmoment der Kritik an Schleiermachers funktionaler Begründung der Theologie, wie sie beispielsweise von Emanuel Hirsch vorgebracht wurde. Vgl. Andreas Kubik: Wahrheitserkenntnis oder Frömmigkeitshermeneutik? Schleiermachers Theologiebegriff und seine enzyklopädische Relevanz angesichts der Kritik Emanuel Hirschs, in: Ders./M. Murrmann-Kahl: Unübersichtlichkeit (s. Anm. 8), 129 – 148, 134– 136.  ThEnz 35.  Vgl. den Hinweis bei U. Barth: Friedrich Schleiermacher (s. Anm. 157), 80, „daß durch den rasanten Fortschritt der dogmengeschichtlichen Forschung und durch die erhöhte Selbstproblematisierung des historischen Bewusstseins im Zeitraum nach Schleiermacher die inhaltlichen Probleme und methodischen Kosten für eine historische Wesensbestimmung des Christentums erheblich gestiegen sind“.  E. Troeltsch: Wesen des Christentums (s. Anm. 94). Troeltsch hat an anderer Stelle Schleiermacher geradezu hymnisch, aber ebenso kritisch als Vorläufer des eigenen Programms einer religions- und christentumstheoretisch ausgerichteten Theologie apostrophiert: „In Schleiermachers eigenem Sinne ist das Programm [sc. der Philosophischen Theologie; M.F.] nie durchgeführt worden. Es ist erst noch zu verwirklichen, und es ist die Aufgabe der heutigen wissenschaftlichen Theologie, es in voller Freiheit und mit breitester wissenschaftlicher Bildung in Angriff zu nehmen, statt die geistvolle aber höchst fragmentarische Skizze Schleiermachers […] mit immer neuem Gerede zu überschwemmen. Es kann von Schleiermachers eigener Lehre kaum ein Stein auf dem andern bleiben, aber sein Programm bleibt das große Programm aller wissenschaftlichen Theologie und bedarf somit nur der Ausarbeitung, nicht des Ersatzes durch neue Erfindungen. […] Erst so ergibt sich wieder ein Programm der wissenschaftlichen Theologie und zwar ein solches, das den Vorzug hat, keine neue Erfindung und keine geistreiche Tiftelei,

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17. In Anbetracht des Fehlens allgemein anerkannter wissenschaftlicher Wege zur Gewinnung eines zwischen Herkunft und Zukunft vermittelnden Christentumsbegriffs sind noch einmal Schleiermachers Bemerkungen zu einem behelfsmäßigen Modus der Wesensreflexion aufzurufen. Wie oben ausgeführt¹⁹³ ist Schleiermacher der Ansicht, dass in Ermangelung einer „gehörig ausgebildeten“ Disziplin zur Wesensbestimmung „die Hauptsäze der philosophischen Theologie“ auch „auf geschichtliche Weise“ angeeignet werden können, nämlich indem die Historische Theologie darlegt, „was zu gewissen Zeiten als das Wesen des Christenthums gegolten hat“.¹⁹⁴ Demzufolge findet im Rahmen des bestehenden Fächerkanons, in dem sich die Frage der Wesensbestimmung und Wesensgestaltung weder als eigenständige theologische Disziplin noch als explizites Studienziel etablieren konnte, die prinzipielle Auseinandersetzung mit der je eigenen Christentumsidee faktisch innerhalb der historischen Theologie statt. Diese Notiz ist erhellend, wenn man nach dem Beitrag der historischen Fächer zur theologischen Bildung fragt. Denn damit kommt eine Dimension des historischen Studiums in den Blick, die womöglich in der Selbstbeschreibung der einschlägigen Disziplinen kaum eine Rolle spielt – umso mehr aber in der Bildungsbiographie von Theologinnen und Theologen. Demnach liegt der genuine Bildungsgewinn jener Disziplinen nicht so sehr in der distanzierten Kenntnisnahme der Geschichte, erst recht nicht in der Vorbereitung auf unmittelbare Praxiszwecke (z. B. die pastorale Auskunftsfähigkeit über kirchliche Kunstgegenstände). Vielmehr dienen sie vorzüglich dem Interesse der theologischen Existenz nach Vergewisserung darüber, was das Christliche ist. Mag sich der Exeget oder die Theologiehistorikerin in Orientierung an den allgemeinen Standards historischer Wissenschaft noch so sehr gegen die Zumutung von Wesens- und Geltungsfragen sträuben – das theologische Bildungsinteresse der Studentinnen und Studenten wird sich doch unter der Hand der Beschäftigung mit theologiegeschichtlichen Positionen und exemplarischen

sondern ein alter grundlegender Gedanke unsers großen Meisters und eine organisch aus der Situation erwachsene Forderung zu sein. Damit wird dann wieder ein Mittelpunkt für die heute ganz desorientierten und neuer Vereinigung bedürftigen Gruppen und Richtungen wissenschaftlicher Theologie gegeben sein, in dem die Zwietracht und die falsche Schätzung der Distanzen überwunden werden kann und von dem aus die freieste und reichste individuelle Bewegung und Besonderheit möglich ist. […] Dann kann es auch von der Theologie heißen: non scholae sed vitae“ (Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft, in: Ders.: Zur religiösen Lage [s. Anm. 94], 193 – 226, 225 f). Vgl. zum Verhältnis von Schleiermachers und Troeltschs Wesensbestimmungsprogramm M. Laube: Wesen des Christentums (s. Anm. 16), 49 – 54.  S.o. § 14.  ThEnz 29, zu KD2 § 29.

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religiösen Gestalten bemächtigen, indem dabei die Frage möglicher Aneignung oder Fremdsetzung mitläuft. Auf diese Weise wird beim einzelnen Studenten die eigene Christentumsidee ins Bewusstsein gehoben, hinterfragt, womöglich korrigiert und erweitert, und am Ende bildet sich im Idealfall gewissermaßen eine Reihe von religiösen und theologischen „Helden“, von Vorbildern und Identifikationsgestalten, die mit ihrer mehr explizit oder mehr implizit ausgedrückten Christentumsauffassung jeweils für gewisse bleibende Einsichten hinsichtlich des Wesentlich-Christlichen stehen, aus denen sich immerhin die „Hauptsätze“ der „eigne[n] Vorstellung von dem Wesen des Christenthums“¹⁹⁵ zusammenstellen und wenigstens zu einem „fragmentarischen“ Wesensbild zusammenfügen lassen. Aus der Sicht der reinen Wissenschaft sind solche Aneignungen nicht recht vorgesehen und werden womöglich milde als unvermeidliche Erscheinungen theologischer Adoleszenz belächelt; aus der Sicht von Schleiermachers theologischer Bildungsidee sind sie, mangels etablierter Verfahren zur Wesensbestimmung, das Entscheidende, womit das Gelingen des Theologiestudiums steht und fällt. Schließlich kann man in dieser Sicht erst dann als ernstzunehmender Theologe gelten, sobald man eine einigermaßen reflektierte und konturierte Wesensanschauung gewonnen hat. Dem ist freilich hinzuzufügen, dass es von der Auswahl jener Identifikationsfiguren abhängt, in welchem Maße mit der jeweiligen Ahnenreihe neben der historischen Kontinuität auch die Zukunftsfähigkeit der aus ihr sich zusammenspiegelnden Christentumsidee gewährleistet ist. 18. Dem Plädoyer für Schleiermachers theologische Bildungsidee sollen sich nun noch einige Erwägungen zur Valenz des Wesensbegriffs für die methodische Selbstverständigung der Theologie anschließen. Ich beschränke mich dabei wieder auf deren nicht-‚technischen‘, ‚historischen‘ Teil. Wie beschrieben betrifft der augenfälligste Reformimpuls von Schleiermachers Kurzer Darstellung die prinzipientheoretische Grundlegung der Theologie. Er besteht in der Ersetzung einer dogmatischen durch eine wissenschaftliche, philosophisch-historische Wesensbestimmung und in der damit erwirkten Degradierung der Dogmatik aus ihrer normativen Vorrangstellung zu einer der Exegese und der Kirchengeschichte gleichgestellten Disziplin.¹⁹⁶ Es ist dies einer der Aspekte in Schleiermachers Theologiekonzept, der bei Vertretern dieser (im herkömmlichen Sinne) historischen Fächer in der Regel durchaus Anklang findet. Das wird nicht verwundern, wenn man in Rechnung stellt, dass historisch-kritische  ThEnz 29.  Schleiermachers Theologiekonzeption richtet sich ausdrücklich gegen die Ansicht, „daß die Dogmatik die eigentliche Theologie sei, alles andere nur Hülfswissenschaft“ (PT 6). Vgl. dazu PT 6 – 10.

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Exegese und Kirchengeschichte zu den Kräften zählen, die aus dem Prozess der Historisierung des Bewusstseins hervorgegangen sind und die selbst die historische Relativierung dogmatischer Normativitätsansprüche maßgeblich vorangetrieben haben: Historisierung im theologischen Denken bedeutet Entdogmatisierung – und Befreiung von dogmatischer Bevormundung. Nun impliziert die Alternative von dogmatischer oder historischer Wesensbestimmung bei Schleiermacher eine bemerkenswerte Pointe, die der wissenschaftlich-theologischen Arbeit zu größerer Selbstdurchsichtigkeit verhelfen kann. Sie ergibt sich aus der „theologentheoretischen“ Perspektive von Schleiermachers Enzyklopädie und lautet: Die Idee vom Wesen des Christentums ist eine konstitutive Funktion innerhalb der Theologensubjektivität; variabel sind allein der Gehalt, der Grad an Bestimmtheit sowie die Art und Weise ihrer Bestimmung. Anders gesagt: Jeder Theologe trägt faktisch – wie undeutlich auch immer – eine Vorstellung vom entscheidend und unterscheidend Christlichen in sich; die Frage ist nur, woher diese Vorstellung stammt und welches Maß an Klarheit sie besitzt. Geht man davon aus, dass sich die betreffende Vorstellung biographisch für gewöhnlich der kirchlichen Tradition verdankt, lässt sich jene Grundannahme Schleiermachers auch folgendermaßen umformulieren: Jeder Theologe bringt einen traditionellen Wesensbegriff ins Studium mit; die Frage ist nur, ob dieser Wesensbegriff im Laufe des Studiums primär eine dogmatische oder eine historische Durchklärung erfährt. Unter modernen Bedingungen scheint die allgemeine Tendenz diesbezüglich klar zu sein. Denn die Einübung im historischen Denken, die jedem Studenten und jeder Studentin der Theologie zugemutet wird, schwächt naturgemäß die Überzeugungskraft dogmatisch gesetzter Normen; und sie stärkt in der Folge das Bedürfnis, auf andere, wissenschaftliche Weise zu einer Klärung über das maßstabgebend Christliche zu gelangen. Die im Umgang mit den biblischen Texten und der Christentumsgeschichte selbstverständlich angewandte historische Methode enthält ein implizites Votum gegen die dogmatische und für die historische Wesensbestimmung. Für den historisch geschulten Theologen erscheint der Weg zur Aneignung traditionell-dogmatischer Wesenssetzungen also versperrt zu sein. Aber mangels einer „gehörigen“¹⁹⁷ Etablierung von Aufgabe und Methodik der historischen Wesensklärung – ein Problem, das bereits von Schleiermacher eingeräumt und von Troeltsch noch einmal verschärft vor Augen geführt wurde –, ergeben die alternativen Klärungsperspektiven allenfalls Fragmente, die sich kaum zu einem konturierten Ganzen fügen, um von einer präzisen Wesensformel und ihrer Ent-

 Vgl. KD2 § 29, 336.

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faltung in Geschichts- und Gegenwartsbild ganz zu schweigen. Der von Schleiermacher und auch von Troeltsch proklamierte Weg zur Konturierung des eigenen Wesensbegriffs scheint in unwegsames Dickicht zu führen. In solch aporetischer Lage liegt es nahe, die problematische Zielvorgabe fallen zu lassen. Ob der eminenten methodischen Unklarheiten und Schwierigkeiten begeben sich nicht wenige Theologen der Aufgabe einer prinzipiellen Orientierung über die Idee des Christentums und beschränken sich in ihrer Beschäftigung mit der unendlich reichen und unendlich interessanten Geschichte des Christentums auf eine „objektive“ wissenschaftliche Ansicht des Geschehenen und Gedachten. Schleiermacher selbst hat diese Tendenz zur alleinigen Ausrichtung am allgemeinhistorischen Wissenschaftsideal, die sich durch die allgemeine Spezialisierung im Bereich der Wissenschaften sicher noch verstärkt hat, bereits gesehen.¹⁹⁸ Ihm scheint der fragliche Weg für einen Forscher auch grundsätzlich als legitim zu gelten; nach Maßgabe seines doppelten Schlüsselkriteriums für Theologizität – mittelbarer Bezug zur Kirchenleitung und unmittelbarer Bezug auf das (Wesens‐)Wissen vom Christentum – bedeutet er allerdings das Ausscheiden aus dem Kreis der theologischen Wissenschaft. Für den Studenten wiederum mag der Erwerb solchen Wissens womöglich von hohem allgemeinbildendem Wert sein – aus Schleiermachers Sicht ist er ohne Relevanz für das eigentliche theologische Bildungsziel. Subjektivitätstheoretisch hat Schleiermacher die in Rede stehende Selbstdispensierung von der Wesensfrage als Auseinandertreten von wissenschaftlichem Geist und religiös-kirchlichem Interesse innerhalb des Theologen gefasst.¹⁹⁹ Das wissenschaftliche Streben koppelt sich von der frommen Gesinnung und deren Gestaltungsengagement, die nach Erhellung ihres Christentumsideals verlangen, ab – im Übrigen meist unbeschadet der Religiosität selbst, die sich mit dem Standpunkt des einfachen frommen Gemüts bescheidet, auf die innere und äußere Beteiligung an der Kirchenleitung verzichtet und sich damit auch der entsprechenden Selbstaufklärungsbedürfnisse (zumindest einigermaßen) entledigt. Bei anderen indessen widersetzt sich das Theologengewissen dieser Dissoziation der Grundelemente ihrer theologischen Existenz und der damit einhergehenden sachlichen und motivationalen Emigration aus der eigentlichen Theologie. Sie wollen das religiös-kirchliche und das wissenschaftliche Interesse zusammenhalten, ihren ursprünglichen Intentionen bei der Studien- und Berufswahl treu bleiben und weiterhin als Theologe wissenschaftlich denken und als

 Vgl. ThEnz 12 f.  Ebd.

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wissenschaftlich Denkender Theologe sein.Was aber,wenn das wissenschaftliche, philosophisch-historische Verstehen, auf ungebahnten Wegen vorwärts tastend, bloß bruchstückhafte Einsichten zutage fördert, die zudem unübersehbar das Signum des Vorläufigen an sich tragen und folglich in der Frage nach dem Wesen des Christentums keineswegs jene Bestimmtheit gewähren, die für eine zureichende Selbstdurchsichtigkeit hinsichtlich der eigenen Handlungsmotive und -kriterien und mithin für eine stabile theologische Identität erforderlich zu sein scheint? 19. Eine Option, der christentumstheoretischen „Unübersichtlichkeit“²⁰⁰ zu entkommen und die infrage stehende Wesensidee zu einem beträchtlichen Grad an Bestimmtheit zu bringen, ist der von Schleiermacher als „traditionalistisch“ gekennzeichnete Versuch, das historische Bewusstsein dogmatisch zu überspringen. Die Vorzüge dieser Option, etwa die unproblematische christentumsgeschichtliche Kontinuität und die große methodische und inhaltliche Klarheit, und ihre Nachteile, vor allem die Missachtung des modernen wissenschaftlichen Geistes, wären ein Thema für sich und sollen hier auf sich beruhen. Es soll lediglich um die Frage gehen, wie all jene Theologen zu einem leidlich festen Prinzipienfundament gelangen, denen das historische Bewusstsein den entschiedenen Sprung in den Schoß der überlieferten Dogmatik versagt. Geht man von der Doppelthese Schleiermachers aus, dass erstens die Vorstellung vom Wesen des Christentums als Konstituens des Theologenbewusstseins zu gelten hat und dass selbiges Bewusstsein hinsichtlich dieser ihm eigenen Wesensidee zweitens nach möglichst großer Distinktheit strebt, lässt sich bezüglich jener Frage eine zweifache heuristische Grundannahme formulieren. Aus dem ersten Punkt folgt, dass sich in aller historisch geprägten theologischen Arbeit – sofern sie sich nicht gänzlich von ihren religiösen Antrieben abspaltet, um sich allein dem allgemein-wissenschaftlichen Interesse hinzugeben – die vorhandenen Vorstellungen vom Wesentlich-Christlichen auf irgendeine Weise zur Geltung bringen werden. Schließlich sind nach Schleiermachers Einsicht mit der Wesensvorstellung die Prinzipien der „gesamten Denkungsart“²⁰¹ des Theologen gegeben. Es gibt also kein theologisches Denken, in dem sich die – mehr oder weniger deutliche – Wesensidee nicht – mehr oder weniger deutlich – manifestieren würde. Im Sinne einer prinzipientheoretischen Tiefenhermeneutik ist demnach an jede historisch-theologische Position die Frage zu richten,wo und wie in ihr christentumstheoretische Prämissen zur Wirkung kommen, d. h. welcher

 Vgl. A. Kubik/M. Murrmann-Kahl: Unübersichtlichkeit (s. Anm. 8).  Vgl. KD2 § 67, 351.

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Begriff vom Wesen des Christentums das offene oder heimliche Leit- oder Hintergrundaxiom einer historisch-theologischen Position abgibt. Im Lichte dieser Frage lässt sich vieles klarer sehen. Nimmt man den zweiten Punkt, das von Schleiermacher angenommene Bestimmtheitsbedürfnis in Betreff der Wesensfrage, hinzu und berücksichtigt die Fehlanzeige einer „gehörigen Ausbildung“ der wissenschaftlichen Wesensreflexion, wird es dann auch nicht weiter verwundern, dass die zum Vorschein kommenden Wesensbegriffe nun doch häufig der klassischen Dogmatik entstammen. Mangels eines eingehenden philosophisch-theologischen Studiums bestenfalls durch eine „fragmentarische“ Wesensreflexion im Modus des Historischen gegangen, wählt die Exegetin, der Kirchenhistoriker oder die Systematische Theologin, die die neuere Theologiegeschichte traktiert, nicht selten den Rückgriff auf die dogmatische Tradition, um seinem oder ihrem Denken ein solides Prinzipienfundament zu verleihen. Pointiert gesprochen: Unbeschadet der im Einzelnen herrschenden historischen Methode und unbeschadet der Reserve gegenüber dogmatischer Bevormundung sind nicht wenige Historiker im Grunde ihres Denkens Dogmatiker. Ein Beispiel für eine derartige dogmatische Begründung historischer Theologie ist die Inanspruchnahme der altprotestantischen Schrifttheologie. Einerseits werden die biblischen Texte der historisch-kritischen Untersuchung anhand eines vielfältigen Methodeninstrumentariums freigegeben, bei näherem Hinsehen gründet diese methodische Freiheit mitunter aber gerade in dem dogmatischen Postulat, dass der Kanon – für Schleiermacher eine in ihrem Umfang erst noch zu bestimmende Größe²⁰² – ein gottgegebenes und in der Folge letztlich sakrosanktes Vehikel für das göttliche Heilswirken sei. Das Wesen des christlichen Glaubens besteht demzufolge namentlich in einem „inspirierten“ Umgang mit der Heiligen Schrift als der Offenbarung Gottes, in dem die Zusage der durch Christus eröffneten Rettung erfahrbar wird. Im Falle der Kirchen- und Theologiegeschichte können sich christentumstheoretische Hintergrundaxiome beispielsweise in der Auswahl des maßgeblichen Stoffes äußern, also etwa in der selbstverständlichen Vorrangstellung bestimmter Epochen oder in der theologiegeschichtlichen Fixierung auf bestimmte Klassiker, deren Klassikerstatus sich aus einer bestimmten Wesensvorstellung herleitet, die sie jeweils repräsentieren. Dies kann bis zu Formen der Absolutsetzung historischer Personen führen, die nachgerade zu protestantischen „Kirchenvätern“ stilisiert und unkritisch als Autoritäten angerufen werden. Damit kommt es nicht selten zu einer eigentümlichen „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, insofern bei aller historischen Kritik an traditionell

 Vgl. KD2 §§ 103 – 115.

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begründeter Autorität selbige zu prinzipientheoretischen Fundierungszwecken unter der Hand durchaus in Anspruch genommen wird. Nimmt man die unter- und hintergründigen Leitbegriffe vom Wesen des Christentums zur Kenntnis, stellt sich das faktische Verfahren der historischen Theologie – so sie ihre theologische Orientierungsaufgabe annimmt – in der Regel als komplexe Methodenmischung dar, die sich in Anlehnung an Schleiermachers Schema als Ineinander von philosophischen oder kulturwissenschaftlichen „Lehnsätzen“, genuin historischen Methoden sowie prinzipientheoretischen Anleihen aus der Dogmatik beschreiben lässt. Die theologiehermeneutische Leistung von Schleiermachers Wesensbegriffs besteht darin, dieses Ineinander ins Bewusstsein zu heben, analysierbar und reflektierbar zu machen. Dabei treten nicht nur bestehende Abhängigkeiten von dogmatischen Voraussetzungen hervor, sondern auch die unhintergehbare Abhängigkeit von (im weitesten Sinne) philosophischen Grundbegriffen, zum Beispiel dem Religionsbegriff. Offenbar müssen die Prinzipienfunktionen von Schleiermachers Philosophischer Theologie innerhalb der historischen Theologie in irgendeiner (mehr oder weniger reflektierten) Weise bedient werden. In derartigem heuristischen Gebrauch dient der Wesensbegriff der methodischen Transparenz. So kann er nicht zuletzt einen Beitrag zur Förderung innertheologischer Interdisziplinarität leisten, die vermutlich nicht allein durch die Ausdifferenzierung der fachspezifischen Diskurse, sondern mitunter auch durch schwer durchschaubare, unterschwellig wirksame Differenzen in den Grundanschauungen vom Christentum erschwert wird. Zudem erlaubt er es nicht zuletzt den Studentinnen und Studenten, sich in dem schwer durchschaubaren Komplex an Fächern und Methoden, die innerhalb der Theologie auf oftmals ungeklärte Weise ineinandergreifen, besser zurechtzufinden. Er leistet damit Unverzichtbares zur Erfüllung der enzyklopädisch-propädeutischen Aufgabe – einer Aufgabe, die es im Interesse der Bildung mündiger Amtsträger und sonach im Interesse der Zukunft von Kirche und Christentum neu zu entdecken gilt. 20. Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums ist ein schwieriger Klassiker. In der Geschichte der theologischen Enzyklopädie stellt das Buch hinsichtlich Problembewusstsein und systematischer Kraft einen Quantensprung dar; weil es dem Interpreten aber heute wie damals beträchtliche Anstrengungen abverlangt, beschränkt sich seine Resonanz – von einigen Schlagworten abgesehen – im Wesentlichen auf Spezialisten, die mit Schleiermachers Werk im Ganzen besonders vertraut sind. Die begrenzte Reichweite ist allerdings auch darin begründet, dass der Interpretationsertrag davon abhängt, ob man die letzten, wissenschaftlich kaum einzuholenden Prämissen von Schleiermachers Theologieverständnis teilt. Wer

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den wissenschafts- und religionskulturellen Wandel in der westlichen Moderne für wenig gravierend hält; wer also nie in sich selbst eine verstörende Fremdheit gegenüber einst substantiellen Elementen der christlichen Überlieferung empfunden hat, wird dem Reformprogramm einer undogmatischen Wesensbestimmung des Christentums wenig abgewinnen können. Wer, womöglich auch protestantischerseits, angesichts der fraglichen Wandlungsprozesse das Heil allein in der Stärkung des Objektiven erblickt, etwa in hierarchischen Institutionen und sanktionierten Traditionen, wird sich kaum für Schleiermachers Ideal theologischer Mündigkeit und für die damit verbundene Bildungsidee erwärmen. Wer schließlich in jenen Umbrüchen stattdessen ganz auf die religiöse Virtuosität des Einzelnen setzt, ohne dabei der Traditionsgemeinschaft und dem darin lebendigen Gemeingeist des Christentums noch eine tragende Bedeutung beizumessen, wird ebenfalls nicht recht einsehen, warum er sich den Mühen, Schwierigkeiten und Unsicherheiten einer historischen Wesensbestimmung aussetzen sollte. Freilich, auch bei geneigten Interpretinnen und Interpreten der Kurzen Darstellung werden angesichts der tiefen Einsichten und hohen Ideale am Ende viele offene Fragen zurückbleiben. Schon Schleiermachers Glauben an eine gewisse einheitsstiftende Kraft wissenschaftlicher Wesensbestimmung, von dem auch noch Harnack und Troeltsch erfüllt waren, wird man heute nicht mehr ohne weiteres aufbringen. Noch mehr als ehedem ist uns, die Unmöglichkeit dogmatischer Normierung vorausgesetzt, die jeweilige Subjektivität und folglich die unhintergehbare Pluralität von Christentumsauffassungen bewusst, zumal wenn man das moderne „Christentum außerhalb der Kirche“ (Trutz Rendtorff) mit berücksichtigt, das der direkten Einflussnahme durch kirchenleitende Verlautbarungen welcher Art auch immer noch weniger zugänglich ist als die selbst schon hochgradig inhomogenen kirchlichen Milieus. Was diese Letzteren betrifft ist indessen auch die Präsenz dogmatischer Normbegriffe virulent. Denn bekanntermaßen trifft ein durch die historischen und philosophischen Aufklärungsprozesse des Studiums idealerweise geläutertes und geweitetes Christentumsverständnis aufseiten der Pfarrerin oder des Pfarrers in der Gemeinde (inklusive der Kolleginnen und Kollegen) nicht selten auf traditionalistische Auffassungen des Christlichen, die – kraft der Strukturlogik des Wesensbegriffs als solchen – teils mit gehöriger Exklusionswucht auftreten. Die Folge gerade dieser typischen Diskrepanz der Wesensbegriffe von Theologen und Gemeindegliedern ist oft genug nicht Einheit, sondern Konflikt und Entfremdung, was immer wieder zur äußeren oder inneren Emigration von Theologen aus der Gemeinde führt – oder zur frommen Selbstverleugnung der theologischen Bildung. Gerade angesichts solch drohender Verwerfungen leuchtet es nun andererseits besonders ein, dass für die Übernahme von Leitungsverantwortung für

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Kirche und Christentum „eine tiefe und weitherzige Auffassung des Wesens“²⁰³ vonnöten ist. Sie ist die Bedingung für einen ersprießlichen Umgang mit den pluralen Gestalten von Christentum innerhalb und außerhalb von Kirche und Gemeinde. Wenigstens die Leitungspersonen dürfen nicht in jeder Differenz eine Infragestellung der Zugehörigkeit zum Christentum oder zur jeweiligen christlichen Gemeinschaft erblicken, sondern müssen in der Lage sein, Differenzen in der Auffassung des Wesentlichen mitsamt den damit verbundenen Ausschließlichkeitsansprüchen zu verstehen und in geduldigen Vermittlungsprozessen möglichst auf eine höhere oder tiefere Ebene der Übereinstimmung hin zu überschreiten – oder zumindest als Resultat der neuzeitlichen Christentumsgeschichte und als Ausdruck religiöser Freiheit zu akzeptieren. Wie aber zu einem solch weiten und zugleich bestimmten, zu einem historisch plausiblen und zugleich zukunftsfähigen Begriff vom Christentum gelangen, der als Fundament theologischer Identität und als subjektive Normidee für die Förderung von Kirche und Christentum taugt? Die methodischen Optionen und Probleme sind so vielgestaltig und unübersichtlich, dass man gerne den oben beschriebenen Fluchtimpulsen nachgeben und sich der reinen Wissenschaft hingeben oder der dogmatischen Tradition überantworten würde. Aber soll der Weg zu theologischer Bildung immer wieder so auseinandergehen? Mit der Wissenschaft, aber heraus aus der Theologie, oder mit der Theologie, aber heraus aus der Wissenschaft? Vielleicht wäre es 200 Jahre nach dem programmatischem Entwurf der Kurzen Darstellung an der Zeit, Schleiermachers Bildungsideal erneut in Betracht zu ziehen und – in allen theologischen Fächern – größere Klarheit über mögliche Wege wissenschaftlicher Wesensbestimmung und Wesensgestaltung zu suchen. Ein enzyklopädisches Gespräch über diese Frage wäre gewiss nicht die schlechteste Form der Klassikerpflege. Bis auf weiteres aber wird man sich angesichts jenes Ideals damit zufrieden geben müssen, dass bereits die behelfsmäßige Wesensreflexion im Modus mehr oder weniger zerstreuter historischer und philosophischer Studien einen theologischen Bildungsgewinn gewährt, wenn auch die sich dabei ergebenden Bilder vom Wesentlich-Christlichen vergleichsweise verworren bleiben. Man wird sich damit trösten müssen, dass es sich auch mit jenen mehr oder weniger bruchstückhaften und vagen Begriffen vom Christentum leben – und notfalls auch leiten lässt. Schließlich gehört es zur Natur des Ideals, dass die Realität es nicht erreicht. Aber unbeschadet dieser Distanz behält es doch seinen Orientierungswert.

 E. Troeltsch: Wesen des Christentums (s. Anm. 94), 438.

Die Autorin und die Autoren Dr. Christian Albrecht, Professor für Praktische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr. Stefan Alkier, Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Dr. Reiner Anselm, Professor für Systematische Theologie (Ethik) an der GeorgAugust-Universität Göttingen Dr. Christine Axt-Piscalar, Professorin für Systematische Theologie an der GeorgAugust-Universität Göttingen Dr. Markus Buntfuß, Professor für Systematische Theologie an der AugustanaHochschule Neuendettelsau Dr. Martin Fritz, wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau Dr. Volker Leppin, Professor für Kirchengeschichte an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Dr. Andreas Nehring, Professor für Religions- und Missionswissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Dr. Jürgen van Oorschot, Professor für Altes Testament an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Namensregister Achelis, Ernst Christian 158 Ahlers, Botho 151 Aichele, George 58 Albrecht, Christian 21, 69, 150 f, 155, 162, 172 Alkier, Stefan 21, 48 f, 54, 60 – 66, 87 Althoff, Gerd 86 Anselm, Reiner 21, 57 Aristoteles 119 Armbrost-Weihs, Kerstin 91 Augustinus 119, 204 Axt-Piscalar, Christine 20, 69, 99, 103, 105 Barth, Hans Martin 112 Barth, Karl 73, 76 f, 79 f, 111 Barth, Ulrich 6, 9, 111, 168 f, 192, 196, 209 Basedow, Johann Bernhard 50 Baur, Valentin Friedrich 151 Beauvais, Vincent de 46 Becker, Judith 91 Beckmann, Klaus 27 – 29 Beintker, Michael 90 Bellermann, Johann Joachim 44, 46 Bergunder, Michael 145 Besier, Gerhard 74 Beutel, Albrecht 73 – 75, 83, 87 Beyer, Michael 74 Birkner, Hans-Joachim 5, 7, 158, 170, 176, 186 Bleek, Friedrich 29 Blessing, Werner 83, 86 Brück, Michael von 145 Burke, Peter 43 Clarisse, Jan 46 Collison, Robert 43 Colpe, Carsten 60 Conzemius, Victor 84 Coogan, Michael David 74 Cornils, Anja 64 Dalferth, Ingolf U. 2, 13 – 15, 18 f, 33 – 35, 110 f, 167, 171, 198 Danz, Johann Traugott Leberecht 46

Davis, Ellen F. 57 Deuser, Hermann 62, 89 – 91, 93 Dierken, Jörg 141, 143 Dillmann, August 39 Droysen, Johann Gustav 71 Ebeling, Gerhard 61, 65, 73 – 75 Eco, Umberto 58, 88 f Engemann, Wilfried 87 Fichte, Johann Gottlieb 4 Fischer, Johannes 123 Fischer, Norbert 78 Fitschen, Klaus 74, 79 Fleischer, Dirk 72 Fohrer, Georg 39 Foucault, Michel 43, 145 Frank, Isnard 83, 92 Friedrich Wilhelm III. 168 Frijhoff, Willem 77 Gabler, Johann Philipp 50 Ganzer, Klaus 83 Gaß Joachim Christian 199 Gause, Ute 83 Geertz, Clifford 87, 144 Gertz, Jan Christian 40 Gmeiner, Franz Xaver 46 Goethe, Johann Wolfgang von 49 Goetz, Hans-Werner 85 Gräb, Wilhelm 153 f Graul, Karl 129 f Greschat, Hans-Jürgen 143 f Greschat, Martin 74, 84 Greyerz, Kaspar von 87 Grimm, Jacob 49 Grimm, Wilhelm 49 Güttgemanns, Erhardt 64 Hagenbach, Karl Rudolph 46 Hahn, Udo 60 Hailer, Martin 13 Hanson, Paul D. 40 Härle, Wilfried 74

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Namensregister

Harms, Ludwig 129 Harnack, Adolf von 31, 105, 139, 217 Hassfeldt, Frank-Lothar 32 Hauser, Alan J. 74 Hays, Richard B. 57, 63 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 6, 111 Heil, Uta 73 Heiler, Friedrich 146 Heimbrock, Hans-Günther 60, 62 Heimbucher, Martin 60 Heinrich II. 86, 89 Hell, Leonhard 3 Helmer, Christine 70 Hengel, Martin 91 Herbst, Magdalena 72 Herder, Johann Gottfried 49, 51, 140 Hermanni, Friedrich 78 Herms, Eilert 15, 26, 31, 66, 76, 138 f, 169, 172, 175, 182, 184, 192 Herrmann, Wilhelm 116 f, 123 Hirsch, Emanuel 15 f, 105, 209 Hock, Klaus 64, 133 Hoekendijk, Johannes Christiaan 130 Hoyer, Wolfram 80 Huber, Wolfgang 124 Hübinger, Gangolf 75 Hübner, Kurt 36 Hummel, Gert 3, 6 Iff, Markus 24, 71 Iserloh, Erwin 79, 91 James, William 146 Jaspert, Bernd 91 Jeremias, Jörg 32 Jesus von Nazareth 17, 19, 26, 29, 50 – 53, 92, 99, 106, 109, 121, 195, 200 Joest, Wilfried 187 Jüngel, Eberhard 1, 4, 160 Kafker, Frank A. 43 Kant, Immanuel 28, 98, 115, 119 f Klatt, Werner 60 Knoblauch, Hubert 142, 146 Körtner, Ulrich H.J. 13, 66, 82 Kranich, Sebastian 73, 87 Kubik, Andreas 15 f, 169, 209, 214

Lasogga, Mareile 60 Lassen, Christian 129 Laube, Martin 9 f, 101, 103, 155, 170, 195 f, 210 Lauster, Jörg 31 Leppin, Volker 20, 52, 76, 83, 85, 87 – 89, 92 Lessing, Gotthold Ephraim 51 Leuze, Reinhard 112 Linde, Gesche 62, 65, 87 Liszka, James J. 62 Löhe, Wilhelm 129 Lücke, Friedrich 167, 188 Luckmann, Thomas 87 Lüdemann, Gerd 60 Luther, Martin 31, 65, 77 f, 92 f, 191, 204 MacSorley, Harry J. 78 Mantey, Volker 92 Marcion 29 Markschies, Christoph 74, 77, 83, 85 f Mathys, Hans-Peter 32 Maurer, Michael 86 Meyer-Blanck, Michael 87 Moeller, Bernd 84, 87 Mosheim, Lorenz von 46, 78, 83 Moxter, Michael 206 Mühlen, Karl-Heinz zur 65 Mühlenberg, Ekkehard 91 Müller, Max 129 Murrmann-Kahl, Michael 169, 214 Mursinna, Samuel 46 Nehring, Andreas 20, 131 Niebergall, Friedrich 118 Nowak, Kurt 27, 43, 69, 71, 77, 84, 117, 120 f Nüssel, Friederike 20, 110, 181, 189 Oberthür, Franz 46 Ochel, Joachim 60 Ohst, Martin, 29, 99 Otto III. 86, 89 Otto, Rudolf 146 Pannenberg, Wolfhart 14 f, 71, 91, 124 f Paulus 105, 129, 204 Peirce, Charles Sanders 89

Namensregister

Preuss, Horst Dietrich 23 Rau, Susanne 91 Reinmuth, Eckart 58, 61, 63 Rendtorff, Trutz 80, 217 Riehm, Eduard Karl August 39 Ries, Klaus 71 Rosenkranz, Gerhard 129 Rössler, Martin 30, 34, 154, 158 f, 162, 169 f, 178, 185, 195, 199, 206 Roth, Michael 3 Rothgangel, Martin 48 Rüsen, Jörn 36 f Saur, Markus 32 Schäfer, Rolf 20, 181 Schleissing, Stephan 57, 124 Schmid, Dirk 167 f, 199 Schmidt, Johann Ernst Christian 6 – 48 Schmitz, Thomas A. 58 Schneider, Ulrich J. 43 Schneidmüller, Bernd 86 Scholz, Heinrich 15, 167 f, 197 Schorn-Schütte, Luise 85 Schreiter, Robert J. 133 Schröder, Markus 9, 70, 96, 107, 169 f, 178, 183, 185 – 187, 189, 195, 200, 205 f Schroeckh, Johann Matthias 72 Schröter, Jens 60 Schröter, Marianne 4, 171 Schuler, Ulrike 83 Schultz, Hermann 39 Seeliger, Hans R. 90 Seiler, Jörg 79, 83, 86, 92 Semler, Johann Salomo 46, 54, 103 Singer, Wolf 78 Skinner, Quentin 85 Smend, Rudolf 30 Smith, Jonathan Z. 145 f Smith, Wilfred Cantwell 144 Sokrates 119 Spree, Ulrike 43 Staats, Reiner 74 Staudenmaier, Franz Anton 46 Steck, Odil Hannes 32 Stegemann, Wolfgang 58

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Stock, Konrad 2, 16 – 19, 72, 80, 83, 110, 167 Stosch, Klaus von 112 Stöve, Eckehart 83, 92 Strauß, David Friedrich 5, 168 Studt, Birgit 91 Sundermeier, Theo 137 Süskind, Hermann 178 Tanner, Klaus 57 Thadden, Rudolf von 83, 86 Thaidigsmann, Edgar 48 Thanner, Ignaz 46 Theißen, Gerd 87, 138 Theunissen, Michael 124 Thomas von Aquin 75, 204 Thum, Beda 36 Tillich, Paul 1 Troeltsch, Ernst 36, 101, 105 f, 116 f, 121, 123 f, 183, 186, 189, 191, 193, 196, 205, 209 f, 212 f, 217 f Uhlig, Christian 73 Ulrich, Hans G. 74 Van der Leeuw, Gerard 146 Van Oorschot 21 Vetter, Martin 87 Volp, Rainer 87 Wachler, Ludwig 44, 46 Wagner, Andreas 39 Watson, Duane F. 74 Weinfurter, Stefan 86 Welker, Michael 90 Welsch, Wolfgang 140 Wiest, P. Stephan 46 Wischmeyer, Johannes 24 Wolf, Hubert 73, 79, 83, 86, 91 f Wolfes, Matthias 28 Wriedt, Markus 73 Yeo, Richard

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Zedler, Johann Heinrich 49 f Zenger, Erich 32