Freiwilliges Engagement und soziale Benachteiligung: Eine biografieanalytische Studie mit Akteuren in schwierigen Lebenslagen 9783839434017

This volume sheds light on the biographical context of development for voluntary engagement of socially disadvantaged pe

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Freiwilliges Engagement und soziale Benachteiligung: Eine biografieanalytische Studie mit Akteuren in schwierigen Lebenslagen
 9783839434017

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Teil A. Theoretischer Rahmen
1. Freiwilliges Engagement
2. Soziale Benachteiligung
Teil B. Stand der Forschung
1. Quantitative Studien
2. Qualitative Studien
3. Diskussion der Zentralen Ergebnisse bisheriger Forschungsarbeiten und offene Fragen
Teil C. Forschungsprozess
1. Auswahl des Forschungsdesigns
2. Biografietheoretische Grundlagen
3. Datenerhebung
4. Auswertung der Daten
Teil D. Fallportraits
1. Fallportrait: Kerstin Larsell
2. Fallportrait: Hanne Zeutsch
3. Fallportrait: Lutz Rommel
Teil E. Wirkungszusammenhänge bei der Herausbildung freiwilligen Engagements und Typenbildung
1. Individuelle Merkmale
2. Familiäre Disposition: System Herkunftsfamilie
3. Sozialräumliche und Gesellschaftliche Einflüsse
4. Typen der Engagementherausbildung
Teil F. Zusammenfassende Diskussion der Ergebnisse und Schlussfolgerungen für Sozialarbeit und Sozialpolitik
1. Ergebnisse in Bezug auf die Individuelle Biografische Entwicklung
2. Ergebnisse in Bezug auf die Familiären Einflüsse
3. Ergebnisse in Bezug auf die Sozialräumlichen und Gesellschaftlichen Zusammenhänge
4. Fazit
Literatur

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Sandra Meusel Freiwilliges Engagement und soziale Benachteiligung

Gesellschaft der Unterschiede | Band 33

Sandra Meusel (Dr. phil.) ist Dipl.-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (FH) und promovierte 2015 an der Fakultät für Erziehungswissenschaften der TU Dresden.

Sandra Meusel

Freiwilliges Engagement und soziale Benachteiligung Eine biografieanalytische Studie mit Akteuren in schwierigen Lebenslagen

Die vorliegende Arbeit wurde 2015 unter dem Titel: »Freiwilliges Engagement und soziale Ungleichheit. Individuelle, familiäre und gesellschaftliche Wirkungszusammenhänge bei der Herausbildung freiwilligen Engagements sozial benachteiligter Menschen« an der Technischen Universität Dresden, Fakultät Erziehungswissenschaften als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Einleitung | 11

TEIL A. THEORETISCHER RAHMEN 1

Freiwilliges Engagement | 15

1.1

Freiwilliges Engagement als geeigneter Terminus | 18

1.1.1 Ehrenamt, bürgerschaftliches Engagement und Gemeinwohlorientierung | 18 1.1.2 Zivilgesellschaftliches Engagement | 21 1.1.3 Freiwilliges Engagement | 22 Ideengeschichtlicher Abriss | 24 1.2.1 Antike Wurzeln | 24 1.2.2 Ideengeschichtliche Beiträge aus der Zeit des Mittelalters bis zum 16. Jahrhundert | 26 1.2.3 Der Aufschwung zivilgesellschaftlicher Ideen im 17. und 18. Jahrhundert | 27 1.2.4 Zivilgesellschaftliche Diskurslinien im 19. Jahrhundert im Hinblick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen | 29 1.2.5 Die Entwicklung in Deutschland im 20. Jahrhundert | 35

1.2

1.3

Exkurs: Streiflichter der Diskursentwicklung in den Vereinigten Staaten von Amerika und ihr Widerhall in der Gesellschaft | 40

2

Soziale Benachteiligung | 46

2.1 2.2 2.3

Lebenslagenansatz | 47 Intersektionalität | 55 Soziale Benachteiligung als Fokus | 62

TEIL B. STAND DER FORSCHUNG 1

Quantitative Studien | 65

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Begriffsverständnis | 66 Statistische Befunde | 66 Beweggründe für freiwilliges Engagement | 67 Das freiwillige Engagement einzelner Bevölkerungsgruppen | 68 Zukunftstrends im Freiwilligenengagement | 68

2

Qualitative Studien | 69

2.1

Gisela Jakob: Biografische Strukturen ehrenamtlichen Engagements | 70 Michael Corsten, Michael Kauppert und Hartmut Rosa: Quellen Bürgerschaftlichen Engagements | 72 Chantal Munsch: Die Effektivitätsfalle | 74 Andrea Dischler: Teilhabe und Eigensinn | 76 Johanna Klatt und Franz Walter: Entbehrliche der Bürgergesellschaft | 77 Rosine Schulz: Kompetenz-Engagement | 78

2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3

Diskussion der zentralen Ergebnisse bisheriger Forschungsarbeiten und offene Fragen | 80

3.1

Die Engagementquote und Besonderheiten der Entwicklung in Ostdeutschland | 80 Entstehungszusammenhänge freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf | 83 Biografische und feldspezifische Passung | 85 Die Bedeutung des freiwilligen Engagements für die Akteure | 86 Ressourcen für den Engagementzugang | 90

3.2 3.3 3.4 3.5

TEIL C. FORSCHUNGSPROZESS 1

Auswahl des Forschungsdesigns | 95

2

Biografietheoretische Grundlagen | 97

3

Datenerhebung | 99

3.1

Theoretisches Konzept der Erhebungsmethoden | 99

3.1.1 Erhebungsmethode: Biografisch-narratives Interview | 99 3.1.2 Erhebungsmethode: Familiengenogramm | 102 3.2

Durchführung der Erhebungsmethoden im Forschungsprozess | 103

3.2.1 Anwendung des Biografisch-narrativen Interviews | 103 3.2.2 Erhebung von Familiengenogrammen im Forschungsprozess | 105 4

Auswertung der Daten | 107

4.1

Theoretisches Konzept der Auswertungsschritte | 107

4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4

Sequenzielle Analyse | 108 Fallbeschreibung mit biografischer Gesamtformung | 109 Sampling | 110 Merkmale im Fallvergleich und Typenbildung | 110

4.2

Auswertung der Daten in der Forschungspraxis | 111

TEIL D. FALLPORTRAITS 1

Fallportrait: Kerstin Larsell | 115

2

Fallportrait: Hanne Zeutsch | 139

3

Fallportrait: Lutz Rommel | 158

TEIL E. WIRKUNGSZUSAMMENHÄNGE BEI DER HERAUSBILDUNG FREIWILLIGEN ENGAGEMENTS UND TYPENBILDUNG 1

Individuelle Merkmale | 177

1.1

Aktivitätspotenzial zwischen Handlungsorientierung und Lageorientierung | 178

1.2

Zwischen Autonomiebestreben und Anpassungsfähigkeit | 182

1.3

Individuelle biografische Leitorientierungen | 186

1.4

Spezifische individuelle Phänomene | 188

1.5

Zusammenfassung der Wirkungszusammenhänge zwischen individuellen Merkmalen und freiwilligem Engagement | 188

2

Familiäre Disposition: System Herkunftsfamilie | 189

2.1

Sozialisationsbedingungen | 190

2.2

Intergenerativ vermittelte Leitorientierungen | 193

2.3

Praxen des freiwilligen Engagements in der Herkunftsfamilie | 195

2.4

Zusammenfassung der familiär begründeten Wirkungszusammenhänge | 198

3

Sozialräumliche und gesellschaftliche Einflüsse | 198

3.1

Bedeutung von Netzwerken | 198

3.2

Bezüge zum gesellschaftlichen Wandel | 201

3.3

Statusgewinn durch freiwilliges Engagement | 203

3.4

Zusammenfassung der Wirkungszusammenhänge zwischen freiwilligem Engagement und sozialräumlichem und gesellschaftlichem Umfeld | 207

4

Typen der Engagementherausbildung | 208

4.1

Engagement zur Bewältigung von Lebenserfahrungen | 209

4.2

Engagement zur sozialen Integration | 211

4.3

Engagement zur flankierenden Stabilisierung des Lebens | 212

TEIL F. ZUSAMMENFASSENDE DISKUSSION DER E RGEBNISSE UND S CHUSSFOLGERUNGEN FÜR S OZIALARBEIT UND S OZIALPOLITIK 1

Ergebnisse in Bezug auf die individuelle biografische Entwicklung | 216

2

Ergebnisse in Bezug auf die familiären Einflüsse | 225

3

Ergebnisse in Bezug auf die sozialräumlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge | 231

4

Fazit | 240

Literatur | 243



Einleitung

Die Aktualität des Themas „freiwilliges Engagement“ ist ungebrochen. Auch wenn dafür unterschiedliche Begrifflichkeiten wie zivilgesellschaftliches Engagement, bürgerschaftliches Engagement, neues Ehrenamt und andere verwendet werden, beschreiben diese doch ein ähnliches Phänomen mit vielen Gemeinsamkeiten. Die Menschen, welche die damit umfassten Tätigkeiten ausüben, entscheiden sich freiwillig dafür. Doch was heißt das konkret? Wie entsteht dieser Wunsch, sich für andere durch praktisches Aktivwerden einzusetzen? Geert Keil setzt sich in seiner Arbeit „Willensfreiheit“ grundsätzlich damit auseinander, ob das Verhalten des Menschen vorherbestimmt ist bzw. welche Einflüsse ausschlaggebend sind, um individuelles Handeln hervorzubringen. Sein Werk eröffnet erste Horizonte im Hinblick auf das Themengebiet der vorliegenden Arbeit: Was führt Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, dazu, sich freiwillig im Rahmen eines Engagements für andere einzusetzen? Keil bezieht sich auf Kant, indem er postuliert: „Wir könnten nicht anders, als unter der Idee der Freiheit zu handeln“ (Keil 2012, 132). Den Nachweis der Willensfreiheit beginnt Keil mit der Frage, wie Abläufe, die durch kleinste Impulse von ihrem erwarteten Fortgang abweichen können, durch so etwas wie vorherbestimmende Gesetze festgelegt sein sollen. Dass dies lediglich eine rhetorische Frage ist, belegt er mit der Feststellung, dass Naturgesetze an sich nicht das Geschehen bestimmen, sondern sie beschreiben, was erwartungsgemäß regelmäßig passiert. Also die realen Geschehnisse und Handlungen legen fest, welche Naturgesetze stimmen. Ebenso wenig sieht Keil den Menschen selbst als alleinige Ursache seines Handelns. Er meint, „Kausalketten beginnen und enden nirgends, sie laufen durch uns hindurch“ (Keil 2012, 135). Der einzige Weg, Regularitäten zu erkennen, besteht darin, sich mit der Natur der Dinge und ihren zugehörigen Eigenschaften zu befassen. Es sind also die Dispositionen und Kausalkräfte, die als Wirkungszusammenhänge die Ereignisabläufe begründen. Sie lassen neben den Regelmäßigkeiten auch Störfaktoren zu. Es ergibt sich also ein Spielraum von Möglichkeiten, wie sich die Geschehnisse entwickeln. (Keil

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 2012, 131–146) Dieser ist wesentlich durch die Eigenschaften der Menschen und durch die (Macht-)Verhältnisse, in denen sie leben, bestimmt. Für die Frage, wie freiwilliges Engagement bei sozial benachteiligten Menschen entsteht, bedeuten diese Zusammenhänge folgendes: Sie kann geklärt werden, indem das Augenmerk auf die Akteure und auf die Lebensumstände gerichtet wird, in denen ihre Biografie verläuft. Für dieses Anliegen werden im ersten Teil der vorliegenden Arbeit als theoretischer Rahmen die begrifflichen Zusammenhänge in den Blick genommen. Dazu werden zunächst die Tätigkeiten der Menschen beschrieben, deren freiwilliges Engagement im Rahmen dieser Studie untersucht wird. Anhand verschiedener Termini, welche für das Phänomen „Freiwilliges Engagement“ gebräuchlich sind, werden die jeweils zugehörigen Inhalte und Merkmale zusammengestellt. Auf diese Weise werden Hintergründe der Begriffe „Ehrenamt“, „bürgerschaftliches Engagement“, „Gemeinwohlorientierung“, „zivilgesellschaftliches Engagement“ und „freiwilliges Engagement“ geklärt. Diese Erläuterungen bilden die Grundlage für die Entscheidung, in der vorliegenden Arbeit auf den Begriff „freiwilliges Engagement“ zurückzugreifen. Weiterhin erfolgt im Teil A ein ideengeschichtlicher Abriss, welcher die antiken Wurzeln des Phänomens ebenso beleuchtet wie die Entwicklung in Deutschland und teilweise in Europa von der Zeit des Mittelalters bis zum 20. Jahrhundert. Als Exkurs werden Streiflichter der Diskursentwicklung in den Vereinigten Staaten von Amerika in den Zusammenhang mit der dortigen gesellschaftlichen Situation gestellt. Weiterhin wird das Verständnis von sozialer Benachteiligung, welches der Arbeit zugrunde liegt, dargelegt. Im Teil B wird der Stand der Forschung zum Thema „Freiwilliges Engagement und soziale Ungleichheit“ dargelegt. Dabei stellt sich heraus, dass es zwar umfangreiche Literaturbeiträge aus Forschung und Praxis zum Thema Engagement gibt, aber nur vereinzelt die Bezüge zu sozialer Benachteiligung auf empirischen Weg erforscht werden. In diesem Teil der Arbeit werden sowohl quantitative als auch qualitative Studien berücksichtigt und es wird auf die besondere Situation in Ostdeutschland eingegangen. Zusammenfassend werden die wesentlichen Ergebnisse bisheriger Forschungsarbeiten herausgegriffen und offene Fragen ermittelt. Daraus wird die Forschungsfrage der vorliegenden Studie geschlussfolgert. Demzufolge hat diese Arbeit das Ziel, Wirkungszusammenhänge bei der Herausbildung freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf bei sozial benachteiligten Menschen zu ergründen. Teil C der Arbeit verdeutlicht, warum das biografisch-narrative Interview und Familiengenogramme als rekonstruktive Verfahren der qualitativen Sozialforschung ausgewählt werden, um die Forschungsfrage zu klären. Es werden

E INLEITUNG

| 13

 biografietheoretische Grundlagen erläutert und der Ablauf des Forschungsverfahrens differenziert beschrieben. Dabei wird auf die Erhebungs- und Auswertungsmethoden Bezug genommen und das Sample der Studie begründet. Auf der Grundlage dieser theoretischen Zusammenhänge, die in den Teilen A bis C zusammengestellt sind, werden im Teil D drei InterviewpartnerInnen in Fallportraits beschrieben. Für diese differenzierte Darstellung werden markante Personen ausgewählt, welche die jeweiligen Zusammenhänge der Engagementherausbildung auf besondere Weise repräsentieren. Zu jedem dieser Fälle wird dazu zunächst ein Gesamtüberblick über die Biografie gegeben. Weiterhin werden die Auswertungsergebnisse vom Interviewmaterial und von den zugehörigen familiengeschichtlichen Daten als Merkmale zusammengestellt. Dabei wird entsprechend der Forschungsergebnisse in individuelle Phänomene, in familiäre Disposition und in sozialräumliche und gesellschaftliche Einflüsse strukturiert. Zusammenfassend für jeden Fall wird eine biografische Gesamtformung formuliert. Diese greift die wesentlichen Entwicklungen und ihre Hintergründe noch einmal auf und leitet die biografische Bedeutung, welcher das freiwillige Engagement für die InterviewpartnerIn zukommt, ab. Die interviewten Personen werden anonymisiert dargestellt. Im Teil E werden die Analyseergebnisse als Wirkungszusammenhänge der individuellen Merkmale, des familiären Hintergrundes und der sozialräumlichen und gesellschaftlichen Bezüge beschrieben. Dabei wird berücksichtigt, inwiefern Gemeinsamkeiten und Unterschiede die Fälle kennzeichnen. Außerdem wird nach der wesentlichen Bedeutung gefragt, welche im Einzelfall das freiwillige Engagement für die Menschen einnimmt. Dabei stellt sich heraus, dass sich die Fälle des Samples in drei verschiedene Typen der Engagementherausbildung aufteilen. Diese werden differenziert beschrieben und die repräsentierenden Fälle werden diesen Typen zugeordnet. Abschließend werden die Ergebnisse in Teil F zusammengefasst und in Bezug auf die Beiträge anderer Autoren diskutiert. Sie werden auf ihre Bedeutung für die Soziale Arbeit, für die Sozialpolitik und für die Rolle des freiwilligen Engagements in der Gesellschaft geprüft.



Teil A Theoretischer Rahmen

In der Themenstellung der vorliegenden Arbeit wird das freiwillige Engagement in den Blick genommen. Etwa seit den 1990er Jahren hat es massiv an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen, wird in verschiedenen Kontexten diskutiert und in zahlreichen Forschungsarbeiten untersucht. In der vorliegenden Studie ist der Fokus auf Menschen gerichtet, die zur Gruppe der sozial Benachteiligten gehören. Es geht darum, unterschiedliche Entstehungszusammenhänge freiwilligen Engagements dieser Personengruppe herauszuarbeiten. Dazu ist zunächst erklärungsbedürftig, welches Begriffsverständnis von freiwilligem Engagement und von sozialer Benachteiligung als theoretischer Rahmen zugrunde gelegt wird.

1 F REIWILLIGES E NGAGEMENT Der Bezeichnung dieses Phänomens soll sich zunächst in einer Weise angenähert werden, welche die konkrete soziale Praxis in den Blick nimmt und zwar beispielhaft die Tätigkeiten von drei Menschen, welche an der Studie teilgenommen haben. Anschließend werden Merkmale dieser Tätigkeiten zusammengestellt und die dazu relevanten Begrifflichkeiten aus der Literatur recherchiert. Es wird sich zeigen, dass die verwendeten Termini in ihren Semantiken gleichermaßen einem historischen Wandel unterliegen und aktuelle Diskursstränge repräsentieren. An die Begriffsverwendung sind teilweise bestimmte normative Intentionen geknüpft. Zunächst zu den Tätigkeiten der InterviewpartnerInnen: Kerstin Larsell betreut in einer Kindertagesstätte für zwei Stunden wöchentlich eine Gruppe für Eltern mit Babys und Kleinkindern, welche zukünftig diese Einrichtung besuchen werden.

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 Hanne Zeutsch hilft in der Kindertagesstätte ihrer Enkelin mit, wenn Begleiter zu Tagesausflügen oder Unterstützung von Sonderveranstaltung angefragt werden. Lutz Rommel geht jahrelang in einer sozialen Einrichtung im Wohngebiet ein und aus. Dort bereitet er Mahlzeiten für die Nutzer zu, an denen er selbst auch teilnimmt. Außerdem arbeitet er temporär bei Projekten dieser Einrichtung mit. Renate Peter besucht regelmäßig eine ältere Dame im Wohngebiet, die genau wie sie Mitglied eines Wohlfahrtsverbandes ist, aber nicht mehr an den Veranstaltungen teilnehmen kann. Inge Weber leitet zeitweise eine Selbsthilfegruppe. Sie erhält dafür keine Bezahlung. Wolfgang Ewald leistet auf Anfrage handwerkliche Tätigkeiten in einer sozialen Einrichtung im Wohngebiet. Teilweise erhält er dafür eine geringe Aufwandsentschädigung, teilweise arbeitet er unbezahlt. Außerdem reinigt er regelmäßig den Eingangsbereich des Wohnblocks, in dem er mit seiner Frau lebt. Günther Pauls führt offene Unterhaltungsveranstaltungen im Seniorenheim durch, in dem seine Schwiegermutter lebt. Amanda Rödling hilft zeitweise älteren Menschen in der Nachbarschaft, die hilfebedürftig sind. Sie saugt die Wohnung durch oder putzt die Fenster. Eine Nachbarin betreut sie sogar sehr intensiv. Teilweise erhält sie dafür von den Angehörigen einen Zuverdienst zu den Transferleistungen, von denen sie lebt. Es handelt sich um Tätigkeiten, die durch folgende Merkmale charakterisiert werden können: • • •

Alle Personen entscheiden sich selbstbestimmt dafür, diese Tätigkeiten auszuführen. Sie erhalten dafür kein Geld bzw. keine angemessene Bezahlung. Die Tätigkeiten kommen Menschen im Sozialraum zugute, die nicht zur Familie der Akteure gehören.

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 • •

Die Tätigkeiten finden fast ausschließlich im öffentlichen Raum bzw. innerhalb von Einrichtungen des Dritten Sektors statt. Sie werden überwiegend in Absprache bzw. Zusammenarbeit mit anderen ausgeführt.

Die eben genannten Merkmale kennzeichnen das bürgerschaftliche Engagement, wie es die Enquetekommission des Deutschen Bundestages „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ (2002) definiert. Bürgerschaftliches Engagement ist in diesem Sinne: • • • • •

freiwillig, nicht auf materiellen Gewinn gerichtet, gemeinwohlorientiert, öffentlich bzw. findet im öffentlichen Raum statt und wird in der Regel gemeinschaftlich/kooperativ ausgeübt

(ebd, 86). Weitere Begriffe, die dieses und ähnliche Phänomene fassen, sind: „ehrenamtliches Engagement“, „zivilgesellschaftliches Engagement“, „freiwilliges Engagement“, „gemeinwohlorientiertes Engagement“, „Selbsthilfe“, „Bürgerarbeit“ und „Freiwilligenarbeit“ (Enquete-Kommission des deutschen Bundestags „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ 2002, 73). Außerdem ist die Rede vom Volontariat, abgeleitet von der im englischen Sprachraum gebräuchlichen Praxis des „Volunteering“. Im kirchlichen Bereich von Diakonie und Caritas sind die Begriffe „Laienarbeit“ und „Laientätigkeit“ gebräuchlich. Bei der Verwendung der Begriffe werden jeweils Nuancen in der Schwerpunktsetzung einzelner Merkmale sowie teilweise die Verknüpfung mit Theorietraditionen bzw. Intentionen deutlich. Es existieren weder einheitliche Definitionen für die einzelnen Begriffe noch sind die damit gefassten Phänomene eindeutig gegenüber anderen abgrenzbar. Die Begriffe selbst unterliegen teilweise einem Bedeutungswandel, der sich im Lauf der Geschichte vollzieht. Sie bauen auf verschiedene Theoriekonzepte auf, von denen einige über alte Traditionen verfügen, die kontinuierlich weiter entwickelt werden und die sich in ihren Diskurslinien teilweise überschneiden. Bevor ein ideengeschichtlicher Abriss diese Traditionen näher in den Blick nimmt, soll im Folgenden darauf eingegangen werden, wie sich die Begriffsverwendung zentraler Termini in der aktuelleren Diskussion gestaltet. Der terminologische Bedeutungswandel der letzten Jahre bildet eine Argumentationsgrundlage für die Entscheidung, in der vorliegenden Arbeit auf den Begriff freiwilliges Engagement bzw. Freiwilligenengagement zurückzugreifen.

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 1.1 Freiwilliges Engagement als geeigneter Terminus Im Verlauf der neueren Diskussion geraten verschiedene zentrale Begriffe in den Blick, die im Folgenden auf ihre Schwerpunktsetzungen untersucht werden. Es wird intensiv auf den Begriff bürgerschaftliches Engagement eingegangen, da er als Sammelbegriff besonders verbreitet ist. Weiterhin werden die Begriffe Ehrenamt, zivilgesellschaftliches Engagement, freiwilliges Engagement, Gemeinwohlorientierung und Freiwilligenarbeit in die Diskussion eingebracht. 1.1.1 Ehrenamt, bürgerschaftliches Engagement und Gemeinwohlorientierung Zu Beginn der Renaissance des Phänomens in den 1990er Jahren nutzt Rauschenbach noch den Begriff des Ehrenamts als Oberkategorie für alle mit Gemeinsinn, Ehrenamt und Sozialem Kapital in Zusammenhang stehenden Tätigkeiten (Rauschenbach 1999, 67f). Weiterhin ist für ihn die Diskussion mit einem Wettstreit um die semantische Lufthoheit verbunden. Jedem Begriff wohnen spezifische Schwerpunktsetzungen und damit gesellschaftliche Positionierungen inne (Rauschenbach 1999, 69). Schon im selben Band bemerken Heinze und Olk den Trend zur Verwendung der Begriffe bürgerschaftliches Engagement und freiwilliges Engagement (Heinze und Olk 1999,78). Olk und Hartnuß führen die zunehmende Popularität des Begriffs bürgerschaftliches Engagement nicht unwesentlich auf den Einfluss der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags zurück. Tatsächlich bezieht sich eine Vielzahl von Autoren, die sich mit dem Themenkreis beschäftigen, in ihren Studien auf die Definition der EnqueteKommission (siehe oben), zum Beispiel Backhaus-Maul u.a. (2002), Schulz (2010), Meergans und Werz (2013). Vorteile in der Verwendung des Begriffs bürgerschaftliches Engagement sind darin zu erkennen, dass er nicht exakt zu bestimmen ist und die Abgrenzung zu verwandten Begriffen unterschiedlich gehandhabt wird. Dadurch ist er anschlussfähig an verschiedene Konzepte, die in angrenzenden Themenkreisen bearbeitet werden (Hartnuss und Olk 2010, 148). Der Begriff bürgerschaftliches Engagement hat sich mittlerweile weitgehend als Sammelbegriff durchgesetzt. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass einige Autoren sich von der Definition der Enquete-Kommission im Sinne eines Sammelbegriffs abheben. So subsummieren Corsten u.a. (2008) darunter beispielsweise keine Tätigkeiten, die nur temporär geleistet werden wie die Katastrophenhilfe (Corsten, Kauppert und Rosa 2008, 13). Im Zuge der fast inflationären Verwendung des Begriffs bürgerschaftliches Engagement ist ein Bedeutungswandel zu beobachten: Engagement gilt zunächst nur dann als bürgerschaftlich, wenn darin der Zusammenhang zum Bürgerstatus

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 als Mitgliedschaft eines politischen Gemeinwesens erkennbar ist, also wenn mit der Tätigkeit politische Beteiligung im weitesten Sinne verbunden ist (Heinze und Olk 2001, 14). Erst in der weiteren Diskussion setzt sich die Bedeutung als Sammelbegriff durch. Demnach sieht Vandamme das bürgerschaftliche Engagement als „Erweiterung und Modernisierung des klassischen Ehrenamts mit dem Motiv der Verbesserung individueller Lebenslagen und allgemeiner Lebensqualität" (Vandamme 2012, 699). Auffällig ist, dass der Begriff bürgerschaftliches Engagement im Zuge dieser Funktionsverschiebung hin zur Oberkategorie häufig im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Bedeutungswandel des gemeinten Phänomens diskutiert wird. Dieser Wandel vollzieht sich darin, dass sich der Schwerpunkt vom Recht der Bürger, sich in außerstaatlichen und außerwirtschaftlichen Assoziationen zu betätigen, verschiebt hin zur selbstverständlichen Praxis der Bürger, gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen, welche vom Staat nicht mehr im erforderlichen Umfang finanziert werden können. Wenn es um bürgerschaftliches Engagement geht, werden oft der demografische Wandel, die Globalisierung, die Krise des Sozialstaates, die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen mitgedacht bzw. mitdiskutiert (zum Beispiel Beher, Liebig und Rauschenbach 1999; Zöller 2000; Heinze und Olk 2001; Klein 2001; für den Bereich der Kultur: Thierse 2001; Böhnisch 2002; Enquete-Kommission 2002; Kreibich und Trapp 2002; Zimmer und Vilain 2005; Alscher u.a. 2009; Nationale Engagementstrategie 2010). Munsch (2010) kritisiert den Begriff des bürgerschaftlichen Engagements, welcher für sie einen staatlich inszenierten und funktionalistischen Diskurs repräsentiert. Indem das bürgerschaftliche Engagement gefördert wird, wird darauf abgezielt, die Finanzierungsprobleme des Wohlfahrtsstaates abzumildern (vgl. auch Böhnisch 2002; Braun 2001; Heinze und Olk 2001; Böhnisch 2006). Munsch zeigt auf, dass die Rede vom bürgerschaftlichen Engagement ähnlich wie der Begriff der politischen Partizipation als Dominanzkultur den Ausschluss einzelner Bevölkerungsgruppen strukturell beinhaltet. Insbesondere das Merkmal des öffentlichen Raums als Ort des Engagements schließt die Unterstützungsleistungen sozial benachteiligter Menschen aus, die vorrangig im Nachbarschaftsnetz und im Bekanntenkreis geleistet werden (Keller 2005, 171; Klatt und Walter 2011, 104; 130). Bestimmte Formen und Organisationsräume von Engagement werden als erwünscht und normal etikettiert. Diese gewinnen in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung eine Vorrangstellung, während gleichzeitig Menschen ausgegrenzt werden, die „andere Erfahrungen mit Engagement haben bzw. deren Probleme nach anderen Formen von Engagement verlangen“ (Munsch 2010, 22). Dennoch wird das Postulat der Gleichheit aufrechterhalten, die Dominierenden „blenden ihre eigenen Dominanz aus“ (ebd.). Dieses Dilem-

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 ma lösen Hartnuß und Olk auf, indem sie die Definition der EnqueteKommission öffnen und folgende Formen bürgerschaftlichen Engagements auflisten: politische Beteiligung, ehrenamtliche Begleitung öffentlicher Funktionen, soziales Engagement, gemeinschaftsorientierte Eigenarbeit, die sowohl Nachbarschaftshilfe und Selbsthilfe einschließt als auch das Engagement in Tauschringen und Ähnlichem. Im Verlauf ihrer Argumentation nehmen sie diese Öffnung teilweise zurück, um die Kritik eines beliebigen Konzepts ohne Vision auszuräumen. Sie plädieren dafür, das bürgerschaftliche Engagement im Sinne eines „qualifizierten Konzepts“ (Hartnuss und Olk 2010, 157) an bestimmte normative Voraussetzungen, zumindest an die Intention der Gemeinwohlorientierung nach Münkler und Krause,1 zu knüpfen und damit gegenüber unzivilen Ausrichtungen abzugrenzen. Es kommt ihnen dabei weniger darauf an die politische Komponente zu betonen als zu fordern, dass die Akteure mit ihrem Engagement „über ihre unmittelbaren Eigeninteressen hinausgehen und den Angehörigen anderer Gemeinschaften sowie dem übergeordneten Gemeinwohl nützen“ (ebd. 2010, 158). Festgehalten wird, dass einem Sammelbegriff bzw. der Oberkategorie für das untersuchte Phänomen Engagement auch Tätigkeiten wie Nachbarschaftshilfe und Aktivitäten in Tauschringen zugeordnet werden können. Damit wird der von Munsch kritisierte Ausschluss von Engagementformen, die sozial benachteiligte Menschen präferieren, aufgehoben. Mit der Kritik, dass die Debatte um vermeintlich wiederentdeckte Gemeinschaftswerte funktionalisiert wird, beschäftigt sich beispielsweise Sandermann (2006). Er nimmt insbesondere sozialpädagogische Theorieentwürfe in den Blick. Er analysiert die Argumente zur Wiederbesinnung auf den Gemeinschaftsbegriff, welche in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion seit den 1990er Jahren zunehmend vorgebracht werden. Beispielsweise wird auf Natorp2 Bezug genommen und verstärkt die „individuelle Erziehung in Gemeinschaft durch Gemeinschaft zur Gemeinschaft“ als sozialpädagogisches Grundprinzip gefordert (ebd. 2006, 258)3. Dabei werden verschiedene gesellschaftsentwerfen-

 1

Münkler, H.; Krause, S. (2001): Der Aktive Bürger – Eine Gestalt der politischen Theorie im Wandel. In: Leggewie, C.; Münch, R. (Hg.): Moderne Zeiten. Reflexionen zur Multioptionsgesellschaft. Konstanz. S.83-97.

2

Natorp, Paul (1898): Erziehung und Gemeinschaft. Sozialpädagogik. In: Röhrs, H. (Hg.): Die Sozialpädagogik und ihre Theorie. Frankfurt/Main 1968. S.1-10.

3

Mit der Debatte wird nach Sandermann darauf abgezielt, der Sozialpädagogik wieder ein einheitliches theoretisches Profil zu verleihen und sie somit in den Kontext der Erziehungswissenschaft rückzubinden. Demgegenüber betont Sandermann, dass die Sozialpädagogik und mit ihr die Soziale Arbeit ein eigenes Profil entwickelt, das in sei-

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 de Ideen wie der Kommunitarismus (vgl. A 1.3) herangezogen. Sandermann weist nach, dass die Diskussion insgesamt eine „vornehmlich (wissenschafts-) programmatische, es lässt sich fast sagen (wissenschafts-)politische Auseinandersetzung“ (ebd. 2006, 272) darstellt. Sie wird tendenziell normativ geführt und weist ideologieverdächtige Merkmale auf (ebd.). Demgegenüber betont Fehren (2008) den Gewinn der Diskussion, welcher insbesondere durch die Verwendung des Begriffs bürgerschaftliches Engagement augenscheinlich wird. Er stellt in den Vordergrund, dass infolge des historischen Begriffskontextes explizit die politische Beteiligung intendiert ist und somit Partizipation und demokratische Teilhabe hervorgehoben werden. Gleichwohl wird angemerkt, dass die praktische Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements hauptsächlich darin liegt, zur Wohlfahrtsproduktion beizutragen. Das Engagement in Deutschland ist schwerpunktmäßig auf soziale Aufgaben gerichtet (Fehren 2008, 36). Der Anteil politischer bzw. partizipatorischer Aspekte steht hingegen eher im Hintergrund. Dennoch bedeuten die Möglichkeiten, die sich mit der Debatte um bürgerschaftliches Engagement in Richtung Einmischung und Bürgerbeteiligung ergeben, Chancen der Demokratiegestaltung, welche zum Beispiel in der Diskussion um Bürgerhaushalte erschlossen werden (Roth 2011). 1.1.2 Zivilgesellschaftliches Engagement Wie soeben herausgearbeitet, steht zum bürgerschaftlichen Engagement der praktische Nutzen für die Gesellschaft vor allem durch soziale Unterstützungstätigkeiten im Fokus. Es scheint sich eine Tendenz dahingehend abzuzeichnen, den Begriff zivilgesellschaftliches Engagement für Diskurse und Praktiken zu setzen, in denen der Schwerpunkt auf Formen vorpolitischen und politischen Engagements liegt. Ausgangspunkt dieser Sichtweise stellt die Dissidentenbewegung in Mittel- und Osteuropa ab dem Ende der 1980er Jahre dar, welche als Fundament des politischen Systemumsturzes gesehen wird (Münkler 2001). Bürgerschaftliches und zivilgesellschaftliches Engagement sind demnach als Synonyme mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen zu verstehen: Beim bürgerschaftlichen Engagement stehen Tätigkeiten praktischer sozialer Unterstützung im Vordergrund. Beim zivilgesellschaftlichen Engagement werden die vorpolitischen und politischen Aktivitäten explizit herausgehoben (Adloff 2005, 155). Münkler betont, dass die Zivilgesellschaft ein starker Akteur politischen

 nen historischen Ursprüngen an die Erziehungswissenschaft gekoppelt ist, sich aber im Zuge der Erweiterung des Aufgabenspektrums sehr stark ausdifferenziert hat und objektbereichs- und handlungsfeldorientiert sein muss (Sandermann 2006, 264).

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 Handelns ist (Münkler 2007). Die jeweils andere Komponente – soziales bzw. politisches Engagement – ist in die Definition mit eingeschlossen. 1.1.3 Freiwilliges Engagement Eine große inhaltliche Nähe zu den Begriffen bürgerschaftliches Engagement und zivilgesellschaftliches Engagement besteht zum Freiwilligenengagement bzw. freiwilligen Engagement. Die Termini werden vielfach synonym verwendet. Der Begriff freiwilliges Engagement findet, neben anderen, häufig in Studien Eingang, die das Phänomen empirisch untersuchen, zum Beispiel Düx u.a. 20094, Dischler 2010, Hübner 20105, Fischer 2011, Fischbach 2013. Mit dem Freiwilligenengagement sind wesentlich weniger normative Konnotationen verbunden als mit dem Begriff bürgerschaftliches Engagement (vgl. Fischbach 2013). Dies kommt schon in der Semantik zum Ausdruck. Die Wortbedeutung impliziert, dass der Tätigkeit in erster Linie eine freie Willensentscheidung des Subjektes zugrunde liegt. Es wird also eine gewisse Unabhängigkeit von anderen Wirkungszusammenhängen wie dem Einfluss gesellschaftlicher Normen und moralischer Verpflichtungen hervorgehoben. Ähnlich formuliert wird der Begriff Freiwilligenarbeit. Nach Rauschenbach ist mit dem Begriff Freiwilligenarbeit „modernes, individualisiertes, schwach institutionalisiertes, milieuunabhängiges Engagement“ (Rauschenbach 1999, 69) gemeint. Dies ist insofern erstaunlich, da Freiwilligenarbeit im klassischen Sinne auf Freiwilligendienste wie das Freiwillige Soziale oder das Freiwillige Ökologische Jahr zurückgeht (Keupp 2001). In diesem Sinne ist hier ein Wandel in der Wortbedeutung zu verzeichnen. Die Stiftung Mitarbeit erweitert im OnlinePortal Wegweiser Bürgergesellschaft den Begriff der Freiwilligenarbeit um das Synonym des freiwilligen Engagements und fasst darunter ähnliche Inhalte wie Rauschenbach unter den Begriff der Freiwilligenarbeit: Freiwilliges Engagement oder Freiwilligenarbeit gilt laut Wegweiser Bürgergesellschaft „oft als der modernere Begriff und bezeichnet das unentgeltliche, gemeinwohlbezogene Engagement in selbstorganisierten Initiativen, Aktionsgruppen, Projekten. Die Art des Engagements kann sehr vielfältig sein: von anspruchsvollen Leitungstätigkeiten

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Düx, Wiebken; Prein, Gerald; Sass, Erich; Tully, Claus J. (2009): Kompetenzerwerb im freiwilligen Engagement. Eine empirische Studie zum informellen Lernen im Jugendalter. 2. Aufl. Wiesbaden. Verlag für Sozialwissenschaften.

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Hübner, Astrid (2010): Freiwilliges Engagement als Lern- und Entwicklungsraum: Eine qualitative empirische Studie im Feld der Stadtranderholungsmaßnahmen. Wiesbaden. Verlag für Sozialwissenschaften.

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 bis zum einfachen Mitmachen ist alles möglich“ (Wegweiser Bürgergesellschaft 2013). Ein Großteil der Akteure, die in diesem Feld tätig sind, wählt als Selbstbezeichnung einen Begriff, in dem die Freiwilligkeit ihrer Tätigkeit betont wird. Dies ist ein Ergebnis des Freiwilligensurvey (vgl. B 1.1). In der Befragung werden sechs verschiedene Alternativbegriffe vorgeschlagen: Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, nebenberufliche Tätigkeit, Selbsthilfe, bürgerschaftliches Engagement sowie Initiativen- oder Projektarbeit. Der Begriff freiwilliges Engagement selbst ist nicht enthalten, wäre aber eine interessante Alternative. Im Ergebnis wird der Begriff Freiwilligenarbeit am häufigsten gewählt. Es entscheiden sich, abhängig vom Alter, zwischen 38% und 51% der Befragten für diesen Begriff. An zweiter Stelle rangiert der Terminus Ehrenamt. Diese Ergebnisse sollten allerdings unter dem Vorbehalt registriert werden, dass mehrere Fragen im Vorfeld dieser Frage die untersuchten Tätigkeiten als „ehrenamtliches oder freiwilliges Engagement“ einführen. Es kann durchaus sein, dass die Befragten aus diesem Grund auf einen der beiden Begriffe zurückgreifen. Festgehalten werden kann dennoch, dass der Begriff Freiwilligenarbeit sehr gut mit dem Selbstverständnis der Befragten vereinbar zu sein scheint. Insgesamt bestätigen die Diskussionsbeiträge, dass der Begriff freiwilliges Engagement als Begriff für die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Phänomene gelten kann. Ebenso wie der Begriff bürgerschaftliches Engagement wird der Schwerpunkt auf die praktischen Unterstützungsleistungen gelegt. Politische Partizipation, welche beim zivilgesellschaftlichen Engagement im Vordergrund steht, ist eher nachrangig mit freiwilligem Engagement gemeint. Strittige Engagement- Formen wie Nachbarschaftshilfe und Tauschring- Aktivitäten sind in das freiwillige Engagement eingeschlossen. Gegenüber der stärkeren normativen Konnotation des bürgerschaftlichen Engagements betont der Begriff freiwilliges Engagement die Handlungssouveränität der Akteure. Daher wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff freiwilliges Engagement bzw. Freiwilligenengagement verwendet. Die Auseinandersetzung mit dem Themengebiet freiwilliges Engagement führt zu ideengeschichtlichen Hintergründen, welche die historische Grundlage für die aktuellen Diskurse darstellen. Daraus können Erkenntnisse dahingehend abgeleitet werden, wie die untersuchten Phänomene mit Theorieansätzen in Verbindung stehen.

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 1.2 Ideengeschichtlicher Abriss Die historischen Wurzeln des Begriffs und angrenzender Konzepte gründen in der zivilgesellschaftlichen Ideengeschichte und reichen bis in die Antike zurück. Die historische Entwicklung zivilgesellschaftlicher Ideen wird von verschiedenen Autoren untersucht (zum Beispiel Koselleck und Schreiner 1994; Klein 2001; Münkler und Bluhm 2001; Adloff 2005; Schmidt 2007). Im Rahmen dieses ideengeschichtlichen Abrisses werden vor allem Einflüsse berücksichtigt, welche Bezüge zur Diskussion sozialer Ungleichheit bieten bzw. welche in der jeweiligen Epoche eine bedeutsame theoretische Weiterentwicklung mit relevanten Auswirkungen für die soziale Praxis darstellen. In einzelnen Etappen werden Zusammenhänge zwischen den theoretischen Konzepten und der gesellschaftlichen Entwicklung dargestellt. Daran wird deutlich, dass Ideengeschichte und gesellschaftliche Veränderung zirkuläre Prozesse sind, die in unterschiedlichem Ausmaß durch das Engagement zivilgesellschaftlicher Akteure mitgestaltet werden. 1.2.1 Antike Wurzeln Das freiwillige Engagement hat ideengeschichtliche Ursprünge, die weit in die Geschichte zurückreichen. Die Auffassung „von der Natur des Menschen als zôon politikón und seiner Verhaltensweise als sich für das Gemeinwesen engagierender Bürger“ (Schmidt 2007, 22, kursiv im Original) geht wie das heutige Verständnis von Demokratie bis in die griechische Antike zurück. Kirner bezeichnet diese schon damals im Handeln der Menschen sichtbare Fähigkeit der Menschen als Solidarität. Die grundlegende Haltung für solidarisches Handeln bezeichnet Aristoteles mit „philia“ – Freundschaft (Kirner 2001, 58). Die politike koinonia als politische Gesellschaft im alten Griechenland steht für eine Gemeinschaft von Bürgern, die mit dem Ziel, tugendhaft und glücklich zusammen zu leben, geschlossen wird (Adloff 2005, 17). In diesem Sinne wird es nach Platon für die Bürger als selbstverständlich erachtet, sich für das Vaterland einzusetzen und für das Gemeinwesen tätig zu werden (Schmidt 2007, 38). Innerhalb dieser Gemeinschaft der Bürger ist ein Teil der Bewohner der Polis, also des Herrschaftsverbandes, berechtigt, sich für die öffentlichen Angelegenheiten im Sinne politischer Gestaltung einzusetzen. Von diesem Recht sind die sogenannten Unfreien und Freien minderen Rechts ausgeschlossen. So sind Frauen und Sklaven in der griechischen Antike an den Bereich des privaten Haushalts gebunden. Dieses Merkmal, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen strukturell bedingt keinen bzw. erschwerten Zugang zum Engagement finden, durchzieht die Geschichte bis in die Gegenwart.

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 Demgegenüber gilt als wesentlicher Unterschied zwischen griechischer Antike und heutigem Verständnis das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft. Zivilgesellschaft gilt dabei als gesellschaftlicher Raum, in welchem sich freiwilliges Engagement durch tätige Gesellschaftsmitglieder entfaltet. Nach Adloff wird sie als „die plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte verstanden, die auf dem freiwilligen Zusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruhen“ (Adloff 2005, 8). Der Staat und das Engagement der Bürger in der Öffentlichkeit sind in der griechischen Antike eins. Dies unterscheidet die damalige Idee von modernen Vorstellungen, die von weitgehend getrennten Sphären des Staates und der Zivilgesellschaft ausgehen. Eine weitere Gemeinsamkeit zum aktuellen Verständnis ist darin zu sehen, dass die Idee der Zivilgesellschaft und verwandter Konzepte eine starke normative Komponente bzw. einen visionären Anteil enthält (Adloff 2005, Kirner 2001). In der griechischen Antike vom 6. bis 4. Jahrhundert v.u.Z. ist es nicht durchgängig selbstverständlich, dass die Gestaltung der öffentlichen Belange, an der die Bürger mehr oder weniger stark beteiligt sind, auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist. Es ist vielmehr so, dass sich dieser Anspruch erst im Lauf der historischen Entwicklung und der kontroversen Diskussion herausbildet. In Zeiten tyrannischer Herrschaft und in den Anfängen der griechischen Polis ist die Politik ausschließlich an den Interessen einzelner Gruppen, zum Beispiel des Herrschers bzw. der unteren und mittleren Schichten orientiert. In seiner klassischen Form wird die Forderung an die Politik nach Gemeinwohlorientierung als Gesellschaftsideal bei Platon und Aristoteles formuliert, um die damals aktuelle Herrschaftssituation zu kritisieren. (Kirner 2001) Festgehalten wird, dass einige Merkmale des heutigen freiwilligen Engagements Parallelen zum Verständnis der griechischen Antike aufweisen. Hervorzuheben ist hier vor allem die menschliche Fähigkeit, das Handeln nicht nur auf die eigenen Bedürfnisse auszurichten. Es werden auch die Interessen von Menschen berücksichtigt, die nicht zum unmittelbaren Nahraum von Familie und Freundeskreis gehören. Weiterhin ist bereits im antiken Griechenland die Idee von to koinon, also von der Gemeinschaft, normativ besetzt, Idealvorstellung und Praxis weichen also durchaus voneinander ab. Auch der strukturelle Ausschluss bestimmter benachteiligter Gruppen ist ähnlich. Demgegenüber ist unser Verständnis von der Sphäre, in welcher freiwilliges Engagement angesiedelt ist, und deren Verhältnis zu staatlichen Institutionen ein anderes als im alten Griechenland. Das Engagement für öffentliche Belange damals wird mit dem Staat bzw. der Politik gleichgesetzt. Heute sind diese Felder stärker getrennt, wenngleich sie sich überschneiden und teilweise durchdringen.

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 1.2.2 Ideengeschichtliche Beiträge aus der Zeit des Mittelalters bis zum 16. Jahrhundert Die Herrschaftsformen im europäischen Mittelalter bieten nur in relativ geringem Umfang Betätigungsfelder für politisches und soziales Engagement der Bürger. Es ist zwar so, dass einzelne Gruppen als Zusammenschlüsse in Interessengemeinschaften, zum Beispiel in Zünften, politische Entscheidungen in den Städten mitgestalten. Dennoch kann in dieser Zeit nicht von einem systematischen Konzept des Bürgerhandelns oder von einer übergreifenden Sphäre der Zivilgesellschaft gesprochen werden. Die Machtpotenziale sind relativ klar auf einzelne weltliche Herrscher sowie auf die Kirche konzentriert. Die flächendeckende Verbreitung des christlichen Glaubens trägt dazu bei, die Kompetenzen des Einzelnen in Bezug auf öffentliches Handeln abzuwerten. Die Unvollkommenheit des Menschen und seine Neigung zu Handlungen, die anderen schaden, erfordert nach der damals verbreiteten Auffassung eine starke staatliche Gewalt, um diese Vorgänge zu kontrollieren und das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft zu sichern. Damit setzt sich das Verständnis von Augustinus durch, nach dem in der weltlichen Herrschaft Gewalttätigkeit und Eigeninteresse dominieren (Adloff 2005, 19; Schmidt 2007, 22). Auch Thomas Hobbes (1588-1679) sieht die Bürger lediglich als Untertanen ohne gesellschaftlichen Einfluss, die auf die Herrschaft eines Souveräns angewiesen sind (Adloff 2005, 21). Allerdings gehen wesentliche ideengeschichtliche Aspekte des Freiwilligenengagements auf Denkansätze aus der Zeit bis zum 16. Jahrhundert zurück. Diese finden ihren Niederschlag beispielsweise in den Schriften des Augustinus. Die Idee vom uneingeschränkten Zugang zur Gemeinschaft für alle Mitglieder der Gesellschaft beruht auf dem christlichen Glauben, welcher seinen Anhängern unabhängig von sozialem Status, Hautfarbe, Geschlecht und anderen Kategorien Teilhabe am geistlichen Reich Gottes ermöglicht. Im Zuge der Reformation führt diese Haltung dazu, dass auch die konkreten Rechte des Einzelnen, zunächst im Terrain der christlichen Gemeinden, gestärkt werden (Schmidt 2007, 22). Gleichzeitig ergeht an die Teilhaber dieser Gemeinschaften der Aufruf zur Bruder- und zur Nächstenliebe, also zur tätigen Hilfeleistung gegenüber den anderen Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft und darüber hinaus den hilfebedürftigen Menschen im Umfeld. Als weiteres Ergebnis der Reformation wird die Trennung zwischen Privatsphäre und öffentlichem bzw. staatlich geordnetem Raum gewertet (Schmidt 2007, 55). Indem der Glaube dem privaten Raum zugeordnet ist, wird er dem staatlichen Einfluss entzogen. Zusammenfassend beeinflussen die Ideen aus der Zeit des Mittelalters bis zum 16. Jahrhundert das Konzept der Zivilgesellschaft mit, indem sie die Weichen stellen und bestimmte Grundvoraussetzungen für das heutige Verständnis

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 freiwilligen Engagements schaffen. Vor allem betrifft dies die Annahme der Gleichheit aller Menschen. Ebenfalls aus dieser Zeit stammt der Beginn eines Selbstverständnisses der Bürger, welches das Recht beinhaltet, unabhängig von staatlicher Gewalt Handlungspotenzial in der Öffentlichkeit zu entfalten. 1.2.3 Der Aufschwung zivilgesellschaftlicher Ideen im 17. und 18. Jahrhundert Das heutige Konzept der Zivilgesellschaft bzw. verwandte Konzepte in ihrer Vielfalt an Diskurssträngen und damit in Zusammenhang stehend das freiwillige Engagement fußen in wesentlichen Teilen auf politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im 17. und 18. Jahrhundert. Hauptkennzeichen dieser Epoche sind die zunehmende ökonomische Arbeitsteilung innerhalb der Gesellschaft sowie die Verbreitung der Ideen der Aufklärung. Die wichtigsten Etappen dieses Zeitfensters in Bezug auf die Zivilgesellschaft werden im Folgenden nachgezeichnet, indem die zentralen der von Frank Adloff (2005) beschriebenen Einflüsse erläutert werden. Es fließen aber auch Fakten und Interpretationen ein, die Jürgen Schmidt (2007) und Ansgar Klein (2001) in die Diskussion einbringen. Die Autoren Adloff (2005) und Klein (2001) beziehen sich in ihren Arbeiten zu diesem Thema in Teilen auf Jean L. Cohen und Andrew Arato6. Zunächst ist auf den Einfluss von John Locke (1632–1704) hinzuweisen. Er vertritt das natürliche Recht des Menschen auf Eigentum, das im Falle des Machtmissbrauchs der Herrscher auch gegenüber staatlichen Eingriffen geschützt werden muss. Somit ergeben sich für die Menschen autonome Handlungsspielräume, die in ihren Wirkungen sogar über den familiären Kreis hinausreichen. Im Anschluss an Locke richtet sich Adam Ferguson (1723–1816) gegen zu starke staatliche Macht einerseits, prangert andererseits aber auch die ökonomische Dominanz des aufkommenden kapitalistischen Wirtschaftssystems an. Diese zeigt sich darin, dass wirtschaftliche Interessen beispielsweise von Unternehmern soziale bzw. gemeinwohlorientierte Belange aus dem Blick geraten lassen. Ferguson knüpft an antike Ideale an, indem er konstatiert: „Für den alten Griechen […] bedeutete das Individuum nichts und die Öffentlichkeit alles. Für die modernen Menschen ist in zu vielen Völkern Europas das Individuum alles

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Cohen, Jean L.; Arato, Andrew (1992): Civil Society and Political Theory, Cambridge.

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 und die Öffentlichkeit nichts“ (Ferguson 1767)7. Wie schon unter A 1.2.1 bemerkt, ist auch bei Ferguson eine starke normative Komponente sichtbar. Er fordert die Mitglieder der Gesellschaft dazu auf, eigene Interessen zugunsten des Großen und Ganzen der Gesellschaft zurückzustellen und spricht damit vor allem die wohlhabenden Kreise an. Im Gegensatz zum antiken Griechenland wird bei Ferguson schon ansatzweise klar, dass nicht die staatliche Gewalt allein in der Lage ist, den Eigennutz der Wirtschaftsbürger zu bremsen. Es bedarf des Einflusses der aristokratisch-republikanischen Zivilgesellschaft, welche ihre Verantwortung auch für die unteren Schichten wahrnehmen soll (Adloff 2005, 24). Hier wird schon auf die Integrationskraft der Zivilgesellschaft hingewiesen, wie sie auch in aktuellen Debatten immer wieder betont wird. Während Ferguson die Kräfte von Regierung und Adel zur Sicherung des allgemeinen Friedens und der Ordnung in die Verantwortung ruft, betont Adam Smith (1723–1790) wesentlich stärker die positiven Auswirkungen auf das Gemeinwohl, welche mit den Aktivitäten der Wirtschaftsbürger verbunden sind. Er weist zwar auch auf die Aufgaben des Staates hin, das Wohl aller Bürger zu verfolgen, so zum Beispiel in Bezug auf Bildung: „So kann die Regierung dabei helfen, indem sie in jeder Gemeinde oder jedem Distrikt eine bescheidene Schule errichtet“ (Smith 1776)8. Vorrangig geht es ihm aber um die Verbesserung der allgemeinen Lebenslagen, die aus erfolgreichem Wirtschaftshandeln folgt (Adloff 2005, 25). Diese Ideen markieren den Beginn einer Verschiebung der gesellschaftlichen Prioritäten, leiten gleichsam einen folgenreichen Paradigmenwechsel ein. Mit der neuen Sichtweise wird die Verfolgung privater wirtschaftlicher Interessen geläutert, „das Problem der Spannung zwischen Privatinteresse und Gemeinwohl fortdefiniert“ (Adloff 2005, 25). (vgl. auch Münkler und Bluhm 2001, 22) Zur Weiterentwicklung der zivilgesellschaftlichen Idee tragen wesentlich die Gedanken von Montesquieu (1689–1755) und Jean Jack Rousseau (1712–1778) bei. Montesquieu setzt sich dafür ein, dass sich eine Sphäre der zivilgesellschaftlichen Institutionen etabliert, die als vermittelnde Instanz zwischen Staat und Bürger fungiert. Während Montesquieu noch die Monarchie als ideale Herrschaftsform postuliert, zielen die Ideen von Rousseau darauf ab, das Volk als

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Ferguson, Adam: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Hg. und eingeleitet von: Batscha, Zwie; Medic, Hans (1986) Frankfurt/Main. Suhrkamp. nachgedruckt in: Schmidt (2007, 112).

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Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Aus dem Englischen übertragen und mit einer Würdigung von Horst Claus Rechtenwald. München. CH Beck. Nachgedruckt in: Schmidt (2007, 117).

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 gesetzgebende Gewalt zu profilieren. Er strebt eine Republik an, in der der Gemeinwille verfolgt wird. Offen bleibt bei Rousseau allerdings, wie dieser Gemeinwille aus den Interessen der einzelnen Bürger, die ja den persönlichen Vorteil anstreben, hervorgehen soll. (Adloff 2005, 26f) Zusammenfassend ist als wichtige Folge des Wandels im 17. und 18. Jahrhundert zu sehen, dass sich die staatliche und die zivilgesellschaftliche Sphäre mit ihren Körperschaften als relativ eigenständige Gesellschaftsbereiche entwickeln. Außerdem deutet sich mit dem Aufkommen der kapitalistischen Wirtschaftsweise die soziale Frage an: Es kommt zu sozialen Problemen, welche die Gesellschaft durchziehen und welche vornehmlich die unteren sozialen Schichten betreffen. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen gestalten die Verhältnisse mit, indem sie in den Körperschaften aktiv werden und zwischen Bürgern und Staat vermitteln. Es kommt der Anspruch gesellschaftlicher Integration an die Zivilgesellschaft auf. 1.2.4 Zivilgesellschaftliche Diskurslinien im 19. Jahrhundert im Hinblick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen Dem deutschen Philosoph G.W.F. Hegel (1770–1831) gelingt es, antike Idealvorstellungen und zeitgenössische zivilgesellschaftliche Ideen, zum Beispiel von Kant, Locke, Montesquieu, die durchaus widersprüchlich sind, zu integrieren. Demzufolge werden seine Gedanken, die zur Mitbegründung zivilgesellschaftlicher Ideen im 19. Jahrhundert beitragen, immer wieder aufgeführt (zum Beispiel Adloff 2005, Klein 2001, Schmidt 2007, Stecker 2004). Hegel setzt sich umfassend mit der griechischen Philosophie und mit den neuen Ideen der Aufklärung auseinander (Adloff 2005, 31). Seine philosophischen Texte zur Gesellschaftstheorie zeichnen sich dadurch aus, dass sie bisherige Vorstellungen systematisch bearbeiten sowie zukunftsfähige Ideen identifizieren und in eine Theorie einbinden. Für sein Konzept von Zivilgesellschaft wählt Hegel den Begriff bürgerliche Gesellschaft. Es wird in der Folge vielfach anerkannt und als Grundlage für die Weiterentwicklung aufgegriffen. Als Basis seines Menschenbildes dienen Hegel im Anschluss an Kant die universellen Menschenrechte. Einen wichtigen Stellenwert gewinnen dabei die Freiheitsrechte des Einzelnen. Nach dieser Auffassung sind Gesetze dann angemessen und zu Recht erlassen, sobald sie die Freiheit des Einzelnen mit der Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder in Einklang bringen (Adloff 2005, 33). Die bürgerliche Gesellschaft ist für Hegel der Bereich, der von Familie und vom Staat abgegrenzt ist (Schmidt 2007, 145). Zum Bereich der bürgerlichen Gesellschaft gehören nach Hegel a) das System der Bedürfnisse, welches den „Bereich der egoistischen Interessenverfolgung“ (Klein 2001, 298) markiert, b) das Rechtssystem zum Schutz von Eigentums-

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 und Freiheitsrechten und c) das System der Korporationen und der Polizei (Hegel 1821)9. Innerhalb der Korporationen werden die selbstbezogenen Interessen der einzelnen Bürger so diskutiert und bearbeitet, dass das Wohl der Gesellschaft als Ganzes gesichert wird. Hier geht es vorrangig um den Wirtschaftsbürger, welcher seine Position beispielsweise in Wirtschaftsverbänden, in lokalen Gemeinderäten und in die öffentliche Meinung, welche unter anderem in Zeitungen repräsentiert wird, einbringt (Adloff 2005, 34). Hohe Bedeutungen bei der Mitgliedschaft in Korporationen kommen den Freiheitsrechten zu. Hegel betont, dass die Mitgliedschaft darin freiwillig ist (Adloff 2005, 33). Dieser Gedanke ist aus zeitgenössischer Sicht relativ neu, die Zugehörigkeit zu öffentlichen Vereinigungen läuft bis dahin in gesellschaftlichen Automatismen ab. Der Zugang zu Zünften erfolgt aufgrund beruflicher Einbindung, selbst in christlichen Kirchen werden die Menschen nicht durch persönliche Entscheidung Mitglied, sondern entsprechend der familiären Tradition. Den Aufgaben der Polizei ordnet Hegel nicht nur die Sicherstellung des öffentlichen Friedens zu, sondern auch wirtschafts- und sozialpolitische Interventionen (Adloff 2005, 32). Die Hauptregulierungsfunktion sozialer Probleme hat für Hegel der Staat; die Wirtschaft und die bürgerliche Gesellschaft allein sieht er damit überfordert: „Es kommt hierin zum Vorschein, dass bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, das heißt an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern“ (Hegel 1821)10. Im Anschluss beispielsweise an Dahrendorf11 und Popper12 eröffnet Schmidt die Sichtweise von Hegel als „staatsfixiertem Denker“ (Schmidt 2007, 146). Im 19. Jahrhundert wachsen die Initiativen im Raum der Bürgergesellschaft. So entstehen zahlreiche Vereine, welche den verschiedensten gemeinnützigen Zwecken dienen, zum Beispiel Geselligkeit, Wohlfahrt, Kultur und Bildung. Das

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Hegel, Georg Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Mit Hegels eigenhändigen Randbemerkungen in seinem Handexemplar der Rechtsphilosophie. Hg. von Johannes Hoffmeister, 4. Auflage, Hamburg. Felix Meiner 1955. Nachgedruckt in: Schmidt (2007, 146).

10 Hegel, Georg Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Mit Hegels eigenhändigen Randbemerkungen in seinem Handexemplar der Rechtsphilosophie. Hg. von Johannes Hoffmeister, 4. Auflage, Hamburg. Felix Meiner 1955. Nachgedruckt in: Schmidt (2007, 149). 11 Dahrendorf, Ralf (1966): Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München. R. Piper & Co. Verlag. S.225-229. 12 Popper, Karl Raimund (1958): Falsche Propheten. Francke. S.40ff.

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 Stiftungswesen entwickelt sich: weg von traditionellen kommunalen und kirchlichen Almosenwesen hin zu moderneren Formen wie der Stiftergemeinschaft. Grundlegend verändern sich im 19. Jahrhundert auch die Haltung der Bürger gegenüber der absolutistischen Herrschaftsform und ihr Wertesystem. Zunehmend wichtig für die Anerkennung innerhalb der Gesellschaft werden Bürgertugenden, die in sozialem und kulturellem Engagement zum Ausdruck kommen. Als Motive treten neben das religiös begründete Handeln immer mehr auch Absichten, soziale Verantwortung zu zeigen sowie politische und wirtschaftliche Macht darzustellen. Es verbreitet sich ein „säkularer Bürgergeist“ (Frey 2001, 279). Das Handlungsfeld bürgerlicher Aktivitäten bilden vor allem lokale Einrichtungen aber auch gesamtgesellschaftliche Anliegen. Obwohl viele Vereine und Stiftungen aus privaten Initiativen heraus etabliert werden, wird meist auch mit staatlichen Institutionen kooperiert, wenngleich das Ausmaß der Zusammenarbeit unterschiedlich stark ist. (Frey 2001) So existieren in der Zeit des 19. Jahrhunderts beide Modelle nebeneinander: Einerseits funktioniert das Top-down-Modell staatlicher Interventionen von König über Exekutive, Beamte bis zur Polizei, wobei letztere im Sinne Hegels zu verstehen ist. Andererseits wird das Bottom-up-Modell wirkmächtig. Es wird zunehmend die Selbstorganisationsfähigkeit gesellschaftlicher Gruppen anerkannt und deren Problemlösungsstrategien in die politischen Entscheidungen der Herrschenden einbezogen. Wirtschaftsbürger bringen ihre Interessen in Korporationen ein und gestalten vermittelt über Ständevertretungen und die öffentliche Meinung die Gesellschaft ansatzweise auch im politischen Sinne mit (Adloff 2005, 35). Der Einfluss des Bürgertums wird zusätzlich gestärkt durch die neuen kommunalen Selbstgestaltungsrechte von 1808. Innerhalb der städtischen Gemeinschaft werden Bürger zur ehrenamtlichen Übernahme kommunaler Ämter herangezogen. Damit ist die kommunale Selbstverwaltung begründet, welche als „Geburtsstunde des bürgerlichen Ehrenamts“ bezeichnet werden kann (Sachße 2002). Gemeinsam mit dem sozialen Ehrenamt, welches im Elberfelder System von 1853 seinen Ursprung findet, bildet nach Sachße die kommunale Selbstverwaltung eine von zwei Traditionslinien für das freiwillige Engagement in Deutschland. Die andere Traditionslinie stellt das wohltätige Engagement der Bürger im Feld der Vereine (siehe oben) dar. (Sachße 2002) Das Elberfelder System ist ein Beispiel für das top-down-organisierte Engagement in dieser Zeit. Initiativen, die auf Privatpersonen bzw. Vereine zurückgehen, sind beispielsweise die Franckeschen Stiftungen in Halle sowie das Raue Haus in Hamburg. Das Anliegen, etwas gegen die sich verbreitende Not und Armut zu tun, wird deutschlandweit von bürgerlichen Vereinigungen vertreten. So wird beispielsweise 1893 in Berlin die Mädchen- und Frauengruppe für soziale Hilfsarbeit

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 gegründet. Junge Frauen, die wohlhabenden Familien entstammen, beginnen innerhalb dieser Organisation, ehrenamtlich in sozialen Einrichtungen zu arbeiten. So auch Alice Salomon, die dadurch die Chance nutzt, selbst tätig zu werden. Später, im Jahr 1908, gründet Alice Salomon die Soziale Frauenschule in Berlin. Die Zielsetzung, auch ehrenamtliche MitarbeiterInnen für ihre Arbeit entsprechend auszubilden bzw. weiterzubilden, ist bis heute wesentlich für Organisationen, welche das Miteinander von Haupt- und Ehrenamtlichen praktizieren. Johann Hinrich Wichern begegnet den gesellschaftlichen Missständen, indem er 1833 in Hamburg sogenannte Rettungshäuser gründet. Darüber hinaus regt er regionenübergreifende christliche Verbände an, die sich um die Not leidende Bevölkerung kümmern sollen. Ausgebildete hauptberufliche Helfer übernehmen in seinem Konzept die Aufgabe, auf der Grundlage der persönlichen Beziehung bedürftigen Kindern die Fähigkeiten für ein sittliches Leben zu vermitteln. Die Mitarbeiter sind nicht nur in den Rettungshäusern tätig, sondern auch in verschiedenen Bereichen, zum Beispiel Stadtmission, Kindergärten, Gefangenenfürsorge. Das Besondere an den Ideen Wicherns ist, dass er die Bürger dazu aufruft, christliche Nächstenliebe zu praktizieren und diese sozialen Anliegen zu unterstützen. (Kuhlmann 2011, 38ff) Damit stellt Wichern die Arbeit der Inneren Mission, wie er sie nennt, auf die breite Basis freiwilligen Engagements. Seine Initiative erweist sich als erfolgreich, der von ihm 1848 gegründete „Centralausschuss für die Innere Mission“ ist das heutige Diakonische Werk (Müller 2006, 52). Neben Initiativen, die von außerstaatlichen Instanzen bzw. von Privatpersonen gegründet werden, werden auch von kommunaler bzw. von staatlicher Seite Ansätze entwickelt und umgesetzt. Das Elberfelder System, welches von Daniel von der Heyd, Gustav Schieper und David Peters entwickelt wird, steht für eines der ersten Modelle, mit dem der zunehmenden städtischen Armut systematisch und mithilfe ehrenamtlicher Mitarbeiter begegnet wird. Das Elberfelder System beginnt 1867 zu arbeiten. Es zielt darauf ab, durch dezentrale und individuelle Hilfestellung arme Menschen zeitnah in Arbeit zu bringen und somit deren Unabhängigkeit von Almosen zu erreichen. Im Unterschied zum heutigen Verständnis beginnen die ehrenamtlichen Armenpfleger ihre dreijährige Tätigkeit nicht freiwillig. Als hauptberufliche Handwerker oder Industrielle werden sie von der Kirche vorgeschlagen und von der Stadt Elberfeld für ihre Tätigkeit verpflichtet. (Schilling 2005, 37ff) Wird der Blick auf die Situation in Deutschland im 19. Jahrhundert mit der Ideengeschichte zusammengeführt, ist Folgendes für den weiteren Fortgang der Entwicklung wesentlich: Die Ideen von Hegel und die sich zunehmend durchset-

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 zende gesellschaftliche Realität kapitalistischer Intensivierung der Wirtschaft finden nicht nur Zuspruch. Kritik wird beispielweise von Karl Marx und auch von August Bebel geübt, die sich hauptsächlich gegen die systematisch sichtbaren Folgen des Gesellschaftssystems in Form von sozialer Ungerechtigkeit und sich verbreitender Armut in der Arbeiterschicht wendet. Auch Alexis de Tocqueville kritisiert das zivilgesellschaftliche Konzept und entwickelt es weiter, allerdings aus einer anderen Perspektive heraus und in Hinblick auf die USamerikanische Gesellschaft. (Adloff 2005, 35) Zunächst zur Situation in Deutschland. Hegels Begriff „Bürgerliche Gesellschaft“ wird von Karl Marx aufgegriffen (Adloff 2005, 41). Marx versteht ihn in erster Linie als Kategorie für die führenden Wirtschaftskreise. Synonym wendet er die Begriffe Bourgeoisie und herrschende Klasse an. Marx kritisiert entschieden die sozialen Probleme in der Gesellschaft, welche er auf die gegebenen Herrschaftsverhältnisse zurückführt. In diesem Sinne wird für ihn die bürgerliche Gesellschaft ausschließlich zum Ziel der Kritik, gemeinwohlorientierte Initiativen finden bei Marx kaum Würdigung. Für ihn tragen sie dazu bei, die bestehende Gesellschaftsordnung aufrecht zu erhalten. Als Ideale stellt Marx den Sozialismus und die Vision von der kommunistischen Gesellschaft gegenüber. In der Argumentation greift er allerdings wiederum auf Tugenden zurück, die bereits in Beiträgen zur bürgerlichen Gesellschaft eine große Rolle spielen (Schmidt 2007, 25). Die Angehörigen seiner utopischen Gesellschaft stellt Marx auf eine gemeinsame Ebene sozialer Gleichheit. Für sie setzt er eine solidarische innere Haltung bzw. Überzeugung voraus, welche im Dienst der sozialen Gerechtigkeit die eigenen privaten Interessen prinzipiell den Bedürfnissen der Allgemeinheit nachordnet. Die Gesellschaftstheorie von Karl Marx strebt in diesem Sinne nach sozialer Gerechtigkeit, die sich vornehmlich an den „Interessen der Bevölkerungsschichten, die an der Herrschaftsausübung nicht teilhaben“ (H. Müller 1996, 169), orientiert. Freiheits- und Eigentumsrechte, die bei Hegel noch betont werden, verlieren bei Marx an Bedeutung. Problematisch ist weiterhin zu sehen, dass sein Konzept vorsieht, die zur Umsetzung des gesellschaftlichen Ideals notwendigen inneren Überzeugungen allen Mitgliedern der Gesellschaft zu verordnen. Trotz dieser aus heutiger Sicht starken Gegenargumente finden seine Ideen im 19. und 20. Jahrhundert großen Zuspruch, nicht nur in der Arbeiterschicht. Auch die Angehörigen der bürgerlichen Kreise reagieren auf die Ideen von Marx – der gesellschaftliche Konflikt wird im Vergleich zu heute relativ offen ausgetragen. Es werden, auch im Bereich der Zivilgesellschaft, wie das Bespiel Johann Hinrich Wichern zeigt, große Anstrengungen unternommen, soziale Gerechtigkeit auf anderen Wegen zu befördern. Auch sozialpolitische Instrumente spielen dabei eine zunehmend bedeutsame Rolle. Die Bis-

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 marck’sche Sozialgesetzgebung ab 1883 markiert einen Höhepunkt dieser Bestrebungen. Die Diskussion in Deutschland aus dem 19. Jahrhundert zusammenfassend können folgende neue Entwicklungen der zivilgesellschaftlichen Ideengeschichte festgehalten werden: Von Hegel wird erstmals die Trennung der Sphären Staat und bürgerliche Gesellschaft explizit betont. Durch Hegel werden antike Ideale, die aktuelle gesellschaftliche Situation und zeitgenössische Ideen in ein Konzept integriert. Die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Assoziationen dient dazu, die zunächst selbstbezogenen Interessen der Privatpersonen auf das Gemeinwohl auszurichten und somit teilweise umzuwandeln. Es wird selbstverständlich, Mitglied in Vereinen und Verbänden zu sein. Außerdem bietet diese Sphäre nunmehr einen Raum für politische Diskussionen und trägt damit zur Entscheidungsfindung durch die Staatsorgane bei. Im 19. Jahrhundert keimt darüber hinaus der Gedanke auf, dass der bürgerlichen Gesellschaft eine soziale Integrationsfunktion zukommt. Der gesellschaftliche Konflikt wird offen ausgetragen. Der Sozialpolitik kommt die Aufgabe zu, von staatlicher Seite zur Lösung der sozialen Frage beizutragen. Schlussfolgernd für das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Sphäre können folgende Erkenntnisse festgehalten werden: Im Zuge zunehmender Intensivierung der Wirtschaft entwickelt sich auch das zivilgesellschaftliche Engagement sprunghaft. Somit kann von engen Bezügen zwischen Ökonomie und Zivilgesellschaft ausgegangen werden, zumal die Träger beider Bereiche, zumindest zu Beginn dieser Entwicklung am Anfang des 19. Jahrhunderts, noch überwiegend identisch sind: Wohlhabende Wirtschaftsbürger setzen den Trend in Gang, sich in Vereinigungen zu betätigen und innerhalb dieser Aktionsradien soziales Engagement zu initiieren. Die Aktivitäten im sozialen Bereich erscheinen im Sinne von Wiedergutmachung als Reaktion auf die soziale Frage; sie sind eher nicht darauf gerichtet, einen Wandel der Wirtschaftsweise in Richtung Nachhaltigkeit einzuleiten. Gleichzeitig werden die ideellen Grundsteine für die dialektische Gegenbewegung gelegt. Marx trägt mit seinen Schriften entscheidend dazu bei, die Arbeiterbewegung13 ins Leben zu rufen. Die Renaissance zivilgesellschaftlicher Ideen verläuft also parallel bzw. gekoppelt an die Anfänge des Modernisierungsprozesses. Diese Verbindung setzt

 13 Vertieft dazu Huber und Schwerdtfeger (1976); außerdem Kruke (2013): Huber, Wolfgang; Schwerdtfeger, Johannes (Hg.) (1976): Frieden, Gewalt, Sozialismus: Studien zur Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung Stuttgart. Klett., Kruke, Anja (Hg.) (2012): Deutsche Sozialdemokratie in Bewegung: 1848 ‫ ޤ‬1863 ‫ޤ‬ 2013. Bonn. Dietz.

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 sich im Sinne vielfältiger Verflechtungen fort. Böhnisch und Schröer sprechen davon, dass „die bürgergesellschaftliche Idee vielfach mit der Praxis der Konsumgesellschaft“ (Böhnisch und Schröer 2001, 33) vermischt ist; die Konsumgesellschaft ist hierbei als Folgeerscheinung des Modernisierungsprozesses zu sehen. 1.2.5 Die Entwicklung in Deutschland im 20. Jahrhundert Nach dem Aufschwung zivilgesellschaftlicher Ideen im 19. Jahrhundert und der rasanten Ausweitung des Vereinswesen gewinnt eine andere Sichtweise an Bedeutung: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird das zivilgesellschaftliche Konzept zunehmend kritisiert. Als prominentes Beispiel gelten die Argumentationen von Max Weber (Schmidt 2007, 26). Er stellt den Charakter der Zivilgesellschaft als zwischen wirtschaftlichen Eigeninteressen und allgemeinem Wohl vermittelnd in Frage. Außerdem zieht er die sozialintegrative Funktion der Vereine und sonstigen Assoziationen in Zweifel. Er stellt fest, dass Zugehörigkeit häufig an bestimmte soziale Voraussetzungen gebunden wird. (Weber 1910)14 Dies ist insbesondere in Bezug auf das Thema soziale Benachteiligung bedeutsam. Den Menschen wird vielfach aufgrund ihrer sozialen Stellung der Zugang zu Mitgliedschaften verwehrt. Weber stellt also fest, dass die Hoffnungen, welche an die intermediäre Sphäre gerichtet werden, sich nicht in dem erwarteten Ausmaß erfüllen. Ähnliche Zusammenhänge werden auch in der aktuellen Debatte immer wieder angemerkt. Dennoch sind die Strahlkraft und die positiven gesellschaftlichen Auswirkungen, die mit dem sprunghaften Anstieg der Vereinsaktivitäten verbunden sind, nicht zu unterschätzen. So ist, insbesondere für die Zeit nach der Jahrhundertwende, die Situation in Deutschland von einer starken Ausstrahlung des sich formierenden neuen Bürgertums bzw. Bildungsbürgertums auch auf die unteren Schichten gekennzeichnet. Dies betrifft das gesamte Modell der Lebensführung angefangen von den neuen Werten wie Sparsamkeit, Bescheidenheit, Bildungsorientierung über das Interesse an kulturellen Aktivitäten wie Museumsbesuchen und die Teilnahme an Lesezirkeln bis hin zum modernen Stil des Wohnens. Die Gesellschaft ist an einer schichtübergreifenden Öffnung interessiert, welche auch von kultur- und bildungspolitischer Seite unterstützt wird. Der Arbeiterschicht bzw. der Unterschicht ganz allgemein öffnen sich zunehmend Möglichkeiten der kulturellen Beteiligung. Die Grenzen zwischen den Gesellschaftsgruppen wer-

 14 Weber, Max (1924): Rede auf dem ersten deutschen Soziologentag in Frankfurt 1910. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen. J.C.B. Mohr. Nachgedruckt in: Schmidt (2007, 202).

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 den zumindest verwischt. (Gall 2009, 23–34) Auch Alice Salomon gründet beispielsweise Arbeiterinnenclubs und erreicht damit, dass sich die Teilnehmerinnen zusammenschließen und weiterentwickeln (Kuhlmann 2011, 43). Einen bedeutsamen Beitrag zur Diskussion um die Zivilgesellschaft in Europa leistet Antonio Gramski (1891–1937). Seiner Auffassung zufolge ist die Zivilgesellschaft außerhalb des ökonomischen und des staatlichen Bereichs angesiedelt, Marx und Weber halten sie noch für in die Wirtschaft eingeschlossen. Nach Gramski bildet die Zivilgesellschaft einen Teil der kulturellen Verhältnisse einer Gesellschaft. Dem Verdienst von Gramski ist es darüber hinaus zuzurechnen, dass der Begriff Zivilgesellschaft sich in Deutschland zunehmend durchsetzt. (Adloff 2005, 42) Hegel spricht noch von bürgerlicher Gesellschaft. Doch nachdem diese bei Marx hauptsächlich mit wirtschaftlichen Profitinteressen der Bourgeoisie in Verbindung gebracht wird, wird in Bezug auf Vereine und Verbände weniger darauf zurückgegriffen. Nach Gramski gilt es für die zivilgesellschaftlichen Assoziationen, zu denen er im öffentlichen Raum tätige Akteure wie Kirche, Parteien, Schulen und Presse zählt (Klein 2001, 109), innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse ihren Platz zu behaupten. Gramski beschreibt den Kampf um das höchstmögliche Maß an Macht und Einfluss (Adloff 2005, 43). Der gesellschaftliche Konflikt wird also auch innerhalb der Zivilgesellschaft ausgetragen. Es geht darum, einen Konsens infolge ethischmoralischer diskursiver Auseinandersetzungen zu finden. Gramski hat mit der Zivilgesellschaft eine vielschichtige Struktur, die zwischen Wirtschaft, Ethik und Politik vermittelt, vor Augen. (Klein 2001, 111) Während die Ideen von Gramski in den Jahren ab 1929 bis Ende der 1930er Jahre in Italien entstehen, werden wesentliche Beiträge zur Debatte von deutscher Seite erst wieder nach dem Ende des zweiten Weltkriegs hinzugefügt. Das Konzept der Zivilgesellschaft differenziert sich sehr stark aus, es entstehen immer mehr spezialisierte Ideenkonzepte, die jeweils in enger Verbindung zu einem spezifischen demokratietheoretischen Verständnis stehen. Als einflussreich gelten beispielsweise die Ansätze von Hannah Ahrendt und Jürgen Habermas. Hannah Ahrendt stellt das politische Reden und Handeln des Menschen als einzigartige Fähigkeit an den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Anders als Tocqueville (vgl. A 1.3) führt die gemeinschaftliche Praxis dieser Fähigkeit nach Ahrendt dazu, dass das selbstbezogene Eigeninteresse des Menschen in die Gemeinwohlorientierung transformiert wird. Als kennzeichnendes Merkmal der verschiedenen Assoziationen markiert Ahrendt die Selbstorganisation, also die relative Unabhängigkeit von staatlichen Vorgaben. (Adloff 2005, 59f) Ahrendt konkretisiert den Begriff des öffentlichen Raums, in welchem sich ja die Aktivitäten der Assoziationen abspielen. Für sie ist der öffentliche Raum „unabhängig

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 von topografisch und institutionell festgelegten Orten – immer dort […], wo Menschen sich zusammenschließen, um gemeinsam zu handeln und den substanziell allgemeinen Gehalt öffentlicher Anliegen zur Sprache zu bringen“ (Klein 2001, 343). Dieses Verständnis erlaubt eine Sichtweise auf das Engagement benachteiligter Menschen, die beispielsweise den gegenseitigen Austausch etwa im Rahmen nachbarschaftlicher Hilfe oder auch während eines gemeinsamen Ausflugs über ausschließende Erlebnisse in der Gesellschaft als politische Aktivität anerkennt. Voraussetzung dafür wäre, den dabei regelmäßig erlebten Enttäuschungen oder Verletzungen durch Exklusionserfahrungen substanziell allgemeinen Gehalt zuzugestehen. Ahrendt bezieht sich in ihren Arbeiten auch auf das liberale Demokratieverständnis. Sie bemerkt, dass Parteien im Lauf der Zeit zu bürokratischen Organisationen werden und in hohem Maß die Interessen ihrer eigenen Klientel vertreten. Die demokratische Gesellschaft steht somit in der Gefahr, reiner (ökonomischer) Interessenpolitik den Weg zu bahnen. Diese Tendenzen werden später auch von den neuen sozialen Bewegungen wahrgenommen und kritisiert. (Klein 2001, 345f) Die teilweise philosophischen und demokratietheoretischen Ideen im Zusammenhang mit Zivilgesellschaft finden ihren Niederschlag und ihre Anwendung in der gesellschaftlichen Entwicklung. In Deutschland entstehen beispielsweise die „Neue Linke“ und die „Neuen Sozialen Bewegungen“ (NSB). Auf letztere wird im Folgenden näher eingegangen, da diese enormes gesellschaftliches Veränderungspotenzial entfalten und bis heute als zivilgesellschaftlicher Akteur verbreitet Anerkennung finden. Dabei wird insbesondere die Entwicklung in Westdeutschland in den Blick genommen, da in der DDR die strukturellen Bedingungen der freien Entfaltung der Zivilgesellschaft entgegen stehen (vgl. B 3.1). Die neuen sozialen Bewegungen demonstrieren sehr anschaulich, dass zivilgesellschaftliche Akteure intermediär zwischen Gesellschaft und Politik fungieren. Ihrem Einfluss entspringen vielfältige sozialpolitische Entscheidungen und Maßnahmen, welche die Lebenslage bisher stark benachteiligter Gruppen verbessern. Die neuen sozialen Bewegungen vereint die Idee demokratischer Partizipation ungeachtet historisch gewachsener und traditionell verankerter Machtstrukturen. Es geht um die Suche nach alternativen Lebensstilen jenseits autoritärer konsumorientierter Dispositionen. Dabei zielen die NSB nicht darauf ab, die herrschende Gesellschaftsform grundsätzlich zu verändern bzw. umzustürzen. Um ihre Ziele öffentlichkeitswirksam zu vertreten, greifen die Akteure der Bewegungen zu gewaltfreien Mobilisierungs- und Aktionsformen und gewinnen somit immer mehr Anhänger. Klein unterscheidet im Anschluss

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 an Raschke15 kultur- und machtorientierte Ausrichtungen neuer sozialer Bewegungen. Kultur- und damit identitätsorientierte Teile der Bewegungen haben eher das Individuum und die Weiterentwicklung durch Wissenserwerb und das Ausleben spezifischer Werte wie Respekt vor Minderheiten im Blick. Bei machtbzw. strategieorientierten Formen geht es um konkrete politische Veränderungen wie Gesetze zur Gleichberechtigung von Mann und Frau. (Klein 2001, 138ff) Die jeweiligen Anliegen der einzelnen Bewegungen werden also auf verschiedenen Wegen verfolgt. Es wird in unterschiedlicher Intensität mit staatlichen Institutionen zusammengearbeitet und die NSB entwickeln teilweise selbst in starkem Maß institutionelle Strukturen. Sie tragen insgesamt gesehen zur Vielfalt zivilgesellschaftlicher Akteure in der demokratischen Gesellschaft bei. Jürgen Habermas beschreibt die Rolle der neuen sozialen Bewegungen als Teil der Zivilgesellschaft. Habermas erfasst mit seinem deliberativen Demokratiemodell die Wechselwirkungen zwischen System und Lebenswelt. Die Lebenswelt, nach phänomenologischem Verständnis die konkreten Kommunikations- und Handlungszusammenhänge, in die ein Mensch gestellt ist, wird vom System, das durch wirtschaftliche und politische Abläufe gesteuert ist, strukturell durchdrungen und durchwirkt. Zur Lebenswelt zählt Habermas die Zivilgesellschaft, die nun ihrerseits durch kommunikative Macht Einflüsse auf das Politik- und Wirtschaftssystem ausübt. (Klein 2001, 315ff) Der intermediären Sphäre außerhalb von Wirtschaft und Politik kommt die Aufgabe zu, die öffentliche Meinung zu den jeweils anstehenden gesellschaftlichen Entscheidungen zu finden. Diese wird zum Beispiel über die Medien, aber auch über die institutionalisierten Assoziationen selbst, zu den demokratisch gewählten Entscheidungsträgern in der Politik übermittelt. Nach Adloff betont Habermas, dass in die jeweiligen Entscheidungsprozesse möglichst alle diejenigen Menschen bzw. die sie repräsentierenden Organisationen eingebunden werden sollten, welche von der Entscheidung betroffen sind. (Adloff 2005, 82) Mit dieser Forderung wird die Voraussetzung für das Engagement benachteiligter Bevölkerungsgruppen in das Demokratiemodell von Habermas integriert. Partizipation wird explizit nicht an die Zugehörigkeit zu bestimmten Schichten oder politischen Gruppen gebunden. Zentrale Bedeutung gewinnt bei Habermas darüber hinaus die Sichtweise, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure ein hohes Maß an Institutionalisierung und (Selbst-)Organisation auszeichnet. Diese strukturellen Voraussetzungen stärken die Macht der Subjekte in der Lebenswelt gegenüber dem Wirtschafts-

 15 Raschke, Joachim (1988): Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriss. Frankfurt/Main, New York.

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 und Politiksystem. (Adloff 2005, 80ff) Wichtig sind für Habermas darüber hinaus institutionalisierte Partizipationsverfahren, um den demokratischen Charakter der Entscheidungsprozesse zu sichern (Klein 2001, 321). Auch den spontanen Aktionen der Zivilgesellschaft widmet Habermas besonderes Augenmerk. Hierzu zählen beispielsweise Aktionen zivilen Ungehorsams. In diesem Sinne bringt Habermas die Kriterien der Gewaltfreiheit und Verfassungskonformität als Bedingung für zivilgesellschaftliches Engagement in die Debatte ein. Nationalistische und gewalttätige Aktionen genügen diesen Ansprüchen nicht und werden demzufolge nicht als zivilgesellschaftliches Engagement toleriert. (Klein 2001, 337) Trotz aller Potenziale und der zentralen Stellung der Zivilgesellschaft innerhalb des demokratischen Gesellschaftssystems weist das Modell deutliche Schwächen auf. Diese werden mit der ungleichen Machtverteilung zivilgesellschaftlicher Akteure einerseits und dem politischen und wirtschaftlichen System auf der anderen Seite benannt. Außerdem wird kritisiert, dass die Ansprüche an die Rolle der Kommunikationsprozesse zu hoch gesteckt sind. In der Praxis dominieren häufig nichtdiskursive Kommunikationsstrategien und Macht- und Besitzinteressen gewinnen Vorrang vor dem Ideal des besseren Arguments. Dennoch gelingt es immer wieder, dass bisher weitgehend unbekannte Gruppen ihren Anliegen einer breiten Öffentlichkeit Zugang bereiten, Protestpotenzial mobilisieren und Einfluss auf die politischen Entscheidungen gewinnen. Beispielhaft dafür stehen die neuen sozialen Bewegungen. (Klein 2001, 315; 325f) Zusammenfassend für die ideengeschichtliche und gesellschaftliche Entwicklung in Bezug auf die Zivilgesellschaft können folgende neue Aspekte festgehalten werden: Es setzt sich in Deutschland der Begriff Zivilgesellschaft für die intermediäre Sphäre, zumindest bis zur Renaissance des Konzeptes Ende der 1980er Jahre, durch. Das Konzept wird vielfältig ausdifferenziert und in verschiedenen Modellen spezifiziert. Die zivilgesellschaftliche Sphäre wird auf die unteren sozialen Schichten ausgeweitet. Neben neu eröffneten Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe wird auch politische Partizipation für benachteiligte Gruppen möglich. Außerdem wird Engagement, das in der außerinstitutionellen Öffentlichkeit stattfindet, als solches anerkannt. Zivilgesellschaftliche Akteure kooperieren in unterschiedlichem Ausmaß mit staatlichen Institutionen. Gewaltfreiheit findet als Merkmal zivilgesellschaftlichen Engagements weitgehende Zustimmung. Das Konzept insgesamt wird auf seine Wirksamkeit als sozialintegrativer Faktor hinterfragt. Kritisch wird außerdem resümiert, dass es keinen Automatismus zwischen der Aktivität in Assoziationen und der Herausbildung von Gemeinwohlorientierung gibt.

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 1.3 Exkurs: Streiflichter der Diskursentwicklung in den USA und ihr Widerhall in der US-amerikanischen Gesellschaft Im Jahr 1835 veröffentlicht Alexis de Tosqueville (1805–1859) den ersten Teil seines analytischen Berichtes über das demokratische System in den USA, 1840 den zweiten Teil. Seine Texte weisen sehr enge Bezüge zur Zivilgesellschaftsdebatte auf, da er die amerikanische Zivilgesellschaft als Grundpfeiler der USamerikanischen Politik sieht. Tosqueville bescheinigt den USA ein System politischer Entscheidungsfindung, dass nach dem Bottom-up-Prinzip organisiert ist, ja die gesamte Gesellschaft sei nach diesem Prinzip aufgebaut: „Die Amerikaner […] schließen sich fortwährend zusammen. Sie haben nicht nur kaufmännische und gewerbliche Vereine, denen alle angehören, sie haben auch noch unzählige andere Arten. […] Überall wo man in Frankreich die Regierung und in England einen großen Herrn an der Spitze eines neuen Unternehmens sieht, wird man in den Vereinigten Staaten mit Bestimmtheit eine Vereinigung finden.“ (Tocqueville 1840)16 Tocqueville glaubt an die positiven Auswirkungen menschlicher Vergesellschaftung in Assoziationen: Bereicherung des Seelenlebens, Entfaltung der Menschlichkeit, Herausbildung sozialer und politischer Tugenden (Hoffmann 2001). Werden die von Tocqueville beschriebenen Unterschiede zwischen Europa und den USA genauer in den Blick genommen, fällt auf, dass diese nicht in erster Linie darin liegen, dass der Assoziationen-Gründungsboom der USA vom europäischen abweicht. Dies soll die Verbreitung sowohl der Stiftungen als auch der Vereine im 19. Jahrhundert belegen. Die Entstehung von Stiftungen untersucht Thomas Adam (2004, 156–174). Er arbeitet heraus, dass Stiftungsinitiativen im 19. Jahrhundert vor allem dazu dienen, kulturelle Werte zu bewahren und soziale Probleme zu lösen. Wohlhabende Bürger als Akteure dieser Initiativen nutzen das Feld öffentlichen gemeinwohlorientierten Handelns, um Zugehörigkeit zu den führenden Gesellschaftsschichten zu demonstrieren und zu sichern. Die Praxis des Stiftens trägt somit dazu bei, die Angehörigen des Bürgertums als soziale Gruppe abgegrenzt von anderen Gruppen zu formieren. Die Adressaten der Stiftertätigkeit hingegen werden nicht als Akteure betrachtet, sondern als Empfänger mit geringerer Leistungsfähigkeit abgewertet. Diese Zusammenhänge betreffen die Praxis in Deutschland und Europa gleichermaßen wie in den USA.

 16 Tocqueville, Alexis (1840): Demokratie in Amerika. Zweiter Teil. Nachgedruckt in: Schmidt (2007, 171).



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 Adam belegt, dass der transatlantische Austausch zur Weiterentwicklung und Verbreitung der Praxis des Stiftens beiträgt. Er führt verschiedene Beispiele an, die für den Export europäischer Stiftungsmodelle in die Vereinigten Staaten stehen. Adam resümiert, dass die Bürger in Deutschland und Amerika damals gleichermaßen bereit sind, „die sozialen Probleme ihrer Zeit eigenständig und ohne die Intervention des Staates zu lösen“ (Adam 2004, 158). Weiterhin führt Adam aus, dass sich die Haltung, der Staat sei hauptverantwortlicher Akteur für den Großteil der Aufgaben u.a. im sozialen Bereich, erst im 20. Jahrhundert und dann vor allem in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg etabliert. Private soziale Initiativen verlieren demnach an Bedeutung im Zuge zunehmender staatlicher Intervention und Verantwortungsübernahme (Adam 2004, 170). Dem ist entgegenzuhalten, dass diese Entwicklung eingebettet in die europäischen Verhältnisse und basierend auf den historischen Wurzeln verläuft. Zurück zur Situation der Assoziationen im 19. Jahrhundert: Neben den Stiftungsgründungen verläuft auch die Etablierung eines dichten Netzes von Vereinen und anderen Assoziationen in Deutschland und Europa in ähnlichem Ausmaß wie in den USA. Diese These vertritt Stefan Ludwig Hoffmann (Hoffmann 2001). Er begründet dies mit der hohen Bedeutung des Vereinslebens in Europa, welches selbst von den staatlichen Institutionen in zahlreichen schriftlichen Akten festgehalten ist. Viele Vereine, Disputierzirkel und Klubs verbreiten sich von England ausgehend über ganz Europa, aber auch lokale Vereinigungen wachsen sprunghaft an und die Bedeutung von Logen und Geheimbünden zur grenzüberschreitenden Verbindung der Menschen steigt rasant an. In Europa wird, ebenso wie in den USA, die Hoffnung an die Betätigung in Vereinigungen geknüpft, dass Mitmenschlichkeit entsteht und das Gemeinwohl vor das Eigeninteresse gezogen wird. Damit ist die Erwartung verbunden, dass sich Bürgertugenden wie Selbstbeschränkung und Freundschaftlichkeit entwickeln. Zunehmend schließen sich auch Menschen in Vereinen zusammen, die vorher aus gesellschaftlichen Aktivitäten ausgeschlossen waren, es entstehen beispielsweise Frauenvereinigungen und Gruppen ethnischer Minderheiten. (Hoffmann 2001) Nicht die Tatsache, dass sich die Menschen aus ihrer freien Entscheidung heraus in bis dahin ungekanntem Ausmaß in Assoziationen zusammenschließen, unterscheidet Europa von Nordamerika, sondern lediglich der historische Kontext, in dem diese Erweiterung passiert. Darüber hinaus gibt es Unterschiede im zivilgesellschaftlichen Selbstverständnis. Als Nährboden für die Entwicklung in Nordamerika ist die spezifische Situation zu sehen, welcher die Revolution im Jahr 1776 vorausgeht. Diese ist mit vielfältigen Auswirkungen auf die amerikanische Gesellschaft und ihre Politik verbunden. Für Berghahn (Berghahn 2001,

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 214ff) repräsentieren in dieser Zeit die Schriften von Thomas Paine17 wesentliche Elemente des sich im Verlauf der amerikanischen Revolution durchsetzenden Gemeinwohlverständnisses, welches auf die Ideen und Schwerpunktsetzungen von John Locke aufbaut. In diesem Zusammenhang fordert Paine, staatliche Interventionen auf ein Minimum zu begrenzen. Nach Berghahn rückt Paine den gesunden Menschenverstand als Handlungsgrundlage in den Vordergrund der Diskussion. Dem schließt sich in der Argumentationskette der Gemeinwohlgedanke an. Der Begriff Gemeinwohl wird nicht exakt definiert, sondern offen gehalten. Damit wird ermöglicht, eine Verständnisvielfalt der verschiedenen Diskussionsteilnehmer zu integrieren. Es wird lediglich konstatiert, dass dieses Gemeinwohl über die Summe der Einzelinteressen und über Kompromisse hinausgeht. Das Gemeinwohl als zentrales Gut wird nach Paine erreicht, indem die politische Gestaltungsmacht den Bürgern überantwortet wird. Er formuliert ein Verhältnis von sich formierender Gesellschaft und staatlicher Gewalt, nach welchem beide Akteure in verschiedene Richtungen zielen. Um das Gemeinwohl zu erreichen, ist es daher aus seiner Sicht nötig, staatlich institutionalisierte Macht so weit wie möglich zu begrenzen. Mit diesem Konzept koppeln sich die Ideen eines US-amerikanischen Gesellschaftsentwurfs von Europa und insbesondere von England ab, wo obrigkeitsgelenkter Steuerung in dieser Zeit wesentlich stärkeres Gewicht zukommt. Berghahn konstatiert, dass erst im Verlauf der Diskussionen um eine Verfassung das Gemeinwohl konkretisiert wird. Es wird im Anschluss an Locke in erster Linie als Recht des Einzelnen auf Leben, Freiheit und Eigentum gefasst. Dennoch wird eine repräsentative Demokratie und mit ihr eine Zentralgewalt mit Regierungssitz in Washington etabliert, um diese Ideale für die gesamte Fläche der USA zu sichern (Berghahn 2001, 222). Auf die historischen Ursprünge der USA geht ebenfalls Linda C. Raeder (2000) ein und zwar im Zusammenhang mit Erläuterungen zum Wesen der amerikanischen Zivilgesellschaft. Dabei schließt sie ebenfalls an Paine an und zieht das klassische liberale Gedankengut heran. Demnach definiert Raeder Zivilgesellschaft als „jenen Sektor, der unabhängig vom Staat ist“ und schließt sowohl die Familie als auch alle freiwilligen Gruppierungen sowie kommerzielle Organisationen ein. Alle Aktivitäten in diesem Bereich werden mit dem Attribut der Freiheit bzw. Freiwilligkeit markiert. Demgegenüber stehen der Zwang und die Durchsetzungskraft staatlicher Macht. Dass selbst zivilgesellschaftliche Organisationen nicht ohne Regeln, ja sogar Maßnahmen mit Zwangscharakter aus-

 17 Foner, Ph. S. (Hg.) (1945): The complete Writings of Thomas Pain. New York. 2 Bände. Foner, E. (1995) (Hg.): Paine, Thomas, Collected Writings. New York.

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 kommen, wird unter dem Primat der freiwilligen Mitgliedschaft vernachlässigt. Die Gesellschaft besteht im US-amerikanischen klassisch-liberalen Selbstverständnis also aus zwei Säulen: Dem Staat steht die Zivilgesellschaft gegenüber. Zum Vergleich: Die in der Bundesrepublik Deutschland weitgehend anerkannte Definition von Zivilgesellschaft grenzt diesen Bereich grundsätzlich vom Bereich der Wirtschaft ab. Auch der private Bereich mit Familie und Freundeskreis wird nicht der Zivilgesellschaft zugeordnet. Dieser Unterschied ist für das gesellschaftliche Verständnis zentral und folgenreich. Mit dem dualen Verständnis, wie es Raeder für die USA erläutert, geht der Glaube einher, dass sich Größe bzw. Stärke der Zivilgesellschaft umgekehrt proportional zu der des staatlichen Bereiches entwickeln kann. In den USA gilt also nach klassisch-liberaler Auffassung: Mehr staatliche Interventionen bringen automatisch einen Rückgang zivilgesellschaftlicher Aktivitäten mit sich (Raeder 2000, 42). Sehr klar bringen diese Auffassung auch die Worte von Thomas Paine zum Ausdruck: „Die Gesellschaft selbst verrichtet beinahe alles, was der Regierung zugeschrieben wird“ (Paine 1793)18. Dieser Grundannahme folgend wird in den USA im Zusammenhang mit den aktuellen Bestrebungen, die Zivilgesellschaft wieder zu beleben, vielstimmig gefordert, staatliche Aktivitäten noch intensiver zu beschränken. In Deutschland wird demgegenüber stärker die Rolle des Staates in dem Sinne diskutiert, geeignete Rahmenbedingungen für die Entfaltung von freiwilligem Engagement zu schaffen. In den USA wird neben dem Liberalismus und speziell dem klassischliberalen Verständnis skizziert nach Raeder der Kommunitarismus intensiv als ideales zivilgesellschaftliches Konzept diskutiert. Im Folgenden werden beide Ansätze vorgestellt. Vertreter des Liberalismus wie beispielsweise John Locke stellen als Werte, die für demokratische Gesellschaften vorrangig gelten, die Freiheits- und Eigentumsrechte des Individuums in den Mittelpunkt. Demnach soll die Gesellschaft so wenig wie möglich verpflichtende Regeln aufstellen (Honneth 1993) und damit hauptsächlich auf die Selbstregulierungskräfte der Gemeinschaft vertrauen. Kennzeichnend für diese Auffassung ist ein Menschenbild, nach dem jeweils rational zwischen Aufwand und Nutzen abgewogen wird, um eine Entscheidung zu finden (Braun 2002, 56). Jeder soll die Freiheit haben, seine eigenen Pläne umzusetzen. Begrenzt wird dieser Grundsatz lediglich dadurch, dass die Freiheit der anderen nicht beeinträchtigt werden darf. Somit dürfen individuelle Rechte

 18 Paine, Thomas (1791): Die Rechte des Menschen. Zweiter Theil. Worin Grundsätze und Ausübung verbunden sind. Zweite Auflage. Kopenhagen. Christian Gottlieb Prost. Nachgedruckt in: Schmidt (2007, 99).

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 nicht dem Gemeinwohl geopfert werden (Sandel 1993). Vertreter liberaler Ideen sind sich bewusst, dass die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Menschen, ihre individuellen Ziele zu erreichen, unterschiedlich stark sind. Demzufolge akzeptieren sie, dass es immer eine Anzahl an Menschen gibt, die „unter einem liberalen System zu leiden haben“ (Waldron 1995, 131). Demgegenüber gehen kommunitaristische Ansätze davon aus, dass der Mensch nicht unabhängig von der Gemeinschaft, in der er lebt, gesehen werden kann. Seine Wertüberzeugungen, Lebensziele und seine Entscheidungsfindung sind immer auch von den gemeinsam geteilten Werten dieser Gesellschaft beeinflusst. Der Gesellschaft kommt nun die Verantwortung zu, Bedingungen zu schaffen, unter denen die individuellen Ziele optimal, also möglichst unbeeinträchtigt durch die wirtschaftliche oder die politische Position, umgesetzt werden können. (Honneth 1993, 10f) Kommunitarier wie Amitai Etzioni fordern, das Verhältnis von Selbstbestimmung und Gemeinschaftsbezug zugunsten der Gemeinwohlorientierung neu zu bestimmen19. Im Zuge der Debatte hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass nicht einer der beiden Ansätze für sich allein handlungsleitend sein kann. Charles Taylor weist darauf hin, dass eine demokratische Gesellschaft beide Positionen berücksichtigen muss (Taylor 1993) und auch Amy Gutmann ist der Ansicht, liberale Positionen können durch kommunitaristische ergänzt werden (Gutmann 1993). In der historischen Entwicklung spiegelt sich dieser Diskussionsprozess beispielsweise in den Ereignissen während des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert wieder. Friedrich Jaeger analysiert diesen Prozess des Progressive Movement, der sich in den Aktivitäten und Errungenschaften der amerikanischen Frauenbewegung zeigt (Jaeger 2004). Haben sich seit der Gründung der USA relativ uneingeschränkt liberale Strömungen durchgesetzt, so finden in diesem Zeitraum wohlfahrtsstaatliche Elemente verstärkt Eingang in die Politikgestaltung. Ihren Ausgangspunkt nimmt diese Entwicklung im Beginn des Zerfalls traditioneller Sozialbeziehungen durch die Modernisierung. Daraufhin orientiert sich die neu formierte amerikanische Frauenbewegung dahingehend, öffentlich wirksam zu werden und soziale Verantwortung zu übernehmen. Frauen besetzen Politikbereiche, die bis dahin von individualistisch- liberalen Vorstellungen männlicher Wirtschaftsweise dominiert sind. Die damit in die Diskussion gebrachten mütterlichen Kompetenzen entsprechen genau dem Bedarf, welchen die gesellschaftliche Entwicklung freisetzt. In dieser Zeit steigt die Zahl neugegründeter Assozia-

 19 Etzioni, Amitai (1995): New Communitarian Thinking. Persons, Virtues, Institutions and Communities. Charlottesvilles and London. Zitiert nach Böhnisch und Schröer (2002), 29.

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 tionen sprunghaft an, dies beinhaltet in besonderem Maß von Frauen initiierte Organisationen mit gemeinnütziger, wohlfahrtlicher Ausrichtung. (Jaeger 2004, 287ff) Beispielhaft hierfür steht die Settlementbewegung, welche durch Jane Adams (1860–1935) entscheidende Impulse erhält. Nach Inga Pinhard kritisiert Adams das massive soziale Elend, das weitere Bevölkerungsteile ihrer Zeit betrifft. Sie begegnet diesen Zuständen, indem sie in Chicago, inspiriert durch die Arbeit von Toynbee Hall in London, ein alternatives Projekt neuer Wohnund Lebensform gründet. Gebildete Frauen und später auch Männer schließen sich zu einer Gemeinschaft in Hull House zusammen, um soziale Veränderungen zu erreichen. Es geht ihnen darum, das traditionelle Verständnis zum Beispiel in Bezug auf Wohnen aufzubrechen und mit ihren Angeboten für die sozial benachteiligten BewohnerInnen der Nachbarschaft, welche überwiegend MigrantInnen sind, die Lebenssituationen und die Entwicklungschancen pragmatisch zu verbessern. Dazu mischen sie sich neben ihrer praktischen Tätigkeit intensiv in die politische und wissenschaftliche Diskussion ein. (Pinhard 2009, 144ff) Pinhard arbeitet heraus, dass sich Adams in ihren Ideen und in ihrem Wirken auf die Gedanken von George Herbert Mead bezieht. Insbesondere ihr Verständnis von gemeinschaftlichem Handeln und demokratischer Teilhabe schließt an Mead an. Das Leben in der Gemeinschaft ermöglicht es den Akteuren, gesellschaftliche Probleme zu identifizieren, zu analysieren und Veränderungsstrategien zu entwickeln. Diese Zusammenhänge finden sich in der Theorie von Mead, die er im Anschluss an den Pragmatismus von William James aufstellt. Demzufolge konstituiert sich die Identität des Menschen aus den wechselwirkenden Einflüssen von Subjekt und Umwelt. Dem Menschen ist es möglich, die Perspektive von anderen zu übernehmen. Dadurch kann er diejenigen gesellschaftlichen Wertorientierungen internalisieren, welche sich ihm als wesentlich präsentieren. Das Handeln und Reden des Subjektes wirkt nun wiederum auf die Gemeinschaft zurück.20 Der Schlüssel für diese Prozesse liegt in der sozialen Interaktion. Damit ist ein zentrales Problem der zivilgesellschaftlichen Idee geklärt, nämlich die Frage, wie der Wille des Einzelnen in eine gemeinwohlorientierte Haltung transformiert wird. Es ist nötig, die Perspektive von Gesellschaftsmitgliedern einzunehmen, die üblicherweise in relativer Distanz zum Individuum leben, und Beziehungen zu ihnen herzustellen. Die so eingenommene innere Haltung ist Voraussetzung für gemeinwohlorientiertes Handeln. Eine weitere wesentliche historische Entwicklung, die mit der zivilgesellschaftlichen Ideengeschichte in den Vereinigten Staaten eng verknüpft ist, wird

 20 Oerter, Rolf; Montada, Leo (Hg.) (2002): Entwicklungspsychologie. Weinheim, Basel, Berlin. S.213. Zitiert nach Pinhard (2009).

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 durch das Wirken von Martin Luther King (1929–1968) in Gang gesetzt. Ausgangspunkt stellt die Rassentrennung in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts dar, welche ihren Ursprung in der Sklaverei der vergangenen Jahrhunderte und der Diskriminierung der farbigen Bevölkerung hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind Amerikaner afrikanischer Herkunft durchgängig als Bürger zweiter Klasse degradiert, was sich in allen Lebensbereichen von den Arbeits- und Wohnverhältnissen über das Schul- und Gesundheits- bzw. Wohlfahrtswesen bis hin zur psychischen Konstitution durchgängig manifestiert (Grosse 1971, 39f). King organisiert eine beispiellose Protestbewegung, der sich farbige und auch weiße Amerikaner aller sozialen Schichten anschließen, um für Bürgerrechte einzutreten. Kennzeichnend für diese Aktionen als zivilgesellschaftliche Bürgerrechtsbewegung sind Demokratie im Sinne einer „grass-roots“-Bewegung (Grosse 1971, 55) und Gewaltlosigkeit. Im Anschluss an Ghandi, Niebuhr und an christliche Lehren entwickelt King eine Theorie der Gewaltlosigkeit, wonach durch Methoden wie passiver Widerstand, Nicht-Kooperation bzw. zivilen Ungehorsam soziales Unrecht überwunden werden kann (Grosse 1971, 71ff). Im Ergebnis wird die Rassentrennung aufgehoben und weitreichende Bürgerrechtsgesetze werden durchgesetzt. Infolge der erfolgreichen Protestaktionen dehnt sich die Bewegung auch nach der Ermordung von Martin Luther King weiter aus und umfasst als weiteres Ziel, die ökonomische Situation aller armen Amerikaner zu verbessern. Doch die praktischen Auswirkungen bleiben gering: „So lange die Lobby der Armen einerseits keine nennenswerte Unterstützung in der Bevölkerung fand und andererseits keine spürbaren Sanktionen […] anzudrohen vermochte, konnte sie von den Politikern […] höflich ignoriert werden“ (Grosse 1971, 194). Daraus wird deutlich, dass die Kräfteverhältnisse innerhalb von Gesellschaften wesentlich mitbestimmen, welche Personengruppen ihren Interessen in der Öffentlichkeit Ausdruck verleihen können. Dies gilt auch für die Verhältnisse in Deutschland und kann dazu führen, dass einzelne Bevölkerungsgruppen innerhalb des gesamten sozialen Gefüges benachteiligt werden. Welches Verständnis von sozialer Benachteiligung der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, wird im Folgenden erläutert.

2 S OZIALE B ENACHTEILIGUNG Bei der Bearbeitung der Themenstellung wird von einem Benachteiligungsbegriff ausgegangen, der den vielfältigen Ausdrucksformen im Leben dieser Menschen gerecht werden möchte und die Wirkung von Stigmatisierung mit berück-

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 sichtigt. Der Lebenslagenansatz geht von solch einer multidimensionalen Erscheinung aus. Soziale Benachteiligung wird nicht an einen einzelnen Bedingungsfaktor wie Einkommen oder Bildung geknüpft (A 2.1). Ergänzend wird der Ansatz Intersektionalität herangezogen, um die wechselseitige Einflussnahme einzelner Dimensionen sozialer Benachteiligung sowie die gesellschaftliche Funktion sozialer Differenzierungsprozesse zu indizieren und zu analysieren (A 2.2). Auf die Bedeutung, welche diese Sichtweise für die vorliegende Arbeit aufweist, wird unter A 2.3 eingegangen. 2.1 Lebenslagenansatz Der Lebenslagenansatz stammt aus dem Bereich der Sozialberichterstattung und wird als Konzept zur mehrdimensionalen Analyse von Armut entwickelt. Es geht darum, zuverlässig einschätzen zu können, ob ein Mensch oder eine Gruppe von Armut betroffen und somit auf die Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen ist. Darüber hinaus erweist sich der Ansatz geeignet, unterschiedliche gesellschaftliche Zusammenhänge, die das Phänomen soziale Benachteiligung betreffen, zu klären. Mit dem Lebenslagenansatz wird „der Kontext der von den Menschen verfügbaren materiellen, sozialen und kulturellen Bewältigungsressourcen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen und in Rückbindung zu diesen beschrieben“ (Böhnisch und Schröer 2012, 99). Die direkte Anwendung des Lebenslagenansatzes zum Beispiel im Bereich der Sozialberichterstattung oder als Grundlage zur Aufstellung einer gesellschaftlichen Armutsgrenze erweist sich als nicht unproblematisch. Schwierigkeiten bestehen darin, Indikatoren für die Messung zu entwickeln, Schwellenwerte zu bestimmen (Voges, et al. 2003, 9) sowie die einzelnen Dimensionen in ihrem Einfluss auf die Lebenslage zu gewichten (ebd., 201). Beispielsweise liegen für die Einbindung in soziale Netze und in Kooperationsstrukturen mit Institutionen keine umfassenden statistischen Daten vor (ebd., 23). Aus pragmatischen Gründen wird daher oft eine Auswahl geeigneter Dimensionen getroffen. Beispielsweise berücksichtigen Voges und andere die Kategorien Einkommen, Erwerbsarbeit, Bildung, Wohnen und Gesundheit (ebd., 31). Darin werden Bezüge zu anderen Konzepten zur Analyse sozialer Ungleichheit erkennbar. In den 1970er Jahren gewinnt sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der DDR21 beispielsweise die

 21 Zur Sozialindikatorenforschung in der DDR ausführlicher: Berger, Horst (1990): Zur Konzeption der Sozialindikatorenforschung in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Lebenslagen. Sozialindikatorenforschung in beiden Teilen Deutschlands. Saarbrücken. Dadder. S. 89-107.

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 Sozialindikatorenforschung bedeutenden Einfluss und nimmt bewegungsartige Ausmaße an (Krupp und Zapf 1977, 232). Die Grundidee zur Sozialindikatorenforschung wird in den USA im Zusammenhang mit einem Projekt der NASA entwickelt, das 1962 die Auswirkungen der Raumfahrt auf die Gesellschaft erforscht. Dabei stellt sich heraus, dass zur Klärung dieser Frage weder geeignete Daten zur Auswertung vorliegen noch das entsprechende Forschungsdesign zur Erfassung gesellschaftlicher Zustände und Trends entwickelt ist. Daher wird das Augenmerk darauf gerichtet, gesellschaftliche Wandlungsprozesse detailliert und regelmäßig zu analysieren. Dieses Anliegen wird Ende der 60er Jahre international von zahlreichen Ländern und Organisationen aufgegriffen (ebd., 231f). Der Bedarf an konkreten und differenzierten Informationen zu den Lebensbedingungen der Menschen und das Anliegen, Lebensqualität zu messen, stellen die zentralen Zielstellungen der Sozialindikatorenforschung dar. Im Zuge der Weiterentwicklung des Ansatzes wird seit den 1980er Jahren eine Mischung aus subjektiven und objektiven Indikatoren der Wohlfahrtsmessung zusammengestellt. Damit wird berücksichtigt, dass Lebensqualität des Einzelnen sowohl von harten Fakten wie zum Beispiel der Größe des zur Verfügung stehenden Wohnraums als auch von der persönlichen Beurteilung der Lebenssituation abhängt (Noll 1990, 72f). Krupp und Zapf definieren Sozialindikatoren als „all jene Daten, die uns in irgendeiner Weise aufklären über Strukturen und Prozesse, Ziele und Leistungen, Werte und Meinungen“ innerhalb der Gesellschaft. Sie werden über längere Zeiträume erhoben (Krupp und Zapf 1977, 236). Eine Beispielkategorie ist die Partizipation eines Bürgers als wesentliche Komponente der Lebensqualität (ebd., 240). Die durch die Sozialindikatorenforschung gewonnenen Ergebnisse fließen in die Sozialberichterstattung ein und bieten vielfach Impulse für die sozialpolitische Entscheidungsfindung (ebd., 237).

 Priller, Eckard (1990): Sozialindikatorenforschung in der DDR. Retrospektive und Perspektive. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Lebenslagen. Sozialindikatorenforschung in beiden Teilen Deutschlands. Saarbrücken. Dadder. S. 109-123. Berger, Horst (1997): Sozialindikatorenforschung in der DDR. Wissenschaftstheoretische, forschungsorganisatorische und institutionelle Aspekte. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Abteilung „Sozialstruktur und Sozialberichterstattung“ im Forschungsschwerpunkt III. http://bibliothek.wzb.eu/pdf/1997/iii97-408.pdf zuletzt eingesehen am 02.07.2013.

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 Als weitere verbreitete Ansätze der Analyse sozialer Ungleichheit sind Lebensstile, Milieus sowie Klassen- und Schichtenmodelle zu nennen.22 Die Kombination mehrerer Modelle arbeitet Pierre Bourdieu in seiner Theorie des Sozialen Raumes heraus. Schwingel stellt die zentralen Aussagen dieser Theorie zusammen (Schwingel 2009). Für Schwingel stellt sich Bourdieus Theorie des Sozialen Raumes als Zusammenführung von Klassen- und Schichtungstheorie dar.23 Demnach sind Klassen zunächst ganz allgemein als Bestandteile eines Klassifikationssystems zu verstehen, ähnlich beispielsweise den biologischen Klassen, welche die Zoologen unterscheiden. Klassifikationen werden abhängig von der theoretischen Position bzw. vom Erkenntnisinteresse vorgenommen (ebd., 212). Schwingel bleibt bei der Erläuterung von Bourdieus Theorie bei einem Klassenbegriff, der auf Karl Marx zurückgeht, historisch gewachsen ist und in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ebenso wie in der politischen Praxis breite Anwendung findet. Demnach ist eine „soziale Klasse als politische Gruppe“ (ebd., 122) zu verstehen, die in ihrer Zusammensetzung als Träger bestimmter Interessen und mit spezifischem Handlungspotenzial ausgestattet wahrgenommen wird. Konkret werden drei Klassen unterschieden. Die erste Klasse, die herrschende Klasse, setzt sich aus den Inhabern des ökonomischen Kapitals (Wirtschaftsunternehmen) und den Repräsentanten des kulturellen Kapitals (Intellektuelle) zusammen. Innerhalb dieser Klasse gibt es bereits ein Machtgefälle, die „herrschenden Herrschenden“, also die Wirtschaftsunternehmen, stehen nach Bourdieu über den „beherrschten Herrschenden“ (ebd., 110). Die zweite Klasse bildet die Mittelklasse bzw. das Kleinbürgertum und die dritte Klasse die Volksklasse. Das Spezifische an Bourdieus Raum-Theorie ist, diese Klassentheorie mit der auf Max Weber zurückgehenden Schichtungstheorie in Verbindung zu bringen. Die Schichtungstheorie verleiht zusätzlich zu den rein ökonomischen Gesichtspunkten der Klassentheorie dem kulturellen Kapital und damit der Art und Weise, wie die Menschen ihr Leben führen, stärkeres Gewicht. Hier geht es auch um subjektive Kriterien wie individuelle Wertvorstellungen. (ebd., 105) Die Verortung im sozialen Raum, dem „Raum objektiver sozialer Positionen“, welche sich aus dem Zusammenwirken von Ausstattung mit ökonomischen und kulturellen Kapital ergibt, wird um die zur jeweiligen Position gehörende typische Lebensweise ergänzt. Diese beinhaltet beispielsweise den ästhetischen

 22 Einen Überblick dazu bietet Nicole Burzan: Burzan, Nicole (2007): Soziale Ungleichheit. Eine Einführung in die zentralen Theorien. 3. Auflage. Wiesbaden. Verlag für Sozialwissenschaften. 23 Demgegenüber versteht Nicole Burzan die Theorie des Sozialen Raumes als Kombination von Klassen und Lebensstilen: ebd. S. 127-139.

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 Geschmack, den Stil der Wohnungseinrichtung, bevorzugte Nahrung usw. Es entsteht der „Raum der Lebensstile“, den mannigfaltige Bezüge mit dem Raum objektiver sozialer Positionen verknüpfen (ebd., 113). So entwickelt Bourdieu ein komplexes Modell sozialer Ungleichheit und streicht die Funktion derselben, die Macht- und Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft zu stabilisieren, heraus (ebd., 119). Bei der Analyse des objektiven sozialen Raumes bleibt bei Bourdieu das soziale Kapital, also Umfang und Qualität gesellschaftlicher Beziehungen von Individuen, weitgehend außen vor (ebd., 107). Gerade aber die Einbindung in soziale Kontakte spielt eine große Rolle bei der Klärung der Frage, ob ein Mensch Zugang zu einem freiwilligen Engagement findet (vgl. Meusel 2013). Daher wird das Begriffsverständnis sozialer Benachteiligung in der vorliegenden Arbeit nicht vordergründig auf die Theorie des Sozialen Raumes akzentuiert. Demgegenüber wird der Lebenslagenansatz als in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit anerkannter Ansatz zum Verständnis sozialer Benachteiligung zugrunde gelegt. Ergänzend wird das Konzept Intersektionalität herangezogen (A 2.2). Mit den Grundzügen zum Lebenslagenansatz setzt sich Ortrud Leßmann sehr ausführlich auseinander (Leßmann 2009). Im Folgenden wird hauptsächlich auf ihre Arbeit zurückgegriffen, um das Konzept vorzustellen. Die Idee zum Lebenslagenansatz wird zuerst von Otto Neurath entwickelt (A 2.1.1). Seine Grundauffassung wird verschiedentlich weiterentwickelt. Als Hauptvertreter gilt Gerhard Weiser, dem es vorrangig um die Klärung verteilungspolitischer Fragen geht (A 2.1.2). 2.1.1 Historische Herleitung Nach Leßmann wird der Begriff Lebenslage von Otto Neurath24 in die Diskussion gebracht, der ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Friedrich Engels aufgreift. Bei Engels steht er allgemein für menschliche Lebensbedingungen (Leßmann 2009, 15). Neurath entwickelt im Zusammenhang damit eine differenzierte Theorie, um seine Vorstellungen von einem alternativen geldunabhängigen Wirtschaftssystem zu begründen. Als Grundlagen für die Lebensumstände eines Menschen stellt er unter anderem Nahrung, Kleidung, Wohnung, Bildungsmöglichkeiten, Gesundheit, Vergnügungen, Muße und Arbeitszeit zusammen, für die er insgesamt den Begriff Lebenslage setzt (ebd., 75). Im Original

 24 Otto Neurath (1882-1945) Ökonom, Vertreter der Kritischen Empirie, Mitglied des Wiener Kreises. Näheres zum Beispiel in: Wilsmann, Stefan (2004): Kritischer Empirismus: Die Soziologiekonzeptionen Theodor Geigers und Otto Neuraths im Kontext ihrer Zeit. Münster.

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 heißt es bei Neurath beispielsweise: „Lebenslage ist der Inbegriff all der Umstände, die verhältnismäßig unmittelbar die Verhaltensweisen eines Menschen, seinen Schmerz und seine Freude bedingen. Wohnung, Nahrung, Kleidung, Gesundheitspflege, Bücher, Theater, freundliche menschliche Umgebung, all das gehört zur Lebenslage, auch die Menge an Malariakeimen, die bedrohlich einwirken.“25 Auch die zeitliche und die örtliche Dimension spielen für ihn eine Rolle (ebd., 68). Neurath bringt also die Mehrdimensionalität ins Spiel, das heißt die Abhängigkeit der Einschätzung einer Lebenssituation von mehreren verschiedenen Faktoren, welche für das moderne Verständnis des Lebenslagenansatzes grundlegend ist. Um die durch die verschiedenen Merkmale charakterisierten Lebenslagen interpersonell vergleichen zu können, bedient sich Neurath eines Modells aus der Geografie, indem er Lebenslagenreliefs aufstellt. Damit wird es möglich, ähnliche Lebenslagen zu Typen von Lebenslagen zusammen zu fassen, welche schichtspezifische Aussagen zur Lebenslage ableiten lassen. Die Lebenslage kann somit als Instrument dienen, um die Individuen einer Gesellschaft unterschiedlichen Gruppen mit jeweils ähnlichen Grundbedingungen zuzuordnen (ebd., 70). Dennoch sieht Neurath die exakten Beurteilungsmöglichkeiten sehr kritisch (ebd., 72). Die Messbarkeit erweist sich als problematisch und die Gewichtung der einzelnen Merkmale ist stets von subjektiven Zuschreibungen abhängig. Schwierigkeiten sieht Neurath darüber hinaus darin, dass einzelne Reliefs bzw. Silhouetten nur bedingt miteinander in Bezug gesetzt werden können. Es kann lediglich abgeleitet werden, ob eine Lebenslage insgesamt gesehen oberhalb oder unterhalb einer anderen angesiedelt ist. Dies begründet sich darin, dass die einzelnen Dimensionen bzw. Merkmale mehr oder weniger unabhängig wie Landstriche in einer Landschaft nebeneinander gesehen werden. Nach Leßmann wäre eine multidimensionale räumliche Darstellung deshalb eher geeignet als die dreidimensionale geometrische, um den Lebenslagenansatz zu visualisieren (ebd., 72). Trotz dieser Schwächen beinhaltet die Sichtweise Neuraths zumindest ansatzweise wichtige Aspekte des modernen Lebenslagenansatzes. Seinerzeit findet sie allerdings kaum Beachtung, was möglicherweise auf Neuraths extreme Position in Bezug auf die Kritik an der Geldrechnung und das Anliegen, die Naturalwirtschaft einzuführen, zurückzuführen ist (ebd., 77f).

 25 Zitiert nach Leßmann (2009, 66); Quelle lt. Leßmann: Neurath, Otto (1931): Empirische Soziologie. In: Frank, Philipp; Schlick, Moritz (Hg.): Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung. Wien.

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 2.1.2 Entwicklung des Lebenslagenansatzes Einen Schwerpunkt der Auseinandersetzung Leßmanns mit dem Lebenslagenansatz stellen die Überlegungen Gerhard Weissers dar (ebd., 93–110). Im Folgenden werden die wesentlichen Grundzüge seiner Auffassung nachgezeichnet und um Beiträge weiterer Autoren zur Diskussion ergänzt. Weiser übernimmt den Begriff der Lebenslage von Neurath. Außerdem bezieht sich Weiser in seinen Ausführungen sehr stark auf Kurt Grelling26 und Leonard Nelson27. Weisser beschäftigt sich in seinen Schriften differenziert mit Fragen der Verteilungspolitik (Weisser 1978, 289–386). Ausgehend von der gesellschaftlichen Aufgabe, dem Einzelnen ein Dasein zu ermöglichen, welches seinem Lebenssinn entspricht, wendet er sich einem erweiterten Verteilungspostulat zu. Maßnahmen zur gesellschaftlichen Umverteilung sieht er dann als gerechtfertigt an, sobald Teile der Bevölkerung unter dem Existenzminimum leben. Um soziale Gerechtigkeit zu bewirken, ist mehr erforderlich als die Umverteilung des Einkommens zugunsten der Menschen, deren physische Existenz gefährdet ist. „Verteilt wird nicht nur Geldeinkommen. Es handelt sich um alle Umstände der Bedarfsdeckung, in die der Einzelne gestellt wird. Verteilt werden Lebenslagen“ (ebd., 360; Hervorhebung im Original). Damit verdeutlicht Weisser, dass zum Grundbedarf eines Menschen mehr gehört als die finanzielle Existenz-Absicherung. Die individuelle Lebenslage ist dadurch gekennzeichnet, welche Möglichkeiten der Bedarfsdeckung insgesamt gegeben sind. Diese Möglichkeiten sind abhängig von den gesellschaftlich geprägten Lebensumständen. Die Lebenslage ist für Weiser wesentlich von Faktoren bestimmt, die der Betroffene nicht aus eigener Kraft verändern kann. Durch sozialpolitische Maßnahmen kann die Lebenslage verbessert werden. Diese Maßnahmen betreffen beispielsweise die Steuerung der Ausgangsbedingungen der Menschen, da diese (zum Beispiel in Bezug auf Bildungschancen) in der Gesellschaft extrem ungerecht verteilt sind (ebd., 364). Die Bedeutung immaterieller Lebenslagewerte streicht Weisser insbesondere bei der Gruppe der „Dauerarbeitslosen“ dahingehend heraus, dass zirkulär der gesellschaftliche Bestand durch Defizite in diesem Bereich gefährdet wird (ebd., 364). Der Begriff der Lebenslage spielt also für Weisser eine wesentliche Rolle. Sie gilt für ihn als „der Spielraum, den die äußeren Umstände dem Menschen für die Erfüllung der Grundanliegen bieten, die ihn bei der Gestaltung seines Lebens

 26 Grelling, Kurt (1921): Zum Prinzip der Güterverteilung. Neunter Wissenschaftlicher Rundbrief. Archiv für Hessische Schulgeschichte. Nelson-Nachlass. Akte VIII, Nr. 203a, b. 27 Nelson, Leonard (1936): Die Theorie des wahren Interesses. Berlin.

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 leiten oder bei möglichst freier und tiefer Selbstbestimmung und zu konsequentem Verhalten hinreichender Willensstärke leiten würden“ (ebd., 275). Beispielhaft führt Weisser zur Beschreibung dieses Spielraums mehrere Interessen an: „neben der Arbeitsfreude auch Sicherheit der Lebenshaltung, Realisierung von Gemeinschaftswerten […] [und von] Schönheitswerten, vor allem aber das Selbstbewusstsein, das sich aus dem Gefühl, ein aktives Glied der Gesellschaft zu sein […] ergibt“ (ebd., 361). Obwohl die Grundbedürfnisse, auf deren Erfüllung ein Mensch seine Interessen richtet, zwischen den Individuen variieren, stellt Weiser 18 zentrale Grundanliegen zusammen. Diese hält er für ausschlaggebend, um die Lebenslage eines Menschen einzuschätzen. Dazu gehören beispielsweise das Interesse an der Deckung des Bedarfs an lebenswichtigen Gütern, das Interesse an ausreichender Vorsorge, die Interessen an Freiheit der Berufswahl und an aktiver Teilnahme am Wirtschaftsleben, das Interesse an gesellschaftlichem Ansehen sowie das Interesse an sozialem Aufstieg (Leßmann 2009, 113f). Verschiedene Autoren knüpfen an Weissers Lebenslagenansatz an. Ingeborg Nahnsen vertieft die theoretischen Aussagen und legt empirische Forschungsarbeiten (zum Beispiel Nahnsen 1975) dazu vor. Zentrale Erkenntnisse ihrer Arbeit werden von Leßmann zusammengestellt. Dabei wird das Zusammenwirken äußerer gesellschaftlicher Umstände mit den individuellen Gegebenheiten bei der Konstitution der Lebenslage betont. Außerdem widmet sich Nahnsen dem Grenzbereich zwischen unterstützungsbedürftiger und nicht bedürftiger Lebenslage (Existenzminimum bei Weisser). Dabei unterscheidet sie zwischen Lebenslagen oberhalb, auf und unter diesem Grenzniveau. Unklar bleibt für Leßmann, woran dieser Grenzbereich exakt erkennbar wird (Leßmann 2009, 105), Dennoch kann festgehalten werden, dass nunmehr die Definition einer Armutsgrenze ermöglicht wird (ebd., 111). Den Spielraum an Möglichkeiten, der für eine jeweilige Lebenslage steht, wird bei Nahnsen in mehrere Einzelspielräume unterteilt, die gegenseitige Auswirkungen aufeinander haben: 1. Einkommens- und Versorgungsspielraum, 2. Kontakt- und Kooperationsspielraum, 3. Lern- und Erfahrungsspielraum, 4. Regenerations- und Mußespielraum und 5. Dispositionsspielraum (Nahnsen 1975, 150). Wird beispielweise der Einkommens- und Versorgungspielraum langzeitarbeitsloser Jugendlicher ins Visier genommen, lassen sich unschwer die begrenzten Möglichkeiten im Lern- und Erfahrungsspielraum schlussfolgern. Bildung kostet Geld und wer über einen längeren Zeitraum nicht in das Erwerbsleben integriert ist, hält kaum das Interesse an persönlicher Weiterentwicklung aufrecht. Auch der Dispositionsspielraum, also die Möglichkeiten der Mitbestimmung, ist betroffen. So fällt der Bereich der beruflichen Tätigkeit als Feld,

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 eigene Vorstellungen und Ideen einzubringen und die Verhältnisse mitzugestalten, aus. Darüber hinaus weisen Böhnisch und Schröer (Böhnisch und Schröer 2012, 100) auf einen entscheidenden Erkenntnisgewinn durch Nahnsens Forschungsarbeiten hin, welcher in den dialektischen Zusammenhängen zwischen Lebenslage und wirtschaftlicher Entwicklung der Gesellschaft zu sehen ist. Wirtschaftliche Fortschritte in einer Gesellschaft, die beispielsweise durch Rationalisierung und Technisierung erreicht werden, wirken sich günstig auf das allgemeine Lebensniveau der Menschen aus. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen werden durch strukturelle Entscheidungen und sozialpolitische Maßnahmen verbessert. Die Lebenslage umfasst demnach die individuellen Möglichkeiten im materiellen, sozialen und kulturellen Bereich mit zirkulären Bezügen zur gesellschaftlichen Entwicklung (ebd., 99). Die individuellen Gestaltungsspielräume verändern sich in unterschiedlichem Ausmaß. Während die Lebenslagen derjenigen, die dem Bereich der Armutsgrenze zuzuordnen sind, nur geringfügig variieren, erweitern sich die Handlungsmöglichkeiten von Angehörigen besser ausgestatteter Bevölkerungsschichten umfangreich. Der Prozess der sukzessiven Verbesserung der Lebenslagen bei steigender wirtschaftlicher Produktivität einer Gesellschaft erweist sich jedoch nicht als grenzenlos. Beispielsweise sind die Wirtschaftsunternehmen im Zuge der Globalisierung nicht mehr an spezifische lokale Standorte gebunden. Demzufolge können einzelne Nationalstaaten weniger durch gesetzliche Vorgaben auf die Unternehmensgestaltung einwirken. Vor allem stehen weniger Steuereinnahmen zur Verfügung, um sozialpolitische Maßnahmen umzusetzen, was wiederum mit Auswirkungen auf die Entwicklung von Lebenslagen verbunden ist (vgl. ebd., 104). Den Einfluss der zeitlichen Dimension, die schon von Neurath einbezogen wird (vgl. A 2.1.1) analysieren vertiefend Voges u.a. (Voges, et al. 2003). Ihre Studie zeigt, dass sich Lebenslagen im biografischen Verlauf verändern können. Beispielsweise erhöht die Geburt eines Kindes das Risiko der Familienangehörigen im Haushalt, in eine Unterversorgungslage zu gelangen (ebd., 203). Außerdem sinkt mit zunehmendem Lebensalter die Chance, aus der Transferleistungsbedürftigkeit heraus wieder unabhängig zu werden (ebd., 143). Voges u.a. halten zusammenfassend den Kern des Lebenslagenansatzes in wesentlichen Punkten fest (vgl. ebd., 43): •

Die Lebenslage eines Menschen setzt sich aus mehreren verschiedenen Dimensionen zusammen, die sowohl materieller als auch nichtmaterieller Art sind.

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Der Höhe des Haushaltseinkommens kommt ein besonderes Gewicht zu, weil dadurch auch andere Dimensionen (zum Beispiel Gesundheit, soziales Netzwerk) gesteuert werden können. Der Lebenslagenansatz vereint sowohl die strukturellen Spielräume, auf die der Einzelne keinen Einfluss hat, als auch individuelle Handlungsspielräume, die sich aus den persönlichen Dispositionen ergeben.

Damit bietet der Lebenslagenansatz eine Grundlage für die Einschätzung der Lebenssituation von Menschen. Die Anwendung erlaubt Rückschlüsse darauf, inwieweit ein Mensch bzw. eine Gruppe von Menschen dem Risiko ausgesetzt ist, mit mangelhaften Umständen zurechtkommen zu müssen (vgl. ebd., 19). Es können die Veränderungen im biografischen Verlauf einbezogen und veränderte sozialstaatliche Umgestaltungsprozesse berücksichtigt werden. Außerdem setzt die Diskussion des Lebenslagenansatzes Impulse zur sozialpolitischen Gestaltung der Gesellschaft, um prekäre Lebenslagen durch Eingriffe in die strukturellen Bedingungen zu verbessern. 2.2 Intersektionalität Im Zusammenhang mit dem Lebenslagenansatz ist auf das Konzept Intersektionalität zu verweisen (vgl. Meusel 2013). Zentrale Aussage ist hier wie beim Konzept der Lebenslage, dass mehrere verschiedene Kategorien bei der Frage nach sozialer Benachteiligung eine Rolle spielen. Darüber hinaus werden die vielfältigen Wechselwirkungen der unterschiedlichen Kategorien sowie die Positionierung der Beteiligten und ihre Rolle bei der Reproduktion der Ungleichheitsverhältnisse untersucht (Lutz u.a. 2010, 17). Im Folgenden werden die historischen Wurzeln nach Degele und Winker nachgezeichnet (A 2.2.1) und die theoretischen Zusammenhänge erläutert (A 2.2.2). 2.2.1 Historische Begründung In ihrer Forschungsarbeit zur Analyse sozialer Ungleichheit beziehen sich Degele und Winker auf das Konzept Intersektionalität und erläutern einführend dessen relativ junge Geschichte (Degele und Winker 2009, 11–18). Demnach werden der Begriff und dessen Fassung als Erklärungsansatz für Benachteiligung aufgrund sozialer Differenzen in den 1970er Jahren aus dem angloamerikanischen Raum übernommen (vgl. Rommelspacher 2009). Hier sind es Unterschiede in der Hautfarbe, die zusätzlich zur Unterdrückung aufgrund des Geschlechts Benachteiligungen bewirken. Es überlagern sich also mehrere Ursachen für Ungleichbehandlung. Dadurch werden andere Formen der Diskriminierung

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 hervorgerufen.28 Daraus resultiert die Forderung, die Verwobenheit von Ungleichheitsdimensionen zu erforschen. Es schließt sich die Debatte an, inwiefern der bis dahin allgemein akzeptierte Dreiklang von Diskriminierung aufgrund von Klasse, Rasse oder Geschlecht als zentrale Kategorien der Überarbeitung bedarf. Die Diskussion in Europa bezieht Fragen nach der Erweiterung der Kategorien und nach Veränderungen in der Wahl der Begriffe ein. Hier sei beispielhaft die Überlegung und zunehmende Praxis angeführt, den Begriff Rasse durch den der Ethnizität zu ersetzen, womit die Verbindung ethnischer Herkunft und kultureller Traditionen ersichtlich wird. Außerdem wird damit signalisiert, dass die Existenz verschiedener Rassen nicht anerkannt wird. Währenddessen bildet im angloamerikanischen Raum die Verwobenheit der Kategorien den Diskussionsschwerpunkt. So kritisiert Crenshaw an der US-amerikanischen Gesellschaft und insbesondere am US-amerikanischen Rechtssystem, dass Diskriminierung aufgrund der Kategorie Rasse nur getrennt von Diskriminierung aufgrund der Kategorie Geschlecht wahrgenommen und anerkannt wird (Crenshaw 2010). Sie arbeitet heraus, dass sich die Erfahrungen farbiger Frauen in Bezug auf Diskriminierung sowohl von denen farbiger Männer als auch von denen weißer Frauen unterscheiden. Die vorherrschende ideologische und politische Denkweise bedingt das Zusammenwirken von Diskriminierung in beiden Kategorien und hat zur Folge, dass die Auswirkungen, welche für die davon betroffenen farbigen Frauen spürbar werden, für die Gesellschaft unsichtbar sind (Crenshaw 2010, 39). Damit ist nachgewiesen, dass es nicht lediglich um eine Addition bzw. Doppelung von Benachteiligung geht, sobald mehrere Kategorien zusammen spielen: „Frauen of Color werden nicht nur übersehen – ihre Exklusion wird noch verstärkt, wenn weiße Frauen auftreten und als Frauen sprechen“ (Crenshaw 2010, 43; Hervorhebung im Original). Grundlage für die zunehmende Verwendung des Begriffs Intersektionalität stellen sowohl seine vielfältige Anschlussfähigkeit vor allem für die Geschlechterforschung dar, als auch die breiten Anwendungsmöglichkeiten für die theoretische und empirische Klärung sozialer Ungleichheit insgesamt. In diesem Sinne definieren Degele und Winker Intersektionalität als Konzept, welches die „Wechselwirkungen zwischen Ungleichheitskategorien“ (Degele und Winker 2009, 14) analysiert. Besondere Bedeutung gewinnt das Konzept für die Geschlechterforschung, indem es „das zentrale und normative Problem in der femi-

 28 Degele und Winker nach: Carby, Hazel V. (1982): White women listen! Black feminism and the boundaries of sisterhood. In: The Centre for Contemporary Culture Studies (Hg): The Empire Strikes Black: Race and Racism in 70s Britain. London. Hutchinson. S. 212-235.

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 nistischen Wissenschaft – die Anerkennung von Differenzen zwischen Frauen“ thematisiert (Davis 2010, 58). Einige AutorInnen vertreten Ansätze, welche die Idee von Intersektionalität in abgewandelter Form repräsentieren. Beispielsweise vertritt Walgenbach das Konzept Interdependence. Dieser Begriff spiegelt deutlicher die wechselseitigen Abhängigkeiten der einzelnen Ungleichheitskategorien wider als der Terminus Intersektionalität, welcher im Englischen für Straßenkreuzung steht. Außerdem wird in ihrem Ansatz stärker berücksichtigt, dass die einzelnen Kategorien jeweils eine Bandbreite von Erscheinungsformen umfassen (Walgenbach 2010).29 Degele und Winker erläutern wesentliche Beiträge der theoretischen Diskussion und Defizite bisheriger Forschungsansätze als Begründung für ihre Arbeiten zum Intersektionalitätsansatz (Degele und Winker 2009, 18–24). Alternativ zum Dreiersystem der Kategorien wird beispielsweise die Erweiterung um die Kategorie Sexualität30 diskutiert. Dabei wäre aber weiterhin unberücksichtigt, dass auch Diskriminierung aufgrund von Behinderung oder Alter existiert. So lässt sich unschwer ein Katalog von 13 Linien der Differenz31 aufstellen, was wiederum Probleme mit sich bringt, sobald diese Vielzahl in empirischen Untersuchungen Einzug finden soll. Unzureichende Antworten liegen nach Degele und Winker auch dahingehend vor, inwieweit sich das Ausmaß an Diskriminierung verändert, sobald mehrere Kategorien vorliegen, ohne dass diese nur addiert werden. Ausgangspunkt der Überlegungen von Degele und Winker stellt die Analyse der Kategorie Geschlecht als zentrale Ungleichheitskategorie dar. Es wird kritisiert, dass bisherige Arbeiten kaum die prozesshaften Wechselwirkungen berücksichtigen, welche sich zwischen den einzelnen Differenzkategorien entfalten und zwischen den Ebenen, in denen Ungleichheit zum Ausdruck kommt inklusive der Art ihrer symbolischen Repräsentation. Als drei verschiedene Ebenen, auf denen sich Ungleichheit auswirkt, beziehen Degele und Winker in Anschluss an

 29 Differenziert dazu: Walgenbach, Katharina (2007): Gender als interdepende Kategorie. In: Walgenbach, Katharina; Dietze, Gabriele; Hornscheidt, Lann; Palm, Kerstin (Hg.): Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Opladen. Budrich. S. 23-64. 30 Zum Beispiel Verloo, Mieke (2006): Mulitiple Inequalities, Intersectionality and the European Union. European Journal of Women’s Studies 13. S. 211-228. 31 Lutz, Helma; Wenning, Norbert (Hg.) (2001): Unterschiedlich verschieden. Differenzen in der Erziehungswissenschaft. Opladen. Leske und Budrich. S. 20.

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 Harding32 „die gesellschaftlichen Sozialstrukturen inklusive Organisationen und Institutionen (Makro- und Mesoebene) sowie Prozesse der Identitätsbildung (Mikroebene) als auch kulturelle Symbole (Repräsentationsebene)“ (Degele und Winker 2009, 18) ein. Grundlegend für ihre Überlegungen ist dabei, dass gesellschaftliche Strukturen Benachteiligung im Handeln der Akteure immer wieder hervorbringen und damit die Voraussetzung für die langandauernde Aufrechterhaltung von Diskriminierung geschaffen ist. Diese wird mithilfe von Alltagswissen, ideellen Werten sowie von impliziten und expliziten Normen symbolisch repräsentiert und schlägt sich demzufolge in der subjektiven Identitätsbildung nieder. Nach Degele und Winker berücksichtigen die vorhergehenden Ansätze nie alle drei Ebenen. Beispielhaft hierfür sei das Konzept Doing Difference (Fenstermaker und West 2001) angeführt. Außerdem gelingt es bisherigen Konzepten nur unzureichend, Verbindungen zwischen den einzelnen Ebenen herzustellen. 2.2.2 Theoretische Zusammenhänge des Intersektionalitätsansatzes Als Prämisse wird von Degele und Winker in ihren Arbeiten zu Intersektionalität die übergreifende Bedeutung der Gesellschaftsformation Kapitalismus vorausgesetzt (Degele und Winker 2009, 25). Sie unterscheiden nicht grundlegend zwischen Diskriminierung im Bereich Produktion und im Bereich Reproduktion zum Beispiel von Frauen in der privaten Sphäre und im Beruf. Demgegenüber wird konstatiert, dass die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse, die nahezu weltweit gelten, alle Lebensbereiche durchdringen. Das Wirtschaftsprinzip des größtmöglichen Gewinns bei möglichst niedrigen Kosten bildet die strukturelle Grundlage für die Lebensbedingungen der Menschen. Dies beinhaltet das Bestreben, die Reproduktion der Arbeitskraft möglichst kostengünstig zu erreichen. Damit verbunden sind gesellschaftliche Diskriminierungsprozesse, die beispielsweise Frauen betreffen, indem sie unbezahlte Reproduktionsarbeit in der Kindererziehung oder in der Angehörigenpflege leisten. So konstruiert die Gesellschaft soziale Unterschiede, die meist durch ihre scheinbare Naturgegebenheit begründet werden und die durch die Lebenspraxis des einzelnen Menschen sowie durch die gesellschaftlichen Ideologien und Regeln aufrechterhalten werden. Degele und Winker gehen von insgesamt vier Differenzkategorien aus. Diese umfassen neben Klasse, Rasse und Geschlecht auch die Kategorie Körper

 32 Harding, Sandra (1991): Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht. 2. Auflage. Hamburg. Argument.

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 (Degele und Winker 2009, 49). Sie begründen dies u.a. mit dem Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft, in der die Inszenierung des Körpers und der Ausbau der körperlichen Funktionsfähigkeit zentrale Werte darstellen. So gilt zum Beispiel Gesundheit als Zustand, der durch eigene Anstrengung wesentlich zu erwirken ist. Die Optimierung der körperlichen Verfassung stellt die Voraussetzung der menschlichen Leistungsfähigkeit dar. In vielfältiger Weise sind Benachteiligungen relevant, die mit der körperlichen Konstitution verbunden sind. Höheres Alter ist zum Beispiel ein gravierender Nachteil bei der Konkurrenz um einen Arbeitsplatz, ebenso körperliche Behinderung. Damit wird die Positionierung im gesellschaftlichen Gefüge auch an körperliche Merkmale gebunden, „denn wenn sich Status und Prestige an Körpern ablesen lassen, dient auch dies der raschen und einfachen Sortierung des gesellschaftlichen Personals“ (Degele und Winker 2009, 50), was dem Prinzip der Profitmaximierung zugutekommt. Insgesamt bilden die vier miteinander verwobenen Differenzkategorien Geschlecht, Klasse, Rasse und Körper in ihrem jeweiligen Feld der möglichen Ausprägungen die Grundlage für die innergesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse. Davon abhängig erweist sich die individuelle Ressourcenzuteilung durch die gesellschaftlichen Instanzen, zum Beispiel Einkommen und Integration (Degele und Winker 2009, 53). In der Diskussion in Bezug auf Intersektionalität plädieren einige AutorInnen dafür, das Konzept sowie die damit in Zusammenhang stehenden Kategorien nicht nur bei der Analyse sozialer Ungleichheit anzuwenden. Yuval-Davis schlägt vor, das Konzept als theoretischen Bezugsrahmen für die Positionierung aller Gesellschaftsmitglieder zu wählen (Yuval-Davis 2010, 190). In ihrer Studie untersuchen Degele und Winker die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und die Verwobenheit von Ungleichheitskategorien in Produktions- und Reproduktionsprozessen. Ein erster Schritt in ihrem Forschungsprozess zu Intersektionalität stellt die rekonstruktive Auswertung von Interviews, Gruppendiskussionen und sonstigen Aufzeichnungen von sozialer Praxis dar. GesprächspartnerInnen sind Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Es werden die für die jeweilige InterviewpartnerIn gültigen Normen und Werte als symbolische Repräsentationen herausgearbeitet sowie deren Bezüge zu den drei Ebenen gesellschaftlicher Strukturen hergestellt. Damit ist es möglich, die Wechselwirkungen von Ungleichheitskategorien auf den drei Ebenen zu kennzeichnen. Abstrahierende Vergleiche der Ergebnisse aller Interviews bilden die Grundlage für die Zusammenfassung der wesentlichen Phänomene in Gruppen bzw. Typen. Damit kann die Frage geklärt werden, inwieweit die identifizierten Merkmale Gemeinsamkeiten aufweisen. Die weitere Analyse von Degele und Winker ist auf vertiefende Aussagen zu symbolischen Repräsentationen und auf die Erstellung eines

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 Überblicks zu den Wechselwirkungen insgesamt gerichtet (Degele und Winker 2009, 79). Dabei nehmen die Autorinnen vordergründig die geschlechtertheoretische Perspektive im Sinne der Gender und Queer Studies ein. Die Ergebnisse betreffen die Zusammenhänge von Diskriminierungsprozessen sowohl auf den drei Ebenen als auch die Verwobenheit der Kategorien untereinander. So arbeiten Degele und Winker heraus, dass gesellschaftliche Normen der Struktur- und Repräsentationsebene ihren Widerpart in den Identitätskonstruktionen der befragten Personen finden. Als Beispiel sei hier das Gespräch mit einer arbeitslosen Frau, die von Alkoholabhängigkeit betroffen ist, angeführt. Die Frau ist zweifache Mutter, deren Kinder in Pflegefamilien leben. Entsprechend der neoliberalen Forderung nach Eigenverantwortlichkeit des Menschen äußert sie ihr Bemühen, das Leben möglichst unabhängig zu bewältigen. Sie bekräftigt mehrfach ihren Wunsch nach Erwerbstätigkeit und ihre beruflichen Kompetenzen. Sie wehrt sich damit gegen die Stigmatisierung als Versagerin, welche in der Kategorie Körper aufgrund ihrer Alkoholabhängigkeit immer wieder an sie herangetragen wird. Es wird deutlich, dass die Norm der Eigenverantwortlichkeit und die Zuschreibung, begrenzt erwerbsfähig zu sein, die soziale Realität der Frau entscheidend prägen. Davon ausgehend wird generalisierend nachgewiesen, dass sich Ausgrenzung auf allen drei Ebenen manifestiert: in den Strukturen der Mikro- und Mesoebene, in der Identitätskonstruktion der Akteure sowie in den symbolischen Repräsentationen durch Normen und Denksysteme. Am gerade skizzierten Bespiel lässt sich auch die Verwobenheit der Ungleichheitskategorien erkennen. Die Frau erfährt massive Diskriminierungen durch das Vorgehen eines bürokratischen Jugendamtsmitarbeiters, der bei der Suche nach geeigneten Maßnahmen zur Sicherung des Kindeswohls nur seine Richtlinien abarbeitet und dabei nicht auf sie als Betroffene eingehen kann. Die Frau verinnerlicht die Zuschreibung als Mutter, die ihre Kinder nicht versorgen kann und der demzufolge die Kinder weggenommenen werden (Degele und Winker 2009, 104). Dadurch erlebt sie Diskriminierungen in der Kategorie Geschlecht insbesondere in Bezug auf das Thema Generativität, welche mit den herrschenden Klassen- und Körperverhältnissen eng zusammen hängen (Degele und Winker 2009, 20). Das Bild von der arbeitslosen, alkoholabhängigen Frau verunmöglicht von vorn herein die Schlussfolgerung, dem Kindeswohl entsprechend für die Kinder zu sorgen. Dementsprechend werden die Bedürfnisse der Frau nicht geklärt, ebenso wird nicht auf eventuelle Unterstützungssysteme regrediert. Die Studie von Degele und Winker verdeutlicht, dass soziale Ungleichheit bei den Betroffenen unterschiedlich stark ausgeprägt und in den vier Kategorien jeweils unterschiedlich gewichtet ist. Außerdem schlägt sie sich individuell im

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 Erleben und Gewichten durch die Akteure nieder. Als problematisch hinsichtlich der Einschätzung des Konzeptes Intersektionalität erweist sich demnach die Schwierigkeit, die Ausprägung der Merkmale von Ungleichheit, egal welcher Kategorie sie zuzuordnen sind, zu messen. Die Stärken des Konzeptes erweisen sich vor allem darin, Wechselwirkungen bzw. Verwobenheit der Kategorien untereinander zu rekonstruieren (vgl. Schlamelcher 2012, 93). Dieses Phänomen wird auch als Überlagerung (Kubisch 2012, 104) bezeichnet bzw. als Ineinandergreifen sozialer Strukturen (Lutz u.a. 2010, 9). Diese Wechselwirkungen lassen sich an mannigfaltigen Beispielen erklären, sind jedoch weder exakt messbar noch lassen sie sich von den Individuen gleichermaßen bewältigen (vgl. A 2.1). Die Bewältigung der Benachteiligungserfahrung geht, insbesondere in Bezug auf die Kategorie Geschlecht, häufig mit Dethematisierung einher (Degele und Winker 2009, 125). Die der Ungleichheitssituation zugrundeliegende Kategorie, zum Beispiel Geschlecht, wird von den Befragten beim Erzählen ihrer Erlebnisse ausgeklammert bzw. nicht angesprochen. Dies wird von Degele und Winker damit in Verbindung gebracht, dass Benachteiligungen laut Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz nicht zulässig sind (Degele und Winker 2009, 143). Insgesamt wird von Degele und Winker anhand der Auswertungen von 13 narrativen Interviews belegt, dass Klassen-, Rassen-, Geschlechter- und Körperverhältnisse vielfältig miteinander verwoben sind. Herrschaftsverhältnisse werden klar benannt und deren Hervorbringen in sozialen Praxen und symbolischen Repräsentationen rekonstruiert. Es wird deutlich, dass sich die in die Studie einbezogenen GesprächspartnerInnen, die ausnahmslos von Erwerbslosigkeit betroffen sind, in Bezug auf ihre Positionierung in soziale Klassen in großem Abstand zu den anderen Gesellschaftsmitgliedern sehen. „Sie stehen innerhalb der Lohnabhängigen nach den so genannten Normalbeschäftigten und den prekär Beschäftigten an der untersten Position“ (Degele und Winker 2009, 126). Diese Einordnung entspricht der Staffelung nach dem meritokratischen Prinzip.33 Menschen die den gültigen Leistungsanforderungen nicht entsprechen (können), erhalten einen stark eingeschränkten Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen und werden demnach massiv abgewertet (Winker und Degele 2009, 144). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass soziale Ungleichheit funktional ist. Sie ermöglicht den Individuen, sich innerhalb der Gesellschaft zu positionieren. Mit dieser Abgrenzung gegenüber anderen erhält der Einzelne die Möglichkeit, Sicherheit zu empfinden (Degele und Winker 2009, 160), was vor allem vor dem

 33 Young, Michael (1961): Es lebe die Ungleichheit. Auf dem Wege zur Meritokratie. Düsseldorf. Econ.

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 Hintergrund zunehmender Unsicherheit aufgrund von Globalisierungs- und Individualisierungsprozessen bedeutsam wird. Sozialer Ungleichheit kommt darüber hinaus eine gesellschaftliche Funktion zu, die weitaus schwerer wiegt: Soziale Differenzierung dient in erster Linie dazu, die Machtverhältnisse in der Gesellschaftsformation Kapitalismus aufrecht zu erhalten. In dem Zusammenhang ist auch das Prinzip der sozialen Unterstützung zu sehen. Dem Geber darf es nach dem Ausgleich von Verteilungsgütern, zu denen auch monetäre Mittel zählen, schlussendlich nicht schlechter als dem Adressaten gehen, der seine Unterstützung erhält (vgl. Grelling nach Leßmann 2009, 92). Die Bereitschaft zur Hilfe für Bedürftige geht nur so weit, dass mit der Hilfeleistung kein Absinken der eigenen Stellung unter die des Hilfeempfängers, und sei es auch nur symbolisch, zu erwarten sein darf. Gegenpol zur sozialen Unterstützung bilden somit die Ängste vor Unterlegenheit und Dominanzverlust, welche mit jeder Veränderung, insbesondere Verschlechterung, der Lebenslage verbunden sind. In diesem Sinne hat soziale Benachteiligung viele Gesichter, verändert sich, sobald mehrere Dimensionen von Ungleichheit zusammenspielen und ist im Kontext der gesellschaftlichen Bedingungen zu sehen. Welche Bedeutung diese Sichtweise für die vorliegende Arbeit aufweist, soll im Folgenden verdeutlicht werden. 2.3 Soziale Benachteiligung als Fokus In der Möglichkeit, soziale Benachteiligung weiter zu fassen als in der Abhängigkeit von geringen finanziellen Spielräumen, erweist sich die zentrale Bedeutung des Lebenslagenansatzes und des Intersektionalitätsansatzes für die vorliegende Arbeit. Zum Sample der Studie gehören ausschließlich Bewohner einer ostdeutschen Wohnblocksiedlung am Rand einer Stadt, die während der DDRZeit Teil einer Bergbauregion ist. Für das Leben im Stadtteil nach dem gesellschaftlichen Umbruch gewinnen sozialräumliche Segregations- und Stigmatisierungsprozesse in besonderem Maß an Bedeutung. Ist mit der Zuteilung einer sogenannten Neubauwohnung in der DDR das Erreichen eines relativ hohen Wohnstandards verbunden und zeugt das Leben im Plattenbaugebiet von einer gewissen gesellschaftlichen Privilegierung, so verändern sich diese Strukturen mit der Transformation in Ostdeutschland grundlegend. Schon 2005 konstatieren Bütow, Chassé und Maurer den Beginn eines Segregationsprozesses in ostdeutschen Wohnblocksiedlungen an den Peripherien der Städte (Bütow, Chassé und Maurer 2006, 238), der mittlerweile weit fortgeschritten ist und durch die Kombination mit den Folgen des demografischen Wandels und Abwanderungsbewe-

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 gungen verstärkt wird. Bewohner mit höherem sozialen Status und entsprechenden Einkommensverhältnissen verlassen das Quartier zugunsten von Wohneigentum bzw. der Anmietung von Wohnraum in einem angeseheneren Stadtteil. Außerdem zielt die Belegungsstrategie von Wohnungsgesellschaften häufig nicht auf die Durchmischung sozialer Schichten ab, was den Wegzug besser situierter Einwohner aus den Wohnblocksiedlungen weiter forciert. Zurück bleiben statusschwache BewohnerInnen und auch MigrantInnen, die als zugezogene Russlanddeutsche oft in diese Stadtteile einquartiert werden. Hierbei zeichnet sich ab, dass die Gebiete „verinseln“ (Keller 2005, 59), das heißt sich in einzelne Regionen aufspalten, die jeweils von bestimmten sozialen Milieus besiedelt sind, etwa den etablierten Älteren, den MigrantInnen oder dem Milieu Armut und Prekariat. Es gibt also innerhalb der Wohnblocksiedlungen beachtliche Unterschiede, was die Bewertung durch Bewohner und den Stellenwert im gesamtstädtischen Vergleich der Wohnregionen betrifft. Innerhalb der Gebiete entwickelt sich ein Kampf um Respektabilität, der mit Statusvergleichen und Abgrenzung der Bewohnergruppen untereinander verbunden ist (Keller 2005, 81). „Die randstädtischen Plattenbausiedlungen haben sich innerhalb kurzer Zeit von fordistisch integrierten zu intern segregierten Quartieren entwickelt, in denen nur noch eine Minderheit in reguläre, das Haushaltseinkommen sichernde Erwerbsverhältnisse integriert ist (Keller 2005, 200). Damit verbunden ist die Stigmatisierung der BewohnerInnen. BürgerInnen, die in einem solchen Wohngebiet bzw. in den entsprechend bekannten Straßen gemeldet sind, werden demgemäß diskriminierend behandelt. Besser situierte BürgerInnen meiden den Kontakt und institutionelle MitarbeiterInnen entwickeln subtile Muster der Benachteiligung. Keller beschreibt beispielsweise die Verzögerung notwendiger Sanierungsmaßnahmen oder Reparaturen durch die Wohnungsgesellschaften und benennt Nachteile am Arbeitsmarkt (Keller 2005, 191). Diese Form der Benachteiligung betrifft in unterschiedlichem Ausmaß auch die BewohnerInnen der Wohnblocksiedlung, aus dem die InterviewpartnerInnen für die vorliegende Arbeit ausgewählt werden. Für die Teilnahme an einem Interview kommen Personen infrage, auf die mindestens eine Dimension der Benachteiligung zutrifft. In den meisten Fällen ist es das Kriterium des Bezugs von Transferleistungen und damit der Bezug eines gerade existenzsichernden Einkommens, das die Lebenslage mit vergleichsweise geringen Spielräumen kennzeichnet. Aber auch die Benachteiligung aufgrund des Geschlechts bzw. der Generativität gibt in einem Fall den Ausschlag für die Aufnahme ins Sample. Frau Larsell, deren Lebensgefährte einer Montagetätigkeit nachgeht, erlebt die Benachteiligung am Arbeitsmarkt. Als Verkäuferin einer großen Lebensmittelmarktkette werden ihre monatlichen Arbeitsstunden nach der Geburt ihres zwei-

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 ten Kindes automatisch so weit reduziert, dass ihr Einkommen massiv absinkt. Dabei wird in keiner Weise berücksichtigt, dass die Betreuung der Kinder nach Inanspruchnahme der Elternzeit gewährleistet ist. In Bezug auf die Benachteiligung aufgrund des Geschlechts spielt auch der Transformationsprozess eine Rolle. Zusammen mit der Kategorie Körper, speziell dem Alter, werden massive Folgen für die Menschen spürbar. So zählen Frauen, insbesondere wenn sie zum Zeitpunkt des gesellschaftlichen Umbruchs ein gewisses Alter überschritten haben, zu den Verliererinnen der Wende (Bütow, Chassé und Maurer 2006, 220). Ihre Chancen auf berufliche Integration sind deutlich geringer als die anderer Personengruppen, zum Beispiel weil ihre Qualifikationen abgewertet werden. Dies trifft im Sample zum Beispiel auf Frau Rödling zu, die sich in der DDR von der Postfacharbeiterin durch ein Fachschulstudium weiter qualifiziert und anschließend in der Personalführung tätig ist. Nach dem sie nach dem gesellschaftlichen Umbruch familienbedingt ihre Arbeit aufgibt, hat sie keine Chance, in diesem Bereich beruflich wieder Fuß zu fassen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Großteil der InterviewpartnerInnen über geringe finanzielle Ressourcen verfügt. Bei einigen ist die Lebenslage darüber hinaus von Benachteiligung in weiteren Kategorien, zum Beispiel Geschlecht oder Körper gekennzeichnet. Einzelne Personen werden ins Sample trotz ausreichender sozioökonomischer Versorgung bei massiver Benachteiligung in einer oder mehreren anderen Kategorien aufgenommen.



Teil B Stand der Forschung

Zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen behandeln das Thema Freiwilligenengagement, es erhält in der öffentlichen Diskussion seit einigen Jahren eine hohe Bedeutung. Schon 1999 vergleichen Beher, Liebig und Rauschenbach 85 bundesdeutsche Studien, die sich dem Thema widmen (vgl. Beher; Liebig; Rauschenbach 1999). Inhaltliche Bezüge zwischen freiwilligem Engagement und sozialer Ungleichheit werden allerdings relativ selten hergestellt. Das Engagement von Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, wird nur vereinzelt Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen (Meusel 2013, 240). Nachfolgend werden einschlägige quantitative (B 1) und qualitative (B 2) Studien vorgestellt. Aus der Diskussion der wesentlichen Befunde (B 3) wird ersichtlich, welche Bereiche des freiwilligen Engagements bisher nur wenig erforscht sind. Offene Fragen ergeben sich vor allem in Bezug auf das Engagement sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen, woraus die Forschungsfrage der vorliegenden Studie abgeleitet wird.

1 Q UANTITATIVE S TUDIEN Die bisherigen statistischen Erhebungen und deren Auswertungen erfassen das Freiwilligenengagement in seinen unterschiedlichen Facetten zahlenmäßig und leiten entsprechende Zusammenhänge und Schlussfolgerungen ab. In der Auswahl der im Stand der Forschung berücksichtigten Arbeiten sollen insbesondere die aktuelleren Studien in den Blick genommen werden, deren Gültigkeit sich auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt. Es werden Ergebnisse des Freiwilligensurvey 2009 (Gensicke und Geiss 2010) und des Generali Zukunftsfonds Engagementatlas (Engagementatlas 09) dargestellt. Zunächst wird auf das grundlegende Begriffsverständnis von Engagement in den beiden Studien eingegangen

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 (B 1.1). Dann werden wichtige statistische Befunde zusammengetragen (B 1.2). Die Ergebnisse zu den Motiven und Beweggründen für freiwilliges Engagement werden unter B 1.3 aufgeführt. Weiterhin wird auf das freiwillige Engagement einzelner Bevölkerungsgruppen eingegangen (B 1.4). 1.1 Begriffsverständnis Der Freiwilligensurvey ist eine vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend veranlasste repräsentative Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement. Sie wird seit 1999 im Vier-Jahresrhythmus in Auftrag gegeben. Datengrundlage sind quantitative Interviews, im Jahr 2009 werden etwa 20.000 Menschen befragt. Bei den Fragestellungen im Freiwilligensurvey wird darauf geachtet, Angaben zu den tatsächlich ausgeübten freiwilligen Tätigkeiten zu erhalten (Gensicke und Geiss 2010, 58). Die Bezeichnung der Aktivitäten wird im Fragebogen relativ offen gehalten, also nicht auf einen bestimmten Begriff (zum Beispiel Ehrenamt) festgelegt (Gensicke und Geiss 2010, Anhang Frage A1). Damit wird darauf abgezielt, ein möglichst breites Spektrum an Tätigkeiten zu erfassen und nicht durch eine spezifische Begriffsverwendung Ausschließungen zu produzieren. Es werden 14 verschiedene Bereiche vorgeschlagen, zu denen die Befragten ihre Aktivitäten ordnen sollen, zum Beispiel sozialer Bereich, Bereich Schule oder Kindergarten, Bereich sonstiger bürgerschaftlicher Aktivität am Wohnort wie Bürgerinitiativen oder Arbeitskreise. Damit wird der Fokus der Befragten nicht auf bestimmte Tätigkeiten eingeschränkt. Der Generali Engagementatlas 09 wird von einem Schweizer Forschungsinstitut, der Prognos AG, erarbeitet. Er beinhaltet überwiegend Ergebnisse zur zahlenmäßigen Erfassung von Engagement und unterscheidet dabei verschiedene Regionen und Gruppen. Eine Besonderheit des Engagement-Atlas liegt darin, Zukunftstrends in Bezug auf die Engagemententwicklung zu analysieren. Im Generali Engagementatlas werden die „freiwillig übernommenen Aufgaben und Arbeiten, die man unbezahlt oder gegen geringe Aufwandsentschädigung ausübt“ (Netzwerk Gemeinsinn 2008) von 44.000 Teilnehmern einer telefonischen Befragung erfasst. 1.2 Statistische Befunde Ein wesentliches Ergebnis des Freiwilligensurveys ist die Engagement-Quote, also der Prozentsatz der Menschen in Deutschland, die sich freiwillig engagieren. Für Gesamtdeutschland wird im Jahr 2009 eine Quote von 36% ermittelt.

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 Der Generali Engagementatlas 09 kommt für Deutschland zu einer Engagementquote von 34,3% (Engagementatlas 09 2009, 9). Es wird weiter differenziert: Deutschland West 37%, Deutschland Süd 38%, Deutschland Ost 31% und Stadtstaaten 29% (Freiwilligensurvey). Laut Engagementatlas 09 engagieren sich im Jahr 2008 in Ostdeutschland 26,5% und in Westdeutschland 36,3% der Menschen (Engagementatlas 09 2009, 17). Im Engagementatlas 09 wird der volkswirtschaftliche Nutzen des freiwilligen Engagements beziffert. So kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass pro Jahr 4,6 Mrd. Stunden freiwilliges Engagement in Deutschland geleistet werden. Dies sind 7,5% der Gesamtarbeitsstunden. Bei einem Stundenlohn von 7,50 € wäre das ein Beitrag von 34,5 Mrd. Euro (ebd., 13). Bei der Untersuchung einzelner Personengruppen zeigt der Generali Engagementatlas, dass sich die Engagementquote mit steigenden Einkommen fast linear erhöht. Menschen, deren Einkommen monatlich über 4.000 Euro beträgt, engagieren sich zu 50%, während Menschen, die ein geringes Monatseinkommen bzw. Transferleistungen beziehen (unter 1.000 Euro), lediglich zu 24% freiwillig tätig sind (ebd., 9). Der gleiche Zusammenhang zeigt sich auch zwischen Bildungsgrad und Engagement. Hier reicht die Engagementquote von 11,8% bei Menschen ohne Schulabschluss über 26,8% (Volks-/ Hauptschulabschluss) und weitere Bildungsabschlüsse bis hin zu Menschen, die ein Studium absolviert haben und sich zu 45,5% engagieren (ebd., 10). 1.3 Beweggründe für freiwilliges Engagement Bei der Frage nach den Motiven für die Tätigkeiten werden im Freiwilligensurvey verschiedene Antwortmöglichkeiten vorgegeben. Sie reichen von dem Bestreben, die Gesellschaft zumindest im Kleinen mitgestalten zu wollen über das Bedürfnis, Kontakte zu anderen zu bekommen, den Wunsch nach Qualifikationserwerb und das Erhalten von Einfluss bzw. Anerkennung bis hin zur Absicht, durch das Engagement beruflich voran zu kommen. Ausschlaggebend für das Engagement ist im Ergebnis des Freiwilligensurveys 2009 vor allem der Wunsch, die Gesellschaft mitzugestalten. 61% der Befragten stimmen dem voll und ganz zu. Gefolgt wird dieses Anliegen vom Wunsch, mit anderen Menschen zusammen zu kommen, der für 60% eine große Rolle spielt. 27% der Befragten wollen Qualifikationen erwerben, 12% streben nach Einfluss und Anerkennung und lediglich 10% nutzen ihre freiwillige Tätigkeit, um beruflich voran zu kommen (Gensicke und Geiss 2010, 12). Insgesamt gesehen hat die Bedeutung selbstbezogener Intentionen gegenüber Aspekten der Pflichterfüllung zugenommen (ebd., 16).

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 Ähnliche Auswahlmöglichkeiten für Antworten bietet der Generali Engagementatlas 09 an. Die höchste Bedeutung bei den Gründen, die für die Ausübung des Engagements angegeben werden, hat der Wunsch, die Gesellschaft im Kleinen mitzugestalten (29,6%) gefolgt von der Absicht, andere Menschen zu treffen (25,9%). Als weitere Gründe werden das Engagement als wichtige gesellschaftliche Aufgabe mit 23,7% und Interessenvertretung sowie Problemlösung mit 17,8% beziffert (Engagementatlas 09 2009, 13). 1.4 Das freiwillige Engagement einzelner Bevölkerungsgruppen Im Freiwilligensurvey wird untersucht, wie sich das Engagement ausgewählter Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel von Familien, darstellt. Als zentrales Ergebnis diesbezüglich wird festgehalten, dass Familien mit Kindern eine besonders hohe Engagementquote aufweisen (Gensicke und Geiss 2010, 17). Dies wird mit den vielfältigen institutionellen Anknüpfungspunkten für Engagement zum Beispiel in Schule und Kita in Zusammenhang gebracht. Ausgenommen davon werden Alleinerziehende, deren Lebenssituation weniger Spielraum für Engagement bietet. Unterschiede im Ausmaß des Engagements werden auch in Bezug auf die Geschlechterzugehörigkeit ermittelt. Von den Männern engagieren sich 40%, während der Anteil engagierter Frauen bei 32% liegt (ebd., 19). Eine weitere untersuchte Gruppe stellen Menschen dar, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind. Die Studie ergibt, dass sich 32% der ALG1Empfänger engagieren, während 22% der Hartz IV-Empfänger freiwillig tätig sind. Sind arbeitslose Menschen engagiert, leisten sie mit durchschnittlich 22 Stunden pro Monat einen relativ hohen zeitlichen Einsatz, während der Gesamtdurchschnitt bei 18 Stunden im Monat liegt (ebd., 32). Zusammenfassend wird im Freiwilligensurvey zur sozialen Situation der Engagierten festgehalten: „Arbeitslose, Menschen mit einfachem Sozial- und Bildungsstatus und solche mit einem Migrationshintergrund üben deutlich weniger als im Durchschnitt der Bevölkerung freiwillige Tätigkeiten aus“ (ebd., 5f). 1.5 Zukunftstrends im Freiwilligenengagement Die Besonderheit der Prognos AG liegt in der zukunftsbezogenen Analyse markt- und gesellschaftspolitischer Themen (Prognos AG 2013). Der Abschätzung von Trends und Erwartungen wird demgemäß auch im Engagementatlas 09 zentrale Bedeutung beigemessen. Etwa ein Drittel der Publikation (ohne Anhang) wird Themen wie „Konsequenzen der demografischen Entwicklung“ und „Welchen Trends unterliegt das bürgerschaftliche Engagement?“ gewidmet. Als

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 wesentliche gesellschaftliche Entwicklungen werden beispielsweise die zunehmend eingeschränkten finanziellen Handlungsspielräume der Kommunen, die Zunahme der Altersgruppe der über 60-Jährigen und die Zunahme selbstorganisierter und individualisierter Lebensformen genannt (Engagementatlas 09 2009, 30). Aus der Zusammenschau der zehn wichtigsten Zukunftstrends werden Schlussfolgerungen für das bürgerschaftliche Engagement abgeleitet. Hier ist vor allem die steigende Nachfrage nach Engagement in einzelnen Bereichen zu sehen, zum Beispiel im Bereich Soziales, Gesundheit und Pflege. In Zusammenhang mit diesem steigendem Bedarf wird die in der Umfrage erhobene potenzielle Engagementbereitschaft angeführt, die bei den nicht Engagierten mit 36,8% beziffert wird. Dieser Anteil kann sich „vorstellen, sich bestimmt oder vielleicht zu engagieren“ (ebd., 35). Gleichzeitig stellt die Studie heraus, dass ein höherer Bedarf an Engagement nicht automatisch zu mehr freiwilligem Einsatz führt (ebd., 24). Als Voraussetzung dafür, dass vorhandene Engagement-Potenziale zukünftig genutzt werden können, wird neben der Erarbeitung regionaler Strategien und der Sensibilisierung der Bürgerinnen und Bürger für Engagement vor allem die gezielte Förderung im Sinne von aktiver Unterstützung der Infrastruktur des bürgerschaftlichen Engagements empfohlen.

2 Q UALITATIVE S TUDIEN Verschiedene AutorInnen nähern sich dem freiwilligen Engagement mithilfe der qualitativen Sozialforschung. Die Wahl der Methoden und die Schwerpunkte der Analyse sind unterschiedlich. Im Folgenden werden einzelne Studien, an welche die vorliegende Arbeit inhaltlich anschließt, mit ihren zentralen Ergebnissen vorgestellt. Dabei werden die Bezüge zum Thema soziale Benachteiligung berücksichtigt. Daran anschließend werden die zentralen Ergebnisse der bisherigen Forschungsarbeiten in Bezug auf das Thema „Freiwilliges Engagement und soziale Benachteiligung“ diskutiert. Aus den Forschungslücken wird die Fragestellung für die vorliegende Arbeit geschlussfolgert. Einen bedeutenden Beitrag, um die Zusammenhänge der Engagemententstehung im biografischen Verlauf zu erforschen, leistet Jakob (1993) mit der Studie „Zwischen Dienst und Selbstbezug“ (B 2.1). Anhand biografisch-narrativer Interviews stellt sie Engagement-Typen auf, die jeweils für eine bestimmte biografische Sinnkonstruktion der Herausbildung von Engagement im Lebensverlauf stehen. Die Typologie wird von Jakob in einer späteren Veröffentlichung

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 weiterentwickelt (Jakob 2003). Auch Corsten u.a. (2010) wählen qualitative Methoden, um sich mit der Thematik „Quellen bürgerschaftlichen Engagements“ auseinanderzusetzen (B 2.2). Beide Studien gehen allerdings nicht explizit auf die Besonderheiten sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen ein. Auf diesen Blickwinkel konzentriert sich Munsch, die in ihrer ethnografischen Studie das Engagement sozial benachteiligter Bewohner einer ostdeutschen Wohnblocksiedlung untersucht (Munsch 2005) und Gründe für das geringere Ausmaß an freiwilligem Engagement bei dieser Personengruppe herausstellt (B 2.3). Die Gruppe sozial benachteiligter Freiwilliger hat ebenfalls Dischler im Blick (Dischler 2010). Zum Sample der Studie gehören speziell Personen mit Psychiatrie-Erfahrungen. Es wird die Bedeutung freiwilliger Tätigkeit vor deren lebensgeschichtlichem Hintergrund untersucht. Dabei wird geprüft, inwiefern freiwilliges Engagement als sinnstiftende Alternative zur Erwerbsarbeit für Menschen mit Psychiatrie-Erfahrungen fungieren kann (B 2.4). Auch Klatt und Walter befragen in ihrer Studie Personen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind (Klatt und Walter 2011; Klatt 2011). Die Autoren analysieren die Einstellungen und Aktivitäten der Bewohner von Problemstadtteilen in Bezug auf die Bürgergesellschaft. Dabei werden Besonderheiten des Engagements sozial benachteiligter Bewohner herausgearbeitet und Schlussfolgerungen für die Förderung der Bürgergesellschaft abgeleitet (B 2.5). Dem Thema Bürgergesellschaft nähert sich ebenfalls Schulz mit dem Ziel, die Chancen bürgerschaftlichen Engagements als Brückenfunktion zum Arbeitsmarkt auszuloten (Schulz 2010). Dabei werden hauptsächlich Experteninterviews analysiert, um Merkmale gelungener Integration in den ersten Arbeitsmarkt zusammenzustellen. Außerdem wird ein Gruppeninterview mit arbeitslosen TeilnehmerInnen einer Maßnahme durchgeführt, dessen Auswertung Zusammenhänge zwischen Engagement und Erwerbsarbeit aufzeigt (B 2.6). 2.1 Gisela Jakob: Biografische Strukturen ehrenamtlichen Engagements Im Spannungsfeld zwischen klassischem Ehrenamt und neuen Formen freiwilligen Engagements verortet Jakob die Forschungsfragen nach kulturellen Traditionen und Verlaufsformen ehrenamtlicher Tätigkeit sowie nach biografischen Sinnorientierungen der Ehrenamtlichen. Jakob analysiert die individuelle biografische Begründung beim Zugang zu einem Ehrenamt. Damit verbunden sind die Frage nach den Sinnzuschreibungen und die Bedeutung von Wendepunkten bzw. krisenhaften Ereignissen für die Aufnahme eines Engagements. Außerdem werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in die Analyse einbezogen und

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 Zusammenhänge zu besonderen historischen Ereignissen untersucht (Jakob 1993, 35ff). Jakob geht davon aus, dass ehrenamtliche Tätigkeit selbstbezogene Anteile auf komplexe Art und Weise mit Aspekten des Helfens verknüpft (ebd., 24). Jakob entwickelt in zwei Stufen eine Typologie, in der die Herausbildung ehrenamtlichen Engagements im biografischen Verlauf systematisiert wird. Das Ordnungssystem, welches weitere Untersuchungen34 berücksichtigt, umfasst sechs Typen (Jakob 2003). Es wird deutlich, dass sowohl selbstbezogene als auch helfende Anteile als Merkmale bei jedem der Engagementtypen anzutreffen sind. Außerdem stellt Jakob zwei unterschiedliche grundlegende Muster heraus (Jakob 1993, 226–260). Bei den Angehörigen der einen Gruppe beschreibt Jakob die überwiegende Fremdbestimmtheit der eigenen Biografie als wesentliches Kennzeichen. Ehrenamtliche dieser Gruppe orientieren sich an den handlungsleitenden Anforderungen Signifikanter Anderer und ordnen ihre Tätigkeit sinnhaft dem Dienst und der Pflichterfüllung unter. Die zweite Gruppe umfasst Personen, deren ehrenamtliche Tätigkeit überwiegend auf eigene biografische Entwürfe mit selbstbezogener Sinnorientierung zurückgeht. Biografische Brüche und Diskontinuitäten sowie der temporäre Rückzug von verpflichtenden Anforderungen sind aus den biografischen Erzählungen dieser Engagierten ersichtlich. In diesem Sinne beobachtet Jakob im Anschluss an Hahn35 „Biografisierungstendenzen“ (ebd., 272), das heißt die verstärkte Eigenverantwortung in Bezug auf die Gestaltung individueller biografischer Abläufe. Ehrenamtliche Tätigkeiten dienen den Akteuren dazu, die mit den im jeweiligen Lebensabschnitt relevanten Themen zu bearbeiten. Die Auseinandersetzung mit der Thematik „Geschlechterrolle und Ehrenamt“ ergibt, dass sich gesellschaftliche Veränderungen auch im Bereich Freiwilligenengagement widerspiegeln. So werden bisher männlich dominierte Aufga-

 34 Glinka, Jürgen; Jakob, Gisela; Olk, Thomas (1994): Kurzfassung der Ergebnisse der Studie Ehrenamt und Caritas. Eine biografieanalytische Untersuchung ehrenamtlichen Engagements innerhalb des deutschen Caritasverbandes. Halle. Jakob, Gisela; Olk, Thomas, Opielka, Michael (1994): Engagement durch Bildung – Bildung durch Engagement. Materialien zum Projekt „Aktiver Vorruhestand“. Abschlussbericht. (Hg.) von Nacke, B. im Auftrag der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung. Bonn. 35 Hahn, Alois (1987): Identität und Selbstthematisierung. In: Hahn, Alois; Krapp, Volker, (Hg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt/Main. S.9-24.

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 benfelder (zum Beispiel Spitzenpositionen im kommunalpolitischen Raum) mittlerweile auch von weiblichen Freiwilligen besetzt. Dies gelingt, indem Frauen Verhaltensweisen und Tätigkeiten in ihre Handlungspraxen integrieren, die traditionell ausschließlich Männern zugeschrieben sind. Dabei führen diese Frauen weiterhin auch Aufgaben aus dem Bereich Fürsorge und Reproduktion aus, die den traditionellen Erwartungen an weibliche Geschlechterrollen eher entsprechen (ebd., 255). 2.2 Michael Corsten, Michael Kauppert und Hartmut Rosa: Quellen Bürgerschaftlichen Engagements Die biografischen Bezüge, die zu bürgerschaftlichem Engagement (BE) führen, berücksichtigen Corsten, Kauppert und Rosa in ihrer qualitativen Studie „Quellen bürgerschaftlichen Engagements“ (2008). Unter Quellen werden dabei die „elementaren Selbstdefinitionen von Menschen“ (Corsten, Kauppert und Rosa 2008, 9) verstanden: die subjektive Sichtweise der Engagierten, ihre Wertvorstellungen und ihre Überzeugungen. In der Forschungsarbeit werden die konkrete Handlungspraxis und die Sinnstrukturen, die zur Konstitution bürgerschaftlichen Engagements in der Lebensspanne beitragen, analysiert. Dazu gehören die individuellen Erfahrungen, die Erwartungen des gesellschaftlichen Umfeldes sowie die Einbettung in den historischen Kontext. Im Ergebnis stehen „fokussierte Motive“ (ebd., 36), also die für die Befragten bestimmenden Antriebsmomente, welche die jeweilige Lebenspraxis hervorbringen. Zu dieser Lebenspraxis gehört entsprechend das bürgerschaftliche Engagement in einem spezifischen Feld, zum Beispiel in der freiwilligen Jugendarbeit oder in der Soziokultur. Untrennbar mit den Antriebsmomenten ist bei den Engagierten ein „Wir-Sinn“ verbunden. Dieser bezeichnet die Absicht eines Akteurs, „für einen bestimmten sozialen Zusammenhang etwas beizusteuern“ (ebd., 33). Diese Absicht muss nicht notwendigerweise gesellschaftspolitisch reflektiert sein. Sie unterscheidet sich also vom Gemeinsinn, dessen Bedeutung zum Beispiel Münkler und Bluhm36 herleiten. Auf der Grundlage von biografischen Erzählungen und dazu erstellten Einzelfallrekonstruktionen erarbeiten die Autoren für die einzelnen Engagementbereiche zugehörige Typen und führen einen Feldvergleich durch. Es werden fünf verschiedene Felder differenziert, in denen das Engagement ausgeübt wird: freiwillige Jugendarbeit, globale Solidarität, traditionelle Kulturpflege, Soziokultur und Schöffentätigkeit. Jedem Feld werden spezifische Typen

 36 Münkler, Herfried; Bluhm, Harald (2001): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe. Berlin. Akademie.

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 zugeordnet und ggf. werden feldtranszendente Typen und hybride Typen erläutert. Im Feldvergleich entwickeln die Autoren ein Modell, das die Kompatibilität der BE-Typen mit ihrem jeweiligen Handlungsfeld begründet. Das Modell wird in einem Schaubild visualisiert. Damit soll geklärt werden, wie die identifizierten Formen des Wir-Sinns und der fokussierten Motive zur jeweiligen Strukturlogik des Einsatzfeldes passen (ebd., 214–223). Für das Feld der Jugendhilfe wird in diesem Sinne konstatiert, dass die institutionelle Feldlogik darin besteht, die Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen zu unterstützen. Freiwillige engagieren sich mit einer Grundhaltung gegenüber den Adressaten, die deren unbedingte Wertschätzung beinhaltet und deren Selbstentfaltung fördert. Für die Engagierten bedeutet ihre Tätigkeit, dass sie eben diese Anerkennung als Person genauso erhalten und dabei Werte vermitteln können. Das Feld der Jugendhilfe erweist sich als durchlässig. Es besteht sowohl die Möglichkeit, das Engagement wieder zu beenden als auch die Chance, diese Tätigkeit in eine berufliche Form umzuwandeln. Außerdem kann es vorkommen, dass sich die unterschiedlichen Typen des Feldes in der Person eines Engagierten abwechseln. Die traditionelle Kulturpflege ist von der besonderen Bedeutung des Zeithorizontes gekennzeichnet. Diese wird in der biografischen Konstellation der Engagierten deutlich. Fast alle Beispielfälle weisen ungewöhnlich große innerfamiliäre Altersabstände auf. Aber auch das fokussierte Motiv, einen bestimmten Lebenszusammenhang zu bewahren, beinhaltet einen deutlichen Zeit-Bezug. Im Gegensatz zur Arbeit mit Jugendlichen, die ihre Lebenszeit noch vor sich haben, wird hier danach gestrebt, Vergangenes festzuhalten bzw. wiederzufinden. Der Bereich Soziokultur wird im Feldvergleich zwischen traditioneller Kulturpflege und Jugendarbeit angesiedelt (ebd., 218). Spezifisch für das Engagement in diesem Feld ist, dass die Anliegen der Akteure mit künstlerischen Mitteln zum Ausdruck gebracht werden. Die Engagierten haben den Anspruch, innerhalb der Institution Abläufe transparent zu organisieren und Soziabilität wiederherzustellen (ebd., 218). Für das Feld der Globalen Solidarität wird festgehalten, dass überwiegend feldübergreifende Typen anzutreffen sind. Dies wird auf Ähnlichkeiten zu den Engagementmustern anderer Felder zurückgeführt. Zum Beispiel sind Parallelen im Bestreben, Fremdes zu erkunden (Globale Solidarität) sowie zum Feld der Jugendarbeit und dem dort anzutreffenden Motiv, Autonomie zu erproben, sichtbar. Für das Feld der Schöffen ist charakteristisch, dass die dort anzutreffenden Engagementmuster sich überwiegend nicht nur auf dieses Feld beziehen. Es sind auch Bezüge zu anderen Feldern, zum Beispiel zur Jugendhilfe, deutlich. Dennoch steht der Wir-Sinn des „Durchsetzens“ (ebd., 218), der für die als Schöffen

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 Tätigen überwiegend kennzeichnend ist, im Wesentlichen allein für diesen Bereich. Im Hinblick auf die Debatte der Zivilgesellschaft wird durch die Autoren ein Widerspruch aufgedeckt, in dem sich das bürgerschaftliche Engagement befindet: Es soll sozialstaatliche Aufgaben übernehmen, die im Rahmen des Wohlfahrtsstaates nicht mehr finanzierbar sind. Diese Ersatzfunktion passt nicht zur ehrenwerten Rolle, die auf zahlreichen feierlichen Veranstaltungen hervorgehoben wird, indem Medaillen und Ehrennadeln für vorbildliches Bürgerengagement verliehen werden. Demgegenüber wird im Schlusssatz festgehalten, dass ein Freiwilliger sich „zunächst aus der elementaren Sorge um sich [engagiert], um es sich hernach gefallen zu lassen, wenn über ihn gesagt wird, er sei ein vorbildlicher Bürger“ (ebd.008, 231). 2.3 Chantal Munsch: Die Effektivitätsfalle In der Studie „Die Effektivitätsfalle“ wird mit der Methode der Sozialpädagogischen Ethnografie die Arbeit eines Stadtteilgremiums in einer ostdeutschen Wohnblocksiedlung analysiert. Vertreter der dort ansässigen Institutionen bzw. Firmen und teilnehmende BewohnerInnen bereiten unter anderem Stadtteilfeste vor (Munsch 2005; Meusel 2013). In der Gremiumsarbeit ermuntern die moderierenden StadtteilmanagerInnen arbeitslose BewohnerInnen des Wohngebietes ausdrücklich dazu, die Stadtteilarbeit mitzugestalten. Damit zielen sie entsprechend ihrer konzeptionellen Überlegungen auf „symmetrisches Engagement“ (Munsch 2005, 38), also auf die Zusammenarbeit aller Bevölkerungsschichten. Dennoch beteiligen sich die Mitglieder der angesprochenen Gruppe nur marginal, so dass deren Ideen bei der Diskussion der Themen kaum eine Rolle spielen. Munsch rekonstruiert die grundlegenden Kooperationsstrukturen und schließt so auf die Gründe für die Zurückhaltung sozial benachteiligter StadtteilbewohnerInnen. Die Zusammenarbeit im Gremium ist durch eine spezifische Art und Weise gekennzeichnet. Die Moderatoren sowie die im Erwerbsleben verankerten Gremiums-TeilnehmerInnen verfügen über Kompetenzen der „effektiven Planung“ (ebd., 84f). Diese Personen vertreten ihre Interessen in kurzen Beiträgen, erläutern ihre Vorschläge zielgerichtet und gestalten die Diskussionen ergebnisorientiert. Sie sind in verzweigte soziale Netze eingebunden und können daher bei der Organisation von Veranstaltungen auf umfangreiche Ressourcen zurückgreifen. Dadurch wird es möglich, Beschlüsse unverzüglich zu fassen. Die anderen Mitglieder des Gremiums kennen sich aus dem Gesprächskreis für Menschen, die von Langzeitarbeitslosigkeit und Armut betroffen sind. Das

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 Miteinander in diesem Gesprächskreis ist wesentlich geprägt durch den Kommunikationsmodus des „persönlichen Gesprächs“ (ebd., 96). So können zum Beispiel Geschichten aus dem Lebensalltag, aktuelle Probleme sowie gemeinsame Erinnerungen ausgetauscht werden. Das Treffen mit Menschen, die sich in einer ähnlichen Lebenslage befinden, ermöglicht ihnen einen Perspektivenwechsel und temporäre Distanz zur häuslichen Umgebung. Resultat der Zusammenkünfte stellt die gemeinsame Bewältigung von Schwierigkeiten und Alltagserlebnissen dar, nicht die Veränderung von individuellen Problemlagen und gesellschaftlichen Strukturen. Die TeilnehmerInnen dieses Gesprächskreises verfügen nicht über Fähigkeiten der effektiven Planung. Auch in ihrer milieuspezifischen Sprache unterscheiden sie sich von den Äußerungen der Gremiums-TeilnehmerInnen, die in das Erwerbsleben integriert sind (ebd., 101; Meusel 2013). Sie bringen sich in die Arbeit des Stadteilgremiums mit eher unpassenden Redebeiträgen ein, deren Nutzen für die gemeinsamen Aufgaben sich nicht sofort erschließt. Die TeilnehmerInnen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, erleben ihr Engagement in der Gruppe demzufolge als störend. Sie realisieren, dass ihre Beiträge nicht zum Erfolg der Veranstaltungsplanung beitragen. Frustriert halten sie sich folglich mit Ideen und Vorschlägen zurück, beteiligen sich lediglich noch mit kurzen Kommentaren und Randbemerkungen. Dementsprechend „schließt das Ziel der effektiven Planung BewohnerInnen, die nicht über dafür notwendige Ressourcen verfügen, aus“ (Munsch 2005, 109). Die Studie weist damit am Beispiel der Arbeit dieses Bürgergremiums nach, dass gesellschaftliche Prozesse der Ausgrenzung sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen auch den Bereich bürgerschaftliches Engagement betreffen. Ausgrenzung erfolgt hier aufgrund von Langzeitarbeitslosigkeit und damit verbundenem Ressourcenmangel (vgl. Meusel 2013). Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, engagieren sich also nicht in dem Ausmaß wie Menschen, die einen besseren sozioökonomischen Status als sie aufweisen. Auch sind die Bereiche, die sie durch ihr Engagement mitgestalten, andere (vgl. Barloschky 2003). Durch die in der Öffentlichkeit dominierende eindimensionale Perspektive (Munsch 2005, 138) wird das Engagement sozial benachteiligter Menschen häufig nicht bzw. nicht differenziert wahrgenommen. Doch sie engagieren sich vielfältig, wie an der Studie von Munsch deutlich wird: zum Beispiel in den Gesprächskreisen für Stadtteilbewohner und in der Durchführung von Stadtteilfesten (ebd., 110).

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 2.4 Andrea Dischler: Teilhabe und Eigensinn Ausgangspunkt der Studie „Teilhabe und Eigensinn“ (Dischler 2010) stellt der Anspruch der Psychiatriereform dar, der seit den 1960er Jahren gesellschaftliche Teilhabe als zentrale Aufgabe des sozialpsychiatrischen Bereichs implementiert. Dabei wird Arbeit als ein wesentlicher Bestandteil gesellschaftlichen Zusammenlebens und damit als Teilziel des Integrationsbestrebens gesehen. Die Studie untersucht, wie Menschen mit Psychiatrieerfahrung Freiwilligenarbeit als eine Möglichkeit sinnstiftender Tätigkeit erleben. Die Klärung der Forschungsfrage erfolgt auf der Grundlage problemzentrierten Interviews. Die Auswertung ergibt Passungsaspekte von psychischer Krankheit, Erwerbsarbeit und Freiwilligenarbeit. Demnach werden als Gründe, die Psychiatrie-Erfahrene zur Freiwilligenarbeit bewegen, Motive ermittelt und Auslöser analysiert, die den Impuls für das Engagement geben (ebd., 169ff). Auf die Motive wird geschlossen, indem der Interviewtext auf selbstreflexive Aussagen zu diesem Thema untersucht wird. Biografische Zusammenhänge werden nur einbezogen, falls diese von den Befragten benannt sind. Auf diese Art werden soziale Integration bzw. der Wunsch nach Kontakten als Hauptmotive ermittelt, da diese von allen Befragten thematisiert werden. Darüber hinaus kommt dem Streben nach Tätigsein in den Erzählungen eine hohe Wertigkeit zu. In der Studie werden Besonderheiten zur Bedeutung von Erwerbstätigkeit, Erkrankung und Freiwilligenarbeit sowie deren Zusammenhänge dargestellt (ebd., 184–205). Die Berufstätigkeit als Norm ist in den Herkunftsfamilien aller Befragten verankert. Auch für die Befragten selbst erhält die Erwerbsarbeit als wichtiger Teil der Identitätskonstruktion eine hohe Bedeutungszuschreibung. Das Gewicht der eigenen Berufsbiografie, Brüche in der beruflichen Laufbahn sowie innere Konflikte bei den Personen, die ihren Beruf krankheitsbedingt nicht mehr ausüben können, gehören zu den herausgearbeiteten Phänomenen. Für einen Großteil der Befragten ersetzt die Freiwilligenarbeit nach Beendigung der Erwerbsarbeit zum Teil deren Funktionen, auch wenn vor der Erkrankung kein Engagement ausgeübt wird. So wird die berufliche Identität, der berufliche Habitus, durch die Freiwilligenarbeit aufrechterhalten und Kontinuität gesichert. Auch die Möglichkeit des Zuverdienstes, selbst im geringen Umfang einer Aufwandsentschädigung, stellt teilweise die Fortführung der Funktion von Erwerbsarbeit dar. Zentrale Bedeutung gewinnt im Zusammenhang von Erwerbs- und Freiwilligenarbeit sowie Erkrankung das unterschiedliche Maß an äußerem Erwartungsdruck, dem sich die Befragten ausgesetzt sehen. Je nach persönlicher Verfassung erleben sie sich imstande, Leistungsanforderungen gerecht zu wer-

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 den. Auch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die individuellen Ressourcen spielen hier eine Rolle. Außerdem werden als Analyseergebnis der Studie unterschiedliche Aspekte zusammengestellt, die für die Psychiatrie-Erfahrenen mit Freiwilligenarbeit verbunden sind: Autonomie, soziale Einbindung, Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten, Kontinuität sowie Sinnhaftigkeit und Anerkennung (ebd., 220–233). Schlussfolgernd aus den Ergebnissen der Studie wird den professionellen Akteuren der Sozialen Arbeit im Bereich Sozialpsychiatrie empfohlen, das Feld der Freiwilligenarbeit stärker als Möglichkeit des Tätigseins für Psychiatrieerfahrene zu erschließen und in dem Zusammenhang ihre eigenen Kenntnisse zum Freiwilligenengagement zu erweitern sowie die Kooperation mit geeigneten Einsatzstellen auszuweiten. Dabei sollte die individuelle Passung, die sich aus dem spezifischen biografischen Hintergrund, den persönlichen Ressourcen und den Besonderheiten der Erkrankung ergibt, berücksichtigt werden. (ebd., 243ff) 2.5 Johanna Klatt und Franz Walter: Entbehrliche der Bürgergesellschaft In dieser Studie steht die Position sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen in der Bürgergesellschaft im Zentrum des Forschungsinteresses. Ziele der Untersuchung sind vor allem, deren Einstellungen gegenüber der modernen Bürgergesellschaft und bisher noch nicht bekannte Aktivitäten bürgerschaftlichen Engagements festzustellen sowie Zugangswege zum Engagement zu erheben (Klatt und Walter 2011, 145). Dazu werden Experteninterviews sowie Gruppeninterviews mit sozial benachteiligten Bewohnern von vier ausgewählten Problemquartieren in Ost- und Westdeutschland durchgeführt und ausgewertet. Die Stadtteile werden in der Studie differenziert in ihrer historischen Entwicklung, ihren Besonderheiten und ihrer Bewohnerschaft beschrieben (ebd., 59–89). Die Auswertung der Interviews ergibt spezifische Einstellungen und Handlungslogiken, welche die Stadtteil-BewohnerInnen charakterisieren. Es wird eine Typologie aufgestellt, welche die StadtteilbewohnerInnen in sechs verschiedene Gruppen unterteilt: die Viertelkinder, die Aufstiegsorientierten, die Isolierten, die jungen Männer, die jungen Frauen und Mütter sowie die Viertelgestalter (ebd., 181–188). Außerdem werden Besonderheiten, die das Engagement sozial benachteiligter Bewohner betreffen, herausgearbeitet. Eine besondere Rolle bei der Ausübung bürgerschaftlichen Engagements kommt der Gruppe der Viertelgestalter zu. Charakteristisch für Angehörige dieses Typs ist, dass sie häufig in mehrere verschiedene soziale Kontexte eingebunden sind. Sie verfügen über ein umfangreiches soziales Netzwerk, das auch Personen anderer Kulturen einbe-

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 zieht. Außerdem sind sie in vielfältige Aktivitäten eingebunden und arbeiten in Institutionen ihres Stadtteils, mit dem sie sich sehr stark verbunden fühlen, mit. Sie sind über die Abläufe in ihrer Lebenswelt informiert und erkennen problematische Entwicklungen. Sie transportieren ihre Sichtweise in die Öffentlichkeit und setzen sich für Veränderungen ein. Teilweise weisen sie eine bessere Ressourcenausstattung zum Beispiel in Bezug auf Bildung auf als andere Bewohner. Als Schlüsselpersonen bzw. Multiplikatoren kommt ihnen besondere Bedeutung hinsichtlich der Förderung der Bürgergesellschaft zu. Sie gelten als Vorbilder in ihrer Lebenswelt und können andere Bewohner zum bürgerschaftlichen Engagement anregen (ebd., 209ff). Für die anderen fünf Typen werden verschiedene Hemmschwellen herausgearbeitet, die den Angehörigen dieser Gruppen den Zugang zum Engagement erschweren. Dies sind zum Beispiel eine geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung bei den Viertelkindern, eine schwächere Eigenidentifikation mit dem Stadtteil bei den Aufstiegsorientierten und der geringe finanzielle Spielraum bei den Isolierten. 2.6 Rosine Schulz: Kompetenz-Engagement Die Auswirkungen, welche für arbeitslose Menschen mit freiwilligem Engagement verbunden sind, untersucht Rosine Schulz. Datengrundlage sind Experteninterviews und ein 30-minütiges Gruppeninterview. Es geht darum, hemmende und begünstigende Rahmenbedingungen für das Engagement dieser Personengruppe zu identifizieren sowie Potenziale in der Engagementförderung herauszuarbeiten (Schulz 2010, 138). Zu den InterviewpartnerInnen gehören ExpertInnen, die in verschiedenen Regionen Ost- und Westdeutschlands angesiedelt sind, zum Beispiel EinrichtungsleiterInnen von Freiwilligenagenturen, die Leiterin eines Modellprojektes Bürgerarbeit, die Leiterin eines Generationenübergreifenden Freiwilligendienstes (GÜF), der Geschäftsführer einer Landesehrenamtsagentur sowie der Geschäftsführer des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement. Erfragt werden zum Beispiel die persönliche Auffassung zu den Gründen von Langzeitarbeitslosigkeit, Effekte von Engagement für Langzeitarbeitslose sowie die Auffassung zu Gründen für weniger Engagement bei Langzeitarbeitslosen (ebd., 340ff). Als wichtige These arbeitet Schulz in ihrer Forschungsarbeit heraus, dass die Organisationen, welche mit Engagierten zusammen arbeiten, häufig Arbeitslose als Kooperationspartner ausschließen, diese Prozesse aber nicht reflektieren (ebd., 298). Dies geschieht beispielsweise dadurch, dass diese Gruppe von den Ansprechpartnern automatisch nicht angesprochen wird bzw. sind für die zeitin-

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 tensive Begleitung arbeitsloser Engagierter unzureichende Mittel vorhanden. Es werden fehlende Ressourcen der arbeitslosen Menschen selbst angeführt und damit vor allem auf eingeschränkte finanzielle Möglichkeiten und ungenügende Informationen über Einsatzstellen hingewiesen. Außerdem werden Risiken in der Zusammenarbeit gesehen. Es wird befürchtet, dass die Akteure ihr Engagement beenden, sobald sie Zugang zum Arbeitsmarkt finden. Nicht zuletzt passen arbeitslose Engagierte weniger gut zum Image, welches die Organisationen in der Öffentlichkeit anstreben. (ebd., 190ff) Adäquat zur Erwerbsarbeit erhalten arbeitslose Engagierte durch ihre Tätigkeit vielfältigen Nutzen. Hier werden die positiven Auswirkungen zum Beispiel auf die Motivation herausgestellt, welche mit Aufwandsentschädigungen in Verbindung stehen (ebd., 203). Aber auch Anerkennungskulturen (ebd., 215) und Möglichkeiten, soziale Kontakte zu knüpfen (ebd., 222) und Kompetenzen zu erweitern (ebd., 227) werden angeführt. Die Integration arbeitsloser Menschen in ein freiwilliges Engagement gelingt umso besser, je mehr die Kooperationspartner für deren besondere Situation sensibilisiert sind und je intensiver der Engagement-Prozess begleitet wird. In diesem Zusammenhang wird das Fremdbild der Experten, das diese von sozial benachteiligten Freiwilligen haben, herangezogen: „Die Neuen Freiwilligen leiden unter ihren Alltagsproblemen, kommen häufig mit psychischen Belastungen und eingeschränktem Selbstvertrauen in die Freiwilligenagenturen und bringen in der Regel keinerlei Vorerfahrungen im freiwilligen Engagement mit“ (ebd., 304ff). Als Voraussetzung für gelungene Zusammenarbeit wird festgehalten, dass die Ansprechpartner in den Einrichtungen entsprechend qualifiziert und beraten werden. Schulz kommt zu dem Ergebnis, dass die Bezüge von freiwilligem Engagement zu potenzieller Erwerbsarbeit vielfältig sein können. Teilweise fungiert Engagement direkt als Brücke zur Berufstätigkeit. Als sehr bedeutsam erweist sich in diesem Zusammenhang die freiwillige Tätigkeit, indem die Akteure mehr Selbstvertrauen gewinnen und demzufolge kompetent gegenüber potenziellen Arbeitgebern auftreten. Aus den Analyseergebnissen der Interviews leitet Schulz Handlungsempfehlungen ab. Als ersten Schritt schlägt sie einen „gezielten Abholprozess“ vor, in welchen Organisationen ihre Öffentlichkeitsarbeit in Bezug auf Freiwilligenengagement strategisch insbesondere auf arbeitslose Menschen ausrichten. Weiterhin werden Weiterbildungen für Engagement-Koordinatoren empfohlen, um die Kommunikation auf diese Bevölkerungsgruppe abzustimmen und angemessene Begleitung anbieten zu können. Zentrale Bedeutung gewinnen nachhaltige Engagement-Strategien für das Anliegen, arbeitslose Menschen durch freiwillige Tätigkeiten besser in die Gesellschaft zu integrieren (ebd., 307). Folglich wird als zentrale Forderung die These aufgestellt: „Es bedarf

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 öffentlicher Fördermittel, damit die Organisationen des Non-Profit-Sektors die notwendigen Rahmenbedingungen für eine Zuwendungsstrategie etablieren können, um die nachhaltige Verstetigung des Engagements Arbeitsloser zu erzielen“ (ebd., 307).

3 D ISKUSSION

DER ZENTRALEN E RGEBNISSE BISHERIGER F ORSCHUNGSARBEITEN UND OFFENE F RAGEN

Die Befunde der quantitativen und qualitativen Studien im Bereich der Engagementforschung zeigen bereits interessante Zusammenhänge auf. Im Folgenden werden die Erklärungsansätze zur besonderen Entwicklung in Ostdeutschland erläutert (B 3.1). Weiterhin wird geklärt, wie sich freiwilliges Engagement im biografischen Verlauf herausbilden kann (B 3.2). Im Anschluss daran werden Bezüge zu sozialer Ungleichheit hergestellt und die Situation von freiwillig Engagierten in den Blick genommen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind (B 3.3). Aus der Diskussion wird geschlussfolgert, welche Fragen, vor allem in Bezug auf das freiwillige Engagement sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen, weiterführender und differenzierter Klärung bedürfen (B 3.4). 3.1 Die Engagementquote und Besonderheiten der Entwicklung in Ostdeutschland In Deutschland ist etwa ein Drittel der Menschen freiwillig engagiert. In Ostdeutschland liegt die Engagementquote unter dem Bundesdurchschnitt. Laut Freiwilligensurvey ist die Quote im Jahr 2009 in Ostdeutschland 5% geringer als der gesamtdeutsche Durchschnitt. Der Generali Engagementatlas kommt zu einer Differenz von 7,8% (vgl. B 1.2). Obwohl sich die Abweichung vom gesamtdeutschen Durchschnitt damit als relativ gering zeigt, werden die ost-westdeutschen Unterschiede in der Engagementquote intensiv diskutiert. Einigkeit besteht darüber, dass die Unterschiede auf Besonderheiten in der historischen Entwicklung und daraus resultierend aus den soziokulturellen Verhältnissen sowie der institutionellen Engagementinfrastruktur zurückzuführen sind. Gensicke stellt für Westdeutschland heraus, dass die Engagementquote direkt mit der Einschätzung der wirtschaftlichen Lage korreliert. Außerdem wird ein Zusammenhang zwischen steigender Engagementquote und zunehmender Positivbewertung der Wohn- und Lebensbedingungen hergestellt. Diese Zusammenhänge bestehen im Osten so nicht. Auch die Einschätzung des sozialen Zusam-

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 menhalts ergibt keine signifikante Koppelung an die Engagementquote. Demgegenüber scheinen soziokulturelle Gesichtspunkte wie die Größe des Freundeskreises und die seltenere Kirchenbindung in Ostdeutschland eine größere Rolle zu spielen. Auch das vergleichsweise geringere politisch-öffentliche Interesse wird zur Erklärung für die geringere Vitalität der Zivilgesellschaft im Osten des Landes herangezogen. (Gensicke 2009, 43–74) Demgegenüber nimmt Roth (2003) die Unterschiede in der Engagementinfrastruktur infolge des Institutionentransfers seit Anfang der 1990 Jahre in den Blick. Die adäquat zu den westdeutschen Institutionen in Ostdeutschland neu geschaffenen Einrichtungen zum Beispiel im sozialen Bereich verfügen über eine geringere gesellschaftliche Verankerung als in Westdeutschland (ebd., 30), was als ein Grund für die niedrigere Engagementquote gewertet wird. Als Ursache wird außerdem die soziale Ungleichheitsdynamik benannt (Roth 2001, 21). Darüber hinaus verweist Roth auf ein „beachtliches historisches Erbe“ trotz nach dem politischen Umbruch zerfallener Strukturen (ebd., 18). Einzelne weiter bestehende Verbände wie die Volkssolidarität, das DRK und die Diakonie sowie Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitsbereich können an frühere Engagementtraditionen anknüpfen. Als Hürde für das Wachstum der Engagementkultur wird gesehen, dass sich Menschen und Institutionen weniger für eine pluralistische Ordnung einsetzen als in Westdeutschland (ebd., 21). Auf die Besonderheiten der politisch-historischen Entwicklung verweisen weitere Autoren. So wird die Zeit des politischen Systems in der ehemaligen DDR mit den aktuellen Werthaltungen, Einstellungen zur Demokratie sowie den Handlungsentwürfen der Menschen in Ostdeutschland in Verbindung gebracht und damit die relative Distanz dieser Menschen zum Freiwilligenengagement begründet (BackhausMaul, et al. 2002, 15). Die Enquetekommission des deutschen Bundestags (Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" 2003, 224–233) weist im Zusammenhang mit den Befunden des Freiwilligensurveys ebenfalls auf strukturelle Besonderheiten bürgerschaftlichen Engagements in Ostdeutschland hin. Nach der Auflösung vieler Institutionen in den Jahren nach 1989 beendet eine hohe Zahl Engagierter ihre freiwillige Tätigkeit, weil die entsprechende Organisation nicht mehr existiert. Im Zuge des Institutionentransfers stellt sich der Aufbau neuer Träger, die als Basis für Engagement fungieren, als langwieriger Prozess dar. Im Vergleich zu Westdeutschland sind deutlich weniger Menschen im Verein organisiert bzw. sind die Wohlfahrtsverbände nicht derart in traditionellen sozialen Milieus verankert. Außerdem besteht ein Zusammenhang zwischen höherer Arbeitslosenquote im Osten und niedrigerer Engagementquote.

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 Das zivilgesellschaftliche Engagement vor dem Hintergrund der Infrastrukturentwicklung im Transformationsprozess analysiert vertiefend Bütow (2014). Bütow arbeitet heraus, wie sich der Übergang vom Engagement in Nischenstrukturen der DDR hin zur Mitgestaltung sozialpolitischer Rahmenbedingungen vollzieht. Bütow lenkt den Fokus auf die schon angeklungene differente Entwicklung wohlfahrtlicher Verbandsstrukturen, welche sich in Ostdeutschland nur unzureichend herausbilden können. Zunächst knüpft Bütow an Autoren wie Gaiser und de Rijke37 sowie Beetz u.a.38 an und konstatiert ähnlich wie Roth und Backhaus-Maul (s. oben) eine „tendenziell skeptischere Haltung gegenüber politischen Institutionen“ sowie eine „weniger ausgeprägte zivilgesellschaftliche Kultur“ in Ostdeutschland. Diese Merkmale zeigen sich in den Einstellungen insbesondere der Menschen, die von Transferleistungen abhängig bzw. sozial mehrfach depriviert sind (Bütow 2014, 177). Bütow arbeitet als Erklärung heraus, dass der „Transformationsprozess politisch wie ökonomisch hierarchisch strukturiert ist“ (Bütow u.a. 2014, 21). Das Fundament für die Situation in Ostdeutschland bildet die historische Entwicklung. Infolge der Gründung der DDR werden vorhandene zivilgesellschaftliche Strukturen, die ihre Wurzeln unter anderem in Traditionen der Weimarer Republik haben, zerschlagen. Die DDRGesellschaft gilt per Definition der politischen Führung als frei von sozialen Problemen. Aufgaben der Fürsorge werden zentralstaatlich organisiert, eine zivilgesellschaftliche Gegenbewegung wird als obsolet erklärt. Die Reflexion gesellschaftlicher Widersprüche und sozialer Probleme erfolgt in der DDR fast ausschließlich in privaten und halböffentlichen Schutzräumen, ansatzweise bzw. je nach Region in unterschiedlichem Ausmaß in kirchlichen Kreisen. Obwohl Ideen und Ansätze, welche in diesen Zusammenhängen entwickelt und diskutiert werden, in der DDR keinen direkten Einfluss entfalten, können sie „als dem gesellschaftlichen Kontext angemessene Problemlösungen gedeutet werden, deren Potenziale im Transformationsprozess wichtig“ sind (ebd.,176). Das freiwillige Engagement der Menschen schließt an die Nischenkultur der DDR-Zeit an. Ab dem Zeitraum des gesellschaftlichen Umbruchs übernehmen zivilgesellschaftliche Akteure öffentlich die Funktion, gesellschaftliche und wohlfahrtsver-

 37 Gaiser, W.; de Rijke, J. (2008): Partizipation im Wandel? Veränderungen seit Beginn der 1990er Jahre in: Gille M. (Hg.): Jugend in Ost und West seit der Wiedervereinigung. Ergebnisse aus dem replikativen Längsschnitt des DJI-Jugendsurvey. Wiesbaden, S.237–268. 38 Beetz, M.; Corsten, M.; Rosa, H. Winkler, T. (2012): Mitmachen und Mitreden. In: Best, H.; Holtmann, E. (Hg.): Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung. Frankfurt, New York, S. 260–279.

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 bandliche Strukturen wirkmächtig mitzugestalten. Infolge des Institutionentransfers treten neben Projekte, die von diesen Kreisen der Bürgerbewegung initiiert werden, große Träger bundesdeutscher Wohlfahrtsverbände. Diese dominieren den Aufbau der Strukturen des Dritten Sektors. Eine Besonderheit liegt darin, dass diese Strukturen wesentlich weniger von einem starken Vereinswesen und Initiativen der Bevölkerung getragen werden als in Westdeutschland. Im Zuge dieser Entwicklung und verstärkt durch Prozesse des Rückbaus sozialer Infrastruktur durch Einsparmaßnahmen (Bütow, Chassé und Maurer 2006) verlieren vor allem kleinere Träger ihre Existenz. An diese Institutionen gekoppeltes zivilgesellschaftliches Engagement wird bedroht. Hinzu kommt, dass die Situation in Ostdeutschland davon gekennzeichnet ist, dass geringere finanzielle Spielräume vorhanden sind, ökonomische Budgets stärker gekürzt werden als in Westdeutschland und demzufolge knappere Ressourcen für den Ausbau institutioneller Voraussetzungen für Engagement zur Verfügung stehen. Zivilgesellschaftliche Potenziale, die an die ostdeutsche Bürgerbewegung anknüpfen, können sich also nur partiell im Gefüge der gesellschaftlichen Akteure durchsetzen und implementierte Träger freiwilligen Engagements eine im Vergleich zu Westdeutschland schwächere Infrastruktur entwickeln. Damit wird gezeigt, dass das freiwillige Engagement der Menschen in Ostdeutschland auf einem spezifischen historischen Entstehungskontext basiert. Im Zusammenhang damit entwickelt sich die Engagementinfrastruktur anders als in Westdeutschland. Als Voraussetzungen insbesondere für den Zugang zum freiwilligen Engagement sind damit besondere Rahmenbedingungen gegeben, die sowohl die Akteure im freiwilligen Engagement als auch deren Kooperationspartner in den Organisationen und auch die Entscheidungsträger in der sozialpolitischen Gestaltung vor große Herausforderungen stellen. 3.2 Entstehungszusammenhänge freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf Quantitative Studien ermitteln statistische Angaben zu den Beweggründen und Motiven für freiwilliges Engagement. Im Ergebnis geben die Befragten beispielsweise an, dass sie die Gesellschaft mitgestalten möchten, andere Menschen treffen möchten, ihre Interessen vertreten und Probleme lösen möchten. Zur Analyse der Beweggründe und Motive ist anzumerken, dass diese mit quantitativen Forschungsverfahren auf spezifische Weise erfasst werden. In der Interviewsituation bzw. im Fragebogen wird direkt erhoben, welche Gründe die InterviewpartnerInnen für sich persönlich als relevant einschätzen. Dabei greifen sie auf die Auswahlmöglichkeiten des Fragebogens zurück. Indem die Befragten

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 antworten, können sich Überlagerungen durch die Absicht ergeben, der InterviewerIn bzw. den Autoren der Studie ein bestimmtes Bild von sich zu präsentieren. Dies kann auch dazu führen, dass Motive, die gesellschaftlich weniger positiven Anklang finden, als Beweggrund für Engagement kaum genannt werden, sofern sie in Studien abgefragt werden. Auf diese Problematik geht Schüll am Rande seiner Forschungsarbeit zu den Motiven Ehrenamtlicher (Schüll 2004, 200f) ein. Er stellt fest, dass altruistische Motive generell häufiger als Beweggründe für ein Engagement angegeben werden als selbstbezügliche. Hier ergibt sich für ihn die Schwierigkeit, dass die Befragten zumindest teilweise sozial erwünscht antworten. Insbesondere das Motiv „Weil die Arbeit mir hilft, mit persönlichen Ängsten und Sorgen besser zurechtzukommen“ gehört zu den fünf Antworten, die von seinen Befragten am seltensten gewählt werden. Die überwiegende Ablehnung dieser Position vonseiten der InterviewteilnehmerInnen lässt nur bedingt Aussagen zur tatsächlichen Relevanz dieses Motivs schlussfolgern. Schüll steht vor der Entscheidung, ein Kontrollinstrumentarium in den Fragekatalog einzubauen, mit dessen Hilfe die Neigung zu sozial erwünschtem Antwortverhalten gemessen werden kann. Schüll sieht davon ab, obwohl er die Tendenz anerkennt, dass die Befragten ihr Selbstkonzept nicht umfassend kennen oder darstellen. An dieser Stelle wird die Schwierigkeit, komplexe Motivlagen mithilfe quantitativer Untersuchungen zu klären, deutlich. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund des Motiv-Verständnisses, das Schüll auf der Grundlage der Motivationsforschung weiter ausdifferenziert. Dazu wird der Untersuchungsgegenstand der psychologischen Motivationsforschung herangezogen. Dieser umfasst nach Bergius und Schmalt „sämtliche Vorgänge, die menschliches Verhalten (überhaupt) aktivieren, in eine bestimmte Richtung lenken und dessen Intensität festlegen“ (Schüll 2004, 112).39 Die InterviewpartnerInnen werden vor die Herausforderung gestellt, ihre Motivlagen, die Resultat komplizierter innerpsychischer Vorgänge sind, mit den möglichen Antworten abzugleichen und sich für die am ehesten zutreffende Auswahl zu entscheiden. Entsprechend konstatiert Schüll: „Die Vielzahl individuell-biografischer und subjektiv interpretierter Einflussfaktoren auf das Engagement legt nahe, bei einer empirischen Untersuchung verstärkt auf qualitative Verfahren zurückzugreifen“ (Schüll 2004, 153). Kritisch wird die Analyse von Motiven ehrenamtlicher Tätigkeit auf der Grundlage statistischer Erhebungen von Jakob gesehen (Jakob 1993). Alternativ

 39 Bergius, Rudolf; Schmalt, Heinz-Dieter (1999): „Motivation und Motivationsforschung“ In: Dorsch, Friedrich: Psychologisches Wörterbuch. 13., überarbeitete Auflage. Bern. Huber. S.550–553. Zitiert nach Schüll (2004).

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 können erfragte Motive nach Jakob als „Legitimationsmuster“ (Jakob 1993, 22) bezeichnet werden, welche nicht zwingend die biografischen Sinnbezüge erfassen. Ergänzende und vertiefte Erkenntnisse zu den Herausbildungszusammenhängen freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf eröffnen Verfahren der qualitativen Sozialforschung (vgl. C). Die qualitative Analyse des Textmaterials führt zur individuellen Bedeutung auch im Sinne von Motiven für Verhalten. Unter dem Paradigma rekonstruktiver Sozialforschung ist es insbesondere möglich, subjektive Sinnzuschreibungen zu ergründen und die Zusammenhänge zu den sich verändernden äußeren Rahmenbedingungen zu analysieren. 3.3 Biografische und feldspezifische Passung Für die Entstehung freiwilligen Engagements spielt die „biografische Passung“ (Jakob 1993, 281) eine große Rolle. Damit ist gemeint, „dass die Rahmenbedingungen und Anforderungen eines Engagements zu den individuellen biografischen Voraussetzungen und Erwartungen an eine gemeinwohlorientierte Tätigkeit ‚passen‘ müssen“ (Jakob 2003, 79). Persönliche biografische Erfahrungen und Sinnstrukturen begründen somit freiwillige Tätigkeiten. Gleichzeitig hat die Ausübung eines Engagements Effekte für die Persönlichkeitsentwicklung und die weitere Lebensgestaltung. Die Entscheidung für ein freiwilliges Engagement erwächst also aus dem komplexen Zusammenspiel von Prägungen durch die Vergangenheit, aktuellen Fähigkeiten und Handlungsoptionen sowie Erwartungen an die Zukunft (Corsten, Kauppert und Rosa 2008, 230). Im Rahmen ihres Beitrags stellt Jakob (2003) Bezüge zum Thema „Bürgerschaftliches Engagement sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen“40 her, wobei keiner der InterviewpartnerInnen des Samples diesem Personenkreis angehört (Jakob 2003,91). Jakob meint, dass die biografische Passung auch bei Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, für den Einstieg in ein Engagement auschlaggebend sein könnte. Einschränkend wird allerdings hinzugefügt, dass bezogen auf den sozioökonomischen Status „erhebliche Unterschiede bei der Bereitschaft und den erforderlichen Ressourcen für ein Engagement“ (ebd., 91) in quantitativen Studien nachgewiesen werden und schließt da-

 40 Entsprechend des Sammelband-Titels, in dem die Publikation enthalten ist: Munsch, Chantal (2003): Sozial Benachteiligte engagieren sich doch. Weinheim. Juventa.

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 mit an von Rosenbladt41 an. Ergo konstatiert Jakob, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Engagement benachteiligter und ausgegrenzter Gruppen noch unzureichend sind und vor allem in Bezug auf die spezifischen Formen und Hindernisse noch ausdifferenziert werden müssen. Jakob empfiehlt insbesondere qualitative bzw. ethnografische Studien, um die Lebensverhältnisse und Beziehungsstrukturen sozial benachteiligter Engagierter angemessen bei der Engagementforschung berücksichtigen und analysieren zu können (Jakob 2003,91). Corsten, Kauppert und Rosa (2008) arbeiten heraus, dass Engagierte entsprechend ihrer biografischen Entwicklung jeweils ein für sie stimmendes Einsatzfeld ansteuern. Die jeweilige Feldlogik, also zum Beispiel die besonderen Anforderungen an die Tätigkeit und die Normen, welche dort für das gemeinsame Handeln gelten, passen zur Person der Engagierten, ihren Neigungen, Fähigkeiten und zu ihrem soziokulturellen Hintergrund (Corsten, Kauppert und Rosa 2008, 223). Die möglichen Einsatzfelder werden von den Autoren systematisch verglichen. Eine zentrale Schlussfolgerung aus dem Feldvergleich ist, dass die Engagierten, indem sie sich für einen bestimmten Bereich entscheiden, ihre Aufmerksamkeit auch vordergründig auf dieses Feld lenken. Für andere, vor allem inhaltlich entfernte Bereiche im Rahmen des Modells, sind sie „feldblind“ (ebd., 217), also weniger sensibel für deren spezifische Aufgabenstellungen. In dieser Weise besetzen die verschiedenen Engagement-Felder jeweils typische Handlungszusammenhänge. Sie weisen mit nahe gelegenen Bereichen Überschneidungen auf und sind jeweils zu entfernteren Bereichen stärker abgegrenzt. 3.4 Bedeutung des freiwilligen Engagements für die Akteure Der Nutzen, den das Engagement für das jeweilige Einsatzfeld bedeutet, ist im Zusammenhang mit den Vorteilen zu sehen, welche die Akteure durch ihre Tätigkeit für sich persönlich erhalten. Die Typologien sowohl von Jakob als auch von Corsten u.a. zeigen, dass dem freiwilligen Engagement häufig die Funktion der Bewältigung (Böhnisch 2012) zukommt. Beispielhaft wird dies an den Typenbezeichnungen deutlich: „Bürgerschaftliches Engagement als Teil einer Bearbeitungsstrategie für biografische Verletzungs- und Verlusterfahrungen“ (Jakob 2003), „Kompensations-Bürgerschaftliches Engagement“, „Engagement als Erweiterung biografischer Möglichkeiten“ (Corsten, Kauppert und Rosa 2008). Munsch zieht aus den Forschungsergebnissen ihrer Studie im Anschluss

 41 Rosenbladt, Bernhard von (2000): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Ergebnisse der Repräsentativerhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichen Engagement. Gesamtbericht. Stuttgart.

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 an Böhnisch42 ein ähnliches Resümee. In ihrem freiwilligen Engagement finden die Akteure Möglichkeiten, mit den Ereignissen ihres Lebens umzugehen (Munsch 2005, 135; 150). Sie erleben Unterstützung, soziale Integration sowie die (Wieder-)Herstellung von Handlungsfähigkeit (ebd., 134f). Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund des speziellen Engagements im Kontext des Stadtteilhauses zu verstehen. Durch die Treffen und Aktivitäten identifiziert sich die Gruppe mit ihrem Stadtteil und demonstriert nach außen ihren gemeinsamen Einsatz für das Gemeinwesen, zum Beispiel in der Standbetreuung zum Stadtteilfest. Sie erleben sich als zugehörig und handlungsmächtig. Offen bleibt, wie die biografische Situation mit dem jeweiligen Engagement zusammenhängt. Dazu „müsste man ihre Lebenssituation und ihre Lebensgeschichte, die kritischen Lebensereignisse, die sie bewältigen müssen, kennen“ (ebd., 136). Ergebnisse der bisherigen Forschungsarbeiten berücksichtigen darüber hinaus teilweise den familiären Herkunftskontext der Engagierten. Dazu gehören die familiären Traditionen, welche die Zugehörigkeit zu bestimmten soziokulturellen Milieus begründen (Jakob 2003). Welche Einflüsse, die den familiären Kontext betreffen, spielen darüber hinaus eine Rolle für das freiwillige Engagement der Akteure? Weitgehend unklar bleiben in bisherigen Analysen die familiengeschichtlichen Zusammenhänge und die intergenerativ übermittelten allgemeinen und engagementbezogenen Leitorientierungen. Neben bzw. innerhalb der Bewältigung gewinnen weitere Funktionen des freiwilligen Engagements Bedeutung für die Akteure. Für Engagierte mit Psychiatrieerfahrung stellt Dischler folgende Funktionen zusammen: Die Tätigkeit dient der Sozialintegration, dem Kontinuitätserleben, der Autonomieerfahrung, der Vermittlung von Lern- und Entwicklungschancen sowie von Sinnhaftigkeit und Anerkennung (Dischler 2010, 237). Dass soziale Beziehungen im Zusammenhang mit freiwilligem Engagement bedeutsam sind, wird schon daraus deutlich, dass gemeinschaftliches Tun als zentrales Merkmal zählt (vgl. A 1). Quantitative Befunde bestätigen den hohen Stellenwert, 60% der Befragten des Freiwilligensurveys zielen mit ihrer Tätigkeit auf soziale Kontakte ab (vgl. B 1.4). Heinze und Olk betonen den Stellenwert außerfamiliärer Beziehungen durch freiwilliges Engagement vor dem Hintergrund zunehmend erodierender familiärer Netze (Heinze und Olk 1999, 81). Schulz arbeitet heraus, dass für einen Teil

 42 Böhnisch, Lothar (1999): Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. Weinheim und München. Böhnisch, Lothar (2002): Lebensbewältigung. Ein sozialpolitisch inspiriertes Paradigma für die Soziale Arbeit. In: Thole, W. (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Opladen. S.199–213.

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 der arbeitslosen Menschen ein Gewinn darin liegt, soziale Kontakte zu knüpfen (Schulz 2010, 226). Daraus ergeben sich weiterführende Fragen über die zirkulären Zusammenhänge zwischen der Netzwerkeinbindung sozial benachteiligter Menschen und dem Anliegen, die sozialen Beziehungen zu erweitern. Auch der Typ „Bürgerschaftliches Engagement als Tradierung eines familiären Handlungsschemas und Herstellung der Zugehörigkeit zu einem soziokulturellem Milieu“ (Jakob 2003, 81) und mehrere Typen bei Corsten, Kauppert und Rosa (2008) weisen auf das Anliegen sozialer Integration hin, auch wenn sie insgesamt eher feldspezifisch ausgerichtet sind. Zum Beispiel der Typus „Ausbau einer exponierten Stellung im öffentlichen Bereich“ und der Typus „Von der Peripherie ins Zentrum“ (Corsten, Kauppert und Rosa 2008, 189–202) zeigen die Bemühungen der Akteure, eine bestimmte Position im menschlichen Miteinander einzunehmen, wobei soziale Kontakte eine wesentliche Rolle spielen. In dem Zusammenhang gewinnt eine weitere Funktion von Engagement an Bedeutung, die sich allgemein als persönliche Weiterentwicklung durch die freiwillige Tätigkeit fassen lässt. Der Typ „Bürgerschaftliches Engagement als Bestandteil von Karrieren“ (Jakob, 2003), steht beispielhaft für diese Funktion. Hier erlangt die ehrenamtliche Tätigkeit im Verlauf der Jahre eine Schlüsselfunktion für die Übernahme wichtiger Ämter in der (Kommunal-)Politik. Durch die Tätigkeit werden persönliche Netzwerke auf- und ausgebaut, die den Engagierten berufliche Vorteile verschaffen bzw. den Einstieg in eine mit hohem gesellschaftlichem Ansehen verbundene berufliche Position ermöglichen. Dabei wird der soziale Aufstieg durch das freiwillige Engagement nicht direkt angestrebt, sondern ergibt sich im Laufe der Zeit auch durch Steuerung beteiligter Funktionsträger. Verschiedene Typen bei Corsten, Kauppert und Rosa (2008) unterstreichen, dass die Akteure sich persönlich durch ihre freiwillige Tätigkeit weiterentwickeln. Beispielsweise der Typ „Engagement als Erweiterung biografischer Möglichkeiten“ (Corsten, Kauppert und Rosa 2008, 157) weist in diese Richtung. Hier entwickelt sich die freiwillige Tätigkeit aus dem Kontext ungünstiger biografischer Ausgangsbedingungen wie bescheidene materielle Verhältnisse bzw. konflikthafte Familiensituation. Aus einer gesellschaftlichen Randposition erarbeiten sich die Akteure mit ihrem eigenen Handlungspotenzial Optionen, ohne sich dabei in ihrem Engagement zeitlich und inhaltlich festzulegen. Bei diesem Typ geht es darum, die eigenen Begabungen zu entdecken und vielfältig zu erweitern. Für Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, wird in Bezug auf Aufstiegsmöglichkeiten eher die Brückenfunktion des Engagements zum Arbeitsmarkt diskutiert. Die These, dass Engagement als Weg (zurück) in den Beruf genutzt wird, findet sich u.a. bei Kramer, Wagner und Billeb unter dem Stichwort „Phasing“ (Kramer, Wagner und Billeb 1998) sowie im Band 4 der

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 Enquetekommission (Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" 2003, 231). Im Freiwilligensurvey wird darauf hingewiesen, dass vor allem in Ostdeutschland das Engagement „von Arbeitslosen auch als Verdienstmöglichkeit oder als Sprungbrett für eine bezahlte Tätigkeit gesehen“ wird (Gensicke und Geiss 2010, 22). Die Engagement-Motive arbeitsloser Engagierter werden aufgrund dieser Befunde teilweise einseitig dimensioniert in dem Sinn, dass dem Streben nach Zugängen zum Arbeitsmarkt bei arbeitslosen Engagierten vordergründige Bedeutung zugemessen wird (Enquete-Kommission 2003, 229; Heinze und Olk 199, 91). Demgegenüber betont Schulz (2010), dass die Hoffnungen auf berufliche Reintegration durch Engagement nicht überstrapaziert werden dürfen. Gerade wenn sich Menschen ohne Erfolgsdruck freiwillig engagieren können, stärkt das ihr Selbstvertrauen und eröffnet Lern- und Entwicklungschancen (Schulz 2010, 241). Anerkennung gilt als weiteres Stichwort, wenn es um die individuellen Vorteile von Engagement geht. Klatt und Walter kommen zu dem Schluss, dass es spezifische Formen von Engagement bei sozial benachteiligten Akteuren gibt. Es „ließ sich in der Tat viel verborgenes informelles Engagement ent- und aufdecken“ (Klatt und Walter 2011, 196). Damit ist beispielsweise die Teilnahme an Demonstrationen oder Unterschriftenaktionen gemeint, die in qualitativen Untersuchungen so meist nicht abgefragt wird. Es sind häufig unkonventionelle Formen von Engagement, die für die Öffentlichkeit nicht erkennbar werden bzw. nicht mit den Akteuren in Verbindung gebracht werden. Oft werden die Tätigkeiten von den Engagierten selbst nicht als Bürgerengagement eingeschätzt, zum Beispiel das Backen für einen gemeinnützigen Kuchenbasar (vgl. Klatt 2011). Diese Formen freiwilligen Engagements sind häufig nicht in öffentliche Anerkennungskulturen eingeschlossen. Zu diesem Ergebnis kommt Schulz: „Eine Kultur, in der Freiwillige, insbesondere solche aus sozial niedrigen Schichten, Anerkennung, Wertschätzung und ein Gefühl der Zugehörigkeit erhalten, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern bedarf einer gewissen Steuerung“ (Schulz 2010, 216f). Daraus leitet sich die Frage ab, welche Rolle die Anerkennung für sozial benachteiligte Akteure als Gegenleistung für ihre freiwillige Tätigkeit spielt. Insgesamt gesehen wird aus dem Stand der Forschung ersichtlich, dass mit dem freiwilligen Engagement vielfältiger Nutzen für die Akteure verbunden sein kann. Nicht alle Studien beziehen allerdings sozial benachteiligte Menschen als Befragte ein. Einzelne Studien betonten die Handlungsmöglichkeiten, die diesem Personenkreis durch freiwilliges Engagement eröffnet werden, beziehen sich dabei aber hauptsächlich auf die Bezüge zur Erwerbsarbeit (Dischler, Schulz).

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 Es wird vielfach festgehalten, dass sich sozial benachteiligte Menschen im Wesentlichen engagieren, um die Brückenfunktion zur Erwerbsarbeit zu nutzen und um soziale Integration zu erleben (vgl. Meusel 2013). Offen bleibt, welche weiteren Motive und Entstehungsbedingungen zu berücksichtigen sind und welche Wirkungszusammenhänge bei der Herausbildung von Engagement im biografischen Verlauf sozial benachteiligter Menschen eine Rolle spielen. Es bleibt weitgehend ungeklärt, wie die Beweggründe und Motive, durch die sozial benachteiligte Menschen Zugang zum freiwilligen Engagement bekommen, zusammenspielen. Neben den Beweggründen und Motiven für freiwilliges Engagement, die ihre spezifische Bedeutung des Engagements im biografischen Verlauf entfalten, werden in den bisherigen Forschungsarbeiten Voraussetzungen herausgearbeitet, die den Zugang zum freiwilligen Engagement ermöglichen. Diese werden im Folgenden diskutiert. 3.5 Ressourcen für den Engagementzugang Sozial benachteiligte Menschen engagieren sich zu einem relativ niedrigen Prozentsatz, wie beispielsweise die Engagementquote bei Harz IV-Empfängern zeigt. Sie liegt im Jahr 2009 bei 22% (Gensicke und Geiss 2010, 32). Es werden verschiedene Hintergründe dafür diskutiert. Eine Ursache kann in der Begriffsverwendung der Studien gesehen werden. Obwohl beispielsweise im Freiwilligensurvey lediglich Bereiche vorgeschlagen werden, innerhalb derer die Tätigkeit angesiedelt ist, kann es vorkommen, dass einzelne Aktivitäten sozial benachteiligter Personen nicht zum Zuge kommen. Unklar wäre zum Beispiel die Zuordnung regelmäßiger unbezahlter Reinigungs- oder Grünanlagenpflegearbeiten im Wohngebiet durch Anwohner. In diesem Zusammenhang begründet Barloschky die geringeren Engagementquoten bei arbeitslosen Personen u.a. damit, dass Bereiche freiwilliger Arbeit wie kollektive Selbsthilfe nicht in die Erfassung von „Ehrenamtlichkeit“ einbezogen werden und meint damit zum Beispiel „das Reinigen der Straße und die Pflege der Pflanzen“ sowie „das Mitorganisieren von Haus- bzw. Quartiersfestlichkeiten“ (Barloschky 2003, 143). Freiwilliges Engagement erweist sich als Handlungsfeld, das von Angehörigen der Mittelschicht dominiert ist (Heinze und Olk 1999, 92). Diesen Befund bestätigen zum Beispiel Brömme und Strasser (2001). Sie kommen im Zusammenhang mit dem Strukturwandel des Ehrenamts auf die rückläufigen Engagementquoten in traditionellen Bezügen, vor allem Kirchen, Verbänden und Vereinen, bei zunehmendem Engagement in Initiativen und neuen Formen von Partizipation zu sprechen. Sie stellen fest, dass die Mitglieder in den klassischen

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 Engagementbereichen im Vergleich zu denen in neueren Organisationsformen zu einem wesentlich höheren Anteil auch benachteiligten Bevölkerungsgruppen angehören. Als Grund wird beispielsweise die traditionelle Milieuzugehörigkeit angeführt, die bei Arbeiterfamilien zu Engagement in entsprechenden Verbänden führt. Die sinkende Bedeutung dieses klassischen Engagements geht massiv mit dem Rückgang von Engagement sozial benachteiligter Personen einher. Darin wird deutlich, dass freiwillig Engagierte zunehmend Mittelschichtangehörige sind. (Brömme und Strasser 2001) Schwerpunktmäßig werden bei der Suche nach Hintergründen für die niedrige Engagementquote bei arbeitslosen Menschen jedoch die Ressourcen diskutiert, die für den Zugang zum freiwilligen Engagement häufig erforderlich sind. Kompetenzen und Bildung stellen zentrale Ressourcen dar, die den Zugang zu freiwilligem Engagement eröffnen. Die Zahlen der quantitativen Studien belegen, dass sich die Engagementquote mit steigendem Bildungsabschluss erhöht (Engagementatlas 09 2009, 10). Als weitere Fähigkeiten, über die sozial benachteiligte Menschen weniger verfügen als zum Beispiel Mittelschichtangehörige, analysiert Munsch die Kompetenzen der „Effektiven Planung“ (Munsch 2005). Die Autorin fasst darunter das Übernehmen von Verantwortung sowie organisatorische und kommunikative Fähigkeiten (ebd., 131). Außerdem geht es um das Vermögen, ergebnisorientiert zu arbeiten und Synergieeffekte zu nutzen (Munsch 2005, 84ff; vgl. Meusel 2013). Die Selbstwirksamkeitsüberzeugung wird als weiterer Bedingungskomplex dafür diskutiert, ein freiwilliges Engagement aufzunehmen (Corsten, Kauppert und Rosa 2008, 226). Klatt und Walter kommen zu dem Schluss, dass bei Bewohnern, die zum Typ der „Viertelkinder“ gehören, die geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung eine Hemmschwelle zum Engagement darstellt. Als Viertelkinder werden diejenigen Bewohner von Problemstadtteilen bezeichnet, die sich sehr stark mit dem Wohngebiet identifizieren, aber keine Chancen sehen, dort eigene Initiativen umzusetzen. (Klatt und Walter 2011, 182) Klatt und Walter stellen darüber hinaus Bezüge zur Frage der sozialen Einbindung und dem Zugang zum Engagement her (vgl. B 3.4). Bei der Untersuchung der Zugangswege zum bürgerschaftlichen Engagement kommen sie zu dem Ergebnis, dass die Bewohner der fokussierten Problemstadtteile vor allem dann zu einem Engagement finden, wenn dies durch andere vermittelt wird. Als Auslöser wird zum Beispiel die gezielte Ansprache durch institutionelle Kontaktpersonen bzw. durch Freunde und Bekannte aus dem Lebensumfeld identifiziert (Klatt und Walter 2011, 146). Auch Kinder bilden häufig die Brücke zum Engagement, zum Beispiel wenn Eltern für Vereine tätig werden, in denen ihre Kinder aktiv sind (ebd., 199). Auch Dischler unterstreicht die Bedeutung institutioneller An-

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 sprechpartner. Beim Zugang von Menschen mit Psychiatrieerfahrung zur Freiwilligenarbeit gibt es unterschiedliche Befunde abhängig von den beiden Formen der Freiwilligenarbeit (lebensbegleitende oder nach der Erkrankung aufgenommene Tätigkeit). Engagierte, die schon vor der Psychiatrieerfahrung tätig sind, finden durch eigene Initiative den Zugang. Bei einigen Fällen ist diese Eigeninitiative verbunden mit einem Anstoß durch institutionelle Mitarbeiter. Bei Freiwilligen, die den Zugang erstmals nach der Psychiatrieerfahrung finden, bildet den Auslöser fast ausschließlich die Anregung durch Personen aus sozialpsychiatrischen Netzwerken. Insgesamt gesehen kommt institutionellen Ansprechpartnern und den Schlüsselpersonen aus dem Bekanntenkreis eine sehr hohe Bedeutung beim Zugang Psychiatrie-Erfahrener zum Engagement zu. Daraus leitet sich die Frage ab, welche Rolle institutionelle Ansprechpartner für den Beginn eines freiwilligen Engagements bei sozial benachteiligten Menschen spielen, die nicht über Psychiatrieerfahrungen verfügen. Im Zusammenhang mit der institutionellen Kooperation weisen Klatt und Walter auf eine Hürde beim Engagementzugang hin. Nur ein Teil der Bewohner, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, nutzen institutionelle Angebote wie Nachbarschafts- und Stadtteilzentren, in denen Engagementmöglichkeiten bestehen. Als Grund für diese Zurückhaltung wird die subjektive Einschätzung der Befragten zu den Adressaten herausgearbeitet. Demnach werden die Einrichtungen als Angebote gesehen, die nur für einzelne Gruppen vorgesehen sind, denen sich die Befragten selbst nicht zuordnen, zum Beispiel Migranten, Frauen, Hilfebedürftige (Klatt und Walter 2011, 161). Aber nicht nur ideelle Ressourcen und Kompetenzen stellen Voraussetzungen für die Aufnahme eines Engagements dar, sondern auch die finanziellen Rahmenbedingungen. So scheitert der Einsatz im freiwilligen Engagement teilweise daran, dass von den Organisationen keine Aufwandsentschädigungen für Fahrtkosten gezahlt werden können (Schulz 2010, 205). Der Freiwilligensurvey bezieht Stellung zu diesem Thema. Im Fragebogen ist dazu folgende Frage enthalten: „Können Sie für finanzielle Auslagen ihrer Tätigkeit gegen Nachweis eine Kostenerstattung erhalten?“ (Gensicke und Geiss 2010, Anhang Frage B1– 22). Aus der Untersuchung geht hervor, dass 74 Prozent der Befragten dies verneinen. Diese Zahl steht für die eingeschränkten Möglichkeiten seitens der Institutionen, Aufwandsentschädigungen zu zahlen. Dies stimmt mit dem Befund von Bütow, Chassè und Hirt überein, dass die Ressourcenausstattung Sozialer Arbeit zunehmend eingeschränkt wird (Bütow, Chassé und Hirt 2008). Davon ist auch die Ausstattung mit entsprechenden Sachkosten wie Aufwandsentschädigungen betroffen. Für sozial benachteiligte Engagierte sind aus diesem Zusammenhang über die Jahre zunehmende Zu-

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 gangshürden zum Engagement ersichtlich. Diese haben aufgrund ihres soziokulturellen Status häufig eingeschränkte finanzielle Möglichkeiten. Somit besteht kaum Spielraum für Engagement, das mit Kosten verbunden ist. Ähnlich argumentiert Munsch im Sinne eines verwehrten Zugangs zum Engagement. Die Lebensbedingungen sozial benachteiligter Menschen erfordern aufgrund reduzierter Macht- und Interaktionsmöglichkeiten, vorhandene Ressourcen fast ausschließlich für die Existenzsicherung einzusetzen. Erst wenn die fundamentalen Bereiche „Familie“ und „Erwerbsarbeit“ abgesichert sind, werden Potenziale genutzt, sich darüber hinaus zu engagieren (Munsch 2005,133). Hieran schließt die Fragestellung an, inwiefern sich sozial benachteiligte Menschen freiwillig engagieren, obwohl sie im Blick auf ihre Lebenslage einschließlich finanzieller Situation dazu keinen Anlass hätten. Es ist erklärungsbedürftig, weshalb sich ein Teil der Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, freiwillig engagiert, während andere keinen Zugang dazu finden. Zusammenfassend kann zu den Ressourcen folgende Schlussfolgerung festgehalten werden: Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, werden mit verschiedenen Hürden beim Zugang zum Freiwilligenengagement konfrontiert. Diese bezeichnen zum Beispiel den eingeschränkten finanziellen Handlungsspielraum, eine unterdurchschnittliche Einbindung in formelle und informelle soziale Netzwerke, einen einfachen Bildungsstatus. Demzufolge ergibt sich eine eher defizitorientierte Sichtweise auf das Engagement sozial benachteiligter Gruppen. In der vorliegenden Arbeit soll demgegenüber aus der ressourcenorientierten Perspektive die Forschungsfrage folgendermaßen formuliert werden: Welche biografischen Wirkungszusammenhänge begründen die Herausbildung freiwilligen Engagements bei sozial benachteiligten Menschen?



Teil C Forschungsprozess

Die Forschungsfrage der vorliegenden Studie wird mit Methoden der qualitativen Sozialforschung bearbeitet. Im Teil C wird zunächst die Auswahl der Forschungsmethodik begründet (C 1). Vertiefend dazu werden biografietheoretische Grundlagen erörtert (C 2). Auf dieser Basis wird der Ablauf im Forschungsverfahren vorgestellt. Die Datenerhebung mittels biografisch-narrativer Interviews und Familiengenogrammen wird erläutert, indem jeweils das theoretische Konzept und dessen Anwendung im Forschungsverfahren detailliert beschrieben wird (C 3). Abschließend wird das Auswertungsverfahren in seiner theoretischen Konzeption und in der Anwendung in der Forschungspraxis dargelegt (C 4).

1 AUSWAHL DES F ORSCHUNGSDESIGNS Ausgehend von der Forschungsfrage wird eine geeignete Methode benötigt, um die Entstehungszusammenhänge freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf zu erforschen. Das Forschungsinstrumentarium soll die Untersuchung biografischer Zusammenhänge ermöglichen. Es soll die Bedeutung von Lebensereignissen und von persönlichen Entwicklungsprozessen sowie von Entscheidungs- und Handlungsmustern in den Blick nehmen. Weiterhin sollen Rückschlüsse auf den Einfluss vorangegangener Generationen im System der Herkunftsfamilie gezogen und der sich verändernde äußere Rahmen analysiert werden können. Auf die Formulierung von Hypothesen im Vorfeld des Forschungsprozesses wird verzichtet, um zu vermeiden, dass die Forschungsergebnisse durch theoretische Vorannahmen beeinträchtigt werden. Theoretische Erkenntnisse werden somit auf der Grundlage von Daten generiert (Glaser und Strauss 1998, 32f). Es wird ein Instrumentarium gesucht, mit dem möglichst offen an das Forschungsfeld herangegangen werden kann.

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 Dementsprechend bietet sich die qualitative Sozialforschung als optimale Herangehensweise an. Die Begriffsdefinition von Ernst von Kardorff bringt die unterschiedlichen Ansätze qualitativer Forschung auf folgenden kleinsten gemeinsamen Nenner: „Qualitative Forschung hat ihren Ausgangspunkt im Versuch eines vorrangig deutenden und sinnverstehenden Zugangs zu der interaktiv hergestellt und in sprachlichen wie nicht-sprachlichen Symbolen repräsentiert gedachten sozialen Wirklichkeit“ (Kardorff 2010, 4). Als Kennzeichen führt er weiter die möglichst vollständige Erfassung der sozialen Phänomene, das Prinzip der Offenheit sowie die Interaktion von ForscherIn und TeilnehmerIn im Forschungsprojekt an (Kardorff 2010, 4). Demzufolge ermöglicht die qualitative Sozialforschung einen offenen und direkten Zugang zu den sozialen Wirklichkeiten. Die Datengrundlage für das Forschungsprojekt bilden biografisch-narrative Interviews. Zusätzlich werden Familiengenogramme erhoben, deren Analyse die Interviewauswertung in einigen Fällen ergänzt. Familiengenogramme bieten insbesondere die Möglichkeit, intergenerative Prozesse bei der Engagementherausbildung zu berücksichtigen. Die Auswertung der Materialien erfolgt durch sequenzielle Analyse. Diese ergibt jeweils Merkmale, die für den Einzelfall zur Engagementherausbildung beitragen. Die Merkmale werden in Fallbeschreibungen erfasst und abschließend in jedem Fall in einer biografischen Gesamtformung zusammengeführt und auf ihre biografische Bedeutung untersucht. Im Ergebnis werden die Merkmale der Einzelfälle in Bezug zueinander gesetzt. Durch kontrastive Vergleiche werden die unterschiedlichen Merkmale fallübergreifend zusammengestellt. Auf dieser Grundlage werden Typen der Engagementherausbildung erarbeitet, welche die biografische Bedeutung des freiwilligen Engagements widerspiegeln. Somit wird mit dem biografisch-narrativen Interview und der Genogrammanalyse als Instrumentarien der qualitativen Sozialforschung die biografische Entwicklung von Handlungs- und Entscheidungsstrukturen unter dem Einfluss der verschiedenen Rahmenbedingungen rekonstruiert. In der Zusammenschau der Ergebnisse mit dem aktuellen Forschungsstand zum Thema wird ein Beitrag geleistet, Theorie im Bereich Engagementforschung weiterzuentwickeln.



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2 B IOGRAFIETHEORETISCHE G RUNDLAGEN Den Hintergrund für die Auswahl qualitativer Forschungsmethoden stellen biografietheoretische Grundlagen dar. Die Frage, wie sich die Lebensrealität freiwillig engagierter Menschen entwickelt, führt zur grundlegenden Frage nach einer wissenschaftlichen Wirklichkeitsauffassung. Winfried Marotzki formuliert diejenige der qualitativen Sozialforschung in Anlehnung an prominente Begründer wie die Anhänger der Chicagoer Schule und die Gruppe der Bielefelder Soziologen folgendermaßen: „Wirklichkeit wird als eine zu interpretierende verstanden, und zwar nicht nur in der Weise, dass sie in hohem Maße interpretierungsbedürftig ist, sondern sie konstruiert sich erst in den Interpretationen der Akteure“ (Krüger und Marotzki 1999, 112). Eine große Rolle in der qualitativen Sozialforschung spielt also die subjektive Sichtweise der Biografieträger auf die Erlebnisse. Zirkulär nehmen die Interpretationen und die dadurch erworbenen Grundhaltungen Einfluss darauf, auf welche Art und Weise die Akteure weitere Ereignisse angehen. Wie ein Mensch soziale Wirklichkeit sieht, interpretiert und bewertet und im biografischen Verlauf selbst gestaltet, ist auch davon abhängig, welche Position er im sozialen Gefüge einnimmt. Als soziales Wesen ist er nicht auf sich allein gestellt, sondern erhält direkt und indirekt Zugang zu den informellen Netzwerkstrukturen und dem gemeinsam geteilten Wissen seines Umfeldes. Durch soziale Interaktion wird der Mensch Träger gemeinsam geteilten Wissens. (Glinka 1998, 16) Wird beispielsweise in einem Interview thematisiert, wie soziale Wirklichkeit spezifisch erlebt wird, fungiert die Sprache als Vermittler dieser Bedeutungszuschreibungen. Liegt die Sprache verschriftlicht, also in Textform vor, dient der Text als Speichermedium für Informationen. Diese betreffen nicht nur den unmittelbaren Sinngehalt. Darüber hinaus beinhalten Texte einen breiten Fundus an Wissen, welches aus der aus der Art der Formulierungen, der Themenabfolge, der Wortwahl und weiteren Merkmalen rekonstruiert werden kann. Der sprachliche Ausdruck individueller Sinnzuschreibung durch die BiografieträgerIn resultiert nicht nur aus ihrer eigenen Anschauung. Es fließen auch die im Lauf des Lebens integrierten Wertvorstellungen, gesellschaftlichen Auffassungen und normativen Anforderungen sowie die Auseinandersetzung mit den konkreten Lebenserfahrungen ein. Somit werden in der qualitativen Forschung die „grundlegenden Hervorbringungsprozesse, Erzeugungsbedingungen und Funktionsmechanismen“ (Schütze 2005, 214) der sozialen Wirklichkeit analysiert. Die Abläufe und Muster, welche den identitätsstiftenden und -lenkenden Prozessen zugrunde liegen, werden in ihrer Bedeutung für das Individuum und für die kollektiv-historische Entwicklung sichtbar (Glinka 1998, 27).

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 In diesem Sinne ist Biografie als ein lebenslanger Lernprozess zu verstehen, dessen Resultat die individuellen Entscheidungen und Handlungen darstellen. Konkret angewendet werden diese Zusammenhänge beispielsweise in der erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung. Alheit und Dausien (2009) erläutern einige zentrale Prinzipien erziehungswissenschaftlicher Biografieforschung, unter anderem das Lernen als biografischer Prozess, den Eigensinn biografischen Lernens, die Bildung als Formation sozialer Verhältnisse und die Grundlage eines gesellschaftlichen Lehrplans. Diese sind auch für das vorliegende Forschungsprojekt von großer Bedeutung. Lernen als biografischer Prozess stellt nach Alheit und Dausien das Zusammenspiel verschiedener Aspekte bei der Entwicklung einer individuellen Gesamtgestalt lebensgeschichtlicher Sinnzuschreibung dar. Diese Aspekte umfassen die von der Person erlebten Ereignisse, die in den Wissensfundus integrierten Kenntnisse und Einsichten sowie die Kontextgebundenheit zum Beispiel in Bezug auf die jeweilige Lebenswelt (Alheit und Dausien 2009, 726). Selbst schwierige Phasen im Laufe des Lebens, die mit Entbehrungen und Konflikten einhergehen, tragen zur Erweiterung des persönlichen Erfahrungsschatzes bei und werden mit dem vorhandenen Wissen abgeglichen. Charakteristisch für den biografischen Lernprozess ist seine Subjektgebundenheit. Das heißt, er ist wesentlich durch die individuellen Besonderheiten, Präferenzen und sich entwickelnden Entscheidungsstrukturen des Biografieträgers bestimmt. Diese Art der Erfahrungsaufschichtung beschreiben Alheit und Dausien treffend folgendermaßen: „Lebensgeschichtliches Lernen ist also einerseits interaktiv und sozial strukturiert, folgt andererseits aber einer „individuellen Logik“, die durch die je besondere biografisch aufgeschichtete Erfahrungsstruktur erzeugt wird. […] Sie ist eine offene Struktur, die neue Erfahrungen im Umgang mit der Welt, mit anderen und sich selbst integrieren muss“ (Alheit und Dausien 2009, 728). Im Sinne von Bildung als Formation sozialer Verhältnisse nimmt der Mensch eben auch kollektives Wissen und kollektive Praxis in die eigene Erfahrungsstruktur auf (Alheit und Dausien 2009, 728). Grundlage hierfür bildet ein „gesellschaftliches Curriculum“ (Alheit und Dausien 2009, 723), das alle formellen und informellen normativen Ansprüche, die während seiner Lebensspanne an das Subjekt gestellt werden, umfasst. Diese Form von Lehrplan ist jeweils auf die soziale Situation der Subjekte abgestimmt, erweist sich in gewissen Grenzen flexibel und wird prozesshaft mit der Lebensrealität abgeglichen. (Alheit und Dausien 2009) Auf der biografietheoretischen Grundlage dieser Prinzipien gliedert sich der Forschungsablauf in die Schritte Datenerhebung und Datenauswertung. Dabei wird mit der Erhebung und Auswertung weiterer Daten der jeweilige Stand im

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 Forschungsprozess weiterentwickelt. Diese zirkuläre Bezugnahme auf bereits erarbeitete Teilergebnisse erfolgt in der Tradition von Glaser und Strauss, die Forschungsschritte parallel auszuführen: „Sie sollten von Anfang der Untersuchung an bis hin zu ihrem Ende ineinander übergehen und sich permanent überkreuzen“ (Glaser und Strauss 1998, 53).

3 D ATENERHEBUNG Im Folgenden wird das Forschungskonzept theoretisch begründet (C 3.1) Dazu werden die beiden Erhebungsverfahren vorgestellt. Im Anschluss daran wird beschrieben, wie das Forschungskonzept praktisch durchgeführt und konkret umgesetzt wird (C 3.2). 3.1 Theoretisches Konzept der Erhebungsmethoden Die Erhebung der für die Materialauswertung und für die Ableitung von Forschungsergebnissen relevanten Daten erfolgt in erster Linie durch biografischnarrative Interviews. Für jedes Interview wird ein Interviewprotokoll angefertigt, in welchem sowohl die Besonderheiten der jeweiligen Interviewsituation berücksichtigt als auch Informationen festgehalten werden, die durch den Biografieträger außerhalb des biografisch-narrativen Interviews gegeben werden. „Kontextinformationen über […] den jeweiligen Einzelfall sind hilfreich und werden im Verlauf des Interpretationsprozesses […] in methodisch kontrollierter Weise mit einbezogen“ (Kleemann, Krähnke und Matuschek 2009, 28). Als Voraussetzung für die Verwendung dieser Daten gilt die Verschriftlichung (ebd., 28). Ergänzend wird jeweils ein Familiengenogramm erhoben, in dem harte Daten wie Namen, Geburtsdaten, Berufe und Umzüge der Familienangehörigen festgehalten werden. Außerdem wird deren Einbindung in freiwillige Engagements notiert. 3.1.1 Erhebungsmethode: Biografisch-narratives Interview Das biografisch-narrative Interview geht auf Fritz Schütze zurück und zielt darauf ab, die InterviewpartnerIn zu einer möglichst umfangreichen Erzählung der eigenen Lebensgeschichte anzuregen (Fischer-Rosenthal und Rosenthal 2002, 139). Die Erzählsituation im biografisch-narrativen Interview ist sehr spezifisch. Sie unterscheidet sich von einem Gespräch, das in einer normalen Alltagssituation zwischen zwei Gesprächspartnern stattfindet. Im Rahmen des biografischnarrativen Interviews redet hauptsächlich die InterviewpartnerIn, nachdem der

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 Interviewer zum Erzählen der Lebensgeschichte auffordert. Im Verlauf der Erzählung unterstützt der Interviewer lediglich den Erzählfluss durch aufmerksames Zuhören und durch kurze Rückmeldungen des Verstehens. Allein im Nachfrageteil (s. unten) werden vertiefende Fragen zur Erzählung und zum Forschungsthema gestellt. Der Erzähler erinnert aus dem Stehgreif die Ereignisse seines Lebens. Hier wird der Unterschied beispielsweise zu einer Rede sichtbar, deren Text häufig bis ins Detail vorbereitet wird und durch Stichpunkte unterstützt werden kann. Der Erzähler versetzt sich in die jeweils erlebte Situation zurück und vollzieht sie noch einmal nach. Dennoch übernimmt der Erzähler die Perspektive einer Rückschau. Die Ereignisse werden im Nachgang des Erlebens reflektiert, bewertet und in das Gesamtbild der Lebensgeschichte eingeordnet. (Glinka 1998, 27) Eine wesentliche Besonderheit dieser Interviewform ist, dass sie im breiten Spektrum zwischen Erfahrung und Erzählung verläuft (Kauppert 2010). Die narrative Erzählung der Lebensgeschichte ist zwischen diesen beiden Extrempolen angesiedelt: a) Die Vergangenheit wird entsprechend der Intention, die den Erzähler zum Zeitpunkt des Interviews bewegt, konstruiert und b) die Erzählung entspricht exakt den Abläufen, wie sie sich im Erlebniszeitraum abgespielt haben (ebd., 24). Während der Selbstpräsentation im biografisch-narrativen Interview kommen die Zugzwänge des Erzählens zum Tragen, laut Schütze sind diese der Kondensierungszwang, der Detaillierungszwang und der Gestalterschließungszwang (Schütze 1984). Kondensierungszwang meint, dass die BiografieträgerIn beim Erzählen aus der Vielzahl der Erlebnisse und Ereignisse die für das Interview bedeutsamen auswählen muss. Dabei konzentriert sie sich auf die entscheidenden Erinnerungen, die jeweils damit verbunden sind. Um die Geschichte für den Zuhörer nachvollziehbar erscheinen zu lassen, muss dabei auf entsprechende Zusammenhänge verwiesen werden. Der Detaillierungszwang besagt, dass genügend Einzelinformationen gegeben werden müssen, damit die Erzählung plausibel belegt ist. Im Gestalterschließungszwang geht es darum, einen Gesamtzusammenhang zu konstruieren, in den sich die einzelnen Erzählketten mit einem bestimmten Sinn einfügen (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 36). Schütze entwickelte das biografisch-narrative Interview ursprünglich dreigeteilt. Am Anfang steht der durch die Erzählaufforderung hervorgerufene Hauptteil der Erzählung. Daran schließt sich der narrative Nachfrageteil an. Hier werden einzelne Themen, Stichworte oder Unklarheiten aus der Haupterzählung aufgegriffen und vertieft. Den dritten Teil bilden Nachfragen, aufgrund derer der Erzähler seine Eigentheorien in Form von Beschreibungen und Erklärungen erläutert. Dieses Ablaufschema wird verschiedentlich weiterentwickelt, unter

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 anderem von Rosenthal. Sie empfiehlt für den dritten Teil forschungsthemenbezogenes Nachfragen (Rosenthal 2011, 151f). Das Prinzip der Offenheit kann beim biografisch-narrativen Interview in hohem Maß realisiert werden (ebd., 140). Die Eingangsfragestellung wird so formuliert, dass dem Interviewpartner die Entscheidung darüber bleibt, was und in welcher Reihenfolge er erzählt. Das Gespräch wird nicht in eine bestimmte Richtung gelenkt, sondern es können die Aspekte zum Tragen kommen, die tatsächlich für den Erzähler Relevanz besitzen. Für Rosenthal kommt es darauf an, dass die „Befragten ihre Perspektive entfalten können“ (ebd., 141). Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich gewisse kommunikative Wechselwirkungen in der Interviewsituation nicht vermeiden lassen (Krüger und Marotzki 1999, 127). Um die potenziellen Befragten für die Teilnahme am Interview zu interessieren, müssen einige Vorinformationen gegeben werden. Diese sind umso schwerer kontrollierbar, sobald der Kontakt zur InterviewteilnehmerIn über Dritte, zum Beispiel institutionelle Kooperationspartner, vermittelt wird. Es ist nötig, zumindest kurz zu erklären, wozu das Interview dient und welchem Thema es gewidmet ist. Erst dann kann der potenzielle Befragte entscheiden, ob er teilnimmt. Es ist möglich, dass von dem Vorgespräch eine gewisse Beeinflussung auf die Erzählung ausgeht, obwohl die Befragten in der Regel bemüht sind, so wahrheitsgemäß wie möglich zu erinnern (Fuchs-Heinritz 2009, 203f). Diese Wirkungen und weitere Reaktionen der InterviewteilnehmerInnen auf Anmerkungen der Forscherin im Interviewverlauf müssen nicht als Störgröße verstanden werden. Sie ermöglichen einen gewissen Austausch im Sinne einer gemeinsamen Herausarbeitung von Erkenntnissen, wie Rosenthal in Anlehnung Holstein und Gubrium43 konstatiert (Rosenthal 2011, 141). In den biografisch-narrativen Interviews werden diese Anmerkungen bzw. Aussagen der Interviewerin jedoch sehr knapp gehalten und dienen in erster Linie dazu, den Erzählfluss aufrecht zu erhalten. So werden durch die biografisch-narrativen Interviews Daten erhoben, welche die Grundlage für die „Rekonstruktion komplexer sozialer und biografischer Prozesse“ (Hoffmeyer-Zlotnik 1992, 25) bilden. Durch die Offenheit, mit der dem Forschungsgegenstand entgegengetreten wird, können soziale Phänomene ihre ganzheitliche Gestalt in ihrer Bedeutung für das Individuum in seinem sozialen Kontext entfalten. Die Zusammenhänge können so rekonstruiert werden, wie sie aus dem Datenmaterial aufscheinen (Glinka 1998, 28).

 43 Holstein, J.A.; Gubrium, J.F. (1995): The aktiv Interview. Thousand Oaks. Sage.

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 3.1.2 Erhebungsmethode: Familiengenogramm Fuchs-Heinritz spricht sich insbesondere bei der Erforschung transgenerativer Prozesse für eine Kombination lebensgeschichtlicher Interviews mit anderen Erhebungsverfahren aus (Fuchs-Heinritz 2009, 231). Hildenbrand arbeitet in der Erforschung familiengeschichtlicher Zusammenhänge mit der Erfassung von Daten in Genogramme (Hildenbrand 2005). Er bezieht sich dabei auf die weite Verbreitung der Genogrammarbeit in der systemischen Therapie und in der Familientherapie, entwickelt jedoch für die Familienforschung ein spezifisches Verfahren (Hildenbrand 2005, 10). Der Hauptunterschied zur Anwendung von Genogrammen in der Familientherapie besteht darin, dass Genogramme nicht als Überblick über die Familienverhältnisse dienen, sondern als Grundlage für die sequenzielle Analyse (Hildenbrand 2005, 17). Hildenbrand betont, dass das individuelle Handeln sowohl von äußeren Wirkungszusammenhängen wie familiären und gesellschaftlichen Gegebenheiten als auch von der individuellen Gestaltung bestimmt wird (Hildenbrand 1998, 205). Die Genogrammanalyse als Untersuchungsmethode der qualitativen Sozialforschung ermöglicht die Untersuchung familiärer Entscheidungsmuster, welche über mehrere Generationen hinweg wirksam sind (Hildenbrand 1998, 211). Ein Genogramm ist die grafische Darstellung familiengeschichtlicher Daten in einer Übersicht. Es handelt sich um Daten zu lebensgeschichtlichen Ereignissen wie Geburtsdatum, Beruf, Heirat, Umzüge. In der Darstellung wird auch die Position der Familienangehörigen in der jeweiligen Geschwisterreihe ersichtlich. Es werden mindestens drei Generationen berücksichtigt. Es werden zunächst nur objektive Daten in das Genogramm aufgenommen. Angaben zu den Beziehungsstrukturen bzw. zur subjektiven Sichtweise der Informanden zu den Beziehungen der Familienangehörigen untereinander werden separat dokumentiert. In der sequenziellen Analyse werden die Handlungsoptionen und die Lebensentscheidungen der einzelnen Familienmitglieder nacheinander herausgearbeitet. So wird beispielsweise überlegt, welche Möglichkeiten der Berufswahl für einen Menschen gegeben sind. Anhand der tatsächlichen Entscheidung in dieser Lebenssituation wird erkennbar, auf welche Art und Weise der Mensch diesen Prozess bewältigt. Möglicherweise orientiert er sich etwa an familiären Traditionen oder räumliche Flexibilität ist für ihn selbstverständlich. Auch die Partnerwahl, die Option der Eheschließung, die Anzahl der Kinder und die Wahl des Wohnortes werden auf diese Weise durchdrungen (Hildenbrand 2005, 19). Daraus ergeben sich die spezifischen handlungsleitenden Strukturmerkmale, die für diese Personen kennzeichnend sind. Es sind die Muster, „welche die Lebenspraxis der Akteure in ihrer spezifischen Logik immer wieder hervorbringen“ (Hildenbrand 2005, 16). Die Gesamtschau der in der Familie vorkommenden

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 besonderen Strukturen ergibt die Fallstrukturhypothese dieser Familie. Sie bringt die Zusammenhänge der Entstehung von konkreter Lebenspraxis in dieser Familie auf den Punkt. 3.2 Durchführung der Erhebungsmethoden im Forschungsprozess Ausgangspunkt für die Auswahl der TeilnehmerInnen am Forschungsprojekt stellen Kontakte zu einer sozialen Einrichtung einer ostdeutschen Wohnblocksiedlung dar. Die ersten InterviewpartnerInnen sind Personen, die in diesem institutionellen Kontext freiwillig engagiert sind. Welche räumliche Umgebung für die Treffen ausgewählt werden, wird jeweils mit den InterviewpartnerInnen abgesprochen. In den meisten Fällen dient der private Kontext der ErzählerInnen als Raum für die Gespräche. Einige Interviews finden in institutionellen Räumen im Stadtteil statt. Mit jeder InterviewpartnerIn werden zwei bis drei Termine vereinbart. Das erste Treffen dient dem biografisch-narrativen Interview. Beim zweiten Treffen werden die Daten für das Familiengenogramm aufgenommen. In Fällen, in denen für eines der beiden Erhebungsinstrumente noch Zeit benötigt wird oder in denen noch Fragen zu klären sind, findet ein drittes Treffen statt. 3.2.1 Anwendung des Biografisch-narrativen Interviews Die Einstiegsfrage ins biografisch-narrative Interview wird als offene Fragestellung formuliert, die zum weitläufigen Erzählen anregen soll: „Vielen Dank, dass sie sich zur Teilnahme am Interview bereit erklärt haben. Und dafür ist ihre Lebensgeschichte interessant und wichtig. Ich würde sie jetzt bitten, einfach mal zu erzählen, wie in ihrem Leben so nach und nach alles gekommen ist. Also wie sie ihr Leben bis jetzt erlebt haben“.44 Dabei sind kleinere Abweichungen möglich, je nachdem, wie sich die Kommunikationssituation gestaltet. Nach Beendigung der ersten Phase des freien Erzählens folgt im Forschungsprojekt der immanente Nachfrageteil zu bereits im Interview angesprochenen Themen. In Anlehnung an Rosenthal werden im dritten Teil Fragen gestellt, die auf Informationen zum Forschungsthema abzielen (vgl. C 3.1). Soweit im Hauptteil noch nicht zur Sprache gekommen, wird dementsprechend die Aufmerksamkeit auf das freiwillige Engagement der InterviewteilnehmerIn und den gesellschaftlichen Wandel gelenkt. „Wie kam es, dass sie Menschen in Notsituationen beigestanden haben?“ „Können sie sich an Situationen erinnern,

 44 Zitat Interviewtranskript

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 in denen sie fremden Menschen geholfen haben?“ „Übernehmen sie Aufgaben außerhalb von Familie und Freundeskreis?“ „Wie entstand bei Ihnen die Bereitschaft, für andere da zu sein und wie hat sie sich weiter entwickelt?“ „Wie gestaltet sich das Miteinander im Haus?“ „Wie haben sie die Wende erlebt?“ All das sind Fragen, die abhängig vom bisherigen Verlauf des Interviews im dritten Teil gestellt werden. Die Interviews haben einen zeitlichen Umfang von etwa ein bis drei Stunden und werden vollständig transkribiert. Nach dem Interview wird jeweils ein Beobachtungsprotokoll angefertigt, in dem die Merkmale und Besonderheiten der Interviewsituation sowie außerhalb der digitalen Aufzeichnung gegebene Informationen festgehalten sind. Im Anschluss an das Gespräch werden die interviewten Personen jeweils gebeten, sich in ihrem Bekanntenkreis nach weiteren infrage kommenden Personen umzusehen. Auf diese Art des Schneeball-Prinzips, mit dem zum Beispiel auch Przyborski und Wohlrab-Sahr arbeiten (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, 72), erfolgt allerdings keine Erweiterung des Samples. Auch einer Einladung zur Interviewteilnahme in der Stadtteilzeitung folgen keine Rückmeldungen. Werner Fuchs-Heinritz verweist auf die Möglichkeit, im Forschungsfeld verortete Personen zur Vermittlung von Interviewpartnern anzusprechen (FuchsHeinritz 2009, 237). In diesem Sinne werden in einem weiteren Schritt systematisch die im Wohngebiet befindlichen institutionellen Kooperationspartner sowie die Mitarbeiter der im Stadtzentrum angesiedelten Ehrenamtszentrale angesprochen. Das systematische Vorgehen leitet sich aus dem von Glaser und Strauss entwickelten Prinzip des Theoretical Sampling ab. Danach wird schon bei der Auswahl der Interviewpartner auf die Ermöglichung umfassender Theorieentwicklung abgezielt (Glaser und Strauss 1998, 54). „Der Forscher wählt so viele Gruppen, wie ihr Vergleich ihm dabei hilft, möglichst viele Eigenschaften von Kategorien zu generieren und diese aufeinander zu beziehen.“ (ebd., 57) Diese Anforderung bedeutet für das aktuelle Forschungsprojekt, freiwillig Engagierte aus allen möglichen unterschiedlichen engagementrelevanten Bezügen zu suchen. Bei der Auswahl der Interviews für die detaillierte Auswertung mit Fallbeschreibung wird jeweils nach Fällen gesucht, die innerhalb der Auswahlkriterien breite Kontraste aufweisen. Damit wird ebenfalls darauf abgezielt, die Vielfalt sozialer Praxis in Bezug auf die Engagementherausbildung zu erfassen. Somit ergeben sich durch die Vermittlung Dritter Kontakte zu weiteren InterviewpartnerInnen. Dabei erklärt sich ein relativ hoher Anteil der Teilnehmer erst nach mehreren Kontakten zum Interview bereit. Einige Menschen stehen selbst nach intensiven Bemühungen nicht für ein Interview zur Verfügung. Die Begründungen hierfür sind unterschiedlich, mehrfach wird angeführt, dass das Erzählen der eigenen Biografie zu viele unangenehme Erinnerungen wecken

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 würde. Dennoch führen die beschriebenen Wege der Interviewpartnersuche dazu, dass eine Vielfalt von Menschen sich zu einem Interview bereit erklärt. Es werden 11 Interviews geführt, transkribiert und dazugehörige Familiengenogramme erstellt. 3.2.2 Erhebung von Familiengenogrammen im Forschungsprozess In einem zweiten Gespräch wird mit jeder InterviewteilnehmerIn ein Familiengenogramm aufgenommen. Dabei wird neben den harten Daten (Geburtsdatum, Geburtsort, Ausbildungsberuf, ausgeübte Berufe, schwere Krankheiten, Umzüge, Heiratsdatum, Kinder, Sterbedatum) auch festgehalten, inwieweit die Familienangehörigen in freiwillige Engagements eingebunden sind. Außerdem wird nach Besonderheiten der einzelnen Familienmitglieder aus der Sicht der InterviewpartnerIn gefragt, zum Beispiel werden auffällige Beziehungskonstellationen dokumentiert. Zur Aufnahme der Genogramme ist anzumerken, dass das Wissen der InterviewteilnehmerInnen zur eigenen Familiengeschichte häufig nicht vollständig ist. Von einigen InterviewpartnerInnen werden nicht zu allen Familienangehörigen die entsprechenden Daten erinnert. Dann sind der InterviewpartnerIn die Daten selbst nicht bekannt bzw. die jeweiligen Ereignisse werden nicht im Rahmen des Interviews an die Öffentlichkeit getragen. Aus forschungsethischen Gründen verbietet es sich bei diesen InterviewpartnerInnen, hartnäckig zu recherchieren. Bleiben die Ereignisse trotz behutsamen Nachfragens im Dunkeln, wird das Genogramm lediglich mit den zur Verfügung stehenden Daten ausgestattet. Wird solch ein Genogramm sequenziell analysiert, kommt es darauf an, auch die Leerstellen entsprechend zu interpretieren. Was bringt den Interviewpartner dazu, diesbezüglich zu schweigen? Was bedeutet diese Zurückhaltung für ihn? Welche Loyalitäten kommen zum Ausdruck? Welche Möglichkeiten, die Datenlücke zu schließen, bestehen und was würden sie für das Familiensystem bedeuten? Beim Umgang mit Tabus und Familiengeheimnissen im Interview ist große Vorsicht geboten, da die Informationen oft nicht ohne Grund außen vor bleiben. Meist besitzen Sie eine spezifische Funktion für das Familiensystem, zum Beispiel die Schutzfunktion. Inhaltlich können zum Beispiel Adoptionen, uneheliche Geburten, Suchtverhalten, Missbrauch, Traumata, sexuelle Orientierung, Selbstmord, Beteiligung am Kriegsgeschehen verschwiegen werden oder dazu führen, dass die damit in Verbindung stehenden Personen tabuisiert werden (Imber-Black 1995, 9; 46). Meist sind es Themen, die in der Öffentlichkeit bzw. in der vorherrschenden Kultur anstößig sind und Stigmatisierung, Beschuldigung und Verachtung zur Folge haben (ebd., 23).

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 Ob ein Geheimnis im Rahmen eines Interviews gelüftet werden sollte, hängt von verschiedenen Konstellationen ab. Zum einen ist für eine derartige Eröffnung eine Vertrauensbasis besonderer Qualität nötig. In der Regel entsteht zwar im Erzählvorgang eine gute Beziehung, dazu trägt das geduldige Zuhören und Verständnis zeigen bei. Doch ein narratives Interview ist kein therapeutisches Gespräch. Es ist fraglich, ob die Offenbarung von bisher geheim gehaltenen Ereignissen wie zum Beispiel massive Gewalterfahrungen in diesem Rahmen von der Forscherin aufgefangen werden können. Durch das Aussprechen können innerpsychische Reflexionen und Dynamiken ausgelöst werden. Die Folge kann ein extremer emotionaler Ausbruch während des Gesprächs sein. Auch einige Zeit später können Nachwirkungen auftreten, der Umgang mit den neuen Gedanken und Gefühlen bringt Umbrüche und Unruhe mit sich (ebd., 89). Meist ist therapeutische Hilfe und Unterstützung für die Person nötig, um die Informationen zu verkraften (ebd., 105). In der therapeutischen Arbeit ist das Aufdecken eines Familiengeheimnisses der erste Schritt einer häufig langwierigen Arbeit. Die Ereignisse müssen neu bewertet, die Folgen der Geheimhaltung aufgearbeitet und neue Verhaltensweisen eingeübt werden (ebd., 35). Es ist genau zu prüfen, wer diesen Prozess begleiten kann, sollte das Tabu im Interview gebrochen werden. In der vorliegenden Studie wird darauf verzichtet, über das Maß interessierten Nachfragens hinaus Informationen aufzudecken. Neben Tabus und Familiengeheimnissen spielt teilweise auch der soziale und kulturelle Hintergrund der Interviewpartner eine Rolle, wenn Informationen nur fragmentarisch erinnert werden. In einigen Fällen des Samples wird dem exakten Überliefern von Daten innerhalb der Familie wenig Bedeutung beigemessen. Beispielsweise ist es angesichts extrem knapper finanzieller Ressourcen möglicherweise unwesentlich, wann der Großvater geheiratet hat oder welchen Beruf die entfernt wohnende Tante ausübt. In bestimmten sozialen Milieus wird weniger Wert darauf gelegt, alte Dokumente, die diese Daten sichern, aufzubewahren bzw. an die Nachkommen zu überliefern. Die Genogramme weisen also teilweise Datenlücken auf. Dennoch ergänzen und erweitern sie das Bild zu den BiografieträgerInnen nicht unwesentlich. In den Fällen, in denen die Analyse des Genogramms zur Fallauswertung hinzugezogen wird, kommen trotz Datenlücken die strukturellen Muster deutlich zum Vorschein, so dass jeweils eine Fallstrukturhypothese gebildet werden kann. Die vorhandenen Daten beinhalten Wissen und auch die Art der fehlenden Informationen trägt dazu bei, die Besonderheiten des jeweiligen Falls zu klären.

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4 AUSWERTUNG DER D ATEN Die Auswertung der Daten erfolgt auf der Grundlage der Narrationsanalyse nach Schütze (Schütze 1983) und der Grounded Theorie (Glaser und Strauss 1998). Erstes Ziel der Datenauswertung ist, wesentliche Merkmale abzuleiten, welche die Herausbildung freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf fördern. Die Merkmale werden in Merkmalsgruppen geordnet. Die Merkmale werden innerhalb der entsprechenden Gruppen als Wirkungszusammenhänge für die Engagementherausbildung dargestellt und für die einzelnen Fälle verglichen. Darauf aufbauend werden Typen entwickelt, die bedeutsame Ähnlichkeiten in der Fallstruktur aufweisen. Die Typen spiegeln die zentrale Bedeutung wider, die das freiwillige Engagement für die Befragten gewinnt. Zunächst wird das Vorgehen der Auswertung in seiner theoretischen Konzeption beschrieben (C 4.1), bevor auf die forschungspraktische Anwendung eingegangen wird (C 4.2). 4.1 Theoretisches Konzept der Auswertungsschritte Rosenthal verweist im Zusammenhang mit der Datenauswertung auf die Möglichkeit, ähnliche Verfahren der interpretativen Sozialforschung miteinander zu verknüpfen (Rosenthal 2011, 54). Diese Praxis ist auch bei anderen ForscherInnen üblich (z.B. Rahnfeld 2014). Dabei wird jeweils differenziert der Ursprung der jeweiligen Anteile dokumentiert. In Anlehnung daran erfolgt die Datenauswertung in der vorliegenden Studie methodisch nach den Verfahrensschritten der Narrationsanalyse nach Schütze45 und der Vorgehensweise von Przyborski und Wohlrab-Sahr46, die auf den Prinzipien der Grounded Theory47 basiert. Im Einzelnen werden die Schritte von der sequenziellen Analyse über die Fallbeschreibung mit biografischer Gesamtformung und das Sampling bis zum kontrastiven Vergleich der Merkmale und der Typenbildung im Folgenden differenziert erläutert (C 4.1.1 bis C 4.1.4).

 45 Erläutert beispielsweise in: Brüsemeister, Thomas (2008): Qualitative Forschung. Ein Überblick. Wiesbaden. VS. S. 134–149. 46 Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2010): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. 3. Aufl. München. Oldenbourg. S.193–217. 47 Glaser, Barney Galland; Strauss, Anselm L. (1998): Grounded theory. Strategien qualitativer Forschung. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle. Verlag Hans Huber. S.107– 123.

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 4.1.1 Sequenzielle Analyse Als Vorarbeit der Interview-Auswertung wird ein Überblick über den Interviewverlauf zusammengestellt. Dazu wird dokumentiert, welche Ereignisse in der Erzählung der Reihe nach bearbeitet werden. Es wird unterschieden, welche Themen in der Haupterzählung berücksichtigt werden und welche erst im Nachfrageteil zur Sprache kommen. Dabei deuten sich zum Beispiel schon individuelle Schwerpunkte der Sinnkonstruktion der BiografieträgerIn an. Weiterhin wird in dieser Phase anhand der biografischen Angaben ein Lebenslauf zusammengestellt, der neben der institutionellen Entwicklung alle zentralen Ereignisse im Leben des Erzählers überblicksartig erfasst. Diese Informationen bilden neben dem Protokoll zum Interview und dem Genogramm wichtiges Material zur Polykontextualität (Beushausen 2012, 17), um unterschiedliche Perspektiven bei der Materialauswertung einbeziehen zu können. Dieser Vorarbeit zur Auswertung folgt die sequenzielle Analyse des Interview-Textes im Anschluss an Schütze (1983). Sequenzielle Analyse meint zuerst die Aufgliederung des Textmaterials in Sequenzen, also in zeitlich-inhaltlich abgeschlossene Sinneinheiten (LuciusHoene und Deppermann 2004, 109) (Rosenthal 2011, 188). Im Anschluss an diese Aufgliederung wird die jeweilige Sequenz auf formale Besonderheiten untersucht und der Inhalt der Aussage erfasst. Erst dann folgt die Interpretation der Texteinheiten mit der Nebeneinanderstellung ihrer verschiedenen Lesarten. Dieser Schritt entspricht der strukturellen Beschreibung bei Schütze (Schütze 1983, 286). Schütze stellt den Bezug der jeweiligen Sequenz zu den vier Prozessstrukturen des Lebenslaufs in den Vordergrund. Im Einzelnen werden diese nach Schütze zum Beispiel von Fuchs-Heinritz beschrieben als Intentional getragene Prozessstrukturen, institutionelle Ablaufmuster des Lebenslaufs, Verlaufskurven und Wandlungsprozesse (Fuchs-Heinritz 2009, 316–318). Nach erfolgter struktureller Beschreibung liegen dem Interviewablauf folgende Thesen bzw. „abstrahierte Strukturaussagen“ (Bohnsack 2010, 94) vor. Diese gehen über eine Paraphrasierung hinaus, sind also schon interpretativ bearbeitet. Dennoch beziehen sie sich noch sehr stark auf die zugrunde liegenden Einzelheiten im Text, liegen also auf einem relativ niedrigen Abstraktionsniveau. Der Interpretation der Sequenzen kommt zentrale Bedeutung in der Auswertung zu. Es werden die Handlungsmuster der Interviewpartner analysiert (Brüsemeister 2008, 143) sowie die jeweilige Funktion für die Gesamterzählung und die Bedeutung der Textsorte untersucht (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, 134f). Es geht darum, grundlegende Einstellungsmuster, subjektiv gemeinten Sinn, das Erleben äußerer Beeinflussung sowie alle für die weitere Auswertung interessanten Lesarten bzw. Deutungsmöglichkeiten (Küsters 2009, 80)

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 zusammen zu tragen. Die Öffnung der Interpretation über die Orientierung an den Schütz’schen Prozessstrukturen im Lebenslauf hinaus ermöglicht sowohl die Einbindung grundlegender Handlungsstrukturen, als auch die Berücksichtigung von Leitorientierungen, persönlichen Zielen und Handlungsmotiven bei der Bildung der Thesen. Dabei wird jede Äußerung im Kontext der bereits getroffenen Aussagen betrachtet. Das Verständnis wird also vor dem Hintergrund dessen, was bis zu dieser Textstelle erzählt wird, entwickelt (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 100f). Ansonsten erfolgt die Interpretation kontextfrei, das heißt, im Blickpunkt steht lediglich die gerade untersuchte Textstelle. Es wird nicht vorgegriffen auf spätere Texte. Ebenso werden Kontextinformationen sowie in einigen Fällen die Ergebnisse der Genogrammanalyse erst dann einbezogen, wenn der Fall in seiner Gesamtschau betrachtet wird (vgl. C 4.1.2). 4.1.2 Fallbeschreibung mit biografischer Gesamtformung Auf der Grundlage der Thesen, die in der sequenziellen Analyse gewonnen sind, wird die nächste Ebene der Theoretisierung erreicht. Nach Schütze ist dies die Analytische Abstraktion. „Die abstrahierten Strukturaussagen zu den einzelnen Lebensabschnitten werden systematisch miteinander in Beziehung gesetzt, und auf dieser Grundlage wird die biografische Gesamtformung […] herausgearbeitet.“ (Schütze 1983, 286). Demzufolge werden, sobald die Interpretation des Textmaterials vorliegt, alle Lesarten bzw. Thesen mit den dazugehörigen Belegen zusammengestellt. Inhaltlich ähnliche Thesen werden dabei gruppiert. Diese Gruppen bilden die Grundlage für das Finden einer jeweiligen Überschrift bzw. für das Formulieren der Merkmale, die zu dieser Gruppe gehören. In der Fallbeschreibung wird unter dieser Überschrift das jeweilige Phänomen als Merkmal der Sinnkonstruktion erläutert. Auf diese Art und Weise werden alle durch den Text bzw. durch Kontextinformationen bestätigten Lesarten (Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 327) als gruppierte Merkmale des jeweiligen Falls gesammelt. Diese stellen die wesentliche Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfrage dar. In einigen Fällen werden zusätzlich zu den Merkmalen, welche die Textanalyse ergibt, die Ergebnisse der Genogrammauswertung (vgl. C 3.1.2) hinzugezogen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sehr komplexe Zusammenhänge in die Sinnkonstruktion einbezogen sind oder wenn Fragen der biografischen Bedeutung durch die Textanalyse allein nicht zufriedenstellend geklärt werden können. Ebenso werden Kontextinformationen aus dem Gesprächsprotokoll zu den Interpretationen in Bezug gesetzt. Die Ergebnisse werden verglichen und auf Stimmigkeit geprüft, um den biografischen Sinngehalt möglichst exakt zu rekonstruieren.

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 4.1.3 Sampling Im Zuge des Auswertungsprozesses wird geprüft, welche Interviews in das Sample der Untersuchung aufgenommen werden. Ziel des Auswahlprozesses ist, dass die einbezogenen Fälle die soziale Wirklichkeit möglichst breit repräsentieren, damit verallgemeinernde Ergebnisse erzielt werden können (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, 173). Es wird hinsichtlich der zentralen theoretischen Gesichtspunkte wie soziale Benachteiligung, Art und Umfang des Engagements, Altersstruktur und biografische Beweggründe für das Engagement darauf geachtet, dass ein möglichst breites Feld berücksichtigt wird. Dabei werden in einem zirkulären Prozess im Sinne des Theoretical Sampling (Glaser und Strauss 1998, 54) die Ergebnisse der bereits ausgewerteten Interviews berücksichtigt. Die Merkmale werden im Auswertungsprozess immer wieder mit den Fallbeschreibungen abgeglichen. Sie werden erneut am Material überprüft und in die Fallbeschreibungen integriert. Die so entwickelten Merkmale werden anhand weiterer Interview-Auswertungen überarbeitet, gegebenenfalls modifiziert und ergänzt. 4.1.4 Merkmale im Fallvergleich und Typenbildung Als nächsten Auswertungsschritt nennt Fritz Schütze den minimalen und maximalen Vergleich. Analog dazu stellt das ständige Vergleichen entsprechend der Grounded Theory Methodologie eine Kernaktivität im Forschungsablauf dar. Zirkularität im Forschungsprozess spielt in der vorliegenden Forschungsarbeit eine zentrale Rolle. Dabei wird nach Barney Glaser und Anselm Strauß das Vorkommen eines Phänomens nicht nur innerhalb eines Falles untersucht, sondern auch mit ähnlichen Phänomenen in anderen Fällen verglichen (Glaser und Strauss 1998, 112). In diesem Prozess des Vergleichens und aufeinander Beziehens kristallisieren sich Gemeinsamkeiten heraus, die zur Weiterentwicklung der gefundenen Merkmale im Sinne zunehmender theoretischer Abstraktion führen. Dabei werden die Merkmale immer mehr von Details des Einzelfalles gelöst. Die Erarbeitung solcher Merkmale, die für mehrere Fälle geltende Sinnzusammenhänge umfassen (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, 196), ist erst möglich, wenn eine gewisse Anzahl an analysierten Einzelfällen vorliegt. Hoffmann-Riem fordert in diesem Sinne, die theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstandes erst dann vorzunehmen, wenn ein entsprechender Umfang an Vergleichsmaterial vorliegt (Hoffmann-Riem 1980, 346). Sobald die ersten Fallbeschreibungen vorliegen, erläutern die Ergebnisse die für den Fall charakteristische Fallstruktur. Daraus wird ersichtlich, nach welchen Regeln bzw. Mechanismen sich die beobachteten Phänomene und Zusammenhänge entwickeln (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, 320). Dabei werden die

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 individuellen Beziehungen zum sozialen Umfeld und die durchlaufenen Entwicklungsprozesse ebenso deutlich wie das allgemeine Ganze, der abstrahierte Sinnzusammenhang (ebd., 324). Die Merkmale werden nun zirkulär als Wirkungszusammenhänge fallübergreifend verglichen. In diesem Schritt werden die einzelnen Merkmale in ihrer Gruppe jeweils allgemein beschrieben. Es wird verdeutlicht, in welcher Ausprägung (ebd., 333) die Merkmale in den Einzelfällen auftreten. Auf der Grundlage dieser Vergleiche werden im nächsten Schritt Typen gebildet, die in zentralen Merkmalen ähnlich zusammenwirken und demzufolge charakteristische Gesamtformungen aufweisen. Als Ziel der Typenbildung wird nach Kelle und Kluge angestrebt, „dass (möglichst) ähnliche Fälle zu Gruppen zusammengefasst und von (möglichst) differenten Fällen getrennt werden können“ (Kelle und Kluge 2010, 84; Einklammerung im Original). Es werden die wichtigsten Merkmale als Vergleichsgrundlage ausgewählt, die sich für die Begründung der Typenunterschiede als relevant erweisen (ebd., 96). Neben dem kennzeichnenden Zusammenspiel der Merkmale sind dafür auch die jeweiligen Merkmalsausprägungen von zentraler Bedeutung. Es werden also die Fallstrukturen, die wenig voneinander abweichen, zu einem Typ zusammengefasst und mit einem Titel charakterisiert. Im Ergebnis stehen die verschiedenen Typen der Herausbildung freiwilligen Engagements im Lebensverlauf sozial benachteiligter Bewohner einer Wohnblocksiedlung. Ein den Typ repräsentierender Fall wird dabei nach Bourdieu als „Spezialfall des Möglichen“ (Bourdieu 1974, 31) gesehen, der die mit dem Typ verknüpften Strukturmerkmale sehr aufschlussreich widerspiegelt. Die Typen als Gesamtheit bilden die „zentralen theoretischen Linien im Untersuchungsfeld“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, 332) ab. Jeder Typ ist durch eine gemeinsame Logik gekennzeichnet.48 Die verschiedenen Typen stimmen nicht immer in den Merkmalen überein, aber sie repräsentieren jeweils eine spezifische Bedeutung freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf, wie aus den zugehörigen Fallbeschreibungen hervorgeht. 4.2 Auswertung der Daten in der Forschungspraxis Je nach Interviewdauer wird das ganze Interview bzw. werden die ersten ca. zehn Seiten und zusätzlich weitere für das Forschungsthema relevante Textstel-

 48 Wohlrab-Sahr, Monika (1994): Vom Fall zum Typus. Die Sehnsucht nach dem „Ganzen“ und dem „Eigentlichen“ – Idealisierung als biografische Konstruktion. In: Diezinger, Angelika u.a. (Hg.): Erfahrung mit Methode. Wege sozialwissenschaftlicher Frauenforschung. Freiburg im Breisgau. S.269–299. Zitiert nach Miethe (2010)

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 len sequenziell analysiert. Ein sehr hoher Stellenwert kommt dabei der Forschergruppe zu, die die Bearbeitung des Materials unterstützt. Die Sichtweise der Forscherin wird in diesem Rahmen ergänzt, korrigiert und erweitert. Die Teilnahme an Forschungswerkstätten zur Auswertung von Interviewmaterial und von Genogrammen wird vielfach von den Vertretern qualitativer Forschung praktiziert und empfohlen, so zum Beispiel von Przyborski und Wohlrab-Sahr (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, 50). Infolge der Interpretation Texte der ersten Interviews zeigt sich, dass die Lesarten bzw. die Merkmale, zu denen diese zusammengeführt werden, spezifischen Lebensbereichen zugeordnet werden können. Demzufolge werden als Oberbegriffe für die herausgearbeiteten Merkmale drei Forschungsebenen unterschieden: individuelle Merkmale, familiäre Disposition sowie sozialräumliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Auf der Basis der herausgearbeiteten und sortierten Merkmale wird die Fallbeschreibung erstellt. Darin werden im Anschluss an eine biografische Übersicht die einzelnen Merkmale der Sinnkonstruktion erläutert und mit Zitaten aus dem Interviewtext bzw. den Ergebnissen der Genogrammanalyse belegt. Ein Beispiel soll dies illustrieren. Bei der Interpretation eines der Interviews fällt auf, dass die Biografieträgerin sehr viel über die Pflege ihrer sozialen Kontakte erzählt und dieser regelmäßig eine bestimmte Bedeutung zuweist. Demzufolge werden die dazugehörigen Textstellen und ihre Interpretation zu dem Merkmal „Intensiver Aufbau sekundärer Bindungen“ gefasst. Im angeführten Beispiel ist das Merkmal „Intensiver Aufbau sekundärer Bindungen“ als Kennzeichen der persönlichen Besonderheiten zu finden. Daher wird die Überschrift zu den individuellen Merkmalen sortiert. Bei der Zuordnung gibt es teilweise Überschneidungen. So taucht im Beispiel die intensive Pflege der sekundären Sozialbeziehungen als persönliche Besonderheit auf, wirkt sich als durchgängiges Handlungsmuster aber auch im Zusammenspiel mit der Lebenswelt aus. Dies wird insofern einsichtig, wenn nämlich die Biografin infolge ihrer ausgeprägten Kommunikationsfähigkeit ihr soziales Netz immer mehr erweitert. Sind bei einem Merkmal im Einzelfall mehrere Möglichkeiten der Zuordnung denkbar, so wird diejenige Ebene gewählt, bei der das Merkmal stärkeres Gewicht für die Engagementherausbildung gewinnt. Die Zusammenhänge sowie Kausalitäten bei der Entwicklung freiwilligen Engagements werden in der Erarbeitung der biografischen Gesamtformung berücksichtigt und herausgearbeitet. Dabei treten die Details der biografischen Erzählung in den Hintergrund. Eine differenzierte Beschreibung dieses Vorgehens nimmt beispielsweise Ralf Bohnsack vor. Er geht folgendermaßen vor: Sich wiederholende Muster der biografischen Entwicklung werden zusammengestellt

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 und deren Bedeutung für die Identitätsbildung des Erzählers in der biografischen Gesamtformung geschlussfolgert (Bohnsack 2010, 92ff). Um auf das Beispiel zurückzukommen, wird als zentraler Zusammenhang in der biografischen Gesamtformung dieser Interviewpartnerin „Freiwilliges Engagement zur Kompensation von Defiziterfahrungen“ erläutert, wobei dem Aufbau sekundärer sozialer Beziehungen eine entscheidende Rolle zukommt. Darüber hinaus kommen in der biografischen Gesamtformung weitere Zusammenhänge, die sich in den Merkmalen der Sinnkonstruktion zeigen, in ihrem Zusammenwirken und in der Auswirkung auf die Engagemententwicklung zum Tragen. Es werden zunächst drei Interviews bis zur Fallbeschreibung ausgewertet. Ausgehend von diesen Zwischenergebnissen wird im Sinne des Thoretical Sampling nach weiteren Personen gesucht, die im Kontrast zu den bisherigen InterviewpartnerInnen stehen. Es kommt darauf an, dass sie sich in bisher noch nicht vertretenen Kontexten engagieren, neue Gesichtspunkte von EngagementEntstehungszusammenhängen erwarten lassen und weitere Dimensionen sozialer Benachteiligung berücksichtigt werden können. Im Ergebnis wird für acht der transkribierten Interviews eine detaillierte Fallbeschreibung erstellt. Weitere drei Interviews untermauern die Ergebnisse einzelner Fallstrukturen, die in den biografischen Gesamtformungen ersichtlich sind. Im oben angeführten Beispiel werden im an die Fallbeschreibungen anschließenden Fallvergleich die Thesen, die die Pflege der sozialen Kontakte beinhalten, unter anderem zu dem Merkmal „Ausgeprägte Netzwerkkompetenz“ zusammengeführt. Der Vergleich mit anderen Fällen ergibt daraufhin, dass den sozialen Beziehungen auch in weiteren Fällen ein zentraler Stellenwert bei der Entwicklung freiwilligen Engagements zukommt. In einem Kontrastfall ergibt sich zum Beispiel das Merkmal „Punktuelle soziale Bindungen im Sozialraum“ Demzufolge wird „Bedeutung von Netzwerken“ vergleichend analysiert. Zu jeder Merkmalsgruppe – individuelle Merkmale, familiäre Disposition sowie sozialräumliche und gesellschaftlich Einflüsse – werden die einzelnen Merkmale vergleichend erläutert und ihre Wirkungszusammenhänge erklärt. Auf diese Weise wird die Themenstellung vielfältig empirisch durchdrungen, und das Material kann nun in Typen der Engagementherausbildung unterteilt werden. In der vorliegenden Studie zeigen die herausgearbeiteten Typen die wesentlichen Entstehungszusammenhänge freiwilligen Engagements einer ostdeutschen Wohnblocksiedlung unter besonderer Berücksichtigung sozialer Benachteiligung auf. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Bedeutung, welche das freiwillige Engagement im biografischen Verlauf erhält. Die auf diese Weise herausgearbeiteten Typen bilden die Grundlage für die Erarbeitung gegenstandbezogener Theorie, die für die Anwendung im Bereich

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 der Sozialen Arbeit geeignet ist. So sehen Glaser und Strauss den Zweck der mithilfe der Grounded Theory erarbeiteten Forschungsergebnisse: „Die Generierung von Grounded Theory ist gleichbedeutend mit dem Entwickeln von Theorie, die ihrem Gegenstand angemessen ist und sich handhaben lässt“ (Glaser und Strauss 1998, 39). In der Diskussion der Ergebnisse im Teil E werden die herausgearbeiteten Phänomene auf die Forschungsergebnisse anderer ForscherInnen zum Themengebiet des freiwilligen Engagements bezogen. Die Erkenntnisse der Studie, also die biografischen Wirkungszusammenhänge im Prozess der Herausbildung persönlichen freiwilligen Engagements, können in der Zusammenarbeit von Fachkräften der Sozialen Arbeit mit Engagierten angewendet werden. Damit können insbesondere auch Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, bessere Zugangsmöglichkeiten zu Einsatzstellen für freiwilliges Engagement geboten werden. Weiterhin wird der Bedeutungswandel freiwilligen Engagements in der Gesellschaft beleuchtet. Es werden Rahmenbedingungen vorgeschlagen, unter denen dieser Prozess zum Nutzen sowohl der freiwillig Engagierten als auch der Organisationen, in denen sie tätig sind, gelingen kann.



Teil D Fallportraits

Entsprechend der Zielstellung der vorliegenden Arbeit wird das freiwillige Engagement von sozial benachteiligten Menschen im biografischen Verlauf untersucht. Dazu werden im Folgenden drei der elf interviewten Personen in Fallportraits vorgestellt. Es wird jeweils ein Überblick über die biografische Entwicklung gegeben, bevor die fallbezogenen Ergebnisse der Analysen dargestellt werden. Die herausgearbeiteten Merkmale zur Engagementherausbildung sind jeweils den Ebenen „Individuelle Merkmale“, „Familiärer Kontext“ sowie „Sozialräumliche und gesellschaftliche Einflüsse“ zugeordnet. Den Abschluss jedes Fallportraits bildet die biografische Gesamtformung, in der die Sinnstruktur des Einzelfalls in Bezug auf die Herausbildung freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf zusammenfassend dokumentiert erläutert wird. Damit wird vertieft Einblick in die Lebensgeschichten der InterviewpartnerInnen gegeben und es werden die Wirkungszusammenhänge deutlich, die jeweils zum freiwilligen Engagement beitragen.

1 F ALLPORTRAIT : K ERSTIN L ARSELL , * 19.08.1971 „D A WOLLT ʼ ICH UNBEDINGT E RZIEHERIN WERDEN .“ Kerstin Larsell wird am 19. August 1971 geboren. Der Vater, Hans Larsell, ist gelernter Bohrwerksdreher und langjährig in diesem Beruf tätig. Zum Zeitpunkt des Interviews ist er Rentner. Dennoch arbeitet er in seiner alten Firma viele Stunden, die er teilweise vergütet bekommt. Die Mutter Hannelore arbeitet viele Jahre im Fernmeldeamt in der Störungsstelle und ist zum Zeitpunkt des Interviews ebenfalls Rentnerin. Von ihrer Kindheit berichtet Frau Larsell im biografisch-narrativen Interview relativ wenig. Den Schwerpunkt bildet hier der ihr nicht erfüllter Wunsch nach

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 einem Geschwisterkind. Die elterliche und vor allem die mütterliche Behütung und materielle Fürsorge konzentriert sich also voll auf Kerstin. Sie bekommt als Kind einerseits viele materielle Wünsche erfüllt, andererseits wird ihr wenig Freiraum zur Entwicklung von Selbstständigkeit zugestanden. Außerdem zeigt sich die Mutter häufig unzufrieden mit ihrer Tochter. Diese Beziehungskonstellation greift bis heute, nach wie vor erlebt Kerstin Larsell neben Entlastung durch die mütterliche Unterstützung deren überhöhte Anforderungen als deplatzierte Intervention. Der Vater hingegen überlässt der Mutter in Kerstins Kindheit weitestgehend die Erziehung. Er geht lediglich ab und zu mit der kleinen Kerstin zu einem Fußballspiel ins Stadion. Ihre Interessen entwickeln sich allerdings in eine andere Richtung: Schon sehr früh entsteht Kerstin Larsells besonderer Wunsch, Babys bzw. kleine Kinder zu betreuen. So findet sie ab dem Alter von etwa zehn Jahren immer wieder Familien in der Nachbarschaft, die ihr Vertrauen entgegenbringen und allmählich Verantwortung für die Betreuung ihrer kleinen Kinder übertragen. Während der zehnjährigen Schulzeit schöpft Kerstin Larsell ihre Leistungsfähigkeit nicht aus. Vor allem in den höheren Schuljahren tritt das Interesse an schulischen Dingen in den Hintergrund. In diesem Alter ist es ihr wichtiger, die Freizeit mit der Peergroup zu verbringen. Demzufolge kann Kerstin Larsell nach der 10. Klasse nicht ihren Wunschberuf Krippenerzieherin ergreifen. Stattdessen weicht sie auf eine Ausbildung zur Facharbeiterin für Postverkehr aus. In diesem Beruf ist sie einige Jahre tätig, findet darin jedoch nicht die Erfüllung. Nebenberuflich beginnt sie als Verkäuferin zu arbeiten, gibt dann ihre Stelle bei der Post auf und absolviert später eine Lehre zur Einzelhandelskauffrau. Sie findet eine Teilzeit-Stelle bei einer großen Lebensmittelmarkt-Kette, wo sie je nach Bedarf des Unternehmens stundenweise an der Kasse tätig ist. Ihre Leidenschaft für Kinder hält Frau Larsell kontinuierlich aufrecht. Beispielsweise nimmt sie, als sie arbeitslos wird, eine Maßnahme des Arbeitsamtes beim Paritätischen Wohlfahrtsverband an. Dort wird sie in der flexiblen Kinderbetreuung eingesetzt. Außerdem wird sie mit 22 Jahren Patentante für das erste Kind einer Schulfreundin und betreut über lange Zeit relativ intensiv das Kind einer Freundin. Im Alter von 26 Jahren bekommt sie selbst ihr erstes Kind. Mit dem Vater des Kindes lebt sie nicht zusammen. Etwa zehn Jahre später findet sie ihren Lebenspartner, den vier Jahre älteren Ulli. Die beiden bekommen einen Sohn. Als dieser ab dem Alter von einem Jahr die Kindertagesstätte besucht, lernt Frau Larsell diese Einrichtung näher kennen. Sie bekommt das Angebot, sich dort ehrenamtlich zu engagieren. Dieses nimmt sie an und beginnt mit kleineren Hilfsarbeiten im Bereich Raumpflege. Dann übernimmt sie allmählich

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 Aufgaben in der Betreuung der 0-3 Jährigen bis hin zur regelmäßigen Mitarbeit in der wöchentlich stattfindenden Gruppe für Eltern mit Babys, die zukünftig die Kita besuchen werden. Das bereitet ihr besonders viel Spaß und sie schafft es auch, einen Arbeitsvertrag über die Beschäftigung auf geringfügiger Basis zu erhalten. Die Zusammenarbeit in dieser Einrichtung gestaltet sich sehr gut und nach einigem Zögern folgt Kerstin Larsell der Empfehlung der Kita-Leiterin, einen weiteren Beruf zu erlernen. Sie beginnt eine externe Ausbildung zur Erzieherin mit der Aussicht auf Festanstellung in dieser Kindertagesstätte. Neben Schule und Familie – ihr Lebenspartner arbeitet auf Montage – führt sie weiterhin ihr Ehrenamt aus und ist stundenweise im Lebensmittelmarkt tätig. Die Anforderungen der Ausbildung erlebt sie teilweise als belastend und meint, dass sie dadurch mitunter nicht zufriedenstellend für ihre eigenen Kinder da sein kann. Dennoch nimmt sie die Mühen weiterhin auf sich und erwartet, dadurch berufliche Erfüllung zu finden und mit einem eigenen Einkommen abgesichert zu werden. 1.1 Biografieanalyse Die Materialauswertung ergibt im Fall Kerstin Larsell eine Reihe von Merkmalen, die sich den individuellen Phänomenen (D 2.1.1), der familiären Disposition (D 2.1.2) und den sozialräumlichen und gesellschaftlichen Einflüssen (D 2.1.3) zuordnen lassen. 1.1.1 Individuelle Phänomene In der biografischen Erzählung von Kerstin Larsell treten einzelne Merkmale kontinuierlich in Erscheinung. So gehört der Umgang mit Kleinkindern im Sinne von Betreuung von Kindern, die nicht zur Familie von Frau Larsell gehören, untrennbar zu ihrer Sinnkonstruktion dazu (a). In der Erzählweise des biografisch-narrativen Interviews wird deutlich, dass Frau Larsell jede der erzählten Lebenssituationen als suboptimal bewertet (b) und ihr Engagement für kleine Kinder einen Gegenpol bzw. Ausgleich zu diesem Erlebnishorizont darstellt. Darüber hinaus ist die Sinnkonstruktion von Kerstin Larsell wesentlich gekennzeichnet durch das spezifische Verhältnis von Anpassungsfähigkeit und Autonomie (c). a) Umgang mit Kleinkindern als Identitätsmerkmal Schon bei der Erzählung ihrer Kindheitserlebnisse verweist Frau Larsell im Rahmen einer Eigentheorie auf die Konstruktion eines biografischen Zusam-

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 menhangs. Frau Larsell bringt ihren Status als Einzelkind in Verbindung mit der Herausbildung ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit. Sie erklärt, dass der unerfüllte Wunsch nach einem Geschwisterkind bei ihr das Interesse am Kontakt zu und an der Betreuung von kleinen Kindern begründet (Z.25–32): „Das war das, wo ich sag, ich hatte immer schon so, ich wollte immer – das hat damit sicherlich was zu tun, dass man kein Geschwisterkind hat – aber dass dann einfach Kinder um mich rum war’n, kleine, Babys am liebsten noch. (Interviewerin: Aha. Am liebsten.) Ja, das war so für mich immer das Schönste. Und das ist dann auch eigentlich fortan so äh gewesen, also wie gesagt. Das hat angefangen mit Kindern, die im Kinderwagen ausfahren und schieben.“

Frau Larsell deutet ihre Kindheit und ihr Interesse für Kinder im Nachhinein quasi als natürliche Logik: Weil sie keine Geschwister hat, sucht sie sich über den Umweg der Betreuung Kontakte zu anderen Kindern und versucht damit, ähnliche Konstellationen wie die von Geschwisterbeziehungen zu konstruieren. Dabei bleiben Fragen offen. Zum Beispiel geht aus dieser Logik nicht hervor, warum es gerade Babys und Kleinkinder sind, um die sie sich bemüht. Außerdem bleibt außen vor, weshalb ihr die Sorge um die eigenen Kinder dennoch solche Schwierigkeiten bereitet (vgl. D 2.1.2). Die persönliche Bedeutung, die das Engagement für Frau Larsell gewinnt, geht über die Eigentheorie hinaus, wie im Folgenden anhand der Interpretation weiterer themenbezogener Textstellen erläutert wird. In der biografischen Erzählung kommt Frau Larsell immer wieder auf ihr Interesse an der Kinderbetreuung zu sprechen. Dieses Thema nimmt einen breiten Raum ein und wird stets mit ihrer persönlichen Entwicklung in Verbindung gebracht. Ihr Berufswunsch, an dessen Verwirklichung sie zum Zeitpunkt des Interviews noch arbeitet, bestätigt diesen Schwerpunkt ihrer Sinnkonstruktion. Als weiteres Beispiel sei der Einstieg in ihr derzeitiges freiwilliges Engagement in einer Kindertagesstätte angeführt (Z.118–119): „Ja, so ging das erst mal los. Und dann ist man in der Gruppe mit gelandet. Und das war für mich so toll. Und auch noch bei die ganz Kleinen, weil die, eben bei diesen Krippenkindern.“

Für Frau Larsell ist es folgerichtig und erfüllend, mit der Betreuung von Babys betraut zu sein. In der Gruppe landen bedeutet für sie, regelmäßig in der Gruppe von Kindern tätig zu sein. An dieser Stelle des Interviews wird bereits deutlich, dass für Frau Larsell mit der Kinderbetreuung ein Gewinn für sie persönlich

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 verbunden ist: „Das war für mich so toll.“ Das „weil die“ wird dabei nicht weiter ausgeführt. Mit diesem Argumentationsansatz wird schon angedeutet, dass die Arbeit mit diesen Menschen für Frau Larsell in einem spezifischen Zusammenhang steht. Die biografische Bedeutung des Umgangs mit Kindern, vor allem mit Babys, bestätigt die Eigentheorie von Frau Larsell teilweise. Sie selbst sieht den Grund für ihre Tätigkeit darin, dass sie keine Geschwister hat. Darüber hinaus greifen Mechanismen der Selbstsorge durch Sorge für andere, wie die Interpretation einer Anekdote aus Z.810–818 zeigt: „Wir nenn das immer Krabbelmonster, sag ich immer. ‚Wir machen wieder Krabbelmonster.‘ Und dann komm die alle an und wolln das, die wolln und legen sich da hin und wolln auch nicht aufhören, die wolln. Das ist eben für die dann bissel so dieser körperliche Kontakt, dieses ne, ja. (Interviewerin: Ja.) Keine Ahnung. Und Schmusen halt, Schmusen und die lassen sich trösten von der Erzieherin und das ist für mich auch immer so schön. Die Mutti tröstet, das ist ganz klar. Aber die Erzieherin kann auch trösten, ne, die ist halt der Ersatz, wenn die Mutti nicht da ist und das find ich auch schön.“

Während ihrer Tätigkeit organisiert Frau Larsell regelmäßig Zeiten, die für den direkten Körperkontakt mit den Kindern vorgesehen sind. „Krabbelmonster“ impliziert im Sinne von Durchkitzeln eine Erfahrung für die Kinder, die angenehm und lustig sein kann, die aber auch die Gefahr („Monster“) der Grenzüberschreitung eröffnet. Dabei ergreift sie selbst die Initiative. Sie spricht das Kontaktbedürfnis der Kinder an. Die Kinder gehen darauf ein, sie vertrauen ihr. Würden sie dieses Spiel als Grenzüberschreitung erleben, beteiligten sie sich nicht erneut daran. Die Kinder signalisieren, dass sie auch diesen Körperkontakt möchten. Sie genießen die Berührungen, die Frau Larsell als „bissel so dieser körperliche Kontakt“ bezeichnet. Sie sucht nach weiteren treffenden Bezeichnungen: „dieses ne, ja“. Es könnte folgen „Spiel“ oder „Kuscheln“. Frau Larsell fügt an: „und Schmusen halt“. Die Verwendung dieses Wortes löst bei der Erzählerin sofort die Assoziation zum Trösten aus, welches auch mit direktem Körperkontakt zum Kind verbunden ist. Gemeinsam mit dem Erleben, dass sich die Kinder im Notfall von ihr trösten lassen, ist es das Schmusen, was für sie selbst schön ist. Indem Frau Larsell den Kindern körperliche Nähe gibt, erhält sie selbst Zärtlichkeit und das Gefühl hautnaher Wärme im Austausch mit dem Kind. Mit Babys als hilflosen, unschuldigen, deutbaren Wesen, die in besonderem Maß auf die emotionale Zuwendung ihrer Bezugsperson(en) angewiesen sind, ist der intensive Körperkontakt sehr gut realisierbar. Damit ist die Frage beantwortet, wie sich die Präferenz für die Babybetreuung begründet.

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 Die Symbolik von Übertragung und Gegenübertragung kommt hier voll zur Entfaltung. Frau Larsell trägt in der Betreuungssituation ihre Wünsche, hier zunächst ganz allgemein das Kontaktbedürfnis, an die Kinder heran. In der Interaktion werden diese vom Gegenüber wahrgenommen und beantwortet, indem die Kinder auf das Angebot zum Körperkontakt eingehen. Frau Larsell wird selbst zärtlich berührt, indem sie den Kindern körperlich nahe kommt. Sie kann sich also um sich selbst kümmern, während sie für die kleinen Kinder sorgt. In welchem Zusammenhang dieses Erleben mit ihrer eigenen Geschichte steht, wie ihre Erfahrungen in der Herkunftsfamilie, auch defizitärer Art, damit korrelieren, wird im Punkt D 2.1.2 a) aufgegriffen und analysiert. Die besondere Bedeutung, welche der Betreuung von fremden Kleinkindern zukommt, wird vertieft aus dem Text Z.359–365 ersichtlich, in der es um die Namensgebung ihres ersten Sohnes geht. Als Kind bzw. Jugendliche nimmt sie sich vor, später ihr eigenes Kind nach dem von ihr betreuten Jungen zu benennen. Obwohl ihr, als sie tatsächlich ihren ersten Sohn entbindet, ein anderer Name besser gefällt, fügt sie den Namen des Jungen von damals als Zweitnamen ein: „Mein großer Junge, der heißt mit Vornamen Dennis und mit zweiten Namen Jacob. (Interviewerin: Hm. Aha.) Ich hab immer gesagt: Wenn ich mal ein Kind bekomme, den nenn ich Jacob mit ,c‘, weil der andere auch mit ,c‘ geschrieben wurde. Und dann wurde der Dennis geboren, da hatte mir, hatte mir der Name so gefallen. Und da hab ich trotzdem diesen Jacob mit eingefügt und das hatte wirklich was mit dem Jacob zu tun, mit dem, mit der zweiten Familie, die in unserem Haus gewohnt hat, den ich da (2 Sek.) gehabt hab immer viel.“

Frau Larsell nennt ihren ersten Sohn mit zweitem Namen nach dem von ihr als Kind bzw. Jugendliche betreuten Jungen. Jacob ist die erste Person, durch deren Betreuung das Muster Selbstsorge durch Sorge für andere bei Kerstin Larsell fundamental verwirklicht wird. Indem ihr eigener Sohn den Namen Dennis Jacob erhält, wird die Person des Jungen von damals zum Initiativsymbol für soziale Praxis. Die Anwendung einer Symbolik dient im Allgemeinen dem Gedenken an bzw. dem Verweisen auf bestimmte Zusammenhänge. Dies impliziert schon die Wortbedeutung. Symbol, lateinisch symbolum, steht in der Antike für das Zusammenfügen zweier Bruchteile, die gemeinsam ein Ganzes ergeben. Zwei Freunde steuern jeweils eines der beiden Teile bei, wobei ein Teil durch einen Boten überbracht wird.49 Charakteristisch für die Anwendung eines Sym-

 49 Vgl. Duden, Herkunftswörterbuch

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 bols ist also, dass einem Gegenstand eine spezifische Bedeutung zugeschrieben wird. Der Gegenstand und die Bedeutung stellen die beiden Teile dar. Wird der Gegenstand wahrgenommen, wird nun sofort die zugeschriebene Bedeutung assoziiert. Voraussetzung ist, dass die beteiligten Personen, im Bild der Antike die beiden Freunde, also auch der Rezipient des Gegenstandes, über das entsprechende implizite Wissen verfügen. Übertragen auf den Kontext im Fall Larsell sind mit Jacob als Einsetzungssymbol mehrere verborgene Bedeutungsebenen relevant. Zunächst wird durch Frau Larsell die Erinnerung an den Jungen von damals mit dem Lebensalltag heute verknüpft. Die Betreuung des familienfremden Kindes damals ist etwas, dass sie selbst geschafft hat. Demzufolge wird in der Symbolik ihre eigene Initiative, ja sogar Wirkmacht sichtbar. Diese kann Frau Larsell vor anderen, die in die Bedeutungszuschreibung eingeweiht sind, offenbaren. In erster Linie ist das ihre Herkunftsfamilie, aber auch die Familie des Jacob. Die Botschaft ist, dass sie als Akteur etwas Eigenes geschaffen hat, ein eigenes Erscheinungsmuster unabhängig von Mutter und Vater entwickelt hat. Damit kann sie sich gegenüber der elterlichen bzw. mütterlichen Dominanz abgrenzen. Weiterhin wird mit der Namensgebung eine weitreichende symbolische Bedeutung durch Frau Larsell verstetigt. Es gibt den Brauch, den Sohn genauso oder mit zweiten Namen nach dem Vater oder Großvater zu benennen, um die Vorfahren bzw. deren Eigenschaften weiter leben zu lassen, um sie zu ehren oder um der Erwartung zu entsprechen, dass der Vorname weiter gegeben wird. In Zusammenhang damit steht der Wunsch, dass sich Ähnlichkeiten im Aussehen, Verhalten bzw. in der Wesensart zum Namenspaten entwickeln. Gehört dieser nicht zur Familie, spielt auch die Absicht mit hinein, mit dieser Person lange Zeit in Verbindung zu bleiben, Gemeinsamkeit herzustellen, was eben auf andere Art nicht zustande kommen würde und in der Praxis trotz gleicher Namen nicht unbedingt realisiert wird. Frau Larsell wählt für ihren Sohn keinen Namen aus der eigenen Herkunftsfamilie, sondern demonstrativ den Namen des betreuten Nachbarkindes von damals. Damit wird das Muster Selbstsorge durch Sorge für andere, das mit der Betreuung des Jungen in Gang gesetzt wird, repräsentiert und zelebriert. In diesem Sinne erinnert Frau Larsell daran, wie ihr Bedürfnis nach körperlicher Nähe und emotionaler Zuwendung als Kind unerfüllt bleibt. Sie hofft mit der Namensgebung, die heile Welt der Betreuungssituation auf ihr eigenes Familienleben zu übertragen. Während der Kinderbetreuung ist sie für andere präsent und erhält gleichzeitig etwas für sich: menschliche Nähe und Zärtlichkeit, ebenso die Anerkennung und das Vertrauen der Kindeseltern. Das ist ihr so wichtig, dass sie dieses Schöne in ihren eigenen Familienalltag implementieren möchte. Sie möchte, dass ihr Sohn genauso wird wie der Jacob, das

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 Beharren auf das „c“ stellt eine besonders intensive Form der Identifikation dar. Mit dem identischen Wesen des Jungen und ihrer spezifischen Art der Sorge soll die damalige Konstellation wieder hergestellt werden. Frau Larsell lebt damit in einer kindlichen Perspektive, die die realen Lebensumstände nicht voll berücksichtigt. Sie sieht zum Beispiel nicht, dass sie als Kind bzw. Jugendliche nicht die volle Erziehungsverantwortung für Jacob hat, sondern nur temporär für ihn da ist. Außerdem wächst Jacob mit beiden Eltern auf, während sie Dennis Jacob in den ersten Jahren als Mutter allein erzieht. Die suboptimalen Gegebenheiten bewältigt Frau Larsell mittels gedanklicher Identifikation mit der Betreuungssituation. Zusammenfassend setzt Frau Larsell in der Symbolik der Namensgebung ein Denkmal ihrer Sinnkonstruktion. Sie verknüpft die Namensgebung ihres Erstgeborenen mit den Entbehrungen ihrer eigenen Kindheit und der selbstwirksamen Art und Weise, diese auszugleichen. Frau Larsells Engagement für kleine Kinder beginnt, als sie etwa 10 Jahre alt ist. Die Liebe zu Kindern und daraus resultierend das Schaffen von Gelegenheiten, diese zu betreuen, erweisen sich in der Folge als biografische Kontinuität. Dies kommt auch im Nachfrageteil zum Ausdruck, als Frau Larsell von Beispielfamilien erzählt, deren Kinder sie öfter betreut hat (Z.273–274): „Immer hab ich gehabt. Zwei, ein, zwei Familien. Also der, der eine Junge, der ist ja nun mittlerweile schon 26, ne. Ich bin, also das, ich war ja da noch ganz (3 Sek.) jung.“

Die Betreuung von Kindern, die nicht zur Familie gehören, stellt somit eine feste Größe im Leben der Frau Larsell dar. Weitere Beispiele sind ihre ABM50 in der flexiblen Kinderbetreuung und die Übernahme einer Patenschaft (vgl. D 2). b) Praxis kritischer Selbstreflexion Bei der Analyse der im Interview vorkommenden Textsorten fällt auf, dass Frau Larsell ihre Erzählung häufig an eine Selbsteinschätzung bzw. Selbstbewertung koppelt. In einer Erzählung aus ihrer Jugend (Z.46-50) wird exemplarisch deutlich, dass die Lebenssituation von einer gewissen Restunzufriedenheit geprägt ist, die sie in ihrer Identitätskonstruktion der eigenen Verantwortlichkeit zuschreibt: „Ja, ich wollte gerne Krippenerzieherin werden, aber das war ja dann äh in dem Alter 14, 15, da warn dann auch die Intr, Interessen schon mal anders und da hab ich biddel die Schule schleifen lassen. (Interviewerin: Ach so.) War faul, ne.“

 50 ABM = Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, finanziert durch die Agentur für Arbeit

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 Frau Larsell setzt sich als Jugendliche ein Ziel, hat einen Berufswunsch vor Augen, der voll und ganz ihren Interessen entspricht. Diesen kann sie zu dem Zeitpunkt nicht verwirklichen, sie erlebt einen einschneidenden Misserfolg. Selbstwirksamkeit und die Erfahrung von Handlungskompetenz bleiben ihr versagt. Den Grund dafür rechnet sie ihrem eigenen Verhalten zu: dem fehlenden schulischen Arbeitseifer. In der Jugendphase, die das Selbstbild wesentlich formt, steht dieses Ereignis symbolisch für das Erleben eigener Unzulänglichkeit. Der Weg, den sie als junge Frau wählt, um damit umzugehen, ist die Verwirklichung einer Alternative. Sie ergreift zunächst einen Beruf im Postwesen und orientiert sich damit an der familiären Tradition. Der Sinn des Musters erweist sich in diesem Beispiel darin, dass die Argumentationskette der Erzählung weitergeführt wird, welche das freiwillige Engagement biografisch begründet. Frau Larsell kann aufgrund fehlenden schulischen Fleißes ihren Wunschberuf nicht erlernen. Über den Weg des freiwilligen Engagements findet sie dennoch die Möglichkeit, die Ausbildung zur Erzieherin zu beginnen. Ein weiteres Beispiel für die Praxis kritischer Selbstreflexion ist ebenfalls im Zusammenhang mit dem Thema berufliche Entwicklung zu finden. Ab Z.405 erzählt Frau Larsell, wie sie ihren ältesten Sohn davor bewahren möchte, die gleichen Fehler wie sie selbst zu begehen: „Streng dich jetzt an, sonst geht’s Dir wie mir, dass du später noch mal sitzen musst, um dein Wunsch zu verwirklichen. Und das macht nicht unbedingt immer Spaß.“

Auch hier zeigt sich, dass Frau Larsell mit der Lebenssituation nicht ganz zufrieden ist, es fehlt die Freude am Nachholen der Berufsausbildung im zweiten Bildungsweg. Und wieder ist es die eigene Verantwortlichkeit, die aus ihrer Sicht zu der misslichen Lage führt: Weil sie sich als Kind bzw. Jugendliche nicht genug angestrengt hat, muss sie heute „noch mal sitzen“. Frau Larsell schildert auch diese Niederlage mit der Intention, eine darauffolgende positive Entwicklung, nämlich die Verwirklichung des Berufswunsches, zu begründen. Auch am Umgang mit den eigenen Kindern wird die selbstkritische Perspektive deutlich. So nimmt sie sich aus ihrer Sicht zu wenig Zeit, um mit den Kindern, insbesondere mit ihrem jüngsten Sohn, zu spielen (Z.836–838): „Ich sitz ja nicht mit ihm auf’m Boden oder, ne. Das mach ich zu wenig. Und der Große, ja äh, bleibt irgendwo, ja wie soll ich sagen, total, hab ich manchmal das Gefühl. Es hab, das hab ich auch richtig, ich hab auch richtig n schlechtes Gewissen.“

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 In dieser Passage wird wiederum das eigene Verhalten von Frau Larsell als Begründung für die fehlende Zufriedenheit angeführt. Frau Larsell schafft es trotz ihrer Bemühungen nicht, ihren eigenen Ansprüchen an die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder gerecht zu werden. Auf dem Fußboden sitzen und mit ihrem Kind spielen steht als Sinnbild des hundertprozentigen Einlassens auf das Gegenüber. An diesem Anspruch an sich selbst scheitert Frau Larsell. Darüber hinaus benennt sie die unzureichende Fähigkeit, ihrem eigenen Kind direkte emotionale Zuwendung zu geben (Z.858–863): „Und die Zeit ist einfach knapp. Man ist immer nicht, nicht bei der Sache, mit dem Kind so richtig. Der läuft nebenher, so. (Interviewerin: Ja, ach so.) Muss ich’s ausdrücken. Er ist da und er will auch immer mit mir Kontakt und ich will auch mit ihm immer im in Kom, Kontakt stehen, aber eben nicht in, es geht nicht immer.“

Ihr Sohn fordert die Zuwendung ein. Als Frau Larsell schildert, was sie selbst will, wird der Satzbau holprig. Sie ist innerlich bewegt bei dem Thema. Die emotionale Verstrickung ihrer Intentionen mit den biografischen Erfahrungen zeigt sich schon in der Erzählweise. Deutlich wird, dass sich Frau Larsell in der Situation nicht ausschließlich auf ihren Sohn konzentrieren kann. „Es geht nicht.“ Diese Art der Beziehungsgestaltung steht im Zusammenhang mit ihrem eigenen Erleben als Kind in Bezug auf das Verhalten der Eltern ihr gegenüber. Ihr Erziehungsverhalten begründet sich durch ihre Erfahrungen in der Herkunftsfamilie (s. D 2.1.2 a). Die Szene wird geschlossen, indem wiederum ein positives Resümee folgt (Z.918): „So wurde mir das auch öfters schon gesagt. Es wär doch gar nichts, es ist doch alles in Ordnung.“

Von anderen Müttern in ihrer Lebenswelt erhält Frau Larsell die Bestätigung, dass ihre Kinder ordnungsgemäß aufwachsen. Nach der selbstkritischen Auseinandersetzung betont Frau Larsell somit, dass sie einer ganz normalen Familie angehört. c) Vorrang von Anpassungsfähigkeit vor Autonomiebestreben An vielen Stellen im Interview zeigt sich, dass Frau Larsell bereit ist, sich an die Bedürfnisse und Wünsche ihrer Mitmenschen anzupassen. Exemplarisch soll dieses Merkmal an drei Textstellen belegt werden. Der Einsatz von Frau Larsell bei der Betreuung anderer Kinder geht so weit, dass sie in weiten Teilen die Mutterrolle für diese Kinder übernimmt. Eine Kin-

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 desmutter überträgt Frau Larsell, als diese noch keine eigenen Kinder hat, in erheblichem Ausmaß Verantwortung. Schlussendlich wohnt das Kind über mehrere Tage im Haushalt von Frau Larsell. Sie sorgt sich umfassend um seine Bedürfnisse (Z.672–676): „Man liebt dieses Kind, ich hab immer gesagt: ‚Ich lieb den wie mein eigenes. Ich würde da nicht anders handeln.‘ Und ja, und ich war stolz […]. Alle ham gedacht, das ist meins, ne. Das hat dann aber wirklich Ausmaße angenommen. Und da hat die das dann auch wieder bissel zurückgezogen, nachdem ich ihr das gesagt hat.“

Aus dieser Textsequenz wird deutlich, dass sich der Einsatz von Frau Larsell als fast grenzenlos erweist. Frau Larsell integriert das Kind vollständig in ihren Lebensalltag, übernimmt quasi die Mutterrolle. Frau Larsell setzt erst Grenzen, als die Kindesmutter die Ausmaße der Betreuungszeit zu stark ausweitet. Dann signalisiert Frau Larsell, dass ihre Dienste zu stark in Anspruch genommen werden. Diese Bereitschaft, sich an bestehende Bedingungen anzupassen, wird in einer weiteren Erzählsequenz deutlich. Frau Larsell leitet von der nicht verwirklichten Wunschausbildung über zur Realisierung auf dem zweiten Bildungsweg. Es geht um die Ausübung einer Teilzeitstelle bei einer Lebensmittelmarkt-Kette (Z.85-87): „Aber dann hab ich ja, äh auch da schon teilweise meine Erfüllung auch drin gefunden. Prima Team, tolle Kollegen und Zusammenhalt ganz klasse. S war schon so, wo ich gesagt hab: Da gehör ich eigentlich hin.“

Frau Larsell hat sich mit der Konstellation arrangiert, obwohl sie sich Veränderungen wünscht. Sie sieht die Vorteile dieser Tätigkeit und integriert sich voll ins Team. Sie stellt sich auf die Situation ein, obwohl sie eben nur teilweise ihre Erfüllung darin findet. Auch die Verwendung des Wortes „eigentlich“ lässt hier auf das Vorhandensein gegensätzlicher Impulse schließen. Diese werden jedoch im Sinne von Anpassung hinten an gestellt. Dann berichtet Frau Larsell davon, wie sie sich einige Zeit danach in einer Kindertagesstätte engagiert. Hier wird neben der Anpassungsbereitschaft auch ihr Streben nach Selbstbestimmung bzw. ihr autonomes Handeln sichtbar (Z.157– 162): „Und dann hab ich gekämpft um nen Arbeitsvertrag im Kindergarten und hab dann nicht locker gelassen, ja. Ich hab jetzt auch einen gekriegt, seit letztem Jahr, aber das ist nur

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 geringfügig. Und das läuft eigentlich unter Servicekraft. Und das sind n paar Stunden, die ich da mache aber ich hab halt immer noch meine Ehrenamtsstunden, die ich nebenbei mit leiste, weil auf die Stunden komm ich mit dem Geld nicht, was ich da verdien. Weitaus mehr, ne. Aber man macht’s gern.“

Frau Larsell möchte ihre geleistete Tätigkeit gern in den Rahmen eines festen Arbeitsvertrages stellen. Sie spricht dies auch gegenüber der Einrichtung an und erzielt einen Teilerfolg. Frau Larsell erhält tatsächlich einen Arbeitsvertrag, dieser ist in seiner Bestimmung von zeitlichen und finanziellen Ressourcen jedoch so geringfügig, dass Frau Larsell darüber hinaus in erheblichem Umfang ehrenamtliche Arbeit leistet. Sie setzt sich somit einerseits für ihre Interessen ein, passt sich andererseits an die begrenzten Möglichkeiten der Einrichtung an und akzeptiert den Kompromiss. Sie nimmt das geringe Einkommen in Kauf, wichtiger ist ihr, dass sie diese Tätigkeit ausführen kann. Ihre eigenen Interessen setzt Frau Larsell soweit durch, wie ihr Spielraum gegeben wird. Vorrang hat für sie, dass die (Arbeits-)Beziehung aufrechterhalten bleibt und harmonische Beziehungen zu den Kolleginnen bestehen. Hier steht das problemlose Miteinander im Vordergrund. Frau Larsell verzichtet weitgehend darauf, sich konflikthaft mit anderen auseinanderzusetzen. Mit der dadurch konstruierten Beziehungskonstellation im Rahmen der Betreuung von Babys kann sie eigene Erfahrungen kompensieren. Welche Erlebnisse in diesem Zusammenhang bedeutsam sind, wird in der Darstellung des familiären Herkunftskontextes deutlich. 1.1.2 Familiäre Disposition: System Herkunftsfamilie Die Analyse des familiären Hintergrundes und der familiäreren Besonderheiten als Einflussfaktoren ergibt die Merkmale „Problematische innerfamiliäre Beziehungskonstellation“ (a), „Berufstätigkeit als Norm“ (b) und „Generative Verortung von Helfen als Handlungsmuster“ (c). a) Problematische innerfamiliäre Beziehungskonstellation In der Erläuterung der individuellen Phänomene (D 2.1.1) sind einige Besonderheiten in der Sinnkonstruktion von Kerstin Larsell bereits verdeutlicht. Diese stehen im Zusammenhang mit den Einflüssen ihrer Herkunftsfamilie. Als bedeutsam erweist sich vor allem die innerfamiliäre Beziehungsgestaltung im Sinne von mittelbarer Kommunikation, welche zum Teil mit problematischen Auswirkungen auf die Sozialisation von Frau Larsell verbunden ist. Dies wird sowohl in der Auswertung des biografisch-narrativen Interviews als auch des zugehörigen Familiengenogramms sichtbar. Weiterhin deutet Frau Larsell im Interview die divergierenden Erziehungsstile der Eltern an und weist auf die

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 massive Dominanz der Mutter im Familiensystem hin. Ausgleichende Kontakte zu den Großeltern fehlen, da aufgrund von Konflikten kaum Kontakt zu ihnen besteht.51 In einer eigentheoretischen Erklärung schlussfolgert Frau Larsell aus diesem Kontext, dass ihr als Kind durch das Elternhaus zu wenig Selbständigkeit zugestanden wird. Darüber hinaus geben die Rahmenbedingungen im herkunftsfamiliären Kontext eine Erklärung dafür, dass Frau Larsell den Austausch körperlicher Nähe kompensatorisch im Rahmen ihres freiwilligen Engagements sucht. Im Folgenden werden die innerfamiliäre Beziehungsgestaltung zu Kerstin Larsell, die Rollenverteilung der Eltern sowie die Auswirkungen für Frau Larsell in Bezug auf emotionale Bedürfnisse und die Entwicklung von Selbstständigkeit bzw. Selbstvertrauen analysiert. Die Eingangssequenz des biografisch-narrativen Interviews erweist sich als aufschlussreich im Hinblick darauf, wie Frau Larsell die Verhältnisse in ihrer Herkunftsfamilie erlebt. Nach der Erzählaufforderung beginnt Frau Larsell (Z.11–18): „Ich bin, also äh, na beginnt davon, ich komm, ich bin e ganz wohlbehütetes Einzelkind. (Interviewerin: Aha.) Jaa. Und äh, hab ja eigentlich, also von zu Hause aus, ich hatt es immer, also schön, meine Eltern waren nur für mich da, ich hab alles erfüllt gekriegt und äh also ich weiß nicht, wie ich jetzt da erzählen soll, im Prinzip, mir ging’s gut, ich hatte ne schöne Kindheit, ich kann da nichts Negatives sagen und hatte aber auch immer gleichzeitig ma den Wunsch noch ein Geschwisterchen.“

Frau Larsell nimmt mehrmals Anlauf, bevor sie ihr Selbstbild artikulieren kann. Sie sucht nach den richtigen Worten, um den Ausgangspunkt („beginnt davon“) zu beschreiben. Mit starker innerer Beteiligung knüpft sie an die Eingangsfrage der Interviewerin (vgl. C 3.2) an und beginnt, ihr freiwilliges Engagement biografisch zu legitimieren. Dazu sind detaillierte Schilderungen nötig und es bedarf einiger Anstrengungen, um den komplizierten Zusammenhang zu formulieren. Nun zu ihrem Selbstverständnis als „ganz wohlbehüteten Einzelkind“: Ihre Identität wird als umfassendes Ganzes erlebt, der Alltag als Kind ist ausnahmslos davon erfasst, vom Status des wohlbehüteten Einzelkindes. Stets und ständig ist die kleine Kerstin von einer schützenden Aura umgeben. Als würde jederzeit eine bedrohliche Gefahr lauern, die es abzuschirmen gilt. Kerstin Larsell wird jederzeit kontrolliert, sie wird verschont von den Zumutungen des Lebens. Neben dieser Schutzfunktion hat ein Hut oder ein Schirm auch noch eine andere

 51 Diese Information, die Frau Larsell außerhalb des aufgezeichneten biografischnarrativen Interviews gibt, ist im Gesprächsprotokoll dokumentiert.

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 Wirkung: die Vermittlung. Es ist kein direkter Kontakt zu Kerstin Larsell möglich. Jede Beziehung wird zunächst auf eventuelle schädliche Einwirkungen geprüft. Der Austausch von körperlicher Nähe, die Zuwendung von Zärtlichkeit sind schwer möglich unter den Bedingungen derart umfassender Behütung. Nur nicht anfassen, nichts falsch machen, sie könnte Schaden nehmen. Diese Angst begründet sich teilweise aus der Familiengeschichte. Frau Larsell berichtet im Gespräch zum Genogramm von einer Todgeburt in der Herkunftsfamilie und vom frühen Tod der Eltern ihrer Mutter. Verschärft wird diese Situation durch den Status des Einzelkindes. Fehlende Geschwister stehen für viel Zeit, die von Kerstin Larsell allein verbracht wird. Dieser Hintergrund legitimiert in der biografischen Erzählung das Interesse am Kontakt mit Kindern außerhalb der Familie. Frau Larsell sucht einen Ausgleich für erlebte Defizite an körperlichemotionaler Zuwendung. Diese These bestätigt sich in den Familienstrukturen. Die Auswertung des Familiengenogramms ergibt als Strukturhypothese „Gesellschaftliche Bestandssicherung durch vermittelnde Medien“. Beispielsweise ist für die berufliche Tätigkeit der Mutter von Kerstin Larsell charakteristisch, technisiert und lösungsorientiert Störungen im Bereich der Telekommunikation beseitigen zu helfen. Es geht darum, ohne die direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht Entwicklungen voranzutreiben. Übertragen auf das System Familie bedeutet dieses Prinzip, dass der Alltag durch zielgerichtete Organisation von Störungen befreit werden kann. Dies bedeutet die Vermeidung körperlichsinnlicher Zuwendung für das Kind und ebenso einen spezifischen Umgang mit Konflikten. Der Interviewtext gibt darüber vertieft Aufschluss. Frau Larsell eröffnet das Spannungsfeld zwischen schöner Kindheit („Ich hatt es immer, also schön.“) und unerfülltem Geschwisterwunsch („hatte auch immer gleichzeitig ma den Wunsch noch ein Geschwisterchen“). Dabei zeigt sie eine starke Loyalität gegenüber ihren Eltern. Die erwartete Dankbarkeit gegenüber den Eltern steht in Diskrepanz zu erfahrener Entbehrung und Schmerz. Das auf den ersten Blick angenehm anmutende Kindheitsbild federt den Kritikpunkt, das fehlende Geschwisterkind, ab. Bei der Bedeutungsanalyse der genannten Umstände erweist sich die Konstruktion als prekär. Das Schöne an der Kindheit stellen die Umstände dar, dass sie ihre Eltern mit niemandem teilen muss und dass sie alles erfüllt bekommt. Außerdem kann sie „nichts Negatives sagen“ und es geht ihr „im Prinzip gut“. Das Argument, die Eltern mit keinem teilen zu müssen, führt sich selbst ad absurdum, indem der Wunsch nach Bruder oder Schwester ausgesprochen wird. In materieller Hinsicht bekommt Kerstin Larsell alles, was sie haben möchte, so auch Z.477:

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 „Alles gekriegt, was man wollte.“

Die Bedürfnisse, die Kinder nicht aussprechen, sind darin nicht eingeschlossen, zum Beispiel emotionale Zuwendung, Anerkennung, unmittelbare Handlungsoptionen. Frau Larsell kann nichts Negatives sagen, aber auch nichts konkret Positives. Die angeführten Umstände werden von Frau Larsell somit kritisiert, jedoch nicht offen, sondern verklausuliert. Hier wird deutlich, dass offene Kritik bzw. das Austragen von Konflikten nicht im Familienalltag integriert sind. Dies bestätigt sich auch bei der Analyse der Rollen, welche die Eltern im Beziehungsgefüge einnehmen. In Z.455f sagt Frau Larsell zur Rolle des Vaters: „Na, der war eher so bissel der Strengere, also der Vater, mein Vater, der hat sich immer n Junge gewünscht.“

Hier kommt zum Ausdruck, dass ihr Vater, wenn er in Erscheinung tritt, eher derjenige ist, der Verbote ausspricht bzw. die Einhaltung von Regeln überwacht. Ansonsten fehlen ihm die Bezüge zur Tochter. Sein Wunsch nach einem Sohn bleibt unerfüllt und er kann sich nur begrenzt auf die Realitäten einstellen (Z.463f): „Der hat mich auch schon mit zum Fußball und was weiß ich.“

Herr Larsell organisiert seiner Tochter keine Erlebnisse, die ihren Interessen entsprechen (zum Beispiel Kinderbetreuung), sondern versucht sie entsprechend seiner eigenen Vorlieben zu lenken. Hier finden Vater und Tochter keine gemeinsame Grundlage. Der Vater zieht sich zurück, verbringt viel Zeit auf Arbeit bzw. mit seinen Freunden im Sportverein. Konflikte zum Beispiel mit seiner Ehefrau werden nicht angesprochen bzw. ausgetragen, sondern umgangen. Die starke berufliche Einbindung und Freizeitgestaltung dienen ihm als Fluchtmöglichkeit vor offensiver innerfamiliärer Problemlösung. Die Erzählsequenzen, die von der Mutter handeln, beschreiben deren Verhalten als verwöhnend (im materiellen Sinne), überbehütend und dominant. Emotionale Zuwendung und Bestätigung spielen eine ebenso geringe Rolle wie das Schaffen von entscheidenden Entwicklungsmöglichkeiten zur Selbständigkeit. Exemplarisch sei hier Z.304–306 angeführt: „Und meine Mutti dann wieder den Anstoß gegeben. Und der Kleene stande auf der auf’m Wäscheplatz und stande da. Und ich dachte: Du könntest ja jetzt mit dem, ne. Und die, meine Mutti, dann geklingelt“.

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 Kerstin Larsell möchte gern den Kinderwagen der Nachbarin schieben, kann sich aber nicht überwinden, sie diesbezüglich anzusprechen. Ihre Mutter, welche zuerst emotional distanziert mit „die“ betitelt wird, übernimmt selbstverständlich diesen Part und eröffnet ihrer Tochter somit die ersehnte Möglichkeit. Die Mutter übernimmt die Rolle der Vermittlerin. Sie überlegt nicht mit der Tochter gemeinsam, wie sie vorgehen könnte oder wie sie schrittweise selbständiger wird, sondern präsentiert sich als kompetente Problemlöserin, wie auch in Z.309–314 ersichtlich: „Meine Mutti mich bisschen also nicht gerne so gelassen, also ich, die hat mich immer bissel, wie sagt man das, gebremst in meiner, ja, also die hat mich immer, hat alle Wege für mich erledigt, hat immer, wenn ich was gesagt hab, die hat ja nie gesagt: Mach das alleine oder. Die hat immer alles für mich gemacht, ne. Und da hat sie eben auch das für mich gemacht, da war der Anstoß gegeben.“

Frau Larsell spricht über ihre Beziehung zur Mutter. Schon in der Art der Ausführungen wird die Dominanz der Mutter gegenüber der geringen Präsenz der Tochter deutlich. Das Wort „Selbständigkeit“ nach „gebremst in meiner“ spricht Frau Larsell gar nicht aus, weil Autonomie nicht zugelassen wird. Auch wenn beispielsweise in der Schule Konflikte auftreten, ist die Mutter vermittelnd zur Stelle (Z.421–424): „Wenn irgendwas war, es gab ma Unstimmigkeiten, ich brauchte mich nicht zu wehren, weil sie dann immer hingerannt ist und hat, ne, hat das für mich gemacht. Sie hat mir gar nicht in dem Moment die Möglichkeit mal gelassen, irgendwo. Oder sie hatte mir das nicht zugetraut.“

Diese Überbehütung durch die Mutter wird von Kerstin Larsell als unangemessene Einmischung empfunden, derer sie sich generell nicht erwehren kann. Durch die stetige stellvertretende Problemlösung wird das Selbstvertrauen von Kerstin Larsell geschwächt, die erlebte Dominanz erzeugt bei ihr eine Handlungsbehinderung. Um diesen Grenzen zu entkommen, löst sich Kerstin Larsell frühzeitig von ihrem Elternhaus ab (Z.435f): „Wo ich schon zeitig n Freund hatte mit 18 Jahren. Da bin ich schon ausgezogen, zu dem.“

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 Hier ergreift Kerstin Larsell die sich durch die Partnerschaft ergebende Chance zur Veränderung. Selbständigkeit in Form eigener Haushaltsführung erlernt sie, indem sie zu ihrem Freund zieht. Die Dominanz bzw. Übermacht der Mutter zeigt sich auch darin, dass Frau Larsell als Kind den Ansprüchen ihrer Mutter nicht gerecht werden kann (Z.488–491): „Ich sah genau so aus, meine Freundin hatte lange blonde Haare, wir sahen gleich aus. Und die Freundin kommt. ‚Ach Gott, du siehst aber heute wieder schön aus. Die Kerstin versteht ja nicht ihre Haare zu kämm.‘ Und nur so.“

Die Mutter kritisiert Kerstin Larsell im Beisein von deren Freundin und stellt sie damit bloß, eine demütigende Erfahrung. Über die Dauer der Jahre verinnerlicht Frau Larsell diese Bewertung und übernimmt sie in der Selbstdarstellung (vgl. D 2.1.2 a). Dazu kommt, dass sie auch als erwachsene Frau dem permanenten Urteil ihrer Mutter ausgesetzt ist: „‚Aber du hättest Vieles anders machen können, wenn du dann (2 Sek.) das so und so gemacht.‘ Ge, das kommt, es muss kommen bei ihr. Ich hab so den Ein, die muss es loswerden, einmal in der Woche mindestens, da irgendwas dazu zu sagen. “

Folglich ist ihr Selbstvertrauen geschwächt, sie sieht sich selbst und ihre Situation stets unvollkommen. Ein wesentlicher Bereich, wo sie diesem Gefühl des Mangels entkommen kann, ist die Betreuung fremder Kinder (vgl. D 2.1.1 a). Dort kann sie sich entfalten, erlebt sich als kompetent und bekommt positive Rückmeldungen. Der erlebte Mangel erhält in der Sinnkonstruktion von Kerstin Larsell die Bedeutung des Antriebsmotors, um immer wieder die Konstellation einer Betreuungssituation aufzubauen. Während sie kleine Kinder, die nicht ihre eigenen sind, betreut, erlebt sie ideale (Ersatz-)Familienbedingungen. Sie erlebt Körperkontakt (vgl. D 2.1.1 a) und kann das sein, was sie sich unter einer guten Mutter vorstellt. Das, was sie in ihrer Kernfamilie nicht verwirklichen kann, nämlich ausreichend mit ihrem kleinen Sohn spielen und verhindern, dass ihr großer Sohn „ganz hinten runter fällt“ (vgl. D 2.1.2 a), gelingt ihr gegenüber den von ihr betreuten Kindern im Zeitfenster des Engagements. Während der Betreuung von Kindern, die nicht ihre eigenen sind, beweist Frau Larsell in besonderem Maße pädagogische Eignung. Sie ist erfüllt von ihrer Tätigkeit und gibt ihre Aufmerksamkeit und emotionale Zuwendung gern weiter. Die ihr übertragene Verantwortung spricht ihr temporär Selbstvertrauen und Bestätigung zu. Sie setzt Grenzen, um die eigene Position zu behaupten.

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 b) Berufstätigkeit als Norm Wie schon in D 2.1.1 c) ersichtlich wird, ist es für Frau Larsell selbstverständlich, sich an externen Verhaltensnormen zu orientieren. Dies beginnt schon in der Herkunftsfamilie und wird exemplarisch am Muster der Berufswahl deutlich. Für Kerstin Larsell ist es normal, beruflich tätig zu sein. Die Orientierung an dieser Norm findet sich bis zur Großelterngeneration schon in ihrer Herkunftsfamilie, und diese ist nicht geschlechtsspezifisch begrenzt. Auch in der Art des gewählten Berufes richtet sich Frau Larsell nach familiären Vorbildern. Sowohl ihre Mutter als auch ihre Großmutter sind im Bereich des Fernmeldewesens tätig. So ergreift Kerstin Larsell den Erstberuf der Facharbeiterin für Postverkehr (vgl. D 2). Von ihrem persönlichen Interesse her würde sie eine andere Wahl treffen. Als sie diesen Weg aber aufgrund mangelnder schulischer Erfolge nicht einschlagen kann, greift sie auf die familiären Vorbilder zurück. Die Eltern und die Großeltern väterlicherseits üben Berufe aus, die der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung bzw. Bestandsicherung dienen. Der Großvater zum Beispiel arbeitet als Zollbeamter, Mutter und Großmutter im Fernmeldewesen (Störungsstelle). Auch Frau Larsell verfolgt einen Berufswunsch, der zum Zeitpunkt des Ausbildungsbeginns gesellschaftlich sehr stark nachgefragt wird und damit der Bestandssicherung dient. Im Zuge des Ausbaus der Kindertagesstätten werden verstärkt Fachkräfte im Bereich Erziehung benötigt. Frau Larsell wird von der Leiterin der Kita ihres Sohnes ermutigt, die Ausbildung zur Erzieherin im zweiten Bildungsweg zu beginnen, um im Anschluss daran in dieser Einrichtung fest angestellt zu werden. c) Generative Verortung von Helfen als Handlungsmuster Die Alltagsgestaltung der Großeltern von Kerstin Larsell bleibt im Interview weitgehend im Dunkeln. Aufgrund des frühen Todes beider Eltern der Mutter Hannelore und von der Mutter dadurch erlebter Entbehrungen erfährt Frau Larsell aus den Erzählungen ihrer Mutter kaum Einzelheiten (Tabuisierung). Genauso spärlich sind die Informationen zum Bruder des Vaters und dessen Familie. Im biografisch-narrativen Interview wird der Bruder nur einmal kurz erwähnt. Im Gespräch zum Genogramm fließen lediglich Auskünfte zu den harten Daten ein. Im Gegensatz zur Familie von Hans Larsell ist das Muster der „gescheiterten Reproduktion“ ersichtlich. Frau Larsell berichtet, dass in der Familie des Onkels keine freiwilligen Engagements geleistet werden. Aufgrund der Konflikte zu Hans und Hannelore sind die Kontakte zu dieser Familie auf ein Minimum beschränkt. Von den Eltern des Vaters berichtet Frau Larsell im Gespräch zum Genogramm, dass sie sehr musikalisch sind und Herr Larsell als Rentner bei einem

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 Träger sozialer Dienste unentgeltlich mit seiner Gitarre Unterhaltungsmusik spielt. Das Engagement im institutionellen Rahmen dieses Trägers ist Frau Larsell also bereits aus der Familiengeschichte bekannt. Darüber hinaus gibt es einen weiteren intergenerativ vermittelten Anknüpfungspunkt zum Muster des Helfens, welches sich in der Handlungsstrategie des Vaters Hans Larsell entfaltet. Kerstin Larsells Vater zeigt eine ähnliche Haltung der Gutmütigkeit bzw. der Hilfsbereitschaft wie seine Tochter, indem er sich für andere einsetzt. Frau Larsell schussfolgert eigentheoretisch, dass sie diese Einstellung bzw. dieses Handlungsmuster von ihm übernommen hat (Z.995-1000): „Das geht eher von mei’m Vati aus, denk ich mal. Ja, das hab ich von ihm übernomm, so bissel und der hat, ist auch so fleißig und macht. Ja. Und überhaupt, der hilft bei sei’m, der kegelt so gerne und dann springt überall mit ein, wenn da mal jemand ausfällt, dann fährt er auch da mit und opfert seine Freizeit und so und das zeugt ja davon, dass er auch dieses, auch, ne, dass man dann so immer ‚Ja.‘ sagt. Man, ich sage ‚Ja. Ich komme, ich helfe, ich bin für euch da und so.‘ Und ich mach’s ja im Prinzip auch nicht anders, ne.“

Ausgehend von den sozialen Beziehungen, die der Vater durch das Hobby Kegeln hat, wird er des Öfteren um Hilfe angefragt. Regelmäßig sagt er diesen Anfragen zu, auch wenn er keinen materiellen Vorteil davon hat. Eine Folge dieses Musters ist, dass Hans Larsell damit familiären Konflikten sowie dem dominanten Einfluss von Hannelore Larsell entfliehen kann (vgl. D 2.1.2 a). Die Haltung der fast grenzenlosen Hilfsbereitschaft übernimmt Kerstin Larsell und springt ein, wenn sie angefragt wird (Z.1004): „Wenn ich Urlaub hatte: ‚Können wir dich anrufen?‘ – ‚Natürlich.‘“

Der Gewinn liegt für sie eher im ideellen Bereich, Frau Larsell kann die Beziehungsharmonie aufrechterhalten und den Umgang mit kleinen Kindern selbst in ihrer Freizeit pflegen (vgl. D 2.1.1 a). 1.1.3 Sozialräumliche und gesellschaftliche Einflüsse Frau Larsell besitzt hervorragende kommunikative Fähigkeiten und ist somit intensiv in soziale Netze eingebunden (a). Durch die Kontakte mit Menschen und Institutionen hat Frau Larsell Zugang zu den entsprechenden Informationskanälen und zu institutionellen Handlungsempfehlungen, die sie regelmäßig als Entscheidungsgrundlage nutzt (b). Im Zusammenhang damit ist die Anerken-

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 nung zu sehen, die sie für ihr Handeln und somit auch aufgrund ihres freiwilligen Einsatzes gezollt bekommt (c). a) Ausgeprägte Netzwerkeinbindung Frau Larsell beschreibt sich als offenen Menschen, der auf andere zugeht und schnell mit seinen Mitmenschen ins Gespräch kommt. Schon im Erzählen über ihre Jugend wird deutlich, dass es ihr leicht gelingt, Beziehungen aufzubauen und aufrecht zu erhalten (Z.558–562): „Wir kannten uns ja alle nicht. Ich hab mich dann mal rumgedreht und die war sofort: Hallo und gelacht. Gelächelt. Und draußen dann und ich hab mich dann immer mal rumgedreht und hab dann geguckt zu ihr und immer wieder wenn die vorne gesprochen haben, und das, und dann draußen ham wir lange gesprochen, da war der Bann gebrochen, seitdem sind wir da durch dick und dünn.“

Hier erzählt Frau Larsell, wie sie ihre beste Freundin kennen lernt. Beginnend mit dieser Begebenheit, in der sie in der aktiven Rolle selbstverständlich ihr Netzwerk erweitert, entwickelt sich eine langjährige Freundschaft. Die vielfältigen Kontakte ermöglichen ihr wiederum, weitere Menschen kennen zu lernen. Dadurch erhält sie zusätzliche Handlungsoptionen. Beispielsweise nutzt sie die Möglichkeit, Kontakt zu einem potenziellen Arbeitgeber aufzubauen, indem sie ausgehend vom familiären Netz ihre Beziehungen erweitert (Z.612–615): „Und mein Vati der hatte so Bekannte, die ham so’n Möbelgeschäft gehabt, äh, über sein Bruder irgendwie, die kannten die. Und der hat dann gesagt: ‚Die suchen noch ne Verkäuferin, in der Stadt, da ist so’n Schnäppchen-Markt. Und da kannst du danach noch hingehen, kannst dir auch noch paar Cents verdienen.‘“

Außerdem hat Frau Larsell durch ihre Kinder institutionelle Kontakte, die strukturell Unterstützungsangebote für sie beinhalten und ihr den Zugang zu Informationen bzgl. der externen Ausbildung eröffnen (Z.132–135): „Und da hat sich dann wieder der Kindergarten eingesetzt. Die ham mir geholfen und ham was gefunden für mich. (Interviewerin: Ach.) Ja. Ne Lehrstelle. Also sozusagen so’n Ausbildungsplatz.“

Die Kompetenz zur Kooperation mit institutionellen Partnern, die hier exemplarisch deutlich wird, hängt eng mit der unter D 2.1.1 c) beschriebenen Fähigkeit

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 zusammen, die Handlungsaufforderungen anderer zu erfüllen bzw. sich den vorgegebenen Bedingungen unterzuordnen. Frau Larsell akzeptiert die institutionellen Gegebenheiten so, wie sie sind und ist bereit, innerhalb dieses Rahmens ihr Engagement einzubringen. Hier klingt schon an, dass sich Frau Larsell an externen Leitorientierungen orientiert, wie im Folgenden näher erläutert wird. b) Orientierung an externen Leitorientierungen Die ausgeprägte Netzwerkeinbindung hängt mit der Art und Weise zusammen, in der Frau Larsell auf gesellschaftliche Normen und institutionelle Handlungsaufforderungen reagiert. Die Analyse des biografisch-narrativen Interviews ergibt, dass Frau Larsell diese überwiegend direkt umsetzt. Zum Beispiel wendet sie sich an die Erzieherin in der Kita (Z.105–112): „Und da kam das dann in dem, in dem Kindergarten, dass ich mal oder, dass ich mich mal mit der Erzieherin von meim’ Sohn unterhalten hab, dass mir, ach, dass, dass zu Hause alles na, dass mich das (2 Sek.) wie soll ich sagen? Ist mir die Decke auf’n Kopf gefallen. Dass ich keine richtige Tätigkeit habe, nur. Und die hat dann gesagt: ‚Mensch, jetzt komm doch mal hier her und frag mal, wir suchen immer mal ehrenamtliche Kräfte, die uns unterstützen. Vielleicht wär das ja was.‘ Na ich kam mit ihr sofort ins Gespräch. Ich wollte ja auch, ich wollte Kindergärtnerin bzw. Krippenerzieherin werden.“

Diesen Kommunikationseinstieg erzählt Frau Larsell im Interview sehr detailliert. Ihre rhetorische Kompetenz zeigt sich darin, dass sie mit der Art und Weise, wie sie dem Gegenüber ihre Situation als missliche Lage schildert, eine bestimmte Reaktion hervorruft. Die Erzieherin entwickelt ohne direkte Anfrage die Intention, Frau Larsell einzuladen. Frau Larsell stellt durch das Benennen des gemeinsamen Berufswunsches Reziprozität her. Demzufolge bietet ihr die Erzieherin Zugehörigkeit an. Mit ihrem Apell gibt sie ihr den Anstoß, sich um ehrenamtliche Mitarbeit bei der Einrichtungsleiterin zu bemühen. Frau Larsell kommt dem nach findet so den Einstieg in die freiwillige Tätigkeit. Sie erlebt gegenseitiges Vertrauen, was sich schon daran erkennen lässt, dass sie die persönliche Du-Form gegenüber der Erzieherin anstelle der distanzierten SieAnrede verwendet. Die institutionellen Bedingungen gestalten sich nun im Gegenzug ebenfalls sehr offen, durch die interne Lenkung findet Frau Larsell von der Engagementbereitschaft zum Engagement. Sie wird entsprechend ihrer Begabungen und Interessen eingesetzt und sukzessive mit steigender Verantwortung betraut. Es entwickelt sich eine von gegenseitiger Wertschätzung geprägte Zusammenarbeit, deren vorläufiges Endziel die Festanstellung von Frau Larsell als Erzieherin ist

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 (vgl. D 2) Die mehrstufige Passgenauigkeit institutioneller Rahmungen greift mit der individuellen Entwicklung ineinander. Das heißt, dass sich abhängig von der gesellschaftlichen Lage die Bedingungen in der Einrichtung verändern. Ebenso entwickelt sich die Lebenssituation der Engagierten weiter. Beide Kooperationspartner bleiben kommunikativ in Verbindung und stimmen jeweils die Möglichkeiten der gegenseitigen Ergänzung aufeinander ab. Dies bringt Vorteile für beide Seiten. Voraussetzungen dafür sind die ausgeprägte Netzwerkeinbindung, die gelungenen Kommunikationsprozesse sowie das Muster, dass sich Frau Larsell auf die Handlungsvorschläge der Einrichtung einlässt. Dass Kerstin Larsell ihr Handeln an externen Normen ausrichtet, zeigt sich auch an folgender Sequenz (Z.101–104): „Kind war ja in der Einrichtung schon, wenigstens halbtags. Bissel was muss man ja auch dazu, irgend, man muss ja auch sehen, (Interviewerin: Hm na klar.) wie man hm und Geld, also musst schon.“

Da sie zu dem Zeitpunkt keine Festanstellung hat, könnte sie ebenso ihr Kleinkind selbst zu Hause betreuen, bis sie eine Arbeit findet. Regional ist es allerdings üblich, dass Kinder ab dem Alter von einem Jahr die Kindertagesstätte besuchen. Daran orientiert sich auch Frau Larsell, bringt die dafür nötigen KitaGebühren auf und versucht aus dieser Position heraus, finanzielle Verbesserungen zu erreichen. Auch hier sind es wieder gesellschaftliche Normen, die den Anstoß dazu geben. „Musst schon“ lässt erkennen, dass es ein Muss ist, arbeiten zu gehen. Andere Optionen, wie Kostenreduktion oder die Suche nach Unterstützung stehen für Frau Larsell nicht zur Wahl. Für sie ist es unverzichtbar, zumindest teilweise zum Familienunterhalt finanziell beizutragen. Diese Bereitschaft, sich an der Erwartungshaltung anderer auszurichten, ist jedoch nicht unbegrenzt. Ihr Interesse, kleine Kinder zu betreuen (vgl. D 2.1.1 a), ist dem übergeordnet: (Z.1031–1035): „Aber es gibt schon so andre Freunde, die dann schon das bisschen so vielleicht auch belächeln. (Interviewerin: Hm, aha.) ‚Die ist dumm, die macht. Die könnte jetzt sitzen und könnte mal zwei Stunden zu Hause was machen.‘“

Hier geht es um ihr Ehrenamt der Gruppenleitung, das sie trotz Kritik mancher Freunde weiterführt. Dies ist also ein Tätigkeitsbereich, den sie innerhalb des entsprechenden Rahmens selbstbestimmt ausführt.

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 c) Anerkennung durch freiwilliges Engagement Für Frau Larsell spielt die Anerkennung, die sie im Gegenzug für ihren Einsatz erhält, eine besondere Rolle. Sie freut sich über die Anerkennung, betrachtet allerdings die Ehre, die ihr für ihren Einsatz gezollt wird, nicht als notwendige Bedingung für die Tätigkeit. Ein Beispiel für den Stellenwert der Anerkennung findet sich in Z.66f: „Dann auch mal was von denen bekommen, so’n kleenes Zertifikat, das ich das gemacht hab, n halbes Jahr.“

Frau Larsell hält das Zeritifikat für erwähnenswert. Hier wird deutlich, dass Anerkennung zwar wichtig, aber nicht das ausschlaggebende Motiv für ihr Engagement ist. In einer Anekdote erzählt Frau Larsell, wie sie vom Träger, für den sie sich als Gruppenleiterin engagiert, angesprochen wird. Diese Geschichte bestätigt das Merkmal „Anerkennung durch freiwilliges Engagement“. Frau Larsell wird als vorbildliche Engagierte für die Präsentation in einem Flyer ausgewählt und erhält die Möglichkeit, dafür telefonisch Einzelheiten zu übermitteln. Als sie angerufen wird, sitzt sie gerade mit ihrem Kind auf einem Spielplatz, wo sich auch andere Eltern mit ihren Kindern aufhalten (Z.1050–1055): „Und es waren ringsrum Eltern und ich in meiner Euphorie geredet und geredet. Die hat mich immer gefragt und ah. Und hinterher, als wir dann fertig waren, das hat, ham die gesagt: ‚Also, sie arbeiten gerne dort im Kindergarten, oder? Das hat man ihnen völlig jetzt angehört und angesehen und wie sie da, also richtig. Sie sind mit Gefühl dabei, mit Herz, mit Herzblut. Das hat man gemerkt, es war voller Überzeugung.‘“

Frau Larsell berichtet am Handy gern und mit Begeisterung von ihrer Tätigkeit. So können es auch die umstehenden Personen aufnehmen und reagieren schlussendlich anerkennend. Obwohl sie sehr stolz auf die Präsentation im Faltblatt ist, würde sie das Engagement auch unabhängig davon weiterführen. Dafür sprechen die nunmehr bereits zweijährige Dauer des Engagements sowie ihr Statement (Z.258–260): „Das gehört doch dort, das gehört dazu! Das ist so und das mach ich nicht, weil ich’s machen muss, das mach ich, weil ich’s gerne mach. Ne, deswegen, weil es eben so ist. Weil ich das so will.“

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 2.2 Biografische Gesamtformung: Engagement als Kompensation von Defiziterfahrungen Ausgehend davon, wie die Biografieträgerin ihre Kindheit erlebt, präsentiert sie ein zentrales Lebensthema: Das Interesse, kleine Kinder zu betreuen. In der Herkunftsfamilie bekommt Kerstin Larsell zum einen viele materielle Wünsche erfüllt, andererseits werden ihr wichtige Entwicklungsschritte und ausreichend körperlich-sinnliche Zuwendung verwehrt. Die Mutter sorgt dafür, dass Kerstin Larsell als Kind umfassend beschützt wird. Dieser Priorität der Bewahrung vor Gefahren sind andere Bedürfnisse, zum Beispiel nach körperlicher Nähe, untergeordnet. Kerstin Larsell steht stets im Fokus der mütterlichen Aufmerksamkeit und erhält kaum Freiräume, selbstbestimmtes und selbständiges Handeln zu entwickeln. Ihr Verhalten wird im Elternhaus häufig kritisch kommentiert und Frau Larsell integriert diese Sichtweise in ihr Selbstbild. Innerfamiliäre Konflikte werden überwiegend nicht ausgetragen, sondern umgangen. So zieht sich der Vater aus dem Familiensystem zurück. In seiner Freizeit arbeitet er viel für seine Firma und hilft anderen, zum Beispiel Freunden im Kegelclub, die seine Unterstützung anfragen. Diese Hilfsbereitschaft übernimmt Frau Larsell als Leitorientierung. Frau Larsell löst sich frühzeitig vom Elternhaus ab. Durch ihre hervorragende Kommunikationsfähigkeit baut sie sich ein verzweigtes soziales Netz auf. Sie hat einen großen Freundeskreis und ist neben ihrer beruflichen Tätigkeit bzw. während einer ABM stets in der Kinderbetreuung aktiv. Dieses Interesse, Babys und kleine Kinder zu betreuen, erweist sich als zentrales Lebensthema. Frau Larsell bekommt selbst zwei Kinder und lebt mit dem Vater des zweiten Kindes, der beruflich eine Montage-Tätigkeit ausübt, in einer Wochenendbeziehung zusammen. Aufbauend auf ihren Erfahrungen als Kind fällt es ihr schwer, ihren eigenen Kindern die Zuwendung zu geben, die sie einfordern. Durch ihr eigenes Kind erhält Frau Larsell den Zugang zu ihrem freiwilligen Engagement in einer Kindertagesstätte im Wohngebiet. Frau Larsell findet damit eine Institution, für welche die Kooperation mit Freiwilligen einen wesentlichen Schwerpunkt der Arbeit darstellt. Ihre kommunikative Kompetenz, ihre Hilfsbereitschaft sowie ihre Anpassungsfähigkeit ermöglichen die erfolgreiche Kooperation mit der Einrichtung sowie den Zugang zu erweiterten Netzwerken. Die individuellen Handlungs- und Entscheidungsmuster treffen in der Lebenswelt von Kerstin Larsell auf passgenaue institutionelle Rahmenbedingungen. Es entwickelt sich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit, in der Frau Larsell ein hohes Maß an Engagement investiert. Sie akzeptiert externe Lenkung, erhält aber auch Unterstützung und bekommt Verantwortung übertragen. Sie kann sich

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 entsprechend ihrer Interessen und Fähigkeiten einbringen und erhält die Möglichkeit der Weiterentwicklung im Sinne eines beruflichen Aufstiegs. Frau Larsell erhält die Chance, zunehmend eigenverantwortlich zu handeln und kann ihre Selbständigkeit schrittweise steigern. Durch die freiwillige Mitarbeit organisiert sich Frau Larsell Zugehörigkeit. Sie übernimmt die habituellen Äußerungen ihrer Quasi-Kolleginnen und strebt damit den Aufstieg in das entsprechende soziale Milieu sowie die Verbesserung ihrer Lebenslage an. Somit befindet sich Frau Larsell in einer Statuspassage. Sie strebt den beruflichen Wechsel von der geringfügig beschäftigten Verkäuferin (Ausbildungsberuf) zur Erzieherin (Fachschulstudium) an. Innerhalb dieses Sozialisationsprozesses bleibt die Teilhabe am Lebensbereich der anderen Mitarbeiterinnen begrenzt. Diese unvollständige Zugehörigkeit kann Frau Larsell teilweise durch die Bedeutung, welche das freiwillige Engagement für sie gewinnt, ausgleichen. Die freiwillige Tätigkeit ist zentral für die biografische Sinnkonstruktion: Durch die Betreuung von Babys und Kleinkindern kann Frau Larsell entscheidende Erfahrungen erleben, die ihr als Kind nicht ausreichend zugänglich sind. Durch den Austausch körperlicher Nähe im Sinne von Übertragung und Gegenübertragung erfüllt Frau Larsell emotionale Bedürfnisse der Kinder und erlebt selbst körperlich-sinnliche Zuwendung. Ihr Engagement wird damit zur erfüllten und erfüllenden Tätigkeit. Selbstzweifel und andere negative Gefühle treten dabei in den Hintergrund. Frau Larsell ist dann mit der Situation in hohem Maße zufrieden, sie handelt selbstbestimmt und mit pädagogischem Geschick. Frau Larsell übernimmt temporär eine Ersatzfunktion für die Kinder, beispielsweise die Mutterrolle. Für ihre Tätigkeit erhält Frau Larsell positive Rückmeldungen in Form von Anerkennung. Diese wirkt Engagement unterstützend und aufrechterhaltend, ist aber nicht konstitutionelle Bedingung. Auch ohne die Auszeichnung mit Zertifikaten und öffentlichen Präsentationen gehört die Ausübung ihrer freiwilligen Tätigkeit im Bereich der Kleinkindbetreuung untrennbar zu ihrem Leben dazu.

2 F ALLPORTRAIT : H ANNE Z EUTSCH , * 21.05.1945 „I CH BIN AN UND FÜR SICH AUCH SEHR SEHR RUHIG .“ Während des biografisch-narrativen Interviews präsentiert Hanne Zeutsch ihr Leben in Form eines institutionellen Lebenslaufs. Zwischen den Angaben zu ihrer Position in den jeweiligen Institutionen und zu ihrer beruflichen Entwicklung lässt sie kurze Passagen mit Informationen zur familiären Situation und zu

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 ihrem freiwilligen Engagement einfließen. Hanne Zeutsch erscheint als ruhige und freundliche Interviewpartnerin, die ihre Erzählung sehr bedacht formuliert. Hanne Zeutsch wird als zweite Tochter des Matrosen Gustav Teebig und seiner Frau Lotte geboren. Lottes Vater ist Dachdeckermeister. Er bewirtschaftet nebenberuflich mit seiner Frau einen Bauernhof in Mitteldeutschland, auf dem auch Lotte mit den beiden Mädchen wohnt. Der Vater von Hanne Zeutsch, Gustav Teebig, ist fast ausschließlich auf See und kommt selten nach Hause, bis er überhaupt nicht mehr zu seiner Familie zurückkehrt. Die Ehe wird geschieden. Um Geld zu verdienen, nimmt Lotte Mitte der 1940er Jahre für vier Jahre eine Arbeit als Gruppenleiterin eines Kinderheims auf Rügen an. In dieser Zeit werden Hanne und ihre Schwester überwiegend von den Eltern der Mutter betreut. Während ihrer beruflichen Tätigkeit im Kinderheim lernt Lotte den Schwager ihrer Kollegin kennen: den Fischer Friedhelm Zeutsch. Friedhelm lebt mit seinen Eltern und Geschwistern in einem Dorf auf Rügen in armen Verhältnissen. Friedhelms Vater ist als Werftarbeiter tätig, die Mutter ist Hausfrau. Friedhelm und Lotte werden ein Paar und ziehen auf den Bauernhof zu Lottes Eltern. Friedhelm bekommt Arbeit in einem Schacht in Mitteldeutschland. Als Hanne eingeschult wird, zieht die Familie gemeinsam mit den Familien zweier Geschwister von Friedhelm ins Erzgebirge, da die Männer dort Stellen im Bergbau annehmen. Im Vorfeld des Umzugs heiraten Hannes Eltern, um im neuen Wohnort eine Wohnung zugewiesen zu bekommen. Lotte ist in der neuen Heimat im örtlichen Clubhaus für die Organisation, zum Beispiel von Veranstaltungen, zuständig. Die Familie gehört also dem Arbeitermilieu an, ist durch die Zugehörigkeit zum Bergbau aber vergleichsweise besser gestellt als viele andere Arbeiterfamilien der DDR. Ende der 1950er Jahre, nach Hannes Schulzeit, erfolgt ein weiterer Umzug der Familie. Mit dem Ende des Bergbaus im bisherigen Wohnort wird der Vater in eine Kleinstadt in eine andere Region versetzt. Die Mutter bekommt Arbeit in einer Kinderkrippe, hier ist sie vorwiegend im Nachtdienst tätig. Hanne absolviert die Lehre zur Fachverkäuferin im Handel. Anschließend wird sie als Lehrlingsausbilderin eingesetzt. Nach ein, zwei Jahren nimmt sie allerdings eine Bürotätigkeit auf, da diese ihren Interessen weit besser entspricht. Nebenberuflich qualifiziert sie sich in diesem Zusammenhang zur Finanzbuchhalterin. Zu DDR-Zeiten ist die Familie an Arbeitseinsätzen im Wohngebiet beteiligt. Neben Verschönerungsarbeiten an der Bausubstanz geht es dabei um die Müllbeseitigung und das Mähen der Wiesen. Den Abschluss bildet stets eine kleine Feier mit Rostbratwürsten und Alkohol. So festigt sich die Zugehörigkeit der Familie zur Hausgemeinschaft, die alle Bewohner des Neubau-Blocks integriert.

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 Auch Hanne Zeutsch ist als junge Frau etwa dreimal im Jahr an diesen Einsätzen beteiligt. Darüber hinaus gehört sie zu einer Volkstanzgruppe. In diesem Rahmen engagiert sie sich unentgeltlich, indem sie mit der Gruppe zu verschiedenen Veranstaltungen öffentlich auftritt. Mit der Gründung einer eigenen Familie – Frau Zeutsch heiratet Mitte der 1960er Jahre das erste Mal – tritt das freiwillige Engagement in den Hintergrund. Hanne Zeutsch bekommt Ende der 1960er Jahre ihre Tochter. Nach der Scheidung 1971 heiratet sie noch zwei Mal. Auch diese Ehen werden wieder geschieden. Erst nach dem Tod ihrer eigenen Eltern und in der Rolle als Großmutter beginnt Frau Zeutsch wiederum, sich freiwillig zu engagieren. Vom Kindergarten der Enkelin Juliane werden Helferinnen und Helfer für die Kinderbetreuung bei Ausflügen, für Bastelarbeiten und Ähnliches gesucht. Frau Zeutsch sagt selbstverständlich zu. In der Kindergartenzeit der zweiten Enkelin sowie in der Schulzeit der beiden setzt sie ihr Engagement fort. Hanne Zeutsch hat eine sehr enge Beziehung zu ihrer ersten Enkelin Juliane, sodass diese überwiegend bei ihr wohnt. Nachdem im Jahr 2007 ihr Wohnblock saniert wird, erfolgt der Umzug in ein anderes Wohngebiet. Dort fühlt sich Frau Zeutsch aber nicht wohl, so dass sie mit Juliane wieder in ihr altes Wohngebiet zurückkehren will. 2.1 Biografieanalyse Bei der Auswertung des biografisch narrativen Interviews wird deutlich, dass sich das freiwillige Engagement von Hanne Zeutsch in einem bestimmten Rahmen herausbildet. Dieser setzt sich aus der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit (D 2.1.1), den Verhältnissen in der Herkunfts- und der eigenen Kernfamilie (D 2.1.2) sowie den sich wandelnden gesellschaftlichen und sozialräumlichen Bedingungen (D 2.1.3) zusammen. Folglich entwickelt das Engagement von Hanne Zeutsch in den unterschiedlichen Lebensphasen eine spezifische Struktur. Dieser Prozess wird in der biografischen Gesamtformung im dritten Kapitel deutlich. 2.1.1 Individuelle Merkmale In der Sinnkonstruktion von Hanne Zeutsch werden verschiedene individuelle Besonderheiten deutlich, die für sie als Person relevant sind. Hier spielen insbesondere ihre Zurückhaltung gegenüber anderen Menschen (a), ihre autonomen Handlungsimpulse bei hoher Anpassungsfähigkeit (b) sowie ihre grundlegenden persönlichen Leitorientierungen (c) eine Rolle. Diese individuellen Haltungen sind teilweise generativ tradiert und stehen daher in engem Zusammenhang zu

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 den in 2.1.2 erläuterten familiären Dispositionen. Sie bilden einen Teil des Kontextes für die Aufnahme eines Engagements. a) Zurückhaltung im Auftreten Sehr aussagefähig in der biografischen Erzählung ist die Anfangssituation, sind die ersten Sätze nach der Eingangsfrage der Interviewerin. Nachdem sich Hanne Zeutsch mit Namen vorgestellt hat, sagt sie (Z.7): „Bin am 17.03.45 geboren.“

Die Weglassung des Personalpronomens „Ich“ am Satzanfang zeugt davon, dass sie sich als Person nicht in den Vordergrund stellt. Sie hat es gelernt, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Diese Interpretation bestätigt sich durch wiederholtes Fehlen des Wörtchens „ich“ u.a. in Z.10, 12 und 19, zum Beispiel in der Aussage (Z.19): „Bin dann äh eingeschult worden dort, mit sechs Jahren.“

Dabei wird deutlich, dass Hanne Zeutsch diese Abneigung, im Mittelpunkt zu stehen, vor allem in Situationen beschreibt, in denen auch andere Personen eine Rolle spielen. Das weist darauf hin, dass sie eine gewisse soziale Ängstlichkeit hat und ihr eigenes Selbstvertrauen eher gering ausgeprägt ist. Diese Eigenschaften sind im Gesamtzusammenhang des Interviewtextes zu interpretieren. Die Frage, wie die Person Hanne Zeutsch ihrem sozialen Umfeld gegenübertritt, korreliert mit den Wirkungszusammenhängen in der Herkunftsfamilie (vgl. D 2.1.2 a) und mit ihrer Sicht auf sich selbst und ihre Fähigkeiten. Das Aufwachsen in einem relativ geschlossenen Familiensystem mit Diskontinuitäten bringt für Hanne Zeutsch Auswirkungen auf ihr Selbstwertgefühl und die Fähigkeit, ihren Mitmenschen unbefangen Vertrauen entgegen zu bringen, mit sich. Dies prägt sie für ihr späteres Leben, zum Beispiel sagt Frau Zeutsch über sich selbst (Z.213f): „Ich konnte mich dann auch nicht so durchsetzen wie vielleicht jemand anderes.“

Aus ihrer Sicht fehlt ihr das Durchsetzungsvermögen, sie erlebt sich im Vergleich mit anderen schwächer und findet, dass sie mit ihrer vorsichtigen Art selten eigene Ziele anvisiert und verfolgt. Indem sie den Vergleich durch das Wort „vielleicht“ relativiert, wird deutlich, dass Frau Zeutsch wenige Bezüge zu

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 anderen Menschen hat. Sie hält sich zurück. Sie kann es nicht genau einschätzen, aber sie vermutet, dass sich andere besser durchsetzen können als sie selbst. So erklärt sich ihre Abneigung, mit Menschen umzugehen. Im Kontrast dazu beschreibt sie sehr deutlich die Freude an ihrer beruflichen Tätigkeit als Büroangestellte (Z.199ff): „Ich war lieber so im Büro für mich und hab dort meine Arbeit gemacht. Das hat mir mehr Spaß gemacht.“

In Z.143 bringt sie ihre Selbstbeschreibung auf den Punkt: „Ich bin an und für sich auch sehr sehr ruhig“.

Im Umgang mit anderen hält sich Hanne Zeutsch lieber zurück. Sie gehört nicht zu denen, die laut ihre Meinung vertreten. Die Zurückhaltung im Auftreten stellt also einen wichtigen Anteil ihrer Sinnkonstruktion dar. b) Hohes Anpassungsvermögen mit autonomen Handlungsimpulsen An der Darstellung ihrer ersten sechs Lebensjahre zeigt sich neben ihrer Zurückhaltung gegenüber Mitmenschen noch ein weiteres charakteristisches Merkmal: ihre Kompetenz, sich an Situationen und Anforderungen anzupassen. Schon als kleines Mädchen hat sie gelernt, sich auf Diskontinuitäten einzustellen (vgl. D 2.1.2 a). Auf Entbehrungen der Nachkriegszeit – Hanne Zeutsch ist Jahrgang 1945 – geht sie im Interview nicht ein, sie klagt nicht. Sie passt sich fraglos an die Gegebenheiten an, stellt die positiven Aspekte der entsprechenden Lebensphase in den Vordergrund ohne auf Schwierigkeiten einzugehen. Als Beispiel für die Fähigkeit, sich in Situationen einzufügen, steht ihre Lehrausbildung. Hanne Zeutsch hat den Erstberuf der Fachverkäuferin gewählt, merkt dann aber, dass ihr diese Tätigkeit nicht liegt. Dennoch absolviert sie die dreijährige Lehrzeit und lässt sich im Anschluss daran sogar noch als Ausbilderin einsetzen. Hanne Zeutsch erduldet also mehrere Jahre, indem sie sich den Anforderungen anpasst (Z.67 und 69f): „Na, die drei Jahre warn schnell rum. Kann man sich ja vorstellen. [...] Hatte auch sehr viele Freundinnen und so, durch, durch die Lehre jetzt und alles.“ Genau wie in der Kindheit legt sie den Schwerpunkt auf die positiven Erlebnisse. Doch dann bricht ihr Autonomiebestreben durch (Z.80):

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 „Bin aber dann ins Büro.“

Ein ähnliches Muster läuft in ihren drei Ehen ab. Sie erträgt die unglückliche Situation, die mit dem hohen Alkoholkonsum des Ehepartners verbunden ist, über mehrere Jahre (Z.98f): „Und das (1Sek.) konnt ich dann für die Dauer nicht mehr mitmachen. Ich hab das sieben Jahre mitgemacht.“

Dann folgt der Bruch: sie lässt sich scheiden (Z.102): „Und hab mich dann es erste Mal scheiden lassen.“

Jahrelanges Anpassungsvermögen wird von autonomen Handlungsimpulsen durchbrochen. c) Vertrauen und Reziprozität als wesentliche Leitorientierungen Hanne Zeutsch heiratet nach ihrer ersten Ehe, die sie als „nicht das Wahre“ (Z.101) charakterisiert, weitere zwei Mal. Hier zeigt sich, dass ihr Wunsch nach familiärer Geborgenheit, gegenseitigem Vertrauen und Harmonie sehr stark ist. Dennoch erlebt sie Enttäuschungen. Ihre Vorstellung von Reziprozität wird in der eigenen Kernfamilie nicht umgesetzt. Immer wieder ist sie diejenige, die in die Beziehung investiert und nicht die erwartete Gegenleistung erhält. Anders erlebt sie das als Erwachsene mit ihrer Herkunftsfamilie. Das Prinzip „Wer gibt, erhält auch etwas“ funktioniert dort. Die Eltern unterstützen Hanne Zeutsch beispielsweise nach deren Scheidung (vgl. D 2.1.2 a) und verbringen mit ihr und ihrer Tochter gemeinsam den Urlaub. Später setzt sich Hanne Zeutsch auch für das Wohlergehen der Eltern ein (Z.248ff): „Hab ich sie auch jeden Tag, also man kann sagen jeden Tag, besucht. Und auch äh, n Haushalt und s Einkaufen alles für meine Eltern erledigt.“

Reziprozität ist für Hanne Zeutsch im Umgang mit ihren Eltern eine selbstverständliche Verhaltensnorm. Wenn Frau Zeutsch für andere etwas tut, vertraut sie darauf, dass ihr Engagement im Gegenzug einen entsprechenden Schutzraum erhält. Gegenseitiges Vertrauen ist für sie als Grundlage jeglicher sozialer Interaktion unverzichtbar. Dies gilt in erster Linie für den innerfamiliären Bereich. Der hohe Stellenwert von Vertrauen wird aber auch in ihrem freiwilligen Engagement deutlich: Hanne

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 arbeitet ehrenamtlich im Kindergarten ihrer Enkelin mit. Dieses Engagement nimmt sie aber erst auf, nachdem sie die Vertrauenswürdigkeit entsprechend geprüft hat. Mit den dortigen Erzieherinnen verbindet sie der persönliche Kontakt über längere Zeit. „Da hab ich die ja fast jeden Tag in Kindergarten geschafft und geholt. Und dadurch hab ich eben die Leute auch alle gekannt, ne.“ (Z.420ff)

Zu ihnen hat Hanne Zeutsch Vertrauen, sie betreuen die Enkelin. Frau Zeutsch kennt die Abläufe in dieser Institution genau, denn auch ihre eigene Mutter ist in dem Bereich beruflich verortet. All dies vermittelt ihr Sicherheit, schafft die Basis für ihre Engagementbereitschaft. Demgegenüber erschließt Hanne Zeutsch im Nachfrageteil im thematischen Kontext der Entstehung ihrer Engagementbereitschaft explizit einen NegativHorizont (Z.432f): „Ich komm bloß nicht mit Leuten klar, die eben so falsch und hinterlistig sind. Also da block ich vollkommen ab.“

Hier gibt sie generalisierend ihre Reaktion auf derartige Menschen zu erkennen. Sie erinnert keine spezielle Situation, kennt aber offensichtlich ihre Reaktion aus der eigenen Lebenserfahrung. Auf derartige Herausforderungen reagiert Hanne Zeutsch entsprechend der Kategorie „Zurückhaltung im Auftreten“: Sie zieht sich zurück. Handlungsalternativen wie Kommunizieren des Konfliktes, Konfrontation oder offensives Eintreten für ihre eigenen Interessen kommen für Hanne Zeutsch nicht infrage. Im Gegenteil: Sie verweigert bewusst und absolut Kommunikation und Kooperation, wenn die Vertrauensbasis durch schlechte Erfahrungen gestört ist, ohne dass sie dem Gegenüber ihre erlebten Gefühle vermittelt. 2.1.2 Familiäre Disposition Ein wesentliches Merkmal der familiären Disposition stellt das Aufwachsen in engen familiären Bezügen, die von Diskontinuitäten durchbrochen sind, dar. Diese Konstellationen werden in D 2.1.2 a erläutert. Als Folge der innerfamiliären Beziehungsgestaltung orientiert sich Hanne Zeutsch in ihrem Handeln häufig an familiär tradierten Mustern. Diese betreffen unterschiedliche Lebensbereiche, so die Berufstätigkeit als Normalitätskonstrukt und der hohe Stellenwert familiärer Bindungen (D 2.1.2 b). Außerdem ist die Übernahme freiwilliger Tätigkeiten

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 im Rahmen eines Engagements bereits im Kontext der Herkunftsfamilie zu sehen, wie in D 2.1.2 c deutlich wird. a) Relativ geschlossenes Familiensystem mit Diskontinuitäten Im Interview berichtet Hanne Zeutsch kaum über die Zeit ihrer Kindheit, sie sagt lediglich (Z.10–17): „Und habe dort äh mit meinen Eltern auf so’n äh Bauerngehöft gewohnt. (Interviewerin: Hhm.) Die Großeltern auch noch mit und bin dort eben groß geworden. Es hat mir auch sehr gefallen dort. (Interviewerin: Hm.) Ich habe dann noch ne Schwester, die ist zwei Jahre älter wie ich. Und wir haben uns auch sehr viel mit Tieren beschäftigen können, dort auf dem Bauernhof. Was eben sehr viel Spaß gemacht hat.“

Sie benennt das Zusammenwohnen mit Eltern, Großeltern und Schwester auf dem Bauernhof, ohne dabei von Heimat oder von harmonischen Familienbeziehungen zu sprechen. Glückliche gemeinsame Familienerlebnisse werden nicht angeführt. Das Wort „eben“ steht hier für eine minimalistische Variante von „großwerden“. Sie ist groß geworden – ja – aber mehr auch nicht. Synonym könnte für „eben“ auch „gerade so“ stehen. Bemerkenswerte Erinnerungen an besondere Beziehungen, einzelne liebevolle Menschen oder außergewöhnliche Ereignisse werden nicht angeführt. Was ihr einzig sehr gefällt in dieser Zeit ist die optimale Möglichkeit, sich mit Tieren zu beschäftigen. Im biografischnarrativen Interview geht Frau Zeutsch nicht auf Einzelheiten ein. Sie erzählt weder, dass die Eltern sich trennen, noch, dass ihre Großeltern für sie lange Zeit die Elternrolle übernehmen. Dies zeugt von großer Loyalität gegenüber der Familie. Frau Zeutsch möchte ihre Familie nicht in ein schlechtes Licht rücken, keine von der Norm abweichenden Ereignisse darstellen. Die Familie bedeutet ihr sehr viel und sie möchte die Angehörigen nicht durch negative Erzählungen diskreditieren. Dies ist ein Beleg dafür, dass die familiären Regeln vorsehen, dass die Familienmitglieder unter allen Umständen zusammenhalten. Es ist kein Raum für kritische Distanz. Diese Loyalität der Angehörigen untereinander ermöglicht das Zusammenleben vieler Personen, die zur Familie gehören, auf relativ engem Raum. Hanne Zeutsch erzählt im gesamten biografisch-narrativen Interview wenig Details zu ihrer Herkunftsfamilie. Selbst beim zweiten Interviewtermin, an dem es um die familiengeschichtlichen Daten geht, bleibt vieles im Dunkeln. Hanne Zeutsch berichtet zwar von einem Partner der Mutter, mit dem diese in erster Ehe zusammen ist. Doch erst bei einem dritten Gespräch, das wegen noch offener Fragen einige Zeit später vereinbart wird, erzählt Frau Zeutsch, dass dieser

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 Mann ihr Vater ist. Der „Vati“ Friedhelm aus dem biografisch-narrativen Interview wird zum Stiefvater. Durch die Erzählung im Interview möchte Frau Zeutsch keine Anhaltspunkte für eine unregelmäßige Familiengeschichte geben. Sie schützt ihre Familie, mit der sie sehr enge Bezüge verbinden. Auch dies ist ein Beleg für die große Loyalität zur Familie, für die relative Abgeschlossenheit gegenüber Außenstehenden wie der Interviewerin. Frau Zeutsch zeichnet lange Zeit das Bild der normalen Familienverhältnisse, bevor sie Einblick in die erlebten Konstellationen gibt. Erst beim dritten Treffen mit der Interviewerin erzählt sie weitere Details zum familiären Kontext. Aus dem biografisch-narrativen Interview und den Gesprächen zur Familiengeschichte ergibt sich insgesamt folgendes Bild zur Familiengeschichte. Die ersten Lebensjahre wachsen Hanne Zeutsch und ihre Schwester ohne ihren Vater auf. Die Eltern sind zwar verheiratet, doch ihr Vater ist fast ständig unterwegs. Auch die Mutter Lotte ist für sie nur sehr selten verfügbar, denn Lotte Zeutsch erfährt über die Tageszeitung, dass für ein Kinderheim auf Rügen Betreuerinnen gesucht werden. Als ihre eigenen Kinder noch klein sind, beginnt Lotte diese berufliche Tätigkeit, um Geld zu verdienen. Vier Jahre lang ist Lotte Zeutsch daher jeweils über mehrere Monate nicht zu Hause. Hanne wird in dieser Zeit gemeinsam mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester von den Großeltern mütterlicherseits betreut. Sie leben auf einem Bauernhof in dem kleinen Dorf in der Mitte von Ostdeutschland. Die Situation ändert sich, als Lotte Zeutsch durch ihre berufliche Tätigkeit Friedhelm kennen lernt. Es ist der Schwager ihrer Arbeitskollegin. Er stammt von Rügen und hat eine Fischerei-Lehre absolviert. Dennoch lassen sich die beiden nicht an der Ostsee nieder, Friedhelms Eltern leben in ärmlichen Verhältnissen. Friedhelm zieht mit Lotte zu deren Eltern und den beiden Mädchen auf den Bauernhof der Eltern von Lotte. Auf dem Bauerngehöft ist genug Platz. Friedhelm findet Arbeit in einem nahe gelegenen Schacht. Auch sein jüngerer Bruder findet dort Arbeit und zieht mit seiner Partnerin ebenfalls auf den Bauernhof. Von den Großeltern werden also zwei weitere miteinander verwandte Kernfamilien integriert, was die Bindungsfähigkeit innerhalb des Familiensystems unterstreicht. Eine Steigerung findet diese Entwicklung, als die Familien von Friedhelm und seinem Bruder ins Erzgebirge umziehen. Dann nämlich kommt zusätzlich Friedhelms Schwester mit ihrem Partner hinzu, der ebenfalls eine Stelle im Bergbau annimmt. Die drei Geschwister bilden mit ihren Familien ein relativ geschlossenes System, sie unterstützen sich gegenseitig und stellen eine eigenständige Gruppe in der Bergarbeitersiedlung dar. Ein weiterer Beleg für die relative Geschlossenheit des Familiensystems erschließt sich aus einer Sequenz des narrativen Interviews in den Zeilen 238–244:

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 „Und wie gesagt, ich hatte auch äh, sehr gute Eltern, wenn wir da jetzt noch mal zurück, (Interviewerin: Ja, na.) ne sehr gute Kindheit und hing auch sehr an meinen Eltern. (Interviewerin: Hast du da jetzt spezielles Erlebnis noch mal vor Augen?) Naja, die Anfangszeit, wo ich das erste Mal auch geschieden war […].“

Obwohl Hanne Zeutsch sich auf die Kindheit rückbezieht, berichtet sie kein positives Ereignis aus dieser Zeit. Sie schätzt ein, dass sie als Kind sehr an den Eltern hängt. Eine bleibende Kindheitserinnerung stellt somit der eigene Wunsch nach Bindung zu den Eltern dar. Dies bedeutet kein fürsorgliches Kümmern um die Tochter, sondern drückt eine große Sehnsucht nach einer intakten Familie aus, nach dem vertrauensvollen Umgang mit ihren Angehörigen. Auf die Nachfrage der Interviewerin führt sie den guten Zusammenhalt als erwachsene Frau zu ihren Eltern an. Die starken Bindungen, welche in dem relativ geschlossenen Familiensystem wirken, dauern auch im Erwachsenenalter, also nach der Ablösung von Frau Zeutsch von ihrer Herkunftsfamilie, an. Der Wunsch nach intakten Familienbeziehungen erklärt sich insbesondere durch Diskontinuitäten, welche in allen drei Generationen zu beobachten sind. Zunächst wechseln für Hanne Zeutsch und ihre Schwester die primären Bezugspersonen, als die Mutter Lotte zum Arbeiten in ein Kinderheim an die Ostsee geht. Der Bruch mit dem Vater dürfte zwar für die beiden Mädchen keine besonderen Veränderungen mit sich bringen, da dieser auch im Vorfeld der Scheidung meist abwesend ist. Doch es folgen weitere Brüche, zunächst der Umzug, den Hanne im Alter von etwa sechs Jahren erlebt. Der dann folgende Umzug nach Abschluss ihrer Schulzeit ist für sie besonders schwer (Z.57–60): „Ja, jetzt mussten wir gezwungenermaßen weg. […] Wir haben dann ne Wohnung bekommen. Also meine Eltern und (1 Sek.) ich und meine Schwester und mussten dort weg. Das ist uns sehr schwer gefallen.“

Die Diskontinuitäten setzen sich fort in der Kernfamilie von Hanne Zeutsch, in der sie und ihre Tochter Sybille drei Scheidungen erleben. Auch in der Familie der Tochter gibt es Brüche. Zunächst zerbricht die Partnerschaft und dann wechselt die primäre Bezugsperson der ältesten Tochter von Sybille. Das Mädchen Juliane zieht zur Großmutter, zu Hanne Zeutsch. Dass sich der Wechsel innerhalb des familiären Rahmens vollzieht, ist ein weiterer Beleg für die relative Geschlossenheit des Familiensystems. Diese engen Bezüge zur Herkunftsfamilie tragen mit dazu bei, dass sich Frau Zeutsch in der Entwicklung ihres Wertesystems sehr stark an familiären Leitori-

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 entierungen ausrichtet. Im Folgenden wird deutlich, dass dieser Familienbezogenheit selbst große Bedeutung für Hanne Zeutsch zukommt. b) Ausrichtung an familiären Leitorientierungen Die Sehnsucht nach einem harmonischen Familienleben scheint im Verlauf der biografischen Erzählung immer wieder durch und ist im Zusammenhang damit zu sehen, dass sich Frau Zeutsch nach familiären Leitorientierungen richtet. Der Wunsch nach familiärer Nähe lenkt ihr Augenmerk immer wieder auf familiäre Grundsätze. Damit ist die Intention verbunden, durch Erfüllen der gültigen Normen doch noch das familiäre Ideal zu erreichen. Beispielhaft für zentrale Leitorientierung, die innerhalb des Familiensystems Bedeutung gewinnen, stehen der hohe Stellenwert familiärer Bindungen und die Berufstätigkeit als Norm. Hoher Stellenwert familiärer Bindungen Im Laufe der biografischen Erzählung kommt Hanne Zeutsch immer wieder kurz auf ihre Familie zu sprechen. Sie tut dies in einer Art und Weise, die tiefe Loyalität gegenüber den Familienmitgliedern beweist (vgl. D 2.1.1 b). Zum Beispiel heißt es in Z. 238–241: „Und wie gesagt, ich hatte auch äh, sehr gute Eltern, […] ne sehr gute Kindheit, ne.“

Hanne Zeutsch bezeichnet ihre Eltern und synchron dazu ihre ganze Kindheit mehrfach pauschal als sehr gut, unabhängig von erlebten Defiziterfahrungen. Konflikte und Streit sind normalerweise Teil jeder Sozialisation, doch Hanne gibt kein differenziertes Bild ihrer Eltern. Sie möchte die für sie als Kind verantwortlichen Angehörigen nicht negativ darstellen, die Reflexion der Familienbeziehungen bleibt gekoppelt an Hannes Sehnsucht nach familiärer Harmonie. Die Schwester Ute findet anfangs nur knapp Erwähnung. Im Text kristallisiert sich aber gerade auch in Bezug auf Ute ein weiteres Muster heraus, das den hohen Stellenwert familiärer Bindungen unterstreicht. In einer Krisensituation, nämlich nach dem Umzug ins Erzgebirge, spielt Ute plötzlich eine wichtige Rolle. Nach ihrer Ankunft kennt die Familie dort kaum jemanden. Alles ist neu, und sie müssen sich erst in der Wohnsiedlung einleben. In dieser Lage benennt Hanne die Schwester als Partnerin: „Und bin dann dort ein, ein Ort weiter in die Schule gegangen. Mit meiner äh Schwester zusammen.“ (Z.35f)

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 „Ein Ort weiter“ ist fremdes Terrain, nicht das bekannte Nachbardorf. Mit Ute zusammen hat sie diese Herausforderung bewältigt. Sie stehen sich gegenseitig bei in dieser Umbruchsituation. Auch an verschiedenen anderen Stellen im Interview tritt dieser Rückbezug auf die Familie in Krisen als Muster sehr deutlich hervor. In schweren Zeiten rückt die Familie praktisch zusammen, ohne dass jedoch große emotionale Nähe bzw. gegenseitige Zuneigung erkennbar wird. Das Ideal der gelungenen Familienbeziehungen versucht Hanne in der eigenen Partnerschaft umzusetzen. Ihre langandauernden Bemühungen – insgesamt lebt Hanne etwa 30 Jahre lang in Partnerschaften – zeigen ebenfalls die Bedeutsamkeit eines harmonischen Miteinanders. In der Gegenwart, in der Lebensphase, in der das Interview aufgenommen wird, spielen familiäre Bindungen weiterhin eine große Rolle. Die Erzählung bzw. Argumentation zur Begründung ihrer Mutterrolle für die Enkelin Juliane zeigt die innere Auseinandersetzung mit Themen der Familienbeziehungen und ihrer Schilderung nach außen. Die Erklärung von Frau Zeutsch für die Aufnahme von Juliane in ihren Haushalt steht, auch durch die stockende Ausdrucksweise, für die enge Verbundenheit und faktische Nähe der Familienmitglieder: „Es gab keine, äh, familiären, jetzt äh na (1 Sek.) Sachen, wo äh wo ich sagen könnte: ‚Nee, die fühlt sich da nicht wohl.ࡐ Die fühlt sich bei ihrer Mutti genauso wohl wie bei mir.“ (Z.406f)

Innerfamiliäre Abhängigkeiten verhindern die offene Darstellung der Kausalitäten von Julianes Umzug (vgl. D 2.1.2 a). Ähnlich wie Hanne lange von ihren Großeltern erzogen wird, nimmt sie jetzt die Enkelin Juliane bei sich auf. Berufstätigkeit als Normalitätskonstrukt Die Integration in den Erwerbsprozess ist ein wesentliches Merkmal sowohl in der Herkunftsfamilie als auch im Leben von Frau Zeutsch und wird in der nächsten Generation fortgesetzt. Erstmals findet dieser Aspekt im Interview in Zeilen 19ff seinen Niederschlag: „Durch mein Vati, der war an der Ostsee zu Hause eigentlich. Hat dann bei der Firma angefangen in, im Erzgebirge.“

Hier wird der Umzug der Familie vom kleinen Dorf in Mitteldeutschland in die Siedlung im Erzgebirge geschildert. Der von der Küste stammende Vater ist bereit, für die Sicherung der beruflichen Zukunft einen Umzug über große geografische Entfernungen auf sich zu nehmen, und die ganze Familie begleitet ihn.

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 Auch der Ende der 1950er Jahre aus betrieblichen Gründen erforderlichen Versetzung in eine andere Region folgt der Vater und damit die ganze Familie: „Obwohl uns das sehr gefallen hat dort, es war auch Schneegebiet“ (Z.50f).

Der beruflichen Integration kommt also eine deutliche Vorrangstellung zu. Von der Mutter berichtet Hanne Zeutsch während des Gesprächs zur Familiengeschichte, dass diese für einige Jahre in einem entfernten Kinderheim tätig ist, während die Kinder im Vorschulalter von den Großeltern betreut werden. Auch bei der Mutter zeigt sich also der unbedingte Wunsch, arbeiten zu gehen, Geld zu verdienen und damit einen gewissen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Status zu erreichen. Lotte setzt dieses Streben im Lebensverlauf weiterhin um: Im Erzgebirge arbeitet sie im Clubhaus und nach dem nächsten Umzug in einer Kinderkrippe. Im Leben von Hanne Zeutsch wird die intergenerativ tradierte Normalität beruflicher Einbindung an mehreren Stellen sichtbar. „Na jedenfalls hab ich dann meine Lehre angefangen.“ (Z.63)

Das Wörtchen „meine“ spricht davon, dass jeder seine eigene Lehre anfangen muss, dass es ohne Lehrzeit gar nicht geht. „Meine Lehre“ gehört für sie zum Menschen wie „meine Haarfarbe“. Später nimmt sie eine Tätigkeit im Büro auf und nutzt die Möglichkeit, sich in diesem Feld weiterzubilden: „Hab ne Schulung dann noch mitgemacht zwischendurch. Damit ich das eben, ne, bewältigen konnte eben, als Finanzbuchhalterin.“ (Z.207f).

Tief verwurzelt und gesellschaftlich gefördert ist die Berufstätigkeit als Norm. Auch bei der Beschreibung der Ehepartner achtet Hanne Zeutsch darauf, den beruflichen Erfolg der jeweiligen Kandidaten herauszustreichen: „Mein erster Mann war Kellner. […] Er war sehr sehr beliebt und sehr bekannt und sehr gut in seinem Beruf.“ (Z.93f) Der dritte Mann „war auch sehr fleißig“ (Z.161).

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 Das Maß des beruflichen Erfolges stellt also für sie das wesentliche Kennzeichen des Partners dar. Die große Bedeutung beruflicher Integration wird entsprechend an die Tochter von Hanne Zeutsch (Sybille) weitergegeben. Damit diese und ihr Partner arbeiten gehen können, bringt Hanne Zeutsch die Enkelin zur Kita (Z.402f): „Und da hab ich mich eben bereit erklärt, das zu machen, damit den ihre Arbeit weiter geht.“

c) Selbstverständliche Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeiten Das Engagement, sich ohne Bezahlung für Menschen bzw. für Institutionen in ihrem Sozialraum zu engagieren, erlebt Hanne Zeutsch auf verschiedene Weise in ihrer Herkunftsfamilie. Von Friedhelm erzählt sie: „Er hat sich auch äh nach der Arbeit sehr bemüht, dass (1Sek.) also die Anlagen vorm Haus zu pflegen und zu hegen. […] Große Beete angelegt. […] Mit meiner Mutti zusammen.“ (Z.115–120).

Die Mutter ist darüber hinaus Mitglied in einer Frauenorganisation, die Bildungs- und Freizeitveranstaltungen für Frauen durchführt. Durch das gemeinsame Wohnen der Familie im Wohngebiet gehört die Teilnahme an Arbeitseinsätzen zur Normalität (vgl. D 2). Demzufolge ist auch Hanne Zeutsch daran beteiligt. Ihr Engagement als Jugendliche ist, ebenso wie das der Mutter, im Grenzbereich zur Freizeitgestaltung angesiedelt. Mit der Integration in eine Volkstanzgruppe wählt sie aber einen völlig anderen Interessenbereich als die Eltern. Mit diesem Hobby sind unbezahlte Auftritte verbunden, dadurch rechnet Hanne Zeutsch es in ihrer Erzählung dem freiwilligen Engagement zu. Charakteristisch ist dabei weniger die Freiwilligkeit: „Mussten dann auch immer mal auftreten, wenn irgendwo ein Fest war. Sind wir dann aufgetreten.“ (Z.310f).

Die Bereitschaft, etwas für die DDR-gesellschaftlichen Interessen zu tun, gleicht wiederum der Grundeinstellung in der Herkunftsfamilie. Die Betrachtung der Engagementgewohnheiten in Bezug auf diejenigen der Eltern zeigt, dass Hanne Zeutsch die grundsätzlich positive Einstellung zum freiwilligen Engagement von ihren Eltern übernimmt. Es ist normal, sich zu engagieren. Dies ist ihr aus dem Elternhaus bekannt und vertraut. Während sich Vater und Mutter langjährig und in überdurchschnittlichem Maß für die Allge-

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 meinheit einbringen, wählt Hanne Zeutsch jedoch im Erwachsenenalter die Rahmenbedingungen und das Feld ihres Einsatzes sorgfältig aus. Freiwillige Tätigkeiten außerhalb der Familie sind bei ihr abhängig vom Schutzraum des Vertrauens sowie von der Gewissheit des gegenseitigen Gebens und Nehmens. Die persönlichen Lebens- und Leidenserfahrungen überlagern also die mögliche Normsetzung durch das Elternhaus. Für Hanne Zeutsch ist die Sicherung ihres persönlichen Lebensbereiches wichtiger als die kontinuierliche Interaktion beispielsweise im Kontext eines Ehrenamtes. Im Gegensatz zum Engagement der Eltern wird ihr Einsatz durch vorsichtiges Herantasten eingeleitet und sie investiert ein Ausmaß an Engagement, das ihrer Erwartung der Rückwirkung entspricht. Es ist also eine familiäre Verwurzelung des Engagements zu verzeichnen, jedoch keine adäquate Weitergabe in Bezug auf Merkmale wie Art, Umfang und Intensität. 2.1.3 Gesellschaftliche und sozialräumliche Einflüsse In ihrer biografischen Erzählung gibt Hanne Zeutsch Hinweise zur Verortung in der jeweiligen Lebenswelt bzw. im Gesellschaftssystem. Dabei kristallisieren sich die Schwerpunkte a) Punktuelle soziale Bindungen im Sozialraum, b) Sicherung institutioneller Abläufe durch Engagement und c) Verankerung in DDRBezügen heraus. a) Punktuelle soziale Bindungen im Sozialraum Schon in den ersten Interviewsequenzen erweckt Hanne Zeutsch den Eindruck der Heimatlosigkeit, der fehlenden Verwurzelung in ihrem Geburtsort (Z.11; vgl. D 2.1.2 a): „Und habe dort äh mit meinen Eltern auf so’n äh Bauerngehöft gewohnt.“

Sie sagt „so’n Bauerngehöft“, nicht „unser Hof“. Das transportiert ein Distanzgefühl und drückt keine enge Bindung an dieses Zuhause aus. Sie hat dort lediglich „gewohnt“, nicht gelebt. Sie ist dort „eben groß geworden“, mehr nicht. Dazu passen ihre Selbstbeschreibung als sehr sehr ruhiger Mensch (vgl. D 2.1.1 a) und die Aussage: „Ich bin mehr so äh, wie soll ich n sagen, so’n Einzelgänger.“ (Z.197).

Kontakte, die sie in ihrer Lebenswelt hat, sind häufig durch Institutionen initiiert. Durch den Bezug zu den Mitarbeiterinnen der Kindertagesstätte findet Hanne

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 Zeutsch den Zugang zum Engagement (vgl. D 2.1.1 c) und lernt dadurch andere Eltern und Großeltern im Wohngebiet kennen. Auch nach dem Umzug in das Wohngebiet, in dem sie zum Zeitpunkt des Interviews lebt, orientiert sie sich an institutionellen Angeboten: „Es wird schon hier Möglichkeit geben von der Volkssolidarität und so, was ich gelesen hab.“ „Aber ich möchte jetzt erst mal die andere Sache abschließen mit der Wohnung. (Interviewerin: Hm. Na genau.) Bevor ich da wieder irgendwo (1 Sek.) mit einsteige oder hingehe, ne.“ (Z.454ff)

Es wird deutlich, dass sie sich schon mit dem Gedanken befasst hat, andere Menschen kennen zu lernen. Die damit verbundenen Vorteile, zum Beispiel die Unterstützungsmöglichkeiten durch ein größeres soziales Netz, gewinnen allerdings wenig Gewicht. Der erneute Wohnungswechsel beansprucht ihre ganze Kraft. In dieser krisenhaften Situation: „Aber wie gesagt, äh, ich fühl mich hier nicht wohl in dem Wohngebiet. Und möchte wieder in mein altes Wohngebiet zurück, ne.“ (Z.445)

zieht Hanne Zeutsch sich auf die Kernfamilie zurück (vgl. 2.1.2 b), indem die Enkelin Juliane in ihren Haushalt integriert ist. Soziale Kontakte beschreibt sie also im Wesentlichen im familiären Umfeld, darüber hinaus spielen Beziehungen zu anderen Menschen für Frau Zeutsch nur punktuell eine Rolle. b) Engagement infolge institutioneller Anfragen Hanne Zeutsch erzählt im Interview von verschiedenen freiwilligen Engagements im Laufe ihres Lebens. Diese reichen angefangen von den Pflege- und Reinigungsarbeiten im Wohngebiet als Kind über die unbezahlte Teilnahme an Tanzgruppenauftritten im Rahmen gesellschaftlicher Verpflichtungen bis hin zur Unterstützung institutioneller Sozialisationsinstanzen ihrer beiden Enkelinnen. In jedem Fall erfolgt der Einstieg in das Engagement aber nicht durch eigeninitiierte Suche nach einem Betätigungsfeld, sondern Frau Zeutsch engagiert sich ausschließlich infolge von Anfragen bzw. Aufrufen institutioneller Ansprechpartner. Frau Zeutsch demonstriert, dass sie bereit ist, etwas für die Gemeinschaft zu tun. Sie schließt sich nicht durch Absagen aktiv aus, sondern beteiligt sich an vorgeschlagenen gemeinsamen Aktionen. Damit hält sie einen Normalitätsstatus aufrecht, sie zeigt sich sozial integriert. Ein Beispiel hierfür ist das Zustandekommen ihres Einsatzes im Kindergarten der Enkelin Juliane (vgl. D 2):

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 „Vom Kindergarten, wer Zeit hat und wer Lust hat, mit zu gehen, paar Kinder mit zu betreuen. Und da hab ich mich dann auch mit bereit erklärt, ne.“ (Z.383–384)

Außerdem sagt Hanne selbst von sich: „Wenn ich angesprochen werd, dann bin ich auch bereit, ne, jemanden zu unterstützen und zu helfen.“ (Z.429f).

Hanne Zeutsch beschreibt sich also als Mensch, der zu freiwilligem Engagement dann bereit ist, wenn vonseiten der zu unterstützenden Person oder Institution explizit die Hilfe angefragt wird. Dies ist auch im Zusammenhang ihrer individuellen Merkmale zu sehen. Ihre ruhige und zurückhaltende Art würde jeder Form von selbstinitiierter Gestaltung der Engagementlandschaft entgegenstehen. c) Verankerung in DDR-Bezügen Im biografisch-narrativen Interview bezieht Hanne Zeutsch vielfältig Stellung zu ihrem Leben in der DDR. Dabei zeigt sich ihre anhaltende, relativ intensive Bindung an die DDR-Gesellschaft. Sie bringt ihre auch heute andauernde Präferenz des damaligen Gesellschaftssystems zum Ausdruck. Frau Zeutsch berichtet zum Beispiel von der beruflichen Tätigkeit von Friedhelm in einer Art und Weise, die ihm große Anerkennung zollt und seinen Erfolg betont: „Und er hatte auch ne große Auszeichnung damals: Er war Banner der Arbeit, Held der Arbeit.“ (Z.108f).

Indem sie das „Banner der Arbeit“ im Überschwang ihrer Erzählung personalisiert und ihren Vater darin verwirklicht findet, zeigt sie die hohe Bedeutung dieser Leistung für sie persönlich. Sie ist extrem stolz darauf, dass er es geschafft hat, den Anforderungen des sozialistischen Wirtschaftssystems gerecht zu werden. Die Integration dieses Anspruches, die Vorgaben der Vorgesetzten zu erfüllen, in ihr eigenes Wertesystem wird in Zeile 216f deutlich: „Na ich sollte das ja machen, es war ja ein Vorschlag von von der HO damals, dass ich Lehrlinge ausbilden soll. Aber es war nicht so (1Sek.) mein richtiges Ding.“

Selbstverständlich wird sie als Ausbilderin tätig, obwohl dies für sie alles andere als die berufliche Erfüllung bedeutet. Die damaligen gesellschaftlichen Bedingungen bilden für Hanne Zeutsch maßgebliche Handlungsmaxime, die sie inte-

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 griert und deren in der Vergangenheit liegende Umsetzung sie unhinterfragt darlegt. Nachdem Hanne Zeutsch erzählt, dass sie sich nach ihrem Umzug, der Anfang der 90er Jahre einzuordnen ist, nicht mehr im Wohngebiet engagiert, sagt sie von der Situation in der DDR: „Wurde das eben bissel mehr gefördert alles. Dass mal bissel was auch gemacht wird, ne.“ (Z.347f).

In ihrer Erinnerung bewegt die DDR die Menschen stärker als die gesellschaftlichen Institutionen heute, etwas für die Verschönerung des Wohnumfeldes zu tun. Das Wort „gefördert“ bezeichnet hilfreiche Handlungen, ohne zwingend Druck auszuüben. Hanne Zeutsch stellt somit einen optimalen Umgang der Gesellschaft mit den Bewohnern dar, um das Ziel, nämlich „dass mal bissel was gemacht wird“, zu erreichen. Der Zwangscharakter dieser Arbeiten wird in dem Zusammenhang nicht erwähnt, kommt aber an anderer Stelle zum Ausdruck: „Ja, wir mussten auch so äh zu DDR-Zeiten, so Einsätze machen. Also im Jahr so drei Einsätze“ (Z.323f).

Die DDR wird also beim Vergleich der Engagementförderung nachträglich idealisiert. Ebenso stellt Frau Zeutsch die vergleichsweise positiven Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt heraus: „Man hat damals überall Arbeit gekriegt. Ne. Ob das Büro war oder Produktion oder im Handel. Du hast eben überall Arbeit gekriegt.“ (Z.203f).

Dieser Umstand ist für sie insofern von großer Bedeutung, dass sie in beruflicher Hinsicht zu den Wendeverliererinnen gehört. Anfang der 90er Jahre verliert sie im Alter von Mitte 50 ihre Arbeit und ist bis zur Rente arbeitslos. Ein weiteres Beispiel für positive Bewertung der DDR-Gesellschaft stellt das Thema „Wohnungssuche“ dar. Hier erinnert Frau Zeutsch ihren persönlichen Vorteil bei der Zuweisung einer Wohnung aufgrund der Zugehörigkeit ihres Ehepartners zu einem großen Bergbauunternehmen: „Dadurch dass der zweite Mann auch im Bergbau war, hat man dann auch schnell, schneller mal ne Wohnung bekommen.“ (Z.134f).

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 Dieser Aspekt wiegt für sie schwerer als der generelle Wohnungsmangel damals. Die Gerechtigkeitsfrage gegenüber anderen Wohnungssuchenden bzw. die Nachteile dieser Zuteilungswirtschaft werden nicht thematisiert. Für Hanne Zeutsch erscheint der damalige Ablauf ideal. 2.2. Biografische Gesamtformung: Engagement zur flankierenden Stabilisierung des Lebens Ausgehend von einer Kindheit in engen familiären Bezügen mit Diskontinuitäten entwickelt sich Hanne Zeutsch zu einer ruhigen, zurückhaltenden Frau. Sie tritt kaum selbstbewusst und kontaktfreudig nach außen auf, sondern organisiert ihre sozialen Bezüge im Wesentlichen im Bereich des familiären Nahraums und der damit verbundenen Institutionen. Damit schützt sie sich vor verletzenden Erfahrungen, ohne diese jedoch umfassend verhindern zu können. Hanne Zeutsch vermeidet Konflikte bzw. die Auseinandersetzung zu strittigen Themen, sie sucht das harmonische vertrauensvolle Miteinander sowie den Ausgleich von gegenseitigem Nehmen und Geben. Sie strebt danach, ein ausgewogenes Leben mit kontinuierlichen Abläufen und stabilen familiären Bindungen zu führen. Das freiwillige Engagement gewinnt in diesem Zusammenhang eine Unterstützungsfunktion. Diese kausalen Zusammenhänge ihrer biografischen Sinnstruktur werden in den verschiedenen Lebensbereichen, zum Beispiel in Partnerschaft und beruflicher Tätigkeit, sichtbar. Besonders deutlich erschließt sich die Identitätskonstruktion auch im Zusammenhang mit dem Engagement für andere. Darüber hinaus spiegeln sich individuelle Handlungsmuster unter dem Gesichtspunkt „Erleben des Systemumbruchs“ wider. Sie erweisen darin ihre entscheidende Bedeutung für die heutige Situation von Frau Zeutsch. Hanne Zeutsch bleibt ihren zentralen Prinzipien, die in ihrer biografischen Erzählung immer wieder durchscheinen, treu. Im Umgang mit dem jeweiligen Ehepartner beweist sie eine lange Phase der Duldung, bevor sie eine entscheidende Veränderung autonom handelnd herbeiführt: die Trennung. Dennoch bleiben ihr Nähe und familiäre Bindung wichtig, nach gescheiterten Beziehungen sucht sie neue Partnerschaften bzw. die Hinwendung zur Herkunfts- bzw. eigenen Kernfamilie. Den Handlungsrahmen in Bezug auf freiwilliges Engagement gestaltet Hanne Zeutsch von Anfang an lediglich innerhalb bekannter Strukturen ihrer Lebenswelt und unter der Voraussetzung, dass Reziprozität und gegenseitiges Vertrauen gewährleistet sind.

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 Hanne Zeutsch wird für andere bzw. für die (DDR-)Gesellschaft tätig, wenn dies gesellschaftlich gefordert wird. Die charakteristische Doppelbödigkeit von Engagement in der DDR, nämlich der Zwang zur Beteiligung zum einen und die Belohnung mit Spaß und Gemeinschaftserleben zum anderen, tragen für Frau Zeutsch zu gesellschaftlicher Integration und Anerkennung bei. Vorzugsweise erfolgt ihr Engagement aus dem familiären Bezugsrahmen heraus: Infolge institutioneller Anfragen engagiert sie sich sozialraumbezogen für ihre Enkelinnen, nachdem mit dem Tod ihrer eigenen Eltern ein zentrales Aktionsfeld wegbricht. Durch das Engagement wird ihr also kontinuierliches Tätigsein ermöglicht. Außerdem stärkt es das Familiensystem und eröffnet zumindest punktuelle Bindungen im Sozialraum. Damit kann Frau Zeutsch einen Normalitätsstatus präsentieren, durch das freiwillige Engagement zeigt sie, dass sie trotz Arbeitslosigkeit und zurückgezogenem Lebensstil ein tätiges Mitglied der Gesellschaft ist. Die Verankerung in DDR-Bezügen erweist sich insofern als bedeutsam, dass Hanne Zeutsch ihr Erleben damals als positiven Gegenhorizont zur heutigen Situation begreift. Ohne die ihr so wichtige berufliche Integration, sozial isoliert in einem fremden Wohngebiet zieht sie sich heute in private Beziehungen zurück. Der Systemumbruch als Thema findet in ihrer Auseinandersetzung keinen Platz, somit wird sie zum stillen Opfer, das sich an die Lage weitestgehend anpasst und nur innerhalb enger Grenzen Handlungsspielraum sieht, zum Beispiel den Wechsel des Wohngebietes. Sie wird zur Einzelgängerin, die nur punktuell in der neuen Gesellschaft zugehörig ist. Demzufolge hat Frau Zeutsch nur bedingt Kontakte, die ihr den Zugang zu einem Engagement ermöglichen könnten. Priorität haben ihre familiären Bezüge, durch die sie ihren Handlungsrahmen absteckt und in denen sie ihr Glück findet. Das freiwillige Engagement gewinnt in erster Linie die Funktionen, die eigene Person zu stabilisieren und das Familiensystem zu unterstützen.

3 F ALLPORTRAIT : L UTZ R OMMEL , GEB . AM 11.11.1957 „I CH BRAUCH , ICH BRAUCH L EUTE UM MICH .“ Geboren 1957 wächst Lutz Rommel bis zum Schulalter in schwierigen familiären Umständen auf. Im Haushalt leben außer ihm sein vier Jahre älterer Bruder Bernd, seine Mutter Carla sowie sein Stiefvater Harald Rommel. Als Lutz sechs Jahre alt ist, wird sein Halbbruder Jochen geboren. Harald Rommel, von Beruf Sudmeister in der ortsansässigen Brauerei, steht häufig unter Alkoholeinfluss. Von ihm wird Lutz in den ersten Schuljahren immer wieder geschlagen. Daraufhin fällt er in der Schule durch seine hartnäckige Oppositionshaltung und sein

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 Aggressionspotenzial auf. Das Jugendamt wird eingeschaltet und Lutz Rommel wird in einem brandenburgischen Kinderheim untergebracht. Dort lebt er zwei Jahre lang. Diese Zeit ist Herrn Rommel in besonders unangenehmer Erinnerung. Die Verlegung in ein sächsisches Heim bedeutet für ihn eine Erleichterung. Häufigere Besuche der Mutter, die sich zwischenzeitlich von Harald Rommel getrennt hat, sowie Ausflüge in die nähere Umgebung gestalteten den circa dreijährigen Aufenthalt erträglicher. Als Lutz Rommel Anfang der 1970er Jahre in seine Heimatstadt zurückkehrt, geht er dort noch ein Jahr zur Schule. Er erfüllt seine 8-jährige Schulpflicht, bekommt aber aufgrund seiner Leistungen nur den Abschluss der fünften Klasse. Anschließend ist er als Helfer in der Schuhfabrik tätig. Dort arbeitet er etwa zehn Jahre und holt nebenberuflich seinen Abschluss 8. Klasse nach. Außerdem absolviert er die Ausbildung zum Schuhfacharbeiter. Herr Rommel lernt in der Schuhfabrik eine vier Jahre jüngere Stepperin kennen, die seine Lebensgefährtin wird. 1980 kommt sein Sohn zur Welt. Später trennt sich das Paar. Zu seinem Sohn hat Lutz Rommel keinen Kontakt. 1982 wird Lutz Rommel zur Nationalen Volksarmee eingezogen. Bedingt durch seine umfassend absolvierte Fahrerlaubnis kann er dort als Kraftfahrer in der Munitionstransportkompanie eingesetzt werden. Dies bedeutet für ihn eine verantwortungsvolle, erfolgreiche Tätigkeit. Als er sich entsprechend für einen längeren NVA-Dienst verpflichten will, wird dies durch die Entscheidungsträger an die Bedingung der SED-Mitgliedschaft geknüpft. So wird Lutz Rommel Kandidat der Partei SED. Dennoch endete sein Einsatz in der Volksarmee nach dem Grundwehrdienst. Durch seinen Halbbruder Jochen erfährt Lutz Rommel von der Möglichkeit, beruflich im Bergbau tätig zu werden. Seiner Bewerbung folgt Mitte der 1980er Jahre die Einstellung als Rohrleger untertage. Aufgrund seiner SEDAnwartschaft wird er zu den in Berlin stattfindenden Weltfestspielen delegiert. Hier wird ihm sein Alkoholkonsum zum Verhängnis. Er gerät in eine Konfliktsituation und wird mit einer hohen Blutalkoholkonzentration von der Polizei aufgegriffen. Daraufhin wird ihm die Aufnahme in die Partei verwehrt. Seine berufliche Entwicklung setzt Lutz Rommel mit einer Umschulung zum Hauer fort. Bei der Abschlussprüfung besteht er den theoretischen Teil, während die praktischen Fähigkeiten als ungenügend eingeschätzt werden. Anfang der 1990er Jahre nimmt Lutz eine Tätigkeit als Reinigungskraft auf, die er allerdings aufgrund der schlechten Bezahlung wieder aufgibt. Danach folgt er der Empfehlung von Bekannten, sich bei einer Zeitarbeitsfirma für eine Montagetätigkeit zu bewerben. So ist er bis zum Jahr 2005 für drei verschiedene Firmen tätig. Bei einem Autounfall wird sein Fahrzeug zerstört und die Fahrt zu den Einsatzorten

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 ist ihm seitdem nicht mehr möglich. Lutz Rommel wird arbeitslos. In der Folgezeit ist er kurzzeitig in Maßnahmen der Agentur für Arbeit und in Minijobs eingebunden. Lutz Rommel lernt durch eine gute Bekannte eine soziale Einrichtung im Stadtteil kennen. Dort arbeitet er seitdem ehrenamtlich unter anderem im Küchenbereich mit. 3.1 Biografieanalyse Die Untersuchung des biografisch narrativen Interviews ergibt ein differenziertes Bild der Sinnkonstruktion des Herrn Rommel. Es werden Zusammenhänge individueller Handlungs- und Entscheidungsmuster (D 3.1.1), der intergenerativen Verortung (D 3.1.2) und der lebensweltlichen Einflüsse (D 3.1.3) erkennbar. 3.1.1 Individuelle Merkmale In seiner biografischen Erzählung stellt sich Lutz Rommel als Mensch dar, mit dem es seine Mitmenschen nicht ganz leicht haben. In der Rückschau sieht er sich als schwieriges Kind, das vor allem in der Schule aufbegehrt, wenn etwas nicht seinen Vorstellungen entspricht. Dieses Verhalten erklärt er in der Eigentheorie vor dem Hintergrund des intensiven Alkoholkonsums seines Stiefvaters. Später, als Erwachsener, sind weiterhin eine hohe Sensibilität und unter Alkoholeinfluss die Neigung zu Überreaktionen und damit verbunden ein gewisses Aggressionspotenzial, das jedoch nie die Grenze zur Kriminalität überschreiten lässt, charakteristisch für sein Auftreten. Die Kausalitäten individueller Einstellungen und Verhaltensmuster lassen sich schwerpunktmäßig in die Merkmale „Hohe Anpassungsfähigkeit“ (a), „Reproduktion von Misserfolg (b) und „Streben nach finanziellem Status“ fassen. a) Hohe Anpassungsfähigkeit An vielen Stellen im Interview wird deutlich, dass Lutz Rommel die an ihn gestellten Anforderungen unhinterfragt erfüllt, sich an die gesellschaftlichen Normen anpasst. In seiner Jugendzeit ist er im Rahmen seiner FDJMitgliedschaft an Hilfsprojekten beteiligt. Die Einsätze erfolgen nach institutioneller Anordnung durch die entsprechenden Vorgesetzten (Z.441ff): „Und das dann gespendet an Hilfsbedürftige, gabs ja damals auch schon. Oder in son, son afrikanisches Land oder so. Wo es, wie es eben damals zu DDR-Zeit warn, äh war hier so Hilfsobjekte. Da wurde doch auch immer aufgerufen: Wir helfen! Zum Beispiel Angela Davies damals.“

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 Die Adressaten der Aktion bleiben für ihn unpersönliche „Objekte“, nicht aus Überzeugung hilft er ihnen, sondern weil er dem Appell der FDJ folgt. Seiner Bewerbung in einem Bergbau-Betrieb folgt die planwirtschaftliche Umsetzung in eine andere Stadt. Den damit verbundenen Umzug akzeptiert er klaglos: „Erst hab ich mich dort beworben und die ham mir zugesagt, aber ham gesagt: „Nee, dort nicht, sondern hier könnt ich anfangen.“ (Z.41f) „Musst ich ja dann auch gleich hierher ziehen.“ (Z.274)

Nährboden für die Entwicklung dieses Musters bilden die Lebensumstände, die Lutz Rommel in seiner Kindheit begleiten (vgl. D 3.1.2 a). Die durch den Stiefvater ausgeübte Gewalt kann er nicht stoppen, Lutz erlebt sich machtlos den Schlägen ausgeliefert. „Bloß mein Vater, weil mein Stiefvater hat in der Brauerei gearbeitet und war öfters (Interviewerin: Hhm.) unter Strom. (Interviewerin: Hhm ) Ge. Und dadurch hab ich viel von den Dresche gekriegt, ge und das und jenes. Und da hab ich eben mich dann in der Schule abreagiert.“

Lutz Rommel erlebt Gewalt durch seinen Stiefvater und kann selbst seine Lebenssituation nicht beeinflussen. Er reagiert mit Grenzverletzung gegenüber anderen: Die einzige Möglichkeit, seine Wut und seinen Widerstand zu äußern, besteht für den Jungen im Opponieren gegenüber den sekundären Bezugspersonen. In der Schule begehrt er auf, zeigt sein Aggressionspotenzial (Z.129f): „Da sind eben mal Hefte oder Bücher gefall äh geflogen, durch die Luft.“ Und in Z.142: „Hab ich mich irgendwo abreagiert, ge. Wo der Widerstand sozusagen am schwächsten war.“

Der Information durch die Lehrerinnen und Hortnerinnen an den Vater folgen weitere Schläge und schlussendlich die Unterbringung in einem Kinderheim, welche Lutz als Bestrafung für sein eigenes Verhalten erlebt. Die Sozialisationsinstanz Kinderheim in der DDR trägt mit dazu bei, dass Lutz Rommel eine relativ hohe Anpassungsfähigkeit unter anderem an die Handlungsanforderungen Signifikanter Anderer entwickelt. Spezifische Werte wie sozialistische Ideale und Einheitlichkeit bestimmen den Lebensalltag im Heim wesentlich (Krause 2004, 160). Für das einzelne Kind bedeutet das, dass es sich von Anfang an in die starren Abläufe einordnen muss. In Anlehnung an Makarenko, der für die

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 ehemaligen Sowjetrepubliken Disziplinierung und Anpassung als Erziehungsziele (ebd., 170) formuliert, wird in den DDR-Kinderheimen der Bildung im Kollektiv Vorrang vor den individuellen Entfaltungsmöglichkeiten gegeben (ebd., 165). Nur teilweise weichen die Erzieher von den offiziell vorgegebenen Zielen ab, insgesamt gesehen wird Erziehung als Instrument zur Formung der politischen Einstellung beim Kind benutzt. Dies führt zur Einengung und Bevormundung (ebd., 162). Als Folge dieser Sozialisation überwiegt bei Lutz Rommel im Erwachsenenalter die Anpassung deutlich gegenüber dem Widerstand, wie in Z.56 und 341f sichtbar wird: „Ge, hatten sie mich, gleich, zu den Weltfestspielen geschickt.“ „Ge, in Berlin. Ne, da war eener glaube krank geworden oder was und da ham sie krampfhaft een gesucht. Und da ich ja der Kandi52 und da ham sie gesagt: ‚Naja, den kömmer schicken.‘“

Seine kritische Einstellung bzw. die Neigung zu Grenzüberschreitungen treten im Erwachsenenalter überwiegend unter Alkoholeinfluss in Erscheinung, zum Beispiel Z.393f: „Und ich wollte das ni einsehen, dass ich dorte ni durch konnte, ge. Und naja. Da ham sie mich auf die Wache genomm. Da ham sie Blut abgenomm.“

Ansonsten vermeidet er Auseinandersetzungen, wie zum Beispiel in Z.914–916 deutlich wird: „Gut, gab auch paar Affen, die eingebildet warn, ge. Die sich als besonders hinstellten. Nu den simmer eben aus’m Weg gegang. Oder ham sie gar ni beachtet.“

b) Reproduktion von Misserfolg Lutz Rommel beginnt seine biografische Erzählung, indem er eine ExklusionsErfahrung schildert: Im Grundschulalter wird er in ein Kinderheim eingewiesen (vgl. D 3 und D 3.1.2 a). Dies stellt für ihn ein bedeutungsschweres Ereignis dar, das er mit eigenem Fehlverhalten verknüpft. Weil er in der Schule Verhaltensauffälligkeiten zeigt, muss er ins Heim. Solche biografischen Brüche, die einen Misserfolg für Lutz Rommel darstellen und die von ihm mit eigenem Versagen

 52 Kandi = Kandidat bzw. Anwärter auf SED-Mitgliedschaft

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 in Verbindung gebracht werden, begegnen ihm in seinem Leben häufig. So verlässt er die Schule ohne Abschluss, Z.26: „Sozusagen 8. Klasse. Ich bin mit der 5. Klasse raus.“

Im zweiten Bildungsweg, parallel zu seiner Helfertätigkeit in der Schuhfabrik, holt er den Schulabschluss und die Facharbeiterausbildung nach. Dem schulischen Misserfolg folgt ein hoffnungsvoller Neuanfang, der jedoch wieder ausgebremst wird und nur begrenzt zu sozialem Aufstieg führt. Es erfolgt ein Bruch. Die Tätigkeit im Beruf wird durch den Einzug zur NVA unterbrochen. Dort ist Lutz Rommel anfangs erfolgreich. Dennoch erfüllen sich seine Hoffnungen nicht. Sein Verlängerungsantrag wird abgelehnt, was einen weiteren Misserfolg für ihn bedeutet. Dann nimmt Lutz Rommel eine Arbeit im Bergbau auf. Dafür möchte er sich entsprechend weiter qualifizieren. Allerdings besteht er die Prüfung nach der Umschulung nicht (Z.45f): „Und dann hab ich die Umschulung zum Hauer gemacht. Den hab ich theoretisch äh bestanden. (Interviewerin: Hm.) Bloß praktisch nicht.“

Dem hoffnungsvollen Neuanfang in der anderen Stadt folgt wieder ein Scheitern. In engem Zusammenhang mit den erlebten Misserfolgen ist der zyklisch wiederkehrende problematische Alkoholkonsum von Lutz Rommel zu sehen. Symptomatisch daran ist, dass Lutz Rommel diesen Zusammenhang wohl punktuell sieht, jedoch seine Zuneigung zum Alkohol nicht generell als Problem einschätzt. Beispielhaft für die Kausalität von übermäßigem Trinken und daraus resultierender Desintegration steht die Situation nach dem Ausschluss aus der SED. Diese deutet Lutz Rommel für sich positiv um und widmet sich wiederum einem Neuanfang (Z.63–69): „Aber auf eene Art war ich auch froh, dass ich raus war aus der SED. Ge. (Interviewerin: Hm.) Ge. Na. So. (2Sek.) Naja, gut. Dann kam die Wende. Und da bin ich äh, sozusagen als Reinigungskraft (Interviewerin: Hm.) äh, hab ich mir hier ’n Beruf gesucht. Und das hat mir aber auch nicht so gefallen. Ge, äh, Verdienstmöglichkeiten.“

Auch hier läuft der Zirkel: Ausschluss bzw. Misserfolg, Neuanfang, Misserfolg ab.

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 c) Streben nach finanziellem Status Lutz Rommel richtet sich darauf aus, seine finanzielle Situation zu verbessern. Mit dieser Intention wechselt er im Lauf seiner beruflichen Entwicklung mehrmals die Arbeitsstelle. Beispielhaft dafür steht eine Anekdote in Z. 570f: „Und da hammer uns unternander ausgetauscht. Wer was verdient, und das eben dorte besser ist, das mit’n Geld und da hab ich gesagt: ‚Na, weeßte was, da sucht ihr noch Leute?‘“

Die Verdienstmöglichkeiten erweisen sich als entscheidungsrelevantes Kriterium für die Stellensuche. Auch die freiwillige Tätigkeit ist, wenn auch in geringfügigem Umfang, mit finanziellen Vorteilen verbunden. Hier wird Lutz Rommel finanziell entlastet, was für ihn von zentraler Bedeutung ist (Z.94–99): „Hab ich eben die Einrichtung kennen geder äh kennen gelernt. Und da bin ich dann eben auch hängen geblieben, weil ich ja nun eben auch gerne koche. (Interviewerin: Hm.) Und naja, erstens mal ist es dann auch billiger (Interviewerin: Hm.) Weil’s ja durch mehrere geht, na.“

Die Kosten für das Mittagessen können dadurch niedrig gehalten werden, dass für mehrere Teilnehmer gekocht wird. Die Beträge für die Zutaten werden aufgeteilt und davon profitiert auch Lutz Rommel. Indem er diese Vorteile unter erstens setzt, wird der hohe Stellenwert finanzieller Gesichtspunkte deutlich. 3.1.2 Familiäre Disposition: System Herkunftsfamilie Außer den bereits erläuterten Begebenheiten, welche die Kernfamilie von Lutz Rommel betreffen (vgl. D 3 und D 3.1.1 a) erzählt er kaum etwas zu diesem Themenbereich. Dies erschwert die Rekonstruktion der familiären Verhältnisse. Dennoch wird aus dem vorhandenen Material Grundsätzliches zur Gestaltung der Beziehungen (a), zur Verankerung von Leitorientierungen (b) sowie zum Engagementzugang durch Ersatzelternfiguren (c) deutlich. Neben den Interviewtexten wird dazu die Auswertung des Familiengenogramms herangezogen. a) Prekärer Herkunftskontext Verschiedene Umstände und Ereignisse führen zu der Schlussfolgerung, dass Lutz Rommel einem überwiegend prekären Herkunftskontext entstammt. Sein Vater verlässt Lutz’ Mutter und die beiden Kinder nach der Geburt von Lutz, um

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 in den Westen Deutschlands zu gehen. Die Mutter ist also einige Zeit mit den beiden Jungen allein. Dann tritt ein neuer Partner und Vater des dritten Sohnes von Frau Rommel auf. Mit ihm wird das Thema Alkohol bestimmend für das Familienleben in der Herkunftsfamilie. Lutz Rommel sieht sich und seine Geschwister von der Überforderung der Mutter beeinträchtigt (Z.139f): „So, und da, da sie ja da nicht mehr fertig geworden ist, den Mann daheeme zu pflegen, wenn der heem kam, da musste er, dann kam sie und dann erst wir.“

In dieser Rangfolge wird den Familienmitgliedern Aufmerksamkeit und Fürsorge zuteil. Offensichtlich werden alle der Reihe nach auch mit Alkohol versorgt (Z.781–783): „Jeden Tag ham die 10, kriegst du ja 10 Flaschen. So und die hat er nun. Und dann ham die ja auf Arbeit auch noch getrunken. Hm. Naja. Darum hab ich ja gesagt: Erst kam er, dann konnte sich die Mutter was und dann wir dran gewesen.“

Die Mitarbeiter der Brauerei erhalten täglich Deputat-Bier, das Harald Rommel und seine Familie konsumieren. Demzufolge beginnt der Alkoholkonsum von Lutz Rommel bereits im Kindesalter. Kennzeichnend für die Reflexion der Ereignisse durch Lutz Rommel ist eine Kausalitätskette. Diese endet damit, dass Lutz Rommel stationär in einem Kinderheim untergebracht wird: Der „Vater“, wie Lutz ihn nennt konsumiert Alkohol. Dem folgten Schläge, die der Junge regelmäßig von ihm erhält. Daraufhin reagiert sich Lutz in der Schule mit ab, indem er verhaltensauffällig wird. Harald Rommel, der von den Pädagogen mit den Verhaltensproblemen von Lutz konfrontiert wird, ist damit überfordert und versucht, mit Gewalt Veränderungen zu erreichen. Die Mutter kann aufgrund ihrer Berufstätigkeit nicht regulierend eingreifen. Sie nimmt für Lutz also keine unterstützende Funktion wahr. Die Einweisung von Lutz Rommel in das Kinderheim ist unausweichlich und stellt für ihn eine weitere Dauerbelastung dar. Nach bindungstheoretischen Erkenntnissen bedeutet die Trennung von der Mutter bzw. einen massiven Einschnitt in den Lebensalltag von Kindern (Schleifer 2009). Sie erleben diesen Verlust ähnlich wie Menschen, die einen nahen Angehörigen durch Tod verlieren. Diese Erfahrung wirkt sich auf das weitere Leben aus. Beispielsweise können sich Probleme im Bindungsverhalten gegenüber den eigenen Kindern entwickeln und auch unterschiedlichste Schwierigkeiten im sozialen Miteinander (Schleifer 2009, 162ff). Erschwerend kommen die rigiden Bedingungen hinzu, unter denen Heimerziehung in der DDR geleistet wird (vgl. D 3.1.1). Eine andere Interview-

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 teilnehmerin, die ebenfalls mehrere Jahre ihrer Kindheit in einem DDRKinderheim verbringt, berichtet von „sozialistischer Strenge“, mit der die Richtlinien im Heim durchgesetzt werden. Kontrolle, Strafe und Totalität sind übliche Prinzipien, mit denen diese Kinder erzogen werden. Teilweise ist die Versorgung mit Lebensmitteln nicht hinreichend gesichert. Die hohe Belastung für Lutz Rommel wird erst abgemildert, als er mit ca. elf Jahren in ein anderes Kinderheim verlegt wird (Z.179–182): „Hm. Na. Aber da war’s dann näher ran, da konnte mich meine Mutter öfters besuchen. Die hatte ja nun den Kleenen noch. (Interviewerin: Hhm, ach so.) An der Backe.“

Endlich verringert sich die Distanz zur Mutter. Dennoch ist sie als Bezugsperson nicht dauerhaft für ihn verfügbar, die Lebenssituation im Kinderheim bleibt trotz Verbesserung der Lage suboptimal. Der ältere Bruder von Lutz Rommel löst sich frühzeitig von der Familie ab. Mit etwa 16 Jahren beginnt er eine Lehre als Seefahrer. Damit wählt er einen Ausbildungsort, der die größtmögliche Entfernung zur Herkunftsfamilie bedeutet. Dies stellt einen weiteren Beleg für die prekären Lebensumstände in der Familie dar, denen der Bruder durch seinen Wegzug entkommt. Einige der Ausgangsbedingungen werden intergenerativ weitergegeben. Zu seinem eigenen Sohn hat Lutz Rommel schon früh keinen Kontakt. Lutz Rommel lebt damit, dass er zwar einen Sohn hat, diesen aber nicht kennt und kaum etwas von ihm weiß. Sein eigener Sohn wächst ohne ihn auf, genau wie Lutz Rommel selbst ohne Vater aufwächst. Später, als er mit seiner Lebensgefährtin und deren Kindern eine Zeit lang zusammen lebt, ähneln die Verhältnisse seinem Herkunftskontext. Der Sohn seiner Lebensgefährtin lebt im Kinderheim und kennt die Erfahrung, hinten an zu stehen, sehr gut (Z.520f): „Da hat er sich auch gefreut, dass er was gekriegt hat.“

So schließt Lutz Rommel eine Anekdote ab, die davon erzählt, wie dieser Junge bei einem Besuch zu Hause ein kleines Geschenk erhält. Auch die Auswertung des Familiengenogramms zeigt, dass Prozesse der sozialen Schließung in der Familiengeschichte in allen Generationen zentrale Bedeutung gewinnen. Häufig sind es männliche Mitglieder der Familie, die ausgeschlossen sind. Zuerst fällt dies in der Person des Großvaters von Lutz Rommel auf. Über ihn ist lediglich bekannt, dass er 1943 im zweiten Weltkrieg vermisst gemeldet wird, ansonsten sind keine weiteren Informationen übermittelt. Lutz Rommel sagt dazu, dass die Oma nicht gern über den Opa redet. An seine Stelle

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 tritt eine neue Figur. Der Großvater kommt also mehrfach abhanden: Er wird im Krieg vermisst, er wird in der Familie nicht erinnert und er wird ersetzt. In der folgenden Generation sind wiederum Schließungsprozesse augenscheinlich. Sowohl der Vater von Lutz Rommel als auch sein Onkel werden lediglich mit Nachnamen benannt, Vornamen sind nicht benutzt. Diese Personen werden also innerfamiliär nur über den Zunamen identifiziert und adressiert. Wird hingegen ein Mensch beim Vornamen genannt, so ist im Allgemeinen daran erkennbar, dass eine engere Beziehung und auch emotionale Bindung besteht. Die innerfamiliäre Verwendung des Vornamens steht für diffuse Sozialbeziehungen. Zwischen den Personen können alle Themen besprochen werden, es wird nicht differenziert beispielsweise zwischen beruflich und privat. Die ganze Person steht im Zentrum der Aufmerksamkeit, die Partner sind gegenseitig in die Lebensabläufe involviert. Menschen, die sich in der Weise nahe stehen, bringen sich affektive Solidarität entgegen. Im Fall von Lutz Rommel werden somit die Männer, die über den Nachnamen bekannt sind, von der Familie auf Distanz gehalten. Vergleichbar mit beruflichen Kontexten erfolgt die Beziehungsgestaltung rollenförmig. Die betreffenden Personen sind im familiären Gefüge nur ausschnittweise relevant. Charakteristisch für das Familiensystem ist also die spezifische Ausschließung. Dies wird auch an den vergleichsweise häufigen Trennungen und Scheidungen sichtbar. Insbesondere für Lutz Rommel gewinnt dieses Merkmal im gesamten Lebensverlauf zentrale Bedeutung, da er Ausschluss und damit verbundene Ablehnung nicht nur im privaten, sondern auch im gesellschaftlichen Bereich vielfach erlebt (vgl. D 3.1.1 a). b) Berufstätigkeit als generativ verortete Norm Unabhängig davon, wie sich das Leben in den familiären Beziehungen gestaltet, ist für die Angehörigen von Lutz Rommel die Berufstätigkeit als Norm kennzeichnend. Dies gilt für Lutz Rommel selbst, der im Laufe seines Lebens auch nach Abbruch beruflicher Bindungen immer wieder einen Neueinstieg sucht und findet, wenn auch im Niedriglohn- oder Minijob-Sektor. Aber auch im Familiensystem gehört es zur Normalität, berufstätig zu sein. In den Erzählungen zu den Familienangehörigen gewinnt die berufliche Einbindung stets Priorität. Das erste, was Lutz Rommel im Interview vom Partner der Mutter, Harald Rommel, berichtet, ist, dass dieser von Beruf Sudmeister ist. Die Erzählsequenzen, die Lutz Rommel seinen Geschwistern im Hauptteil des Interviews widmet, handeln schwerpunktmäßig von deren beruflicher Entwicklung, beispielsweise sagt er in Z.185 über den älteren Bruder:

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 „Deutsche Seerederei war der gefahrn. Der hat dorte die Lehre gemacht und dann ist der geblieben.“

In Z.35f begründet der Biograf seinen eigenen beruflichen Wechsel mit der Erläuterung: „Weil mein kleiner Bruder ja im Bergbau gelernt hat hier.“

Selbst die Oma mütterlicherseits ist berufstätig, wie Lutz Rommel im Gespräch zum Genogramm angibt. Dies ist für Frauen dieser Generation (geb. 1898) nicht unbedingt üblich. Sie arbeitet wie ihr Mann in einer Grobgarnspinnerei. Auch in der Nachfolgegeneration tritt die Berufstätigkeit als Norm in Erscheinung: Lutz berichtet von seinem Neffen und seiner Nichte, dass sie beruflich sehr erfolgreich sind. Lediglich von seinem eigenen Sohn erzählt er, dass dieser arbeitslos sei. c) Engagementzugang durch Ersatzelternfiguren Sowohl im biografisch-narrativen Interview als auch im Gespräch zur Aufnahme des Genogramms erscheint Lutz Rommel als einziges Mitglied seiner Familie, das sich freiwillig außerhalb des familiären und beruflichen Rahmens ohne Bezahlung engagiert. Von den Großeltern ist ihm kein Ehrenamt bekannt, und auch die Mutter ist in der Hinsicht nie aktiv, Z.747–755: „Bei meiner Mutter, die freut sich, das ich äh, äh bissel sozusagen mich beschäftigen tue. […] Die hatte uns drei Kinder, die hatte uns drei Kinder. Die musste uns ja drei groß ziehen. (Interviewerin: Aha.) Ge, da hatte die dafür keene Zeit.“

Hier nimmt Lutz seine Mutter in Schutz. Dass sie sich nicht ehrenamtlich betätigt, rechtfertigt er damit, dass sie für die Kinder sorgen muss. Den Einstieg in das freiwillige Engagement findet Lutz über sekundäre Bezugspersonen, die gewissermaßen als Ersatz-Elternfiguren für ihn auftreten. Das sind zum einen gesellschaftliche Institutionen, die Elternfunktionen übernehmen. Von solchen wird Lutz viele Jahre seiner Kindheit betreut und auch später begleitet. Sie signalisieren ihm beispielsweise, wenn eine Grenzüberschreitung droht (Z.884f):

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 „Da kam dann der ABV53, der hat dann mit’n, mit’n Finger gewunken, und da haste aufgehört54.“

Wie in D 3.1.1 a) erläutert, bestimmen Institutionen auch das gesellschaftliche Engagement von Lutz Rommel im Rahmen der FDJ-Mitgliedschaft. Zum anderen ist es eine gute Bekannte, die Lutz sagt, was gut für ihn ist und nach deren Empfehlung er handelt (Z.826–828): „Und das hat eben dann, da hat ich noch andere Freunde und da hat sie Bettina dann schon immer aussortiert. Und das hab ich dann auch eingehalten.“

So übernimmt Bettina Funktionen der Mutter-Rolle. Lutz Rommel orientiert sich als erwachsener Mann an ihren Vorschlägen bzw. Aufforderungen. Durch diese Frau findet Lutz zu seinem Engagement in der sozialen Einrichtung des Wohngebietes. Bettina kennt die Mitarbeiter dort und ist selbst eine Zeit lang in die Arbeit eingebunden. Sie bringt Lutz mit dorthin und führt ihn in diese sozialen Bezüge ein. Resultierend findet Lutz Rommel zum freiwilligen Engagement, obwohl er es aus seiner Herkunftsfamilie nicht kennt. Der Einstieg wird durch Ersatzelternfiguren organisiert. 3.1.3 Sozialräumliche und gesellschaftliche Einflüsse Lutz Rommel bezieht sich in seinen Ausführungen immer wieder auf außerfamiliäre Netzwerke in Lebensumfeld und Gesellschaft. Wie in D 3.1.1 a) schon angeklungen, kommt dabei der Integration in gesellschaftliche Strukturen eine dominierende Rolle zu. Dieses Streben nach sozialer Einbindung wird im Folgenden näher erläutert (a). In diesem Zusammenhang kristallisiert sich die Integrationsfunktion von Engagement heraus (b). Weiterhin ist für Lutz Rommel charakteristisch, dass er die DDR-Gesellschaft in der Rückschau idealisiert wahrnimmt (c). a) Streben nach Einbindung in informelle und institutionelle Netzwerke Lutz Rommel berichtet im Rahmen des biografisch narrativen Interviews immer wieder von der persönlichen Erfahrung, ausgeschlossen zu werden, nicht dazu zu gehören. Zum Beispiel wird er als Kind aus dem Familienkreis ausgeschlossen. Außerdem erfolgt der Ausschluss aus der SED. Seine Zeit des Militärdienstes wird, entgegen seinem Wunsch, nicht verlängert. Hinzu kommt, dass Lutz

 53 ABV = Abschnittsbevollmächtigter; vergleichbar: Kobb (Kontaktbereichsbeamter) 54 Das Aufhören bezieht sich an dieser Stelle auf das Trinken von Alkohol.

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 Rommel auf der Suche nach Freundschaften regelmäßig erlebt, ausgenutzt zu werden, also nicht als gleichrangiges Gruppenmitglied dazu zu gehören, zum Beispiel Z.798f: „Und falsche Freunde gefunden und mitmachen, ge und den helfen. Obwohl sie dir ni geholfen ham. Aber den mit helfen. So, es könnte ja sein, dass die dir dann auch mal helfen.“

Diese Erfahrungen bilden den Hintergrund für das ständige Streben von Lutz Rommel nach sozialer Integration. Über einen langen Zeitraum erlebt Herr Rommel die soziale Einbindung über den Beruf. Die Arbeitskollegen, mit denen er zu tun hat, sind häufig auch die Menschen, mit denen er seine Freizeit verbringt. Diese Kontakte werden in der Rangfolge familiären Bezügen übergeordnet, wie zum Beispiel in Z.465ff deutlich wird: „Und da hat er gesagt: ‚Aber, wir fahrn gleich nach der Schicht.‘ Sag ich: ‚Na kein Problem.‘ Damals hat ich zwar ne Freundin. Anrufen konnt ich sie nicht. Naja, wir hatten ja damals noch kein Telefon.“

Kurz nachdem die innerdeutsche Grenze offen ist, schließt sich Lutz Rommel einem Kollegen für eine Fahrt nach Westdeutschland an. Dies ist eine spontane Entscheidung. Er reflektiert den inneren Konflikt, seine damalig Lebensgefährtin nicht in die Pläne eingeweiht zu haben. Sie könnte sich seinetwegen sorgen oder selbst auch mitfahren wollen. Doch Lutz Rommel kann sich nicht kurzfristig mit ihr absprechen und stellt daher seine Bedenken hintenan. Eine große Rolle spielt also das Zusammensein mit Kollegen bzw. Freunden, die er im beruflichen Kontext findet. Beispielhaft hierfür steht auch die Aussage in Z.877–880: „Ne, da biste eben mal, wenn die annern ne Party gefeiert ham, drüben im Nachbarhaus, da kannteste auch een, durch die Arbeit. Warn ja alles Kollegen. (Interviewerin: Ja.) Fast, ge. ‚Ach, na da komm ich mal rüber.‘ Und und da biste dorte hängen geblieben.“

Auch hier ergreift Lutz Rommel die Initiative, sich anderen, in dem Fall feiernden Nachbarn anzuschließen. Er möchte dabei sein, sucht Kontakte. Er „bleibt dort hängen“, der Konsum von Alkohol wirkt verbindend. Darüber hinaus ist für Herrn Rommel auch die institutionelle Verankerung bedeutsam.

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 „Und naja, wir ham dorte viel unternommen, jetzt zum Beispiel in der FDJ-Gruppe.“ (Z.431f)

Die FDJ-Gruppe ist ein Rahmen für freiwilliges Engagement, in dem sich Lutz Rommel bewegt (vgl. D 3.1.1 a). Hier ist der enge Zusammenhang zwischen Engagement und Integration, der für Lutz Rommel charakteristisch ist, zu erkennen und wird im Folgenden näher erläutert. b) Soziale Bindung durch freiwilliges Engagement Das Streben nach Gemeinschaft bewegt Lutz Rommel im biografischen Verlauf immer wieder dazu, sich freiwillig für andere zu engagieren. Dies bietet ihm die Möglichkeit der sozialen Einbindung. Dabei finden die Begegnungen nebenbei statt, ergeben sich wie zufällig bei der Ausführung des Engagements, zum Beispiel Z.435ff: „Oder mal, äh, Hilfspo, Projekte in Altersheimen mal geholfen mit. (Interviewerin: Aha.) Ge. Was gebastelt und und für die oder mal die, in son Altersheim mal en en Klub, äh en Aufenthaltsraum renoviert, ge. Da ham eben alle FDJler mit angefasst. Hammer tapeziert und gemalert.“

Lutz Rommel verortet sich in der Gruppe aller FDJler. Im gemeinsamen Tun entsteht Gemeinschaft, die für Lutz Rommel viel bedeutet. Bei den freiwilligen Tätigkeiten findet sich immer wieder Gelegenheit zum Reden. Dieses Bedürfnis, sich anderen mitzuteilen, erweist sich für ihn als zentral. Auf die Frage, wie sein freiwilliges Engagement zustande kommt, antwortet Herr Rommel in Z.788 spontan: „Naja ich hatte schon immer so so’n, so’n, Mitteilebedürfu äh äh, wie heeßt das hier? Mitteilungsbedürfnis.“

Erst im nächsten Satz (Z.791) korrigiert er sich: „Sozusagen. Ich war immer schon ph (2 Sek.) mitzumachen.“

Und dann sagt er weiter (Z.793): „Nur, dass du dazu gehörst, sozusagen, ge.“

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 Lutz Rommel reflektiert also selbst das Engagement als Chance, Zugehörigkeit zu finden. Er möchte den anderen ein Bild von sich vermitteln und findet in der Gruppe immer wieder Gelegenheiten, um anderen von sich und seinen Themen zu erzählen. Dies wird auch in seinem Engagement, das er zum Zeitpunkt des Interviews innehat, deutlich. Er arbeitet in einer sozialen Einrichtung im Wohngebiet mit (Z.99f): „Und dann, der Kontakt mit den Leuten, die hier arbeiten, […] gefällt mir, und darum bin ich auch geblieben, bis heute.“

Für Lutz Rommel ist es neben dem Tätigwerden besonders wichtig, mit Menschen zusammenzukommen. Somit erlangt Lutz Rommel soziale Integration durch ehrenamtliches Engagement. Dieses fungiert also als reziproker Preis für den Gegenwert der Einbindung in Beziehungen. c) Idealisierung der DDR-Gesellschaft In der Rückschau auf sein Leben in der DDR bekräftigt Lutz Rommel immer wieder seine positive Grundeinstellung zu dieser Zeit. Eigene negative Erfahrungen, wie die Zeit im ersten Kinderheim, die ihm „nicht gefallen hat“ (Z.194) oder der Ausschluss aus der SED bringt er mit eigenem bzw. familiärem Versagen in Verbindung. Nicht die damalige Gesellschaft trägt hierfür Verantwortung bzw. Mitverantwortung. In positiver Erinnerung sind ihm die Vergünstigungen, die ihm zuteil werden, (Z.277): „Weil durch den Bergbau hast du dann ja auch schneller ne Wohnung gekriegt.“

In Z.344 erklärt er: „Ne. Hattest du sozusagen als SED-Mitglied oder Kandidat hattest du Privilegien. In der Beziehung.“

Diese persönlichen Vorteile, die Lutz Rommel im Zusammenhang mit der DDR erinnert, tragen dazu bei, dass er das damalige Gesellschaftssystem wertschätzt. Darüber hinaus kommt es ihm sehr entgegen, dass die DDR-gesellschaftlichen Institutionen vielfach als Elternersatz fungieren und klare Definitionen von Gut und Schlecht vorgeben (vgl. D 3.1.2 c). Er kommt gut damit zurecht, wenn ihm andere sagen, was zu tun ist bzw. ihm Leitorientierungen vermitteln (vgl.

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 D 3.1.1 a). Die Verhaltenshinweise durch institutionelle Vertreter der DDR bewertet er ebenfalls positiv (Z.904): „Das war das besser. Das war’n schon schöne Zeiten.“

Ausschlaggebend sind für Lutz Rommel darüber hinaus die Erinnerungen an wesentlich besseren nachbarschaftlichen Zusammenhalt in der DDR (Z.918f): „Ne. Ich meen, der Zusammenhalt war da viel besser. Wenn dann eener gesagt hat: ‚Komm, wir machen mal das oder wir machen mal n Ausflug. ‘“

Eine große Rolle spielt außerdem das Empfinden relativ gleicher Entlohnung der beruflichen Arbeit (Z.911f): „Wir hatten, da da hat ni eener irgendwie rumgepranst: ‚Ich hab, ich verdiene mehr als du.‘ Oder das oder jenes. Da hat mer fast jeder dasselbe. Also im Bergbau.“

Dadurch dass im DDR-Bergbau alle Mitarbeiter ähnlich entlohnt werden, können Einkommensunterschiede nicht dazu dienen, sich gegenseitig voneinander abzugrenzen oder eine privilegierte Position einzunehmen. Die Gruppe der Bergarbeiter grenzt sich zwar gegenüber anderen Branchen ab (zum Beispiel durch Privilegien bei der Wohnraumzuweisung), ist aber in sich relativ homogen. Dies wird von Herrn Rommel in besonderem Maß positiv bewertet, da Zugehörigkeit für ihn eine große Rolle spielt (vgl. D 3.1.3 a) und D 3.1.3 b). Die DDR schneidet im Systemvergleich des Herrn Rommel auch vor dem Hintergrund seiner beruflichen Möglichkeiten besser ab. Im Zuge des gesellschaftlichen Umbruchs findet er als gering Qualifizierter erschwerten Zugang zum ersten Arbeitsmarkt und gehört damit zu den Wende-Verlierern. 3.2 Biografische Gesamtformung: soziale Integration durch freiwilliges Engagement Ausgangspunkt der Zusammenhänge im Erleben und Handeln des Lutz Rommel stellen die prekären Lebensumstände in der Kindheit und die Unterbringung im Kinderheim dar. Diese bedeuten für ihn die zentrale Erfahrung, ausgeschlossen zu werden, nicht dazu zu gehören. Ausgehend davon schafft Lutz Rommel immer wieder Gelegenheiten, um Kontakte zu seinen Mitmenschen zu pflegen und Orte der sozialen Integration zu finden. Dabei unterstützen ihn generativ verortete Leitorientierungen sowie in der persönlichen Entwicklung gefestigte Einstel-

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 lungsmuster. Bemerkenswert ist dabei, dass der Zirkel von Ausschlusserfahrung, Streben nach Integration, Reproduktion von Misserfolg und wiederum Ausschlusserfahrung aufrecht erhalten wird. Am Rande der Gesellschaft angekommen, nämlich in der Arbeitslosigkeit, erreicht Lutz Rommel soziale Integration, indem er sich freiwillig in einer Einrichtung im Stadtteil engagiert. Lutz Rommel erlebt soziale Integration um den Reziprozitätspreis freiwilligen Engagements. Ein Weg, um Zugehörigkeit zu erreichen, ist darüber hinaus die Anpassung an die Anforderungen Signifikanter Anderer. Indem Lutz Rommel tut, was andere wünschen, erhofft er sich Akzeptanz. Dabei muss er allerdings immer wieder feststellen, dass er ausgenutzt wird. Ihm wird im Gegenzug für seine Hilfe nicht geholfen. Dennoch ist dieses Handeln eine effektive Möglichkeit, in Kontakt mit anderen Menschen zu kommen und zu bleiben. Problematisch wirkt sich für Lutz Rommel in diesem Zusammenhang der Alkoholgenuss aus. Der enthemmende Alkoholkonsum bewirkt temporär eindrucksvolles öffentliches Auftreten, sodass Herrn Rommel daraus wiederum Misserfolgserlebnisse entstehen. Im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit ergeben sich für Herrn Rommel viele Kontaktmöglichkeiten. Hier kommt ihm die generative Verortung von Berufstätigkeit als Norm zugute. Außerdem kann sich Lutz Rommel durch die berufliche Entwicklung temporär finanziell verbessern. Über viele Jahre findet er auch nach beruflichen Brüchen bzw. Niederlagen immer wieder eine Anstellung. Der gesellschaftliche Umbruch spielt insofern eine Rolle für Lutz Rommel, dass er in schlecht bezahlten Tätigkeiten einsteigen muss und aufgrund seines Alters relativ geringe Chancen sozialen Aufstiegs hat. Als gering Qualifizierter gehört er damit zu den Menschen im erwerbsfähigen Alter, denen durch den Systemumbruch massive Nachteile in beruflicher Hinsicht entstehen. Im Gegensatz dazu hat Herr Rommel die DDR in überwiegend positiver Erinnerung. Insbesondere der nach subjektiven Empfinden bessere soziale Zusammenhalt ist für Lutz Rommel ausschlaggebend, um die damaligen Verhältnisse zu idealisieren. Neben der Arbeit bzw. im Anschluss an Berufstätigkeit und kurzzeitige Arbeitslosigkeit ergänzen gesellschaftliche bzw. soziale Institutionen mit der Einbindung in freiwillige Engagements die Integrationsfunktion. Als impulsgebend erweist sich dabei nicht der familiäre Zugang zum Engagement. Lutz Rommel findet den Einstieg in das Freiwilligenengagement mittels DDR-gesellschaftlicher institutioneller Vertreter und später durch die Vermittlung einer guten Bekannten. Im Freiwilligenengagement kommt Lutz Rommel mit Menschen zusammen und kann nebenbei, am Rande seiner Aufgaben, mit anderen kommunizieren. Lutz Rommel sucht nicht den direkten Kontakt, zum Beispiel in der Übernahme einer Betreuungsfunktion. Für ihn ist es immer wieder das Gespräch am Rande, zum Beispiel mit festangestellten Mitarbeitern, das ihm wichtig ist.

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 So findet Lutz Rommel vielfältige Möglichkeiten, um sich anderen mitzuteilen und Beziehungen zu pflegen. Das freiwillige Engagement gewinnt für ihn vor allem die Funktion der sozialen Integration.



Teil E Wirkungszusammenhänge bei der Herausbildung freiwilligen Engagements und Typenbildung

Die Analyse der Fallportraits der freiwillig Engagierten zeigt, dass bei der Herausbildung persönlichen freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf verschiedene Merkmale zusammenwirken. Entsprechend der Analyseergebnisse können diese den Ebenen „Individuelle Merkmale“, „Familiäre Disposition“ sowie „Sozialräumliche und gesellschaftliche Einflüsse“ zugeordnet werden. Im Folgenden werden die Merkmale der einzelnen Fälle systematisch verglichen (E 1–E 3). Es wird die Ausprägung der einzelnen Merkmale berücksichtigt. In der Diskussion werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet. Es werden die biografischen Muster deutlich, die zur Herausbildung freiwilligen Engagements beitragen. Dieser systematische Vergleich wird in Bezug zu den biografischen Gesamtformungen der InterviewpartnerInnen gesetzt. Auf dieser Grundlage werden die Befragten verschiedenen Typen der Engagementherausbildung zugeordnet. Ausschlaggebend dafür ist jeweils die Hauptbedeutung, welche dem freiwilligen Engagement im biografischen Verlauf der InterviewpartnerInnen zukommt. Die Typen werden erläutert und anhand der kennzeichnenden Merkmale beschrieben (E 4).

1 I NDIVIDUELLE M ERKMALE Der fallübergreifende Vergleich der persönlichen Besonderheiten, die zur Herausbildung von Engagement führen, zeigt sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Insgesamt gesehen erweist sich das Aktivitätspotenzial der analy-

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 sierten Fälle im Spektrum zwischen Handlungsorientierung und Lageorientierung (E 1.1) als bedeutsam. Ein weiteres individuelles Merkmal ist die Anpassungsfähigkeit zwischen Autonomiebestreben auf der einen und Anpassung an externe Handlungsaufforderungen auf der anderen Seite (E 1.2). Darüber hinaus erweisen sich für jeden Fall spezifische individuelle biografische Leitorientierungen als mitentscheidend für die Aufnahme eines freiwilligen Engagements (E 1.3). Außerdem treten bei einzelnen Interviewpartnern spezifische individuelle Phänomene (E 1.4) auf, die bei den anderen nicht auffallen und auch nicht den schon genannten Merkmalen zuzuordnen sind. In einzelnen Fällen kommt diesen Phänomenen großer Einfluss bei der Engagementherausbildung zu. Die Wirkungszusammenhänge der individuellen Merkmale werden in Bezug auf die Engagementherausbildung zusammengefasst (E 1.5). 1.1 Aktivitätspotenzial zwischen Handlungsorientierung und Lageorientierung Die Analyse des Interviewmaterials zeigt, dass sich das Aktivitätspotenzial der InterviewpartnerInnen zwischen Handlungsorientierung und Lageorientierung bewegt. Der Begriff der Lageorientierung geht auf Julius Kuhl zurück und meint im Gegensatz zur Handlungsorientierung, dass der Akteur in Gedankenabläufen verfangen ist, die „um emotionale Zustände sowie die tatsächliche Lage kreisen, nicht so sehr hingegen um die Lösungsmöglichkeiten“ (Wenninger 2001, 419). Damit sind Schwierigkeiten verbunden, negative Gefühle zu regulieren und sich selbst zu motivieren, die Handlungs- und Bewältigungsfähigkeit ist eingeschränkt (Kuhl 2001). Das Leben der InterviewpartnerInnen ist jeweils von Aktivität bestimmt, die Ausprägung variiert individuell. Eine Reihe der Fälle weist eine hohe Handlungsorientierung auf. Dies zeigt sich vor allem darin, dass diese Personen in eine Vielzahl von Tätigkeiten eingebunden sind. Dies ist vor allem bei Renate Peter, Kerstin Larsell, Inge Weber, Günther Pauls und Amanda Rödling zu beobachten. Dabei ist die Aktivität oft auf einzelne Bereiche konzentriert. Zwei der interviewten Personen, Herr Ewald und Herr Rommel, befinden sich zwischen Handlungsorientierung und Lageorientierung, während eine Frau, Hanne Zeutsch, überwiegend in Lageorientierung in Bezug auf die Ereignisse ausharrt. Für Renate Peter ist die Aktivität besonders auffällig. Sie ist nahezu jederzeit beschäftigt und sucht sich gezielt Tätigkeiten in Zeiten, in denen es wenig zu tun gibt. Der intensiven Aktivität kommt bei Frau Peter die Funktion der Bewältigung zu. Indem sie handelnd aktiv wird, kann sie auftretende Probleme lösen. Durch die kontinuierliche Aktivität erweitert Frau Peter ihr soziales Netz. Dem-

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 zufolge wird sie von institutionellen Ansprechpartnern für freiwillige Tätigkeiten angefragt. Frau Peter sagt vielen Anfragen zu und lässt damit das freiwillige Engagement zu einem wesentlichen Schwerpunkt ihrer Aktivität werden. Im Rahmen dieser Tätigkeiten gelingt es Frau Peter, sekundäre soziale Beziehungen aufzubauen und intensiv zu pflegen. In einigen dieser Beziehungen übernimmt Frau Peter die Rolle von Familienangehörigen einer Kernfamilie innerhalb einer erweiterten Familienkonstruktion. Somit erlebt sie einen Ausgleich für die Erfahrung schwieriger Beziehungen in ihrer eigenen Familie. Frau Peter gestaltet durch ihre vielfältigen Aktivitäten sowohl ihre eigene Entwicklung als auch die Lebensbedingungen der Menschen, für die sie sich engagiert, verantwortlich mit. Ähnlich ist dies bei Frau Larsell. Auch sie kann durch ihre Aktivität sowohl ihre eigene Situation verbessern als auch für die von ihr betreuten Kinder da sein. In der Betreuungssituation kann sie den Austausch körperlicher Nähe und Zärtlichkeit nachholen. Beide Frauen können also durch ihre Tätigkeit im Freiwilligenengagement Defizite, die sie in familiären Bindungen erfahren, bewältigen. Die Handlungsorientierung wird ebenfalls bei Frau Weber, Frau Rödling und Herrn Pauls als Merkmal herausgearbeitet. Allerdings konzentrieren sie ihre Tätigkeiten auf andere Bereiche. Die beiden Frauen sind zunächst schwerpunktmäßig mit ihrer beruflichen Karriere beschäftigt. Frau Weber absolviert zwei Ausbildungen, nachdem sie als Jugendliche daran gescheitert ist. Dann ist sie erfolgreich als Fachkraft in ihrem Beruf tätig. Frau Rödling durchläuft einen innerbetrieblichen Aufstieg und qualifiziert sich in diesem Rahmen über ein Fachschulstudium weiter. Für beide Frauen endet die berufliche Entwicklung Mitte der 1990er Jahre, obwohl sie das Rentenalter noch nicht erreicht haben. Die nachberufliche Phase ist bei Frau Weber mit starken gesundheitlichen Einschränkungen verbunden, weshalb sie Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht. Durch Maßnahmen, die der gesundheitlichen Förderung dienen, bekommt Frau Weber Zugang zu ihrem freiwilligen Engagement. Sie übernimmt eine Pionieraufgabe, indem sie sich als Leiterin einer Selbsthilfegruppe um deren Aufbau bemüht. Das freiwillige Engagement ersetzt für Frau Weber in den ersten Jahren als Erwerbsunfähigkeitsrentnerin die berufliche Aktivität. Kann sie während der Ausübung ihres Berufes belastende Lebensereignisse in den Hintergrund drängen, übernimmt diese Funktion nun das freiwillige Engagement. In dieser Statuspassage gelingt es allerdings nicht, das Engagement zu verstetigen. Nach ein paar Jahren des Engagements konzentriert Frau Weber ihre Tätigkeiten ausschließlich auf den persönlichen Nahbereich und beendet ihr freiwilliges Engagement. Ihre gesundheitlichen Belange und das Befinden des Ehepartners sowie der regelmäßige Nachweis der Arbeitsunfähigkeit binden einen Großteil ihrer Energie. Anders bei Frau Rödling, sie konzentriert sich im biografischen Verlauf

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 fast durchgängig auf ihre Person und den Rahmen der eigenen Familie. Zum Zeitpunkt des Interviews leidet sie stark unter ihrer Arbeitslosigkeit und grenzt ihren Aktionsradius immer mehr ein, die Lageorientierung tritt in den Vordergrund. Institutionelle Bezüge verlieren an Bedeutung, zumal die Zusammenarbeit mit entscheidenden Partnern wie der Agentur für Arbeit nicht zur beruflichen Reintegration führt. Frau Rödling zieht sich zunehmend in den privaten Bereich zurück und konzentriert ihre Aktivitäten auf die Unterstützung der Kernfamilie. Somit verschließen sich eventuelle Zugänge zum freiwilligen Engagement, da Kontakte zu institutionellen Ansprechpartnern ausdünnen. Demgegenüber hält Herr Pauls die Kontakte zum sozialen Umfeld während seiner Arbeitslosigkeit aufrecht. Er erweitert diese sogar, vor allem im institutionellen Bereich. Dennoch richtet er den Schwerpunkt seiner Aktivitäten insgesamt gesehen nicht auf die sozialen Bindungen. In seiner Kindheit und Jugend entwickelt Günther Pauls seine intellektuellen, kulturellen und sportlichen Fähigkeiten intensiv weiter. Später, im Erwachsenenalter kommen ihm vor allem seine dadurch entwickelten künstlerischen Begabungen zu gute. Die Aktivitäten im Bereich Kunst und Kultur zählen zu seinen besonderen Fähigkeiten. Sie helfen ihm aber auch, Konflikte zu bewältigen. Weitere Bezüge ergeben sich aus diesen Aktivitäten zum freiwilligen Engagement. Auch in Krisenzeiten, während der Arbeitslosigkeit, musiziert und dichtet er weiterhin. Er beginnt ein freiwilliges Engagement in diesem Bereich. Aus dieser Tätigkeit ergibt sich, verbunden mit intensiver Netzwerkarbeit, einige Zeit später sogar eine Festanstellung. Die InterviewpartnerInnen, deren Aktivitätspotenzial sich zwischen aktivem Handeln und Lageorientierung bewegt, finden durch andere Auslöser Zugang zum Freiwilligenengagement. Zu diesen Befragten gehören Lutz Rommel und Wolfgang Ewald. Bei Lutz Rommel wird die Handlungsorientierung nicht zum markanten Merkmal der individuellen Besonderheiten. Während seiner verschiedenen beruflichen Tätigkeiten engagiert er sich durchschnittlich. Er geht seiner Arbeit nach, entwickelt aber keine gesteigerten Aktivitäten zum Beispiel in Form der Karriereplanung. Beispielhaft dafür steht, wie Lutz Rommel reagiert, als er wegen eines Unfalls sein Auto als Voraussetzung für die berufliche Tätigkeit einbüßt. Für ein anderes Auto hat er kein Geld. Er findet sich damit ab, dass er deshalb seine Arbeit verliert. Er nutzt die Angebote der Agentur für Arbeit, wird in verschiedene zeitlich befristete Maßnahmen, zum Beispiel in der Grünanlagenpflege, eingebunden. Lutz Rommel bleibt also aktiv, entwickelt aber keine zusätzlichen Anstrengungen, um Zugang zum ersten Arbeitsmarkt zu behalten. Ein Umzug beispielsweise kommt für ihn nicht infrage. Auch in außerberuflichen Bereichen übernimmt er keine besondere Verantwortung, stellt sich eher als Durchschnittsbürger dar. Diese Einstellung äußert sich auch in seinem

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 freiwilligen Engagement. Zuverlässig und langandauernd engagiert er sich im Küchenbereich einer sozialen Einrichtung. Darüber hinaus wird er lediglich temporär und auf Anfrage zu besonderen Anlässen tätig. Lutz Rommel übernimmt aber nicht, wie beispielsweise Renate Peter, zeitgleich mehrere Aufgaben in unterschiedlichen Institutionen. Handlungs- und Lageorientierung sind bei Lutz Rommel gleichermaßen zu beobachten, wobei die Aktivität den sozialen Abstieg begleitet. Bei Wolfgang Ewald zeigt sich eine Art Pendelbewegung zwischen hoher Aktivität und Lageorientierung. Besondere Aktivität ist im Beruf zu beobachten, allerdings ohne Aufstieg. Jahrelang investiert Herr Ewald auch einen Großteil seiner Freizeit in die Arbeit und genießt die finanziellen Vorteile, die ihm dadurch erwachsen. Dann wiederum gibt es Zeiten bzw. Momente, in denen Wolfgang Ewald kürzer tritt bzw. handlungsunfähig scheint. Als Beispiel dafür sei die Reaktion auf familiäre Mehrbelastung genannt. Nachdem seine Frau infolge einer Operation auf den Rollstuhl angewiesen ist, bemüht sich Wolfgang Ewald erfolgreich um einen Teilzeitjob. Er begreift den Lebensablauf als unabänderliches Schicksal, das man nicht, beispielsweise durch gesteigerte Aktivität, beeinflussen kann. Auch im Bereich des freiwilligen Engagements zeigt sich keine herausragende Aktivität bei Wolfgang Ewald. Er hilft ab und zu in einer sozialen Einrichtung mit Handwerkertätigkeiten aus, sobald er darum gebeten wird. Das Reziprozitätsprinzip muss allerdings für ihn erfüllt sein. Die Mitarbeit in der Schiedskommission in der DDR erfolgt in der Erwartungshaltung einer Gegenleistung und den öffentlichen Eingangsbereich seines Wohnblocks pflegt er vor allem in seinem eigenen Interesse. Die Bedeutung des Reziprozitätsprinzips erweist sich ebenfalls bei Frau Zeutsch als zentral. Im Vergleich zu Wolfgang Ewald ergreift sie allerdings seltener die Initiative für Aktivitäten. Das Merkmal „Zurückhaltung im Auftreten“ zeigt, dass sie überwiegend zur Lageorientierung tendiert. Sie übt ihren Beruf aus und zeigt darüber hinaus eine eher abwartende Haltung. Als sie in den 1990er Jahren arbeitslos wird, unternimmt sie keine Anstrengungen zur beruflichen Reintegration. Sie wird nicht in Maßnahmen der Agentur für Arbeit tätig. Die abwartende Haltung von Frau Zeutsch zeigt sich auch in ihrem freiwilligen Engagement. In der DDR ist ihr Engagement wesentlich durch den Zwangscharakter mitbestimmt. Dort wird sie überwiegend deshalb tätig, weil es von anderen initiiert ist oder verlangt wird. Über lange Zeiträume ist Frau Zeutsch überhaupt nicht freiwillig engagiert. Unter bestimmten Voraussetzungen findet sie nach der Transformation Zugang zum Engagement. Wird sie von institutionellen Ansprechpartnern, denen sie vertraut, um die Mitarbeit geworben und ist für sie ein Gegenwert erkennbar, engagiert sie sich gern. Diese institutionellen An-

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 sprechpartner arbeiten im Bereich der Kinderbetreuung und Bildung. Frau Zeutsch findet also über ihre Enkelkinder Zugang zum Freiwilligenengagement. Insgesamt gesehen kann für das Merkmal Aktivitätspotenzial festgehalten werden, dass der Aktivität im Lebensalltag der befragten Engagierten unterschiedliche Bedeutung zukommt. Die meisten Interviewten sind handlungsorientiert, was sich meist auch darin widerspiegelt, dass das freiwillige Engagement für sie eine große Rolle spielt. Die biografischen Hintergründe dafür sind jedoch unterschiedlich. Sie ähneln sich aber bei den beiden Frauen, die sich engagieren, um Lebenserfahrungen zu bewältigen. Frau Rödling und Frau Weber, deren Handlungspotenzial sich fast ausschließlich auf den persönlichen und den familiären Raum konzentriert, investieren ihre Energie demzufolge weniger als die anderen InterviewpartnerInnen in freiwilliges Engagement. Für die beiden Engagierten, deren Handlungsorientierung mit Lageorientierung abwechselt, ist es selbstverständlich, sich freiwillig zu engagieren. Bei ihnen gibt es aber auch Engagementpausen bzw. Zeiten mit weiniger intensiver freiwilliger Tätigkeit. Frau Zeutsch als Engagierte, bei der die Lageorientierung überwiegt, wird lediglich dann freiwillig tätig, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Sie findet Zugang zum Engagement, wenn institutionelle Mitarbeiter, zu denen sie ein gutes Verhältnis hat, sie darum bitten. Schlussfolgernd kann festgehalten werden, dass bei dem Großteil der Befragten die Aktivität mit dem freiwilligen Engagement korreliert. Menschen, die ihren Lebensalltag sehr aktiv gestalten und ein freiwilliges Engagement begleiten, investieren relativ viel Zeit und Energie auch in diese Tätigkeit. Menschen, die in ihrer Alltagsgestaltung eher zu Lageorientierung tendieren, verbringen relativ wenig Zeit mit freiwilligem Engagement. Es nimmt weniger Raum ein als bei den Menschen, die sich eher handlungsorientiert zeigen. Eine Ausnahme bildet Frau Weber. Sie übt ihr Engagement lediglich in der Statuspassage zur Rentnerin aus. Außerdem wird der beobachtete Zusammenhang von der Frage überlagert, inwieweit die Befragten sich über den persönlichen und familiären Bereich hinaus orientieren. Im Fall von Frau Rödling wird dies exemplarisch deutlich. Sie konzentriert ihre Aktivitäten fast ausschließlich auf ihre persönliche Entwicklung und ihre Kernfamilie. Freiwilliges Engagement übt sie lediglich temporär aus. Es dient hauptsächlich der beruflichen Weiterentwicklung. 1.2 Zwischen Autonomiebestreben und Anpassungsfähigkeit In Abgrenzung zum Aktivitätspotenzial ist eine weitere Kategorie individueller Merkmale für die Herausbildung des freiwilligen Engagements der Interviewten Personen wesentlich. Die InterviewpartnerInnen treffen ihre Entscheidungen

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 jeweils in einer bestimmten Abhängigkeit von äußeren Faktoren bzw. von externen Handlungsaufforderungen. Die Position dieser Gebundenheit befindet sich zwischen Autonomiebestreben und Anpassungsfähigkeit. Sie ist relativ unabhängig davon, welches Aktivitätspotenzial (siehe E 1.1) die Person entwickelt. Der Vergleich der Fallbeschreibungen anhand dieses Merkmals ergibt vier verschiedene Varianten. Es sind Personen • • •



mit sehr hohem Autonomiebestreben, sowohl mit eigenem Gestaltungspotenzial als auch mit Anpassungsvermögen, welche sich zwar sehr stark an externen Handlungsaufforderungen orientieren, aber eine eigene Position einnehmen und ihre Gestaltungsmacht indirekt einbringen, bei denen die Anpassungsfähigkeit deutlich gegenüber dem Autonomiebestreben im Vordergrund steht.

Frau Rödling weist als einzige Interviewte ein sehr hohes Autonomiebestreben auf. Herr Ewald und Frau Peter zeigen sowohl eigenes Gestaltungspotenzial als auch Anpassungsvermögen. Eine besondere Konstellation ist bei Frau Weber und Herrn Pauls zu beobachten. Sie orientieren sich zwar sehr stark an externen Handlungsaufforderungen, behalten sich aber eine eigene Position vor und bringen indirekt ihre Gestaltungsmacht ein. Bei Hanne Zeutsch, Lutz Rommel und Kerstin Larsell überwiegt die Anpassungsfähigkeit deutlich vor dem Autonomiebestreben. Im Folgenden werden die einzelnen Positionen anhand der zugehörigen Fälle erläutert. Die Extremposition von Amanda Rödling in Bezug auf ihr Autonomiebestreben begründet sich darin, dass sie sich als Person darstellt, die ihre Entscheidungen relativ unabhängig trifft. Zwar sind die Grundlagen ihrer Entscheidungsfindung von familiären und gesellschaftlichen Einflüssen durchdrungen. So wird ihr beispielsweise von den Großeltern die Pflicht zur Dankbarkeit und zur Reziprozität familiärer Unterstützung vermittelt, was Frau Rödling später dazu bewegt, ihren Beruf zugunsten der Pflege der Großeltern aufzugeben. Das Empfinden bei Frau Rödling ist aber Autonomie. Sie übernimmt selbst die Verantwortung für den Ausstieg aus dem Beruf, indem sie die diesbezügliche Entscheidung als Dummheit bewertet. Auch in anderen Lebensbereichen wie Karriereplanung und Familie beweist sie Eigenverantwortung und Entscheidungskompetenz. Sie setzt beispielsweise ihr Vorhaben, sich über ein Fachschulstudium weiter zu qualifizieren, entgegen der Lenkung durch Vorgesetzte durch. Die berufliche Karriere hat für Frau Rödling lange Zeit obere Priorität. Um diese zu verfolgen,

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 nimmt sie in Kauf, sich temporär für ein gesellschaftliches Engagement in der DDR zu verpflichten. Die Tätigkeit in der Betriebsgewerkschaftsleitung wird von ihr als leitende Mitarbeiterin verlangt. Dies ist die einzige Situation, in der Frau Rödling ihre Entscheidung in einem Zwangskontext finden muss. Paradoxerweise betrifft dies den Bereich des freiwilligen Engagements. Diese Konstellation erklärt sich biografisch. Gesellschaftliche Autoritäten bekommen für Frau Rödling zentrale Bedeutung, da sie jahrelang im Kinderheim aufwächst und dort mit Strukturen des unbedingten Gehorsams konfrontiert wird. So wird das Autonomiebestreben von Frau Rödling durch den Einfluss von DDR- gesellschaftlichen Institutionen relativiert, ist aber im Vergleich zu den anderen InterviewpartnerInnen immer noch sehr stark. Anders als bei Frau Rödling ist bei Frau Peter und bei Herrn Ewald zu sehen, dass sie sowohl eigene Entscheidungen treffen als auch ihr Handeln von anderen bestimmen lassen. Frau Peter ist in Machthierarchien eingebunden, die ihr sowohl direkten Einfluss auf andere Personen ermöglichen als auch abverlangen, dass sie die Aufforderungen gesellschaftlich höher gestellter Personen erfüllt. Herr Ewald behält sich unabhängig vom Status der jeweils beteiligten Instanzen autonome Entscheidungen vor. Er kann sich aber genauso gut auf die Anforderungen anderer Menschen einstellen, vor allem in direkten Kommunikationssituationen. Für das freiwillige Engagement bedeutet diese Praxis bei Frau Peter, dass sie von der Positionierung in einer funktionalen Machthierarchie profitiert. Zum einen wird ihr Bedürfnis, selbst Macht auszuüben, erfüllt. Zum anderen bleibt sie in die Kommunikation mit gesellschaftlich hoch angesehenen institutionellen Mitarbeitern wie zum Beispiel einem Staatsanwalt eingebunden, indem sie den Handlungsanfragen bzw. -aufforderungen ihrer KooperationspartnerInnen gerecht wird. Somit erhält sie gesellschaftliche Bedeutung und Anerkennung, weil sie Teil der institutionalisierten Abläufe wird. Auch Herr Ewald erhält Gegenleistungen dafür, dass er externe Handlungsaufforderungen zum Engagement erfüllt. Diese sind zum Teil materieller Art, wie die Beteiligung am Garagenbau und die Aufwandsentschädigung, zum Teil ideeller Art, wie der Zeitvertreib. Ebenso wie bei Herrn Ewald und Frau Peter sind auch bei Günther Pauls und Inge Weber sowohl autonome Entscheidungen als auch hohe Anpassung sichtbar. Das Besondere hier ist, dass diese beiden Personen ihren Einfluss kaum direkt ausüben, sondern auf Umwegen ihre Position beziehen bzw. ihre Vorstellungen durchsetzen. Auf den ersten Blick wird überwiegend die Anpassungsfähigkeit sichtbar. So nutzt Frau Weber in ihrer Darstellung immer wieder externe Handlungsaufforderungen als Auslöser ihrer Entscheidungen. Der Arzt schickt sie zur Kur, der vorgesetzte Freund rät ihr, von der Familie wegzugehen. In der

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 Zusammenschau wird deutlich, dass genau diejenigen Aussagen anderer Personen von Frau Weber angeführt werden, die ihrer eigenen Sichtweise und Intention entsprechen. Herr Pauls hat demgegenüber häufig Mühe mit den Positionen und Vorstellungen der anderen, nach denen er sich richten muss. Dennoch erfüllt er die Anforderungen. Er kann aber auf dem Weg der Kunst sein Befinden zum Ausdruck bringen, ohne in die direkte Auseinandersetzung gehen zu müssen. Die künstlerische Begabung kann er dann umfänglich in seinem freiwilligen Engagement ausleben, als Alleinunterhalter im Pflegeheim. Ähnlich Frau Weber, indem sie sich auf ihre freiwillige Tätigkeit konzentriert, bewältigt sie die Belastungen ihres eigenen Lebens. Sie rücken temporär in den Hintergrund und werden so der direkten Auseinandersetzung entzogen. Auch in Bezug auf das freiwillige Engagement orientiert sich Frau Weber an den Handlungsaufforderungen Signifikanter Anderer und kann gleichzeitig eigene Vorstellungen realisieren. Sie übernimmt die Leitung der Selbsthilfegruppe infolge der Anfrage durch eine hauptamtliche Fachkraft. Lutz Rommel, Hanne Zeutsch und auch Kerstin Larsell lassen in ihrer biografischen Sinnkonstruktion erkennen, dass sie überwiegend bereit sind, sich an die Handlungsaufforderungen anderer Menschen anzupassen. Lutz Rommel ist im Lauf seines Lebens auf vielfältige Weise mit Anforderungen konfrontiert. Die meisten von ihnen erfüllt er unhinterfragt. Das Merkmal Anpassungsfähigkeit stellt sich für ihn sogar so dar, dass er darauf angewiesen ist, von anderen Personen Hinweise für sein Verhalten und seine Entscheidungen zu bekommen. Als Konsequenz für sein freiwilliges Engagement ergibt sich daraus, dass er sich – im Rahmen seiner Position zwischen Handlungsorientierung und Lageorientierung – temporär an Einsätzen beteiligt, zusätzlich zu seiner stetigen Tätigkeit im Küchenbereich. Wird er angefragt, hilft er beispielsweise bei Aktionen zur Pflege der Grünanlagen oder bei Stadtteilfesten mit. Hanne Zeutsch duldet ebenfalls über lange Zeiträume die Dominanz anderer Menschen über ihr Handeln. Anders als Lutz Rommel bricht sie aber aus dieser Fremdbestimmung aus, als das Maß für sie unzumutbar wird. So wechselt sie nach einigen Jahren der Tätigkeit als Ausbilderin in den Bürobereich, weil ihr der Umgang mit Menschen nicht so liegt. Demzufolge ergeben sich Bedingungen für Hanne Zeutsch und ihren Einsatz als Freiwillige. Sie engagiert sich, wenn sie darauf vertrauen kann, dass ihr ein persönlicher Schutzraum gewährt wird. Diese Sicherheit braucht sie als Basis für ihr Engagement, das sie ansonsten wieder beendet (vgl. Meusel 2013, 246f). Ähnlich wie Hanne Zeutsch und Lutz Rommel orientiert sich Kerstin Larsell häufig an den Handlungsaufforderungen anderer. Dies betrifft aber überwiegend die Vorgaben institutioneller Kooperationspartner. Im privaten Bereich bewahrt sie ihre Autonomie, grenzt sich beispielsweise immer wieder gegenüber den

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 mütterlichen Einflüssen ab. Demgegenüber akzeptiert sie die Arbeitsbedingungen in der Lebensmittelmarkt- Kette. Außerdem führt sie die Tätigkeiten aus, die ihr als Ehrenamtliche in der Kita aufgetragen werden. Frau Larsell ist sogar bereit, ihren Urlaub zu unterbrechen, falls in der Einrichtung temporär Personal knapp ist. Bei Frau Larsell ist zu beobachten, dass sie ihre eigenen Anliegen direkt anspricht und sich dafür einsetzt. Beispielsweise kämpft sie um einen Arbeitsvertrag auf geringfügige Beschäftigung in ihrer Einsatzstelle. Sie achtet darauf, keine überzogenen Forderungen zu stellen. Institutionelle Rahmungen und persönliche Entwicklung greifen in der Kooperation passgenau ineinander. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass alle InterviewpartnerInnen in der Darstellung ihrer Lebensgeschichte jeweils eine bestimmte Position zwischen Autonomie und Anpassung einnehmen. Alle befragten Personen werden mit externen Handlungsaufforderungen konfrontiert bzw. erleben Umstände, die ihre Entscheidungen beeinflussen. Das Gewicht dieses Einflusses ist jedoch recht unterschiedlich und wirkt sich auf die Gestaltung des freiwilligen Engagements aus. Personen, die ihren Alltag überwiegend autonom gestalten, bekommen offensichtlich schwerer Zugang zu einem freiwilligen Engagement. Sie können die Vorstellungen und Ziele von institutionellen Kooperationspartnern schwerer in ihr Handlungskonzept integrieren, was exemplarisch bei Frau Rödling deutlich wird. Für alle anderen Positionen ergeben sich Möglichkeiten der Kooperation, da sich Engagierte und Einrichtung jeweils passgenau aufeinander einstellen. Für Menschen wie Günther Pauls und Inge Weber bietet das freiwillige Engagement optimale Möglichkeiten, ihr Mitgestaltungsinteresse umzusetzen. Insbesondere Herr Pauls meidet ansonsten die direkte Einflussnahme, zum Beispiel im beruflichen Bereich. 1.3 Individuelle biografische Leitorientierungen Für einen Großteil der InterviewpartnerInnen sind individuelle biografische Orientierungsmuster, die sie als vorrangig handlungsleitend in ihr Wertesystem integrieren, wesentlich mitverantwortlich für die Herausbildung ihres freiwilligen Engagements. Diese Befragten benennen dabei ihre Leitorientierungen und Handlungsmuster meist nicht direkt. Überwiegend ergibt erst die Analyse des Textmaterials, dass ein oder mehrere zentrale Leitorientierungen immer wieder das Entscheiden und Handeln beeinflussen. In den Interviewtexten sind keine Belege für eine intergenerative Verortung dieser Ideale zu erkennen. Daher erfolgt die Zuordnung zu den individuellen Merkmalen. Leitorientierungen und Normen, die intergenerativ an Familienangehörige weitergegeben werden, werden weiter unten erläutert (E 2.2).

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 Bei Wolfgang Ewald, Renate Peter und Hanne Zeutsch sind die individuellen biografischen Leitorientierungen ideeller Art, während Inge Weber und Lutz Rommel eher an materiellen Gütern orientiert sind. Bei Wolfgang Ewald ist zusätzlich zu den ideellen Werten die materielle Ausrichtung erkennbar. An einer Anekdote aus seiner Wehrdienstzeit und am Umgang mit seiner Frau zeigt Herr Ewald eindrücklich, dass er die Würde des Menschen in besonderer Weise achtet. Menschliches Leben hat für ihn einen hohen Wert, weshalb er sich für andere einsetzt. Diese Achtung vor dem Leben ist biografisch begründet. Er hat selbst schwere Zeiten und lebensbedrohliche Situationen erlebt und weiß daher, wie kostbar das Leben ist. Die Wertschätzung gegenüber anderen drückt sich in der Art aus, wie er sich freiwillig engagiert. Er bringt sich ein, wenn er angefragt wird, drängt aber niemanden seine Hilfe auf. Herr Ewald engagiert sich jeweils unter einer notwendigen Voraussetzung, nämlich wenn er selbst auch von seinem Ehrenamt profitiert (zum Beispiel von der regelmäßigen Reinigung des Hauseingangsbereiches). Hier ist der Zusammenhang zu seinen anderen beiden individuellen biografischen Leitorientierungen zu sehen. Sehr wichtig sind ihm das Reziprozitätsprinzip sowie materieller Zugewinn. Im Sinne voraussetzungsgebundenen Engagements bringt er sich dann ein, wenn ein Gegenwert materieller oder ideeller Art abzusehen ist. Ähnlich wie Herr Ewald hat für Frau Zeutsch das Reziprozitätsprinzip große Bedeutung. Darüber hinaus ist ihr der vertrauensvolle Umgang mit ihren Mitmenschen überaus wichtig. So engagiert sie sich lediglich auf der Grundlage von Sozialbeziehungen, die sie auf Vertrauenswürdigkeit geprüft hat. Als Leitorientierung gilt ihr also neben dem Reziprozitätsprinzip das gegenseitige Vertrauen. Ideelle Werte sind auch für Frau Peter zentral, allerdings mit anderer Ausrichtung. Die Bedingungslosigkeit ihres Einsatzes, also auch ihres freiwilligen Engagements, nimmt für sie eine wichtige Position ein. Sie sagt nahezu jeder Anfrage auf ein Engagement zu und setzt fast alle ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen für ihre Adressaten ein. Im Unterschied dazu ist für Lutz Rommel und Inge Weber der eigene materielle Zugewinn bedeutsam und unter diesem Vorzeichen ist auch ihr Engagement zu verstehen. Beide signalisieren in ihrer biografischen Erzählung immer wieder, dass sie wichtige Lebensentscheidungen vor allem in der beruflichen Entwicklung nach dem Kriterium der finanziellen Besserstellung ausrichten. Inge Weber ist darin vergleichsweise erfolgreich. Ihr Engagement bedeutet für sie allerdings keine direkten finanziellen Auswirkungen. Indirekt gewinnt Frau Weber, da sie durch ihre Tätigkeit als Selbsthilfegruppenleiterin materielle Vorteile beim Zugang zu Informationsmaterial (Fachzeitschriften) und zu Tagungen erhält. Demgegenüber stellt für Lutz Rommel die Möglichkeit, durch sein freiwilliges Engagement Geld zu sparen, eine starke Motivation für die Tätigkeit dar.

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 Bei allen InterviewpartnerInnen, deren biografische Sinnkonstruktion durch individuelle biografische Leitorientierungen beeinflusst ist, greifen diese Werte auch im freiwilligen Engagement oder bestimmen den Zugang dazu mit. Da sich die individuellen Leitorientierungen sowohl in ihrer Ausrichtung auf ideelle bzw. materielle Werte als auch in der konkreten Bestimmung unterscheiden, ist auch der Einfluss auf die Engagementgestaltung variabel. Er reicht von Engagement begleitend über motivierend bis hin zu Engagement begünstigend. Bei einigen Interviewten stellen die individuellen biografischen Leitorientierungen notwendige konstitutionelle Engagementbedingung dar. 1.4 Spezifische individuelle Phänomene Einige der InterviewpartnerInnen weisen spezifische individuelle Phänomene, die mit der Engagementherausbildung im Zusammenhang stehen, auf. Beispielhaft werden diese für Frau Larsell im Folgenden erläutert. Die für Frau Larsell bei der Interviewauswertung herausgearbeiteten persönlichen Besonderheiten betreffen das Selbstbild der Interviewpartnerin. Frau Larsell reflektiert ihre Entscheidungen und ihr Verhalten relativ selbstkritisch. Sie sieht eigene problematische Anteile und schreibt Abweichungen von der Norm häufig ihrer eigenen Verantwortung zu. Doch diese Einschätzung hält sie nicht davon ab, ihr soziales Netzwerk zu pflegen. Von ihren Freundinnen sowie von den Mitarbeiterinnen der Einrichtung, in der sie freiwillig tätig ist und von den Adressaten ihres Einsatzes erhält sie immer wieder die Bestätigung, gute Arbeit zu leisten. Damit erhält sie einen Gegenpol zu ihrem kritischen Selbstbild. So balanciert sie, auch mithilfe ihres freiwilligen Engagements, die Spannung zwischen hoher Selbstanforderung und selbst zugeschriebener Unzulänglichkeit aus. Insgesamt haben die spezifischen individuellen Phänomene trotz mancher Gemeinsamkeiten sehr unterschiedliche Ausrichtungen. Sie reichen in ihren Auswirkungen aber in das freiwillige Engagement hinein. Bei zwei InterviewpartnerInnen betreffen die Phänomene das Selbstbild der Befragten. Bei einigen InterviewpartnerInnen dienen sie als Teil der Bewältigung von Konflikten bzw. Entbehrungen. 1.5 Zusammenfassung der Wirkungszusammenhänge zwischen individuellen Merkmalen und freiwilligem Engagement Die vergleichende Analyse der für die Engagementherausbildung wesentlichen individuellen Merkmale ergibt, dass sich das allgemeine Aktivitätspotenzial der

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 InterviewpartnerInnen überwiegend auch im Umfang des freiwilligen Engagements widerspiegelt. Dabei wird das Aktivitätspotenzial teilweise zur Grundvoraussetzung, um die biografische Sinnstruktur zu realisieren. In einigen Fällen wird Aktivität Teil einer Bewältigungsstrategie während andere InterviewpartnerInnen ihre Handlungsorientierung hauptsächlich auf den persönlichen bzw. beruflichen Bereich konzentrieren. Bei den Befragten, die zwischen Handlungsorientierung und Lageorientierung wechseln, ist auch die Einbindung in freiwillige Engagements nicht durchgängig von hoher Aktivität gekennzeichnet. Weniger direkte Zusammenhänge sind zwischen Autonomiebestreben und Engagementherausbildung zu verzeichnen. Die Befragten wählen entsprechend ihres Autonomiebestrebens ein Engagementfeld aus, das ihrem Gestaltungspotenzial gerecht wird. Menschen, die überwiegend autonom handeln, haben offenbar größere Hürden beim Zugang zum freiwilligen Engagement zu überwinden. Ihnen fehlt die passgenaue Kooperation mit Institutionen, die potenziellen Engagierten Einsatzmöglichkeiten bieten. Für Engagierte, welche in anderen Lebensbereichen die direkte Einflussnahme eher vermeiden, bietet das freiwillige Engagement Möglichkeiten der Mitgestaltung und des Selbstausdrucks. Auffällig ist darüber hinaus, dass persönliche Leitorientierungen bzw. individuelle Besonderheiten als Voraussetzung für die Herausbildung freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf mitwirken können. Dies sind beispielsweise ideelle und materielle Werte, aber auch besondere Begabungen oder ein bestimmter Ausschnitt des Selbstbildes.

2 F AMILIÄRE D ISPOSITION : S YSTEM H ERKUNFTSFAMILIE Einen Schwerpunkt der Interviewauswertung stellt die Analyse des familiären Kontextes der Befragten dar. Die zu Merkmalen verdichteten Thesen werden darauf geprüft, ob sie intergenerative Bezüge bzw. Zusammenhänge zum Familiensystem aufweisen. Die herausgearbeiteten Merkmale, welche die familiäre Disposition betreffen, unterteilen sich in Sozialisationsbedingungen (E 2.1), intergenerativ vermittelte Leitorientierungen (E 2.2) und Praxen des freiwilligen Engagements in der Herkunftsfamilie (E 2.3). Im Folgenden werden diese Merkmale in ihren Erscheinungsformen fallübergreifend verglichen. Die Zusammenhänge werden abschließend zusammengefasst (E 2.4).

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 2.1 Sozialisationsbedingungen Die Lebensgeschichten der InterviewpartnerInnen unterscheiden sich vielfältig, sowohl in der Ausgangslage als auch im Verlauf. Dennoch haben diese Menschen eines gemeinsam: Sie wachsen in schwierigen Lebensumständen auf. Damit sind nicht in erster Linie die materiellen Rahmenbedingungen gemeint, obwohl der Großteil der Befragten aus eher einkommensschwachen Verhältnissen stammt. Bei einigen der Befragten verändert sich die finanzielle Lage im biografischen Verlauf deutlich, meist im Zusammenhang mit einem sozialen Abstieg nach dem gesellschaftlichen Umbruch. Darüber hinaus sind es ausschließlich problematische familiäre Beziehungskonstellationen, welche die Sozialisationsbedingungen der InterviewpartnerInnen kennzeichnen. Nicht alle Personen geben im Interview detaillierte Informationen zur Situation in der Herkunftsfamilie bzw. erzählen ausführliche Erlebnisse aus ihrer Kindheit. Dennoch ergibt die Kombination aus Interviewanalyse und Auswertung von Genogrammen bzw. Informationen aus dem Beobachtungsprotokoll relativ gesicherte Rekonstruktionen der familiären Verhältnisse, wie sie die Befragten erleben. Fast alle Herkunftsfamilien gehören dem Arbeitermilieu an. Einige Eltern sind in dienstleistenden Berufen tätig. Ausnahmen bilden der Vater von Renate Peter, welcher in der DDR Trainer und damit Inhaber einer gehobenen sozialen Position ist, und die Mutter von Inge Weber, die sich im zweiten Bildungsweg mit einem Ingenieurstudium qualifiziert. Während des Lebens in der DDR sind alle InterviewpartnerInnen beruflich integriert, überwiegend als ArbeiterInnen. Nur Günther Pauls als Lehrer bzw. später als Mitarbeiter der SED-Bezirksleitung und Amanda Konstanze Rödling, die über ein Fachschulstudium und den beruflichen Aufstieg zur Führungskraft im Postwesen wird, gelten in der DDR als Angehörige der „Intelligenz“. Die sich daraus ergebenden Unterschiede im Einkommen sind aber relativ gering. Kerstin Larsell befindet sich als Kind in der Situation, dass ihr als Einzelkind die finanziellen Einkünfte beider Eltern zugutekommen und sie daher materiell vergleichsweise gut abgesichert ist. Im Zuge der gesellschaftlichen Transformation erleben fast alle Befragten einen sozialen Abstieg. Die Auswirkungen sind jedoch unterschiedlich und beeinflussen die Lebenssituation in einem Spektrum von moderat bis massiv. Leben Hanne Zeutsch, Amanda Rödling und Lutz Rommel in der Bundesrepublik Deutschland dauerhaft von Harz IV, beziehen Kerstin Larsell, Günther Pauls, Inge Weber, Wolfgang Ewald und Renate Peter ein geringes Einkommen bzw. Erwerbsunfähigkeitsrente oder Altersrente, die teilweise durch Abzüge gemindert ist. Kerstin Larsell befindet sich zum Zeitpunkt des Interviews in einer Phase der beruflichen Neuorientierung und absolviert eine externe Ausbildung zur Erziehe-

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 rin. Damit lebt sie als einzige der befragten Personen in der Aussicht auf eine deutliche Verbesserung ihrer Lebenslage. Die Beziehungskonstellation in ihrer Herkunftsfamilie erleben alle InterviewpartnerInnen problematisch. Dabei tritt dieses Merkmal teilweise unterschiedlich in Erscheinung. Auch die Auswirkungen auf die Person differieren. Bei allen InterviewpartnerInnen ist zu beobachten, dass sie in einem relativ starken emotionalen Spannungsfeld aufwachsen. Bei Renate Peter und Kerstin Larsell gestaltet sich die Situation so, dass sie in der Kindheit Defizite emotionaler Zuwendung erleben. Renate Peters Eltern sind zeitweise abwesend bzw. sie erlebt elterliche Zuwendung auf dem Umweg institutioneller Betreuung im Sportverein. Kerstin Larsell wird sehr stark behütet und bekommt zwar in materieller Hinsicht viele Wünsche erfüllt, emotionale Zuwendung und Freiräume zur Selbstentfaltung bleiben ihr aber weitgehend verwehrt. Die erlebten Entbehrungen können Frau Peter und Frau Larsell kompensieren, indem sie, auch auf dem Weg des Freiwilligenengagements, stellvertretende familiäre Beziehungen erleben. Die innerfamiliären Spannungen bei beiden Frauen setzen sich allerdings fort, so dass die Beziehungen beider Frauen beispielsweise zu den Eltern und dabei vorrangig jeweils zur Mutter als zeitweise stark konflikthaft beschrieben werden. Konflikte zur Mutter bringt auch Inge Weber zum Ausdruck, wobei sich die Beziehung von Mutter und Tochter ambivalent gestaltet. Als Kind erlebt Inge Weber komplizierte familiäre Verhältnisse. Die Beziehung der Eltern ist lange Zeit inoffiziell. Nachdem die erste Frau des Vaters stirbt, wird die Beziehung der Eltern legalisiert und nach einiger Zeit werden die Kinder aus erster Ehe in die Familie integriert. Zusätzlich ist die Familie durch ein Familiengeheimnis belastet. Infolge der schwierigen Konstellationen zersplittert die Familie. Bei Lutz Rommel, Hanne Zeutsch und Amanda Rödling sind emotionale Defizite damit verbunden, dass die primären Bezugspersonen wechseln. Bei Hanne Zeutsch und Amanda Rödling wird diese Rolle innerfamiliär weitergegeben, bei diesen beiden Frauen erweist sich außerdem das Familiensystem als relativ geschlossener Bezugsrahmen. Für Hanne Zeutsch stehen im Erwachsenenalter, vor allem in Krisenzeiten, familiäre Bindungen im Vordergrund. Trotz Enttäuschungen erhofft sie sich Reziprozität und vertrauensvolles Miteinander. Anders als Amanda Rödling öffnet sich Hanne Zeutsch aber unter bestimmten Voraussetzungen nach außen, auch für die Tätigkeit in einem freiwilligen Engagement. Amanda Rödling und Lutz Rommel werden über mehrere Jahre institutionell von Erzieherinnen im Kinderheim erzogen. Bei ihnen ist zu beobachten, dass sie sich auch im Erwachsenenalter, zumindest in einigen Lebensbereichen, stark an institutionellen Anforderungen orientieren. Amanda Rödling baut zu diesen

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 institutionellen Einflüssen ein bedeutendes Gegengewicht auf, indem sie sich innerfamiliär verortet und ihre Eigenverantwortung betont. Auch bei Günther Pauls spielen institutionelle Bezugspersonen eine große Rolle, seine Eltern delegieren die Betreuung überwiegend an ambulant tätige Institutionen. Somit erlebt er sich aus den Bezügen seiner Herkunftsfamilie weitgehend ausgeschlossen. Dies ist eine Erfahrung, die auch Lutz Rommel als Kind teilt. Beide erleben auch später im Erwachsenenalter Exklusionserfahrungen, Lutz Rommel im Sinne von sozialem Ausschluss nach Misserfolgserlebnissen, Günther Pauls demgegenüber eher, indem er sich selbst in einer besonderen Rolle bzw. als Außenseiter positioniert. Anders als Lutz Rommel kann er seine Identität sichern, indem er sich auf den künstlerischen Bereich, auch im Freiwilligenengagement, spezialisiert. Lutz Rommel zielt demgegenüber mit seiner freiwilligen Tätigkeit wesentlich stärker auf soziale Integration ab. Bei Wolfgang Ewald ist das Aufwachsen im emotionalen Spannungsfeld und unter prekären materiellen Verhältnissen damit verbunden, dass er früh Eigenverantwortung übernehmen muss. Parallelen können zu Renate Peter gezogen werden. Auch sie übernimmt als Kind in der Nachkriegszeit Verantwortung für sich und ihre Familie, indem sie zur Beschaffung von Lebensmitteln beiträgt. Das Verhältnis von Wolfgang Ewald zu seiner Mutter ist eher von kühler Distanz gekennzeichnet. Beide Eltern stehen ihm relativ kritisch gegenüber. Die Folge ist, dass Wolfgang Ewald diese Beziehungskonstellation in weiten Teilen auch in seiner eigenen Kernfamilie bzw. gegenüber seinen Kindern lebt. Zusammenfassend zum Thema Sozialisationsbedingungen der InterviewpartnerInnen kann noch einmal betont werden, dass sich die Lebensumstände in den ersten Jahren für alle relativ schwierig gestalten. Die Befragten wachsen überwiegend unter eng begrenzten materiellen Bedingungen auf. In emotionaler Hinsicht befinden sich alle InterviewpartnerInnen als Kind in einem Spannungsfeld. Dies gestaltet sich unterschiedlich, es ist teilweise von Defiziten in der Zuwendung, von konfliktreicher innerfamiliärer Beziehungsgestaltung, von ambivalenten Bindungen bzw. von wechselnden primären Bezugspersonen und von institutionellem Einfluss gekennzeichnet. Für einen Teil der Befragten wirkt das Freiwilligenengagement als Teil einer Bewältigungsstrategie dieser schwierigen Lebensumstände. Die Wirkmechanismen, die dabei ablaufen, sind teilweise ähnlich, haben aber in einigen Fällen auch sehr unterschiedliche Ausrichtungen.

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 2.2 Intergenerativ vermittelte Leitorientierungen Auf die individuellen biografischen Leitorientierungen der InterviewpartnerInnen wird unter E 1.3 eingegangen, während im Folgenden die Leitorientierungen erläutert werden, welche in den Familien über mehrere Generationen weitergegeben werden. Sie werden jeweils von dem Befragten verinnerlicht und beeinflussen die Entscheidungs- und Handlungsprozesse mit. Zunächst fällt auf, dass in allen analysierten Fällen, also auch bei den Frauen, die Berufstätigkeit als Norm intergenerativ verortet ist. Dies hängt damit zusammen, dass alle Befragten in der DDR aufwachsen und damit diese Leitorientierung gesellschaftlich sowohl für Männer als auch für Frauen unterstützt wird. Dieser DDR- gesellschaftliche Einfluss reproduziert sich bis in die familiären Präferenzen hinein. Darüber hinaus ist in einem Fall, nämlich in der Familie von Lutz Rommel, Berufstätigkeit auch bei Frauen in der Familie schon vor Gründung der DDR selbstverständlich. Dadurch wird das Gewicht des familiären Einflusses in diesem Lebensbereich unterstrichen. Einige Interviewpartnerinnen orientieren sich bei der Auswahl eines konkreten Berufes an familiären Vorbildern, so Renate Peter und Kerstin Larsell. Günther Pauls steigt in einer Phase der Arbeitslosigkeit in das Gaststättengewerbe quer ein, in welchem bereits viele seiner Familienangehörigen tätig sind. Alle drei wechseln allerdings im biografischen Verlauf das Berufsfeld teilweise mehrfach, schlussendlich bleibt keiner dieser Befragten in dem Berufsfeld, dass bereits von Familienangehörigen besetzt ist. Bei Hanne Zeutsch ist die Bindung an die familiäre Leitorientierung der Berufstätigkeit als Norm besonders ausgeprägt, so wie sie sich generell besonders intensiv in familiäre Bezüge gründet. Sie streicht den beruflichen Erfolg ihres Vaters und ihrer Ehepartner heraus und qualifiziert sich selbst weiter, um den Anforderungen nach einem Berufswechsel gerecht zu werden. Diese Identifikation mit der Norm beruflicher Integration kann Frau Zeutsch nach der gesellschaftlichen Transformation nicht mehr umsetzen. Hanne Zeutsch wird arbeitslos und findet keinen Weg der beruflichen Reintegration, was auch in Verbindung zu ihrer überwiegenden Lageorientierung zu sehen ist. Neben der Grundeinstellung zur beruflichen Integration sind weitere Leitorientierungen intergenerativ begründet. Dabei zeigt sich die Art, wie sich die InterviewpartnerInnen an familiären Normen orientieren, unterschiedlich. Einige übernehmen die familiären Handlungsgrundlagen nahezu umfassend in ihr Wertesystem, während andere InterviewpartnerInnen ihr Handeln selektiv an einzelnen familiären Leitorientierungen ausrichten, andere familiäre Handlungsorientierungen jedoch verwerfen. Neben Hanne Zeutsch, deren enge Bindung an

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 familiäre Normen insbesondere bei der Berufstätigkeit bereits herausgestrichen ist, sind es Amanda Rödling, Wolfgang Ewald und Kerstin Larsell, die besonders familiäre Leitorientierungen in ihr Entscheidungs- und Handlungskonzept integrieren. Bei Amanda Rödling ist vor allem an der Verpflichtung zu Dankbarkeit und Reziprozität gegenüber den Familienmitgliedern erkennbar, dass sie sich an familiäre Leitorientierungen gebunden fühlt. Außerdem wird in ihrer Familie die Norm bedingter Aufarbeitung einschneidender Ereignisse bzw. traumatischer Erlebnisse intergenerativ übermittelt. Demgegenüber stellen für Wolfgang Ewald Eigenverantwortlichkeit und Sparsamkeit Leitfiguren dar, welche generationenübergreifende Gültigkeit in seiner Familie besitzen und welche auch er in sein Selbstkonzept integriert. Bei Kerstin Larsell wird ersichtlich, dass sie nach der Ablösung von der Herkunftsfamilie, deren Leitorientierungen sie stark beeinflussen, dazu übergeht, die Handlungsaufforderungen Signifikanter Anderer als leitend für ihre Entscheidungen zu übernehmen (vgl. E 3.1). Renate Peter übernimmt teilweise familiäre Leitorientierungen, entwickelt darüber hinaus eigene spezifische Werthaltungen. Schon bei der beruflichen Entwicklung wird deutlich, dass sie sich an der Familientradition orientiert, aber auch eigene, neue Wege geht: Sie wechselt nach einigen Jahren Berufstätigkeit im Weberhandwerk, dass schon ihr Großvater ausübt, in die Lebensmittelproduktion. Auch in anderen Lebensbereichen haben familiär übermittelte Leitorientierungen eine große Bedeutung, dennoch werden auch eigene Vorstellungen und Handlungs- und Entscheidungsmuster unabhängig von der Herkunftsfamilie soziale Praxis bei Renate Peter. Lutz Rommel, Inge Weber und Günther Pauls übernehmen partiell familiäre Leitorientierungen als Grundlage für ihr Handeln. Für Lutz Rommel gilt dies vor allem in beruflicher Hinsicht, darüber hinaus sind es gesellschaftliche bzw. institutionelle Normen und auch die Handlungsaufforderungen nahestehender Personen, die ihn beeinflussen. Bei Inge Weber ist die partielle Tradierung familiärer Leitorientierungen beispielhaft an ihrem Geschlechterrollenverständnis erkennbar. Bei Günther Pauls ist die berufliche Orientierung von Familienangehörigen teilweise handlungsleitend. Ansonsten sind es ebenfalls eher gesellschaftliche Normen, vor allem in der DDR-Zeit, die sich für ihn als bindend erweisen. So gewinnen implizite und explizite familiäre Richtlinien für die InterviewpartnerInnen an Bedeutung für die verschiedenen Lebensbereiche. Wie dieser Einfluss auf die InterviewpartnerInnen wirkt, ist unterschiedlich. Während eine Befragte sich in weiten Teilen an familiär übermittelte Normen hält, binden sich einige der InterviewpartnerInnen nur partiell an Leitorientierungen der

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 Herkunftsfamilie. Inwieweit diese familiären Prägungen auch die Herausbildung freiwilligen Engagements begründen, wird im Folgenden untersucht. 2.3 Praxen des freiwilligen Engagements in der Herkunftsfamilie Das freiwillige Engagement, wie es in den Herkunftsfamilien praktiziert wird, bildet den Kontext für den Engagementzugang der InterviewpartnerInnen. In engem Zusammenhang damit stehen Leitorientierungen und Überzeugungen in den Familien, welche die Handlungen in Bezug auf Gemeinnützigkeit und Unentgeltlichkeit ermöglichen. Dies sind beispielsweise die Einstellung gegenüber der Hilfe für Menschen, die nicht zur Familie gehören und die Bereitschaft, auf finanziellen Gegenwert für die Leistungserbringung zu verzichten. Die Analyse der Interviewtexte, der Beobachtungsprotokolle und Materialen zum Genogramm gibt detailliert Aufschluss über diese Zusammenhänge der Engagementherausbildung. So zeigt sich, dass bei den vielen Befragten schon in der Herkunftsfamilie, oft über mehrere Generationen, freiwilliges Engagement ausgeübt wird. Bei einem Engagierten endet die für die ganze Familie kennzeichnende Engagementtradition mit dem Systemumbruch. Einen Sonderfall bildet der Engagementzugang über Ersatzelternfiguren. Im Sample befinden sich weiterhin Engagierte, bei denen das Freiwilligenengagement in der Herkunftsfamilie kaum eine bzw. gar keine Rolle spielt. Die Familienmitglieder der InterviewpartnerInnen, die selbst in relativ geringem Umfang freiwillig tätig sind, sind ebenfalls kaum in freiwilliges Engagement eingebunden. Zunächst zu den Befragten, in deren Herkunftsfamilie das Freiwilligenengagement eine große Rolle spielt. Dies sind Kerstin Larsell, Renate Peter, Hanne Zeutsch und Günther Pauls. Bei Kerstin Larsell und bei Renate Peters sind es beide Gesichtspunkte, die das Freiwilligenengagement intergenerativ begründen: Sowohl die Grundeinstellung von Familienmitgliedern, dass Helfen dazu gehört, als auch die konkrete Tätigkeit in einem Freiwilligenengagement sind hier anzutreffen. Beide Väter helfen, wenn jemand sie anfragt. Der Vater von Renate Peter betreut die Mitglieder seiner Mannschaft über die Trainerfunktion hinaus im psychosozialen Bereich. Herr Larsell, der Vater von Kerstin Larsell, engagiert sich ebenfalls in einem Sportverein und unterstützt die anderen Mitglieder, wenn sie ihn um Hilfe bitten. In beiden Familien gibt es freiwillig Engagierte: Frau Larsells Großvater musiziert unentgeltlich in einer sozialen Institution und Frau Peters Großvater baut das erste Stadion der Stadt mit auf. Die Mutter von Frau Peter ist ehrenamtliche Kassenwartin im Sportverein. In den anderen Herkunftsfamilien ist es hauptsächlich die freiwillige Tätigkeit, die dort selbstverständlich ist. Besondere Leitorientierungen, die damit in Zusammenhang stehen,

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 ergeben sich aus den Interviews nicht als intergenerativ begründet. Die Eltern von Hanne Zeutsch engagieren sich über die gesellschaftlichen Verpflichtungen hinaus im Wohngebiet. Sie legen umfangreiche Blumenbeete im öffentlichen Raum an, welche sie über viele Jahre pflegen. Günther Pauls berichtet, dass sein Vater ehrenamtlich als Sanitäter sehr aktiv ist. Er ist in dieser Funktion für seinen Wohnbezirk verantwortlich, die medizinische Erstversorgung der Bewohner bei kleineren Verletzungen zu leisten. Auch bei Großveranstaltungen wie Fußballspielen im Stadion wird er als ehrenamtlicher Sanitäter eingesetzt. Außerdem sind beide Eltern von Günther Pauls in einem Heimatverein sehr engagiert, zum Beispiel in der Vorbereitung und Durchführung von Festen. Auch der Großvater von Günther Pauls setzt sich aktiv für sein Gemeinwesen ein. Die intergenerative Weitergabe der Praxis freiwilligen Engagements endet in der Verwandtschaft von Günther Pauls mit dem Systemumbruch. Sowohl seine eigene Tochter als auch die Kinder seiner Geschwister und der verschwägerten Familien üben kein freiwilliges Engagement aus. Wolfgang Ewald ist das Freiwilligenengagement schon von seinen Eltern bekannt. Viele Mitglieder aus der Familie von Wolfgang Ewald sind in kommunistischen Traditionen verankert und den kommunistischen Idealen verpflichtet, zum Beispiel sein Vater und seine Onkel. Dabei ist über freiwillige Engagements, die aus der politischen Positionierung der Familienmitglieder resultieren, nichts bekannt. Wolfgang Ewald wird wie sein Vater als Schöffe tätig. Herr Ewald wird von den Organisatoren genau deshalb für die Tätigkeit geworben, weil sie die Engagementbereitschaft intergenerativ voraussetzen. Lutz Rommel ist das Freiwilligenengagement demgegenüber nicht durch familiäre Vorbilder bekannt. Sein Stiefvater als Alkoholiker und seine Mutter als berufstätige Mutter von drei Kindern üben beide kein freiwilliges Engagement aus. Dadurch, dass Lutz Rommel aber einige Jahre im Kinderheim aufwächst, gewinnen DDR- gesellschaftliche Institutionen und deren Normen für ihn starkes Gewicht. Somit wird auch die implizite Pflicht, sich gesellschaftlich zu engagieren, für ihn handlungsleitend. Daher nimmt Lutz Rommel beispielweise an Arbeitseinsätzen mit der FDJ teil und beteiligt sich an Spendenaktionen, die von den Massenorganisationen durchgeführt werden. Da sich Herr Rommel generell stark an externen Handlungsaufforderungen orientiert, folgt er nach dem gesellschaftlichen Umbruch der Einladung einer guten Bekannten in eine soziale Einrichtung im Wohngebiet, in welcher er schlussendlich ein langandauerndes freiwilliges Engagement ausübt. Somit findet Lutz Rommel den Zugang zum Freiwilligenengagement durch Ersatzelternfiguren und durch Signifikante Andere. Gesellschaftliche Einflüsse nach dem mehrjährigen Aufenthalt im Kinderheim spielen auch bei Amanda Rödling eine Rolle. Bei ihr können sich diese

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 Einflüsse aber nicht langfristig durchsetzen. Dies ist zum einen durch ihr hohes Autonomiebestreben zu erklären und zum anderen durch die enge Bindung an den familiären Bezugsrahmen. So übt Frau Rödling nur übergangsweise und aufgrund DDR-gesellschaftlicher bzw. beruflicher Verpflichtungen ein Engagement aus. Nach dem Systemumbruch ist sie lediglich kurzzeitig im Freiwilligenengagement im Rahmen von Nachbarschaftshilfe tätig. Einen geringen Stellenwert weist das freiwillige Engagement in der Herkunftsfamilie von Inge Weber auf. Während die Mutter sich ausschließlich um eigene und um familiäre Belange sorgt, ist der Vater temporär als Sanitäter eingesetzt. In der Reflexion von Frau Weber nimmt diese Tätigkeit allerdings nur einen sehr kleinen Raum ein, sie kann sich auch nicht erinnern, welche Funktion er konkret und in welchem zeitlichen Umfang ausübt. Auch Frau Weber selbst engagiert sich im biografischen Verlauf vergleichsweise wenig freiwillig. Erst während des Übergangs zum Bezug von Erwerbsunfähigkeitsrente beginnt sie eine freiwillige Tätigkeit. Sie übernimmt sogar eine Funktion mit hoher Verantwortung, indem sie eine Selbsthilfegruppe aufbaut. Doch nach einiger Zeit beendet sie dieses Engagement wieder. Zusammenfassend kann geschlussfolgert werden, dass bezogen auf die intergenerative Verortung freiwilligen Engagements Zusammenhänge zwischen familiären Engagementgewohnheiten und der Ausübung eines Engagements durch die jeweilige InterviewteilnehmerIn bestehen. In zwei der Herkunftsfamilien sind es engagementbezogene familiäre Leitorientierungen wie Hilfsbereitschaft bzw. Verzichtbereitschaft auf finanzielle Gegenleistung, die intergenerativ übermittelt den Engagementzugang unterstützen. In allen Familien, in denen freiwilliges Engagement selbstverständlich ist bzw. in denen Ersatzelternfiguren den Engagementzugang normalisieren, engagiert sich auch die InterviewteilnehmerIn. Meist ähnelt sich auch der zeitliche Umfang des Engagements, während sich die Bereiche, in denen das Engagement geleistet wird, überwiegend unterscheiden. Ein Engagierter übernimmt das gleiche Ehrenamt wie sein Vater. Alle anderen Engagierten üben Tätigkeiten in Bereichen aus, die sich von denen der untersuchten Vorfahren unterscheiden. Bei einer Interviewten, Renate Peter, arbeiten sowohl die Eltern als auch Renate Peter ehrenamtlich mit Jugendlichen. Dennoch unterscheidet sich die Jugendarbeit im Sportverein grundsätzlich von der Jugendbewährungshilfe, in der Renate Peter tätig ist. Bei einer Engagierten erfolgt das Engagement lediglich beim gleichen Träger, die Tätigkeit selbst ist inadäquat.

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 2.4 Zusammenfassung der familiär begründeten Wirkungszusammenhänge Zusammenfassend zu Kapitel 2 wird festgehalten, dass vor allem die Praxen freiwilligen Engagements in der Herkunftsfamilie eine wichtige Voraussetzung für die Engagementherausbildung darstellt. Aber auch die Beziehungskonstellationen bzw. der familiäre Kontext generell beeinflussen diesen Prozess. Vergleichsweise ungünstige Ausgangsbedingungen führen häufig dazu, dass ein Engagement aufgenommen wird. In mehreren Fällen dient das freiwillige Engagement insbesondere der Bewältigung von Lebenserfahrungen, die ihren Ausgang in der Kindheit nehmen bzw. hängt sehr stark mit den Erlebnissen in der Kindheit zusammen. Auch spezifische Voraussetzungen, die bei manchen Menschen erfüllt sein müssen, um ein Engagement aufzunehmen, korrelieren mit innerfamiliären Beziehungskonstellationen bzw. mit Leitorientierungen, die intergenerativ weitergegeben werden. Die Art und Weise, wie die Befragten sich jeweils an familiären Leitorientierungen ausrichten, unterscheidet sich teilweise.

3 S OZIALRÄUMLICHE

UND GESELLSCHAFTLICHE E INFLÜSSE

Schwerpunkt der folgenden vergleichenden Analyse sind die Bezüge zu sozialräumlichen Einflüssen bzw. zu gesellschaftlichen Veränderungen. Zunächst wird die Rolle der Institutionen bzw. die Einbindung der Befragten in institutionelle Netzwerke berücksichtigt (E 3.1). Weiterhin fließt in die Analyse ein, wie die TeilnehmerInnen der Studie den Transformationsprozess erleben bzw. wie sie zum gesellschaftlichen Wandel stehen (E 3.2). Abschließend wird die Funktion analysiert, welche das freiwillige Engagement im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext in Bezug auf den sozialen Status der Engagierten gewinnt (E 3.3). Die Wirkungszusammenhänge der sozialräumlichen und gesellschaftlichen Einflüsse werden zusammenfassend auf die Engagementherausbildung bezogen (E 3.4). 3.1 Bedeutung von Netzwerken Schon aus der vergleichenden Betrachtung individueller Merkmale (vgl. E 1) ist teilweise ersichtlich, über welche Kompetenzen der Netzwerkgestaltung die InterviewpartnerInnen verfügen. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen dabei die Fragen, ob die Pflege sozialer Kontakte einen Aktivitätsschwerpunkt darstellt, welche Position zwischen Autonomiebestreben und Anpassungsfähigkeit

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 eingenommen wird und ob die Netzwerkkompetenz ein spezifisches Merkmal der Person darstellt. Dabei wird allerdings nur teilweise ersichtlich, in welcher Weise die InterviewteilnehmerInnen jeweils in soziale Netzwerke außerhalb des familiären Rahmens eingebunden sind. Die Datenanalyse ergibt in allen Fällen mindestens ein Merkmal der Identitätskonstruktion, das die jeweilige Praxis der Netzwerkpflege charakterisiert. Renate Peter und Kerstin Larsell sind besonders intensiv in soziale Netzwerke eingebunden. Während Frau Peter überwiegend von institutionellen Kontakten und Bekannten im Wohngebiet berichtet, sind es bei Frau Larsell neben Kontakten zu institutionellen AnsprechpartnerInnen hauptsächlich Freundschaften, die sie pflegt. Beide Frauen stellen sich als sehr kontaktfreudig und offen gegenüber ihren Mitmenschen dar. Bestehende Beziehungen führen bei beiden dazu, neue Beziehungen aufzubauen. Neben der bereits erläuterten Funktion, familiäre Beziehungsdefizite auszugleichen, ist bei beiden Interviewpartnerinnen ein weiterer Zusammenhang herauszustreichen. Indem sich Frau Peter und auch Frau Larsell mit Personen umgeben, die nicht Angehörige ihrer eigenen Berufsgruppe sondern gesellschaftlich stärker angesehener Berufe sind, erleben sie sich selbst, zumindest temporär, als Teil dieses Milieus. Bei Frau Peter ist es beispielsweise der Staatsanwalt, den sie als ihren eigenen bezeichnet, dessen Glanz auf sie ausstrahlt. Bei Frau Larsell sind es die Erzieherinnen der Kindertagesstätte, in der sie sich engagiert. Indem sie zu deren Kollegenkreis zählt, wird sie Teil dieser Gruppe, obwohl sie sich als Auszubildende im zweiten Bildungsweg (noch) in der Statuspassage befindet. Bei Frau Larsell wird in besonderem Maß Aufstiegsorientierung sichtbar, auf die sie mittels Netzwerkarbeit abzielt. Günther Pauls, Lutz Rommel und Wolfgang Ewald sind jeweils in mehrere verschiedene soziale Netzwerke eingebunden. Doch die Pflege dieser Kontakte gewinnt bei ihnen eine weniger zentrale Bedeutung als bei Renate Peter und Kerstin Larsell, die ihre sozialen Beziehungen stetig erweitern. Außerdem investieren sie weniger Energie und Zeit in den Aufbau und den Ausbau sozialer Beziehungen. Für Lutz Rommel gewinnt das freiwillige Engagement in Bezug auf die Einbindung in soziale Netze ähnlich wie bei Frau Peter und Frau Larsell besondere Bedeutung. Indem er sich ehrenamtlich engagiert, gewinnt er soziale Integration. Während jedoch bei Renate Peter und bei Kerstin Larsell das freiwillige Engagement mit dem Motiv geleistet wird, familienähnliche Bindungen zu erhalten, steht bei Lutz Rommel eine andere Ausrichtung im Vordergrund. Zentrale Intention der Netzwerkpflege ist für ihn jeweils die Einbindung in eine Gruppe. Bei Peter und Larsell ist das Engagement hingegen auf konkrete Personen bezogen, die nicht ohne weiteres austauschbar sind. Die Art der Beziehung ist von Intimität bzw. einem vertrauten Verhältnis gekennzeichnet. Für Lutz

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 Rommel ist es demgegenüber wichtig, nicht ausgeschlossen zu sein und sich mitteilen zu können. Mit welchem Gruppenmitglied er kommuniziert, ist dabei weniger zentral. Teil einer (Ersatz-)Familie zu sein bei Peter und Larsell und Teil einer Gruppe zu sein bei Rommel weichen als zentrale Motive voneinander ab. Für Günther Pauls beinhaltet die Integration in Vereine und Organisationen ähnlich wie bei Frau Larsell die Möglichkeit des Aufstiegs, allerdings ohne dass er ersetzende familiäre Bindungen aufbaut. Bei Inge Weber und bei Wolfgang Ewald ist zu beobachten, dass sich die Netzwerkkompetenz im biografischen Verlauf erhöht. Beide sind in der Kindheit in ihren Sozialbeziehungen eher auf den familiären Rahmen beschränkt. Wolfgang Ewald verbringt viel Zeit mit seinem Bruder, während Inge Weber hauptsächlich auf ihre Mutter bezogen ist. Mit dem Eintritt in das Berufsleben beginnt für beide eine Entwicklung, durch die sie ihr Netzwerk wesentlich erweitern können. Bei Wolfgang Ewald verläuft dieser Prozess relativ kontinuierlich. Die Nachfrage nach seinen Handwerkerleistungen beispielsweise vervielfältigt seine sozialen Kontakte. Bei Inge Weber ist die Erweiterung des sozialen Netzes stufenweise und mit temporären Rückschritten. Wird sie nach Abbruch der Lehre vorerst auf den familiären Rahmen zurückgeworfen, baut sie dann bis zum gesellschaftlichen Umbruch ihre Kontakte aus und lernt es, mit der Inflexibilität von Institutionen umzugehen. Im bundesrepublikanischen Gesellschaftssystem erfolgt bei Inge Weber eine erneute Weiterentwicklung der Netzwerkkompetenz. Sie beginnt, durch ihr Engagement die Netzwerkstrukturen selbst mitzugestalten. Eine umgekehrte Entwicklung zu Inge Weber und Wolfgang Ewald ist bei Amanda Rödling zu beobachten. In ihrer Kindheit ist sie aufgrund der Unterbringung im Kinderheim in institutionelle Netzwerke eingebunden. Auch in der Berufsphase hat sie vielfältige Kontakte sowohl im institutionellen Bereich als auch auf freundschaftlicher und bekanntschaftlicher Basis. In der Phase der Langzeitarbeitslosigkeit ab Mitte der 1990er Jahre verkleinert sich ihr soziales Netz kontinuierlich und leidet unter der zunehmenden Exklusion. Auch Hanne Zeutsch hat zum Zeitpunkt des Interviews lediglich punktuelle soziale Kontakte außerhalb des familiären Rahmens. Im Unterschied zu Frau Rödling verändert sich das Ausmaß der sozialen Einbindung bei ihr allerdings nicht grundlegend. Zwar pflegt sie, vor allem in der Jugendphase, Beziehungen zu Freunden und Freundinnen, bleibt insgesamt gesehen aber sehr stark auf den familiären Rahmen bezogen. Sie orientiert sich eher wenig nach außen. Zusammenfassend zum Thema Einbindung in soziale Netze kann festgehalten werden, dass der überwiegende Anteil der Interviewpartnerinnen intensiv in soziale Netze außerhalb der Familie eingebunden ist. Außerdem gibt es sowohl das Phänomen, dass sich die Netzwerkeinbindung im biografischen Verlauf

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 erweitert als auch allmählich einschränkt. Eine Interviewpartnerin verfügt kontinuierlich lediglich über punktuelle soziale Bindungen zu Menschen außerhalb der Familie. 3.2 Bezüge zum gesellschaftlichen Wandel Einige Interviewteilnehmerinnen berichten während des biografisch-narrativen Interviews aus eigener Intention davon, wie sie die gesellschaftliche Transformation in Ostdeutschland erleben und wie sie zu den gesellschaftlichen Veränderungen stehen. Bei den Befragten, die im Hauptteil der Erzählung nicht darauf eingehen, wird das Thema im Nachfrageteil durch die Interviewerin angesprochen. Fast alle InterviewteilnehmerInnen stellen sich relativ schnell auf die neuen gesellschaftlichen Umstände ein. Bei einigen der Befragten ist festzustellen, dass sie in ihrer Reflexion dennoch enge Bezüge zum DDR-System aufrechterhalten. Eine Interviewteilnehmerin ist zum Zeitpunkt des Systemumbruchs noch relativ jung und daher sind bei ihr Aussagen zum Erleben desselben bzw. zu dadurch ausgelösten Veränderungen nur begrenzt möglich. Auffällig ist, dass die Handlungs- und Wertemuster der InterviewteilnehmerInnen nach dem Systemumbruch überwiegend nahezu unverändert wirken. Demzufolge sind bei den meisten GesprächspartnerInnen keine grundsätzlichen Veränderungen in der Praxis des Engagements zu verzeichnen. Einige ändern ihre Engagementgewohnheiten partiell, jeweils in Abhängigkeit von den sozialräumlichen Rahmenbedingungen. In ihren Bezügen zum gesellschaftlichen Wandel können die InterviewteilnehmerInnen in vier Gruppen unterschieden werden. Die erste Gruppe weist besonders enge Bindungen zur DDR-Gesellschaft auf. Die zugehörigen InterviewteilnehmerInnen sind auch zum Zeitpunkt des Interviews noch in DDR-Bezügen verankert. Ihr Verhalten bzw. ihre Haltung wird kontinuierlich davon beeinflusst, dass Rückbindungen zur DDR-Gesellschaft hergestellt werden. Hanne Zeutsch und Amanda Rödling gehören zu dieser Gruppe, wobei Hanne Zeutsch die Verhältnisse in der DDR nachträglich normalisiert und idealisiert. Sie präferiert das abgelöste Gesellschaftssystem weiterhin. In der DDR leistet Hanne Zeutsch freiwilliges Engagement infolge gesellschaftlicher Pflichten. Sie nimmt eher fremdbestimmt an den im Wohngebiet üblichen Arbeitseinsätzen und an Auftritten der Volkstanzgruppe, die Teil ihrer Freizeitgestaltung ist, teil. Ihr Engagement in der bundesdeutschen Gesellschaft ist demgegenüber stärker freiwillig intendiert. Es erfolgt nach Anfrage durch institutionelle Ansprechpartner. Es findet jedoch weiterhin im Kontext des persönlichen bzw. familiären Umfeldes statt. Die Verankerung in DDR-Bezüge ist bei Amanda Rödling im Kontext ihrer Sozialisation, die stark von DDR-

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 gesellschaftlichen Institutionen beeinflusst ist, zu sehen. Im Unterschied zu Hanne Zeutsch idealisiert sie die damaligen Verhältnisse nicht, sondern sieht die Praktiken der Überwachung und staatlichen Eingriffe sehr kritisch. Dennoch kann sie sich nicht davon lösen und die angstbesetzten Bezüge zur Gesellschaft sind kontinuierlich verankert. Die zweite Gruppe ist durch Bindungen zur DDR-Gesellschaft gekennzeichnet. In den Aussagen zum Systemvergleich schneidet die DDR wesentlich besser ab als die Bundesrepublik Deutschland. Dennoch passen sich die InterviewteilnehmerInnen nach dem gesellschaftlichen Umbruch pragmatisch und relativ schnell an die neuen wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten an. Ihre Leitorientierungen behalten sie bei und führen gewohnte Handlungsmuster überwiegend weiter. Zu dieser Gruppe gehören Renate Peter und Lutz Rommel. Auch die Gewohnheiten des freiwilligen Engagements ändern sich nicht grundsätzlich. Renate Peter übt zu allen Zeiten sowohl langandauernde als auch temporäre freiwillige Tätigkeiten bei verschiedenen Trägern bzw. innerhalb verschiedener Institutionen aus. Lutz Rommel folgt jeweils den Aufforderungen Signifikanter Anderer, welche auch institutionelle Mitarbeiter sein können, als er Zugang zum Engagement findet. Eine eher kritische Haltung zum jeweils herrschenden System bei gleichzeitiger Nutzung institutioneller Strukturen ist in Gruppe drei anzutreffen. Die Auseinandersetzung zu den Kritikpunkten und gesellschaftlichen Widersprüchen wird dabei nicht unbedingt öffentlich geführt, sondern bleibt auf der Ebene der indirekten Äußerung. Dies ist bei Günther Pauls der Fall. Er zeigt sich ambivalent bzw. distanziert gegenüber beiden Gesellschaftssystemen. Er ist umfassend informiert über die jeweiligen Strukturen und kann sich persönlich weiterentwickeln, indem er die institutionellen Netzwerke für sich nutzt. Den nach dem gesellschaftlichen Umbruch erlebten Statusverlust kann er im Lauf der Zeit durch beruflichen Wiedereinstieg teilweise ausgleichen. Freiwilliges Engagement ist für Angehörige dieser Gruppe jederzeit selbstverständlich und repräsentiert die Zugehörigkeit zum System. Eine Zwischenposition zwischen Gruppe zwei und Gruppe drei nimmt Wolfgang Ewald ein. Er weist zwar eine enge Bindung zur DDR-Gesellschaft mit dem entsprechenden Kennzeichen der nachträglichen Idealisierung auf, tritt aber sowohl in der DDR als auch gegenüber dem bundesdeutschen System gesellschaftskritisch auf. Seine Kritik äußert er, im Gegensatz zu Günther Pauls, auch öffentlich. Für die Angehörigen der vierten Gruppe, Kerstin Larsell und Inge Weber, ist die nahtlose Integration in das bundesdeutsche Gesellschaftssystem kennzeichnend. Bei Kerstin Larsell erklärt sich der unauffällige Übergang hauptsächlich

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 durch ihr vergleichsweise niedriges Alter. Sie ist knapp 20 Jahre alt, als die Grenze geöffnet wird. Für sie ergeben sich erweiterte Perspektiven, vor allem in beruflicher Hinsicht, die sie auch nutzt. Inge Weber erweitert ihren Handlungsspielraum schon in der DDR und kann diesen Prozess nach dem gesellschaftlichen Umbruch durch die erweiterten Möglichkeiten im bundesdeutschen Gesellschaftssystem intensivieren. Beide akzeptieren die bundesdeutschen Verhältnisse wertfrei und gestalten sie mit. Durch ihr freiwilliges Engagement gestalten Angehörige dieser Gruppe ihr Umfeld und nehmen Einfluss auf die Strukturen. Die InterviewpartnerInnen gehen insgesamt gesehen sehr unterschiedlich mit dem Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse um. Die Bandbreite der Bezüge zum Transformationsprozess reicht von Verankerung in der DDR-Gesellschaft über enge Bezüge zum DDR-System und kritische Haltung zu beiden Systemen bis hin zur nahtlosen Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft. 3.3 Statusgewinn durch freiwilliges Engagement Der Vergleich sozialräumlicher und gesellschaftlicher Einflüsse zeigt, dass das freiwillige Engagement eine zentrale Funktion in den Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft gewinnt. Es dient als Medium von Statusgewinn aus der individuellen Perspektive bzw. Statuszuweisung durch das Umfeld aus der gesellschaftlichen Perspektive. In diesem Zusammenhang repräsentiert Anerkennung symbolisch die Statustransformation. Die Rede von der individuellen Perspektive weist auf die Verbindung der individuellen Wirkungszusammenhänge zu den sozialräumlichen und gesellschaftlichen Einflüssen hin. Es wird deutlich, dass eine gewisse Disposition auf der Ebene des Individuums erforderlich ist, um die spezifische Wirkung des Statusgewinns durch freiwilliges Engagement zu ermöglichen. Auf die individuellen Voraussetzungen wird unter E 1.1 vertieft eingegangen. Als Stichworte werden an dieser Stelle die Bereitschaft, Engagement ohne erwartete finanzielle Gegenleistung zu erbringen und das Reziprozitätsprinzip in Erinnerung gerufen. Der Statusgewinn wird der Ebene Sozialraum und Gesellschaft zu geordnet, weil hier explizit die Rolle, welche das freiwillige Engagement im gesellschaftlichen Gefüge spielt, geklärt wird. Es trägt die Funktion, den Engagierten die Verbesserung ihrer Lebenslage zu ermöglichen. Gleichzeitig werden gesellschaftliche Aufgaben gelöst, welche ohne die freiwillig Engagierten nicht in der Art übernommen würden. Die Analyseergebnisse der vorliegenden Studie weisen auf einen spezifischen Zusammenhang zwischen Anerkennung und Statusgewinn hin. An die Veränderung des sozialen Status, die im Verlaufsprozess des freiwilligen Enga-

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 gements erfolgt, ist jeweils ein Maß an Anerkennung gekoppelt, das aus dem sozialen Umfeld an die freiwillig Engagierten fließt. Das Maß und die Form, in der Anerkennung gewährt werden, beeinflussen also die gesellschaftliche Position, welche die Engagierten einnehmen. Kontinuierlich gezollte Anerkennung kann zu Statuserhalt bzw. Statuszuwachs führen. Die Statusübertragung erfolgt im Gegenzug für den durch das Engagement erhaltenen Nutzen. Aus gesellschaftlicher Perspektive erfolgt als Gegenleistung für die Statuszuweisung der Nutzen, den das Engagement als soziale Praxis für das gesellschaftliche Umfeld bringt. Das Ausmaß an Statustransformation und damit die Bedeutung dieses Merkmals für die einzelnen Engagierten variiert. Bei allen InterviewteilnehmerInnen trägt das freiwillige Engagement zur gesellschaftlichen Anerkennung der Akteure bei. Kerstin Larsell, Renate Peter und Inge Weber erhalten dadurch einen Zugewinn an sozialem Status. Die Bedeutung von Anerkennung und damit von Statusgewinn ist unterschiedlich. Auch die konkreten Wirkungszusammenhänge unterscheiden sich. Bei Kerstin Larsell ist die Anerkennung, die sie durch ihr Engagement gewinnt, ein wesentlicher Nebeneffekt ihrer Tätigkeit. Sie erfolgt in Form von Zertifikaten, öffentlicher Präsentation ihres Einsatzes und öffentliche Anerkennung durch Eltern im Wohngebiet. Die aus der Erfahrung der Anerkennung resultierende Motivation ist aber nicht konstitutionelle Bedingung für das Engagement. Das heißt, das Engagement würde auch ohne diese positiven Rückmeldungen aus dem öffentlichen Sozialraum und dem institutionellen gesellschaftlichen Umfeld geleistet. Doch der Anerkennung kommt eine unterstützende Funktion zu, welche die Engagementkontinuität sichert. Im Einzelnen sind folgende Abläufe zu beobachten: Indem Kerstin Larsell ihr Engagement kontinuierlich, das heißt über mehrere Jahre, ausübt, wird ihr sozialer Status für diesen Zeitraum angehoben. Als gelernte Postfacharbeiterin bzw. Verkäuferin wird sie temporär in die Gruppe der Erzieherinnen, die mit dem Fachschulabschluss ein höheres Bildungsniveau repräsentieren, aufgenommen. Es besteht die Aussicht, dass Frau Larsell diesen Status verstetigen kann für den Fall, dass sie erfolgreich ihre Ausbildung abschließt. Als Rückwirkung für den Statusverleih wird dem gesellschaftlichen Umfeld von Frau Larsell, also der Kindertagesstätte, dem Wohngebiet und der Gesellschaft das freiwillige Engagement geleistet. Damit ist für die Institution die Sicherung des reibungslosen Eintritts der Babys und Kleinkinder in die Einrichtung ebenso gemeint wie die Aushilfe bei Personalengpässen. Die Eltern im Wohngebiet lernen Frau Larsell als vertrauenswürdige Mitarbeiterin der Kita kennen, was es ihnen erleichtert, das Kinderbetreuungsangebot anzunehmen. Die Gesellschaft als Ganzes erhält die Aussicht auf eine qualifizierte Erzieherin in einer Zeit, in der akute Personalengpässe in diesem Bereich bestehen. Die Sta-

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 tustransformation erweist sich damit als zentrale Funktion in Bezug auf die gesellschaftliche Einbindung von Frau Larsell. Ähnlich gestalten sich die Zusammenhänge bei Renate Peter, wobei die erhaltene Anerkennung für sie eine etwas andere Rolle spielt als für Frau Larsell. Im Vordergrund steht zwar ebenso das Motiv der Bewältigung von Lebenserfahrungen. Indem Renate Peter in eine Machthierarchie eingebunden ist, hat sie regelmäßig Kontakt zu Menschen, die eine Autorität für sie darstellen. Durch diese Kontakte wird sie temporär Teil dieses gehobenen sozialen Milieus und genießt die Anerkennung, die ihr vom übrigen sozialen Umfeld entsprechend gezollt wird. Auch hier steht die Anerkennung symbolisch für den Statusgewinn, der Frau Peter zuteil wird. Sie wird vom gesellschaftlichen Umfeld wertgeschätzt, im Wortsinn als wertvoll erachtet, sodass statushöhere Personen Zeit mit ihr verbringen und sie somit temporär in ihr Umfeld heben. Anders als Kerstin Larsell besteht bei Renate Peter keine Aussicht darauf, dauerhaft dieser Gruppe zuzugehören. Auch bei Inge Weber ist es der Statusgewinn, der mit ihrem freiwilligen Engagement in einer leitenden Funktion verbunden ist, der ihr zu einem höheren Maß gesellschaftlicher Anerkennung verhilft. Sie übernimmt gezielt das Engagement der Selbsthilfegruppenleitung, ein Konkurrent um diese Position kann sich nicht durchsetzen. Somit wird die Anerkennung zur konstitutionellen Bedingung im Vorfeld der Aufnahme der freiwilligen Tätigkeit und zum Garant des Status als Führungskraft für den Zeitraum des Engagements. Inge Weber bekommt somit einen gesellschaftlichen Status zugewiesen, den sie allein aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation nicht erreichen kann. Der Statusgewinn, der mit der Übernahme freiwilliger Tätigkeiten verbunden ist, spielt auch für Günther Pauls eine entscheidende Rolle. Gesellschaftliche Anerkennung und Statusgewinn werden jedoch nicht durchgängig für die Zeit des Engagements im Sinne einer Bedingung für den Einstieg bzw. die Aufrechterhaltung beansprucht. Immer wieder ist zu sehen, dass Herr Pauls mit seinem Engagement gewissermaßen in Vorleistung geht. In seiner biografischen Erzählung berichtet er sowohl von freiwilligen Tätigkeiten, die mit der Übernahme von Verantwortung verbunden sind als auch von Tätigkeiten, die er unter der Leitung anderer ausübt. Er führt unbezahlte Tätigkeiten zum Wohl seines gesellschaftlichen Umfeldes aus, ohne zu wissen, ob ihm zukünftig daraus persönliche Vorteile entstehen und welche dies konkret sein können. Im Lauf der Zeit bestätigt sich mehrfach die Erfahrung, dass sich der Einsatz auszahlt: Günther Pauls wird „weggefangen“ wie er selbst sagt, in eine gehobene Position befördert. Er erlebt den Statusgewinn auf zwei verschiedene Arten: Zum einen kann Günther Pauls mit dem freiwilligen Engagement gegenüber seinem Umfeld einen Tätigkeitsstatus und damit einen Normalitätsstatus aufrechterhalten, den er ohne das

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 Engagement nicht in dem Ausmaß innehätte. Zum anderen wird ihm im Nachgang des Engagements ein Status zugewiesen, der ihn von der Masse seiner Mitmenschen abhebt und der mit Verantwortungs- und Machtzuwachs verbunden ist. Für Lutz Rommel ist mit der Ausübung des freiwilligen Engagements in erster Linie die soziale Integration in einen jeweiligen Gruppenkontext die ausschlaggebende Motivation. Das heißt, in diesem Fall kommt dem freiwilligen Engagement die Funktion zu, dem Engagierten grundsätzlich einen Normalitätsstatus zu verleihen, den er ohne Engagement nicht innehätte. An dieser Stelle bietet sich ein Vergleich mit Amanda Rödling an. Als Ergebnis ihrer biografischen Entwicklung ist sie zunehmend desintegriert. Sie findet keinen Zugang zum kontinuierlichen freiwilligen Engagement und damit bleibt ihr NormalitätsStatus unsicher. Frau Rödling bewegt sich in ihrem Selbstbild weiterhin zwischen Normalität und Abweichung. Bei Hanne Zeutsch und Wolfgang Ewald kommt dem Statusgewinn durch Engagement eine geringe Bedeutung zu. Beide üben keine Tätigkeit aus, die in ihrer individuellen Bedeutungszuschreibung mit auffälligem Statusgewinn verbunden wäre. In seinem Amt als Schöffe hat Wolfgang Ewald zwar eine übergeordnete Position. Diese Tatsache ist für ihn aber nicht relevant. Seine individuellen biografischen Leitorientierungen (Reziprozität und Menschenwürde) weisen andere Schwerpunkte auf. Bezüglich seiner Positionierung im sozialen Gefüge sind für ihn Leidenserfahrungen Realität, demzufolge beansprucht er keine herausragende Stellung anderen gegenüber. Ähnlich bei Frau Zeutsch: Sie legt mit ihrer zurückhaltenden Art keinen Wert darauf, im sozialen Gefüge eine verantwortliche Position einzunehmen. Anerkennung und damit verbundener Statusgewinn spielen für beide demzufolge eine geringe Rolle. Lediglich ansatzweise ist mit dem Engagement Integrationsbestreben sichtbar. Frau Zeutsch beteiligt sich an Arbeitseinsätzen im Wohngebiet und bringt sich in der Kita ihrer Enkelinnen ein. Damit signalisiert sie Zugehörigkeit, ist aber nicht in besonderer Weise hervorgehoben. Herr Ewald hilft in einer sozialen Einrichtung mit Handwerkertätigkeiten aus, ist aber nur in relativ großen zeitlichen Abständen aktiv. Damit bekräftigen beide durch ihr Engagement einen Status, den sie auch ohne die freiwillige Tätigkeit innehaben. Ohne freiwilliges Engagement wäre die Position allerdings weniger gefestigt. Die freiwillige Tätigkeit ist Teil eines Normalitätsstatus bzw. Teil der Erwartungen, welche die Gesellschaft an Inhaber dieses Status richtet. Insgesamt gesehen korreliert die übertragene Anerkennung mit dem Statuserhalt bzw. dem Statuszugewinn, der mit dem freiwilligen Engagement verbunden ist. Für den Großteil der befragten Personen spielt der Statuszugewinn eine

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 wesentliche Rolle. Für einen Engagierten trägt das Engagement dazu bei, eine höhere gesellschaftliche Position zu gewinnen. Diese erhält er allerdings erst längere Zeit nach Abschluss der Engagementtätigkeit. Die Interviewpartnerin, deren sozialer Status unsicher ist, leistet kaum freiwilliges Engagement und kann somit ihren Normalitätsstatus nicht verstetigen. Sie lebt zunehmend isoliert, bzw. im Wesentlichen auf sich selbst und ihre Familie bezogen. Für einige der Interviewten ist es aufgrund ihrer Leitorientierungen weniger relevant, ihren sozialen Status zu erhöhen. Für sie dient das Engagement dazu, den Normalitätsstatus aufrecht zu erhalten. 3.4 Zusammenfassung der Wirkungszusammenhänge zwischen freiwilligem Engagement und sozialräumlichem und gesellschaftlichem Umfeld Wenn Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, sich freiwillig engagieren, treten sie in Wechselwirkung mit ihrem sozialen Umfeld. Die Analyse zeigt, dass die Netzwerkeinbindung den Zugang zum freiwilligen Engagement sehr stark beeinflusst. Der überwiegende Teil der Befragten verfügt über ausgeprägte Kompetenzen im Umgang mit anderen Menschen bzw. mit institutionellen Ansprechpartnern. Mit diesen Fähigkeiten treffen sie auf Rahmenbedingungen im Stadtteil, welche passgenaue Kooperationen zwischen Institutionen und Engagierten ermöglichen. Menschen, die ihr Beziehungsnetzwerk im Umfeld weniger pflegen, sind beim Zugang zum Engagement stärker auf die anregende Initiative institutioneller Mitarbeiter angewiesen. Der Zugang zum freiwilligen Engagement ist für Menschen besonders schwer, die sich auf ihre persönliche Situation und auf den familiären Rahmen konzentrieren und zusätzlich von arbeitsmarktbedingten Exklusionsprozessen betroffen sind. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit dem Transformationsprozess auch die biografische Entwicklung der interviewten BewohnerInnen der ostdeutschen Wohnblocksiedlung beeinflussen, wirken sich auf das freiwillige Engagement aus. Doch es sind keine grundlegenden Umbrüche biografischer Sinnstrukturen zu beobachten, auch sind keine gravierenden Änderungen der Engagementgewohnheiten zu verzeichnen. Teilweise gibt es Brüche, die mit dem Wandel institutioneller Strukturen in Verbindung stehen. Bei der Analyse der Interviews zeigt sich, dass Bezüge zur DDR-Gesellschaft individuell unterschiedlich stark aufrechterhalten werden. Dennoch ist zu konstatieren, dass sich die InterviewpartnerInnen überwiegend schnell und pragmatisch auf die neuen gesellschaftlichen Strukturen einstellen. Das Prinzip der Freiwilligkeit von Engagement schlägt sich nach dem gesellschaftlichen Umbruch wesentlich stärker beim

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 Zugang zu entsprechenden Tätigkeiten nieder als in der DDR-Gesellschaft, in der häufig der Zwangscharakter ausschlaggebend ist. Im Gegenzug für das freiwillige Engagement, das überwiegend im öffentlichen Raum stattfindet und gesellschaftlichen Instanzen zugutekommt, wird den meisten Interviewten gesellschaftliche Anerkennung gezollt. Diese Anerkennung ist mit Statuserhalt bzw. -transformation verbunden. Dies bedeutet in vielen Fällen positive Auswirkungen auf die Position der freiwillig Engagierten im sozialen Gefüge. Diese reichen von der Sicherung des Normalitätsstatus bis zum gesellschaftlichen Aufstieg. Indem freiwilliges Engagement durch einzelne Personen im öffentlichen Raum geleistet wird, finden demnach vielfältige Wechselwirkungen mit dem gesellschaftlichen Umfeld statt, welche sowohl für die freiwillig Engagierten als auch für das sozialräumliche und gesellschaftliche Umfeld von Nutzen sind.

4 T YPEN

DER

E NGAGEMENTHERAUSBILDUNG

Die Zusammenhänge, welche bei sozial benachteiligten Menschen zur Herausbildung freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf beitragen, zeigen sich heterogen. Verschiedene Merkmale in den Bereichen individuelle Entwicklung, familiärer Hintergrund und sozialräumliche und gesellschaftliche Einflüsse spielen für die InterviewpartnerInnen eine wesentliche Rolle bei der Engagementherausbildung. Wie das jeweilige Merkmal ausgeprägt ist und mit welchen anderen Merkmalen es in Kombination auftritt, variiert. Dennoch ergibt die Analyse, dass Ähnlichkeiten in den Merkmalen und deren Ausprägung mit einer jeweils spezifischen Bedeutung verbunden sein können, welche das freiwillige Engagement in der biografischen Sinnkonstruktion erhält. Demzufolge werden entsprechend der hauptsächlich wirksamen Engagement-Funktion Typen gebildet. Diese Typen sind durch spezifische Ähnlichkeiten in den Merkmalen gekennzeichnet. Konkret wird die Bedeutung, welche auch als zentrales Motiv für die Ausübung des Engagements gesehen werden kann, und ihre Manifestation in den Merkmalen in folgenden drei Typen sichtbar: Engagement zur Bewältigung von Lebenserfahrungen (E 4.1), Engagement zur sozialen Integration (E 4.2) und Engagement zur flankierenden Stabilisierung des Lebens (E 4.3). In jedem Fall wirken die Merkmale der drei Ebenen – Individualebene, familiäre Ebene, Sozialraum- und Gesellschaftsebene – so zusammen, dass das Hauptmotiv optimal realisiert und die zentrale Bedeutung des freiwilligen Engagements für diesen Typ repräsentiert wird.

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 4.1 Engagement zur Bewältigung von Lebenserfahrungen Bei diesem Typ freiwillig Engagierter, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, kommt dem Engagement eine zentrale Rolle im gesamten biografischen Verlauf zu. Angefangen in der Kindheitsphase üben Engagierte dieses Typs in allen Lebensphasen ein oder mehrere freiwillige Engagements aus. Gegebenenfalls werden sogar mehrere Ämter gleichzeitig bekleidet. Die Akteure verbringen einen großen Teil ihrer Zeit bzw. Freizeit im Engagement. Dieses Phänomen bezeichnen Corsten u.a. als „More-More-Muster“, einen zirkulären Zusammenhang zwischen erfolgreichen Aktivitäten und Einbindung in weitere Ämter mit der Folge eines „multiplen Engagements“ (Corsten, Kauppert und Rosa 2008, 170). Der freiwilligen Tätigkeit kommt eine spezifische Bedeutung für das Individuum zu. In ihrer Kindheit und Jugend bzw. im weiteren biografischen Verlauf befinden sich die Akteure in schwierigen materiellen bzw. emotionalen Lebenslagen. Durch das freiwillige Engagement können sie einen Umgang mit der eigenen Lebenssituation finden. Sie werden für andere tätig und können gleichzeitig selbst einen Nutzen erhalten (vgl. Jakob 1993). Dies erfolgt beispielsweise dadurch, dass Freiwillige Zuwendung oder Fürsorge an die von ihnen betreuten Personen weiter geben. Im Gegenzug trägt die Tätigkeit dazu bei, die eigenen Lebenserfahrungen zu bewältigen. So erhalten die Freiwilligen einen Ausgleich für die eigene Mangelerfahrung. Beispielsweise erfolgt emotionale Zuwendung als Gegenübertragung zur Zuwendung, welche die freiwilligen Akteure spenden. Dies erklärt den großen zeitlichen Umfang, welchen das Engagement im Alltag der Freiwilligen einnimmt. Es ist ein hohes Maß an Einsatz nötig, um die entsprechend erwünschte Rückmeldung zumindest annähernd zu erhalten. Dennoch gelingt dies nie vollständig, es handelt sich lediglich um eine Ergänzung bzw. einen Ausgleich zu den eigenen Erfahrungen. Eine Interviewpartnerin, bei der diese Praxis in ähnlicher Weise wirksam wird, befragen Corsten u.a. (Corsten, Kauppert und Rosa 2008, 49-57) in ihrer Studie zu den Quellen bürgerschaftlichen Engagements (vgl. B.2.2). Frau Findig ist als Angehörige der Mittelschicht nicht von sozialer Benachteiligung betroffen. Sie ist 25 Jahre alt und ehrenamtlich für einen Pfadfinderverein tätig. Sie betreut in diesem Rahmen Gruppen von Kindern und Jugendlichen. In ihrer Arbeit ist sie als verlässliche Bezugsperson für ihre GruppenteilnehmerInnen präsent und vermittelt ihnen Geborgenheit und Anerkennung. Parallel dazu erhält sie selbst für sich die Erfahrung, in soziale Nahbeziehungen eingebunden zu sein, nämlich indem sie stellvertretend die Mutterrolle für diese Kinder und Jugendlichen einnimmt. Diese spezielle Form der Anerkennung stellt für Frau

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 Findig eine „Reaktion auf gescheiterte Intimbeziehungen“ (Corsten, Kauppert und Rosa 2008, 56) dar, durch die sie eigene Defizite ihrer Beziehungserfahrungen kompensieren kann. Ähnliche Zusammenhänge wirken auch bei Engagierten des Typs „Engagement als Bewältigung von Lebenserfahrungen“ (vgl. Meusel 2013, 246). Das hohe Aktivitätspotenzial der Akteure trägt mit dazu bei, dieses Muster in der sozialen Praxis zu reproduzieren. Bezüge können auch zur Typologie von Gisela Jakob (Jakob 2003, 86) hergestellt werden. Auf den ersten Blick finden sich die Freiwilligen auch im Typus „Bürgerschaftliches Engagement als Teil einer Bearbeitungsstrategie für biografische Verletzungs- und Verlusterfahrungen“ wieder. Abweichend gehören nach Jakob allerdings zu diesem Typus nur Personen, deren Engagement auf Erfahrungen im Erwachsenenalter basiert. Die Engagierten des Typs „Engagement zur Bewältigung von Lebenserfahrungen“ der vorliegenden Studie hingegen erleben diese Erfahrungen zunächst in der Kindheit und weiterhin im biografischen Verlauf. Die emotionalen Defizite der Akteure sind in der historischen oder aktuellen Beziehungskonstellation der Befragten begründet. Im Zusammenhang mit der spezifischen Bedeutung, welche das freiwillige Engagement im Sinne des Ausgleichs emotionaler Defizite gewinnt, stehen weitere Merkmale, die bei Engagierten dieses Typs ähnlich auftreten. Sowohl auf der individuellen und der familiären Ebene als auch auf der sozialräumlich-gesellschaftlichen Ebene gibt es übereinstimmende bzw. ähnliche Merkmale. So findet sich bei den betreffenden InterviewpartnerInnen ein sehr hohes Aktivitätspotenzial. Außerdem fällt es Angehörigen dieses Typs relativ leicht, sich an Handlungsaufforderungen Signifikanter Anderer, zum Beispiel von Fachkräften, die als Engagementkoordinatoren fungieren, zu orientieren. Sie sind bereit, eigene Vorstellungen und Interessen den Bedürfnissen der Institutionen, innerhalb derer das Engagement ausgeübt wird, nachzuordnen. Dabei entfalten sie in unterschiedlicher Weise eigenes Gestaltungspotenzial. Kennzeichnend ist für diese Engagierten, dass sie sehr hohe Einsatzbereitschaft zeigen. Erst bei Anforderungen, die ihr Leistungsvermögen übersteigen, signalisieren sie dies und setzen Grenzen. Konstellationen, die sich nicht den eigenen Vorstellungen oder Wünschen entsprechend entwickeln, werden positiv umgedeutet während die Vorteile betont werden. Angehörige des Typs „Engagement zur Bewältigung von Lebenserfahrungen“ wachsen in schwierigen Lebensumständen auf. Die Herausforderungen betreffen insbesondere Lebenssituationen, in denen die Befragten problematische Beziehungskonstellationen und Defizite in der emotionalen Versorgung erfahren. In ihren eigenen Handlungen orientieren sich die Befragten teilweise an familiären Leitorientierungen. Die Berufstätigkeit als Norm und teilweise

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 sogar das jeweilige Berufsfeld sind intergenerativ begründet. Abweichungen gibt es bei den individuellen biografischen Leitorientierungen. Hier werden jeweils unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt bzw. sind differente individuelle Besonderheiten zu beobachten. Engagementbezogene Handlungs- und Werteorientierungen spielen sowohl bei den beiden Engagierten dieses Typs als auch in ihren Herkunftsfamilien eine sehr große Rolle. Übereinstimmungen sind auch in Bezug auf die sozialräumlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, zum Beispiel in der Bedeutung von Anerkennung, zu beobachten. Die InterviewpartnerInnen gewinnen im Zuge ihres Engagements einen höheren sozialen Status. Dieser Zugewinn wird bei den Engagierten direkt während des Einsatzes realisiert, in einem Fall ist zusätzlich für einen späteren Lebensabschnitt ein höherer sozialer Status zu erwarten. Außerdem sind Engagierte dieses Typs sehr intensiv in soziale Netzwerke eingebunden. Sie verfügen über ausgeprägte kommunikative Fähigkeiten und investieren viel Zeit in die Netzwerkpflege. Darüber hinaus ist zu verzeichnen, dass sie sich im Transformationsprozess schnell auf die neuen Gegebenheiten einstellen. Bei der Engagierten, die zum Zeitpunkt des Systemwechsels noch relativ jung ist, kann dies mit dem Alter in Zusammenhang stehen. Dieser Typ wird von den InterviewpartnerInnen Renate Peter, Kerstin Larsell und Günther Pauls repräsentiert. 4.2 Engagement zur sozialen Integration Ebenfalls als sehr bedeutsam erweist sich das freiwillige Engagement bei Akteuren, welche mithilfe ihrer Tätigkeit zu sozialer Integration gelangen. Es geht darum, durch das freiwillige Engagement sekundäre soziale Integration zu finden, also den Bekanntenkreis zu erweitern, Freundschaften zu schließen und Kontakte zu pflegen. Das freiwillige Engagement nimmt einen relativ breiten Raum im Lebensalltag der Engagierten des Typs „Engagement zur sozialen Integration“ ein. Es stellt einen wesentlichen Bereich dar, in dem soziale Kontakte erfolgen. Es ermöglicht den Befragten, gesellschaftliche Exklusionserfahrungen zu überwinden und Mitglied einer Gruppe zu werden. Die zwischenmenschlichen Beziehungen bleiben allerdings relativ distanziert. Für die Akteure steht im Vordergrund, im Rahmen des freiwilligen Engagements kommunikativen Austausch zu pflegen, sich mitteilen zu können und unter Menschen zu sein. Das Aktivitätspotenzial von Engagierten des Typs „Engagement zur sozialen Integration“ wechselt zwischen Handlungsorientierung und Lageorientierung. Sie engagieren sich durchschnittlich im beruflichen Bereich, streben also keine herausragende Karriere an. Auch in Zeiten der Arbeitslosigkeit halten sie diese

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 mittlere Aktivität aufrecht, werden beispielsweise in Maßnahmen über die Agentur für Arbeit tätig. Diese Voraussetzungen bedeuten für das freiwillige Engagement einen langfristigen und zuverlässigen Einsatz. Temporär werden sogar zusätzliche Aufgaben angenommen und ausgeführt. Damit kann die Funktion von „Engagement zur sozialen Integration“ aufrechterhalten werden. Indem Angehörige dieses Typs durch ihre Tätigkeit Inklusion (zurück-)gewinnen, wird ihnen ein Normalitätsstatus zuteil, den sie ohne Freiwilligenengagement so nicht innehätten. Die InterviewpartnerInnen sind bereit, sich an institutionelle Strukturen anzupassen und akzeptieren Handlungsaufforderungen Signifikanter Anderer. Diese werden von den Akteuren teilweise sogar erwartet und unhinterfragt ausgeführt. Im Zusammenhang mit dem freiwilligen Engagement ist für die Befragten die sekundäre soziale Integration demnach das zentrale Motiv. Außerdem gewinnt die Orientierung an materiellen Vorteilen Bedeutung. Ergibt sich innerhalb der Tätigkeit ein finanzieller Nutzen, trägt dies zur Zufriedenheit der Engagierten dieses Typs bei. Ihnen steht ein vergleichsweise geringes Einkommen (Transferleistungen) zur Verfügung. Sie achten insbesondere darauf, zumindest geringfügige finanzielle Gegenleistungen für ihren Einsatz zu bekommen, was für Engagierte beispielsweise des Typs „Engagement zur Bewältigung von Lebenserfahrungen“ keine vordergründige Rolle spielt. Für Engagierte des Typs „Engagement zur sozialen Integration“ ist kennzeichnend, dass sie in schwierigen familiären Verhältnissen aufwachsen. Dies betrifft sowohl die materielle als auch die emotionale Versorgung. Dazu gehören beispielsweise diskontinuierliche Beziehungen zu den Bezugspersonen. Das freiwillige Engagement ist ihnen aus der Herkunftsfamilie bzw. durch Ersatzelternfiguren bekannt. Die Befragten sind in soziale Netzwerke eingebunden, aber nicht in dem Sinn, dass sie diese selbstverständlich und stetig erweitern. In Bezug auf den Transformationsprozess behalten Engagierte dieses Typs Leitorientierungen und Handlungsmuster bei und halten die Bindung an die DDRGesellschaft aufrecht. Dies geschieht, indem idealisierte Erinnerungen dominieren und somit die DDR im Vergleich zum heutigen Gesellschaftssystem favorisiert wird. Lutz Rommel repräsentiert den Typ „Engagement zur sozialen Integration“. 4.3 Engagement zur flankierenden Stabilisierung des Lebens Für Engagierte des Typs „Engagement zur flankierenden Stabilisierung“ nimmt die freiwillige Tätigkeit keine Hauptrolle im Lebensalltag der Akteure ein. Sie dient vielmehr dazu, die persönliche Entwicklung bzw. die familiäre Situation in

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 Teilbereichen zu unterstützen. Dies geschieht temporär in besonderen Lebensphasen bzw. von Zeit zu Zeit im biografischen Verlauf. Diese Gruppe weist eine größere Bandbreite der Merkmale und ihrer Ausprägung auf als die bisher erläuterten Typen. Gemeinsam ist den zugehörigen Befragten, dass das freiwillige Engagement ihre Bemühungen um persönliche und familiäre Stabilität flankierend unterstützt. Die Schwerpunkte der Aktivitäten liegen auf der persönlichen Entfaltung, insbesondere der beruflichen Entwicklung, und dem familiären Bezugsrahmen. Das freiwillige Engagement erfolgt zum Nutzen für andere, gleichzeitig ist es mit positiven Auswirkungen für die persönliche Weiterentwicklung bzw. für das Familiensystem oder für einzelne Familienangehörige verbunden. Als Beispiel sei das Engagement in der Kindertagesstätte genannt, welches die Institution unterstützt und damit auch die in dieser Einrichtung betreuten Enkelkinder der Engagierten. Ebenso kann die Pflege des Hauseingangsbereichs durch einen Engagierten angeführt werden, welche den barrierefreien Zugang der gehbehinderten Ehefrau zur eigenen Wohnung erleichtert. Die Förderung der eigenen Karriere und der temporäre Statusgewinn in einer Statuspassage durch Engagement stehen als Beispiele für die Unterstützung der persönlichen Weiterentwicklung. Trotz der Gemeinsamkeiten wirken die einzelnen Merkmale unterschiedlich zusammen und beeinflussen die Engagementherausbildung mit. Das Aktivitätspotenzial variiert bei diesem Typ breit. Es sind Engagierte mit überwiegender Handlungsorientierung eingeschlossen. Diese konzentrieren ihre Aktivitäten aber vornehmlich auf den persönlichen beruflichen bzw. den familiären Bereich, also nicht hauptsächlich auf das freiwillige Engagement. Ebenso ist Ambivalenz zwischen Handlungsorientierung und Hilflosigkeit anzutreffen. Eine InterviewpartnerIn zeigt sich zurückhaltend bzw. eher lageorientiert. Gleichermaßen breit streut die Position zwischen Autonomiebestreben und Anpassungsfähigkeit. Bei den individuellen biografischen Leitorientierungen gibt es teilweise Übereinstimmungen. So bindet ein Teil der Engagierten dieses Typs ihre Tätigkeit an bestimmte Voraussetzungen, wie zum Beispiel Vertrauenswürdigkeit und Reziprozität. Sehr hohe Übereinstimmung ist bei den familiären Hintergründen zu resümieren. Hier sind es sowohl schwierige familiäre Herkunftsbedingungen teilweise mit traumatischen Erfahrungen, denen die InterviewpartnerInnen entstammen als auch das Merkmal, sich mindestens partiell an familiären Leitorientierungen auszurichten. Zwei der BiografInnen orientieren sich überwiegend an familiären Maßstäben, eine wählt das Familiensystem als vorrangigen Bezugsrahmen und ein weiterer ist teilweise an familiären Leitorientierungen ausgerichtet. Auch beim freiwilligen Engagement ist überwiegend zu beobachten, dass es in Anlehnung an die familiäre Traditionslinie ausgeübt wird. Eine Ausnahme

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 davon stellt die InterviewpartnerIn dar, die über viele Jahre nicht in der Herkunftsfamilie aufwächst. Bei ihr ist kein Zusammenhang zur familiären Engagement-Praxis rekonstruierbar. Die Netzwerkeinbindung der Engagierten dieses Typs gestaltet sich wiederum sehr unterschiedlich. Es sind punktuelle Bindungen im Sozialraum und zunehmende Exklusion ebenso anzutreffen wie Einbindung in soziale Netze und zunehmende Netzwerkkompetenz im biografischen Verlauf. Teilweise stimmen die Befragten in ihrer Position zum Transformationsprozess bzw. zur DDR-Gesellschaft überein. Zwei der InterviewpartnerInnen sind in DDR-Bezügen verankert, einmal ist Sympathie zur DDR-Gesellschaft zu beobachten und eine Interviewpartnerin erweitert ihren Handlungsspielraum im Zuge des Transformationsprozesses wesentlich. In Bezug auf den sozialen Status, den die Befragten Personen durch ihr freiwilliges Engagement erhalten, zeigen sich nur bei zwei Fällen Übereinstimmungen. Zwei der InterviewpartnerInnen erhalten durch ihre Tätigkeit einen Normalitätsstatus aufrecht. Die beiden anderen Engagierten dieses Typs gewinnen temporär an sozialem Status hinzu. Während der Zeit des freiwilligen Engagements steigt die eine Person beruflich auf, die andere profitiert in der Übergangsphase zum Ruhestand im Sinne eines Statuszugewinns. Insgesamt gesehen bleibt die Bedeutung des freiwilligen Engagements bei diesem Typ auf Teilbereiche der persönlichen Weiterentwicklung beschränkt bzw. erstreckt sich temporär auf einzelne oder mehrere Lebensphasen. Auch für das Familiensystem gewinnt das freiwillige Engagement eine Unterstützungsfunktion. Für diesen Typ freiwilligen Engagements bei Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, stehen Hanne Zeutsch, Wolfgang Ewald, Inge Weber sowie Amanda Konstanze Rödling.



Teil F Zusammenfassende Diskussion der Ergebnisse und Schlussfolgerungen für Sozialarbeit und Sozialpolitik    Die Analyse der biografisch-narrativen Interviews und der Familiengenogramme hat gezeigt, dass sich bei der Herausbildung freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf komplexe Wirkungszusammenhänge abspielen. Sie manifestieren sich auf den Ebenen individuelle Persönlichkeitsentwicklung, familiärer Hintergrund sowie sozialräumliche und gesellschaftliche Einflüsse. In diesem Teil der Arbeit werden die Ergebnisse zusammenfassend dargestellt und Schlussfolgerungen für den Umgang mit sozial benachteiligten Menschen in Bezug auf freiwilliges Engagement gezogen. Die zentralen Wirkungszusammenhänge werden in Bezug auf die vorliegenden Befunde anderer AutorInnen diskutiert. Daraus wird die Bedeutung für die Soziale Arbeit und die Sozialpolitik abgeleitet. Besonderes Augenmerk wird auf die Kooperationsmöglichkeiten von Fachkräften der Sozialen Arbeit und anderen institutionellen MitarbeiterInnen, die für das freiwillige Engagement sozial benachteiligter Menschen eine Rolle spielen können, gelegt. Auch das Verständnis von freiwilligem Engagement in seiner gesellschaftlichen Bedeutung wird in die Diskussion einbezogen. Es wird in Ergebnisse in Bezug auf die individuelle biografische Entwicklung (F 1), auf die familiären Hintergründe (F 2) und auf die sozialräumlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge (F 3) unterteilt. Abschießend erfolgt ein Fazit (F 4).

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1 E RGEBNISSE

IN B EZUG AUF DIE INDIVIDUELLE BIOGRAFISCHE

E NTWICKLUNG

Zunächst kann festgehalten werden, dass sich sozial benachteiligte Menschen vielfältig freiwillig engagieren. Zentrales Ergebnis der vorliegenden Studie ist darüber hinaus, dass die biografische Herausbildung der freiwilligen Tätigkeit eng mit den Motiven dafür verbunden ist. Anders als es die Vorannahmen und Ergebnisse verschiedener quantitativer Untersuchungen erwarten lassen, ist die Frage nach den Beweggründen für Engagement sehr differenziert zu beantworten. Individuelle Bedürfnisse wie Spaß haben, Leute treffen und die Gesellschaft mitgestalten (vgl. B 1) sind nur auf den ersten Blick aussagekräftig. Es gilt, tiefgründiger zu analysieren und biografische Prozesse zu berücksichtigen. Dieses Ergebnis betrifft nicht nur die Gruppe sozial benachteiligter Menschen, sondern lässt sich auf alle Engagierten generalisieren (vgl. Corsten u.a. 2008). Die vorliegende Studie zeigt die persönliche Bedeutung von Engagement auf, welche in der Sinnstruktur der Befragten zum Ausdruck kommt. Dementsprechend können drei Typen unterschieden werden: • • •

Engagement zur Bewältigung von Lebenserfahrung Engagement zur sozialen Integration Engagement zur flankierenden Stabilisierung des Lebens

Munsch (2005) versteht ebenso wie Böhnisch55 freiwilliges Engagement als Form der Bewältigung und damit ist gemeint, dass Menschen „damit umgehen, was mit den Menschen geschieht“ (Munsch 2005, 135). Ganz allgemein heißt das zunächst, dass freiwilliges Engagement dazu dient, individuelle Antworten auf Lebensereignisse zu finden. Dies betrifft auch Menschen, die nicht zur Gruppe der sozial Benachteiligten gehören. Munsch greift die Grunddimensionen der Bewältigung von Böhnisch auf. Demnach dient freiwilliges Engagement unter anderem dazu, soziale Integration und Handlungsfähigkeit zu erlangen, einen Platz im sozialen Gefüge zu finden sowie Selbstvertrauen und die Unterstützung anderer zu gewinnen (Munsch 2005, 135). Die Ergebnisse der vorliegenden Studie bestätigen diese Überlegungen vielfach. Dies wird insbesondere in der Bezeichnung und Erläuterung des Typs „Engagement zur Bewältigung von Lebensereignissen“ deutlich. Aber auch die beiden anderen Typen spiegeln die Funktion der Bewältigung wider. Beispielsweise wird Hanne Zeutsch, zuge-

 55 Böhnisch, Lothar (1999): Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung. Juventa. Weinheim und München.

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 hörig zum Typ „Engagement zur flankierenden Stabilisierung des Lebens“, im Rahmen ihres freiwilligen Engagements aktiv tätig, während sie in anderen Lebensbereichen eher lageorientiert bleibt. Sie gewinnt damit Handlungsfähigkeit (zurück) und kann ihren Normalitätsstatus aufrechterhalten. Freiwilliges Engagement stellt also im Sinne von Bewältigung eine Möglichkeit dar, verwehrte Zugänge zu Gütern und Positionen, die als normal und erstrebenswert definiert sind, zu erlangen (Munsch 2005, 134). Beim Verständnis von Engagement als Bewältigungsform kann neben der Bewältigung von Widerfahrnissen der eher aktive Part betont werden. Es geht auch um Bewältigung der Lebensereignisse, die der Mensch durch das eigene Handeln (oder auch Unterlassen) selbst mit gestaltet. Damit ist berücksichtigt, dass gesellschaftliche Strukturen von sozialer Ungleichheit auf der Ebene der Identitätsbildung reproduziert werden (vgl. A 2.2.2). An vielen Stellen der Interviews der vorliegenden Forschungsarbeit zeigen sich diese Zusammenhänge. Lutz Rommel beispielsweise wird immer wieder aktiv, indem er nach erlebten Niederlagen einen neuen Anfang wagt (vgl. D 3.1). Kerstin Larsell engagiert sich in der Kinderbetreuung, obwohl die finanzielle Gegenleistung ihre Tätigkeit nicht angemessen honoriert. In ihrem Engagement erleben die Befragten teilweise einen Ausgleich für den erlebten Mangel. Sie können sich in einer Art geschütztem Raum neue Erlebniswelten eröffnen, in denen positive Erfahrungen beispielsweise in der Zusammenarbeit mit den Einsatzstellen möglich sind. Wesentlich ist, dass sie mit ihren Kompetenzen und Ressourcen, aber auch mit ihren Schwierigkeiten und individuellen Besonderheiten, auf Augenhöhe anerkannt sind. Selbst sozial benachteiligte Menschen haben vielfältige Kenntnisse und liebenswerte Eigenschaften, mit denen sie sich zumindest in einigen Lebensbereichen als handlungskompetent erleben. Das freiwillige Engagement kann eine Möglichkeit sein, die beanspruchte Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu demonstrieren (Munsch 2005,135). Die breit gefächerten Ausdrucksweisen von Engagement als Bewältigungsform kommen in ihrer Verschiedenheit bei den Akteuren zum Ausdruck. Im Folgenden werden die einzelnen Merkmale zusammenfassend erläutert, mit dem Stand der Forschung diskutiert und auf ihre gesellschaftliche Bedeutung geprüft. Zunächst werden die individuellen Merkmale, welche die Herausbildung freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf beeinflussen, in den Blick genommen. In ihrem Aktivitätspotenzial befinden sich die befragten Personen in einer Position zwischen Handlungsorientierung und Lageorientierung. Das jeweilige Aktivitätspotenzial zeigt sich auch darin, in welchem zeitlichen Umfang das Engagement ausgeübt wird. Personen mit hoher Handlungsorientierung investieren verhältnismäßig viel Zeit in ihr freiwilliges Engagement. Für Engagierte,

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 welche ihre Position zwischen Handlungsorientierung und Lageorientierung wechseln, ist es selbstverständlich, sich zu engagieren. Für sie gibt es aber auch Engagementpausen und Zeiten ohne freiwilliges Engagement. Für Menschen, die sich in ihrem Lebensalltag eher zögernd verhalten bzw. sich auf ihre Lage fixieren, sind spezifische äußere Umstände bzw. Voraussetzungen nötig, damit sie Zugang zum Engagement finden. Stark abstrahiert korreliert also das Aktivitätspotenzial mit dem freiwilligen Engagement. Es fließen jedoch jeweils weitere Merkmale wie der Stellenwert familiärer Bindungen und die Netzwerkkompetenz ein. Ein weiteres Ergebnis der vorliegenden Studie ist, dass sich die InterviewpartnerInnen in ihrer Identitätskonstruktion zwischen Autonomiebestreben und Anpassungsfähigkeit positionieren. Die Befragten orientieren sich in unterschiedlicher Weise an den Handlungsaufforderungen Signifikanter Anderer. Daraus resultieren Schlussfolgerungen für das freiwillige Engagement. Menschen, die ihre Entscheidungen relativ unabhängig treffen, finden schwerer Zugang zu einer freiwilligen Tätigkeit. Menschen, die gut auf Handlungsaufforderungen eingehen können, finden relativ leicht zu passgenauer Kooperation mit Institutionen. Das bedeutet für Institutionen, die Freiwillige einbinden möchten, möglichst ein Tätigkeitsspektrum mit beiden Ausrichtungen anzubieten. Innerhalb dieses Spektrums ist es wichtig, potenzielle Engagierte gezielt auf einen möglichen Einsatz anzusprechen (Braun und Klages 2009, 96, Meusel 2013). Trotz Eigeninitiative und Gestaltungsmacht ist es für potenzielle Engagierte wichtig, durch eine konkrete Anfrage das Vertrauen ausgesprochen zu bekommen, das Engagement in geeigneter Weise ausfüllen zu können. Eine besondere Rolle scheint dabei auch (sozial benachteiligten) Stadtteilbewohnern zuzukommen, die als „Viertelgestalter“ (vgl. B 2.5) Verantwortung für ihr Umfeld übernehmen. Dies wird durch die Ergebnisse der vorliegenden Studie bekräftigt. Es sind auch Signifikante Andere, welche nicht in institutionellen Bezügen beruflich verortet sind und den Akteuren Zugang zum freiwilligen Engagement eröffnen. Verschiedene individuelle biografische Leitorientierungen beeinflussen die Herausbildung freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf sozial benachteiligter Menschen. Im Sample der vorliegenden Untersuchung sind dies ideelle und materielle Wertorientierungen, die entweder einzeln oder in Kombination auftreten. Dazu zählen Leitorientierungen wie Achtung der Menschenwürde bzw. des Reziprozitätsprinzips, Vertrauenswürdigkeit, Erweiterung des Beziehungsnetzwerkes, Praxis kritischer Selbstreflexion, Streben nach finanziellem Zugewinn und die Bedeutsamkeit von Statussymbolen. Die individuellen biografischen Leitorientierungen wirken von Engagement begleitend über moti-

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 vierend zum Engagement bis hin zu Engagement begünstigend. Bei einigen Befragten sind zusätzlich individuelle Besonderheiten bei der Engagementherausbildung wesentlich, zum Beispiel bedingungsloser Einsatz oder künstlerische Begabungen. Aus den Ergebnissen der vorliegenden Studie in Bezug auf die persönliche Bedeutung, welche das Engagement für die Akteure gewinnt, resultieren weiterhin spezifische Anforderungen an die Kooperation mit den freiwillig Engagierten, insbesondere wenn diese zur Gruppe der sozial benachteiligten Menschen gehören. Sind sich die institutionellen Mitarbeiter, welche mit Freiwilligen umgehen, über die Bedeutung im Klaren, welche die Tätigkeit für die Akteure haben kann, ergeben sich spezifische Gewichtungen im Stellenwert der Inhalte von Engagementmanagement. Ziele wie die Steigerung der Anzahl von Engagierten und die Erhöhung des zeitlichen Umfangs des Engagements treten in den Hintergrund. Stattdessen gewinnen Gesichtspunkte wie • • • • •

Unterstützung bei der Bewältigung, Gesprächsangebote zur Situation und zum Rollenverständnis der Engagierten, Angebot von (Weiter-)Bildungsveranstaltungen zur Auseinandersetzung mit biografischen Themen, individuelle Begleitung im Engagementprozess und Akzeptanz persönlicher Entscheidungen in Bezug auf die Tätigkeit

an Bedeutung. Die Bewertung der inhaltlichen Anteile in der Kooperation mit Freiwilligen steht mit einer Sichtweise in Zusammenhang, welche die Bedürfnisse der Engagierten in den Mittelpunkt stellt. Diese Herangehensweise kommt wiederum der Einrichtung zugute, welche Einsatzmöglichkeiten für Engagierte anbietet. Gemeint ist hier die Passgenauigkeit in der Kooperation, welche sich beispielsweise im Fall Larsell zeigt. Beide Kooperationspartner gehen aufeinander ein und integrieren jeweils die Anliegen des anderen in die eigene Handlungsstrategie. Das Bedürfnis nach Integration in eine Gruppe von Fachleuten hat beispielsweise im Fall Larsell und im Fall Rommel hohen Stellenwert inne. Außerdem streben die befragten Personen danach, ihren sozialen Status zu sichern bzw. zu verbessern. All dies sind Anliegen, welche für potenzielle Engagierte zentral sein können. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Bedürfnisse der Engagierten Leistungsabforderungen an die Einrichtung, die von der freiwilligen Tätigkeit profitiert, bedeuten. Darin ist die Anforderung eingeschlossen, Engagierte in ihrer Tätigkeit individuell zu begleiten. Dafür ist emotionale Energie

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 genauso gefordert wie Zeitressourcen, um die persönliche Beziehung zu Engagierten zu pflegen. Werden die Bedürfnisse der Engagierten angemessen und treffsicher berücksichtigt, sind sie zu hohem persönlichen Einsatz in der Tätigkeit bereit. Die Voraussetzungen für eine Win-win-Situation sind gegeben. Dies ist ohne regelmäßigen kommunikativen Abgleich schwer zu erreichen. Das freiwillige Engagement beinhaltet besonders für sozial benachteiligte Menschen, aber auch für alle anderen Engagierten, häufig konkrete Möglichkeiten, sich persönlich weiter zu entwickeln. Beeinflusst das Wissen um diesen Zusammenhang das berufliche Selbstverständnis der Engagementmanager, gewinnen sie eine spezifische Sichtweise auf das Engagement. Diese geht weg davon, freiwilligem Engagement die Lückenbüßerfunktion für Soziale Arbeit, welche im Zuge des gesellschaftlichen Wandels immer weniger finanzierbar scheint (vgl. A 1.1.1), zuzuweisen. Kennzeichnend für das alternative Bild von freiwilligem Engagement sind vor allem zwei Merkmale. Es findet zum beiderseitigen Nutzen für Engagierte und Einrichtungen statt und es ist mit Leistungsbereitschaft auf beiden Seiten verbunden. Wie bereits herausgearbeitet, resultiert daraus die Anforderung an Institutionen, welche Engagierte einbinden, freiwillige Mitarbeiter individuell zu begleiten. Dieses Aufgabenspektrum müsste dann sowohl in den Arbeitsbeschreibungen der Festangestellten verankert als auch im Personalschlüssel entsprechend berücksichtigt werden. Die Empfehlung ergibt sich auch in Bezug auf die Ergebnisse der vorliegenden Studie, welche mit der Position der Engagierten zwischen Handlungsorientierung und Lageorientierung sowie mit der Position zwischen Autonomiebestreben und Anpassungsfähigkeit in Verbindung stehen. Sowohl Menschen, die ihre Umwelt eher aktiv handelnd mitgestalten als auch eher abwartende Menschen sind, ebenso wie Personen mit hoher Anpassungsfähigkeit, relativ schnell bereit, sich zu engagieren. Voraussetzung dafür ist, dass sie von institutionellen Mitarbeitern, zu denen sie schon ein gewisses Vertrauensverhältnis haben, angesprochen und für ein Engagement angefragt werden. Gerade sozial benachteiligte Menschen stehen meist regelmäßig in Kontakt zu Ansprechpartnern in Institutionen, sei es im Zusammenhang mit dem Erhalt von Transferleistungen oder als Adressaten Sozialer Arbeit. Sind diese sensibilisiert für die Entwicklungschancen, die ein Engagement mit sich bringt und erarbeiten sie mit den Adressaten gemeinsam Möglichkeiten der Tätigkeit, kann dies im Sinne von Empowerment die persönliche Weiterentwicklung wirksam voranbringen. Die Engagierten werden mit dieser Herangehensweise da abgeholt, wo sie stehen, nämlich an einer biografischen Schnittstelle, die hohe Anpassungsleistungen erfordert aber auch Potenziale persönlichen Nutzens beinhaltet. Gehen institutionelle MitarbeiterInnen darauf ein, stehen die Chancen gut, dass

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 sozial benachteiligte Menschen im Rahmen eines freiwilligen Engagements in ihrem Bewältigungshandeln unterstützt werden. Voraussetzung dafür, dass diese Prozesse wirksam werden, ist, dass Akteure der Sozialen Arbeit und der angrenzenden Institutionen (zum Beispiel Schule, Kindergarten, Agentur für Arbeit) ihre Kooperation in Bezug auf Freiwilligenmanagement intensivieren. Hinderlich ist, dass häufig die reale oder scheinbare gegenseitige Konkurrenz der lokalen Institutionen die Arbeit daran überlagert. Demgegenüber ist ein Selbstverständnis Sozialer Arbeit hilfreich, das sich an den Bedürfnissen und der Bewältigungslage (Böhnisch und Schröer 2012, 105) der Adressaten orientiert. Professionelle Akteure richten sich daran aus, dass es eben nicht die eigenen Klienten sind. Es geht vielmehr darum, gemeinsam Möglichkeiten der persönlichen Weiterentwicklung für sozial benachteiligte Menschen zu eröffnen und den Zugang dazu, beispielsweise im Rahmen eines freiwilligen Engagements zu bereiten. Möglicherweise profitiert eine andere Einrichtung im Stadtteil davon, wenn Vorgespräche zum Engagement von MitarbeiterInnen der eigenen Institution geführt werden, der Einsatz aber in anderen Institutionen erfolgt. Hilfreich dafür wäre es, das Thema Engagement als Querschnittsthema zu implementieren (vgl. Meusel 2013). Dazu gehört auf lokaler Ebene beispielsweise: • • •

die festangestellten Mitarbeiter für das Thema zu sensibilisieren, die Weitergabe von Informationen über Möglichkeiten und Einsatzstellen freiwilligen Engagements als Aufgabe zu verstetigen sowie die Kooperation mit Einsatzstellen zu pflegen.

Sind institutionelle Mitarbeiter möglichst flächendeckend zum Thema freiwilliges Engagement sensibilisiert und geschult, können auch die Menschen adressiert werden, die nicht über das more-more-Muster verfügen, also nahezu automatisch Zugang zum Engagement finden. In die Sichtweise von Engagement als Querschnittsthema reiht sich die Forderung von Margit Fehres im Unterausschuss für Bürgerschaftliches Engagement ein, eine MinisterIn für Engagementförderung auf Bundesebene einzusetzen (Büro gegen Altersdiskriminierung 2013). Das Thema gegenseitiges Vertrauen ist insbesondere für Menschen, die ein Engagement erst dann beginnen, wenn ein Vertrauensverhältnis zu den festangestellten Mitarbeitern besteht, zentral. Diese Menschen sind sensibel für die Beziehungsgestaltung und die Dauerhaftigkeit ihres Einsatzes hängt von der Vertrauensbeziehung ab (Meusel 2013). Sie benötigen eine besonders intensive

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 Phase des Kennenlernens der Institution mit ihren festangestellten und sonstigen MitarbeiterInnen. Am Beispiel von Frau Zeutsch wird dies deutlich. Sie prüft auf Vertrauenswürdigkeit, bevor sie einem Engagement zusagt. Die Verletzung des Vertrauensverhältnisses kann bei ihr dazu führen, dass die Tätigkeit beendet wird. Um diesem vorzubeugen, sind regelmäßige Kommunikation und die Pflege des persönlichen Kontaktes hilfreich. So können eventuelle Missverständnisse ausgeräumt und die Vertrauensbasis immer wiederhergestellt werden. An diesen Zusammenhängen wird erneut deutlich, dass Unterstützung durch Freiwillige nicht zum Nulltarif zu haben ist, auch wenn sie keinen direkten monetären Einsatz im Sinne von Lohnzahlungen erfordert. Aus den Erkenntnissen zur Position zwischen Handlungsorientierung und Lageorientierung ergeben sich weitere Anknüpfungspunkte für die Zusammenarbeit mit Engagierten. An dieser Stelle soll Bezug genommen werden auf das Phänomen „phasing“, welches Kramer u. a. (1998) in ihrer Studie zu sozialen Bürgerinitiativen in den neuen Bundesländern erläutern. Der Begriff steht für die besondere Situation, in welcher sich arbeitslose freiwillig Engagierte befinden können. Für sie können sich Phasen beruflicher Integration im sozialen Bereich mit Phasen der Tätigkeit auf dem zweiten Arbeitsmarkt in Maßnahmen über die Agentur für Arbeit und mit Phasen der Arbeitslosigkeit abwechseln. In dieser Konstellation kann dem Freiwilligenengagement eine spezifische Funktion zukommen. Während der Arbeitslosigkeit bleiben diese Menschen häufig über das freiwillige Engagement in die Organisation eingebunden und finden somit begünstigt Zugang zum ersten oder zweiten Arbeitsmarkt (Kramer, Wagner und Billeb 1998, 273). In der Zeit der Arbeitslosigkeit engagieren sich die Menschen freiwillig im Berufsfeld, um wieder eingestellt zu werden, sobald die Finanzierung der Projekte gesichert ist. Im Zusammenhang mit dem „phasing“ können auch die Ergebnisse quantitativer Studien gesehen werden. Im Jahr 2009 würden 32% der arbeitslosen Engagierten in Ostdeutschland ihr Engagement lieber gegen Bezahlung ausüben, in Westdeutschland liegt der Anteil bei 26% der arbeitslosen Engagierten (Olk und Gensicke 2013, 58). Demzufolge wird häufig vom Streben nach beruflicher Integration als Haupt-Motiv für das freiwillige Engagement bei arbeitslosen Menschen ausgegangen. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen, dass sich die Zusammenhänge differenziert gestalten. Günther Pauls etwa findet durch sein freiwilliges Engagement, nachdem er es mehrere Jahre ausübt, den beruflichen Wiedereinstieg. Diese Entwicklung ergibt sich für ihn aber eher en passant, also ohne, dass er das Ergebnis von vorn herein direkt anstrebt. Im biografischen Verlauf pflegt er vielfältige Aktivitäten. Auch, als er arbeitslos wird, behält er diese Gewohnheit bei. Einen Tätigkeitsschwerpunkt bildet für ihn das freiwillige Engagement. Dieses kommt ihm zunächst

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 vornehmlich insofern zugute, dass er sich künstlerisch zum Ausdruck bringen kann. Er sucht zwar Arbeit, beginnt aber sein Engagement, weil er darin seine musische Neigung ausleben kann. Während er sein Engagement ausweitet, wird er allmählich in die institutionellen Informationsstrukturen eingebunden. Nach einiger Zeit erhält er dadurch Zugang zum ersten Arbeitsmarkt. Erst im Lauf der Zeit, nach verschiedenen Zwischenschritten, wird also aus dem freiwilligen Engagement eine Festanstellung für Günther Pauls. Eine gewisse Nähe zum Typ „Bürgerschaftliches Engagement als Bestandteil von Karrieren“ (Jakob 2003, 81) ist nicht von der Hand zu weisen. Jakob betont vor allem die Netzwerkarbeit der Engagierten. Außerdem kommt sie zu dem Schluss, dass die Engagierten dieses Typs die berufliche Weiterentwicklung nicht direkt anstreben, sie ergibt sich quasi nebenbei. Im Unterschied zu Engagierten dieses Typs erreicht Günther Pauls nicht die höheren Stufen auf einer Karriereleiter, sondern es gelingt ihm, beruflich überhaupt wieder Fuß zu fassen. Für Schultz (2010) kommt dem freiwilligen Engagement ebenfalls eine Brückenfunktion zur Erwerbsarbeit zu. Sie arbeitet zahlreiche positive Auswirkungen in Bezug auf die berufliche (Re-)Integration heraus, welche für die Engagierten mit der Tätigkeit verbunden sein können. Gleichzeitig betont sie, dass es keinen Automatismus vom Engagement zur bezahlten Arbeit gibt und verweist auf die hohen Anforderungen an Haltung und Ausbildung der institutionellen Kooperationspartner. (vgl. B 2.6) Den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit zufolge sollten nicht zu hohe Erwartungen an den Zusammenhang zwischen freiwilligem Engagement und Erwerbsarbeit geknüpft werden. Jede Enttäuschung in dieser Hinsicht ist mit einem individuellen Einzelschicksal verbunden und könnte im Sinne von erschüttertem Vertrauen zum Rückzug aus dem Engagement führen. Bei Günther Pauls ergibt sich die berufliche Reintegration nebenbei, ohne dass er sie gezielt damit anstrebt. Daraus kann geschlossen werden, dass nicht alle freiwillig Engagierten, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, ihre Tätigkeit in der Hoffnung auf eine Festanstellung beginnen. Die Bedeutung des Engagements kann auch bei der Gruppe der sozial benachteiligten Menschen eine große Bandbreite beschreiben. Somit kann das freiwillige Engagement für diese Gruppe, wie auch für alle anderen, viele verschiedene positive Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. Dennoch ist es darüber hinaus wichtig, als Kooperationspartner die mögliche Hoffnung auf einen Arbeitsplatz, die arbeitslose Engagierte hegen können, mit im Blick zu haben. Hier empfiehlt es sich, von vornherein die Situation der jeweiligen Einrichtung transparent darzustellen, also im persönlichen Gespräch klar auf die Möglichkeiten, Grenzen und fachlichen Voraussetzungen einer beruflichen Perspektive einzugehen.

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 Einen weiteren Bezug zum Thema Erwerbsarbeit stellt Dischler her (2010), indem sie die Ersatzfunktion von freiwilligem Engagement für die berufliche Tätigkeit bei psychisch Kranken Akteuren herausarbeitet. Gegenüber der Studie von Dischler gehört bei den TeilnehmerInnen der vorliegenden Arbeit das Motiv „Streben nach Tätigsein“ (Dischler 2010, 169) im Sinne von „Hauptsache etwas tun“ nicht zu den Analyseergebnissen. Es ist in jedem Fall ein komplexes Zusammenwirken unter anderem von inhaltlichem Interesse, biografischer Passung sowie erbrachter Leistung und erhaltener Gegenleistung zu beobachten. Die vorliegende Studie stellt weitere Merkmale innerhalb der individuellen Wirkungszusammenhänge heraus, welches die Herausbildung freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf beeinflussen. Es hat sich gezeigt, dass für die befragten Menschen jeweils individuelle biografische Leitorientierungen und individuelle Besonderheiten charakteristisch sind. Dazu zählen sowohl ideelle als auch materielle Werte sowie Besonderheiten im Umgang mit sich selbst und anderen, insbesondere: • • • • • • • •

Wertschätzung des Reziprozitätsprinzips Achtung der menschlichen Würde anderer Gegenseitiges Vertrauen als Interaktionsgrundlage Bedingungslosigkeit des freiwilligen Engagements Streben nach materiellem Zugewinn Kritisches Selbstbild bzw. Selbstbild zwischen Normalität und Abweichung Verwendung spezifischer stilistischer Mittel im Sprachgebrauch Netzwerkarbeit

Dies sind einige individuelle biografische Leitorientierungen, die bei einzelnen oder mehreren BiografInnen besondere Bedeutung gewinnen. In welcher Weise der Einfluss dieser Wertvorstellungen im Einzelnen auf die konkrete Gestaltung des Engagements wirkt, ist individuell unterschiedlich. Die Leitorientierungen und Besonderheiten können als Engagement begleitend, motivierend oder begünstigend oder auch als konstitutionelle Bedingung für den Zugang zum Engagement beschrieben werden. Es muss nicht weiter ausgeführt werden, dass es für die Zusammenarbeit mit den freiwillig Engagierten unverzichtbar ist, diese individuellen Leitorientierungen und Besonderheiten zu respektieren, ja sogar als besondere Fähigkeit positiv anzuerkennen.

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2 E RGEBNISSE

IN

B EZUG

AUF DIE FAMILIÄREN

E INFLÜSSE

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie belegen, dass dem familiären Hintergrund eine außerordentliche Bedeutung bei der Herausbildung freiwilligen Engagements zukommt. Zunächst kann festgehalten werden, dass die erlebten Schwierigkeiten und Mängel in der eigenen Sozialisation Menschen nicht davon abhalten, sich freiwillig für andere oder für die Gemeinschaft einzusetzen. Die Diskussion um Ressourcen und Kompetenzen, die als Voraussetzung für Engagement vorhanden sein müssen, ließe dies eventuell anders erwarten. Im Zusammenhang mit der Dominanz von Angehörigen der Mittelschicht im Bereich Freiwilligenarbeit werden diese Dispositionen häufig angeführt (vgl. B und Meusel 2013; Munsch 2005, 133). Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen darüber hinaus, dass Engagement auch dazu beitragen kann, einen Ausgleich zu erlebten Mangelsituationen zu schaffen. Dies gilt insbesondere für den immateriellen Bereich. Einige InterviewpartnerInnen können Defiziterfahrungen innerhalb des familiären Kontextes durch ihr freiwilliges Engagement kompensieren. Ein Ergebnis der vorliegenden Studie bezieht sich auf die Entwicklung des individuellen finanziellen Spielraums. Bei den InterviewteilnehmerInnen der vorliegenden Studie ergeben sich teilweise finanzielle Verbesserungen durch das freiwillige Engagement. In einigen Fällen bietet sich nach einem längeren Zeitraum des Engagements die Möglichkeit des beruflichen Wiedereinstiegs bzw. des beruflichen Aufstiegs. Ist ein Mensch aufgrund seiner familiären Herkunft bzw. seiner Sozialisation benachteiligt, kann über die Tätigkeit im freiwilligen Engagement ein Statusgewinn oder sogar die Statustransformation, also die deutliche Verbesserung der Lebens- und Bewältigungslage oder der sozialen Position innerhalb der Gesellschaft, erreicht werden (vgl. F 3). Die Frage, ob sich Veränderungen im finanziellen Spielraum, über den die befragten Personen verfügen, auf freiwilliges Engagement auswirken, kann mit den Ergebnissen der Studie nicht aussagekräftig beantwortet werden. Für die Interviewpartnerinnen gestaltet sich die Situation überwiegend so, dass sie sich engagieren, obwohl sie sich in einer vergleichsweise schlechten finanziellen Lage befinden. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen in Bezug auf den familiären Hintergrund, dass den intergenerativ vermittelten Leitorientierungen, die innerhalb der Familien von Generation zu Generation weitergegeben werden, zentrale Bedeutung bei der Herausbildung freiwilligen Engagements zukommt. Sie beeinflussen die Handlungs- und Entscheidungsprozesse der Befragten entscheidend und gestalten als Rahmenbedingungen den Engagementzugang mit. Bei fast allen InterviewpartnerInnen ist die Berufstätigkeit als Norm intergenerativ

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 verankert. Hier wird die These von Dischler, dass „Berufstätigkeit als Norm“ eine zentrale Leitorientierung darstellt, bestätigt (vgl. B 2.4). Die Auffassung, dass Arbeit zum Leben unabdingbar dazu gehört, formt also die Vorstellung von Normalität. Fällt die berufliche Integration weg, ist es für einige der Befragten das freiwillige Engagement, das den Normalitätsstatus aufrechterhält. Sind sie durch Arbeitslosigkeit oder Verrentung aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen, demonstrieren sie, indem sie sich freiwillig engagieren, dass sie trotzdem ein normales Leben führen. Damit die Tätigkeit im freiwilligen Engagement diese Wirkung entfalten kann, sind entsprechende Zugangswege erforderlich. Die Ergebnisse der Studie bestätigen die Brückenfunktion, welche Familienmitglieder, im Wesentlichen angehörige Kinder oder Enkelkinder, beim Zugang zum freiwilligen Engagement ausüben können (Klatt und Walter 2011; vgl. Meusel 2013, 246). Demnach nehmen Kinder in der Regel stärker am öffentlichen Leben teil als die älteren Generationen. Schon allein durch Aktionen von Schulen und Kindergärten sind sie automatisch involviert. Dadurch können auch Eltern und Großeltern für freiwilliges Engagement gewonnen werden. Im Alltag lernen sich Bewohner des Wohngebietes und Mitarbeiter von Institutionen im Sozialraum kennen. Diese Kontakte können gepflegt werden, sodass beispielsweise Eltern sich dann auf Anfrage bereit erklären, Aktionen des Schulfördervereins zu unterstützen. Sie profitieren ja indirekt auch davon, wenn die Situation der Schüler und damit ihrer eigenen Kinder aufgewertet wird. In der vorliegenden Studie finden Großelternteile, die durch ihre Enkelkinder regelmäßigen Kontakt zu Kindertagesstätten haben, zum freiwilligen Engagement. Diese Brückenfunktion wird in der Praxis bisher bereits genutzt. Dennoch sind noch nicht alle Möglichkeiten erschlossen, die sich daraus für die Engagementförderung ergeben. Die Mehrgenerationenhäuser vom Typ „Kita plus“ (zum Beispiel Mehrgenerationenhaus Rückersdorf / Brandenburg) haben die Perspektive der Brückenfunktion integriert, durch die Familienangehörige mit Möglichkeiten freiwilligen Engagements in Kontakt kommen können. Sie arbeiten mit der Zielsetzung, Kontakte über das Netzwerk der Adressaten einzelner Angebote des Hauses hinzu zu gewinnen und daraufhin Zugänge zum freiwilligen Engagement zu schaffen. Ein weiteres Beispiel sind die zu Familienzentren ausgebauten Kindertagesstätten in Leipzig. Diese arbeiten insbesondere mit den Zielen, stadtteilbezogen Bildungsangebote für Eltern bereitzustellen, soziale nachbarschaftliche Netzwerke zu unterstützen und Partizipationsmöglichkeiten für Eltern zu eröffnen. Nicht zuletzt wird besonderes Augenmerk darauf gelegt, Familien mit besonderem Unterstützungsbedarf zu adressieren. (Stadt Leipzig 2012) Dennoch kann, beispielsweise in Kindertagesstätten, die beschriebene Brückenkonstellation noch stärker genutzt werden, indem in Bezug auf freiwilliges

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 Engagement Kooperationsmöglichkeiten mit den Eltern ausgebaut werden, Engagement als Querschnittsthema geführt wird, entsprechende Weiterbildungsveranstaltungen für MitarbeiterInnen angeboten werden und die Besonderheiten sozial benachteiligter Menschen bei der Zusammenarbeit stärker berücksichtigt werden. Eine zentrale Aufgabe stellt dabei die Vernetzung und Kooperation der Akteure im lokalen Raum dar. Optimal wäre, wenn auf diese Weise sozial benachteiligte Eltern bzw. Großeltern über die Kindereinrichtungen Kontakte zu anderen Einsatzstellen für Engagement im Wohngebiet finden und sich dort mit ihren spezifischen Tätigkeitsschwerpunkten stärker integrieren könnten. Die familiären Hintergründe, welche die Herausbildung freiwilligen Engagements beeinflussen, gehen über die Bezüge zur Berufstätigkeit als familiäre Norm und über die Konstellation der Brückenfunktion hinaus. Dies erschließt sich, indem eine biografische Perspektive eingenommen wird, welche die intergenerative Einbindung der Befragten und die übermittelten Leitorientierungen vertiefend fokussiert. Die beteiligten InterviewpartnerInnen der vorliegenden Studie orientieren sich unterschiedlich an Leitorientierungen, welche über mehrere Generationen übermittelt und in der jeweiligen Kernfamilie gelebt werden. Beispielhaft für Wertorientierungen, die in den Herkunftsfamilien einiger InterviewpartnerInnen zentralen Stellenwert einnehmen, stehen: • • • •

Innerfamiliäre Reziprozitätspflicht Rückzug auf familiäre Bindungen in Krisenzeiten Bedingte Aufarbeitung kritischer Lebensereignisse Orientierung an den Handlungsaufforderungen Signifikanter Anderer bzw. am gesellschaftlichen Bedarf

Diese familiären Leitorientierungen sind, abgesehen von engagementbezogenen familiären Leitorientierungen in der Herkunftsfamilie, selten mit direkten Auswirkungen auf die Herausbildung freiwilligen Engagements verbunden. Dennoch sind die Einflüsse bedeutend, da Wertorientierungen spezifische Prioritäten für das Handeln auch in Bezug auf freiwilliges Engagement nach sich ziehen. Eine relativ durchgängige Linie kann zwischen Engagementzugang und Orientierung an externen Handlungsaufforderungen gezogen werden. Wird als innerfamiliäres Leitbild über mehrere Generationen die Norm weitergegeben, den Handlungsaufforderungen anderer ein besonderes Gewicht beizumessen, begünstigt dies die positive Antwort auf eine Engagement-Anfrage. Die anderen aus dem Interviewmaterial rekonstruierten Leitorientierungen sind als wichtige Aspekte zu sehen, welche den Prozess der persönlichen Entwicklung strukturieren und sich somit auch auf die Frage nach dem Einsatz in einem freiwilligen

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 Engagement auswirken. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Stärke familiärer Bindungen zentrale Bedeutung für die Frage, ob freiwilliges Engagement geleistet wird. Bei mehreren InterviewpartnerInnen, die sehr enge familiäre Bindungen aufweisen, wirkt dieses Merkmal hemmend für den Zugang zum Freiwilligenengagement. Indem diese Menschen sehr auf sich persönlich und auf den familiären Rahmen bezogen sind, wird kaum Raum frei, AktivitätsPotenziale in andere Bereiche, also beispielsweise in das Freiwilligenengagement, zu investieren. Darüber hinaus ist die Praxis des freiwilligen Engagements in der Herkunftsfamilie mit entscheidend dafür, ob und wenn ja in welchem Feld die InterviewpartnerIn zu einem freiwilligen Engagement findet. Sind bereits die Eltern bzw. Großeltern freiwillig engagiert, so nehmen auch die InterviewpartnerInnen ein Engagement auf. Selbst die zeitliche Intensität des Engagements ähnelt der der Vorfahren. Allerdings unterscheiden sich oft die Felder, in denen die InterviewpartnerInnen tätig werden von denen ihrer Eltern und Großeltern. Familiär verankerte Leitorientierungen, Einstellungen und Gewohnheiten, die direkt mit der Engagementherausbildung zusammenhängen, sind bei den TeilnehmerInnen der vorliegenden Studie: • • •

Die Praxis freiwilligen Engagements als familiäre Gewohnheit Die Bereitschaft, auf finanzielle Gegenleistungen zu verzichten Die positive Grundeinstellung zum freiwilligen Engagement (solidarische Haltung, Hilfsbereitschaft)

Jakob (2003) führt die Tätigkeit des Typs „Bürgerschaftliches Engagement als Tradierung eines familiären Handlungsschemas und Herstellung der Zugehörigkeit zu einem soziokulturellem Milieu“ ebenfalls auf die biografische Bindung an familiäre Leitorientierungen zurück (vgl. B 3.4). Die Bedeutung von Zugehörigkeit zu einer spezifischen Wertegemeinschaft wie zum Beispiel eine Kirchengemeinde oder einer politischen Partei scheint allerdings bei den InterviewpartnerInnen der vorliegenden Studie ein weniger starkes Gewicht einzunehmen. Lediglich Frau Larsell engagiert sich im gleichen Verein bzw. Wohlfahrtsverband wie ihr Großvater. Möglicherweise hängt dies mit den Brüchen in der Engagement-Infrastrukturlandschaft im Osten Deutschlands zusammen (vgl. B 3.1). Insgesamt beeinflussen die engagementbezogenen familiären Leitorientierungen und Grundhaltungen den Zugang zum freiwilligen Engagement relativ stark. Dennoch ist die dadurch anvisierte soziale Praxis nicht festgelegt oder bestimmt. Breite Spielräume sind vor allem bei dem Engagementfeld, welches

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 die Befragten wählen, zu sehen. Aber auch die prinzipielle Entscheidung, ob ein Engagement aufgenommen wird, differiert in einigen Fällen zwischen familiären Vorbildern und Praxis der InterviewpartnerInnen. Welche Bedeutung ergibt sich aus diesen Ergebnissen für die Kooperation mit freiwillig Engagierten? Zunächst einmal kann festgestellt werden, dass auf familiär und intergenerativ verankerte Leitorientierungen und Grundhaltungen durch gesellschaftliche intendierte Steuerungsprozesse nur schwer Einfluss genommen werden kann. Für den Umgang mit freiwillig Engagierten in der Kooperation ist es sicher hilfreich, Informationen über das Engagement in der Herkunftsfamilie zu erfragen. Dadurch ist es zum Beispiel möglich, die Erwartungen einzuschätzen, welche an die zeitliche Intensität des Engagements gerichtet werden können. Die Bedingungen, unter denen Menschen sich abweichend von familiären Gewohnheiten für oder gegen ein freiwilliges Engagement entscheiden, sind sehr unterschiedlich. Sie hängen zum Beispiel davon ab, wie stark die Orientierung an familiären Normen ausgeprägt ist. Aber auch die persönliche Entwicklung und insbesondere spezifische Lebensereignisse können eine Rolle spielen (vgl. F 1). Bei einem Interviewpartner des Samples wird freiwilliges Engagement als familiäre Gewohnheit nur bis zur Generation des Interviewpartners weitergegeben. Die nachfolgende Generation, also die Tochter sowie die Nichten und Neffen, nehmen, soweit bekannt ist, kein freiwilliges Engagement auf. In diesem Zusammenhang kann die gesellschaftliche Schnittstelle Transformation, die mit dem Ende dieser familiären Gewohnheit zusammenfällt, als Erklärungsansatz eine Rolle spielen. Die Veränderungen, die mit dem gesellschaftlichen Umbruch in Ostdeutschland einhergehen, beeinflussen die Lebens- und Bewältigungslage der Befragten auf eine Art und Weise, die den Zugang zum Engagement entgegen familiärer Tradierungen hemmt. Die Zusammenhänge zwischen sozialräumlichen bzw. gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der Herausbildung freiwilligen Engagements im biografischen Verlauf werden im Folgenden zusammenfassend aufgegriffen. Aus diesen Ergebnissen werden Schlussfolgerungen für die Arbeit mit sozial benachteiligten Freiwilligen auf lokaler und gesellschaftlicher Ebene gezogen. Doch zuvor wird im Rahmen eines Exkurses noch auf spezifische Ergebnisse zum familiären Hintergrund eingegangen. Exkurs: Arbeit mit traumatisierten Adressaten bei BRIDGE Housing Bei mehreren InterviewpartnerInnen des vorliegenden Samples finden sich Hinweise im Textmaterial bzw. in den Ausführungen zur Familiengeschichte, dass

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 die Akteure traumatisierende Lebensereignisse bewältigen. In einer Familie erleben Angehörige mehrerer Generationen traumatische Erfahrungen. Die MitarbeiterInnen von BRIDGE Housing San Francisco und WissenschaftlerInnen an der San Francisco State University beobachten in ihrem Arbeitsfeld ein ähnliches Phänomen (Weinstein u.a. 2014). Gemeinsam führen sie in einem Wohngebiet in San Francisco, in der ehemaligen Public Housing Siedlung Potrero, ein langjähriges Community-Building-Project im Rahmen einer Community-based Participatory Research durch. Ziele des Projektes sind, die Lebensbedingungen für die Bewohner zu verbessern, das Wohngebiet mit den angrenzenden Nachbarschaften zu vernetzen sowie die Projektentwicklung gemeinsam als Wissenschaftler, Projektträger und Anwohner zu gestalten. Während der Bemühungen um Beteiligung der BewohnerInnen fällt auf, dass diese aufgrund traumatischer Erfahrungen auf vielfache Weise gehemmt sind, sich in die Stadtteilentwicklung einzubringen. Hintergründe sind der historische Kontext mit rezidivierenden Rassismuserfahrungen, verbreitete (Waffen-)Gewalt mit Kriminalitätsraten, welche dem fünffachen Durchschnitt der Stadt San Francisco entsprechen. Demzufolge sind die Menschen beispielsweise nicht in der Lage, Zukunftsvisionen für den Stadtteil zu entwickeln. Sie leben sozial relativ isoliert und ihre Empathiefähigkeit ist herabgesetzt. Aufgrund der traumatischen Geschichte ist das Misstrauen sowohl gegenüber Nachbarn als auch gegenüber der Administration groß. Außerdem ist die Angst groß, nach Versprechungen über eine bessere Zukunft erneut enttäuscht zu werden. Dazu kommt, dass die Bewohner durch hohe Stressbelastungen im Alltag den Blick für die gemeinschaftlichen Anliegen ihres Wohngebietes nicht frei haben. Daraufhin wird von den Akteuren gemeinschaftlich ein Modell entwickelt, welches die Besonderheiten traumatisierter Menschen berücksichtigt. Mit den Grundprinzipien „Do not harm, Acceptance, Community Empowerment, Reflexive Process“ wird großer Wert darauf gelegt, die Bewohner in der Zusammenarbeit unbedingt vor neuen Traumatisierungen zu schützen, die Realitäten in den Lebensbedingungen zu akzeptieren und Überforderungen zu vermeiden sowie die Entwicklung des Wohngebietes insgesamt in einem reflexiven Prozess zu gestalten, welcher das Wissen um Traumatisierung ausdrücklich einschließt. Die Handlungsstrategien dieses Modells sind in den Bereichen „Individual“, „Interpersonal“, „Community“ und „Systems“ angesiedelt und beinhalten nach Weinstein, Wolin und Rose (2014) beispielsweise: • • •

Wissen um vergangene und gegenwärtige Traumata bewusst einbeziehen Vermeiden von Triggern und erneuten Traumatisierungen Implementieren fester Strukturen, die den Bewohnern Sicherheit geben,

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 • • • • •



Kontinuität in den Zuständigkeiten, Aufbau von Vertrauen Setzen realistischer Erwartungen und unbedingtes Vermeiden von Versprechungen, deren Umsetzung unklar ist Vertrauen in gegenseitige Unterstützung der Bewohner setzen Einsatz von Incentives bzw. Belohnungen, um zur Teilnahme an Veranstaltungen zu motivieren Alle Angebote und Teilprojekte im Stadtteil an den Grundsätzen des Modells ausrichten, keine zusätzlichen Nebenprojekte zum Beispiel von anderen Organisationen zulassen Reflexives Einbeziehen von Aussagen, Meinungen und Prioritäten der Bewohner bzw. deren Interessenvertreter.

Die Lebensbedingungen und der sozialräumliche Kontext in Potrero unterscheiden sich vielfältig von den Kontextgegebenheiten der Befragten der vorliegenden Studie. Gewalt und Kriminalität in der Öffentlichkeit gehören zum Alltag in Potrero. Doch das Trauma als menschliche Reaktion auf massiven Stress und lebensbedrohliche Ereignisse (Weinstein, Wolin und Rose 2014) ist auch bei einigen der Befragten der vorliegenden Studie zu sehen. Obwohl sich die Hintergründe traumatischer Erfahrung bei Interviewpartnern des vorliegenden Samples von denen der Menschen in Potrero unterscheiden, sind die Ausdrucksformen ähnlich. Daher liegen beachtliche Chancen für das Anliegen, freiwilliges Engagement bei sozial benachteiligten Menschen in Deutschland zu fördern, darin, die Ergebnisse des Modells „Trauma Informed Community Building“ anzuwenden.

3 E RGEBNISSE

IN B EZUG AUF DIE SOZIALRÄUMLICHEN UND GESELLSCHAFTLICHEN Z USAMMENHÄNGE

Die unter F 1 und F 2 herausgearbeiteten Ergebnisse, welche die individuellen Besonderheiten in der persönlichen Entwicklung sowie den familiären Rahmen, in welchem der Prozess der Engagementherausbildung verläuft, betreffen, sind an einen weiteren Bezugsrahmen gekoppelt: die sozialräumlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. In diesem Zusammenhang ist bereits verdeutlicht, dass die drei Ebenen ineinandergreifen und sich gegenseitig bedingen. So ist beispielsweise die persönliche Entscheidung von sozial benachteiligten Menschen für ein freiwilliges Engagement im Verlauf der individuellen biografischen Entwicklung stark davon abhängig, wie freiwilliges Engagement von den Mitgliedern der Herkunftsfamilie gesehen und gelebt wird. Außerdem ist es in

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 hohem Maße relevant, inwieweit sich institutionelle AnsprechpartnerInnen für den Zugang zum Engagement und die Begleitung der Tätigkeit einsetzen (vgl. F 1). Die Ergebnisse hinsichtlich der sozialräumlichen und gesellschaftlichen Einflüsse sind demnach als zirkulärer Prozess der Zusammenwirkung mit den individuellen Merkmalen bzw. der persönlichen Entwicklung zu sehen. Außerdem bestehen Wechselwirkungen zu den familiären Hintergründen, welche den Prozess der Engagementherausbildung im Sinne von starken Dispositionen mit beeinflussen. Es hat sich gezeigt, dass vorhandene soziale Netzwerke eine wesentliche Rahmenbedingung für freiwilliges Engagement im sozialen Raum darstellen. Die befragten InterviewpartnerInnen sind in unterschiedlicher Art und Weise Teil dieser Struktur. Einige sind besonders intensiv eingebunden, andere nutzen soziale Netzwerke im biografischen Verlauf zunehmend. Zwei der Interviewpartnerinnen, welche langzeitarbeitslos bzw. anschließend verrentet sind, sind überwiegend auf die persönliche Situation und den familiären Rahmen bezogen und demzufolge nur punktuell in außerfamiliäre Netze integriert. Eine dieser beiden Frauen lebt zunehmend isoliert und ist nur temporär freiwillig engagiert. In diesem Fall reduzieren sich Kontakte zu institutionellen Ansprechpartnern im Wohngebiet sukzessive. Für das freiwillige Engagement bedeutet das in diesem Fall, dass die im Sozialraum arbeitenden institutionellen Strukturen die Dynamik von Ausschließung, welche Langzeitarbeitslosigkeit in Verbindung mit den fallbezogenen Konstellationen von Individuum und Familie auslöst, nicht aufbrechen können. Die Besonderheit im Sample der vorliegenden Studie ist, dass alle InterviewteilnehmerInnen BewohnerInnen einer ostdeutschen Wohnblocksiedlung sind. Aus dem Interviewmaterial sind jeweils Bezüge zum Transformationsprozess in Ostdeutschland sichtbar. Die Analyse ergibt, dass Leitorientierungen, Haltungen und Engagementgewohnheiten, wie sie vor dem gesellschaftlichen Wandel individuell verankert werden, den Transformationsprozess weitgehend überdauern. Die ideellen Bindungen, welche zur DDR-Gesellschaft aufrechterhalten werden, sind bei den InterviewteilnehmerInnen verschieden ausgeprägt und betreffen unterschiedliche Bereiche. Die InterviewpartnerInnen des Samples können diesbezüglich in vier Gruppen eingeteilt werden: •



Menschen mit besonders enger Bindung zur DDR-Gesellschaft (Idealisierung der DDR bzw. Angst vor nachhaltigem Einfluss DDR-gesellschaftlicher Strukturen) Bindung zur DDR-Gesellschaft bei gleichzeitiger pragmatischer Anpassung an das bundesdeutsche System

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 • •

Kritische, ambivalente Haltung zum jeweils herrschenden System (offene oder indirekte Kritik) Nahtlose Integration in das bundesdeutsche System (wertfreie Akzeptanz und Mitgestaltung)

Einige Personen sind sehr stark in Bezügen zur DDR-Gesellschaft verankert, was sich vor allem darin zeigt, dass die DDR nachträglich idealisiert wird und häufig im Erzählen darauf Bezug genommen wird. In einem Fall ist die Bindung zum damaligen Gesellschaftssystem aber auch angstbesetzt und wird durch den Überwachungsdruck, welcher von DDR-Staatsorganen aufgebaut ist, aufrechterhalten. Bei anderen InterviewpartnerInnen sind die aktuellen Beziehungen zur DDR weniger stark. Hier ist die pragmatische Anpassung an die neuen Verhältnisse zu beobachten, während gleichzeitig die Vorzüge des DDR-Systems betont werden. Eine weitere Gruppe der Interviewten zeigt eine eher kritische Haltung zum jeweils herrschenden System und profitiert gleichzeitig von den gegebenen Strukturen. Die Kritik wird dabei nicht in jedem Fall öffentlich geäußert. Zwei Interviewpartnerinnen haben sehr lose Bindungen zur DDR-Gesellschaft. Sie integrieren sich nahezu nahtlos in das bundesdeutsche Gesellschaftssystem und beeinflussen dieses nicht zuletzt durch ihr freiwilliges Engagement mit. Es sind auch Mischformen möglich. Das heißt, manche InterviewteilnehmerInnen sind nicht eindeutig einer Gruppe zuzuordnen bzw. weisen Merkmale aus verschiedenen Gruppen auf. In Bezug auf die Praxis des freiwilligen Engagements im Verlauf des gesellschaftlichen Wandels hat sich gezeigt, dass die InterviewpartnerInnen ihre Engagementgewohnheiten überwiegend grundsätzlich weiterführen. Vereinzelt sind partielle Veränderungen zu beobachten. Diese finden in Abhängigkeit von sozialräumlichen Rahmenbedingungen und bezogen auf die individuelle Bedeutung des Engagements statt. Teilweise werden die Einsatzfelder gewechselt. Auch Jürgen Schmitt beobachtet in seiner Studie zur Stadtteilarbeit als Arbeit an der lokalen Zivilgesellschaft das Phänomen, dass bestimmte Haltungen und Leitorientierungen den Transformationsprozess überdauern (Schmitt 2002). Als Schwerpunktziel der Stadtteilarbeit in einer Chemnitzer Wohnblocksiedlung, welche an die Förderung durch die Europäische Union geknüpft ist, benennt er die Partizipation der Bürger an den Entscheidungen und Gestaltungsprozessen im Stadtteil. Dieses Ziel wird sogar in den entsprechenden Konzepten und Rahmenplanungen verankert. In der konkreten Arbeit der Akteure durchkreuzen Leitorientierungen wie das Streben nach sozialer Gerechtigkeit und Wahrheit, welche der Kultur des Kaiserreichs und der Friedens- und Umweltbewegung der 1970er Jahre entspringen, dieses Anliegen (Schmitt 2002, 242ff). Schlussendlich wird als Ziel der Stadtteilarbeit der Schutz benachteiligter

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 Gruppen im Wohngebiet durchgesetzt und der Partizipation der Anwohner als verordneter normativer Ansatz überwiegend skeptisch begegnet (Schmitt 2002, 248). Für die Frage, wie sich das freiwillige Engagement nach dem Systemumbruch individuell gestaltet, resümiert demgegenüber Horst Poldrak, dass weniger die „frühere systemstrukturelle Verankerung (staatstragende oder nicht), sondern die biografische Relevanz und Sinnhaftigkeit“ ausschlaggebend ist (Poldrack 1993, 72). Die Ergebnisse der vorliegenden Studie sprechen dafür, dass sich intergenerativ übermittelte Leitorientierungen, auch diejenigen, die sich auf das freiwillige Engagement beziehen, in ihren Grundsätzen in der aktuellen sozialen Praxis der Akteure widerspiegeln. Zirkulär wirken die biografischen Erfahrungen auf diese Grundsätze zurück und beeinflussen bzw. verändern sie innerhalb spezifischer Spielräume. Wie groß der Veränderungsspielraum ist, differiert individuell und ist wiederum von vielfältigen Dispositionen abhängig. Die Möglichkeiten, Spielräume exakt zu bemessen, scheinen begrenzt. Es ist dennoch rekonstruierbar, welche Rahmungen im Einzelnen fallbezogen mitwirken. Neben den Befunden zur Netzwerkeinbindung und der Art und Weise, wie die BiografInnen mit dem Transformationsprozess umgehen, sind bei allen TeilnehmerInnen des Samples Wechselwirkungen zwischen persönlichem Nutzen und Gewinn für die Gemeinschaft zu verzeichnen. Es findet ein Austausch von Leistung und Gegenleistung zwischen Engagierten und Gemeinschaft statt, der insbesondere durch den gesellschaftlichen Nutzen der Tätigkeit auf der einen Seite und den Erhalt eines spezifischen Status auf der anderen Seite markiert ist. Den lokalen Institutionen kommt im Austauschprozess zwischen Individuum und Gesellschaft eine Mittlerfunktion zu. Der Nutzen, den das freiwillige Engagement der Akteure in Form von Unterstützung bei der Aufgabenerfüllung für die Einrichtung vor Ort bringt, erfordert neben den Leistungen der Engagementeinbindung und -begleitung (vgl. F 1) weitere Investitionen auf lokaler Ebene. Im Gegenzug für das freiwillige Engagement erfolgt Anerkennung und weiterführend eine spezifische Statuszuweisung. Menschen, die sich freiwillig engagieren, erhalten im Gegenzug für ihre Tätigkeit Teilhabe an bestimmten gesellschaftlichen Positionen. Nadaj u.a. bezeichnen die vom Umfeld der freiwilligen Akteure zu erbringende Leistung als Anerkennung. Für das Feld der Bewährungshilfe muss das freiwillige Engagement „mit Anerkennung abgegolten werden“ (Nadaj u.a. 2005, 107). Demgegenüber stellt Chantal Munsch fest, dass freiwilliges Engagement den Akteuren Zugang zu Statuspositionen verschafft (Munsch 2010, 108). Die Analyseergebnisse der vorliegenden Studie weisen auf einen spezifischen Zusammenhang zwischen Anerkennung und Statusgewinn hin. An die Veränderung des sozialen Status, die im Verlaufsprozess des freiwilligen Enga-

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 gements erfolgt, ist jeweils ein Maß an Anerkennung gekoppelt, das aus dem sozialen Umfeld an die freiwillig Engagierten fließt. Das Maß und die Form, in der Anerkennung gewährt werden, beeinflussen also die gesellschaftliche Position, die die Engagierten einnehmen. Kontinuierlich gezollte Anerkennung kann zu Statuserhalt bzw. Statuszuwachs führen. Als Beispiel für den Statuserhalt gelten Personen, die durch ihr freiwilliges Engagement den Normalitätsstatus erhalten. Durch ihre Tätigkeit demonstrieren sie, dass sie sich selbstverständlich an den gesellschaftlichen Aufgaben beteiligen und somit integriert sind. Statuszugewinn ist bei Menschen zu beobachten, die ohne das freiwillige Engagement eine Position innehätten, die mit weniger gesellschaftlicher Anerkennung verbunden ist. Beispielhaft hierfür stehen der höhere Status einer Selbsthilfegruppenleiterin und die Quasi-Zugehörigkeit zu einem Fach-Team durch freiwilliges Engagement und der daraufhin begonnenen beruflichen Qualifizierung. Die Statusübertragung erfolgt im Gegenzug für den durch das Engagement erhaltenen Nutzen. Teilweise wirkt sich dies sofort im Gegenzug zur Tätigkeit aus, teilweise wird die neue Position erst einige Zeit nach Engagementbeginn eingenommen. Aus gesellschaftlicher Perspektive erfolgt als Gegenleistung für die Statuszuweisung der Nutzen, den das Engagement als soziale Praxis für das gesellschaftliche Umfeld bringt. Das Ausmaß an Statustransformation und damit die Bedeutung dieses Merkmals für die einzelnen Engagierten variiert. Vor allem für sozial benachteiligte Menschen ist dieser Austausch in seiner Bedeutung für das Individuum nicht zu unterschätzen. In jedem Fall unterstützt das freiwillige Engagement die gesellschaftliche Integration der Individuen. Die Ergebnisse eröffnen die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle, welche dem lokalen Sozialraum in Bezug auf die Engagementherausbildung zukommt. Welche Erwartungen werden an die lokale Ebene gestellt und unter welchen gesellschaftlichen Prämissen können diese ausgefüllt werden? Insbesondere der Ansatz des Empowerment wird häufig mit Engagementförderung in Verbindung gebracht und in der Gemeinwesenarbeit angewandt. Empowerment hat zum Ziel, bei den Ressourcen der Adressaten anzusetzen, ihre Selbsthilfekräfte zu aktivieren und ihre spezifischen Bedürfnisse zu berücksichtigen. Wolfgang Stark definiert Empowerment als Prozess, „indem Menschen, Organisationen oder Gemeinschaften ihren ökologischen und sozialen Lebensraum gestalten und so mit einschränkenden Bedingungen und problematischen Situationen kreativ und ihren Bedürfnissen gemäß umgehen lernen“. Durch eigene Initiative oder mit unterstützender Begleitung werden „Bewältigungs- und Veränderungsprozesse“ in Gang gesetzt. (Stark 1996, 108) Dies erfordert eine spezifische Haltung der Fachkräfte. Lebenswelt- und Ressourcenorientierung sind Begriffe, die längst zum Grundrepertoire Sozialer Arbeit und angrenzender Arbeitsfelder gehören.

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 Selbst in Krisensituationen wird das Handlungspotenzial der Personen betont. In der Arbeit mit den Menschen wird vermittelt, dass sie über ihr eigenes Leben bestimmen und das soziale Umfeld mitgestalten können (Stark 1996, 114). Betont werden die Rechte und die Stärken der Adressaten im Prozess der Begleitung (ebenda, 115). Quindel und Pankofer (Quindel und Pankofer 2000) weisen auf Gefahren hin, welche im Ansatz des Empowerment impliziert sind. Sie weisen nach, dass Empowerment die Prämisse des autonomen Subjekts voraussetzt. Die Verantwortung für ein gelungenes Lebensprojekt wird überwiegend dem Selbst zugeschrieben. Gesellschaftliche Bedingungen wie zum Beispiel herrschende Machtverhältnisse und Ressourcenverteilung werden zu wenig berücksichtigt. Selbst- und Fremdattribuierungen von Hilflosigkeit oder Handlungsblockade finden unter Empowermentgesichtspunkten wenig Akzeptanz (ebd.). Das heißt, Menschen, die verhältnismäßig wenig Handlungsorientierung aufweisen und ihre Interessen kaum vertreten, sind seltener Adressaten dieses Ansatzes als aktivere, ausdrucksstärkere Menschen. Die Folgen werden unter dem Stichwort Mittelschichtdominanz im freiwilligen Engagement diskutiert. Aus den Ergebnissen der vorliegenden Studie ergeben sich erweiterte Handlungsmöglichkeiten für Soziale Arbeit und angrenzende Berufsfelder dahingehend, auch weniger aktive sozial benachteiligte Bewohner auf freiwilliges Engagement anzusprechen. Im Sample befinden sich einige Menschen mit geringerem Aktivitäts- und Selbstbehauptungspotenzial, welche dennoch Zugang zum Engagement finden. Außerdem bleibt in der Diskussion um Empowerment oft außen vor, dass nur bis zu spezifischen strukturellen Grenzen „empowert“ wird (vgl. auch Sandermann et al. 2011, 44). Im Anschluss an Keupp56 schlussfolgern Quindel und Pankofer: „Wenn Empowerment scheitert, ist das meist den strukturellen Machtverhältnissen zu verdanken, die nicht auf partizipative Strukturen ausgelegt sind und/oder Empowerment-ArbeiterInnen nicht mit nötigen Ressourcen ausstatten“ (Quindel und Pankofer 2000, 41). Für den Bereich des freiwilligen Engagements bleibt in Bezug auf Empowerment zu prüfen, ob den Bürgern lediglich formal Partizipation zugesprochen wird, oder ob sie tatsächlich Entscheidungsgewalt übertragen bekommen (ebd., 39). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Olk und Gensicke, die speziell die Situation in Ostdeutschland in Bezug auf die Bedingungen für bürgerschaftliches Engagement untersuchen. Dementsprechend empfehlen die Autoren als Handlungsform zur Förderung bürgerschaftlichen

 56 Keupp, Heiner (1998): Ohne Angst verschieden sein. Von der fürsorglichen Belagerung zum Empowerment. In: Bock, Thomas; Weigand, Hildegard (Hg.): Hand-werksbuch Psychiatrie. Bonn. 76–92.

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 Engagements unter anderem die „Stärkung von Demokratie und Partizipation durch neue Beteiligungsformen“ (Olk und Gensicke 2013, 92). Insbesondere Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, reagieren sehr sensibel auf Partizipationsangebote, die formal ausgesprochen werden, aber nicht real sind. Dies belegen die Ergebnisse der vorliegenden Studie. Organisationen und Programme werden von diesen Adressaten sehr gründlich auf Vertrauenswürdigkeit geprüft. Damit ist eine spezifische Sensibilität für Machtverhältnisse verbunden. Daraus kann geschlussfolgert werden, wie benachteiligte Bevölkerungsgruppen mit Partizipationsangeboten, die lediglich formal ausgesprochen werden, umgehen. Erleben die Menschen, dass ihnen Angebote zur Beteiligung unterbreitet werden, damit aber keine reale Überantwortung von Macht verbunden ist, ziehen sie sich zurück. In der Praxis sind Formen scheinbar erwünschter Mitgestaltung häufig anzutreffen, wie beispielsweise Alisch für das Programm „Soziale Stadt – Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf“ herausarbeitet. Bürgerbeteiligung wird in diesem Bund-Länderprogramm explizit als Ziel formuliert. Es ist werbewirksam und trägt mit dazu bei, vor Ort Akzeptanz für die Maßnahmen zu erreichen. Vonseiten kommunalpolitischer Akteure wird dann aber auf umfassende Beteiligungsverfahren gern verzichtet, weil sie zu aufwendig sind, zu viel Zeit in Anspruch nehmen und zudem zu viele Risiken in Bezug auf die Ergebnisse bergen (Alisch 2005, 134). Die hohe Werbewirksamkeit des Schlagwortes „Bewohnerbeteiligung“ attestieren auch Bernt und Fritsche. Darüber hinaus arbeiten sie heraus, dass das Ziel der Beteiligung in Maßnahmen des Programms „Soziale Stadt“ teilweise als Pseudo-Beteiligung umgesetzt wird. (Bernt und Fritsche 2005, 213f) BewohnerInnen eines Programmgebietes werden unter anderem dazu aufgefordert, Projektideen zu bestätigen, die im Vorfeld bereits abgestimmt sind und nur noch der Legitimierung durch Bürgergremien bedürfen. Somit wird Partizipation als Methode inszeniert ohne die tatsächlichen Anliegen der BürgerInnen aufzugreifen. In den Entscheidungsprozessen innerhalb der Gremien zeigt sich, dass die professionellen Akteure eine massive Dominanz entwickeln. Demzufolge schließen sich die beteiligten BewohnerInnen überwiegend deren Argumentation an. Von Empowerment kann in diesem Prozess kaum die Rede sein. Partizipationsmöglichkeiten ergreifen lediglich BewohnerInnen bzw. Projektträger, die mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet sind, also die „kooperationsfähigen und durchsetzungsstarken Beteiligungseliten“ (Bernt und Fritsche 2005, 215). Schlussfolgernd für die Zusammenarbeit mit sozial benachteiligten Adressaten ergibt sich die Anforderung, Partizipationsangebote im Bereich des Freiwilligenengagements kritisch auf die Umsetzbarkeit zu reflektieren. Ist abzusehen,

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 dass Beteiligung hauptsächlich ein formales Ziel ist und an strukturellen Grenzen wahrscheinlich scheitert, sollte sie nicht öffentlich anvisiert werden. Es ist schwer, enttäuschte StadtteilbewohnerInnen für die Kooperation zurückzugewinnen. Die befragten InterviewteilnehmerInnen der vorliegenden Studie sind eher bereit, in Strukturen mit vorgegebenen Handlungsrichtlinien mitzuarbeiten, als vorgetäuschte Beteiligungsmodi zu akzeptieren. Insofern stellt ein Kriterium partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit freiwillig Engagierten die transparente Darstellung der Beteiligungsräume mit ihren Möglichkeiten und Grenzen dar. An dieser Stelle soll noch einmal an die Ergebnisse in Bezug auf die individuelle biografische Entwicklung (F 1) angeknüpft werden. Es hat sich gezeigt, dass die Förderung freiwilligen Engagements mit spezifischen Anforderungen an die institutionellen Strukturen im Sozialraum verbunden ist. Ansprechpartner vor Ort, deren entsprechende Qualifizierung, Aus- und Weiterbildung der Freiwilligen, Zeitpotenziale und Ausstattungsmittel, um diese zufriedenstellend zu begleiten, Ausbau professioneller Netzwerke im Hinblick auf freiwilliges Engagement – all das sind nur einige der anfallenden Aufgabengebiete, welche Organisationen gegebenenfalls zusätzlich zu ihrem originären Arbeitsauftrag besetzen müssten. Die Schlussfolgerungen und Empfehlungen zahlreicher Autoren und Autorinnen in Bezug auf Engagementförderung weisen ebenfalls in diese Richtung. Beispielsweise resümieren Gensicke und Olk in ihrer Studie zum Stand und zur Entwicklung bürgerschaftlichen Engagements in Ostdeutschland unter anderem folgende Handlungsempfehlungen (Olk und Gensicke 2013, 163ff): •

• •

• • • •

Nachhaltige Sicherung von Engagementinfrastruktur (zum Beispiel Mehrgenerationenhäuser, Selbsthilfekontakt- und Informationsstellen, Freiwilligenagenturen) Berücksichtigung der Bedürfnisse freiwillig Engagierter nach einem persönlichen Nutzen ihrer Tätigkeit Engagementbezogene Information kommunaler Verantwortungsträger über die Zusammenhänge von Partizipation und regionaler Entwicklung sowie über Förderprogramme und Beratungsinfrastruktur Intensive partnerschaftliche Abstimmung bei der Entwicklung von Förderprogrammen (Bund, Länder), Offenheit für regionale Besonderheiten Fort- und Weiterbildung mit zielgruppenspezifischen Formaten Engagementbezogene Organisationsentwicklung und Implementierung von Freiwilligenmanagement im dritten Sektor …

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 Schon dieser Auszug von Handlungsempfehlungen zeigt, dass eine Reihe von Voraussetzungen nötig ist, damit auf lokaler Ebene die Folgen gesellschaftlicher Entwicklungen durch freiwilliges Engagement mit aufgefangen werden können. Es sind immense Investitionen erforderlich, nachhaltig fallen hohe laufende Kosten an, soll dieser Wandlungsprozess flächendeckend gelingen. Es ist abzusehen, dass die Umgestaltung in diese Richtung mit relativ hohen finanziellen Anforderungen verbunden sein wird, soll sie umfassend auf den Weg gebracht werden. Dazu sind allerdings der entsprechende politische Wille sowohl auf Bundes- und Länder- als auch auf kommunaler Ebene und die Bereitschaft der Akteure des politischen und des wirtschaftlichen Sektors, Gestaltungsmacht abzuteilen, erforderlich. Der Dritte Sektor müsste sich auf Freiwilligenengagement als Querschnittsthema einstellen. Sozialpolitische Gestaltung wird somit alles andere als überflüssig, sie ist geradezu notwendig, um Anpassungsprozesse im Zeitalter der Globalisierung zu bewältigen (Böhnisch und Schröer 2011, 73f). Es läuft kein Automatismus ab, durch welchen sich freiwillig Engagierte genau dort einbringen, wo Soziale Arbeit unter dem Einsparungsdruck öffentlicher Kassen wegbricht (Galuske 2002, 287). Für Susanne Baer steht an erster Stelle die Veränderung des staatlichen Selbstverständnisses hin zu Partizipations- und Demokratieentwicklung als Grundanliegen. Damit verbindet die Autorin die „Umstellung der Handlungskultur und der Verwaltungsstile“ (Baer 2002, 181). Sie stellt dafür wesentliche Empfehlungen zusammen (Baer 2002), die an dieser Stelle auszugsweise bekräftigt werden: • • • • •

Transparenz der Verwaltung, „Gläserne Behörde“, Informationen über die konkreten Verwaltungsabläufe offensiv veröffentlichen Definitionsmacht abgeben Rahmenregelung / Ermöglichungsordnung für freiwilliges Engagement Soziale Kompetenzförderung für die Kommunikationsprozesse mit den Bürgern als Inhalte behördlicher Weiterbildungen

Die Diskussion der sozialräumlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zeigt, dass das Anliegen der Engagementförderung mit realen Chancen für die Demokratieentwicklung verbunden sein kann. Werden in diesem Prozess die Bedürfnisse und Besonderheiten sozial benachteiligter Akteure angemessen berücksichtigt, ergeben sich daraus beachtliche Möglichkeiten für die persönliche Entwicklung und Entfaltung von Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppen.

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 Damit sind Potenziale verbunden, um dem weiteren Auseinanderdriften der Gesellschaft entgegenzuwirken können.

4 F AZIT Nachdem die Ergebnisse der vorliegenden Forschungsarbeit mit Blick auf die individuelle Ebene, den familiären Hintergrund und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zusammengefasst sind, soll die Aufmerksamkeit noch einmal auf die Themenstellung gerichtet werden. Es hat sich gezeigt, dass in vielgestaltiger Weise individuelle Eigenschaften, familiäre Dispositionen und (Macht-) Verhältnisse zusammenwirken, um die Entscheidung zum Engagement zu begründen. So unterschiedlich sich dieses Zusammenwirken auch gestaltet, es ist stets das eigene Ja zum Tätigwerden unabdingbar, um die positiven Aspekte des Engagements zum Tragen zu bringen. Dem freiwilligen Engagement kann für Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, eine wesentliche Bedeutung im biografischen Verlauf zukommen. Es unterstützt in unterschiedlichem Maß das Bewältigungshandeln der Akteure. Abhängig von den individuellen Merkmalen, den familiären Hintergründen und den sozialräumlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen trägt die freiwillige Tätigkeit sowohl zur persönlichen Weiterentwicklung der Akteure als auch zum Nutzen für die Gesellschaft bei. Insbesondere kommt der Tätigkeit im freiwilligen Engagement die Funktion gesellschaftlicher Integration zu. Der Nutzen für das Arbeitsfeld steht mit nachhaltiger gesellschaftlicher Anerkennung für die Akteure in Verbindung und kann entweder in Form von Statuserhalt oder von Statuszugewinn erfolgen. Bei einigen Engagierten dient das Engagement dazu, einen Normalitätsstatus aufrecht zu erhalten. Bei den meisten der Befragten erfolgt durch die Tätigkeit sogar die Umwandlung ihrer gesellschaftlichen Position in einen höheren sozialen Status. Aus den Ergebnissen der vorliegenden Studie folgt, dass gesellschaftlicher Nutzen durch das freiwillige Engagement mit entsprechenden Gegenleistungen durch die Gesellschaft verbunden ist. In diesem Zusammenhang gewinnen Stichworte wie Anforderungen an die Engagementbegleitung und Statuszuweisung an Gewicht. Daran anknüpfend ist die Position zu sehen, welche der freiwilligen Tätigkeit im lokalen Sozialraum gern zugeschrieben wird. Mit dem freiwilligen Engagement in den Organisationen vor Ort sollen Probleme gelöst werden, die auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene entstehen. So sollen die Folgen korrodierender Sozialbeziehungen bewältigt werden. Die fehlenden Ressourcen, um wohlfahrts-

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 staatliche Aufgaben im Bereich der sozialen Arbeit und angrenzender Felder zu erfüllen, sollen ausgeglichen werden (vgl. A 1). Hat noch Thomas Rauschenbach in den 1990er Jahren für das sozialpädagogische zwanzigste Jahrhundert konstatiert, dass die Protagonisten Sozialer Arbeit zu Adressaten derselben werden (Rauschenbach 1999), so scheint sich für das 21. Jahrhundert eine neue Entwicklung anzubahnen: Adressaten Sozialer Arbeit werden als Akteure der Wohlfahrtsproduktion herangezogen. Sozialer Arbeit kommt in diesem Sinne wohl zunehmend eine Management- und Supervisionsfunktion zu, indem die freiwilligen MitarbeiterInnen akquiriert, begleitet, befähigt, anerkannt und wieder verabschiedet werden. Wird dieser Einsatz entsprechend den Bedürfnissen und Besonderheiten der freiwilligen Akteure, insbesondere derer, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, geleistet, dann ergeben sich daraus sowohl Entwicklungschancen für individuelle Bewältigungslagen als auch umfangreicher Nutzen für die Einsatzstellen der freiwillig Engagierten. In den Motiven und sonstigen Merkmalen unterscheiden sich sozial benachteiligte Engagierte nicht wesentlich von allen anderen Freiwilligen. Neben den bereits von verschiedenen Autoren herausgearbeiteten Unterschieden in den Kompetenzen und Ressourcen (vgl. Meusel 2013) ist es vor allem die Position im sozialen bzw. gesellschaftlichen Gefüge, welche in Bezug auf freiwilliges Engagement wirksam wird. Teilweise haben die Personen ihre Position infolge eines sozialen Abstiegs inne. Sozial benachteiligte Menschen erleben sich häufig von vorn herein als hinten an gestellt, ausgegrenzt, wenig wertgeschätzt. Sie reagieren besonders sensibel darauf, wie AnsprechpartnerInnen für freiwilliges Engagement ihnen entgegen treten. Oberflächliche oder unaufrichtige Kommunikation sowie Defizitorientierung tragen dazu bei, dass sich sozial benachteiligte Menschen als Akteure zurückziehen. Erscheinen institutionelle MitarbeiterInnen hingegen wohlwollend, unterstützend und wertschätzend, sind dies gute Voraussetzungen für freiwilliges Engagement, das sowohl den Adressaten als auch den Akteuren zugutekommt. In diesem Sinne treten neben die bewusste und freiwillige Entscheidung für eine gemeinnützige Tätigkeit weitere Rahmenbedingungen und Wirkungszusammenhänge, die freiwilliges Engagement in seinem Verlauf begründen.





Literatur

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Gesellschaft der Unterschiede Projektgruppe »Neue Mitleidsökonomie« (Hg.) Die neue Mitleidsökonomie Armutsbekämpfung jenseits des Wohlfahrtsstaats? September 2016, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3158-6

Lothar Böhnisch, Wolfgang Schröer Das sozialpolitische Prinzip Die eigene Kraft des Sozialen an den Grenzen des Wohlfahrtsstaats August 2016, ca. 200 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3459-4

Bettina-Johanna Krings Strategien der Individualisierung Neue Konzepte und Befunde zur soziologischen Individualisierungsthese Juni 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3347-4

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Verena Rothe, Gabriele Kreutzner, Reimer Gronemeyer Im Leben bleiben Unterwegs zu Demenzfreundlichen Kommunen 2015, 288 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2996-5

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Franz Schultheis, Berthold Vogel, Kristina Mau (Hg.) Im öffentlichen Dienst Kontrastive Stimmen aus einer Arbeitswelt im Wandel 2014, 296 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2770-1

Kay Biesel, Reinhart Wolff Aus Kinderschutzfehlern lernen Eine dialogisch-systemische Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie 2014, 184 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2386-4

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