Ueber die Abnahme des theologischen Studiums 9783111479651, 9783111112718

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Ueber die Abnahme des theologischen Studiums
 9783111479651, 9783111112718

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Separat-Abdruck aus der Protestantischen Kirchenzeitung, 1874. Nr. 40

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Ueber

die Abnahme des

theologische« Studiums. Bericht, vorgetragen am 30. September 1874 auf dem

achten Deutschen Protestantentage in Wiesbaden von

Sit. Dp. Paul Wilhelm Schmidt, Docenten an der Königl. Universität zu Berlin.

Berlin.

Druck und Verlag von Georg Reimer. 1874.

(Separat-Abdruck aus der Protestantischen Kirchenzeitung, 1874. Nr. 40.)

Nicht immer war der Theologenmangel ein Bote des religiösen Verfalls. „Die Ernte ist groß und wenige sind der Arbeiter", so ertönte die Klage in der classischen Zeit der Religion. Und als Luther ausrief: „Ach daß unsere Jugend fleißiger studirte und begäben sich zur Theologia" — „wo man nicht Leute hat, da muß gewiß folgen Ver­ wüstung, Jammer und Noth und alles Unglück beides in Kirchen und weltlichen Regimenten", *) gerade da feierte die Menschheit zum zweiten Mal das Fest ihrer religiösen Neu­ geburt. Nicht immer war der Reichthum der Kirche an geist­ lichen Kräften ein Bote der religiösen Gesundheit und Kraft. Hermann Myconius**) erzählt von einer nicht allzu fernen Zeit, in welcher z. B. die Stadt Gotha, bei einer Ein­ wohnerzahl von etwas über 700 Seelen, nicht mehr und nicht minder als 14 Domherren, 40 Meßpriester, 30 Au­ gustinermönche, 2 Bettelmönche und 30 Nonnen, zusammen 106 geistliche Personen beherbergte: das war die Zeit der weithin stinkenden kirchlichen Schande vor Luthers Kirchen*) Erl. A. Bd. LIX. S. 210. 223. **) Ten tzel, hist. Ber. vom Anfang und erstem Fortgang der Res. Lutheri (Leipzig 1728), S. 24.

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reform, und auch das Klerikerheer zu Gotha erfüllte die Stadt mit allen sodomitischen Gräueln.*) Wenn im Gegensatz zu solchen Erscheinungen des Ueberflusses der Theologen Mangel mehr als ein Mal zusammen­ fällt mit den glücklichen Zeiten der schöpferischen religiösen Ideen, mit den in Gott reichen Zeiten, in welchen die vor­ handenen Wucherkräfte zu dem Ueberschuß des täglich neu zuströmenden religiösen Capitals in dem Mißverhältniß äußerster Unzulänglichkeit stehen, so müssen wir über die Abnahme des theologischen Studiums nach Zeiten der theologischen Blüthe offenbar anders urtheilen. Das Christen­ thum ist seiner Natur nach die Religion der Propaganda. Daher hat es niemals Sendboten genug, und nun gar der Verlust derer, die es besaß, kann niemals etwas anderes sein als die Kehrseite eines inneren Rückganges, ein war­ nendes Zeichen religiöser und theologischer Fäulniß oder aber ein Symptom religiöser und theologischer Ermattung nach einem Uebermaß nothwendigen Kraftaufwands. Zwischen beiden Erklärungsgründen zu wählen fällt uns nicht schwer, wenn uns berichtet wird, daß in der römischenKirche und selbst in Schlesien, dem altbewährten, in jeglicher Fülle ver­ wöhnten bischöflichen Fürstensitz, der fortschreitende Mangel an Aspiranten des geistlichen Amts ein Gegenstand des Schreckens für die römischen Professoren und — in Ab­ wesenheit des Bischofs — für das Domeapitel in Breslau geworden ist. **) Eine geistige Kraftproduction sieht der Papst in seiner Unfehlbarkeilserklärung selber nicht, da er die Jnfallibilitätslehre für etwas uraltes erklärt; und seine Gegner, welche dieselbe Lehre eine Neuerung nennen, leiten sie wahrlich nicht aus einer Quelle des Lebens, sondern mit Recht aus dem Pfützenwasser jesuitischer Intriguen ab. Ja von Herzen beglückwünschen wir in diesem Falle mit ihnen die katholische Kirche, daß in den Herzen katholischer Jugend der Abscheu vor dem Priestergewande rege wird, an welchem mit dem Schandfleck entmannender römischer Knechtschaft zugleich der Kummer und die Vorwürfe des um seine schwer errungene Einheit besorgten deutschen Volkes *) Ebd. S. 26. **) Dgl. Prot. K.-Z. 1874 Nr. 37 unter Breslau.

5 haften. Aber wie urtheilen wir über die Abnahme des theologischen Studiums in der evangelischen Kirche? Ist es Ermattung, welcher das „Wachet" aus des Meisters Munde ein Ende machen kann, oder Fäulniß, auf welcher der Fluch des Evangeliums lastet? — Fürerst stellen wir die Thatsachen fest. Satz l. Der drohende kirchliche Nothstand, welchen die stetige Abnahme des theologischen Studiums begründet, ist in jeder Hinsicht eine allgemeine Angelegenheit der evan­ gelischen Gesammtkirche Deutschlands. Die anmaßliche Behauptung unserer kirchlichen Gegner, eine vorwiegend bekenntnißmäßige Richtung bringe die theologischen Facultäten zur Blüthe, während das Vorwalten des rein wissenschaftlichen Geistes dieselben entvölkere, wird durch die Statistik des theologischen Studiums in den letzten 40 Jahren allseitig widerlegt. Die Stimmführer des confessionellen Lutherthums lieben es, mit dem ruhmredigen Hinweis auf den Stand der theolo­ gischen Fakultäten zu Leipzig und Heidelberg die Mitschuld an dem einreihenden Nothstand von sich und ihrer Richtung abzulehnen und sie auf ewig ungetheilt auf die sogenannte Theologie des Protestantenvereins zu werfen, der bekanntlich laut Statut gar keine bestimmte Theologie hat. Und doch sollten die Selbstgerechten sich vor dieser Ausnutzung des Personalverzeichnisses der beiden genannten Hochschulen schon durch die Thatsache warnen lassen, daß gerade auf den preußischen Universitäten, welche noch heut alle 9 zusammen, genau gezählt, 1 theologischen Professor aus der Mitte des Protestantenvereins zählen, der Rückgang des theologischen Studiums am allerempfindlichsten gefühlt wird. Eine einzige Landeskirche kann das traurige Privilegium eines noch jäheren Rückschrittes im theologischen Studium bean­ spruchen: die hessische, aber hier stellt sich das Verhältniß erst recht zu Ungunsten unserer Ankläger. Die theologische Fakultät in Gießen, die im letzten Sommersemester 10 Studirende aufwies, zählte vor einem viertel Jahrhundert etwa das Achtfache (W.-S. 1846/47: 78, S.-S. 1848: 77, S.-S. 1849: 64). Das war die Zeit, als neben

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lern ehrwürdigen Prof. Hesse Bibelforscher wie Credner und Knobel in Gießen die Fahne der wissen­ schaftlichen Theologie hochhielten; so fehlte es denn auch nicht, daß vor dem lutherischen Tribunal der Evangelischen Kirchenzeitung in jener Zeit (1852) die Gießener Fakultät mit der Jenenser Collegin zugleich denuncirt und verurtheilt und bei dem Vorhandensein mildernder Umstände dem Correktionsverfahren des Kirchentages mit den Worten über­ wiesen wurde: „eine dem Worte Gottes und dem Bekennt­ niß der Kirche entfremdete Fakultät richtet noch weit mehr Schaden an als ein schlechter Katechismus". Dagegen hat allerdings, wie die Zahlen beweisen, die Aera der hessischen Reaktion den Söhnen des Landes, aus Serien die Fakultät sich immer fast ausschließlich rekrutirt hatte, ein Studium verleiden müssen, welches unter dem berechtigten Hasse des Volkes gegen die Ketteler - Dalwigk'sche Kirche mitzuleiden hatte; und ehrenrettende wissenschaftliche Kraft ward der Fakultät entweder zu vereinzelt oder zu spät wieder zuge­ führt, um den inzwischen geschehenen Verfall zu heilen. Wann aber erreichten denn die evangelisch-theologischen Fakultäten in Preußen den Höhepunkt ihrer Blüthe, wenn nicht zu der Zeit, wo in Berlin vor Schleiermacher's, Neander's, Marheineke's Gewalt die jungen Ein­ wirkungen Hengstenberg's noch vollständig zurücktraten, zu der Zeit, wo in Halle der Rationalismus unter G esenius und Wegscheider Tholuck's in mehr als einer Hinsicht günstigen Gegeneinflüssen weit überlegen war? Im Winter­ semester 1830/31 zählte man 2203 preußische Studirende der Theologie. In Berlin studirten in demselben Semester 641 Theologen (d. h. 37 mehr als die 8 preußischen Pro­ vinzen im Jahre 1851, demJahre des äußersten Tiefstands, zn demselben Studium entsandten), in dem rationalistischen Halle aber zu gleicher Zeit 881 Theologen, d. h. 144 mehr als im letzten Sommer die neun theologischen Fakultäten Preußens zusammen aufwiesen/) viel mehr auch als heut das stolze Leipzig mit Erlangen und Rostock zusammen zählen, hin*) Berlin: 139, Halle: 208, Greifswald: 26, Kiel: 60, Göt­ tingen: 96, Königsberg: 58, Breslau: 41, Marburg: 47, Bonn: 62, Summa: 737.

7 zugerechnet selbst alle die jungen Kommilitonen, die heut etwa auf anderen Universitäten von vornherein sich dem Studium der eonfessionell-lutherischen Theologie verschrieben haben. Und doch ist das Lutherthum in Bayern, Sachsen, Mecklenburg noch jetzt im Vollbesitz des maßgebenden Ein­ flusses auf Kirche und Theologie, und doch fiel jener tiefste Stand des theologischen. Studiums in Preußen Anfangs der fünfziger Jahre zusammen mit der goldnen Zeit der Gerlach-Stahl-Hengstenbergischen Reaktion, zusammen mit der Zeit, in welcher* die Einwirkungen des Revolutions­ jahres von den Führern der umkehrenden Wissenschaft mit unvergleichlicher Virtuosität ausgenutzt wurden, in welcher ein Humboldt über die „verworrene unheilvolle Wirthschaft" klagte und der milde Bunsen (wörtlich) urtheilte: daß „von Hengstenberg's Studirstube aus durch Gerlach's Ver­ mittelung Alles auf Verdummung und Verfinsterung aus­ gehe, daß nur Heuchelei und wahrer Unglaube durch das unselige System gepflanzt werde, daß man diese trübe Zeit des geistreichsten Königs des Jahrhunderts noch viel ärger beklagen und beurtheilen werde, als die Wöllner'sche." Noch mehr. Während in Bonn und Greifswald die theologischen Fakultäten seit Decennien in Folge einer relattven Gleichmäßigkeit der provinziellen Verhältnisse auch verhältnißmäßig nur geringe Schwankungen ihres Prä­ senzstandes erlitten, singen Breslau und Königsberg nichts weniger als das Lob der Orthodoxie. Die theologische Fakultät in Königsberg, deren heutige Gestalt durch die Professur des Dr. Grau, des bekannten Augustconferenz-Red­ ners mitbestimmt wird, zählt neuerdings durchschnittlich eine Anzahl von 50—60 Studirenden. Vor sechs bis sieben Lustren zählte dieselbe Fakultät das Doppelte (z. B. S.S. 1839: 121); es war die Zeit von Lengerke's; und was seitdem in Königsberg geschah, wird durch die bekannte Thatsache symbolisirt, daß dieser wissenschaftliche Erklärer der heil. Schrift seinem orthodox gesinnten Gegner Häver­ nick den Platz in der theologischen Fakultät räumen und sich in die philosophische Fakultät zurückziehen mußte. Breslau aber pflegt seit Jahren einige 40 evangelische Theologen zu zählen. In dem eben angezogenen Sommersemester 1839

8 wies das Personalverzeichniß 146 evangelische Theologiestudirende auf, vor dem noch mehr. Allerdings kein Schiansches Blättchen inspirirte damals die kirchlichen Machthaber in Breslau, und keiner von diesen glaubte sich damals zu dem Versuche verpflichtet, wackeren Candidaten des Predigtamts, welche in ihrer Universitätszeit pflichtgetreu und vielseitig studirt und dies auch später emsig fortgesetzt, deßhalb vor ihrer Ordi­ nation durch hochnotpeinliche Ohrenbeichte das herzlich begehrte Predigtamt zu verleiden. Vielmehr ging der bestimmende Einfluß in Breslau damals von David Schultz, dem sog. „flachen Rationalisten" aus, nach Kurz' lutherischer Kirchenchronik einem leidenschaftlichen Gegner nicht nur der Evangelischen Kirchenzeitung, sondern auch „der schlesischen Lutheraner, deren damalige Verfolgung großentheils auf seine Rechnung kommt" (?). Aber auch auf Heidelberg kann sich die Ortho­ doxie garnicht berufen: denn niemals hat sie sich dort er­ probt. Nur die Vermittlungstheologie — wenn ihr nicht ihre Niederlagen in Halle und Berlin zu deutlich zuriefen: das Rühmen ist kein nütze — scheint ein Recht zu haben aus Heidelberg ein Paradigma ihres eignen Erfolges zu machen. Aber die Statistik der letzten vierzig Jahre macht auch diesen Schein zunichte. Als in dem Jahrzehnt von 1837—1847 des Rationalisten Paulus Einfluß durch die vermittlungs­ theologische Uebermacht Ullmann's, Umbreit's und (seit Winter 1837) Rothe's niedergehalten wurde, auch damals hatte Heidelberg int Durchschnitt keineswegs mehr Theologen aufzuweisen, als in den letzten Jahren: (S.-S. 1837: 14, W.S. 1837/38: 25, S.-S. 1838: 24, W.-S. 1838/39: 22, S.-S. 1839: 19, W.-S. 1839/40: 22, S.-S. 1840: 11, W.-S. 1840/41: 20, S.-S. 1841: 12, W.-S. 1841/42; 12, S.-S. 1842: 21, W.-S. 1842/43: 32, S.-S. 1843: 35, W.-S. 1843/44: 42, S.-S. 1844: 38, W.-S. 1844/45: 49, S.-S. 1845:43, W.-S. 1845/46: 38, S.S. 1846:44, W.-S. 1846/47: 58. — Durchschnitt der auf­ geführten 20 Semester: 28,45 (dagegen S.-S. 1874: 20, W.-S. 1873/74: 26, Durchschnitt der letzten 20 Semester: 50,45). Die etwas günstigeren Zahlenverhältnisse, welche vom Jahre 1847 ab mit Dittenberger's und Hundeshagen's

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Eintritt in die Fakultät zugleich gewonnen wurden,*) und die etwa daraus von Seiten der Vermittlungstheologie zu ziehenden Schlüsse erhalten ihr.vollwichtiges Gegenstück an den verhältnißmäßig glänzenden Erfolgen, welche dieselbe Fakultät zur Zeit des einmütigen und kraftvollen Zusammen­ wirkens Rothe's, Hitzig's, Schenkel's, Holtzmann's, Hausrath's erzielte.**) Somit kann sich nur „gläubige" Unkenntniß auf die Heidelberger Hochschule und ihre theologische Geschichte berufen. Nimmt man hinzu, daß seit den öffent­ lichen Bannsprüchen der gesummten Gläubigkeit gegen die Theologie Schenkels fast kein außerbadischer deutscher Theologe ohne die Gefahr äußersten Anstoßes bei seiner kirchlichen Behörde am Ufer des Neckar studiren darf, während doch die Heidelberger Hochschule überhaupt, ihre theologische Fa­ kultät nicht ausgenommen, auf Zuzug von außen her stets angewiesen war, so erscheint der fortgesetzte professionsmäßige Hohn auf die badische Protestantenvereinstheologie geradezu als läppisch. — Und nun Leipzig? Weiß man denn nicht, daß Leip­ zigs theologische Fakultät auch blühte, als Gelehrte vom Schlage eines Winer, Niedner, Tuch zusammenwirkten, um derselben einen Ehrenplatz unter den Pflegestätten kri­ tischer Wissenschaft zu sichern? Hat man denn niemals be­ dacht, daß im Verhältniß zur Gesammtstärke der Leipziger Universität die damalige theologische Fakultät viel größer dastand als die heutige***)? Die Universität Leipzig überhaupt *) S.-S. 1847: 41, W.-S. 1847/48: 59, W.-S. 1848/49: 60, S.-S. 1849: 49, W.-S. 1849/50: 52, S.-S. 1850: 37, W.-S. 1850/51: 50, S.-S. 1853: 73, S.-S. 1854: 87 u. s. f. **) Im S.-S. 1862 z. B.: 107 Studirende, darunter 53 Aus­ länder (Docenten außer den genannten: Hundeshagen und Riehm). ***) S.-S. 1837 zählte Leipzig 301 Theologen gegen eine Go sammtsumme von 963 Studirenden, S.-S. 1838: 290 gegen 961, S.-S. 1839: 258 gegen 933, S.-S. 1840: 259 gegen 939, S-S. 1841: 234 gegen 903, S.-S. 1842: 239 gegen 873, W.-S. 1842/43 (Professoren: Jllgen, Winer, Niedner, Großmann, Krehl, Winzer, Tuch): 201 gegen 850, also ver­ hielt sich durchschnittlich die Zahl der Theologen zur Gesammtfrequenz wie 1 zu 4 oder wie 1 zu 5. Jetzt steht dasselbe Verhältniß etwa wie 1 zu 7 (W.-S. 1873 '74: 399 gegen 2876, S.-S. 1874: 381 gegen 2716).

10 ist, zum Theil mit sehr gutem Recht, deutsche Mode-Uni­ versität und als solche die besuchteste Hochschule des Reichs­ geworden; so kann man doch auch die Frequenz der einzelnen Fakultäten nur nach der Gesammt-Frequenz der Univer­ sität abschätzen. Fernerhin bedenke man, daß nach Be­ rechnung glaubwürdiger Zeugen, wie 0. Uhlhorn's auf der hannoverschen Pfingst - Conferenz, die Hälfte der aus­ lutherischen Kreisen stammenden Theologie - Studirenden Pastorensöhne sind, hier also von der Bedeutung der Zahlen auf lutherischen Fakultäten abzuziehen ist, was die Macht der Gewohnheit mit sich bringt. Vor allem aber beachte man, daß Leipzig, das übrigens seit einem Jahre auch nicht vorwärts, sondern rückwärts geht *) kaum das an Theologen gewann, was Erlangen, die ehemalige Muster-Fakultät des Lutherthums, das Objekt Stahl'scher Lobpreisung, seit 12Jahren verloren hat (S.-S. 1862: 282, W.-S. 1873/74: 178, S.-S. 1874: 166) — und die Beweisführung, welche das Lutherthum aus dem Stande der „gläubigen" Fakultäten zu ziehen nicht müde wird, fällt als eine große Thorheit in nichts zusammen. Erquicklich schließlich und wahrhaft tröstlich ist die rela­ tive Stetigkeit, mit welcher die evangelisch-theologischen Fa­ kultäten zu Tübingen und Jena in dem Verbände der Uni­ versität ihre Vollkraft den anderen Fakultäten gegenüber seit Decennien bewährten. Allerdings hat auch Jena, indem es seit Sommer 1868 von einer Durchschnittszahl von 130 auf eine solche von etwa 90 Theologie-Studirenden sank, zum Beweis dafür beitragen müssen, daß die Abnahme des theologischen Studiums in der That eine gemeinsame Angelegenheit aller theologischen und kirchlichen Richtungen ist. **) *) W.-S. 1870/71: 407, W.-S. 1871/72: 412, W.-S. 1872/73: 421, W.-S. 1876/74: 399, S.-S. 1874: 381. **) Immerhin gibt Jena mit 79 Theologen im letzten Winter und 95 Theologen im vergangenen Sommer gegen eine Gesammtfrequenz von 378 bez. 472 Studirenden (ca. 1:5) dauernd ein treffliches Beispiel. Noch günstiger allerdings stellt sich das Verhältniß in Tübingen, wo (einschließlich der katholisch-theologischen) 5 Facultäten vorhanden sind. Die protestantisch-theologische, die schon zu Baur's Zeiten ihr Fünftheil für die Gesammtfrequenz der Universität zu stellen pflegte (S.-S. 1844: 174 gegen 845, S.-S. 1845: 187 gegen

11 Sollte lutherischer Starrsinn auch nach dieser StudentenStatistik noch daran zweifeln, so mag die Candidatennoth den Beweis vollmachen. Voran die Zahlen aus den acht altländischen Provinzen Preußens, d. h. aus dem deut­ schen Kirchengebiet, wo zwar erwiesenermaßen ein großer Theil der evangelischen Christenheit den Bestrebungen des Protestantenvereins von ganzem Herzen angehört, aber noch keine Stelle im Oberkirchenrath, keine Consistorialstelle, keine der ca. 400 Superintendenturen von einem Geistlichen unseres Vereins verwaltet wird. In diesem Kirchenbezirk hat die oberste Behörde statistisch festgestellt, daß während des Zeit­ raums von 1851—73 von sämmtlichen TheologieStudirenden in ihrer Lebensperiode bis zur Er­ langung der Wahlfähigkeit der dritte Theil nicht in den Kirchendienst eingetreten ist**) und daß, wenn nicht neue Zunahme im theologischen Studium eintritt, mindestens**) V6 der jährlich zu besetzenden evan­ gelischen Pfarrstellen mit eigenen Geistlichen nicht mehr versehen werden kann, sobald der jetzt noch vor­ handene Bestand an wahlfähigen Candidaten verwendet sein wird. Ganz besonders drückend ist der Notstand schon jetzt in den Provinzen Posen und Schlesien***) d. h. in 867, S.-S. 1846: 196 gegen 863, S.-S. 1847: 198 gegen 867), steht jetzt, wo die im Lande stark vertretene vermittelnde Richtung neben zwei Vertretern der kritischen Theologie eine völligere Verbreitung hat, noch besser da M.-S. 1873/74: 253 gegen 823, S.-S. 1874: 277 gegen 921). *) Hieraus ergibt sich, daß in früheren Zeiten der nachträgliche Abgang vom theologischen Studium wol nicht größer gewesen sein kann als heut, obwohl allerdings auch sehr viele Halenser und Berliner Theologen der dreißiger Jahre zum Lehrfach übergingen. Don dem großen Frequenzstand der beiden ge­ nannten Fakultäten in jener Zeit ist also im Vergleich mit ihrem heutigen Stande Wesentliches nicht abzuziehen. **) Der Evangelische Oberkirchenrath hofft nämlich bei dieser Be­ rechnung, daß in den nächsten Jahren statt l/3 nur ]/5 der von der Universität abgehenden Theologen zu anderen Fächern übergehen werde, da ja jener bisherige bedeutende Abgang zum Theil durch die frühere Ueberfüllung des theologischen Studiums hervorgerufen sei. ***) (s. Prot. K.-Z. 1874 Nr. 41: Zur Statistik der evangelischen Kirche in Preußen").

12 denjenigen Ländern, wo es vor allem darauf ankäme, den Flüchen Roms und seinem kirchen- und volksverderbenden Gift den gesundmachenden Segen des Evangeliums reichlich entgegenzusetzen. Freisinnig regierte Landeskirchen sind na­ türlich von dem Candidatenmangel nicht ausgeschlossen. Am erträglichsten geht es noch der pfälzischen Kirche. Dort wurden bisher durchschnittlich alle Jahr 7 Pfarrer ange­ stellt und gingen dazu immer noch genügende Meldungen ein; doch wird nach dem Stande des theologischen Studiums unter den Söhnen des Landes befürchtet, daß in den näch­ sten Jahren nicht mehr als 2—3 jährliche Meldungen zu erwarten sind. In Baden hat laut amtlichem Nachweis eine Abnahme der Candidatenzahl in den letzten Jahren nicht stattgefunden. Doch mußten in den letzten 14 Jahren, zum Theil für die Zwecke der Diaspora, 27 neue geistliche Stellen im Lande gegründet werden: und da nicht nur für dieselben keine überschüssigen geistlichen Kräfte vorhanden sind, sondern das Personal der aktiven Geistlichkeit sich viel­ mehr um l 4 vermindert hat, so ergiebt sich selbstverständlich ein sehr empfindlicher Mangel. In Gotha wird den Candidaten meist das zweite theologische Examen erlassen, damit sie gleich nach bestandenem ersten Examen in die vakanten Vi­ kariatsstellen einrücken. Im Coburgischen sind von 45 Pfarrstellen 4 bereits unbesetzt. Die letzten 2 Candidaten sind im Laufe dieses Sommers auf Pfarrstellen befördert worden und für die nächste Zeit steht ein Zuwachs an neuen Candidaten nicht zu erwarten, da gegenwärtig ein einziger Student aus dem Herzogthum Theologie studirt, mehrere Candidaten aber sich dem Schulfache zugewendet haben. In der Weimarischen Landeskirche endlich sind gegenwärtig 28 Stellen unbesetzt, nachdem schon im Laufe der letzten drei Jahre 14 ausländische Geistliche in den dortigen Kirchen­ dienst gezogen wurden. Nicht viel erfreulicher steht es in Landeskirchen mit we­ niger prononcirtem Charakter der Kirchenleitung. Im Braunschweigischen ist die Candidatennoth im Augen­ blick zwar noch nicht fühlbar, steht aber unfehlbar in nächster Aussicht. Unter den zuletzt in Braunschweig entlassenen 12 Gymnasial-Abiturienten war kein Theologe und der Direktor des betreffenden Gymnasiums versicherte, in den

13 Oberklassen sei kein Schüler, der sich dem Kirchendienste widmen wolle. Ganz ähnlich lauten die Nachrichten aus Oldenburg. In Württemberg bestanden die erste theo­ logische Dienstprüfung im Jahre 1823 : 48 " " 1833 : 44 " " 1843 : 45 " " 1853 : 41 " " 1863 : 39 " 1873 : 32 Wenn im laufenden Jahre 4 Candidaten mehr bestanden als 1873, so wird uns dieser kleine Trost durch die ziem­ lich sichere Voraussicht wieder geraubt, daß die Folge der demnächst eintretenden Militärpflicht der Theologen eher eine weitere Abnahme als eine Zunahme der Candidatenzahl sein wird. Und nun die Länder der reinen Lehre! Mecklenb urg allein jubelt; es leidet an Ueberfluß, sagt P. Philippi's Volksblatt. Wenn es wahr ist, dann desto schlimmer, ant­ worten wir mit einen Blick auf die Rostocker Fakultät. Aber auch unsere lutherischen Gegner jubiliren nicht. Denn in Sachsen klagte schon vor 2 Jahren P. Meurer's Kir­ chen- und Schulblatt" (Nr. 3. 1872) in einem Artikel über den Mangel an Vikaren: daß, während in den Jah­ ren 1867, 68, 69 durchschnittlich noch 45 Candidaten das zweite Examen abgelegt hatten, es in den Jahren 1870 und 1871 nur noch 33 bez. 36 bestanden. Und auf der letzten bayrischen Generalsynode 1873 (5. Sitzung) berichtete der Ausschußreferent Dekan Seybold aus Ansbach wie folgt: „Candidatenmangel gehört nunmehr auch zu den bren­ nenden Fragen. Sie verlangen alle i:me nähere Schilde­ rung, nur des Einen lassen Sie mich Erwähnung thun, daß im Consistorialbezirk Bayreuth (ohngefähr 386 Pfarr­ stellen) 13 und im Consistorialbezirk Ansbach (ohngefähr 520 Pfarrer) 9 Gesuche von Pfarrern vorliegen, die umsonst nach einem Vikar begehren, und daß im erstgenannten Be­ zirke, die erledigten Pfarreien und Exposituren miteingerechnet, 47 Stellen (d. h. etwa sämmtlicher Stellen) unbesetzt sind." So lassen wir denn allerseits gründlich die Rechthaberei, deren müßige Exercitien das vorliegende große Uebel nicht

14 heilen, sondern verschlimmern. Gemeinsam ist unsere Ver­ schuldung; gemeinsam das Leid um das Siechthum unserer Kirche. Wohlan, die Diagnose und die Heilmittel. Satz 11. Die Ursache der Abnahme des theologischen Stu­ diums liegt in dem langjährigen Zusammenwirken dreier Thatsachen. Dieselben sind: 1) der Mangel jeder sicheren Aussicht auf eine aus­ kömmliche äußere Existenz im geistlichen Amt; 2) die einseitig parteiische Zusammensetzung der meisten deutschen Kirchenbehörden, vornehmlich der preußischen Konsistorien; 3) das Sinken des Glaubens an die Theologie als Wissenschaft. Wir beginnen mit dem Aeußerlichsten. Satz 111. Der Druck der äußeren Sorge untergräbt nicht nur die Freudigkeit der geistlichen Amtsführung, sondern raubt auch den meisten Geistlichen die Mittel zu ihrer eigenen wissenschaftlichen Fortbildung und hindert sie dadurch, in voller Vertrautheit mit den geistigen Be­ wegungen der Zeit sich als anerkannte Lehrer und Führer des religiösen Lebens in den Gemeinden unserer Tage zu behaupten. Einhalt kann der Abnahme des theologischen Stu­ diums nur geboten werden, wenn Gemeinden und Pa­ trone zur würdigen äußeren Stellung der Geistlichen großherzige Maßnahmen zu treffen bereit sind. So lange staatliche Organe im Namen des landesherrlichen Kirchenregiments an den inneren Angelegenheiten der evangelischen Kirchenleitung den obersten Antheil haben, ist es Sache des Staats, zur Abwehr des äußeren kirchlichen Verfalls theils mit reichlicher Aushilfe, theils mit neuer gesetzlicher Regelung des Pfarreinkommens vorzugehen. Ueber die Armseligkeit des Pfarreinkommens klagt die protestantische Kirche, seitdem sie besteht. Luther selbst ist ein emsiger und schonungsloser Vertreter dieser Beschwerde. „Der Teufel ist der Welt Herr," sagt er, „darum wird er Gottes Dienern das Futter nicht geben" (XXXIV, 87).

15 Der General - Teufel wird aber auch spezialisirt: „Junker Filz in Städten und Er Omnes" und „Junker Scharrhans auf dem Lande, der die Prediger so hält, daß ihnen die Lust zu predigen vergehen muß" (XL11I, 278 fg.) Luther fürchtet, daß es zumeist deßhalb „in Kürz würde an rechtschaffenen, frommen treuen Dienern mangeln, weil sie müßten in Gefahr stehen, Mühe und Arbeit haben und nach sich arme verlassene Wittwen und Waisen lassen" oder aber er besorgt, daß durch die wieder überhand nehmende Ehelosigkeit der Geistlichen die Sittlichkeit unter ihnen wieder sinken werde (L1X, 215). Auch sieht er voraus, daß unter der Abhängigkeit, in welche darbende Geistliche zu ihren Brodgebern gerathen müßten, die heilige Rücksichts­ losigkeit ihrer Predigt und Zucht leiden werde: „Nu sahen an etliche Junker, Städte, ja auch kleine Dreckstädtlein, Dörfer dazu, und wollen ihren Pfarrherrn und Prediger wehren, daß sie nicht sollen auf der Kanzel die Sünde und Laster strafen oder wollen sie verjagen und erhungern. Ei, sprechen sie, vorzeiten hatte ein Pfarrer 30 Gülden, und war wohl zufrieden, itzt wollen sie 90 und 100 haben" (XXXII, 77 fg.). Dem Rath zu Zerbst endlich klagt er im Jahre 1527, daß unter dem Druck der äußeren Noth die nöthige intellektuelle und moralische Bildung der Geist­ lichen allmählich untergehen werde: „Solche Kargheit", sagt er, macht wahrlich itzt geschickte Prediger theuer und wird mit der Zeit wiederum eitel Esel oder ärger denn Esel, als die Verführer sind, auf die Pfarren bringen" (LVI, 175). Was Luther so in seiner knappen Weise zusammenfaßte, das legte ein guter Lutheraner in einem Artikel der Evan­ gelischen Kirchenzeitung (1863 S. 704 fg.) unter der Ueberschrift „die Pastoren müssen mehr studiren" des Weiteren auseinander. Seine unmißverständliche Anspielung auf die ganz überflüssigen „berühmten Bücher, die nur glänzen wie Katzengold" im Gegensatz zu den unentbehrlichen Büchern (wie die Dogmatiken von Philippi und Thomasius) überhebt uns des Verdachtes einer lutherischen Conspiration, wenn wir uns des Verfassers Worte über die gefährlichste Armuth des Geistlichen, die zum Theil der äußeren Dürftigkeit nothwendiges Ergeb­ niß ist, vollständig und von Herzen aneignen wie folgt:

16 „Es ist eine Bettelarmut, wenn man alles, was die Zeit an menschlichen Gedanken produzirt hat, ignorirt und meint, es genüge, nur die ererbten Kirchenwahrheiten . . amtsmäßig wieder weiter zu vererben . . . Luther und Spener hatten ihre Zeit wohl verstanden; sie konnten wirklich mit Terenz sagen: nichts menschliches erachte ich von mir fern zu sein. Aber sie hatten außerdem das Evangelium, diesen Fels der ewigen Wahrheit, von dem aus sie hinein­ redeten in diese ihnen wohlbekannte Welt. Wer darum heutzutage predigen will von der Erlösung in Christo Jesu, der muß auch wissen, was die Geister bewegt, an die er sich wendet. Die Summe der Zeitbildung darf ihm nicht fremd sein, wenn er sammt seinem Evangelium kein Fremd­ ling sein will seinen Zeitgenossen." — So unser lutherischer Gesinnungsgenosse. Und der Herausgeber der Evangelischen Kirchenzeitung selber hatte einige Jahre vorher in concreto die Bedingung formulirt, unter welcher allein jene „Bettel­ armut" zu vermeiden sei: eine reichliche und fortdauernde Kenntnißnahme von der theologischen und außertheologischen Literatur. Doch hatte Hengstenberg schon damals von einem großen Berliner Buchhändler erfahren, die früher so große Nachfrage nach protestantischer Theologie habe fast ganz aufgehört, Palmer's Homiletik und Katechetik sei das einzige, was in diesem Artikel verlangt werde; dagegen sei in katholischer Theologie der Consum so groß, daß er dafür ein eigenes Lager einzurichten gedenke. Hengstenberg fügte damals — es war im Jahre 1854 — warnend hinzu: Die katholische Kirche werde diese „theologische Entblö­ ßung" unserer Geistlichkeit bald entdecken. „Schon ein Mal habe es unsere Kirche erfahren müssen, daß fromme Betriebsamkeit allein nicht im Stande ist, einer Kirche Halt zu gewähren". Die unsere brauche nothwendig, neben anderem, einen neuen „Frühling der T heologie." Sind etwa seit 20 Jahren die Anforderungen, welche unsere Kirche an die intellektuelle Bildung und Weiterent­ wickelung ihrer Geistlichen stellen muß, geringere geworden? Die Antwort darauf brauche ich nicht zu formuliren. Einen Blick auf den gewaltigen, förmlich revolutionären Jdeenprozeß dieser unserer Zeit, welcher ganz besonders mit Hilfe einer

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täglich mehr anschwellenden Literatur eine Welt aus den Angeln zu heben scheint und seine Schwingungen allmählich auch über die entlegensten Städtlein und Dörfer ausdehnen wird — und wir sehen den Protestantismus zur Impotenz verurtheilt, dessen geistlichen Dienern, nach dürftiger Aneignung der notwendigsten Fachkenntnisse in einem akademischen Triennium, für den Rest ihres Lebens in ihrer Mehrheit die Sorge um das tägliche Brod als Lebensgefährtin angetraut und dadurch die Pflege der Freundschaftsbeziehungen mit den Arbeiten der Wissenschaft in irgendwie genügendem Maße geradezu abgeschnitten wird. Oder ist das übertrieben? Lassen wir noch ein Mal ein paar Zahlen sprechen. Noch im Jahr 1870 gab es in den acht altländischen preußischen Provinzen nach amtlicher Feststellung nicht weniger als 403 Pfarrstellen unter 500 Thlr. Einkommen, darunter 86 bis zu 400 Thlr., 148 von 400—450 Thlr., 169 von 450—500 Thlr. Seit der Zeit sind von Seiten des Landtages etwa zusammen 300,000 Thlr. bewilligt worden, um damit besonders dürftige Volksschullehrer- und Pfarrstellen beider christlichen Confessionen aufzubessern. Ob diese Mittel reichten, um das vorgesehene MinimalEinkommen von 600 Thlr. jährlich überall zu gewähren, ist bis heut noch nicht festgestellt. In Baden ist das durchschnittliche Minimal - Einkommen: 869,8 @fo. = ca. 508 Thlr; in Oldenburg giebt es kein gesetzliches Mini­ mum, wol aber eine besondere dritte Gehaltsklasse, welche alle Stellen unter 600 Thlr. umfaßt, darunter auch eine Anzahl unter 500 Thlr. In Gotha tragen die geringsten Stellen 500 Thlr., in Coburg und Weimar: 400 Thlr. in Braunschweig: 700 Thlr., in Württemberg: 1025 Gld. — ca. 586 Thlr., im Königreich Sachsen: 600 Thlr., im Königreich Bayern von diesem Jahre ab: 900 Gld. = ca. 515 Thlr., bisher 500 Gld. = 286 Thlr. Diese Zahlen beweisen: doch geben erst folgende nähere Mittheilungen ein treues Bild von der äußeren Lage unserer Geistlichkeit. In Baden steigt das durchschnittliche Einkommen so langsam, daß es erst nach 20 jähriger Dienst­ zeit etwa 835 Thlr., nach 25 jähriger Dienstzeit 944 Thlr., nach 30 jähriger Dienstzeit bis zum Lebensende etwa 1105 Thlr. beträgt. In Gotha ist es die Hälfte der Geist2

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lichen, welche nur ein Einkommen von 500—700 Thlr. hat; die andere Hälfte der (etwa 120) geistlichen Stellen beträgt 700—1000 Thlr, darüber nur 15 unter ihnen. In Co­ burg wurden von den 45 Pfarrstellen des Landes 38 auf unter 800 Thlr geschätzt. Im Weimarischen giebt es sogar eine große Zahl von Minimalstellen zu 400 Thlr. Besser steht es in Oldenburg, wo neben einer mittleren Gehaltsklasse von 600—1000 Thlr. eine nicht allzuwinzige Anzahl von Stellen die oberste Klasse zu 1000 Thlr. und darüber bildet; ebenso in Braunschweig, wo das Durch­ schnittsgehalt auf 1013 Thlr, berechnet ist und in Würt­ temberg, wo unter 951 Pfarrstellen doch wenigstens ca. 400 auf 1360 Gld. (beinahe 800 Thlr.) und darüber normirt sind. Von "den 1112 Stellen in Sachsen haben 197 das genannte Minimum und im Ganzen 603 bis zu 1000 Thlr. Einkommen. Unerhört aber sind die Verhältnisse in der großen bayrischen Landeskirche, welche vom letzten bay­ rischen Landtage die Zusicherung erhielt, daß in Zukunft nach 15 jähriger Dienstzeit das Minimaleinkommen im Be­ trage von 900 sl. (= ca. 515 Thlr.) von 5 zu 5 Jahren um 100 fl. steigen, also vom 36. Dienstjahre an bis zum Le­ bensende 1400 fl. — 800 Thlr. betragen solle. Hier haben Sie einen Totalanblick von der vorhandenen Noth. Selbst wenn der angehende Geistliche beim Eintritt in das Amt auch das geringste der angegebenen Minima zu dulden bereit ist, so bieten sich ihm fast überall in Deutschland für die fernere Entwickelung seiner äußeren Existenz in den Zeiten des höheren Mannesalters so trübe Aussichten, daß von der angemessenen Erhaltung und Erziehung einer Pfarrers­ familie, die überdies womöglich noch ein Vorbild der Barm­ herzigkeit gegen die volle Bettelarmuth sein soll, für gewöhn­ lich gar keine Rede sein kann. So ist es hier in unserer unmittelbaren Nähe im Nassauischen, wo die zahlreichen mittleren Pfarrstellen von ca. 750 Thlr. Einkommen oft durch Männer von 15—20 Dienstjahren und darüber ver­ waltet werden, so ist es in fast sämmtlichen bisher ange­ führten Landeskirchen. In Summa: Wenn einerseits irgend etwas uns mit der confessionell gerichteten Geistlichkeit ver­ söhnen kann, deren Verhalten nach unserer innigsten Ueber­ zeugung der Kirche tiefe Wunden schlug wie keine andere

19 Geißel, so ist es die schon aus jenen Zahlen hervor­ gehende Ueberzeugung, daß auch unter dem Sorgen­ dach so manches orthodoxen Pfarrhauses eine kräftige und selbstverleugnende Begeisterung für das evangelische Pfarramt und die lautersten Wünsche für das Gedeihen des Christen­ thums und der Kirche wohnen müssen. Andererseits aber lehren dieselben Zahlen mit dringlichem Ernste, daß Junker Filz und Junker Scharrhans in ländlichen und städtischer Parochien endlich todtzuschlagen und dem Herrn Omnes, der durch manch eine neue Gemeindeverfassung endlich zv einem Theil seiner Rechte kam, nun auch seine Pflichten gegen das kirchliche Gemeinwesen gründlich fühlbar zu machen sind. Vor allem aber gebe der Staat viel reichlicher als bisher an die evangelische Kirche, über die seine Organe doch noch überall eine so tiefgehende Herrschaft und Macht be­ anspruchen. Insbesondere erinnere er sich daran, daß et im selbstverschuldeten Kampf der Notwehr gegen die Anma­ ßungen Rom's auch der evangelischen Kirche manche unver­ diente Bürde auferlegt hat, und bedenke, daß es nicht wohl­ gethan sein kann, zu dem reichlich angesammelten Mißbe­ hagen der evangelischst Geistlichen, welche durch das (mtl Unrecht für den Theologen allein) hinzukommende ttew Staatsexamen wahrlich nicht gemindert werden kann, noch das Murren dauernder äußerer Not herauszufordern*). In Preußen speziell könnte übrigens bei einer angemes­ senen staatlichen Zubuße dem drückenden Notstand leichter abgeholfen werden als sonst irgendwo. Nach amtlichen Er­ hebungen befinden sich unter den 729 Pfarreien der Pro­ vinz Pommern: 312 Stellen zwischen 1000 und 150C Thlr., 100 Stellen zwischen 1501 und 2000 Thlr., 27 Stellen zwischen 2001 und 2500 Thlr., 10 Stellen zwischer 2501 und 3000 Thlr. und 2 Stellen darüber hinaus; unter den 632 Pfarreien der Provinz Preußen: 236 Stellen zwischen 1000 u. 1500 Thlr., 90 Stellen zwischen 1501 und 2000 Thlr., 17 Stellen zwischen 2001 und 2600 Thlr.: unter den 812 Pfarreien Schlesiens: 210 Stellen zwischen 1000 und 1500 Thlr., 60 Stellen zwischen 1501 *) Dgl. Lic. Dr. £>. Gerlach, die Dotationsansprüche und der Nothstand der evangelischen Kirche im Königreich Preußen Leipzig. 1874, Bidder's Verlag.

20 und 2000 Thlr. und 17 Stellen darüber hinaus (bis 2700 Thlr.); unter den 208 Pfarreien im Posenschen: 48 zwischen 1000 und 1500 Thlr. und 4 Stellen darüber (bis 2300 Thlr.); unter den 1565 Pfarreien der Provinz Sachsen: 502 Stellen zwischen 1000 und 1500 Thlr., 293 Stellen zwischen 1501 und 2O0O Thlr., 115 Stellen zwischen 2001 und 2500 Thlr., 47 Stellen zwischen 2501 und 3000 Thlr., 8 Stellen zwischen 3001 und 4000 Thlr. Die Provinz Brandenburg aber, über welche bisher, wie über die Rheinlande, genaue amtliche Ergebnisse fehlen, zählt seit einigen Jahren besonders in den Berlin benach­ barten Dörfern eine Anzahl von Pfründen, welche das höchste Einkommen pommerscher und sächsischer Pfarreien um vieles übersteigen. Ist es recht, daß gegen den Man­ gel des einen Theiles unserer Pfarrhäuser der Ueberfluß zahlreicher anderer sich gleichgiltig verhalte? Muß nicht schon der esprit de corps den Versuch einer gesetzlichen Aus­ gleichung fordern? Das Elend werden wir in Preußen nicht los ohne eine Imitation der badischen Altersklassen und einen seine Steuererhebungen wie seine Spenden gerecht abwägen­ den Centralkirchenfonds. Mit solchen Einrichtungen ist es in Preußen bei einigem guten Willen des Staates, der Ge­ meinden und der Patrone zu heben. — So weit kann unsere Erklärung der vorliegenden kirch­ lichen Krankheitserscheinung weithin auf Zustimmung rechnen. Reichliche Vorschläge zur Heilung des betreffenden Uebels sind bereits eingelaufen. Die Homöopathie des bekannten Büchsel'schen Hirtenwortes: „Lieber Bruder, hungere nur weiter" fand wenig Anklang. Außer der Erhöhung der niederen und mittleren Pfarrgehälter werden als besonders hoffnungsvolle Heilmittel reichlichere Stipendien, Freitische, von D. Uhl­ horn auch Freibetten für Theologiestudirende vorgeschlagen. Die diesjährige Eisenacher Kirchen-Conferenz sieht aber wei­ tere Erklärungsgründe in dem vielfach schlechten Religions­ unterricht in Schule und Confirmandensaal, vor allem aber in der „für die Kirche und die Werthschätzung ihrer Aufgaben ungünstigen herrschenden Zeitrichtung". Die Frage des Reli­ gionsunterrichts wird uns selber noch kurz beschäftigen. Den vieldeutigen Ausdruck aber von der „herrschenden Zeitrichtung" eignete sich schon längst die gesummte strengkirchliche Richtung

21 in dem Sinne an, daß eine sündhafte Richtung auf die ma­ teriellen Lebensgüter allein, ein rapider Niedergang alles idealen Sinnes in unserem Volke darunter verstanden wird. Ich überlasse es Anderen, die Berechtigung dieses Vorwurfs in Bezug auf die Durchschnittsgesinnung un­ seres ganzen Volkes zu untersuchen und nüchternen Sinnes zuzusehen, wie viel an dem schwerwiegenden Tadel durch die fortschreitende Umwälzung unserer socialen Verhältnisse und ihre zwingenden Gebote, wie viel daran durch die Unter­ scheidung zwischen idealem Sinn überhaupt und bestimmten hergebrachten Formen desselben erledigt wird. Aber die deutsche Jugend, die akademische insonderheit? Wer wagt es, sie mit demselben Vorwurf zu bedenken und erröthet nicht über sich selbst im Anblick der zahlreichen frischen Jugend­ gräber, die auf welschem Boden zu unserem trauernden Herzen ihre nur zu beredte Sprache sprechen? Braucht sich die deutsche Jugend von 1870 und 71, die Zeitgenossin der mühsamen Einzelforschung und der exakten Kritik, zu schämen vor der deutschen Jugend von 1813, der Zeitge­ nossin philosophischer Ausschreitung und somnambuler Thee­ romantik? Nein, was die Gesinnung unserer akademischen Jugend angeht, so weiß, wer dieselbe aus Erfahrung kennt, daß sie heut nicht weniger ausopferungsfähig genannt wer­ den kann als vordem, der rühmt vielmehr im Hinblick auf die genannten beiden Zeitpunkte aus vollster Ueberzeugung die Kontinuität eines heiligen Geistes, der mit Recht noch heut deutscher Idealismus heißt. Und wenn tausende un­ serer Kommilitonen bewiesen haben, daß für wirklich große und reine Zwecke nicht nur materielles und sonstiges Wohl­ sein, sondern das eigene Leben ihnen nicht ein zu großes Opfer ist, wer will behaupten, daß die stetige Zunahme histo­ rischer, naturwissenschaftlicher, sprachphilosophischer Studien nicht auf Rechnung des lautersten Wahrheitsstrebens zu setzen ist, wer sich der Einsicht verschließen, daß unsere akademische Ju­ gend größtentheils die Aussichten eines Studenten der Theologie für sehr wenig ideale, für stark mit der gemeinsten Prosa des Le­ bens zusammenhängende hält? Rund heraus gesagt: es hat sich unter den Besten der deutschen Jugend die Meinung ver­ breitet und sie nimmt mit erschreckender Schnelligkeit zu: daß der Theologe, der nicht vom Tage seiner Ordination

22 an zu seiner vorgesetzten Behörde in grundsätzliche innere Opposition treten will, entweder ein Nichtsthuer oder ein Gimpel oder aber ein Heuchler sein muß. Ist das Urtheil berechtigt? Niemand hat das Recht und am allerwenigsten Ihr heutiger Referent, auf die Mehrzahl der Angehörigen eines ganzen Standes die Vorwürfe zu häufen, welche die Bejahung der Frage mit sich bringen würde. Aber sehen wir von den Personen ab und rechnen wir ein Exempel. Hier sind die beiden Factoren: auf der einen Seite eine theologische Wissenschaft, welche seit vierzig Jahren in ihren alten Fundamenten tief innen erschüttert und deshalb in emsigster kritischer Arbeit nach neuen Formen für einen zum Theil auch neuen religiösen und wissenschaftlichen Inhalt suchen muß; auf der anderen Seite eine Kirchenleitung, wel­ che nicht etwa die überleitenden Anschauungen der Schleiermacher'schenZeit, sondernden Symbolbuchstabendes 16.Jahr­ hunderts zum Gesetz der kirchlichen Lehre und Predigt macht. Aus solchen Faktoren gehen allerdings in abstracto nur drei mögliche Ergebnisse hervor: Entweder unsere Theologen machen theils aus Trägheit theils aus Unfähig­ keit jenen kritisch-wissenschaftlichen Prozeß überhaupt nicht mit und bleiben von seinen Einwirkungen auf ein offenes theologisches Gemüt unberührt, oder sie erklären ihrer Kirchenbehörde den Krieg oder aber sie verfallen den mannichfaltigen Nuancen der Heuchelei von der plumpen und frechen Verstellung an, über die unter vier Augen ein Haruspex mit dem anderen sich in's Fäustchen lacht, bis zu der wohllebigen raffinirten, karrieremachenden Versatilität, die nur der Kenner versteht und — anspeit. Mit Schrecken stehen wir vor dieser mathematischen Nothwendig­ keit und zittern vor dem Gedanken, insbesondere von der letzten der drei Möglichkeiten eine specielle persönliche An­ wendung zu machen. Aber sind denn die Prämissen falsch? Ist die Theologie nicht im Fluß und unsere Kirchenleitung starr? Seit zwei bis drei Jahren haben wir in den alt­ ländischen Provinzen Preußens an dem Oberkirchenrath, in den drei neuen Provinzen an dem Cultusministerium eine gegen frühere Zeiten wesentlich geänderte und gebesserte Oberleitung. Aber nicht die höchsten, sondern die mittleren und niederen Behörden haben in allen Verwaltungszweigen

23 die thatsächliche Macht, in den größesten deutschen Landes­ kirchen die Consistorien mit ihren Händen, den Superinten­ denten. Nun ist es zwar beschämend aber deshalb nicht minder wahr, daß die meisten unserer Consistorien oder deren Mehrheiten gehorsamer noch als einst aus den Hör­ sälen Hengstenberg's und Stahl's bis auf den heutigen Tag die Grundsätze ihrer Kirchenleitung aus Leipzig und den Hauptstädten Mecklenburgs und Bayerns holen. Von diesen drei Quellpunkten aus haben die Gewässer des Orthodoxismus mit seinem unsinnigen Bekenntnißzwange auch unsere preußische Kirche überfluthet. Die großen kirchlichen Kämpfe, die sich um die Personen des Dr. Hanne und um die bekannten Vorträge der DDv. Lisco und Sydow be­ wegten, haben dem deutschen Volk und nicht zum wenigsten der akademischen Jugend klar gemacht, daß in der preu­ ßischen Landeskirche bis auf den heutigen Tag ernster Wille und angestrengter Fleiß, welcher mit Hilfe der wissenschaft­ lichen Theologie in unserem Volke für das Christenthum wirken will, straffällig ist, während das hohle Pathos der bekenntnißeifrigen-Trägheit sich oft die Pfründen und die hochwürdigsten Ehren mit Leichtigkeit erschließt. Und wie wenig bedeuten diese eklatanten und vielbesprochenen Vor­ gänge gegen die verborgene Gewissenstyrannei, welche seit Jahrzehnten in den kleineren Verhältnissen der kirchlichen Verwaltung nach einem förmlichen System betrieben wird, welche die davon Betroffenen in der Stille nicht minder bekümmert oder entehrt oder aber von der kirchlichen Lauf­ bahn, zu einem wirksamen Beispiel für andere, für immer entfernt. Reichlicher als nöthig giebt das bisherige theologische Prüfungswesen unduldsamen kirchlichen Behörden die nö­ thigen Instrumente zur Abrichtung gehorsamer Diener in die Hand. Auf der Universität ist irgend ein bestimmter Professor, der zugleich oft durch Jahrzehnte hindurch Mitglied der Provinzial-Prüfungs-Commission, mit dem Examinations-Monopol im Besitz aller Mittel, das Aufkommen anderer Docenten des Fachs zu hindern, fügsame Commilitonen an sein oft sehr dauerhaftes Diktat zu binden und so das akademische Studium zu einem Einlernen von Stichworten zu degradiren. Bei dem Examen selbst helfen dann die geistlichen Mitglieder ängstlichen Candidaten den Werth devoter

24 Gesinnungstüchtigkeit ad hominem fühlbar zu machen, und das erste Stadium consistorialer Schulung ist vollbracht. In anderen Fakultäten, z. B. in der juristischen, ist man wenigstens in Preußen bezüglich der Examinations^Ord­ nungen weiter, und ohne eine ähnliche Neuregelung auf theologischem Gebiet müssen die theologischen Studien von Semester zu Semester innerlich herunterkommen. Verwandt mit den Mißständen des Prüsungswesens sind die bestehenden Verhältnisse des Kirchenvisitations-Wesens. Von beidem ein Beispiel. Vor drei Jahren war Kirchenvisitation in einer Dorfgemeinde der Mark Brandenburg; der dortige Geistliche erhält als Text zur Visitationspredigt den Bericht des Markus über Jesu Speisewunder. In der Einleitung leugnet er die geschichtliche Wahrheit des Berichts und bahnt sich so den Weg zu einer bildlichen Auslegung. Der wohlwollende Ephorus bittet darauf den Geistlichen, in der vorschriftsmäßig schrift­ lich einzureichenden Visitationspredigt die Einleitung doch nachträglich noch im Sinne der Orthodoxie umzuarbeiten. Es müsse dem Herrn Pfarrer doch darauf ankommen, von seiner schlechten Stelle endlich in eine bessere versetzt zu werden und das könne er doch vom Consistorium nicht er­ warten, so lange er — dies ipsissima verba — das Neue Testament ä la Hanne auslege. Unwillkürlich fragt man sich: Was muß der Herr Ephorus in Pfarrerkreisen für Erfahrungen gemacht haben, um dem untergebenen Amtsbruder solches Manöver anzusinnen? Doch die Kleinen lernen nur von den Großen. Meinem besten Studien­ freunde schickte das Kgl. Consistorium der Provinz Branden­ burg die zum zweiten theologischen Examen eingesandte Predigt mit dem Bemerken zurück, dieselbe sei dog­ matisch ungenügend. Denn wenn man von dem ge­ kreuzigten Christus „nichts anderes zu sagen weiß, als daß er das Urbild der mit Gott geeinten Menschheit sei," so u. s. w. Zugleich forderte die Behörde den Candidaten auf, über einen neuen Text, an dessen präciser dogmatischer Fassung Herz und Nieren des Candidaten offenbar werden mußten, binnen sechs Wochen eine zweite Predigt einzu­ senden, nach welcher dann über die Brauchbarkeit des­ selben zum geistlichen Amtsexamen befunden werden sollte. Mein Freund antwortete, daß er keinenfalls in der Lage sei,

25 in der.vorgeschriebenen Frist die in ziemlich stetiger Ent­ wickelung gewonnene theologische Anschauung gegen eine andere umzutauschen, sagte nach einigen weiteren Verhand­ lungen mit der Behörde der kirchlichen Laufbahn Valet — und ich rüstete mich zu den Freuden und Leiden des akademischen Docententhums. An solchen Beispielen lernen Sie am besten den Charakter unserer inneren Consistorialpolitik kennen. Bei der Ordination wird allerdings den angehenden Geistlichen das feierliche Gelübde abverlangt, daß sie in allen zur gesegneten Amtsführung nöthigen Wissenschaften fleißig fortschreiten wollen — aber wenn sie demgemäß handeln und ihrer Predigt und Seelsorge diese Wissenschaften zu statten kommen lassen, so verfallen sie dem Bann und Interdikt. Consequent festgehalten ergiebt dieser Standpunkt für die evan­ gelische Theologie und Kirche jene Zwischenstellung zwischen Protestantismus und Romanismus, welche einst Stahl offenkundig als die seine und die seiner Partei mit den Worten bekannte: „eine Autorität der Kirche und ihrer Lehre und doch nicht unbegrenzt und die eigene Prüfung nicht ausschließend ... ja, das ganze geistige Leben der Menschheit, wie es von Gott gegründet, beruht auf solchen Widersprüchen." Und eine Lösung dieser Widersprüche er­ klärte er nächst Gott vor allem von dem entgegenkommenden Verhalten des Katholicismus zu erwarten, der auch den Protestantismus auf dem Versöhnungswege nach Rom er­ blicken würde, sobald nur Rom selbst statt strafferer An­ schauung seiner Eigenthümlichkeiten nach Milderung, Annähe­ rung und Ausgleichung strebe und sich zu den reichen Schätzen und den wohlverdienten Lorbeeren aus früheren Jahrhunderten auch die Kleinodien von Wittenberg holt." Nun, die protestantische Jugend Deutschlands ist nicht ge­ sonnen, die Kleinodien Wittenbergs so leichten Kaufes an die Römer abzulassen, vielmehr bewacht sie dieselben mit vieler Eifersucht und Begeisterung auch ohne Lutherrock und geistliche Geberde, bewahrt sie in Form eines redlichen unbeugsamen und unbestechlichen Wahrheitssinnes. Seelsorgerliche Ermahnungen aber zum theologischen Studium, selbst wenn sie mit der freundlichen Offerte Uhlhornscher Freibetten unterstützt werden, beantwortet sie noch viel leichter mit dem Hinweis auf das alte und triviale Proverbium,

26 daß ein gutes Gewissen ihr noch heut das sanfteste Ruhe­ kissen ist. Demgemäß proponire ich folgenden Satz IV. Der Druck dogmatischer Engherzigkeit, welchen die meisten preußischen Consistorien oder deren Mehrheiten im Einklang mit dem bairischen, sächsischen und meck­ lenburgischen Kirchenregiment auf das theologische Ge­ wissen der Geistlichen noch heut ausüben, muß den geist­ lichen Stand zur wissenschaftlichen Trägheit oder aber zur geistlichen Heuchelei versuchen. Einhalt wird der Abnahme des theologischen Stu­ diums schlechterdings nicht geboten werden, wenn nicht eine durchgreifende Umbildung jener Behörden und zu­ gleich eine Revision des theologischen Prüfungswesens die Vereinbarkeit geistlicher Anstellung mit der vollen inneren Wahrhaftigkeit tüchtiger Candidaten durchweg gewährleistet. — — Aber es giebt doch auch freisinnig regierte Landeskirchen in Deutschland und dieselben werden von dem gedachten Nothstand nicht weniger betroffen als die anderen? — Ge­ wiß; und eben diese Thatsache zwingt zu der Ueberzeugung, daß es noch tieferliegende Gründe für die Abnahme des theologischen Studiums giebt als die pekuniären und die kirchenregimentlichen. Vor genau 20 Jahren freute sich die Evangelische Kirchenzeitung derselben Abnahme; denn die­ selbe finde nur in den Kreisen der Unbemittelten statt und es scheine daher die Erkenntniß durchgebrochen zu sein, daß die Theologie kein Brodstudium ist. Heut klagt Dr. Uhlhorn gerade über die Abnahme des theologischen Studiums in den bemittelteren und gesellschaftlich höherste­ henden Kreisen und es scheint daher wirklich zu jener guten und nothwendigen Erkenntniß der Hengstenbergischen Zeit noch die andere, traurige und ganz unnöthige Meinung hinzugekommen zu sein: daß die Theologie auch kein rechtes wissenschaftliches Studium sei. In der That weisen darauf auch die vorhin gegebenen Zahlenverhältnisse hin. Unaufhaltsam stieg das theologische Studium in den zwan­ ziger Jahren dieses Jahrhunderts, als das unvergleichliche Zusammenwirken bahnbrechender, schöpferischer theologischer Kräfte in Berlin dem rationellen Fleiß Hallescher Wissen-

27 schaft stützend, ergänzend, verbessernd zur Seite ging und die fanatische Denunciation Gerlach'sgegen G esenius und Wegscheider von dem preußischen Cultusministerium dahin be­ antwortet wurde: die Regierung habe ihrerseits keinen An­ laß in den inneren Streit verschiedener theologischer Denkund Lehrweisen einzugreifen. Das war die Zeit, wo der Glaube an die Theologie als Wissenschaft im Zenit stand und ihm auch die außertheologische Wissenschaft nicht entgegen war. Und noch ein Mal nach der Aera der sie­ genden Reaktion, welche mit dem tiefsten Stand des theo­ logischen Studiums zusammenfiel, hob sich dieser tiefinnen verletzte Glaube zu fröhlichem Aufschwung, als die Namen Nitzsch, Dörner, Julius Müller, Beyschlag u. A. als verheißungsvolle Symbole einer aufrichtigen Versöhnung mit der Wissenschaft am theologischen Himmel erglänzten, während ein Carl Hase, Lipsius, Schenkel, Holtzmann, u. A., in Form alter und neuer hervorragender Leistungen die Hoffnung durch bedeutende Fragmente der Erfüllung unterstützten. Doch schon wieder senkte jene Zuversicht ihre Flügel und traurige Zahlen beweisen, daß viel mehr vom Geist des Nikodemus als des Paulus in unserem Volke, auch in unserer Jugend, sein Wesen treibt. Daß an solchen Zuständen obenan die sogenannte luthe­ rische Theologie Schuld trägt, wird sie selber in ihren ehr­ lichen und zugleich klareren Vertretern nicht leugnen. In­ dem sie den Satz von der Verdunkelung und Schwächung der menschlichen Vernunft durch die Sünde, die ererbte und die selbstvollbrachte, an die Spitze ihrer Lehre stellte, hob sie die Wissenschaft im Prinzip auf; denn diese beruht auf der Voraussetzung, daß die Gesetze der Logik ihr durch keine höhere oder niedere Instanz als ihr Besitz und ihr Tribu­ nal zugleich streitig gemacht werden. Im Gegensatz dazu erklärte Vilmar in seiner Antrittsrede zu Marburg über die „Theologie der Thatsachen wider die Theologie der Rhe­ torik": „Wenn man recht lehren und die Seelen recht behüten will," muß man „des Teufels Zähneflerschen aus der Tiefe gesehen (mit leiblichen Augen gesehen — ich meine das ganz unfigürlich) und seine Kraft an einer armen Seele empfun­ den, sein Lästern, insbesondere sein Hohnlachen aus der Tiefe gehört haben". Das war von augustinischen Grund-

28 sähen aus ganz consequent. Und die Folge davon war die Lehre von der Nothwendigkeit einer untrüglichen, von Gott unmittelbar eingegebenen schriftlichen Offenbarung, die dem nach Erkenntniß strebenden Menschengeiste die Decke von den Augen zieht, welche die Erbsünde darüber gedeckt. Das ist die Bibel mit ihrer authentischen Auslegung in den Bekenntnißschriften. „Das kirchliche Bekenntniß", sagt PH ilippi in seiner Glaubenslehre, „will nicht um seiner selbst willen, son­ dern nur um seiner Uebereinstimmung mit der Schrift willen gelten. Es ist sich aber freilich dieser Uebereinstimmung auch sehr bewußt und bereit sie stets aufs Neue aus der Schrift zu beweisen". Die Schrift aber verdanken wir der göttlichen Inspiration der Apostel, und diese Inspiration ist der höchste oder absolute Grad der Erleuchtung, bei welchem kein Irr­ thum und keine Trübung durch den Menschengeist mehr denk­ bar ist" (Philippi, Glaubens!. I. 2. Aufl. S. 208). Dem­ gemäß sind auch die wirklich vorhandenen und übrig blei­ benden Schwierigkeiten historischer, geographischer, chronolo­ gischer und linguistischer Art so untergeordneter und gering­ fügiger Natur, daß sie die lebendige und gläubige Betrach­ tung der gesammten Schrift als des inspirirten Gotteswor­ tes gar nicht zu tangiren und zu alteriren vermögen (ebd. S. 314). Da aber die ganze heilige Schrift Gottes selbst diktirtes Wort ist, so ist es ein Frevel an der Aechtheit irgend eines Theiles zu zweifeln. „Man kann", so erklärte im Jahre 1862 die Evangelische Kirchenzeitung, das 5. Buch Mose nicht über Bord werfen (d. h. für unächt halten) ohne zugleich an der Autorität des Herrn irre zu werden und also auf dem wogenden Meere der Welt ohne Compaß und Steuerruder einherzufahren und heimlich seufzen zu müssen: Wehe mir, daß ich geboren bin." So gibt es denn ein großes Buch, die heilige Schrift, und einige kleinere, die Auslegungsgesetze für das erstere enthaltend, nämlich die Bekenntnißschriften, gegen deren Inhalt keine menschliche Wissenschaft verstoßen darf, ohne gegen Gott selbst zu freveln, aus denen jede Wissenschaft wenn nicht immer ihren Inhalt, so doch stets ihre Normen entnehmen muß, wenn sie nicht gottverlassen im Pfuhl des Irrthums und der Sünde umkommen will. Daß die lutherische Theologie selber bei diesen Grund-

29 sätzen nicht leben und nicht sterben könne, haben die leiden­ schaftlichen Bruderkriege unter ihren ersten Stimmführern männiglich kund gethan. Philippi selbst beantwortete die Frage: ob Wort- oder nur Sachinspiration der h. Schrift, dahin: Wortinspiration, im Gegensatz zur bloßen Sachinspi­ ration, aber auch im Gegensatz zur Wörter-Jnspiration. So schoß er Bresche in die Mauern, die er selber aufgeführt. Fröhlich drangen andere Genossen, die von der Gesinnung der Wissenschaft schon tiefer berührt waren, durch die Bresche nach. Prof. v. Hofmann legte sich eine „neue Weise" zu, „alte Wahrheit zu lehren" und erklärte: das „Grund­ gebrechen" der hergebrachten kirchlichen Lehre von der gött­ lichen Eingebung, Aechtheit und Glaubwürdigkeit der ganzen h. Schrift bestehe darin, daß, „mag man sie der Dogmatik vorausschicken oder einverleiben, man immer dogmatisch von ihr aussage, was sich dogmatisch nicht feststellen läßt". „Auf Grund einer nicht wirklich geführten (geschichtlichen) Unter­ suchung nur behaupten, daß es sich so und so mit der h. Schrift verhalte, bringt Unsicherheit in den Zusammenhang der dogmatischen Aussagen; und vollends so wie Beck be­ haupten, als sei dies gar kein Gegenstand für geschichtliche Untersuchung, ist eine vorsätzliche Verleugnung des wirklichen Sachverhalts". So Herr v. Hofmann. Und wenn auf ihn vorzugsweise die Mecklenburger Lutherbrüder Philippi und Dieckhoff unsanft loshieben, sah Hengstenberg sich veranlaßt, Kahnis gegenüber die formelle Grundlage der Kirche zu vertheidigen und schlug mit Vehemenz die von dem Leipziger Freunde gemachten Versuche zurück, „in dem Bannwald der Schrift Holz zu fällen und in ihm mit Beil und Barten zu hausen". Zu dem Streit um die Schrift kam der dogmatische Bruderzwist. Hofmann's Versöh­ nungslehre bewirkte eine völlige innere Revolution des ge­ summten Lutherthums, und derselbe Hengstenberg, der gegen das Ende seines Lebens an der Lehre von dem Glauben und den Werken bedenklich rüttelte, sagte von Kahnis aus: er habe auch schon angefangen, den „Artikel der stehenden und fallenden Kirche, die Lehre von der Gottheit Christi", zu erschüttern, welcher der Leipziger Dogmatiker „eine vage Gött­ lichkeit substituiren möchte", jasogardie vonKahnis früher selbst vertheidigte Lehre vom Abendmahl. Wahrlich, diese Luthe-

30 raner haben die Lehreinheit und Lehrreinheit der Kirche, die sie stets auf den Lippen tragen, ganz absonderlich an ihnen selber wahr gemacht, und es wird nicht zu viel gesagt sein, wenn wir auf ihren ganzen Trupp die Warnung Hengstenbergs an Kahms ausdehnen: derselbe möge sich hüten, Luther zu citiren; es möchte ihm, wenn Luther erschiene, nicht anders ergehen, wie einst Saul durch Samuel. — In dieser Beurtheilung des Heerlagers lutherischer Theo­ logie haben wir viele Genossen, obenan die Gelehrten und einsichtigen Vertreter der sog. Vermittlungstheologie. Dem Dogma von der Wort- oder Wörtereingebung der Bibel durch den heiligen Geist stellen sie die verständige Unter­ scheidung von heiliger Schrift und Gotteswort gegenüber und sagen, Gotteswort sei nicht die heilige Schrift, sondern in der heiligen Schrift. In der That, ein großer befreiender Aus­ spruch. Auf Grund desselben kann der Vermittlungstheologe sowol die Unächtheit einzelner biblischer Bücher behaupten als auch in der kirchlichen, ja biblischen Glaubenslehre Wahres vom Falschen sondern, und beides ganz ohne den Wunsch, nicht geboren zu sein. Und doch macht derselbe Ver­ mittlungstheologe nicht nur aus einzelnen Glaubenssätzen, sondern auch aus einzelnen Meinungen betreffs der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft geradezu eine Cabinetsund Lebensfrage. Noch de Wette, dem die ganze Tübinger Bewegung in steigendem Maße unsympathisch wurde, hatte in Betreff des sog. Johannes-Evangeliums bei Uebersendung seines Johannes - Commentars an Lücke geschrieben: „Die in meiner Einleitung erörterten Zweifelsgründe gegen die Aechtheit und Glaubwürdigkeit des Evangeliums werden Dir vielleicht allzu skeptisch vorkommen und Deiner Liebe zu dem einigen, zarten, rechten Hauptevangelium wehe thun. Aber hoffentlich stimmst Du nicht in das seit einiger Zeit erhobene Geschrei gegen die negative Kritik ein. Hat man ein so kurzes Gedächtniß, daß man schon die positive Kritik Eich­ hornes und Bertholdt's mit ihren Hypothesen und die dadurch herbeigeführte Verwirrung vergessen hat? Die ne­ gative Kritik reizt zum Forschen, und findet sie ihre Wider­ legung, so ist ein positives Ergebniß gewonnen; die positive hingegen schläfert ein". So de Wette im Jahre 1337, zwei Jahre nach dem Erscheinen des Straußschen „Leben

31 Jesu". Als nach seinem Tode derselbe Commentar von v. Brück ner neuherausgegeben wurde, da gab es für denselben keine ernstlichen Zweifelsgründe gegen das 4. Evangelium mehr, und das Geschrei gegen die negative Kritik war das Feld­ geschrei der gestimmten Vermittlung. Und so auf allen Ge­ bieten der neutestamentlichen Wissenschaft. Nicht das Dogma, so hieß es, sondern allein die Grammatik und die geschichtliche Kritik sollen die Auslegung der heiligen Schrift bestimmen und doch, sobald Jemand dann von diesen Grundsätzen aus zu Resultaten gegen das > Dogma kommt, so thun sich die gestimmten Vermittlungstheologen mit den Reaktionären zu­ sammen und erlassen Proteste, wie in dem Schenkelstreit, zu Nutz und Frommen einer Autoritär, die für sie folge­ richtigerweise nur eine Redensart ist, zu „Nutz und Frommen der göttlichen Autorität der heiligen Schrift". Auf dem Gebiet der Glaubenslehre ist ihr Verhalten damit parallel. Der menschliche Verstand kann nach ihnen, auch in Dingen der theologischen Begriffsbildung, nicht oberste Instanz sein, sondern diese ist die „göttliche Offenbarung". Und doch sind sie redlich bestrebt, die „geoffenbarten" Wahr­ heiten vor dem menschlichen Verstand zu rechtfertigen, ein Streben, welches in Dingen der Erkenntniß doch wiederum die oberste Normativität des Verstandes zur Voraussetzung hat. Daher denn auch ihr emsiger Fleiß, wankenden Dog­ men durch philosophische Stützen die Lebensfrist zu verlän­ gern. Am bequemsten dazu waren natürlich solche philoso­ phischen Systeme, welche ihrerseits den Grundgedanken des biblischen und kirchlichen Glaubenssystems am nächsten standen. Der bedeutendste Kirchenmann der Vermittlungspartei, D. Wilhelm Hoffmann, ließ in seinem „Deutschland" die Baader'sche Natur-Philosophie als die Philosophie der Zukunft pro*^miren und warb mit ihren Mitteln für die biblische Lehre von der Welt. Der hervorragendste Theologe derselben Richtung aber knüpfte an S chelling's Potenzen­ lehre das Dogma der Dreieinigkeit Gottes und wurde in stzjnen einflußreichen Aufsätzen über die Unveränderlichkeit Gottes durch den Eifer um eine wissenschaftliche Rechtfertigung des biblischen Theismus schließlich dahin geführt, den Gottes­ begriff aufzuheben, indem er rund heraus erklärte: „Un­ veränderlich ist Gott nicht in seinem Verhältniß zu Raum

32 und Zeit, unveränderlich auch nicht in seinem Wissen und Wollen der Welt und seinem Rathschluß". (Einst wurden von der Kirche verdammt, die das „Wandelbar" auch nur auf Jesum von Nazara anwandten). Die Absichten, aus denen solche Kundgebungen hervorgingen, waren lauter und edel. Aber der Genius der Religion wies sie lächelnd zurück, denn er will seine beseligenden Rechte nicht von der Philo­ sophie als Geschenk erhalten, sondern er schöpft sie allein aus eigener Machtvollkommenheit; und die Wissenschaft schüttelte ernstlich das Haupt dazu, denn die ihr dargebrachten Brandopfer würden, wenn sie dieselben annähme, ihr eigenes Haus und die Altäre ihrer selbstverläugnenden Arbeit ver­ zehren. Eine so milde und conservative Gesinnung wie die eines Ueberweg, des zu früh verstorbenen Schülers von Trendelenburg, konnte von der zweiten Periode des Schellingischen Philosophirens nichts besseres aussagen als daß in derselben „die Fülle eigener Produktivität einem prinzipund systemlosen Mysticismus wich, der immer trüber und doch zugleich anspruchsvoller ward". Was soll die Wissen­ schaft nun erst zu der theologischen Anwendung und Aus­ nutzung dieses Philosophirens sagen? Der genannte Aufsatz über Schellings Potenzenlehre leitet aus dem, was sein kann, in Analogie der Dreieinig­ keitslehre dreierlei Vorweltliches ab und bekennt danach oben­ ein ganz offen: „noch immer befinden wir uns über dem wirklichen Sein." In der Wissenschaft aber schließt man heut­ zutage nur von dem wirklich Seienden aus — und wenn man religiös ist: von dem einzelnen Sein auf ein göttliches all­ umfassendes Sein, aber nicht von dem unwirklichen Sein auf das Wirkliche. In erhöhtem Maße trifft unser Wider­ spruch die ähnliche Vermischung unhaltbarer Philosophie mit theologischen Ideen, welche in Baader's „spekulativer Dog­ matik" ihr Wesen treibt, einer pathologischen Erscheinung am Leibe des menschlichen Erkennens wie einst die gleichgeartete Mystik Jakob Böhme's, nur lange nicht so interessant wie dieses ältere naturtheosophische Kunstprodukt. Die für weitere Kreffe interessanteste Darlegung der heutigen vermittlungstheologischen Grundsätze übernahm vielmehr die bekannte Apologetik des Prof. Christ lieb in Bonn. Hier wird von der ander wärtsher gewährleisteten Veränderlichkeit Gottes das Un-

33 glaubliche abgeleitet. Zwar den Glauben jener Bäuerin will uns Christlieb nicht zumuthen, die kühnlich erklärte: auch wenn es in der Schrift hieße, Jona habe den Wall­ fisch verschluckt, so würde sie es gerne glauben. Aber daß der Glaube der Niniviten durch das biblische Haifisch- oder Pottfisch-Wunder habe gestärkt werden sollen, ist ihm etwas ganz glaubhaftes; denn noch „im Jahre 1758 ist ein über Bord gefallener Matrose von erneut Hai verschluckt und als auf diesen sofort eine Kanone losgebrannt wurde, von ihm lebendig ausgespieen worden und war nur wenig versehrt." Die redende Eselin soll dem Bileam „zur Beschämung vor­ gestellt werden, als gehorsamer denn er selbst." „Denn Gott spricht zu einem Jeden die Sprache, die er versteht, oder richtiger, die er verdient." Elia's Himmelfahrt im Wetter — „wie passend," für diesen Feuergeist mußte ein feuriger Streit­ wagen das Sinnbild seines Siegeszuges in den Himmel sein! Der Stillstand der Sonne endlich unter Josua ist nach Christlieb auf das für Josua urtb Israel zur Verfolgung des Feindes nöthige Terrain zu beschränken oder etwa auch (!) auf Palästina und „nehmen wir daher nicht wie die Kirchen­ väter einen faktischen Sonnenstillstand bez. Erdstillstand an, sondern einen optischen d. h. wir glauben, daß Gott auf das Gebet Josua's auf wunderbare Weise in jenen Ge­ genden die Tageshelle erhielt, so daß Israel nach dem Augenschein meinen mußte, die Sonne sei stehen geblieben." So vollzieht die Vermittlungstheologie die auch von ihr verlangte Versöhnung des Christenthums mit der heuti­ gen Cultur. Bort letzterer aber tvissen wir, daß sie den offenen und ehrlichen Wunderglauben und Bibelglauben als einen Faktor anzusehen hat, mit dem einstweilen noch ernstlich zu rechnett ist. Aber dieses vermiLtlungstheologische, im schlechtesten Sinn jüdelnde Handeln und Feilschen mit den gemessenen Ansprüchen der menschlichen Vernunft stößt sie als den Auswuchs einer häßlichen Zeitrichtung von sich zurück. — Gesegnet die Männer, welche im freien Anschluß an die bahnbrechende Theologie Schleiermacher's seit dessen Tode mit der rücksichtslosen Wahrheitsliebe, welche aller Wissenschaft erste Voratlssetzttng ist, Bibel und Dogtna in jeder Hinsicht ihrer kttechtenden fyunfttoiten entbanden imfr 3

34 beiden die Stellung zuwiesen, welche ihnen in einer wifsenschaftlichen Theologie allein zukommen kann: die Stellung der ehrwürdigen geschichtlichen Urkunden, aber zugleich der würdig­ sten Gegenstände fortschreitender sichtender Prüfung ohne jed­ wede bindende Kraft ihres Buchstabens. Sollen wir, da Lob uns nicht ziemt wo zwar nicht unsere Leistung wohl aber unser ganzes und volles Herz wohnt, sollen wir zu ihrem Recht, das durch alles Vorhergehende bewiesen wird, auch ihre noch zu erfüllenden Pflichten betonen, so scheinen mir dieselben vor allem nach zwei Seiten hin zu liegen. Erstens darf die wissenschaftliche Theologie, wenn sie als solche ihren gesunkenen Credit wiedererringen will, in der Kundgebung ihrer Grundsätze und ihrer Resultate auf dem Gebiet der biblischen Forschung außertheologischen Kreisen gegenüber emsiger thätig sein als bisher. Viel zu sehr bewegte sich lange Zeit die biblische Forschung in dem Ge­ heimkreise ihrer berufsmäßigen Vertreter. Daß wir von der Bibel her keinerlei Schranken, nur Stoff und Förderung unserer Wissenschaft hernehmen, das muß denen, die es wissen müssen, reichlich gesagt und bewiesen werden. Zweitens aber ist es hohe Zeit, daß die wissenschaftliche Theologie auf dem Gebiet der Glaubenslehre eifriger und vor allem klarer mit der Sprache hervortrete. Unser Volk will wissen, nicht nur, was es in religiösen Dingen nicht mehr zu glauben braucht, sondern vor allen: was es fernerhin glauben und wie es dasselbe glauben soll und kann. Und so selbstver­ ständlich es ist, daß dies der heutigen Christenheit von allem das Wichtigste sein muß, so merkwürdig steht die Thatsache da: daß seit der Glaubenslehre Schleiermacher's in Deutsch­ land, d. h. bald seit einem halben Jahrhundert, ausgenom­ men etwa die ältere Schenkel'sche Dogmatik und das letzte Werk Albrecht Ritsch l's, kein einziges dogmatisches Werk von irgend welchem Belang von der wissenschaftlichen Theo­ logie ausgegangen ist. Und dennoch kann es Niemandem entgehen, daß die Schleiermacher'sche Construktion des dog­ matischen Christusbildes durch die nachfolgende große Be­ wegung um das Leben Jesu von Nazara hinfällig geworden, Niemandem, daß die patriarchalische Manier der Schleiermacher'schen Glaubenslehre, unbewiesene „Lehnsätze" aus angrenzenden Wissenschaften als dogmatisches Beweismaterial

35 zu verwerthen, für unsere heutigen Anforderungen unhalt­ bar ist, niemandem endlich, daß in der nachschleiermacherischen Zeit die von ihm so glücklich geförderte Frage nach der dogmatischen Methode wieder ernstlich verdunkelt worden ist. Schleiermacher hatte in der Zeit der Romantik und Naturphilosophie mit wahrhaft genialem Blick die Glaubens­ lehre zu einer wissenschaftlichen Beschreibung und Entfaltung einer erfahrungsmäßig gegebenen Größe, nämlich des evan­ gelisch-christlichen Selbstbewußtseins, und damit zu einer exakten Wissenschaft im modernen Sinn des Wortes zu machen gesucht. Heut steht der bedeutendste Fortführer des Schleiermacher'schen Werkes, Alexander Schweizer in Zürich, mit dem anderen bedeutendsten Dogmatiker, Bieder­ mann, gerade über diese Frage in offener Fehde; und allerdings, das evangelisch-christliche Selbstbewußtsein ist heut, wo es der anerkannten symbolischen Aussprache entbehrt, um vieles schwerer zu beschreiben, als zur Zeit Schleier­ machers, der es noch aus den Symbolen des 16. Jahr­ hunderts eruiren konnte. So steht denn die systematische Theologie vor der Alter­ native, daß sie entweder, abgelöst und ersetzt durch eine neue Aera der persönlichen Jndividualbekenntnisie, sich selber aufgiebt und der biblischen und historischen Theologie das Feld allein überläßt oder aber daß sie alle disponiblen Kräfte zur Sicherung der dogmatischen Methode und zu deren fruchtbarer Anwendung aufruft. Doch thut sich hier für unser Bedürfen und Hoffen ein großes Gebiet auf, welches wesentlich der Zukunft angehört. Ein gesegnetes Feld praktischer Wirksamkeit für Religion und Kirche könnte, sollte die wissenschaftliche Theologie schon jetzt in reicherem Maße pflegen, als es bisher geschehen: den Gymnasialunterricht in der Religion. Die durchschnitt­ liche Art, in welcher dieser Unterrichtszweig gegenwärtig auch auf den sonst trefflichsten Gymnasien getrieben wird, grenzt an das Skandalöse. Auf der einen Seite beeifern sich die Günstlinge des alten Regime, mit einer in's Er­ bauliche und Ermahnende übergreifenden Behandlungsweise den Religionsunterricht unserer Gymnasialjugend als die angemessenste und ausgiebigste Gelegenheit entweder zum Gähnen oder zum Spotten darzustellen. Auf der anderen

36 Seite müssen aus Mangel an geeigneten Lehrkräften zur Ausfüllung dieses immer noch obligatorischen Lehrfachs Männer herangezogen werden, deren eigene innere Interesse­ losigkeit an dem Gegenstand und Ignoranz über denselben dem näselnden Zweifel der deutschen Jugend an den Gü­ tern der Religion und des Christenthums stetig und sicher die Bahn bricht. Den Geistlichen nämlich, welche an vielen Stellen den betreffenden Unterricht auf den Gymnasien trefflich leiteten, haben die meisten Negierungen durch das nachträgliche Verlangen des Oberlehrerexamens die Fort­ führung dieser Arbeit unmöglich gemacht, und nun zerren sie Philologen zu diesem Dienste heran, welche zwar Theo­ logie studirt haben, aber zum Schulfach übergingen eben um die Theologie los zu werden. Selten sind die Ausnahmen im guten Sinne; es sind fast allemal die Fälle, in welchen ein für die Religion interessirter lind in ihrer Geschichte be­ wanderter Lehrer statt lästiger Seelsorge oder frivoler Seelenverderbung einen kundigen Unterricht in der Geschichte des Christenthums treibt von dessen Ansängen imb ersten Urkunden an bis zu der vermeintlichen „Selbstzersetzung" desselben nach E. v. Hartmann's letztem Pamphlet. Auf alle diese Thatsachen und Bedenken gründet sich mein Satz V. Den Druck, welcher als Wissenschaft lastet gerade der begabteren Studium entgegensteht, selbst verschuldet.

auf der evangelischen Theologie und seit Jahren dem Zuzug Abiturienten zum theologischen hat die Theologie größtentheils

1) Die confesfionelle Theologie hat ihn verschuldet, indem sie von der theologischen Forschung den Buchstabengehorsam gegen die Bibel und die Be­ kenntnißschriften verlangte, welchen sie selbst nicht zu leisten im Stande war. 2) Die Vermittlungstheologie hat diesen Druck ver­ schuldet, indem sie die altkirchliche Glaubenslehre mit fremdartigen Zuthaten aus der neueren Philosophie zu stützen ineinte und die biblische Wissenschaft nur 311111 Theil den Gesetzen der Grammatik und der Geschichte, zum Theil immer

37 wieder dem Gebot vorgefaßter dogmatischer Mei­ nungen unterstellte. 3) Die wissenschaftliche Theologie in Deutschland ist diesen: Druck nicht genügend entgegengetreten, insofern sie länger als nöthig ihre gesummte Kraft auf die einseitige Pflege der biblischen Kritik verwandte, deren Resultate für außer­ theologische Kreise zu wenig verwerthete und den Nachweis im ganzen noch schuldig blieb, wie sich auf ihren Grundlagen eine ethisch-religiöse Welt- und Lebensauffassung in befriedigender und haltbarer Form auferbaue. Einhalt aber kann der Abnahme des theologischen Studiums nimmer geboten werden, mnn nicht vor allem die Ueberzeugung siegreich durchdringt, daß die Theologie Gesetz und Methode der Wissenschaft rück­ haltlos anerkennt. Unentbehrlich ist dazu die Mitwirkung eines nach geschichtlich-wissenschaftlicher Lehrweise geordneten, an­ regenden Religionsunterrichts auf den Gymnasien, dessen Pflege die besondere Fürsorge der Schulbehörden drin­ gend erheischt- — — Doch der Schaden liegt noch tiefer als es in den vor­ ausgehenden Sätzen ausgesprochen ist. Der Glaube an die Theologie ist schwach, weil der Glaube an die Religion schwach ist. Daß dem so ist, weiß jeder oberflächliche Kenner unserer Zeit. Fragen Sie, warum? hier die Ant­ wort: Die ^Religion gedeiht nur in der Fülle fester, froher, siegesgewisser Ueberzeugung und diese ist in der Gegenwart noch nicht allgemein möglich. Ein bekannter Historiker und Kritiker des modernen Geistes sagte kürzlich zu mir: Wenn wieder einmal, wie einst Christus oder Luther, Einer den Muth hat, in der Religion zu sagen: so ist es, dann glaube ich an die Religion und dann wird unsere Zeit auch wieder religiös werden. Er hatte Recht. Der romanisch-katholische Geist begnügt sich mit dem Ainsi soil-il, so sei es. Der deutsch-protestantische Geist beugt sich nur vor dem „So ist es" und vor dessen ausreichender Legitimation. Dies Ziel der religiösen Gewißheit liegt aber einstweilen noch in weiter Ferne vor uns. Sehen wir uns doch in unserem eigenen

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Kreise um. Wir haben lebendige Bekenner des altkirchlichen Glaubens unter uns und ihr selbstgewisses, gotterfüllles Wort hat stets ben Weg zu unserem Herzen gefunden. Wir haben einen neuen Protestantismus unter uns, welcher die volle Erneuerung seiner theologischen Begriffswelt im Sinne der natürlichen Weltbetrachtung vollzogen hat, und als in der Leipziger Nikolaikirche diese letztere Richtung in ihrem muthigsten und beredtesten Bertreter mit rücksichtsloser Offenheit der Wunderleugnung zu uns sprach, da gingen die seligen Schauer des Gottesglaubens durch unsere Gemeinde wie vielleicht noch me zuvor. Was sich auf der Zwischenlinie bewegt, ist in allen seinen Stadien mehr oder minder saftund kraftlos. Das ist es eben: Gewißheit wollen wir, „Ge­ wißheit einem neuen Bunde". Aber sie soll uns nicht als Geschenk zufallen, wir sollen sie uns erringen, erringen in lebendigem Wechselverkehr mit der Macht, welche uns diese Gewißheit in erster Linie bestreitet: mit der Macht der Natur­ wissenschaft. Hochverehrte Anwesende, in dem Verhältniß zwischen Religion und Naturwissenschaft ist auf beiden Seiten viel gesündigt worden. Die Theologie hat es sich in dieser Hinsicht gar zu leicht gemacht, indem sie die Angriffe der Naturwissenschaft entweder mit erbaulichen Gemeinplätzen be­ antwortete oder mit seichtem Witz über „das bebartete männ­ liche und das bebartete weibliche Geschöpf, welche zusammen tue ersten Versuche machten sich auf den Hinterbeinen zu halten" u. dgl. mehr. Auf der andern Seite liegen die Dinge auch bei der Naturwissenschaft nicht so einfach, wie viele und gerade die gelesensten rellgionsfeindlichen Poptllarisirungen dieser Wissenschaft es dem Volke weiß machen. Die be­ kannten Zwiegespräche *) zwischen dem „exakten August," der etwas von den Naturwissenschaften versteht und dem „phi­ losophischen Wilhelm, der natürlich ein Einfaltspinsel ist," erle­ digen die Sache ebensowenig als H äckel's Schöpfungsgeschichte mit ihren Uebertreibungen und haltlosen Nutzanwendungen des Darwinismus, die thatsächlich von recht vielen besonne­ nen Naturforschern als solche anerkannt, leider nicht öffent­ lich genug vor allem Volke als solche gekennzeichnet werden. *) Natur und Geist. Gespräche zweier Freunde über den Mate­ rialismus rc. rc. Don Dr. Büchner (3te Aust. (!) Halle 1874).

39 Einschlagend waren unter solchen Umständen die bekannten Erklärungen du Bois-Reymond's über die Grenzen der Naturwissenschaft, dem Inhalt nach nicht mehr neu nach den noch tiefergehenden naturwissenschaftlichen Anwendungen, welche Andere von Kant's Vernunstkritik schon gemacht hatten, aber in ihrer kurzen und präcisen Formulirung hochverdient und durch die seitdem erfolgte naturwissenschaftliche Opposi­ tion*) nichts weniger als widerlegt. Derselbe Gelehrte, der so weit in der Kühnheit geht, die Entstehung der Orga­ nismen für ein nur „überaus schweres mechanisches Problem" zu erklären, bekennt: daß wir weder die Atome zu begreifen noch aus ihrer Bewegung auch nur die geringste Erscheinung des Bewußtseins zu erklären im Stande sind. Mit anderen Worten: Das Woher? des ge­ summten physischen und geistigen Lebens wird dem mensch­ lichen Erkennen stets ein großes X bleiben. So hat denn der menschliche Geist nur die Wahl: entweder das große Gebiet dieser letzten Fragen leer zu lassen oder es mit der Hypothese des Gottesglaubens und der Religion auszufüllen. Sollen wir das Erstere wählen und das zweite unterlassen? Wir können es nicht: denn wir finden uns selbst zurReligion veranlagt, und ent­ nehmen aus der Geschichte der Menschheit das allgemein menschliche Recht derselben, so daß der Verzicht auf jene Hypothese uns als Selbstverstümmelung erscheinen muß: die Geschichte ist ja wol auch eineerfahrungsmäßige Wissenschaft, deren Lehren'als relativ exakte gelten dürfen. So haben wir denn der Naturwissenschaft gegenüber die Bibel in der Hand uns aller wissenschaftlichen Ansprüche und Prärogativen gründlichst zu begeben, aber auch dieses festzuhalten: Eben an den Grenzen des menschlichen Erkennens standen von jeher die Wegweiser in das Land der Religion. Der Theologie aber liegt es ob, ausgehend von den gegebenen religiösen Größen die Welt ihrer Vor­ stellungen und Begriffe einer fundamentalen Revision im Einklang mit den abgeklärten Ergebnissen der Naturwissen­ schaft zu vollziehen. Ein neuer Begriff der Schöpfung, der Weltregierung, der Vorsehung wird vor ihren Blicken

*) Vgl. F. A. Lange's Gesch. b. Mat. 2. Aufl. N, 1. S. 153 ff.

40 erstehen, ein neues Gebet, leidenschaftsloser, aber nicht we­ niger innig als vordem, wird ihre treibende Kraft werden — sie wird es werden, wenn die Theologie ihre Pflicht versteht und erfüllt. Von der weiteren Entwickelung dieses Verhältnisses zwischen der Religion und Naturwissenschaft hängt in letzter Instanz die innere Gesundung des ungesund gestimmten deutschen Volksgemüths ab. Schön und treffend führt Prof. Dörner am Anfang der genannten Aufsätze über die Unveränderlichkeit Gottes aus: Wie die griechische Cultur­ welt, selbst da sie in der höchsten Blüthe stand, in der Sage von dem Raub des Prometheus das Bekenntniß ablegte, zu ihren: Besitz und Reichthum nicht auf legitimem Wege gekommen zu sein, d. h. ohne daß die neue Stufe ihres geistigen Lebens durch ihren alten Gottesglauben gesegnet und eingeweiht war, so trägt auch diese unsere kühn vor­ wärts dringende und doch wieder motte und verzagte Welt etwas Prometheisches in sich. Sie ist auch ein lebendiger Widerspruch, in welchem ein gesteigertes Freiheitsgefühl mit den unzerreißbaren Fesseln eines tiefen Unbehagens, innerer Oede und Unseligkeit vereinigt ist. Daß es auch bei unse­ ren großen Cultursortschritten nicht ganz mit rechten Dingen zugehe, daß unsere Cultur Gott gegenüber kein ganz gutes Gewissen hat, davon ist gleichfalls die Ahnung weiter ver­ breitet als man denkt. Die jetzige Welt, im großen über^ schaut, wird also zwar den Stachel des an Gott mahnenden Gewissens nicht los; aber einerseits sieht sie sich außer Stande, die großen Resultate der menschlichen Cultur dem alten Gottesglauben zu opfern, andererseits nicht minder, neben und mit ihnen diesen Glauben zu behaupten. — Das ist die richtig erkannte Zeitkrankheit. Es giebt nur ein Heil­ mittel: die beiderseitige Selbstbeschränkung der naturwissen­ schaftlichen und der religiösen Culturmächte und ihre nur so zu erreichende Verständigung. In dem Maße als sie erfolgt, wird auch der Muth zum theologischen Studium wieder wachsen und bitte ich Sie daher endlich um Ihre Zustimmung zu folgendem Satz VI. In: letzten Grunde hängt das Sinken des Glau­ bens an die theologische Wissenschaft mit den: Sinken

41 des Glaubens an die Zukunft der Religion zusammen, dieses aber mit dem Sinken der alten Gottes- und Weltansicht vor den Forschungen der Naturwissenschaft. Der deutsche Protestantenverein spricht die Ueberzeu­ gung aus: 1) daß eine richtigere und tiefere Erkenntniß der Natur schließlich auch das ächte religiöse Leben nur läutern, sichern und bereichern kann, 2) daß eine Theologie, welche die abgeklärten Er­ gebnisse der heutigen Naturforschung anerkennt und für die Welt des religiösen Gedankens fruchtbar macht, auch viele von den Besten der deutschen Jugend zu ihren Jüngern zählen wird. Hochverehrte Versammlung, zum Schluß ein Bild aus der jüngeren Vergangenheit der Universität Berlin. Es war im Jahre 1860, sie feierten die 50 jährige Jubelfeier der Friderica Guilelma, und in der ehrwürdigen Aula, welche einst in ungezwungener Gemeinschaft die Bilder Hum­ boldts und Schleiermacher's in ihren Räumen vereinigte, drängte sich eine erlesene Schaar der besten Männer des wissenschaftlichen Deutschlands, der allverehrten alma mater den besten Glückwunsch mitfühlender Freude darzubringen. Das erste Wort erhielt der Sprecher der evangelischen Geist­ lichkeit, Gen.-Sup. Dr. W. Hoffmann. Hier einiges aus seiner schönen, des großen Augenblicks wahrhaft würdigen Ansprache: „Die Naturforschung hat in der Welt Gottes zuvor ungeahnte Gebiete erschlossen, im endlos Großen, im endlos Kleinen die Eine göttliche Schöpferthat in ihrem gesetzmäßigen Wirken uns näher gerückt und was im Reiche des Geistes und der geoffenbarten Wahrheit gewonnen war, durch den Reichthum geschaffenen Lebens, den sie enthüllte, nur tiefer verstehen und freudiger schätzen gelehrt. Auch wo sie dem Gedanken der theologischen Schule und der religiösen Ge­ wöhnung entgegen zu treten schien, hat sie nicht zerstört, sondern befestigt. Denn ihr unglaublich rascher Siegeslauf hat uns im Besitze dessen, was wir in Christo, dem Mittel­ punkt der Welt Gottes erkennen, nur zuversichtlicher gemacht und in der Gewißheit bestärkt, daß alle Entdeckungen in der Welt Gottes nur helleres Licht auf das Wort Gottes

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42 werfen werden. Und in derjenigen Wissenschaft, welche den Namen der Weisheit selbst in dem ihrigen trägt, der Philo­ sophie, sind alle größeren Anstöße von den Männern ausgegangen, welche hier in Berlin den Lehrstuhl zierten. Ich nenne nur die Namen: Fichte, Schelling, Hegel. Es gab eine Zeit in der Geschichte dieser Universität, da die Winde manchmal gewaltig und eisig kalt aus diesem Gebiete her über die Gefilde der Theologie und Kirche hin­ brausten. Aber auch in ihr stand die Kirche fest auf dem Worte des menschgewordenen Gottes und seiner Apostel, auf den Bekenntnissen der Väter und wurde zwar bewegt, aber nicht erschüttert in diesem ihrem Grunde. Vielmehr hat sie nur um so freudiger ihren uralten Glauben in ernstem Streben nach Erkenntniß seiner Schätze bewahrt, und ist muthig in Kraft derselben weiter geschritten und wird weiter schreiten, bis sie ihre Sendung erfüllt hat." Der Rektor Magnificus, der Nestor der Universität, der allerdings wie kein anderer geeignet war, der vorhandenen Vielheit wissenschaftlicher Disciplinen und Richtungen ein freundlicher Vermittler zu sein, August Böckh antwor­ tete darauf wie folgt: „Die Geistlichkeit der mittleren Zeit hat uns die Schätze der Weisheit und Erkenntniß des Alterthums erhalten und überliefert und viele Jahrhunderte hindurch ist sie fast die einzige Trägerin der Wissenschaft gewesen. Auch zur Zeit der Reformation war Kirche und Wissenschaft im engsten Bunde; gleichsam symbolisch stellt diesen Bund die innige Befreundung Luthers und Melanchthons, des Lehrers Germaniens dar. Nur unächter Eifer und Ueberhebung und Ueberschreitung der eigenen Grenzen von der einen oder der anderen Seite kann einen Zwiespalt beider Kreise geistiger Thätigkeit erzeugen, da doch beide Thätigkeiten bestrebt sind, das menschliche Geschlecht zu veredeln und von den Fesseln der sinnlichen Natur zu befreien. Dieser Zwiespalt ist, wenn er tiefer und nicht bloß als ein vorübergehender und schein­ barer auf der Oberfläche liegt, ein unheilvoller. Der Uni­ versität als der Vertreterin der Wissenschaft kann daher nichts erwünschter sein als die Theilnahme der Verkünder des göttlichen Wortes an dem Gedeihen unserer hohen Schule, die ohnehin durch ihre theologische Faeultät der

43 Kirche näher verbunden ist; denn diese Theilnahme legt ein Zeugniß dafür ab, daß Sie und wir, jegliche ihres Berufes bewußt und eingedenk, sich zu einem geistigen Ganzen und einem gemeinsamen Zweck verbunden fühlen." So geschehen in der letzten großen Feierstunde der Ber­ liner Universität! Aber was ist auf solche Sonntagsworte unter dem Staube heißer Werkeltage der Wissenschaft seit­ dem gefolgt? Fort mit der Illusion: Während eine confer? vative Philosophie fortfuhr, der Theologie wolgemeinte aber werthlose und kaum annehmbare Geschenke anzubieten, hat die Naturwissenschaft einzelnen ihrer betriebsamsten Wortführer sinnlose Uebergriffe in fremdes Gebiet im ganzen ungestraft hingehen lassen; und die Kirche hatte für die, welche das Programm jenes theologischen Festredners auszuführen sich beeiferten, nichts übrig als Bannsprüche oder Verweise. Das Resultat aber ist einstweilen der volle Abbruch der beider­ seitigen Beziehungen. So sind denn wenigstens auf Seiten der Kirche jene festlichen Erklärungen vom 14 Oktober 1860 nicht viel mehr als Worte, Worte, Worte, gewesen. Es folge die That und, bei dem Gott, der noch heut Samen und Ernte, Frost und Hitze, Winter und Sommer nicht aufhören läßt, — nach den sicher bevorstehenden Zeiten einer noch viel größeren Not erlebt die protestantische Kirche einen neuen Frühling der Theologie, wenn auch nicht einen Früh­ ling nach der Vorschrift des verewigten Hengstenberg. --

In demselben Verlage erscheint: Die

protestantische Lirchenzeitnng für das evangelische Deutschland unter Mitwirkung von

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Zwanzigster Jahrgang. Preis: 1 Thlr. vierteljährlich.

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Außerdem dienen dem Gesammtverbande des Deutschen Protestantenvereins als publicistische Organe: 1. Das Deutsche Protestantenblatt, herausge­ geben von Dr. C. Manchot in Bremen (H.Credner's Debit in Bremen; Preis: 20 Sgr. viertelj.) 2. Die Protestantischen Flugblätter (2- Friderich's Verlag in Elberfeld; 10 Nummern jährlich: 5 Sgr.)