Frühes Christentum und Gnosis: Eine rezeptionsgeschichtliche Studie 978-3161506598

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Frühes Christentum und Gnosis: Eine rezeptionsgeschichtliche Studie
 978-3161506598

Table of contents :
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
Vorbemerkung: Zum forschungsgeschichtlichen Ort in der Geschichte
der Gnosisforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1. Kapitel: Die Fragestellung im Rahmen
der gegenwärtigen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
2. Kapitel: Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken
Religionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.1 Das Urchristentum als Phänomen der spätantiken
Religionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.2 Urchristentum und Gnosis als Phänomene des spätantiken
›Synkretismus‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.2.1 Schwierigkeiten im Umgang mit dem ›Synkretismus‹ . . . 20
2.2.2 Zum Problem »Urchristentum und Synkretismus« . . . . . 23
2.2.3 Zum Problem ›Gnosis und Synkretismus‹ . . . . . . . . . . . . 30
2.3 Exkurs: »Slippery Words«. Zur Frage der Terminologie:
›Gnosis‹ und/oder ›Gnostizismus‹ –
›Gnostiker‹ als Selbstbezeichnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
2.3.1 ›Gnosis‹ und/oder ›Gnostizismus‹? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
2.3.2 – ›Gnostiker‹: ein sekundärer häresiologischer
Terminus bzw. eine Fremdbezeichnung oder eine
(ursprüngliche) Selbstbezeichnung der ›Gnostiker‹? . . . . 41
3. Kapitel: Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis . . . . . . . . . . . . . 61
3.1 Grundsätzliches zur Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
3.2 Der Quellenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.2.1 Das Zeugnis des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.2.2 Das Zeugnis der altkirchlichen Häresiologen . . . . . . . . . 77
Exkurs: ›Simon Magus‹ oder ›Simon Gnosticus‹? . . . . . . 117
3.2.3 Das Zeugnis der gnostischen Originalquellen . . . . . . . . . 130
3.2.4 Zeugnisse einer außer-christlichen bzw.
heidnischen Gnosis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
3.2.4.1 Zur Frage einer außer-christlichen Gnosis im Schrifttum
der Hermetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
3.2.4.2 Zur Frage einer vor- bzw. außerchristlichen Gnosis
im Schrifttum der Mandäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
3.3 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
4. Kapitel: Die Rezeption des Neuen Testaments
in der frühchristlichen Gnosis des zweiten Jahrhunderts . . . . . . . . . 207
4.1 Kirchliche Schriftauslegung versus gnostische
Schriftauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
4.2 »Suchet – so werdet ihr finden« als Programm gnostischer
Schriftauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments . . . . . . 252
4.3.1 Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
4.3.2 Die Praxis der gnostischen Rezeption
des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
4.3.2.1 Zur gnostischen Rezeption der drei ersten Evangelien . . . . . . 261
Exkurs: Zur Rezeption der Gleichnisse im koptischen
Thomasevangelium (NHC II/2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
4.3.2.2 Zur Rezeption des Johannesevangeliums
in der frühchristlichen Gnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Exkurs: Zur Frage der Rezeption des Johannesevangeliums
in den gnostischen Schriften von Nag Hammadi . . . . . . . 343
Schlußfolgerungen zu 4.3.2.2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
4.3.2.3 Zur Rezeptionsgeschichte der Briefe des Paulus
in der früchristlichen Gnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
Vorbemerkung zum gegenwärtigen Stand der Forschung . 399
Der Apostel Paulus: der »Apostel der Häretiker«? . . . . . . 401
Theorie und Praxis der Paulus-Rezeption
in der frühchristlichen Gnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
Exkurs: Zur Frage der Paulus-Rezeption in den gnostischen
Schriften von Nag Hammadi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
4.4 Zur Frage einer Gnosis-Nähe der Schriften
des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480
5. Kapitel: »Words with an Alien Voice« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
5.1 Schriftauslegung als Ursprung der gnostischen Häresie? . . . . . . 487
5.2 Zur Frage nach dem Kanon der gnostischen Schriftauslegung . . . 490
5.3 Zur Frage der Definition der Religion ›Gnosis‹ . . . . . . . . . . . . . . 508
5.4 Noch einmal zur Frage einer »vor-christlichen« Gnosis . . . . . . . 521
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567
Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (München) Mitherausgeber /Associate Editors Friedrich Avemarie (Marburg) Judith Gundry-Volf (New Haven, CT) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL)

225

Hans Friedrich Weiß

Frühes Christentum und Gnosis Eine rezeptionsgeschichtliche Studie

Mohr Siebeck

   , geboren 1929; 1957 Promotion; 1962 Habilitation; 1965–72 Dozent für Neues Testament in Jena; 1972–94 Professor für Neues Testament in Rostock; seit 1994 emeritiert; 1997 Verleihung des Dr. h. c. der Theologischen Fakultät Kopenhagen.

e-ISBN PDF 978-3-16-151514-9 ISBN 978-3-16-150659-8 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Unveränderte Studienausgabe 2010

© 2008 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Sabon-Antiqua gesetzt, von GuldeDruck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden.

Vorwort Die vorliegende Studie hat eine weit zurückreichende Vorgeschichte. Am Anfang stand eine bereits vor Jahrzehnten gehaltene Vorlesung zum Thema »Gnosis und Neues Testament«. Seitdem hat sich, bedingt durch den Fortgang der Geschichte der Forschung, auch die eigene Sichtweise der mit diesen Thema verbundenen Probleme und Fragestellungen, insbesondere etwa zum Problem einer vor-christlichen Gnosis, erheblich verändert – bis hin eben zu einer Darstellung unter einem jene primär chronologische Fragestellung überwindenden oder doch jedenfalls relativierenden rezeptionsgeschichtlichen Aspekt. In diesem Sinn zeichnet sich hier nicht zuletzt auch ein eigener Erkenntnisweg des Autors ab, der ohne die Gespräche und Auseinandersetzungen mit den vielfältigen Stellungnahmen zur Fragestellung in der neueren Forschungsgeschichte nicht möglich gewesen wäre. Stellvertretend dafür sei hier nur die in dieser Hinsicht sehr eindeutige Position von Martin Hengel genannt, der die Entwicklungsgeschichte dieser Studie von Anfang an begleitet und ihren Autor immer wieder ermutigt hat, die ihm eigene Sichtweise der mit diesem Thema gegebenen Problematik zur Darstellung zu bringen. Angesichts solcher in der Tat »liberalen« Einstellung bin ich Herrn Kollegen Hengel zu besonderem Dank verpflichtet. Zu Dank verpflichtet bin ich auch, was die Bereitstellung der weitverzweigten Literatur zum Thema betrifft, den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Universitätsbibliothek Rostock, die mir die Benutzung der nicht immer leicht zu erreichenden Quellenschriften und Sekundärliteratur ermöglichten. Zu danken habe ich auch Herrn Dr. Henning Ziebritzki, für seine Geduld und seine immer wieder ausgesprochene Ermutigung zum endlichen Abschluß des druckfertigen Manuskripts, das dankenswerterweise Herr stud. theol. Oliver Erckens hergestellt hat und damit dem im Umgang mit dem Computer immer noch ein wenig unsicheren Autor eine gewichtige Hilfe gewesen ist. Gewiß in besonderer Weise habe ich an dieser Stelle aber auch meiner Frau zu danken, die den langjährigen Entstehungsweg dieser Arbeit mit stetigem Interesse (und mitunter auch nötigem Zuspruch!) begleitet hat. Rostock, im Oktober 2007

Hans-Friedrich Weiß

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Vorbemerkung: Zum forschungsgeschichtlichen Ort in der Geschichte der Gnosisforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

1. Kapitel: Die Fragestellung im Rahmen der gegenwärtigen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

2. Kapitel: Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

2.1 Das Urchristentum als Phänomen der spätantiken Religionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Urchristentum und Gnosis als Phänomene des spätantiken ›Synkretismus‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Schwierigkeiten im Umgang mit dem ›Synkretismus‹ . . . 2.2.2 Zum Problem »Urchristentum und Synkretismus« . . . . . 2.2.3 Zum Problem ›Gnosis und Synkretismus‹ . . . . . . . . . . . . 2.3 Exkurs: »Slippery Words«. Zur Frage der Terminologie: ›Gnosis‹ und / oder ›Gnostizismus‹ – ›Gnostiker‹ als Selbstbezeichnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 ›Gnosis‹ und / oder ›Gnostizismus‹? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 – ›Gnostiker‹: ein sekundärer häresiologischer Terminus bzw. eine Fremdbezeichnung oder eine (ursprüngliche) Selbstbezeichnung der ›Gnostiker‹? . . . .

13 20 20 23 30

34 34

41

3. Kapitel: Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis . . . . . . . . . . . . .

61

3.1 Grundsätzliches zur Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der Quellenbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Das Zeugnis des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Das Zeugnis der altkirchlichen Häresiologen . . . . . . . . .

61 64 64 77

VIII

Inhaltsverzeichnis

Exkurs: ›Simon Magus‹ oder ›Simon Gnosticus‹? . . . . . . 117 3.2.3 Das Zeugnis der gnostischen Originalquellen . . . . . . . . . 130 3.2.4 Zeugnisse einer außer-christlichen bzw. heidnischen Gnosis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3.2.4.1 Zur Frage einer außer-christlichen Gnosis im Schrifttum der Hermetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3.2.4.2 Zur Frage einer vor- bzw. außerchristlichen Gnosis im Schrifttum der Mandäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 3.3 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

4. Kapitel: Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis des zweiten Jahrhunderts . . . . . . . . . 207 4.1 Kirchliche Schriftauslegung versus gnostische Schriftauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 »Suchet – so werdet ihr finden« als Programm gnostischer Schriftauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments . . . . . . 4.3.1 Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Die Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.1 Zur gnostischen Rezeption der drei ersten Evangelien . . . . . . Exkurs: Zur Rezeption der Gleichnisse im koptischen Thomasevangelium (NHC II/2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Zur Rezeption des Johannesevangeliums in der frühchristlichen Gnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Zur Frage der Rezeption des Johannesevangeliums in den gnostischen Schriften von Nag Hammadi . . . . . . . Schlußfolgerungen zu 4.3.2.2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.3 Zur Rezeptionsgeschichte der Briefe des Paulus in der früchristlichen Gnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung zum gegenwärtigen Stand der Forschung . Der Apostel Paulus: der »Apostel der Häretiker«? . . . . . . Theorie und Praxis der Paulus-Rezeption in der frühchristlichen Gnosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Zur Frage der Paulus-Rezeption in den gnostischen Schriften von Nag Hammadi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207 215 252 252 261 261 282 291 343 385 399 399 401 414 456

4.4 Zur Frage einer Gnosis-Nähe der Schriften des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480

5. Kapitel: »Words with an Alien Voice« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 5.1 Schriftauslegung als Ursprung der gnostischen Häresie? . . . . . . 487 5.2 Zur Frage nach dem Kanon der gnostischen Schriftauslegung . . . 490

Inhaltsverzeichnis

IX

5.3 Zur Frage der Definition der Religion ›Gnosis‹ . . . . . . . . . . . . . . 508 5.4 Noch einmal zur Frage einer »vor-christlichen« Gnosis . . . . . . . 521

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585

Vorbemerkung

Zum forschungsgeschichtlichen Ort in der Geschichte der Gnosisforschung Im Unterschied zu einer bisher vorwiegend religions- und motivgeschichtlich verfahrenden Forschung hinsichtlich der Relation ›Frühes Christentum – Gnosis‹ geht die vorliegende Arbeit, nicht zuletzt angesichts der von H.A. Green geltend gemachten Kritik zur ›Methodologie‹ der Gnosisforschung1, ganz bewusst einen anderen Weg: Nicht mehr die – nach wie vor umstrittene – Frage, ob und inwieweit in der literarischen Hinterlassenschaft des ältesten Christentums, des sog. Urchristentums, bestimmte ›gnostische Motive‹ eine mehr oder weniger deutliche Spur hinterlassen haben2, steht hier zur Debatte, sondern die Frage nach der Rezeption der literarischen Hinterlassenschaft des früher so genannten ›Urchristentums‹ – und damit auch die Frage nach der ›Wirkungsgeschichte‹ des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis. Es bedarf dabei keiner Frage, dass diese Rezeptionsund Wirkungsgeschichte ihrerseits auch bestimmte Schlussfolgerungen auf Charakter und Eigenart jener frühchristlichen Gnosis zulässt, und zwar – nicht zuletzt auch – im Blick auf die nach wie vor umstrittene Frage nach einer vor-christlichen bzw. – besser – nach einer nicht-christlichen Gnosis.

1 H.A. Green, Gnosis and Gnosticism: A Study in Methodology, in: Numen 24 (1977), S. 95–134, hier speziell: S. 122 ff. 2 Vgl. z.B. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, S. 167 ff.: »Gnostische Motive«.

1. Kapitel

Die Fragestellung im Rahmen der gegenwärtigen Forschung Der Ausgangspunkt in dieser Hinsicht ist angesichts des gegenwärtigen Standes der Forschung nicht eben sehr günstig: Nicht nur, dass manche der Grundfragen in dieser Hinsicht nach wie vor gänzlich offen (oder doch jedenfalls nicht eindeutig zu beantworten) sind. Es ist fraglich, ob es sich bei dieser Fragestellung überhaupt noch um ein aktuelles Thema der neutestamentlichen Forschung handelt. Bereits im Jahre 1994 hat M. Hengel in seinem Aufsatz »Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft« festgestellt: »Die sogenannte Gnosis ist für das Urchristentum eher ein Randproblem und gehört in dessen unmittelbare Wirkungsgeschichte und nicht – wie man irrtümlich glaubte – zu dessen Vorgeschichte«1. Wie auch immer man zu diesem ›radikalen‹ Urteil stehen mag, gilt in jedem Falle: Forschungsgeschichtlich gesehen steht die Frage nach der frühchristlichen Gnosis gegenwärtig nicht mehr im Zentrum des Interesses des ›Neutestamentlers‹. In dieser Hinsicht gibt es vielmehr eher eine ›rückläufige‹ Tendenz, und zwar im Sinne der Rückkehr zu einer primär ›kirchengeschichtlichen‹ bzw. ›häresiologischen‹ Betrachtung der sogenannten Gnosis – eben als ›frühchristliche‹ Gnosis, als Phänomen also nicht mehr primär der spätantiken Religionsgeschichte, sondern der frühen Kirchen- bzw. ›Ketzer‹-Geschichte: »Gnosis«, d.i. nicht mehr – wie einst noch G. Quispel formulierte2 – »a religion of its own right«, also gleichsam eine eigene (und eigenständige) Religion neben – oder möglicherweise sogar vor – dem Christentum, sondern eher eine – wie vor allem der Kirchenvater Irenäus immer wieder betont hat – vom ›Kanon der Wahrheit‹ abweichende ›Häresie‹ und in diesem Sinne zeitlich wie auch sachlich sekundär gegenüber dem eigentlichen (Ur-) Christentum – was zugleich heißt: ›zuständig‹ für die sog. Gnosis ist nicht mehr die spätantike Religionsgeschichte, sondern die Kirchen- bzw. die Ketzer-Geschichte. Das Problem ist damit angezeigt. Ob überhaupt – bzw. inwieweit – es zu lösen ist, ist die Fragestellung der hier vorliegenden Arbeit. Es wird dabei zunächst davon ausgegangen, dass es sich beim ›Urchristentum‹ wie auch bei der frühchristlichen Gnosis um je eigene, ja sogar eigen1 M. Hengel, in: NTS 40 (1994), S. 321–357, hier: S. 330 f.; vgl. bereits ders., Der Sohn Gottes, S. 55. 2 G. Quispel, Art. »Gnosticism«, in: M. Eliade (ed.), The Encyclopedia of Religion V, S. 567.

4

1. Die Fragestellung im Rahmen der gegenwärtigen Forschung

ständige Phänomene handelt. Eigenständig wegen einer je eigenen ›Grundlage‹ dessen, was der Kirchenvater Irenäus die ›Hypothese‹ ( ) der ›rechtgläubigen‹ Kirche einerseits, aber auch der häretischen Gnosis andererseits genannt hat. Die hier bereits naheliegende Frage, ob und inwieweit man sie neben dem Christentum eine eigene, d.h.: eigenständige Religion nennen darf, sei hier zunächst dahingestellt. Eine Alternative zwischen einer kirchengeschichtlichen und einer religionsgeschichtlichen Betrachtung der frühchristlichen Gnosis sollte von daher gesehen auszuschließen sein: ›Gnosis‹, das ist jedenfalls nicht nur sekundär verfälschtes, entartetes Christentum! Vielmehr geht es hier um eine Art komplementärer Zueinanderordnung von Christentum und Gnosis, und zwar in dem Sinne, dass – forschungsgeschichtlich gesehen – jener Wandel von einer primär kirchengeschichtlichen zu einer primär religionsgeschichtlichen Fragestellung im Blick auf das Phänomen der frühchristlichen Gnosis nicht im Sinne einer Ablösung der einen durch die andere Fragestellung zu verstehen ist. Demgegenüber hat K. Koschorke vor Jahren bereits mit Recht geltend gemacht, dass beide Fragestellungen zwar wohl zu unterscheiden, nicht jedoch voneinander zu trennen sind: »Sie haben eher als komplementär zu gelten, da sie sich im Grunde auf parallele Entwicklungen in unterschiedlichen Traditionsbereichen beziehen«3. Einlinige Entwicklungen und Abfolgen – i.S. etwa einer ›Ableitung‹ der frühchristlichen Gnosis aus dem frühen Christentum – sind daher eher unwahrscheinlich, sofern sie ihrerseits ja gnostische oder doch zumindest ›gnostisierende‹ Tendenzen und Implikationen innerhalb des frühen Christentums oder sogar in den Schriften des Neuen Testaments voraussetzen würden, ›Ansätze‹ und ›Tendenzen‹ also, die seitens der frühchristlichen Gnosis ›nur noch‹ auszuführen und zu entfalten waren. Wenn in diesem Zusammenhang beispielsweise B. Aland die Auffassung vertreten hat, dass Gnosis am Ende nichts anderes sei als »Evangeliumsinterpretation«4, dann mag dies zwar gleichsam ›formal‹, was die Benutzung des Neuen Testaments betrifft, zutreffen. Sie lässt jedoch gänzlich außer Betracht, dass der ›Schlüssel‹ zu jener »Interpretation des Evangeliums« doch offensichtlich nicht aus jenem Evangelium selbst stammt, sondern – eben im Sinne einer bestimmten Art von »Evangeliumsinterpretation« – von anderswoher genommen ist. Das Evangelium wird hier auf der Basis oder unter der Voraussetzung einer spezifisch gnostischen ›Hypothese‹, also unter dem hermeneutischen Vorzeichen einer genuin gnostischen Sichtweise von ›Gott, Welt und Mensch‹ und auch des ›Heils‹ des Menschen in einer ihm feindli3 So K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 4. Hier (S. 4–7) überhaupt zum Verhältnis von kirchengeschichtlicher und religionsgeschichtlicher Fragestellung im Blick auf die Gnosis. 4 B. Aland, Gnosis und Kirchenväter, S. 158–215; dies., Gnosis und Christentum, S. 319–350, hier speziell zum Evangelium veritatis (NHC I/3), dessen Konzeption »nur auf dem Hintergrund des Christentums und der Interpretation des Christusereignisses möglich« sei.

1. Die Fragestellung im Rahmen der gegenwärtigen Forschung

5

chen Welt interpretiert. Mit anderen Worten: Gnostische Interpretation des Evangeliums geht von anderen (als den genuin christlichen) hermeneutischen Voraussetzungen, eben von jener genuin gnostischen ›Hypothese‹ aus und lässt jenes Evangelium in einem ganz anderen als dem ursprünglichen, christlichen, Licht erscheinen. Die frühchristliche Gnosis als solche kann jedenfalls nicht aus dem Christentum abgeleitet werden. Sie verdankt sich vielmehr auch und gerade in ihrer Begegnung mit dem Christentum, einem gleichsam von außen her an das Christentum herangetragenen durchaus eigenen Ansatz. Das heißt: Sie verdankt sich eben jener (genuin gnostischen!) ›Hypothese‹, wie sie bereits Irenäus als Zentrum und Ausgangspunkt, vor allem aber auch im Blick auf die Rezeption des Neuen Testaments als hermeneutischen Kanon, im Gegensatz zum kirchlichen »Kanon der Wahrheit«, erkannt hat. Im Unterschied zu einer motivgeschichtlich orientierten Forschung im Blick auf die Relation Frühes Christentum – Gnosis, die primär an der Frage nach Tradition und Interpretation bestimmter einzelner ›Motive‹ (und ›Vorstellungen‹) interessiert ist5, hat eine rezeptionsgeschichtlich orientierte Fragestellung hier zweifellos den Vorteil, dass sie anhand von konkreten frühchristlichen Texten – vorzugsweise aus dem Neuen Testament – wie auch gnostischen Texten eben die eigene Art der Rezeption des frühchristlichen Schrifttums in den überlieferten Texten und Schriften der frühchristlichen Gnosis darzulegen vermag, um am Ende auf dieser Grundlage auch zu den entsprechenden Schlussfolgerungen hinsichtlich der Relation »Frühes Christentum – frühchristliche Gnosis« zu gelangen. Bei alledem wird aber auch deutlich, dass – was den gegenwärtigen Stand der Forschung im Blick auf die Frage »Urchristentum und Gnosis« bzw. »Neues Testament und Gnosis« betrifft – speziell auf diese Frage eine rückläufige Tendenz zu verzeichnen ist. Zu ihrer Zeit vor allem durch die sog. Religionsgeschichtliche Schule aufgeworfene Fragen sind jedoch noch keineswegs beantwortet. Charakteristisch für solchen »Stand der Forschung« ist der Umstand, dass es – zumindest im deutschsprachigen Raum – gegenwärtig nur eine Gesamtdarstellung der »Theologiegeschichte des Urchristentums« gibt, die, da sie von der These ausgehend, dass »die Gnosis älter [ist] als das Christentum«, der (jüdischen!) Gnosis einen entscheidenden Raum in der urchristlichen Theologiegeschichte einräumt6. Die neueren Gesamtdarstellungen der »Theologie des Neuen Testaments« zeigen in dieser Hinsicht, gerade im Vergleich mit der ›klassischen‹ Darstellung von R. Bultmann gesehen, eine zunehmend kritische Einstellung: Wesentlicher Zielpunkt der Kritik ist dabei die von R. Bultmann noch fraglos vorausgesetzte religionsgeschichtliche Hypothese eines (vorchristlichen!) »Erlösermythos« 5 Zur Kritik in dieser Hinsicht vgl. H.A. Green, Gnosis and Gnosticism, S. 98 ff., hier zu: R. Haardt, Zur Methodologie der Gnosisforschung, S. 183–202. 6 W. Schmithals, Theologiegeschichte des Urchristentums.

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1. Die Fragestellung im Rahmen der gegenwärtigen Forschung

bzw. eines Mythos vom »Erlösten Erlöser«. Beides für R. Bultmann noch selbstverständlichen Voraussetzungen seines Gnosis-Verständnisses, die in der Folgezeit zunehmend zurückgetreten sind. Während in R. Bultmanns Darstellung der »Theologie des Neuen Testaments« noch der § 15 unter der Überschrift »Gnostische Motive« die Gnosis einen breiten Raum eingenommen hat, besteht stattdessen in den neueren Darstellungen eine weitgehende Zurückhaltung oder auch ausgesprochene Skepsis in dieser Hinsicht: So z.B. in K. Bergers großräumig angelegter »Theologiegeschichte des Urchristentums« (mit dem Untertitel: »Theologie des Neuen Testaments«): Nicht einmal im Zusammenhang seiner Erörterung der sog. Pastoralbriefe erscheint hier das Stichwort »Gnosis«. Lediglich am Ende, im § 563 unter der Überschrift »Gnostizismus« erscheint das Thema, auch hier freilich wiederum ohne unmittelbaren Bezug auf neutestamentliche Themen und Sachverhalte. Stattdessen lediglich die kryptische Bemerkung: »Gnosis gibt es nur als Gnostizierung von Substraten, die selbst nicht gnostisch waren.« Offensichtlich ein Beispiel dafür, dass »Gnosis« hier am Ende nur noch ultima ratio ist7. Die Darstellung der »Religion der ersten Christen« durch G. Theißen vom Jahre 2000 mit ihrer Analyse der »gnostischen Krise im zweiten Jahrhundert«(!) ist in dieser Hinsicht eher eine Ausnahme8. Gleiches gilt auch für die knappe Darstellung der »Geschichte des frühen Christentums« durch F. Vouga, die gleich zu Beginn im »Vorwort« dem Leser zu verstehen gibt, dass eine »Geschichte des frühen Christentums« sich »nicht darauf begrenzen [darf,] Konsense zu referieren«. Dementsprechend nimmt hier die frühchristliche Gnosis, zumal im Kontext der gnostischen Schriften von Nag Hammadi, neben der sog. Apokalyptik einen relativ breiten Raum ein. Hier insbesondere die »Rezeption der weisheitlichen Tradition im Rahmen eines gnostischen Erlösermythos«9. Hauptquelle dafür ist das koptisch-gnostische Thomasevangelium (NHC II /2), eine Quelle der besonderen Art also – auch dies am Ende ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Selbstverständlichkeit, mit der man noch zur Zeit der sog. Religionsgeschichtlichen Schule gnostische Quellen aus nachweislich nach-christlicher Zeit zur Interpretation des Neuen Testaments herangezogen hat, mit Recht einer begründeten Skepsis gewichen ist. Allenfalls für die sog. Spätschriften des Neuen Testaments, so für die deuteropaulinischen Briefe an die ›Kolosser‹ und die ›Epheser‹, für die ›Offenbarung des Johannes‹, den 1. Johannesbrief, den Judasbrief, nicht zuletzt aber auch für die sog. Pastoralbriefe des Neuen Testaments (1 Tim 6,20!), 7 So die Formulierung von K. Berger, Exegese des Neuen Testaments, S. 199. Hier gilt vielmehr exklusiv das Judentum als »Vermittler religionsgeschichtlicher Einwirkungen auf das frühe Christentum«. Vgl. auch ebd., S. 190 ff. Bezeichnend für diese Sichtweise ist auch, dass das Stichwort »Gnosis« bzw. »Gnostizismus« im Sachregister des Buches fehlt. 8 G. Theissen, Die Religion der ersten Christen, S. 314–326. 9 F. Vouga, Geschichte des frühen Christentums, S. 138 ff.; vgl. auch S. 144 ff.; 190 ff. u.ö.

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ist die Fragestellung ›Urchristentum – Gnosis‹ mit Recht auch weiterhin in Geltung geblieben. Und eben an dieser Stelle ist dann noch einmal die seinerzeit von H. Schlier in seinem Kommentar zum Epheserbrief beklagte »eigentümlich gelehrte Idionsynkrasie« zu nennen, sobald das, was »man (mit einem gewiss unzureichenden Begriff) ›Gnosis‹ und ›gnostisch‹ nennen muss, als Hintergrund neutestamentlicher Texte auftaucht«10. Angesichts solcher Skepsis bleibt im Blick auf den gegenwärtigen Stand der Forschung am Ende noch die Frage zu beantworten, ob und inwieweit die Entdeckung jener Bibliothek gnostischer Originalschriften im ägyptischen Nag Hammadi auch für das hier erörterte Thema ›Urchristentum und Gnosis‹ bedeutsam ist11? Gewiss zunächst in dem Sinne, dass – von den früheren Funden etwa der Pistis Sophia einmal abgesehen – mit den hier entdeckten Originalschriften zum ersten Mal in der Geschichte der Gnosisforschung ein Kriterium zur Beurteilung der entsprechenden Nachrichten (und Exzerpte!) der frühchristlichen Häresiologen gegeben ist. Mit dem Ergebnis, dass die ›Berichterstattung‹ jener Häresiologen – bei aller ihrer Polemik – aufs Ganze gesehen bestätigt wird12. Was in jenen gnostischen Schriften von Nag Hammadi erneut deutlich geworden ist, ist die Vielfalt des Phänomens, das traditionellerweise unter dem Namen ›Gnosis‹ bzw. ›Gnostizismus‹ zusammengefasst wird – mit anderen Worten: Hier, in diesen in einer ›Bibliothek‹ sekundär gesammelten Schriften, tritt uns ein Pluralismus gegenüber, der gleichwohl, bei allen Unterschieden der literarischen Gattungen wie auch in der jeweiligen sachlich – inhaltlichen Ausrichtung, eine bestimmende »Grundlinie« keineswegs ausschließt13. Die Pluralität spricht als solche keineswegs gegen die Gnosis als eine – relativ – in sich geschlossene Größe – ein Sachverhalt, der mutatis mutandis ganz analog auch auf das frühe Christentum selbst zutrifft, wie im übrigen bereits E. de Faye in seiner Darstellung »Gnostique et Gnosticisme« vom Jahr 1925 entsprechend hervorgehoben hat14. 10 H. Schlier, Der Brief an die Epheser. Ein Kommentar, Düsseldorf 1958, S. 133, Anm. 1: »Hier liegt wahrscheinlich eine verborgene dogmatische Befangenheit vor, d.h. aber dann: eine Verwechslung der dogmatischen und der historischen Ebene …«. 11 Zur Geschichte der Forschung in dieser Hinsicht vgl. nur J. M. Robinson, Nag Hammadi: The First Fifty Years, S. 3–23; ders., The Coptic Gnostic Library Today, in: NTS 12 (1967/68), S. 356–401; weiter K. Rudolph, Die Nag Hammadi – Texte in ihrer Bedeutung für die Gnosisforschung: ThR 30 (1958), S. 1–40, sowie: Berliner Arbeitskreis für koptisch-gnostische Schriften, Die Bedeutung der Texte von Nag Hammadi für die moderne Gnosisforschung, in: K.-W. Tröger, Gnosis und Neues Testament, S. 13–76. 12 So z.B. bei H.-M. Schenke, Die Relevanz der Kirchenväter für die Erschließung der Nag Hammadi Texte. 13 Dazu bes. A. Böhlig, Zum Pluralismus in den Schriften von Nag Hammadi, in: Ders., Gnosis und Synkretismus I, S. 229–250. 14 E. de Faye, Gnostique et Gnosticisme, S. 9 f.: »Les mèmes tendances produisent les manifestations les plus variées …«, und ebd.: »Le christianisme apostolique en est un exemple frappant«. Zum einzelnen im Blick auf die Gnosis: ebd., S. 10 f. und S. 439–451 (›diversité‹) sowie S. 453–467 (›unité‹).

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Mindestens ebenso bedeutsam ist, dass in der Bibliothek von Nag Hammadi eine ganze Reihe von gnostischen Originalschriften überliefert ist, die – wie zum Beispiel der sogenannte Eugnostosbrief (NHC III /3) – eindeutig nicht-christlicher Herkunft sind. Darüber hinaus eine Reihe von Schriften, die – ursprünglich offensichtlich nicht-christlicher Herkunft – erst sekundär christianisiert worden sind. Dementsprechend hat bereits A. Böhlig folgende Klassifikation der Schriften von Nag Hammadi vorgeschlagen: 1. Schriften einer eindeutig »christlichen Gnosis«; 2. Sekundär christianisierte Schriften und 3. Judenchristlich-gnostische Schriften15. Und K.-W. Tröger seinerseits ist in dieser Hinsicht einer ›Klassifizierung‹ der Schriften von Nag Hammadi noch einen Schritt weiter gegangen, indem er im Einzelnen zwischen (von vornherein) nicht-christlichen Schriften solche unterschied, »die ihrem Wesen nach nicht-christlich sind, aber doch bestimmte christliche Elemente enthalten«, darüber hinaus zwischen (sekundär!) »verchristlichten Texten« sowie »Schriften, die wesenhaft christlichgnostisch« sind16. Gewiss wird man im Blick auf die hier jeweils genannten Schriften darüber streiten können, ob man den Versuch einer ›Klassifizierung‹ der einzelnen Schriften in der Bibliothek von Nag Hammadi so weit treiben kann, wie hier jeweils vorgeschlagen. Unbenommen davon bleibt gleichwohl, dass in den Schriften von Nag Hammadi – sieht man von den bereits früher entdeckten gnostischen Originalschriften wie der Pistis Sophia (usw.) einmal ab – zum ersten Male in der Geschichte der GnosisForschung schriftliche Zeugnisse einer nicht-christlichen Gnosis zur Verfügung stehen – nota bene: nicht-christliche Zeugnisse, was nicht zugleich heißt: vor-christliche Zeugnisse. Gleichwohl ist dieser Befund in seiner Bedeutung für die Frage nach der Relation von ›Urchristentum‹ und ›Gnosis‹ nicht zu unterschätzen: Auch – und gerade! – jene christlich-gnostischen Schriften von Nag Hammadi bezeugen ja den Sachverhalt, dass sie jeweils von ihrem ›Wesen‹ her genuin gnostische Zeugnisse sind, die als solche von vornherein unter einem gnostischen Vorzeichen stehen – was zugleich heißt: sie dokumentieren den hermeneutischen Sachverhalt, dass hier jeweils das ›genuin christliche‹ unter einem ›genuin gnostischen‹ Vorzeichen rezipiert worden ist – eben unter dem Vorzeichen einer genuin gnostischen ›Hypothese‹. So gesehen bedarf es dann auch keiner Frage, dass im Zusammenhang mit jener Grundfrage der Relation von ›Urchristentum und Gnosis‹ neben dem Originalzeugnis der 15 A. Böhlig, Zur Frage nach Typen des Gnostizismus und seines Schrifttums, in: Ders., Gnosis und Synkretismus I, S. 213–228; ders., Die Bedeutung der Funde von Medinet Madi und Nag Hammadi für die Erforschung des Gnostizismus, in: A.Böhlig/C. Markschies, Gnosis und Manichäismus, S. 113–142. 16 K.-W. Tröger, Altes Testament – Frühjudentum – Gnosis, S. 11–33, hier: S. 19 ff. Zur Fragestellung vgl. auch J. Doresse, The Secret Books, S. 197 ff., sowie M. Krause, in: W. Foerster (Hrsg.), Die Gnosis. Koptische und manichäische Quellen, S. 9–11.

1. Die Fragestellung im Rahmen der gegenwärtigen Forschung

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Schriften von Nag Hammadi – entgegen dem Urteil von A.v. Harnack17 – das entsprechende Zeugnis der altkirchlichen Häresiologen unentbehrlich bleibt. Mit Recht wird deshalb auch in den entsprechenden neueren Stellungnahmen – bei bzw. trotz aller polemischen Ausrichtung – die »Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit« des Zeugnisses der altkirchlichen ›Ketzerpolemik‹ betont18. Insgesamt: Die vorliegende Arbeit geht von der Voraussetzung aus, dass die frühchristliche Gnosis, was ihren Ursprung betrifft, keineswegs lediglich eine frühchristliche »Häresie« bzw. – in ihrer konkreten Gestalt – eine frühchristliche ›Sekte‹ gewesen ist, sondern – bezogen auf die für sie charakteristische ›Grundidee‹ ( ) – eine von ihrem Ursprung her eigenständige Größe gegenüber dem frühen Christentum – ›eigenständig‹ insofern, als hier, im Einzugsbereich des frühen Christentums, das Wesen bzw. die ›Hypothese‹ des Christentums sekundär an die eigene gnostische ›Hypothese‹ – wie Irenäus diesen Vorgang beschrieben hat – ›angepasst‹ wird. Ob so gesehen von der ›Gnosis‹ als einer eigenständigen ›Religion‹ (neben dem Christentum!) gesprochen werden kann, sei hier zunächst noch dahingestellt. Kein Zweifel allerdings besteht darüber, dass auch und gerade die neuere Forschungsgeschichte im Blick auf die Frage ›Christentum und Gnosis‹ in eben diese Richtung weist. Dies gilt auch dann, wenn man feststellt, dass die jüngere und – zum Teil auch – die gegenwärtige Forschungssituation in dieser Hinsicht ein mitunter geradezu verwirrendes Bild offenbart: Paradigmatisch ist in dieser Hinsicht die Problematik, ebenso aber auch das den Fortgang der Forschung widerspiegelnde Votum des Kirchen- und Dogmengeschichtlers K. Beyschlag: In dem i.J. 1969 publizierten Beitrag »Die verborgene Überlieferung von Christus« war er noch zu der Überzeugung gelangt, dass die christliche Gnosis »als Ganze … zunächst der christianisierte Ausläufer einer auch außerhalb des Christentums(!) verbreiteten Spätform orientalisch-spätantiker Religionsgeschichte« sei, die – wie es hier weiter heißt – »zum ersten Mal den systematischen Versuch unternahm, das gesamte Christentum von einem einzigen Grundgedanken aus, nämlich als radikale Erlösungsreligion zu verstehen«. In diesem Sinne gehört diese ›außer-christliche‹ Gnosis denn auch zu den »Voraussetzungen der christlichen ›Dogmengeschichte‹«19. Eben diese Position wird dann noch einmal 17 A.v. Harnack, Geschichte der altchristlichen Literatur bis Eusebius. Erster Teil: Überlieferung und Bestand, Leipzig 1893, S. 143: »Endlich haben sie [sc.: die Kirchenväter] diese Lehren der Häretiker an ihren eigenen Systemen gemessen, falsche Fragestellungen an sie herangebracht. Die eigentlichen Motive derselben verkannt oder nicht erkennen wollen, das Paradoxe … oder wirklich Absurde in den Vordergrund geschoben, das Ernste, Wahrhaftige und Gemein-Christliche unterdrückt und sich überhaupt von den Forderungen der Gerechtigkeit und der Beobachtung des achten Gebotes in bemerkenswerter Weise dispensiert«. 18 Vgl. z.B. H.-M. Schenke, Die Relevanz der Kirchenväter für die Erschließung der Nag Hammadi-Texte, S. 209–218; zur Fragestellung vgl. auch F. Wisse, The Nag Hammadi Library and the Heresiologists, S. 205–223. 19 K. Beyschlag, Die verborgene Überlieferung von Christus, S. 13.

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erneuert, wenn es in K. Beyschlags »Grundriss der Dogmengeschichte«, und zwar in der zweiten Auflage vom Jahre 1988(!), heißt, dass der ›Gnostizismus‹, keineswegs »von Hause aus eine genuin christliche Erscheinung« sei, sondern »vielmehr ein eigenes religionsgeschichtliches Gebilde, das freilich erst unter frühchristlichem Einfluss zu voller Entfaltung gelangte«20. Angesichts solcher – zunächst so eindeutigen – Stellungnahme hinsichtlich der zeitlichen wie auch sachlichen Positionierung der frühchristlichen Gnosis erstaunt es dann umso mehr, wenn derselbe Autor in seinen Beiträgen zur »Simon Magus-Frage« von 1971 und 1974 zu einer offensichtlich gänzlich anderen Auffassung bezüglich der zeitlichen Ansetzung der frühchristlichen Gnosis gelangt ist21: »Schließlich gibt es auch keine vorchristliche ›Christusgnosis‹ oder ähnliches. Was sich so nennt, ist eine fixe Idee der Wissenschaft, mehr nicht« oder: »Christliche Gnosis bedeutet die Übersetzung des urchristlichen Glaubens in ein mythologisch-theosophisches Denksystem; damit gehört diese Erscheinung nicht mehr ins nt.liche Zeitalter, sondern unter die Voraussetzungen der altkirchlichen Dogmengeschichte, also ins 2. Jahrhundert«22. K. Rudolph hat seine Kritik an solcher Position in seinem Beitrag: »Simon-Magus oder Gnosticus?« unter die Überschrift gestellt: »1. Zur Methode. Vom Sinn und Unsinn falscher Gegensätze: Religionsgeschichte oder historische Kritik?«23. Gleichwohl belegt dieses ›besondere‹ Exempel auf seine Weise einmal mehr die Gesamtproblematik einer bis heute andauernden Debatte um die Grundfrage einer vor-christlichen oder nach-christlichen (oder auch: außer-christlichen!) Gnosis – bis hin zu der von R. McL. Wilson favorisierten Hypothese, dass es im Verhältnis von ›Urchristentum und Gnosis‹ »vor einer Periode gegenseitiger Abgrenzung« auch – und zunächst! – eine »Periode gegenseitiger Durchdringung« gegeben habe24 Dies schließt im Übrigen nicht aus, dass ›Abgrenzung‹ und ›Durchdringung‹ – oder wie 20

K. Beyschlag, Grundriss der Dogmengeschichte I, S. 146. K. Beyschlag, Zur Simon Magus-Frage (1971), sowie: Simon Magus und die christliche Gnosis (1974). Kritisch dazu: K. Rudolph, in: ThR 42 (1977), S. 281 ff., bes. S. 284 f. 22 So K. Beyschlag, Zur Simon Magus-Frage (1971), S. 426. Immerhin ist in diesem Zusammenhang auf die Anm. 66 desselben Beitrages zu verweisen, hier speziell auf den Hinweis auf die Sprachregelung von A. Böhlig (in: W. Eltester, Christentum und Gnosis, S. 2, Anm. 5), wonach »die Bezeichnung ›vorchristliche Gnosis‹ nicht gleichzusetzen ist mit einer Gnosis ante Christum natum, sondern einer Gnosis, die der christlichen Gnosis des 2. Jh.s vorausgeht«. Zu vergleichen ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch die Unterscheidung »außer- bzw. nicht-christlich und vorchristlich« bei K. Beyschlag, Grundriss der Dogmengeschichte I, S. 150. 23 So K. Rudolph in: ThR 42 (1977), S. 281 ff.; vgl. auch ebd., S. 288: »Die ›Ableitung‹ der Gnosis aus dem Christentum …, wie sie sich B. offenbar vorstellt, würde es [sc.: das Christentum!] zu einer Chimäre machen, die historisch (aber auch theologisch!) nicht zu begreifen wäre«, und: »Die christliche Gnosis lässt sich für mich nur verstehen, wenn hier eine Symbiose (Adaption, ›Vermischung‹ oder wie man es zunächst nennen möchte) von unterschiedlichen religiösen Auffassungen und Traditionen erfolgt ist …«. 24 R. McL. Wilson, Gnosis und Neues Testament, S. 34 f. 21

1. Die Fragestellung im Rahmen der gegenwärtigen Forschung

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immer man dies bezeichnen mag – gleichsam ›gleichzeitig‹ praktiziert worden sind. Auf solche Weise würden sich dann auch die bisher in dieser Hinsicht vorherrschenden Alternativen ›vor-christlich – nach-christlich‹ als fragwürdig bzw. unzureichend erweisen bzw. durch die Kategorie des ›Nicht-‹ bzw. ›Außerchristlichen‹ gleichsam überholt werden25. Entscheidend bzw. grundlegend ist in jedem Falle, im Urchristentum wie auch in der frühchristlichen Gnosis, unter welchen (hermeneutischen) Voraussetzungen jeweils die biblische bzw. – genauer – die neutestamentliche Überlieferung ›angeeignet‹ bzw. rezipiert wird: unter einem genuin christlichen oder unter einem genuin gnostischen Vorzeichen, wobei gewiss im einzelnen auch zu berücksichtigen ist, dass gewisse Ansätze oder auch Tendenzen zu einer ›dualistischen‹ Weltund Menschensicht in bestimmten Schriften der biblisch-neutestamentlichen Überlieferung durchaus gegeben sind (und damit jene für die frühchristliche Gnosis charakteristische ›Anpassung‹ der eigenen Grundposition an jene Überlieferung zumindest erleichtert haben). So gesehen ist es auch keine Frage, dass jede Rede von einem christlichen Ursprung der Gnosis – sofern man überhaupt so formulieren will! – eines ›Kommentars‹ bedarf, wann und wo es eigentlich in der Geschichte des frühen Christentums zu jenem ›Sprung‹ von einem genuin christlichen zu einem genuin gnostischen Grundverständnis von ›Gott, Welt und Mensch‹ gekommen ist. Demgegenüber liegt es auf der Hand, dass die Frage nach der ›besonderen Art‹ der Rezeption der biblisch-neutestamentlichen Überlieferung in der frühchristlichen Gnosis für die Frage nach einem (wenn nicht vor-, so doch) außer- bzw. nicht-christlichen Ursprung der Gnosis einen gänzlich neuen Stellenwert erhält, und zwar auch über die chronologische Frage der Existenz von nachweislich vor-christlichen gnostischen Quellen hinaus. Bevor diese Frage im Einzelnen im 3. Kapitel erörtert wird, ist zuvor noch – im 2. Kapitel – nicht nur dem Problem der nach wie vor umstrittenen Terminologie ›Gnosis‹ – ›Gnostizismus‹ nachzugehen, sondern zunächst – im Sinne einer Art ›religionsgeschichtlicher Grundlegung‹ – der Frage nach dem ›Ort‹ des Urchristentums wie auch der Gnosis in der spätantiken Religionsgeschichte sowie in dem für diese Phase der antiken Religionsgeschichte charakteristischen ›Synkretismus‹.

25 Vgl. dazu bereits H.-M. Schenke, The Phenomenon and Significance of Sethian Gnosticism, S. 607, sowie K. Rudolph, Art. ›Gnosticism‹, in: The Anchor Bible Dictionary II , p. 1035: »It is of great importance that the discovery [sc.: of Nag Hammadi] presents us with both Christian and non-Christian writings … That is, the writings confirm the independence of Gnostic from Christian writers, and so corroborats the thesis of non-Christian origin of gnostic teaching«. Vgl. in diesem Zusammenhang aber auch K. Beyschlag, Grundriss der Dogmengeschichte I, S. 150: »es gibt wohl ›außerchristliche‹ gnostische Zeugnisse, dagegen strenggenommen keine ›vorchristlichen‹ …«.

2. Kapitel

Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte 2.1 Das Urchristentum als Phänomen der spätantiken Religionsgeschichte Die Tatsache, dass das ›Urchristentum‹ bzw. – wie man gegenwärtig in Anlehnung an die eingehende Analyse des Begriffs durch St. Alkier formuliert1 – das ›frühe Christentum‹, unter religionsgeschichtlichem Aspekt gesehen, seinen ursprünglichen historischen Ort im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte hat, ist generell gewiss nicht zu bestreiten, und dies umso weniger, wenn man in den Horizont dieser Fragestellung auch das spätantike Judentum sowie das ›Hellenistische Judentum‹ einbezieht. Die entsprechenden Grundsätze in dieser Hinsicht hat bereits R. Bultmann in seiner Darstellung »Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen« vom Jahr 1949 formuliert: »Wird das Urchristentum im Rahmen dieser historischen Zusammenhänge verstanden, so soll es damit nicht etwa als das notwendige Produkt einer historischen Entwicklung begriffen werden. Es ist das so wenig wie alle großen historischen Phänomene. Aber sein selbstständiger Sinn und sein eigenes Gepräge werden gerade dann erkennbar, wenn es im Zusammenhang mit der Welt, in der es erwuchs, gesehen wird«2. Ohne Frage gilt dies auch für jene Epoche seiner Frühgeschichte, in der das Christentum mit dem Anspruch einer universal ausgerichteten ›Weltreligion‹ die Grenzen des Judentums programmatisch überschritt, sich in der Folgezeit vom Judentum weitgehend ablöste und in die hellenistisch-heidnische Welt eintrat – mit allen Konsequenzen für die Um- und Neuformulierung des spezifisch ›christlichen‹ Kerygmas an jenem neuen Ort. Wiederum R. Bultmann hat seinerzeit im Blick auf diese Entwicklung von einem geradezu »geschichtlich notwendigen Vorgang« gesprochen3. Will man in dieser Hinsicht noch einen Schritt weitergehen, so darf man geradezu formulieren: Dass die christliche Gemeinde den ihr angemessenen Ort in der spätantiken Welt – und damit auch in der spätantiken Religionsgeschichte! – gefunden hat, ist 1 St. Alkier, Urchristentum, hier bes. S. 255–266. Zum Problem in dieser Hinsicht vgl. H.-F. Weiss, Art. Urchristentum, in: HwbPh 11, Sp. 356–359. 2 R. Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, S. 7. 3 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, S. 167.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

am Ende nichts anderes als die notwendige Konsequenz des christlichen Glaubens selbst: im Sinne nämlich jener ›Fleisch- bzw. Weltwerdung‹ des Logos von Joh 1,14. Welche Spannungen und Probleme aus diesem Grundsachverhalt für die je aktuelle Konkretion des ›Kerygmas‹ der christlichen Gemeinde erwuchsen, ist offensichtlich und wird durch die in jener Missions-Situation verfassten Briefe des Apostels Paulus, so insbesondere durch seinen 1. Korintherbrief, aufs deutlichste dokumentiert. In dem Sinne, dass es – von Anfang an – darauf ankam, die mit jenem Übergang in die spätantike Welt verbundenen Probleme einer dem ursprünglichen ›Evangelium‹ angemessenen Sprache auch ›entsprechend‹ zu reflektieren. Forschungsgeschichtlich gesehen sind jene Probleme und Fragestellungen vor allen in jener Zeit ins Zentrum gerückt, in der in Kirche und Theologie das Bewusstsein des zunehmenden Abstandes von jener ›Ur-Zeit‹ aufkam – und damit auch die Erkenntnis und die Reflexion der mit der Sprache der biblischen Überlieferung vorgegebenen (allgemein-religiösen) Implikationen. Mit anderen Worten: Zum Gegenstand der theologischen Reflexion in diesem Sinne ist die Frage nach der Relation ›Urchristentum – Religionsgeschichte‹ vor allem in der Neuzeit geworden, und zwar mit der Erkenntnis, dass das Urchristentum weit über seinen ursprünglichen Ort im Judentum hinaus ein integrierender Bestandteil der spätantiken Religionsgeschichte geworden ist. In welchem Maße solche Integration des Urchristentums in die spätantike Religionsgeschichte in den entsprechenden Publikationen der Repräsentanten der ›Religionsgeschichtlichen Schule‹ im Einzelnen vorangetrieben worden ist, ist an dieser Stelle nicht im Einzelnen auszuführen. Mitunter ist dies auch auf eine durchaus radikale – und damit auch missverständliche – Weise geschehen und hat so – verständlicherweise – auch gewisse Irritationen ausgelöst, beispielsweise im Sinne einer ›Auflösung‹ gleichsam des ›Eigenen‹ und ›Besonderen‹ des Urchristentums in jene ›allgemeine‹ hellenistische Religionsgeschichte; hier freilich weniger im Blick auf die ›materialen‹ Probleme der Fragestellung, als vielmehr angesichts der grundsätzliche Frage nach dem ›Eigenen‹ bzw. ›Besonderen‹ des Christentums angesichts seiner so weitgehenden Zuordnung zur ›allgemeinen‹ Religionsgeschichte4. Wenn es denn also überhaupt so etwas wie eine bestimmte ›Methode‹ der religionsgeschichtlichen Arbeit am Neuen Testament bzw. an der biblischen Überlieferung gibt, dann sollten dabei die Kategorien von Kritik – im Sinne von ›Unterscheidung‹! – und Differenzierung unentbehrlich sein, und 4 Zu den entsprechenden Thesen der »Religionsgeschichtlichen Schule« vgl. G. Lüdemann/A. Özen, Art. Religionsgeschichtliche Schule, in: TRE 28, S. 618–624; speziell zum »Urchristentum«: A. Scriba, Art. Religionsgeschichte des Urchristentums, in: TRE 28, S. 604– 617, sowie K. Müller, Die religionsgeschichtliche Methode, in: BZ N.F. 29 (1985), S. 161– 192, hier: S. 163 ff.

2.1 Das Urchristentum als Phänomen der spätantiken Religionsgeschichte

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zwar über allem vordergründigen Vergleich hinaus, der lediglich die Analogien und Entsprechungen im Blick hat. Von daher gesehen besteht denn auch – bei aller notwendigen Kritik an der Arbeit der ›Religionsgeschichtlichen Schule‹ im Einzelnen – durchaus kein Anlass zu radikaler Skepsis. Die Grunderkenntnis jener ›Schule‹ sollte jedenfalls unbestritten bleiben, nämlich, das Neue Testament in allen seinen Schriften als das authentische Dokument des ›Ur-Christentums‹ an seinem ursprünglichen historischen Ort – und damit zugleich aus der ihm eigenen ›Lebenswelt‹ heraus zu verstehen. Wenn sich dabei im Übrigen in neuerer Zeit – im Unterschied zu dem einst von W. Bousset favorisierten ›hellenistische-synkretistischen‹ Interpretationsmodell – das Interesse primär auf die Relation Judentum – Urchristentum konzentriert, so sollte dieses Interpretationsmodell angesichts des eindeutigen Ursprungszusammenhang Judentum – Urchristentum keineswegs überschätzt oder gar ›jüdische Umwelt‹ einerseits und ›nicht-jüdische‹ Umwelt andererseits gegeneinander ausgespielt werden: Vor Jahrzehnten bereits hat M. Hengel darauf aufmerksam gemacht, dass sich in dieser Hinsicht der religionsgeschichtliche Ausgangspunkt von Bousset-Greßmann in ihrer Darstellung der »Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter« im Grunde bestätigt hat: »Auch das Judentum jener Zeit konnte sich den vielfältigen Einflüssen teils ›synkretistischer‹, teils popularphilosophischer Art nicht entziehen«, und dies eben nicht nur im Raum des ›hellenistischen‹ Judentums in der Diaspora – vielmehr: »selbst das Mutterland, Palästina, machte hiervon keine Ausnahme«5. So gesehen erweisen sich alle alternativen Fragestellungen wie auch die darauf beruhenden Modelle als unangemessen, insbesondere dass ein ›genuin jüdisches‹ und ein ›genuin hellenistisches‹ Modell gegeneinander ausgespielt werden6 – etwa in dem Sinne, dass das letztere bereits als solches dem ›Wesen des Christentums‹ unangemessen sei. Die in diesem Zusammenhang immerhin naheliegende Frage, ob – im letzteren Falle – in jenen ›Hellenismus‹ möglicherweise auch die ›Gnosis‹ einzubeziehen sei, wird gegenwärtig zwar weithin vehement bestritten7, bleibt jedoch solange aktuell, solange man mit einem gewissen Recht die Auffassung vertreten kann, dass dieses Phänomen der spätantiken Religionsgeschichte, was jedenfalls den ihm eigenen – eben spezifisch ›gnostischen‹ – Ansatz und Ausgangspunkt betrifft – wenn schon nicht vor-christlicher, so doch jedenfalls nicht-christlicher Herkunft ist.

5 Dies ist eine der Hauptthesen der Darstellung von M. Hengel, Judentum und Hellenismus, S. 1 ff. sowie S. 56 ff. 6 Vgl. dazu die Kontroverse zwischen K. Holl und R. Bultmann unter der Überschrift »Urchristentum und Religionsgeschichte« in: K. Holl, Ges. Aufsätze zur Kirchengeschichte II , Tübingen 1928, S. 1–32 und R. Bultmann, in: ThR N.F. 9 (1932), S. 1–21. 7 H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums I, S. 204 ff.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

Grundsätzlich – um dies wenigstens in diesem Zusammenhang doch noch zu betonen – besteht gegenwärtig Übereinstimmung zumindest darin, dass jede religionsgeschichtliche Arbeit am Neuen Testament nicht darauf ausgerichtet ist, die ›Religion‹ des Neuen Testaments in ihre ursprüngliche religionsgeschichtliche Umwelt hinein zu nivellieren. Demgegenüber hat W. Bousset bereits im Jahre 1904 betont8, dass man bei solcher Art von Forschung »Gefahr laufe, das Christentum ganz in den Strom der Entwicklung hinabzuziehen …, alles zu neutralisieren und zu relativieren«; es ist derselbe W. Bousset gewesen, der (am selben Ort) zugleich formuliert hat: »Das wäre ein schlechter Religionshistoriker …, dem nicht von hier wieder und wieder die im unbegreiflichen und im wunderbaren liegende schöpferische Kraft des Evangeliums und der Person Jesu aufginge«, was für W. Bousset zugleich heißt: »Die durchgeführte religionsgeschichtliche Betrachtung wird erst recht und mit neuen Mitteln die universale Kraft und Bedeutung der christlichen Religion herausstellen, die sich nicht in der Isolierung und der Einsamkeit, sondern gerade in der Wechselwirkung, der lebendigen Anregung, Durchdringung und Beherrschung fremder Stoffe bewährt«9. Inwieweit W. Bousset selbst bei solcher Benennung seines Arbeitszieles im Einzelnen stets seinem eigenen Kriterium gerecht geworden ist, kann man – aufs Einzelne gesehen – gewiss fragen, so z.B. im Sinne der insbesondere von H. Jonas geltend gemachten Kritik10. Was jedoch sein hier bewusst ausführlich zitiertes Votum als solches betrifft, so ist ihm angesichts jener grundsätzlichen Bedenken gegen jede religionsgeschichtliche Arbeit am Neuen Testament im Grunde nichts hinzuzufügen – allenfalls dies noch: Wenn es denn gilt, bei der Bestimmung des Ortes des Urchristentums in der spätantiken Religionsgeschichte auf ›das Eigene‹ bzw. auf ›das Besondere‹ des Christentums – wie im Übrigen auch der Gnosis! – zu achten und somit nicht lediglich bei dem Aufweis von ›Analogien‹, ›Einflüssen‹ und ›Abhängigkeiten‹ stehenzubleiben sowie – gegebenenfalls – auch ›genetische Zusammenhänge‹ zu rekonstruieren, sondern über all’ dies hinaus jene ›Zusammenhänge‹ jeweils in ihrer Ausrichtung auf eine je neue und andere Sinnmitte hin zu verstehen11; wenn also dies alles gilt, dann bedarf es in der Tat einer dem jeweiligen ›Gegenstand‹ angemessenen Methode der religionsgeschichtlichen Analyse. Spätestens an dieser Stelle geht die Grundfrage nach dem Ort des Urchristentums in der spätantiken Religionsgeschichte unmittelbar in die Frage nach der hier jeweils angemessenen Methode über: 8 W. Bousset, Die Religionsgeschichte und das Neue Testament III , in: ThR 7 (1904), S. 353–365, hier: S. 364 f. 9 Ebd. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die These von W. Anz, Zur Frage nach dem Ursprung des Gnostizismus, S. 88: Die »Zentrallehre des Gnostizismus« sei als solche bereits »ein Produkt der Religionsmischung«. Dazu: H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 25–27. 10 H. Jonas, ebd. I, S. 27–49, hier bes. S. 34 ff. 11 Eben in diese Richtung geht die Kritik von H. Jonas an der »Religionsgeschichtlichen Schule«.

2.1 Das Urchristentum als Phänomen der spätantiken Religionsgeschichte

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Es ist vor allem K. Müller gewesen, der sich in seiner Studie »Die religionsgeschichtliche Methode. Erwägungen zu ihrem Verständnis und zur Praxis ihrer Vollzüge« dieser Frage angenommen hat, und zwar mit der Konsequenz, dass das im jeweiligen Falle methodische Instrumentarium dem jeweiligen Gegenstand der Untersuchung entsprechen sollte12. So gesehen gäbe es eigentlich gar nicht eine ›eigene‹ religionsgeschichtliche Methode, sondern lediglich »bestimmte Kategorien …, in denen Textvergleiche vollzogen werden«13. Grundlegend dafür ist – nach dem entsprechenden Votum von K. Rudolph – »die philologisch-historische Methode, die von der komparativ-systematischen [Methode] begleitet und ergänzt wird. In dieser Kombination lässt sich eine religionswissenschaftliche Methodik am besten beschreiben«14. Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt darauf hinzuweisen, dass zur Frage einer sachgemäßen Methodik des religionsgeschichtlichen Vergleichs vor Jahrzehnten bereits H. Jonas bestimmte Maßstäbe gesetzt hat, die auch gegenwärtig noch, in einer speziell im Blick auf die Gnosisforschung erheblich veränderten Situation, Beachtung verdienen15. Demgemäß sollten Kategorien wie ›Ähnlichkeit‹, ›Parallele‹, ›Analogie‹, ›Einfluss‹, ›Abhängigkeit‹ (usw.) nicht mehr zum Standard der religionsgeschichtlichen Analyse gehören – denn: keineswegs jede ›Analogie‹ impliziert als solche bereits zugleich auch eine ›Genealogie‹ – ganz abgesehen davon, dass es im weiten Feld der Religionsgeschichte auch ›analoge‹ Phänomene gibt, die sich nicht bereits als solche in eine ›Genealogie‹ hinein verrechnen lassen16. Und im Übrigen: »Man sollte nicht immer nur mit ›Einflüssen‹ von der einen Religion auf die andere rechnen, sondern auch mit endogenen (d.h. inneren, eigenständigen) Entwicklungen in jeder einzelnen der verglichenen Religionen« – denn: »Es gibt offenbar die Möglichkeit paralleler Entwicklungen in benachbarten Bereichen auf Grund gleichartiger historischer und sozialer Voraussetzungen«17. Und nicht zuletzt in diesem Zusammenhang: Die von R. Bultmann vor Jahrzehnten bereits formulierte Dialektik von »Anknüpfung und Widerspruch« schließt als solche bereits eine gewisse Dynamik ein, die auch gegenwärtig noch geeignet ist, über jene eher statischen Kategorien von ›Einfluss‹, ›Abhängigkeit‹ (o.ä.) hinauszuführen18. Entsprechendes gilt auch für die Kategorien der ›Metamorphose‹, der 12

K. Müller, in: BZ N.F. 29 (1985), S. 161 ff. K. Rudolph, Grundprobleme der Religionswissenschaft, in: Ders., Geschichte und Probleme der Religionswissenschaft, S. 67–80, hier S. 74 f. 14 K. Rudolph, ebd. 15 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 1–91; »Zu Geschichte und Methodologie der Forschung«. 16 Vgl. zum Ganzen die Überlegungen »zur Methodik des religionsgeschichtlichen Vergleichs« bei K. Berger, Exegese des Neuen Testaments, S. 186 ff. 17 Ebd., S. 191. 18 R. Bultmann, Anknüpfung und Widerspruch, in: Ders., Glauben und Verstehen II , S. 117–132. In diesem Sinne bedarf es in der Tat, was die religionsgeschichtliche Fragestellung betrifft, einer »neuen methodischen Besinnung«. So K. Müller, in. BZ N.F. 29 (1985), S. 161. 13

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

›Transposition‹ und – gewiss nicht zuletzt in diesem Zusammenhang – für die Kategorie der ›Rezeption‹, die ja als solche bereits das ›Element‹ einer (bestimmten) ›Aufnahme‹ oder ›Aneignung‹ in sich schließt und insofern von vornherein geeignet ist, über jene eher ›statischen‹ Kategorien der Forschung hinauszuführen, von Kategorien wie ›Transformation‹ oder auch ›Metamorphose‹ ganz zu schweigen. Rezeption also als eine Kategorie, die – in der Weise jedenfalls, wie sie in der sog. Konstanzer Schule von W. Iser, H.R. Jauß u.a. ausgearbeitet und definiert worden ist – so etwas wie einen Paradigmenwechsel für eine ihrem Gegenstand angemessene Methodik der religionsgeschichtlichen Arbeit am Neuen Testament bedeuten könnte: Und dies ganz im Sinne des Diktums des Ps.-Aristoteles, Liber de causis (propr. 10): Quidquid recipitur, ad modum recipientis recipitur. Dementsprechend ist derjenige, der Tradition – welcher Art auch immer – ›empfängt‹ bzw. ›übernimmt‹, immer zugleich derjenige, der sie, jene Tradition, sich selbst gleichsam ›aneignet‹, und dies durchaus i.S. der Kategorien von ›Anknüpfung und Widerspruch‹19. Was in diesem Zusammenhang ein bestimmtes Maß an Kontinuität der Forschungsgeschichte, und zwar speziell im Verhältnis zur Religionsgeschichtlichen Schule, anbelangt, so ist hier vor allem auf zwei neuere Arbeiten hinzuweisen, die – jede auf ihre Weise – das Thema einer gegenwärtig zu verantwortenden religionsgeschichtlichen Methodik wiederum im Rückbezug auf die Methodik der »Religionsgeschichtlichen Schule« verbinden. Diese Arbeiten treten damit zugleich jenem Vorurteil entgegen, es sei den Vertretern jener Schule ihrer Zeit lediglich um eine Sammlung von (wirklichen oder auch nur vermeintlichen) ›Parallelen‹ gegangen – und damit nicht zugleich um das, was man in der gegenwärtigen Forschungslage vor allem mit dem Stichwort der ›Rezeption‹ verbindet. Bei diesen neueren Arbeiten handelt es sich um die Arbeit von H. Paulsen mit dem Titel »Traditionsgeschichtliche Methode und religionsgeschichtliche Schule« sowie um den Aufsatz von K. Müller unter der Überschrift »Die religionsgeschichtliche Methode«20. Beide Aufsätze weisen darauf hin, dass bereits in der ›alten‹ Religionsgeschichtlichen Schule Überlegungen zum Thema »Tradition, Traditionsbildung und Traditionsgeschichte« ihren Ort hatten und auf diese Weise auch hier schon die Frage nach der Rezeption von Tradition den ihr angemessenen Ort hatte. Bereits hier, in der alten Religionsgeschichtlichen Schule, sind in diesem Sinne Erkenntnisse ›vor-gedacht‹ und damit auch vorbereitet worden, die für alle Fragen nach einer gegenwärtig zu verantwortenden religionsgeschichtlichen Methodik durchaus ihre Aktualität behalten haben. 19

Vgl. den entsprechenden Artikel von H.R. Jauss, in: HwbPh 8, Sp. 996–1004. H. Paulsen in: Ders., Zur Literatur und Geschichte des frühen Christentums, S. 426– 461; K. Müller, in: BZ N.F. 29 (1985), S. 161–192. 20

2.1 Das Urchristentum als Phänomen der spätantiken Religionsgeschichte

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In diesem Sinne hat die moderne Erkenntnis der sog. Rezeptionsästhetik in jener alten Religionsgeschichtliche Schule durchaus ihre Vorläufer, konkret vor allem wohl darin, dass die im Verlauf des Traditionsprozesses vorgegebenen Motive im Prozess der Traditionsvermittlung (und damit auch im Verlauf der Traditionsgeschichte) in einen neuen Kontext (und Sinnzusammenhang) gestellt und auf diese Weise zugleich neu akzentuiert bzw. neu zentriert, also rezipiert werden. Im Übrigen ist bei alledem zu beachten, dass solch neue Erkenntnisse in der Forschungsgeschichte bereits ihre ›Vorläufer‹ hatten: So hat W. Wrede in seiner Rezension zu H. Gunkels »Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit« vom Jahre 1895 auf die grundlegende Bedeutung dieses Werkes »für die Religionsgeschichte überhaupt« hingewiesen21. Auch wenn dabei, was H. Gunkel selbst betrifft, der Akzent zunächst »stärker auf der Vorgeschichte der Stoffe und damit auf der Archäologie des zu analysierenden Textes liegt«, ist doch nicht zu übersehen, dass für H. Gunkel – wie H. Paulsen formuliert22 – »die Konstituanten traditionsgeschichtlicher Analyse in der genauen Erfassung der Geschichte einer Überlieferung von ihrem Beginn bis zu ihrer letzten Rezeption beschlossen liegen«. Auf diese Weise aber rückt, wie wiederum derselbe Autor formuliert, »der Rezeptionsprozess die Aufnahme der Überlieferung in den Mittelpunkt methodischer Überlegungen« – und damit zugleich auch die »hermeneutische Bewegtheit(!) in Traditionsübernahme und Neuinterpretation« bzw. das »Miteinander von Tradition und Innovation«. Und in diesem Sinne endlich: Das »bloße Suchen nach Analogien oder die Betonung von Abhängigkeiten« wäre auf diese Weise überwunden, vielmehr wäre »in einem Prozess zwischen Gewordenem und Neuen … gerade der Innovation ein erheblicher Rang zuzuweisen …«. Und nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang auch auf eine analoge Methodik bereits bei W. Bousset in seiner Studie »Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum« vom Jahr 1892 hinzuweisen. Diese Studie ist gewiss mehr als nur – wie ihr Verfasser einst formulierte – »ein religionsgeschichtlicher Vergleich«. Das methodische Modell, an dem der Verfasser sich hier orientierte, ist – jedenfalls seiner eigenen Absicht zufolge – »das von Kontinuität und Diskontinuität« bzw. »das von Traditionsabhängigkeit und Traditionsbruch« und ist auf diese Weise durchaus der »hermeneutischen Bewegtheit von Traditionsübernahme und Neuinterpretation« verpflichtet23. Bemerkenswert ist schließlich auch die Kritik, die – sehr viel später – der Philosoph H. Blumenberg in seinem Aufsatz »Epochenschwelle und Rezep21 W. Wrede, in: ThLZ 21 (1986). Sp. 623–631. Dazu: H. Paulsen, Zur Literatur und Geschichte des frühen Christentums, S. 428, Anm. 8: »Als Meisterstück einer wissenschaftlichen Rezension ist vor allem die Besprechung von W. Wrede zu nennen … Wrede stimmt nicht allein grundsätzlich Gunkel zu, sondern hat auch die methodische Bedeutung nicht übersehen, die Gunkel’s Methode für die Religionsgeschichte überhaupt besitzt …«. 22 H. Paulsen, a.a.O., S. 431. 23 H. Paulsen, a.a.O., S. 440 f.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

tion« an dem Konzept von »Geistesgeschichte« in C. Schneiders »Geistesgeschichte des antiken Christentums« vom Jahre 1954 geäußert hat, und zwar im Sinne einer funktionalen Interpretation der Aussagen statt einer nur ›morphologischen‹: »Zwar«, so heißt es hier, »ist eine gegebene Sprache immer schon ein Sinnhorizont, innerhalb dessen vorgeprägt ist, was gesagt werden kann; aber ebenso gilt auch, dass die Sprache ihrerseits dem Bedeutungswandel ausgesetzt ist unter dem Druck dessen, was gesagt werden muss« – mit der Schlussfolgerung: »Funktionale Interpretation verlangt demgemäß die Zuordnung der uns vorliegenden Aussagen zu den je akuten Problemen«24. Anzustrebendes Ziel aller religionsgeschichtlichen Arbeit an der ›Urkunde‹ des Urchristentums, dem Neuen Testament, wäre dementsprechend über alle Feststellung religionsgeschichtlich aufweisbarer ›Abhängigkeiten‹ oder auch ›Einflüsse‹ hinaus nicht eine Nivellierung des Urchristentums in seine religionsgeschichtliche Umwelt hinein, sondern – ganz im Gegenteil – die Erhebung der eigenen Art von Rezeption frühjüdischer und fremdreligiöser Stoffe im Neuen Testament. Bei alledem sollte es sich dann von selbst verstehen, dass jene Frage nach der Besonderheit bzw. Eigenart des Urchristentums an seinem historischen Ort (noch) nichts zu tun hat mit einer Art ›historischen Beweises‹ für die Wahrheit des christlichen Glaubens im Unterschied und Gegensatz zu den Religionen seiner ursprünglichen Umwelt. Und im Kontext des Themas ›Urchristentum und Gnosis‹ gilt dies ebenso auch für die Gnosis, die am annähernd selben Ort in der spätantiken Religionsgeschichte ja auch ihrerseits ihren eigenen, genuin gnostischen ›Logos‹ hatte, ihr ›Besonderes‹ oder – um es mit dem antignostischen Häresiologen Irenäus zu formulieren – ihre ›eigene Grundidee‹ ( ) gegenüber dem ›rechtgläubigen‹ Christentum. Letzteres ist freilich ein für die Frage nach Art und Weise der Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis grundlegender Aspekt, auf den im 4. Kapitel dieser Arbeit einzugehen sein wird.

2.2 Urchristentum und Gnosis als Phänomene des spätantiken ›Synkretismus‹ 2.2.1 Schwierigkeiten im Umgang mit dem ›Synkretismus‹ Obwohl der Begriff ›Synkretismus‹ in der Erforschung der spätantiken Religionsgeschichte seit langem schon zum festen Repertoire gehört und in diesem Sinne auch F.C. Grant seine Darstellung der »Hellenistischen Religion« 24 H. Blumenberg, in: PhR 6 (1958), S. 94–120, hier zu C. Schneiders Buch: S. 95–102. Zitat: S. 101 f.

2.2 Urchristentum und Gnosis als Phänomene des spätantiken ›Synkretismus‹

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vom Jahr 1953 ganz selbstverständlich mit dem Untertitel »The Age of Syncretism« versehen hat25, besteht auch gegenwärtig noch keinerlei Einmütigkeit hinsichtlich der besonderen Problematik dieses Begriffs. So hat bereits im Jahr 1934 H. Jonas im 1. Band von »Gnosis und spätantiker Geist« festgestellt: »Dieser Begriff des Synkretismus ist das eigentlich kritische Faktum im Ansatz der ganzen Forschung«26. Im Einzelnen wird dies durch eine bis in die Gegenwart reichende jeweils unterschiedliche Wertung des Begriffs dokumentiert27. ›Synkretismus‹, das ist ein – bereits von der Geschichte seines Gebrauchs her – ambivalenter Begriff, und es ist so gesehen verständlich, dass K. Müller in seinem bereits mehrfach genannten Aufsatz »Die religionsgeschichtliche Methode« eine bis in die Gegenwart reichende »grundlegende Unsicherheit des Umgangs« mit diesem Begriff feststellt28. Die besondere Problematik ist offensichtlich damit gegeben, dass der Terminus als solcher in seiner Ableitung vom griechischen mit dem odium einer (sekundären!) ›Vermischung‹ von ursprünglich originären Elementen aus dem weiten Feld der spätantiken Religionsgeschichte belastet und in diesem Sinne auch mit einer »Alchemie der Weltanschauungen« verbunden worden ist29. Dementsprechend hätte die Gnosis – eben als ein Phänomen des spätantiken Synkretismus! – gar kein eigenes Profil mehr; vielmehr wäre sie eher als ein »parasitäres« Phänomen zu bezeichnen, das als solches nur über einen sehr begrenzten Horizont von unverwechselbar eigenen Anschauungen verfügt: »Um diese zu illustrieren, braucht sie Material, und das nimmt sie wahllos von überall her, aus dem Judentum, dem Christentum, den heidnischen Religionen und der griechischen Philosophie«30. Darüber hinaus assoziiert die hier benutzte Kategorie der ›Vermengung‹ bzw. ›Mischung‹ (sc.: von ursprünglich selbstständigen und gleichsam ›reinen‹ Elementen!) die Vorstellung von einer sekundären ›Verunreinigung‹ – mit einem Wort: ›Synkretismus‹, das ist ein Phänomen der Degeneration gegenüber der ›klassischen‹ Antike! Es bedarf angesichts des25 F.C. Grant, The Hellenistic Religion. The Age of Syncretism, Indianopolis / N.Y. 1953. Zur Sache: ebd., S. XIII ff. und S. XXXII ff. 26 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 11 sowie S. 11 ff. und S. 21 ff. 27 Vgl. dazu im Einzelnen die Literatur zum Stichwort ›Synkretismus‹ bei F. Stolz, Art. Synkretismus, in: TRE 32, S. 527–530; H.v. Lips, ebd., S. 531–534; K. Rudolph, Synkretismus. Vom theologischen Scheltwort zum religionswiss. Begriff, in: Ders., Geschichte und Probleme der Religionswissenschaft, S. 193–215; G. Klein, Der Synkretismus als theologisches Problem in der ältesten christlichen Apologetik, in: Ders., Rekonstruktion und Interpretation, S. 261–301; H. Paulsen, Zur Literatur und Geschichte des frühen Christentums, S. 301–309. 28 K. Müller, in: BZ N.F. 29 (1985), S. 170, sowie das kritische Votum von M. Hengel, Kleine Schriften II , S. 201: »Das Schlagwort ›Synkretismus‹ hat das historische und theologische Verständnis der christlichen Anfänge nicht sonderlich gefördert …«. 29 Vgl. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 11: »Bild einer Mischung«, im Grunde also eher ein »chemisches Bild«! K. Stürmer, Judentum, Griechentum, Gnosis, in: ThLZ 73 (1948), Sp. 409, spricht sogar von einer »Alchimie der Weltanschauungen …, durch die aus zwei gegebenen Größen ein neues Drittes zur Darstellung gebracht wird«. 30 So H.J. Klauck, Umwelt des Urchristentums II , S. 164 f.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

sen keiner Frage, dass ein solches Gesamtbild vom ›Synkretismus‹ am Ende auch die positiven Potenzen außer Betracht lässt, die diesem Begriff zweifellos innewohnen: die vielfältigen Potenzen nämlich einer Begegnung von Religionen und Kulturen. Angesichts dessen ist im Blick auf einen sachgemäßen Gebrauch des Begriffs zunächst die Erkenntnis entscheidend, dass keine Definition von ›Synkretismus‹ möglich ist ohne die entsprechende Berücksichtigung des jeweils besonderen geschichtlichen Kontextes des je in Frage stehenden ›synkretistischen‹ Phänomens. Grundlegend für das Verständnis ist vielmehr die Berücksichtigung des jeweils besonderen historischen – und damit auch des religionsgeschichtlichen!Kontextes; grundlegend vor allem auch die Zurkenntnisnahme des für das hellenistische Zeitalter charakteristischen Prozesses der Relativierung und Überschreitung von ursprünglich gesetzten nationalen wie auch religiösen Grenzen, in sprachlicher Hinsicht der Ausbreitung einer und damit auch einer Intensivierung von kulturellen wie auch religiösen Kontakten und Beziehungen zwischen Menschen, Gruppen und Völkern. Jener ›Verschmelzungsprozess‹, der mit dem Stichwort ›Synkretismus‹ bezeichnet wird, wäre also keineswegs nur im vordergründig-negativen Sinne einer ›Vermischung‹ ursprünglich ›reiner‹ Religionen zu verstehen, sondern eben auch im Sinne der Ermöglichung einer ›Begegnung‹ von ursprünglich lokal begrenzten Religionen; einer Begegnung, die konkret und im Einzelnen vielerlei Möglichkeiten eröffnet, und zwar primär im Sinne einer Tendenz zur grenzüberschreitenden Universalität der einzelnen Religionen31 – und damit zugleich auch im Sinne der Ingangsetzung einer Dynamik von Religionen über ihren ursprünglichen historischen Ort hinaus. So hat bereits A.v. Harnack in seinem Werk »Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten« auf die Korrespondenz zwischen Synkretismus und ›Universalreligion‹ aufmerksam gemacht und den Synkretismus der römischen Kaiserzeit zu den »inneren Bedingungen für die universale Ausbreitung der christlichen Religion« gezählt. Die Bezeichnung des frühen Christentums als eine »synkretistische Religion« steht so bei A.v. Harnack für einen ›Reichtum‹ und eine ›Fülle von Beziehungen‹ sodass dieser Synkretismus im Grunde nicht anderes ist als der »Synkretismus der Universalreligion« – genauer noch: ein Phänomen der »Universalität der Sprache des frühen Christentums auf heidenchristlichem Boden«32. Durchaus förderlich für eine solch positives Verständnis von Synkretismus als Ausdruck einer Dynamik von Religionen ist nicht zuletzt jener 31 In diesem Sinne bereits G. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Tübingen 1956, S. 689: »Synkretismus ist in diesem Sinn eine Gestalt der ›Dynamik von Religionen‹«, und dazu gehören: ›Mission‹ (S. 688 ff.) sowie ›Erweckungen‹, ›Reformationen‹. 32 A.v. Harnack, a.a.O., S. 25–32 sowie S. 300–306. Zur Verbindung ›Synkretismus – Universalismus‹ vgl. auch M. Dibelius’ Rede von einer »synkretistischen Universalreligion«, in: ders., Botschaft und Geschichte. Ges. Aufs. II , S. 30.

2.2 Urchristentum und Gnosis als Phänomene des spätantiken ›Synkretismus‹

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Prozess einer Ausdifferenzierung des Stichwortes, wie er für die neuere Synkretismusforschung charakteristisch ist33. Demnach gibt es eine ganze ›Typologie‹ des Synkretismus bzw. – um mit C. Colpe zu formulieren34 – »Grade verschiedener Intensität von Verbindungen zu einer neuen Form«: nicht nur die ›Akkulturation‹ und die ›Identifikation‹ wären dann in diesem Zusammenhang zu nennen, sondern auch ›Amalgation‹, ›Assimilation‹, ›Substitution‹ …35, ›Synkretismus‹; letzteres ist in diesem Sinne ein durchaus ›multidimensionales‹ Phänomen, das in jedem einzelnen Fall – so eben auch speziell im Blick auf das ›Urchristentum‹ wie auch auf die ›Gnosis‹ – der entsprechenden Differenzierung bedarf. Allein so ist – wie besonders K. Rudolph betont hat36 – der hier notwendige Weg »Vom theologischen Scheltwort zum religionswissenschaftlichen Begriff« in der dem Thema angemessenen Weise zu gehen. Grundfrage bei alledem wird indes dabei vor allem bleiben, (ob und) in welchem Maße im jeweiligen Fall – also im Falle der ›Gnosis‹ ebenso wie im Falle des ›Urchristentums‹ – die ›synkretistischen Elemente‹ in den übergreifenden Gesamthorizont der ›Gnosis‹ wie auch des ›Urchristentums‹ integriert worden sind. Was in diesem Zusammenhang die Gnosis betrifft, so hat vor Jahrzehnten bereits H. Jonas diese Fragestellung aufgenommen und auf seine – keineswegs unumstrittene – Weise eindeutig beantwortet37. Hinsichtlich des Urchristentums ist der Streit um seinen ›synkretistischen‹ Charakter offensichtlich noch immer keineswegs entschieden, sondern sorgt immer wieder für neue Irritationen.

2.2.2 Zum Problem »Urchristentum und Synkretismus« Die Erkenntnis, dass das Urchristentum eine ›synkretistische Religion‹ sei, »deren Einzelelemente nur bedingt in einem genetischen Verhältnis zu Jesus bzw. zur Jerusalemer Urgemeinde stehen«38, gehört zu den Grunderkennt33 Vgl. dazu H.-P. Stiller (Hrsg.), Suchbewegungen. Synkretismus – Kulturelle Identität und kirchliches Bekenntnis, Darmstadt 1991; daraus H.-P. Stiller, Synkretismus. Bestandsaufnahme und Problemanzeige (S. 1–17). 34 Vgl. dazu C. Colpe, Die Vereinbarkeit historischer und strukturaler Bestimmungen des Synkretismus, in: Ders., Theologie – Ideologie – Religionswissenschaft. Demonstrationen ihrer Unterscheidung (ThB 68), München 1980, S. 162–185. 35 Vgl. die Übersichten über eine »Typologie« des Synkretismus bei K. Rudolph, a.a.O. (Anm. 27), S. 208 ff., sowie bei Th. Sundermeier, Art. Synkretismus, in: EKL IV, Sp. 601–607, hier: Sp. 604 ff. 36 K. Rudolph, a.a.O. (Anm. 27), S. 208 ff.; vgl. auch J.R. Zwi Werblowsky, Synkretismus in der Religionsgeschichte, in: W. Heissig/H.-J. Klimkeit (Hrsg.), Synkretismus in den Religionen Zentralasiens (Studies in Oriental Religions 13), Wiesbaden 1987, S. 1–7. 37 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 11 ff., hier bes. S. 12 mit der Frage nach der »letzten wurzelhaften Einheit des Prinzips in dieser Erscheinungsmannigfaltigkeit«. Vgl. ebd., S. 21 und S. 77–80. 38 So G. Lüdemann/A. Özen, Art. Religionsgeschichtliche Schule, in: TRE 28, S. 622. Zur Sache vgl. auch K. Müller, in: BZ N.F. 29 (1985), S. 170 f.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

nissen der Religionsgeschichtlichen Schule. In dieser die neutestamentliche Forschung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert weithin bestimmenden ›Schule‹, hatte man erkannt, »dass das Christentum als eine ›synkretistische‹, ›fremdreligiöse‹ Elemente absorbierende Religion – ebenso wie alle menschlichen Gebilde – einer permanenten Entwicklung unterlag«39. Das entsprechende Fundament hatte bereits W. Wrede in seiner Abhandlung »Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie« gelegt. Worauf es ihm i.U. zu einer primär an den ›Lehrbegiffen‹ orientierten Darstellung der »Theologie des Neuen Testaments« ankam, geht aus dieser programmatischen Schrift mit aller Eindeutigkeit hervor: Der Geschichts-, ja noch konkreter: der Lebenszusammenhang, in dem das urchristliche Schrifttum seinen eigentlichen ›Sitz im Leben‹ hatte, ist herauszuarbeiten, damit am Ende – wie W. Wrede formuliert – »die Gedanken des Neuen Testaments … in der Lebensfrische vor uns erstehen, die ihnen zugehört«40. Dies bedeutet i.S. von W. Wrede zugleich ›religionsgeschichtliche‹ Erklärung des Neuen Testaments: »In einer lebendigen Religion ist fast jede bedeutsame Wandlung der Anschauungen durch religionsgeschichtliche Prozesse und nur zum geringsten Teil durch den Einfluss der Lektüre bedingt. Mithin erfordert sie auch eine religionsgeschichtliche, nicht bloß eine literarische Erklärung«41. Mit diesem Programm hat W. Wrede zugleich, wie L. Goppelt mit Recht betont hat42, »das Programm der Religionsgeschichtlichen Schule« entworfen. Und ihr wiederum blieb es vorbehalten, aus diesem ›Programm‹ die entsprechende Schlussfolgerung des Urchristentums zu ziehen. Ganz in diesem Sinne steht am Anfang der Programmschrift von H. Gunkel vom Jahre 1903 »Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments« die These: »Die Behauptung, die im Folgenden unter Beweis gestellt sein soll, ist diese, dass die neutestamentliche Religion bei ihrer Entstehung und Ausbildung … unter entscheidendem Einfluss fremder Religionen gestanden hat«, und weiter am Ende der Schrift die Schlussfolgerung: »Das Christentum ist eine synkretistische Religion«43. Gewisse Differenzierungen in dieser Hinsicht sind damit nicht ausgeschlossen – so vor allem die Feststellung: »Nicht das Evangelium Jesu, wie wir es vorwiegend aus den Synoptikern kennen, aber das Urchristentum des Paulus und des Johannes ist eine synkretistische Religion«44. Insbesondere gilt dies im Blick speziell 39

So G. Lüdemann/A. Özen, in: TRE 28, S. 200. W. Wrede, Über Aufgabe und Methode der neutestamentlichen Theologie, Göttingen 1897. Nachdruck in: G. Strecker (Hrsg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (WdF 367), Darmstadt 1975, S. 81–154. Zitate im Folgenden nach diesem Nachdruck. 41 Ebd., S. 97. Vgl. auch ebd., S. 104.129 f. 42 L. Goppelt, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 1975 bzw. Berlin 1977, S. 29 f.: »Daher ist die Ntl. Theologie nicht als eine Abfolge theologischer Systeme, sondern als ein Stück spätantiker Religionsgeschichte darzustellen …«. 43 H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments, S. 95. 44 Ebd., S. 95. Vgl. die folgende Erläuterung: »Starke religiöse Motive, die aus der Fremde gekommen waren, sind in ihm enthalten und zur Verklärung gediehen, orientalische und helle40

2.2 Urchristentum und Gnosis als Phänomene des spätantiken ›Synkretismus‹

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auf die Ausbildung der Christologie im Neuen Testament: So wird die von Paulus entwickelte Christologie »im wesentlichen« als eine Neubildung des Paulus betrachtet (S. 89); bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt, dass hier bereits auch ein Ursprungszusammenhang zwischen der neutestamentlichen Christologie und der Gnosis hergestellt wird: »Da aber haben wir alles Recht, zunächst an eine Einwirkung der orientalischen Gnosis zu denken. Man hat [ja] längst die Berührung von Paulus und Johannes mit der späteren(!) occidentalischen Gnosis erkannt« (S. 88). Was von H. Gunkel in seiner Programmschrift im Einzelnen nur eben angedeutet wird, wird sodann von W. Bousset in seinem i.J. 1913 erstmalig erschienenen Buch »Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenäus« breit ausgeführt, und zwar in dem Sinne, dass es eben die ›Gnosis‹ – genauer noch: der gnostische ›Erlösermythus‹ – ist, dem für die Entstehung und Ausbildung der urchristlichen Christologie eine geradezu grundlegende Bedeutung zukommt. Wenn – z.B. im 3. Kapitel des genannten Buches – die Frage nach der religionsgeschichtlichen Herkunft des ›Kyrios‹-Titels in der ›heidenchristlichen Urgemeinde‹ gestellt wird (S. 91 ff.) und W. Bousset dabei zu dem Ergebnis kommt, dass »Kyriosglaube und Kyrioskult … diejenige Form des Christentums« darstellen, »die es auf dem Boden hellenistischer Frömmigkeit angenommen hat« (S. 99), so wird damit zugleich eine ›synkretistische‹ Beziehung zwischen dem genuin-christlichen ›Kyriosglauben‹ und einer spezifisch ›hellenistischen‹ Frömmigkeit vorausgesetzt – genauer noch: Der von W. Bousset so genannte ›Kyriosglaube‹ ist als solcher die spezifische Gestalt des Christentums unter den religiösen und religionsgeschichtlichen Bedingungen der ›hellenistischen‹ Frömmigkeit. Dabei versteht es sich für W. Bousset von selbst, dass der ›Gnosis‹ wiederum im Kontext jener ›hellenistischen Frömmigkeit‹ ein zentraler Stellenwert zukommt. Nicht zufällig steht im Zentrum seines Buches (S. 183–215) ein eigenes Kapitel zur ›Gnosis‹ als »eine[r] vorchristliche[n] Bewegung, die ihre Wurzeln in sich selbst hat« (S. 183) und – von hier ausgesehen – die sowohl bei Paulus als auch im Johannesevangelium entwickelte Christologie in einem gleichsam genealogischen Zusammenhang mit dem für diese ›Gnosis‹ charakteristischen Erlöser- und Erlösungsmythus steht45. Insgesamt: Was in H. Gunkels Programmschrift noch kurz und prinzipiell angedeutet war, wird nunmehr bei W. Bousset im Einzelnen entfaltet, und zwar in dem Sinne, dass sich die Grundthese vom ›synkretistischen‹ Chanistische. Denn das ist das Charakteristische, wir dürfen sagen, das Providentielle am Christentum, dass es seine klassische Zeit in der weltgeschichtlichen Stunde erlebt hat, als es aus dem Orient in das Griechentum übertrat …«. 45 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Boussets These (in: ThR 7 [1904], S. 315 f.), derzufolge die gnostische Lehre »von einem vom Himmel her erscheinenden Erlösergott … auf die Person Jesu … adaptiert« worden ist.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

rakter des Urchristentums hier mit der These von einem spezifisch ›gnostischen‹ Hintergrund jener Frömmigkeit und Theologie verbindet und im Urchristentum, spätestens seit der Zeit der (von W. Bousset so genannten) »heidenchristlichen Urgemeinde« die folgende religiöse Entwicklung prägte. R. Bultmann, seinerseits in dieser Hinsicht in der Kontinuität der ›Religionsgeschichtlichen Schule‹ stehend, wird später von der »hellenistischen Gemeinde vor und neben Paulus« sprechen und seine Darstellung des ›Kerygmas‹ dieser Gemeinde – nicht zufällig – mit einem ausführlichen Paragraphen zur Frage der »Gnostische[n] Motive« beschließen46. Bereits hier stellt sich dann auch schon die kritische Frage, ob die in der ›Religionsgeschichtlichen Schule‹, unternommene Analyse des Urchristentums unter religionsgeschichtlichem Aspekt nicht – möglicherweise – allzu vordergründig die Kategorie der Kontinuität im religionsgeschichtlichen Prozess zum Prinzip erhoben hat und eben auf diese Weise die Diskontinuitäten in der Wechselbeziehung(!) zwischen dem Urchristentum und seiner religionsgeschichtlichen Umwelt dabei allzu sehr in den Hintergrund getreten sind. Offensichtlich ist jedenfalls, dass die bereits von H. Gunkel in diesem Zusammenhang benutzte Kategorie der ›Übertragung‹ (sc.: bestimmter synkretistisch-gnostischer Erlösungsmythen auf Jesus) nur unzureichend den Umstand berücksichtigt, dass jene ›Übertragung‹ oder auch ›Übernahme‹ im Urchristentum offensichtlich immer zugleich die Integration der hier jeweils in Frage stehenden Motive und Vorstellungen in einen neuen Kontext einschließt und somit – bei aller hier im Einzelnen aufweisbaren Kontinuität – zugleich auch ein bestimmter Kontinuitätsbruch bzw. eine – offensichtlich theologisch reflektierte! – Diskontinuität festzustellen ist. Zunächst bleibt bei alledem noch die Frage zu beantworten, ob – im Sinne zunächst wiederum der ›Religionsgeschichtlichen Schule‹ – jenes Urteil über das Urchristentum als eine ›synkretistische Religion‹ im Grunde schon von Anfang an gilt oder ob es hier so etwas wie eine von allen (späteren) ›Synkretismen‹ gleichsam ›freie‹ Zeit, eben die ›ideale Ur-Zeit‹ des Christentums gegeben hat, der gegenüber erst später, etwa zur Zeit jener ›hellenistischen Gemeinde‹, von einem ›synkretistischen Abfall‹ von jener idealen Urzeit zu sprechen wäre. Sieht man angesichts dieser Frage zunächst einmal von dem speziellen Problem eines ›synkretistischen Judentums‹ ab, wie es vor allem wiederum H. Gunkel in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Urchristentum gesehen hat47, geht die Antwort in der Forschungsgeschichte ganz überwiegend in die von H. Gunkel gewiesene Richtung: »Nicht das Evangelium Jesu, wie wir es vorwiegend aus den Synoptikern kennen, aber das Urchristentum des Paulus und des Johannes ist eine synkretistische Religion«48. 46

R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, S. 66 ff. und S. 166–186. H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments, S. 35. 48 Ebd., S. 88. 47

2.2 Urchristentum und Gnosis als Phänomene des spätantiken ›Synkretismus‹

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Von ›Synkretismus‹ wäre dann erst von jener Zeit an zu sprechen, da sich das Christentum aus seinem Ursprungszusammenhang mit dem Judentum bereits zu lösen begann und als eine universal ausgerichtete Missionsreligion seinen Weg in die Welt des spätantiken ›Heidentums‹ antritt49. Mit anderen Worten: Wenn Jesus selbst mit seiner Botschaft (und mit ihm auch die Jerusalemer ›Urgemeinde‹) noch ganz im palästinischen Judentum verwurzelt ist und die erste christliche Gemeinde – so jedenfalls auch i.S. des lukanischen Geschichtsbildes (Act 24,5.14 sowie 28,22) – noch als eine ›Schule‹ ( ) innerhalb des Judentums verwurzelt ist, dann hat sich das frühe Christentum erst mit seinem Weg »von Jerusalem nach Antiochia« in die vom religiösen Synkretismus bestimmte hellenistische Welt begeben. In diesem Sinne wäre es also erst die sog. hellenistisch-heidenchristliche Gemeinde gewesen, die sich im unmittelbaren Zusammenhang mit ihrem universal ausgerichteten missionarischen Anspruch der religiösen Lebenswelt der Spätantike und dem für diese Welt charakteristischen ›Synkretismus‹ geöffnet hat50. Die Sachlage in dieser Hinsicht stellt sich nun erheblich anders dar, wenn – wiederum nach H. Gunkel – das Urchristentum eben infolge seines Ursprungszusammenhangs mit dem Judentum bereits in den Wirkungsbereich des gemein-hellenistischen einbezogen worden ist: »Unsere These«, so hat H. Gunkel formuliert, »ist für das Folgende, dass das Christentum, aus dem synkretistischen Judentum geboren, starke synkretistische Züge aufweist«51. Nun ist gewiss nicht zu bestreiten, dass – was vor allem die urchristliche Heidenmission betrifft – das Judentum, vor allem in Gestalt des sog. ›hellenistischen (Diaspora-)Judentums‹ eine wesentliche Rolle als Vermittler bestimmter spezifisch ›hellenistischer‹ Überlieferungen insbesondere alexandrinischer Herkunft an das ›hellenistische‹ Urchristentum gespielt hat (und in diesem Sinne bei den frühchristlichen ›Kirchenvätern‹ als eine Art praeparatio evangelica galt) – aber: auch wenn man, der These von M. Hengel folgend, der Meinung ist, dass im Grunde das Judentum des hellenistischen Zeitalters insgesamt als ›hellenistisches Judentum‹ zu bezeichnen ist52, so kann dies doch nicht zugleich bedeuten, dass dieses ›hellenistische‹ Judentum als ›synkretistisches‹ Judentum gilt! Verallgemeinernde Urteile in dieser Hinsicht – wie z.B. das von W. Bousset: 49 In diesem Sinne bereits A.v. Harnack, Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, (1902), S. 226 f.: »Synkretistisch war es von Anfang an auf heidenchristlichem Boden«. Vgl. auch W. Bousset, Kyrios Christos, S. 75 ff. 91 ff., sowie neuerdings A. Feldtkeller, Identitätssuche des syrischen Urchristentums. Mission, Inkulturation und Pluralität im ältesten Heidenchristentum (NTOA 25), Freiburg(Schweiz) / Göttingen 1993, S. 2 f. 50 Vgl. wiederum W. Bousset, Kyrios Christos, S. 75–104, sowie R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, S. 66 ff. 51 H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments, S. 35. Zum Einzelnachweis für dieses ›synkretistische Judentum‹: ebd., S. 21–35, hier bes. S. 34. 52 M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Zu einer ›synkretistischen Tendenz‹ insbesondere im Diaspora-Judentum: ebd., S. 478 ff. 545 ff. sowie S. 561 ff.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

»Das religionsgeschichtliche Problem des späthellenistischen Judentums ist nur ein Teilproblem der allgemeinen hellenistischen Mischreligion, die man mit einem hässlichen Fremdwort ›Synkretismus‹ zu nennen pflegt«53 – sind nur wenig aussagekräftig und provozieren eher zur Konkretion – damit aber zur notwendigen Differenzierung: So können z.B. bestimmte ›hellenistische‹ Implikationen in der Anthropologie des rabbinischen Judentums zwar als Symptom für eine generelle Tendenz der ›Hellenisierung‹ gelten, jedoch noch keineswegs als Ausweis für den ›synkretistischen‹ Charakter des rabbinischen Judentums insgesamt54. Entsprechendes gilt auch im Blick auf die in jener Zeit offensichtlich selbstverständliche Übernahme griechischer Fremdbzw. Lehnwörter in die jüdisch-rabbinische Traditionsliteratur. Demgegenüber verhält es sich offensichtlich anders bei jenen für die spätere israelitisch-jüdische Religionsgeschichte signifikanten Phänomenen, die wiederum H. Gunkel in seine Darstellung eines ›synkretistischen‹ Judentums einbezogen hat, nämlich bei der israelitisch-jüdischen Weisheit sowie bei der jüdischen Apokalyptik. Insbesondere die erstere ist ja bereits im Alten Orient, nicht also erst im hellenistischen Zeitalter, ein ›internationales‹ Phänomen gewesen. So gesehen versteht es sich im Grunde von selbst, dass die jüdische Weisheitsliteratur – gewiss auf ihre eigene Weise! – an analogen Phänomenen ihrer hellenistischen wie auch synkretistischen Umwelt (wie z.B. den sog. Isis-Aretalogien!) teilhat, ohne deswegen bereits als ein ›synkretistisches‹ Phänomen zu gelten. Entsprechendes gilt grundsätzlich auch für die sogen. jüdische Apokalyptik. Sie ist, wie die neuere Forschungsgeschichte deutlich gemacht hat55, ein Gesamtphänomen des hellenistischrömischen Zeitalters: So bedarf es beim gegenwärtigen Stand der Forschung in dieser Hinsicht keiner Frage mehr, dass auch in der jüdischen Apokalyptik bestimmte ›apokalyptische‹ Überlieferungen – wie z.B. bestimmte ›dualistische‹ Tendenzen oder auch die Korrespondenz von ›Urzeit und Endzeit‹ – rezipiert worden sind, die einer Grundtendenz des späthellenistischen Zeitalters entsprechen. In diesem Zeitalter gibt es offensichtlich in der Tat so etwas wie eine »apokalyptische Grundkomponente«, auf die im Übrigen bereits H. Gunkel verwiesen hat, wenn er von einer »altorientalischen Gnosis« sprach56. Bei alledem versteht es sich von selbst, dass es hier nicht lediglich um die Frage nach der Herkunft von bestimmten religionsgeschichtlich 53 W. Bousset/H. Gressmann, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter, S. 521. 54 Zur Fragestellung in dieser Hinsicht vgl. z.B. R. Meyer, Hellenistisches in der rabbinischen Anthropologie (BWANT IV /22), Stuttgart 1937. 55 Vgl. D. Hellholm (Hrsg.), Apocalypticism in the Mediterrean World and the Near East. Proceedings of the International Coll. on Apocalypticism, Tübingen 1983, hier bes. K. Rudolph, Apokalyptik in der Diskussion (S. 771–789); H.-D. Betz, Zum Problem des religionsgeschichtlichen Verständnisses der Apokalyptik, in: ZThK 63 (1966), S. 319–409. 56 H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments, S. 30 f. Vgl. auch W.R. Murdock, History and Revelation in Jewish Apocalypticism, in: Interpretation 21 (1967), S. 167–187.

2.2 Urchristentum und Gnosis als Phänomene des spätantiken ›Synkretismus‹

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aufweisbaren ›Motiven‹ oder auch ›Vorstellungen‹ geht, sondern – immer zugleich! – um die Frage, in welchem Maße und Sinn jene gemeinorientalischen Überlieferungen jeweils in ihren neuen jüdischen Kontext integriert worden sind57. Im Übrigen bedarf es bei alledem keiner Frage, dass es vor allem das Diasporajudentum in seinen unterschiedlichen Ausprägungen (in Ägypten, Syrien, Kleinasien) gewesen ist, das bei der Begegnung des frühen Christentums mit seiner synkretistischen Umwelt eine wesentliche Rolle gespielt hat – als eine Art »Mittler zwischen der hellenistischen Geisteskultur und dem Urchristentum«58. Das Judentum ist also hinsichtlich des Synkretismus des späthellenistischen Zeitalters, keineswegs eine ›Ausnahmeerscheinung‹ gewesen. Wenn zuletzt vor allem L.H. Feldman in diesem Zusammenhang auf bestimmte »religious deviations« bzw. gewisse ›Randerscheinungen‹ im Diasprora-Judentum hingewiesen hat, die am Ende zu einer gänzlichen Assimilation an die heidnische Umwelt bzw. zur »apostasy« geführt haben59, so ist es durchaus verständlich, dass es eben diese ›Randerscheinungen‹ im Judentum jener Zeit gewesen sind, die in der neueren Gnosisforschung wiederum zunehmend im Zusammenhang der Frage nach dem »Ursprung der Gnosis« eine gewisse Rolle spielen60. Angesichts des ›Erscheinungsbildes‹ im Urchristentum bzw. in den einzelnen Schriften des Neuen Testaments kann man die entsprechende Debatte um das Thema ›Urchristentum und Synkretismus‹ im Einzelnen gewiss noch weiter zu präzisieren versuchen61. Grundlegend und entscheidend bei alledem wird jedoch die Antwort auf die Frage bleiben, ob und in welchem Maß die – zweifellos vorhandenen – ›synkretistischen Elemente‹ hier jeweils in ihren neuen Kontext integriert und im eigentlichen Sinne rezipiert worden sind und auf eben diese Weise einer ›neuen‹ Gesamtsicht von »Gott, Welt und Mensch« Ausdruck verleihen. In diesem Sinne ist der ›Synkretismus‹ im Urchristentum nicht nur ein Symptom dafür, dass auch im Urchristentum bzw. in den Schriften des Neuen Testaments die ›Sprache der Welt‹ gesprochen wird, sondern zugleich Symptom bzw. Ausdruck dafür, dass es hier, im Urchristentum bzw. in den Schriften des Neuen Testaments in Kontinuität und Diskontinuität, in ›Anknüpfung und Widerspruch‹, am 57

H. Gunkel, a.a.O., S. 35. So M. Dibelius, Die Christianisierung einer hellenistischen Formel, in: Ders., Botschaft und Geschichte II , Tübingen 1956, S. 14–29; Zitat: S. 27, sowie ebd.: Das Diasporajudentum »hat die erste Berührung des Evangeliums mit dem Synkretismus vermittelt«. 59 L.H. Feldman, Jew and Gentile in the Ancient World. Attitude and Interactions from Alexander to Justinian, Princeton/New York 1993, S. 65 ff. 60 Vgl. z.B. K. Rudolph, Randerscheinungen des Judentums und das Problem der Entstehung der Gnosis, in: Kairos 9 (1967), S. 105–122; R. McL. Wilson, The Gnostic Problem. 61 Vgl. z.B. G. Quispel, Christliche Gnosis und jüdische Heterodoxie, in: EvTh 14 (1954), S. 474–484, sowie M. Hengel, Zum Thema ›Die Religionsgeschichte und das Urchristentum‹, in: ThLZ 92 (1967), Sp. 801–814 (= ders., Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I (WUNT 90), Tübingen 1996, S. 131–150); ders., Judentum und Hellenismus, S. 460.561. 58

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

Ende doch jeweils um das – eschatologisch! – ›neue‹ Evangelium für die Welt geht. So wäre dann jener urchristliche Synkretismus – bei allen notwendigen Differenzierungen im Einzelnen – Ausdrucksmittel für die universale Geltung des Evangeliums. ›Synkretismus‹ wäre dann nicht mehr ein von vornherein negativ akzentuiertes Stichwort, sondern – trotz seiner vorwiegend negativen Konnotationen im Verlauf seiner ›Geschichte‹! – auch Hinweis auf den universalen Anspruch einer Religion. Eben hier stellt sich dann notwendigerweise die Frage, ob dies am Ende auch für dasselbe Phänomen in der Gnosis gilt.

2.2.3 Zum Problem ›Gnosis und Synkretismus‹ In der Geschichte der Gnosisforschung – und insbesondere in der ›Religionsgeschichtlichen Schule‹ – ist das Stichwort Synkretismus seit langem schon geradezu ein ›Kennwort‹ speziell der Gnosis geworden, wie Wortbildungen wie ›gnostisch-synkretistisch‹ belegen62. Charakteristisch dafür ist zum Beispiel das Votum von H.J. Klauck in seiner Darstellung der »Umwelt des Urchristentums«, in der sich das Stichwort ›Synkretismus‹ zugleich mit dem Urteil über die Gnosis als einer »parasitären Erscheinung« verbindet. So heißt es hier von der Gnosis: »Sie verfügt nur über einen sehr begrenzten Vorrat von unverwechselbar eigenen Anschauungen. Um diese zu illustrieren, braucht sie Material, und das nimmt sie wahllos(!) von überall her, aus dem Judentum, dem Christentum, den heidnischen Religionen und der griechischen Philosophie …«63. Die Reihe entsprechender Urteile geht kontinuierlich von der älteren bis hin zur neuesten Gnosisforschung: ›Synkretismus‹ ist also geradezu ein »Leitbegriff der Gnosisforschung«64, der – nicht zuletzt – auch durch die gnostischen Schriften der Bibliothek von Nag Hammadi bestätigt wird, so dass es angesichts dieses Befundes naheliegt, an dieser Stelle noch einmal R. Reitzensteins Urteil zu zitieren: »Es gibt im strengen Sinn keine gnostische Religion, nur verschiedene Grade eines Synkretismus«65. Solcher negativ-kritische Akzent hinsichtlich des Stichwortes ›Synkretismus‹ spricht sich denn auch im Votum von W. Bousset aus: »So stellt sich die Gnosis in erster Linie als eine synkretistische Erscheinung auf dem Boden der sich auflösenden(!) antiken Religionswelt dar«66. Und nicht 62 So P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testamens I, Göttingen 1991, S. 19, hier in der Gegenüberstellung zu ›alttestamentlich-jüdisch‹. 63 So H.J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums II , S. 164 f. Vgl. auch A. Böhlig / C. Markschies, Gnosis und Manichäismus, S. 54.165 ff. 179. Kritisch zum Bild des »Parasiten«: H. Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen, S. 370 mit Anm. 3, sowie M.A. Williams, Rethinking Gnosticism, S. 80–85. 64 So H. Blumenberg, Epochenschwelle und Rezeption, in: PhR 6 (1958), S. 109. 65 R. Reitzenstein, Das iranische Erlösungsmysterium, S. 146. 66 So W. Bousset in seinem Artikel »Gnosis/Gnostiker«, in: PWRE VII /2, S. 1524. Dementsprechend auch das Urteil von E. de Faye, Gnostique et Gnosticisme, S. 17 f.: »… c’est

2.2 Urchristentum und Gnosis als Phänomene des spätantiken ›Synkretismus‹

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zuletzt in diesem Zusammenhang: Solcher für die Gnosis charakteristischer ›Synkretismus‹ bezieht sich nicht nur auf die antike bzw. spätantike Religionsgeschichte, sondern ebenso auch auf die Philosophiegeschichte der antiken und spätantiken Welt. Dies ist ein Sachverhalt, auf den – im Zusammenhang mit dem Handschriftenfund von Nag Hammadi! – zuletzt A. Böhlig in seiner Schrift »Zum Hellenismus in den Schriften von Nag Hammadi« aufmerksam gemacht hat67. Wenn A. Böhlig festgestellt hat, dass es in dieser Hinsicht gerade auch für Gnostiker keineswegs nur um eine ›formale Bildung‹ ging, besteht kein Anlass, solchen ›philosophischen Synkretismus‹ der Gnostiker von vornherein unter dem Etikett eines ›Vulgärplatonismus‹ abzubuchen68. Nun lässt sich dieser der Gnosis eigene Synkretismus und Pluralismus gewiss historisch-genetisch bzw. motiv-geschichtlich erklären, durch »Ableitung« nämlich seiner vorgegebenen ›Elemente‹ aus dem Synkretismus der spätantiken Religions- und Philosophiegeschichte. Gleichwohl wird man auch hier nicht bei dem Nachweis der Herkunft jener einzelnen ›Elemente‹ stehenbleiben können – will man nicht lediglich zu dem gelangen, was H. Jonas seinerzeit eine ›Alchemie der Ideen‹ genannt hat69. Grundlegend und entscheidend (auch!) für jenen gnostischen ›Synkretismus‹ ist vielmehr nicht nur der für die Gnosis geltende ›Eklektizismus‹ hinsichtlich jener ›Elemente‹ – und eben damit auch ihre Einfügung in einen genuin gnostischen Kontext. Immerhin bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass bereits W. Anz in seiner Untersuchung »Zur Frage nach dem Ursprung des Gnostizismus« vom Jahre 1897 formuliert hat: »… wenn die Frage nach seinem Ursprung gestellt wird, so genügt es doch nicht, konstatiert zu haben, dies Stück stammt von hier oder jenes von da. Ganz abgesehen von der bei diesem Verfahren fast unvermeidlichen Gefahr, später qu’il y a une évidente affinité entre le gnosticisme et ces religions syncrétistes y compris les mystères qui surgissent, et commencement à se répandre aux environs du premiere siècle de l’ère chrétienne …«. Im Folgenden mit ausdrücklicher Berufung auf R. Reitzenstein und W. Bousset. 67 A. Böhlig/F. Wisse, Zum Hellenismus in den Schriften von Nag Hammadi, S. 1–8.9–53, hier (S. 12 f. und S. 34 ff.) auch zur Formulierung ›philosophischer Synkretismus‹. 68 A. Böhlig, a.a.O., S. 12: »Es dürfte sich bei den Benutzern der Schriften von Nag Hammadi durchaus um Gebildete handeln, die mindestens dem Mittelstand angehören« sowie S. 13: »Wer ›Gnosis‹ erlangen wollte, kam gerade in hellenistischer Zeit ohne Bildung nicht aus«. 69 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 32, hier in der Kritik an W. Boussets ›Gnosisbild‹. – Zum ›Pluralismus‹ der Gnosis vgl. im Übrigen bereits P. Wendland, Die hellenistischrömische Kultur in ihren Beziehungen zu Judentum und Christentum, 2./3. Aufl., Tübingen 1912, S. 168: »Die Erscheinungsformen des Gnostizismus sind ebenso mannigfaltig wie das religiöse Leben der Zeit überhaupt«; E. de Faye, Gnostiques et Gnosticisme, S. 9 f., hier freilich zugleich mit dem Hinweis auf den analogen Sachverhalt im ›apostolischen Christentum‹: »Les mèmes tendances produisent les manifestations les plus variées«. Vgl. ebd., S. 439 ff. – Speziell zum Pluralismus der gnostischen Bibliothek von Nag Hammadi vgl. A. Böhlig, Zum »Pluralismus« in den Schriften von Nag Hammadi, in: Ders., Gnosis und Synkretismus I, S. 229–250.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

Hinzugekommenes für Ursprüngliches, Nebensächliches für Wichtiges zu halten, so wird doch dabei die innere Einheit des Gnostizismus(!) unberücksichtigt gelassen: seine Entstehung als Ganzes(!) deckt sich nicht mit der Entstehung der Einzelvorstellungen«, und das heißt i.S. von W. Anz, dass erst mit der Zusammenfassung jener einzelnen »Elemente in ihrer eigentümlichen Art … der Gnostizismus gegeben« ist70. H. Jonas seinerseits hat diesem Votum hinzugefügt: »Damit können wir uns, so wie es dasteht, uneingeschränkt identifizieren«71. Hier, in der frühchristlichen Gnosis, gibt es – abgesehen allenfalls von bestimmten gnostischen Spätschriften, wie sie in den Codices Brucianus und Askewianus vorliegen72 – durchaus keinen »hemmungslosen« Synkretismus73, sondern eher einen durchaus reflektierten Synkretismus, der bei der Rezeption fremd-religiöser Traditionen durchaus von einem bestimmten, genuin gnostischen hermeneutischen Prinzip ausgeht. Und entsprechendes gilt auch im Blick auf die in der gegenwärtigen Gnosisforschung häufige Rede vom »parasitären« Charakter des gnostischen Synkretismus. Wenn hierzu K. Rudolph formuliert hat: »Einen ›reinen‹ Gnostizismus finden wir … nirgends vor, immer ist er angelehnt an fertige ältere Religionsgebilde … Er wuchert wie Parasiten (oder Pilze) auf fremdem Boden, den Wirtsreligionen … Der Gnostizismus hat also keine eigene Tradition, sondern nur eine geborgte. Seine Mythologie ist eine ad hoc geschaffene Überlieferung aus fremdem Gut, das er sich seiner Grundkonzeption entsprechend amalgamiert hat«74, so kommt es in diesem Zusammenhang eben auf den Schlusssatz an: »… das er sich seiner Grundkonzeption entsprechend amalgamiert hat«. Und dies heißt ja nichts anderes, als dass jene traditionellen Elemente und Motive am Ende allesamt in einen neuen, eben gnostischen Kontext integriert bzw. auf ein spezifisch gnostisches Zentrum hin ausgerichtet worden sind bzw. nunmehr, in einem gnostischen Kontext, gleichsam unter einem gnostischen ›Vorzeichen‹ stehen. Dies im Übrigen ein Sachverhalt, der auch – und gerade! – für die 70

W. Anz, Zur Frage nach dem Ursprung des Gnostizismus, S. 2 und S. 31. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 22, Anm. 1. 72 C. Schmidt (ed.), Koptisch-gnostische Schriften I: Die Pistis Sophia. Die beiden Bücher des Jeù. Unbekanntes altgnostisches Werk, 2. Aufl. Bearbeitet von W. Till (Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte), Berlin 1954. 73 So A.v. Harnack, Über das gnostische Buch Pistis Sophie (TU 7/2), Leipzig 1891, S. 1. Vgl. auch Bousset, Art. Gnosis/Gnostiker, in: PWRE VII /2, S. 1542 f. »Wieder ist die Gnosis in der Verwilderung der Spekulation fortgeschritten«; und ebd.: »Aber alles Übrige – und namentlich das zweite anonyme koptisch-gnostische Werk – ist zum größten Teil nicht mehr zu entzifferndes unsinniges Gerede«! Zur kritischen Beurteilung dieses Schrifttums vgl. auch K. Rudolph, Die Gnosis, S. 32. 74 K. Rudolph (Hrsg.), Gnosis und Gnostizismus, S. 77. Vgl. auch K. Beyschlag, Simon Magus und die christliche Gnosis, S. 215: ›Gnosis‹, d.i. nicht nur als ›Synkretismus‹, sondern »von Haus aus als ein religiöses Denk- und Reflexionssystem anzusetzen«, bei dem »gerade im reflektierenden Charakter der Unterschied zum sonstigen Synkretismus der Zeit zu suchen ist«. 71

2.2 Urchristentum und Gnosis als Phänomene des spätantiken ›Synkretismus‹

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Rezeption der biblischen, speziell der neutestamentlichen Schriften in der frühchristlichen Gnosis von entscheidender Bedeutung ist75. So gesehen spricht dann alles dafür, den für die Gnosis charakteristischen Synkretismus nicht nur als einen bewusst reflektierten, sondern auch geradezu als einen programmatischen Synkretismus zu bezeichnen, in dem sich am Ende nichts anderes als der universale Geltungsanspruch der gnostischen Religion ausspricht. Ob man so gesehen die Gnosis eine ›Weltreligion‹ nennen kann, liegt zwar nahe, ist aber nach wie vor umstritten76. Unbestritten ist gleichwohl, dass im universalen Anspruch dieser Religion in Gestalt des gnostischen Synkretismus zugleich der Anspruch einer Überbietung aller anderen Religionen jener Zeit zum Ausdruck gebracht wird. In diesem Sinne dann doch: Die ›Weltreligion‹ Gnosis, die alle weiteren Religionen ihrer Zeit gleichsam in sich vereint – und damit zugleich alle diese Religionen überbietet, indem sie »die vorhandenen mythischen Traditionen auf einen bisher unbekannten Gott hin neu interpretiert«77. Ob die Gnosis diesen Anspruch tatsächlich eingelöst hat, ist gewiss fraglich; bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist jedoch, dass sie in Gestalt des Manichäismus tatsächlich zu einer ›Weltreligion‹ geworden ist, ablesbar u.a. daraus, dass die Verbreitung gnostischer Texte – hier jedenfalls einen gleichsam fließenden Übergang von der Gnosis zum Manichäismus vorausgesetzt – bis nach Zentralasien gereicht hat78. Aber auch abgesehen von solchen eher hypothetischen Erwägungen: Unbestreitbar bleibt in jedem Fall, dass die gnostische Religion mit ihrem universalen Anspruch zu ihrer Zeit und in ihrer Situation, da die Existenz des Menschen in einer bedrohlichen Welt offensichtlich weithin als unsicher und ungewiss erfahren worden ist, eine erhebliche Faszination ausübte79. 75

S. dazu unten Kapitel 4. So zuerst G. Quispel, Gnosis als Weltreligion (1951). Zur Fragestellung »Sekte oder Weltreligion«? vgl. P. Pokorný, Gnosis als Weltreligion und als Sekte, in: Numen 16 (1969), S. 1969, S. 51–62; K. Rudolph, Weltreligion oder Sekte? in: Kairos 21 (1979), S. 255–263; C. Colpe, Art. Gnosis II (Gnostizismus), in: RAC 11, Sp. 558. Kritisch dazu: G.G. Stroumsa, Die Gnosis und die christliche Entzauberung der Welt, S. 494: »Der Gnostizismus war also mehr als eine christliche Sekte und weniger als eine Weltreligion«. 77 So G. Theissen, Die Religion der ersten Christen, S. 320, sowie ebd.: »Gnosis ist der Versuch, die verschiedenen partikularen religiösen Systeme von einem einheitlichen Gedanken her umzustrukturieren und in allen dieselbe Grundfigur von Weltschöpfung und Erlösung wiederzufinden«. Vgl. in diesem Zusammenhang auch G. Theißens Rede von einem »Überbietungssynkretismus«: ebd., S. 75 sowie S. 98. 78 Vgl. dazu H.-J. Klimkeit, Gnosis on the Silk Road. Gnostic Texts from Central Asia, San Francisco 1993, und dazu: A. Böhlig, in: OLZ 91 (1996). Sp. 234–240. – Zum Manichäismus als »Weltreligion« vgl. A. Adam, in: Hdb. der Orientalistik 1. Abt., Bd. 8/2, S. 104, sowie C. Markschies, Art. Gnosis/Gnostizismus, in: M. Görg/B. Lang (Hrsgg.), Neues Bibel-Lexikon I, Sp. 871: »Die G. Strahlte auch weit über den Bereich der christlichen Theologie hinaus; diese Entwicklung gipfelt im Manichäismus, den Mani selbst als neue Weltreligion (kopt. Kephalaia 154) bezeichnete«. 79 So C. Markschies, in: Neues Bibel-Lexikon I, Sp. 871, hier freilich wiederum mit der Einschränkung: »… für eine Schicht der (Halb-)Gebildeten«. 76

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

2.3 Exkurs: »Slippery Words«. Zur Frage der Terminologie: ›Gnosis‹ und/oder ›Gnostizismus‹ – ›Gnostiker‹ als Selbstbezeichnung? »Slippery Words«, so hat R. McL. Wilson seinen Beitrag zur Frage der Terminologie überschrieben80, mehrdeutige, um nicht gleich zu sagen: »schlüpfrige« Wörter also, die sich einer eindeutigen Bestimmung dessen, was sie tatsächlich meinen, entziehen.

2.3.1 ›Gnosis‹ und / oder ›Gnostizismus‹? Beide Termini sind in der Gnosisforschung bis heute gebräuchlich, vorzugsweise im englisch-sprachigen sowie im französisch-sprachigen Raum, hier jeweils durch eine bestimmte Tradition der Gnosisforschung bedingt. Trotz vielfältiger Bemühungen um eine eindeutige terminologische Klärung bestehen jedoch nach wie vor weitgehende Unsicherheit und damit auch erhebliche Unterschiede in der Bestimmung ihres Verhältnisses zueinander81. Eindeutig ist zunächst nur, dass – sprachlich gesehen – der Terminus ›Gnosis‹ (als Umschrift von griechisch ) gegenüber dem Terminus ›Gnostizismus‹ originär ist, ganz abgesehen von der weitverzweigten Bedeutungsgeschichte des griechischen Wortes82. »Originär« jedenfalls in dem Sinne, dass er nach Ausweis der neutestamentlichen Pastoralbriefe (1 Tim 6,20!) spätestens bereits zu Beginn des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts zur Bezeichnung einer bestimmten, sich selbst so nennenden Gruppierung innerhalb oder am Rande der frühen Kirche bezeugt ist. Demgegenüber handelt es sich bei dem Terminus ›Gnostizismus‹ wohl weniger um eine sprachliche Analogiebildung zu der von Ignatius in seinen Briefen verwendeten Rede vom bzw. , als vielmehr um einen Neologismus, d.h. um eine (vom lateinischen gnosticus abgeleitete) sekundäre sprachliche Neubildung des 17./18. Jahrhunderts83, welcher zudem noch in seiner Anwendung auf die christlich-gnostischen Systeme des 2./3. Jahrhunderts wie 80 R. McL. Wilson, »Slippery Words« II : Gnosis, Gnostic, Gnosticism, in: ExpT 89 (1977/78), S. 296–301. Vgl. auch B.A. Pearson, Is Gnosticism a Religion? (1994), S. 105: »… slippery terms laden nowadays with a bewildering variety of meanings, depending upon the persons or groups using them«. 81 Vgl. z.B. C. Colpe, Art. Gnosis II (Gnostizismus), in: RAC XI , Sp. 537 ff., sowie R. McL. Wilson, From Gnosis to Gnosticism; ders., Gnosis and Gnosticism: The Messina Definiton; J. Holzhausen, Gnostizismus, Gnosis, Gnostiker, in: JAC 44 (2001), S. 58–74; K. Rudolph, ›Gnosis‹ and ›Gnosticism‹ – The Problems of their Definition and their Relation to the Writings of the New Testament, in: Ders., Ges. Aufsätze, S. 34–52. 82 So B.A. Pearson, Eusebius and Gnosticism, S. 291–310, hier S. 292, mit Verweis auf Ignatius, Magn 10,1.3; Philad 6,1; Röm 3,3 sowie 2 Makk 2,21. 83 B. Layton, Prolegomena, S. 335 und S. 348 f., führt den Terminus auf die »Exposition of the Seven Epistels« [sc.: in Apk 2,1–3,22] des Cambridger Platonikers Henry Moore vom Jahr 1669 zurück, während K. Rudolph, Gnosis and Gnosticism, S. 43, den Terminus ›Gnos-

2.3 Exkurs: »Slippery Words«.

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allen sekundären Wortbildungen auf bzw. -ismus eine gewisse negative Konnotation eigen ist: »Schon der Terminus selbst erweckt Argwohn«84. Eindeutig erscheint(!) darüber hinaus allenfalls noch, dass der Terminus Gnosis das Umfassende (und zugleich Ältere) bezeichnet, der Terminus Gnostizismus dagegen jene geschichtlichen Phänomene, die sich später, nämlich in den christlich-gnostischen Systembildungen des 2. und 3. Jh.s, aus der Gnosis entwickelt haben. Auch hier gibt es (noch) keinen Konsens in der Gnosisforschung. Deutlich zeigt sich dies z.B. in dem Beitrag von S. Arai, in dem die weithin übliche Reihenfolge ›Gnosis – Gnostizismus‹ gerade wieder umgekehrt wird: Gnostizismus, d.i. bei S. Arai »eine nicht an Zeit und Ort gebundene religiöse Ideologie, die eine gnostisierende Bewegung hervorruft, während Gnosis eine an Zeit und Ort der Spätantike gebundene religiöse Erscheinung ist«85. Angesichts einer offenkundig so diffusen Gesprächslage ist es nicht selbstverständlich, wenn in dieser Untersuchung jener originäre Terminus ›Gnosis‹ zur Bezeichnung einer bestimmten (relativ!) fest umrissenen Erscheinung der spätantiken Religionsgeschichte verwendet wird, die – auch im Kontext des spätantiken Synkretismus! – von anderen religiösen Phänomenen durchaus abgrenzbar ist. Dies geschieht hier bewusst im Unterschied zur sogenannten ›Messina-Definition‹ vom Jahre 1966, die auch nicht zu einer allgemein akzeptablen Lösung des hier anstehenden Problems gekommen ist86. Begründet ist dies offensichtlich darin, dass im englisch-sprachigen Raum wie auch im deutsch- und französisch-sprachigen Raum nach wie vor durchaus unterschiedliche Sprachregelungen bestehen: Während im deutschsprachigen Raum spätestens seit der Untersuchung von H. Jonas, »Gnosis und spätantiker Geist«, der Terminus ›Gnosis‹ für jene hier in Frage stehende religiöse Bewegung der Spätantike an erster Stelle steht, wird im englischsprachigen Raum neuerdings zunehmend der Terminus gnosticism im umfassenden Sinn, zur Bezeichnung der gnostischen Religion gebraucht87. In tizismus‹ »a modern, deprecatory expression, a theologizing neologism« aus dem 18. Jahrhundert nennt. 84 So R.P. Casey, Die Erforschung des Gnostizismus, S. 353. 85 S. Arai, Zur Definition der Gnosis in Rücksicht auf die Frage nach ihrem Ursprung, S. 185. Die Verwirrung in dieser Hinsicht wird noch größer, wenn man dem Vorschlag von L. Goppelt, Die apostolische und die nachapostolische Zeit, Göttingen 1962, S. 64–66, folgt, demzufolge der Terminus ›Gnostizismus‹ i.S. einer Tendenz zur ›Gnosis‹ bzw. i.S. einer ›VorGnosis‹ zu verstehen ist, während der Terminus ›Gnosis‹ auf das »Grundschema des Erlösungsmythos« zu beziehen ist, »das hinter den gnostischen Systemen des 2. Jh.s steht«. 86 Vgl. dazu das »documento finale« des Messina-Colloquiums in: U. Bianchi (ed.), Le origini dello Gnosticismo, S. XXIX –XXXII , sowie die mit Erläuterungen versehene Version von C. Colpe, Vorschläge der Messina-Konferenz von 1966 zur Gnosisforschung, S. 129–132. 87 So vor allem B.A. Pearson, Gnosticism, Judaism, and Egyptian Christianity, S. 7 sowie S. 17: »Gnosticism should really be understood as a religion, or worldview, in its own right. There are very good reasons for using such a designation as the Gnostic religion rather than Gnosticism or Gnosis, terms which have been used with a notable lack of precision in scholarly discourse«.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

dieselbe Richtung geht auch die französisch-sprachige Gnosisforschung: Paradigmatisch dafür sollen hier vor allem zwei Namen stehen: Während die klassische Darstellung von E. de Faye, »Gnostiques et Gnosticisme«, vom Jahr 1925 noch ganz von der traditionellen Position ausging, dass der Terminus gnosticisme auf die christlich-gnostischen Systembildungen des 2. und 3. nachchristlichen Jahrhunderts zu beziehen ist, und ihr Autor sich in dieser Auffassung auch nicht durch W. Boussets These von einem (vorchristlichen) »gnosticisme primitif« beirren ließ88, ist der Fortschritt in der Fragestellung hier, in der französisch-sprachigen Forschung, ganz offensichtlich in der Sammlung der einschlägigen Arbeiten von H.-Ch. Puech unter dem (bezeichnenden) Titel »En quète de la Gnose« vom Jahre 1978: gnosticisme, das ist zunächst auch hier noch »le gnosticisme chrétienne des prémiers siècles«, »la Gnose« ist demgegenüber jedoch nicht nur eine Vorstufe, sondern vielmehr das umfassende, den gnosticisme einschließende Phänomen, »en adaptant« nämlich »le christianisme a sà mentalité et à ses schémes propres«89, so dass am Ende in diesem Sinne jener (christliche) gnosticisme eben auch »la Gnose chrétienne« genannt werden kann90. Die Auffassung von H.-Ch. Puech geht also eindeutig dahin, dass la Gnose das umfassende (wie auch genuine!) Phänomen darstellt, während der Terminus gnosticisme hier nur noch jene ›Gnosis‹ in der Nähe des frühen Christentums bezeichnet – und damit eben einen gleichsam speziellen Fall von »la Gnose«91. In diesem Sinne zeichnet sich in der neueren Gnosisforschung, was Definition und Gebrauch der traditionellen Termini Gnosis und Gnostizismus betrifft, durchaus eine über den Vorschlag der Messina-Konferenz hinausgehende Grundlinie ab. Konkret bedeutet dies, dass der bereits im Neuen Testament (1 Tim 6,20) bezeugte Terminus Gnosis vorzüglich dazu geeignet ist, eine durch bestimmte Merkmale präzis zu bestimmende religiöse Bewegung der spätantiken Religionsgeschichte zu bezeichnen, in deren Geschichte auch der sog. Gnostizismus hineingehört, und zwar als eine ›christliche‹ Verobjektivierung jener Gnosis. Wenn aber in diesem Zusammenhang überhaupt von einer historischen ›Entwicklung‹ zu reden ist, also von einem Weg »from Gnosticism to Gnosis« (R. McL. Wilson), dann spricht auch nichts mehr gegen einen ›historisch-genetischen‹ Zusammenhang zwischen Gnosis und Gnostizismus und in diesem Sinne den (christlichen) Gnostizismus des zweiten und dritten Jahrhunderts als einen sekundär(!) christianisierten Spezialfall einer ursprünglich nicht-christlichen Gnosis zu bezeichnen. Ob damit bereits der ›Beweis‹ für eine vor-christliche Gnosis vorliegt, bleibt noch zu 88 Zur Auseinandersetzung mit W. Bousset vgl. E. de Faye, Gnostiques et Gnosticisme, S. 5 ff. sowie das 3. Kapitel unter der Überschrift »Le évolution du Gnosticisme« (S. 469–483). 89 H.-Ch. Puech, En quète de la Gnose I, S. 21. 90 Ebd., S. 64. Vgl. auch S. 85 f., sowie die Aufsätze »La problème du gnosticisme« (ebd., vol. I, S. 143–183) und »Phénoménologie de la Gnose« (ebd., vol. I, S. 185–213). 91 So vol. I, S. 163, hier, S. 164 ff., auch zur Frage, ob und in welchem Sinne ›die Gnosis‹ als eine eigene ›Religion‹ zu bezeichnen ist.

2.3 Exkurs: »Slippery Words«.

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fragen. In jedem Fall aber wäre auf diese Weise zunächst der auf zwei unterschiedlichen Ebenen, nämlich einerseits auf einer phänomenologischen und andererseits auf einer historischen Ebene argumentierende Vorschlag von Messina überwunden92. Und schließlich: Von hier aus ist es kein weiter Weg mehr zum Votum von K. Rudolph in Sachen Gnosis / Gnostizismus: »Die im dt. [deutschen] Sprachraum heute übliche Bezeichnung G.[nosis] hat die ältere, jedoch im Englischen und Französischen verwendete Benennung ›Gnostizismus‹ (gnosticism, gnosticisme) weitgehend abgelöst«93. Dieser in den neueren deutsch-sprachigen Publikationen zum Thema immer deutlicher hervortretenden, z.T. sich aber auch im englischen und französischen Sprachraum zumindest tendenziell abzeichnenden Sprachregelung folgt auch die vorliegende Darstellung, und zwar in erster Linie auf Grund der in dieser Hinsicht überlieferten Quellen: Was in diesem Sinne die eindeutige Bevorzugung des Terminus Gnosis vor dem Neologismus Gnostizismus betrifft, so bedarf es keiner Frage, dass gerade in dieser Hinsicht wiederum den sog. Pastoralbriefen des Neuen Testaments und hier insbesondere der nach wie vor entscheidenden Aussage von 1 Tim 6,20 eine besondere Bedeutung zukommt. Entgegen gelegentlichen Zweifeln oder auch ausdrücklicher Bestreitung besteht gegenwärtig ein weitgehender Konsens darüber, dass eben jene den 1. Timotheusbrief abschließende Mahnung, »das Glaubensgut [i.S. des depositum fidei] zu bewahren« und sich auf diese Weise von »den törichten und leeren Reden und Antithesen der in lügnerischer Weise so genannten Gnosis« fernzuhalten, nicht eine bestimmte religiöse Bewegung mit dem Namen ›Gnosis‹ im Blick hat, sondern eine bestimmte Gruppierung innerhalb der christlichen Gemeinde, für die das Stichwort ›Gnosis‹ eine grundlegende Bedeutung gewonnen hat94. ›Erkenntnis‹ im Sinne einer bestimmten Art von Gottes- und Heilserkenntnis ist also offensichtlich hier, in der von den Pastoralbriefen bekämpften ›Irrlehre‹, für jene Gruppierung innerhalb der Gemeinde, zu einem ›Pro-

92 Zur Kritik an den Vorschlägen der Messina-Konferenz in dieser Hinsicht vgl. bereits H.J.W. Drijvers, Die Ursprünge des Gnostizismus als religionsgeschichtliches Problem, in: K. Rudolph (Hrsg.), Gnosis und Gnostizismus, S. 803 f., sowie Th: P. van Baaren, Towards a Definition of Gnosis, S. 174–180, hier S. 175: »gnosis i a concept, gnosticism is a historic form of religion«. 93 So im Artikel »Gnosis, Gnostiker« in: Der Neue Pauly IV (1998), S. 1117. Im Art. »Gnosticism« in »The Anchor Bible Dictionary« II (1992), S. 1033–1039, wird das Stichwort gnosticism, dem englischen Sprachgebrauch folgend, nur in der Überschrift des Artikels genannt. Innerhalb des Artikels steht durchgängig der Terminus Gnosis. 94 »Dieser Konsens wird hier bestritten«(!) – so K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, S. 513, im Folgenden (S. 513–515) mit dem Versuch, für die neutestamentlichen Pastoralbriefe eine judenchristlichen Irrlehre nachzuweisen. Vgl. demgegenüber die knappe Auslassung zum gnostischen Sachverhalt in den Pastoralbriefen in: K. Berger, Art. Gnosis / Gnostizismus I, in: TRE XIII , S. 525. Zum Problem in dieser Hinsicht vgl. J. Holzhausen, in: JAC 44 (2001), S. 58–74, hier: S. 58–60.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

grammwort‹ geworden: ›Gnosis‹ als eine Art terminus technicus95. Bereits hier zeigt sich – wie in den Pastoralbriefen insgesamt – ein bestimmter fester Stil der ›Ketzerpolemik‹, wie er dann bei den frühkirchlichen Häresiologen, hier insbesondere bei Irenäus, seine unmittelbare Fortsetzung findet. Aus der Schärfe solcher ›antihäretischen‹ Polemik in den neutestamentlichen Pastoralbriefen insgesamt darf man auch schließen, dass diese sich unter dem Stichwort ›Gnosis‹ darstellende Irrlehre bereits zu einer akuten Gefährdung der ›rechtgläubigen‹, wohl vorwiegend heidenchristlichen Gemeinde geworden ist, sich also keineswegs erst in einem Anfangsstadium befand. Zumindest in dieser Hinsicht gibt es in der gegenwärtigen Forschung einen weitreichenden, nur in Nuancen noch sich unterscheidenden Konsens96. Durchaus schwieriger demgegenüber ist die Beantwortung der Frage, von welcher Art nun konkret jene in den Pastoralbriefen attackierte »Irrlehre« gewesen ist? Obwohl sich in diesen ›Spätschriften‹ des Neuen Testaments bereits ein bestimmter fester Stil der ›Ketzerpolemik‹ der frühkatholischen Kirche abzeichnet, dem es weniger um eine sachbezogene Auseinandersetzung als vielmehr um die Negation der gegnerischen Position geht, zeichnet sich doch auch in den Pastoralbriefen eine bestimmte, relativ eindeutige Grundrichtung der hier inkriminierten ›Häretiker‹ (Tit 3,10!) ab: So darf man zumindest fragen, ob mit der Bezugnahme auf jene ›Antithesen‹ der Häretiker der Pastoralbriefe in 1 Tim 6,20 nicht nur bestimmte Einwände oder Widersprüche der Gegner gegen die vom Autor der Pastoralbriefe vertretenen Wahrheit des ›rechten Glaubens‹ im Blick sind, sondern eben auch bestimmte Entgegensetzungen, die mit einer ›dualistischen‹ Position der Gegner zu tun haben. Durchaus in einem genuin ›gnostischen‹ Kontext haben auch jene mehrfachen Bezugnahmen auf die »Mythen und Genealogien« (1 Tim 1,4; 4,7; 2 Tim 4,4; Tit 1,14) ihren Sinn, sofern nämlich für die Gnosis die Frage nach dem ›Woher‹ (und damit auch nach dem ›Wohin‹!) eine über das ›Heil‹ des Menschen entscheidende Bedeutung hat. Und wenn in diesem Zusammenhang schließlich auch von speziell jüdischen Mythen die Rede ist (Tit 1,14), so ist es durchaus naheliegend, dabei an eine spezifisch gnostische Rezeption der biblisch-jüdischen Tradition zu denken. Von daher gesehen sind wohl auch jene Bezugnahmen in 1 Tim 1,7 auf (ursprünglich wohl jüdische?) ›Gesetzeslehrer‹ sowie in 1 Tim 4,3 auf bestimmte asketische Forderungen im Sinne der Enthaltung von bestimmten Speisen sowie von der Ehe zu verstehen, im Sinne nämlich eines für die Gnosis charakteristischen asketischen Radikalismus mit dem ursprünglichen Hintergrund biblisch-jüdischer Speise- und Reinheitsgebote.

95 So bereits H.J. Holtzmann, Die Pastoralbriefe, kritisch und exegetisch behandelt, Leipzig 1880, S. 368: »Die Irrlehrer nannten sich die Gnostiker schlechthin, und in diesem Sinne steht der Ausdruck hier von einem esoterischen, vollkommenen Wissen«; vgl. auch M. Dibelius, Die Pastoralbriefe, 3. neubearb. Aufl. von H. Conzelmann (HNT 13), Tübingen 1955, S. 70: » , hier technisch als Selbstbezeichnung der Irrlehrer«. 96 S.o. Anm. 94.

2.3 Exkurs: »Slippery Words«.

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Von daher gesehen kann man endlich auch – was das Selbstverständnis jener gnostischen Irrlehrer betrifft – von einem durchaus ›elitären‹ Selbstbewusstsein sprechen, wie es sich in 1 Tim 6,21 bekundet: Sie, jene Irrlehrer der Pastoralbriefe, ›proklamieren‹, besser: ›rühmen‹ sich einer ›Erkenntnis‹, mit der sie sich von den anderen, den sozusagen »schlichten Gliedern der christlichen Gemeinde unterscheiden«97. Noch deutlicher in dieser Hinsicht schließlich, im Sinne einer gleichsam ›elitären‹ Selbstabgrenzung von den schlichten Gemeindechristen: 2 Tim 2,18 der Verweis auf die beiden Gemeindeglieder Hymenaios und Philetos, die, wie es hier heißt, »von der Wahrheit [sc.: des ›gesunden‹ Glaubens] abgewichen sind, indem sie sagten, dass die ›Auferstehung bereits geschehen sei‹, und die [auf diese Weise] den Glauben einiger Leute zu Fall bringen«. Was hier vorliegt, ist in der Tat eine »overrealized eschatology«, ein also eschatologischen ›Enthusiasmus‹, der beansprucht, den irdisch-geschichtlichen Ort der christlichen Gemeinde ›jetzt schon‹ hinter sich zu lassen … – Und ein letztes noch in diesem Zusammenhang: Wenn in den Pastoralbriefen die Wortgruppe – eine immerhin beträchtliche Rolle spielt (1 Tim 6,4; 2 Tim 2,33; Tit 3,9) und 2 Tim 1,17 auch die Sentenz bzw. Sequenz vom ›Suchen und Finden‹ benutzt wird, so könnte dies darauf hinweisen, dass für jene hier apostrophierten ›Irrlehrer‹ nicht zuletzt eine bestimmte Art von Schriftauslegung charakteristisch ist: Man ›sucht‹ in der Schrift, unter einer bestimmten (hermeneutischen) Voraussetzung und ›findet‹ dann dementsprechend auch das, was man sucht« – insgesamt ein für die spätere christliche Gnosis (des 2. und 3. Jahrhunderts) offensichtlich selbstverständliches Verfahren, das bereits Tertullian zu dem entsprechenden Einspruch veranlasst hat, im Blick speziell auf das rechte Verständnis von Mt 7,7 par, und zwar eben angesichts dessen, dass die Häretiker gerade diese Schriftstelle zu einer Art ›Leitwort‹ ihrer Bibelexegese gemacht haben – und dementsprechend er dann auch seine Widerrede gegen solches gnostische Schriftverständnis: Cedo nunc sponte de gradu isto: omnibus dictum ist: Quaerite et invenietis; tamen et hic expetit sensus certare cum interpretationis gubernaculo (De praescriptione haereticorum, c. 9). Und weiter (ebd.): Unius porro et certi instituti infinita inquisitio non potest esse; quaerendum est donec invenias et credendum ubi inveneris, et nihil amplius, nisi custodiendum quod credidisti …98. So gesehen ist das Gesamtbild der gnostischen Irrlehre in den Pastoralbriefen offensichtlich relativ einheitlich und eindeutig, und es ist durchaus nachvollziehbar, dass die späteren antignostischen frühkirchlichen Häre97 M. Wolter, Die Pastoralbriefe als Paulustradition (FRLANT 146), Göttingen 1988, S. 265 f., spricht im Blick auf das hier benutzte Verbum (sc.: ) in 1 Tim 6,21 von einer »elitären Selbstabgrenzung« (mit Verweis auf SapSal 2,13; Philo, VitCont 2); dies wird noch deutlicher, wenn das Verbum (mit Bauer/Aland, Wörterbuch zum NT , Sp. 568) mit »sich rühmen« übersetzt wird. 98 Tertullian, De praescriptione haereticorum, c. 9; vgl. hier auch die cc. 8 sowie 10 und 11.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

siologen, allen voran Irenäus, was die Auseinandersetzung mit der frühchristlichen Gnosis ihrer Zeit betrifft, unmittelbar an die entsprechende Polemik der Pastoralbriefe anknüpfen konnten, und zwar sowohl bezüglich der Bewahrung der , des von den Aposteln grundgelegten depositum fidei als auch bezüglich des entschiedenen Widerspruchs gegen jene »in lügnerischer Weise so genannte Gnosis«. Jedenfalls ist es vor allem bei Irenäus offensichtlich, in welchem Maße er in seinem (auch für die späteren altkirchlichen Häresiologen grundlegenden) antihäretischen bzw. antignostischen Werk angesichts einer in seiner Zeit bereits fortgeschrittenen Entwicklung der gnostischen Häresie wiederum auf die bereits in den Pastoralbriefen gesetzten Maßstäbe zurückgreift – und jene antignostische Polemik der Pastoralbriefe in einer veränderten Situation auf seine Weise weiterführt. Es ist also im zweiten nachchristlichen Jahrhundert zunächst der »Paulus der Pastoralbriefe« gewesen, dessen Erbe in der Auseinandersetzung mit der frühchristlichen Gnosis eine besondere Bedeutung gewann. Speziell bei Irenäus zeigt sich dies keineswegs nur darin, dass er bereits den Titel seiner antignostischen Streitschrift eben nach dem Vorbild von 1 Tim 6,20 gestaltete, sondern auch – und noch deutlicher – darin, dass auf eben diese Schriftstelle mehrfach innerhalb seines Werkes verwiesen wird, so in der Praefatio zum ersten Buch (I 1), darüber hinaus aber auch in I 23,4; II 14,7 und III 11,1. Ferner spielen noch andere ›dicta probantia‹ aus den Pastoralbriefen, nunmehr auf die aktuelle Situation zur Zeit des Irenäus bezogen, eine gewichtige Rolle in der Auseinandersetzung mit der frühchristlichen Gnosis, so z.B. die Bezugnahme auf die ›Mythen‹ von 1 Tim 4,6 in Adv. Haer. I 8,2 und 16,3 wie auch der offensichtliche Bezug in Adv. Haer. II 21,2 auf 2 Tim 4,3 und nicht zuletzt der in Adv. Haer II 31,2 vorliegenden Rekurs auf 2 Tim 2,18. So gesehen gehört auch und gerade Irenäus im Blick speziell auf die Pastoralbriefe in die Geschichte der Paulus-Rezeption der frühen Kirche hinein99. Bemerkenswert bei dieser Paulus-Rezeption im Anschluss an die Pastoralbriefe ist, dass Irenäus nunmehr – im Unterschied zu deren ursprünglicher Frontstellung gegenüber einer in einem begrenzten Raum agierenden ›Irrlehre‹ – in seinem antignostischen Werk verallgemeinernd (und damit auch gleichsam grundsätzlich!) verfährt, bei seinem Verfahren also eine ganze Reihe von ursprünglich unterschiedlichen gnostischen Gruppen und ›Sekten‹ nennt, und zwar ganz unabhängig davon, ob diese Gruppen und Sekten sich jeweils selbst als Repräsentanten einer spezifisch gnostischen Häresie verstanden oder auch als solche bezeichnet haben. Die Tatsache, dass Irenäus in der Auseinandersetzung mit den ›Irrlehren‹ seiner Zeit, des 2. Jh.s n.Chr., die Überschrift von der »in lügnerischer Weise so genannten Gnosis« vorangestellt und auf diese Weise sämtliche in seinem Werk genannte Gruppen, 99 Dazu im Einzelnen: R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpret, S. 70–74, hier (S. 73 f.) Zur Rezeption von 1 Tim 1,4 bei Irenäus, Adv. Haer. I 2–4.

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Gemeinden und Schulen, seien es nun die ›Simonianer‹, die ›Nikolaiten‹ oder auch die ›Valentinianer‹, Gnostiker ( ) genannt hat, ist – betrachtet man solches zweifellos verallgemeinernde Verfahren nicht nur unter einem polemischen, sondern auch unter einem historischen Aspekt – keineswegs selbstverständlich, auch wenn Irenäus mit einem solchen Verfahren zweifellos bestimmte Maßstäbe für einen entsprechenden Sprachgebrauch der späteren frühkirchlichen Häresiologen gesetzt hat100. Angesichts dieses Befundes stellt sich notwendig die kritische, d.h. unterscheidende Frage, ob und inwieweit es – im Blick speziell auf den Terminus – zu differenzieren gilt:

2.3.2 – ›Gnostiker‹: ein sekundärer häresiologischer Terminus bzw. eine Fremdbezeichnung oder eine (ursprüngliche) Selbstbezeichnung der ›Gnostiker‹?101 Das Adjektiv , wörtlich übersetzt: ›zur Erkenntnis geeignet/fähig‹, hatte, bevor es bei den antignostischen Häresiologen der Alten Kirche in seiner substantivierten Gestalt zu einer generellen Bezeichnung der ›Gnostiker‹ (genauer: der gnostischen Gruppen und Schulen des 2. und 3. Jahrhunderts) geworden ist, bereits eine lange Geschichte hinter sich. Am Anfang steht dabei der von Platon geprägte ›epistomologische‹ Gebrauch in seinem steht hier im ZusammenDialog »Politikos«102. Das Adjektiv hang mit einer Erörterung über den rechten Weg der Staatskunst, in der zwischen einer und einer unterschieden wird (Politikos 258 a und e). Es ist letztere, die dabei eindeutig den Vorrang hat: »Mit Recht also könnte man sagen, dass er [der Baumeister] allein an der teilhabe« (ebd., 260 a). Und indem jener ›Baumeister‹ jene weiterreicht, erweist er sich auch als ein »master of the gnostic art«103. – Von solchem Sprachgebrauch her ist es zu verstehen, dass der Terminus bei den Platon-Nachfolgern der folgenden Jahrhunderte, sowohl bei Aristoteles als auch bei den Platonikern bis hin zu

100 Vgl. dazu F. Wisse, The Nag Hammadi Library and the Heresiologists: VC 25 (1971), S. 205–223, hier S. 211: »It is sufficient to limit ourselves to Irenaeus, since his is the earliest surviving anti-Gnostic work, and it sets the pattern for all the later heresiologists«. Zur Nachwirkung der antignostischen Polemik des Irenäus insbesondere in Hippolyts »Refutatio omnium haeresium« vgl. M.J. Erdwards, Gnostics and Valentinians in the Church Fathers, in: JThSt N. S. 40 (1989), S. 26–47, hier: S. 31 ff. 101 Vgl. dazu: M. Smith, The History of the Term Gnostikos, in: B. Layton (ed.), The Rediscovery of Gnosticism I, S. 786–807; M. Tardieu, Histoire du mot ›Gnostique‹, in: M. Tardieu/ J.-D. Dubois, Intro-duction à la littérature gnostique I, S. 21–37; B. Layton, Prolegomena to the Study of Ancient Gnosticism, S. 334–350. 102 Vgl. dazu M. Smith, a.a.O., S. 798 f.; M. Tardieu, a.a.O., S. 23. 103 So M. Smith, a.a.O., S. 799.

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Johannes Philoponus, seinen ursprünglichen »elitären« Charakter behielt und niemals in die griechische Umgangssprache einging104. Von hier aus ist es dann auch verständlich, dass das substantivierte Adjektiv ›der Gnostiker‹ nunmehr in der frühchristlichen Gnosis denjenigen bezeichnete, der für sich die ›wahre‹ und ›rechte Erkenntnis‹ in Anspruch nahm und in eben diesem ›elitären‹ Sinn durchaus als Selbstbezeichnung in Betracht kam und – zum Teil wenigstens – auch in diesem Sinne gebraucht worden ist. Orientiert man sich in dieser Hinsicht zunächst nicht an den Sekundärquellen der antignostischen ›Kirchenväter‹, sondern an den (nach den Funden von Nag Hammadi) zur Verfügung stehenden Originalquellen, so stellen sich die Dinge ganz anders dar: Das griechische Lehnwort findet sich hier ebenso wenig wie ein (vom koptischen sooyen oder eine abgeleitetes) Synonym105, statt dessen aber eine Vielzahl metaphorischer Bezeichnungen, die ihrerseits allesamt Ausdruck eines elitären Selbstverständnisses sind106. Immerhin ist in diesem Zusammenhang zunächst darauf hinzuweisen, dass es im Raum einer ›christlichen‹ Gnosis offenbar durchaus nicht ungewöhnlich gewesen ist, dass die frühchristlichen Gnostiker sich selbst schlicht ›Christen‹ ( ) genannt haben. So führt der Apologet z.B. Justinus Martyr in seiner ersten »Apologie« (I 26,6 f.) und in seinem »Dialog mit Tryphon« (35,2.6) Klage darüber, dass eine ganze Reihe von gnostischen Schulen – angefangen bei Simon Magus bis hin zu den Basilidianern und Valentinianern – sich selbst ›Christen‹ genannt haben, und dies offensichtlich mit der Konsequenz, dass das entsprechende Selbstverständnis der ›Kirchenchristen‹ bestritten wird. Dieser Sachverhalt wird durch die gnostischen Originalschriften von Nag Hammadi ausdrücklich bestätigt: Hinzuweisen ist vor allem auf das sog. Philippusevangelium (NHC II /3): Hier heißt es im Logion 6 (p. 52,21–24): »Als wir Hebräer waren, waren wir Waisen, Wir hatten [nur] unsere Mutter. Als wir aber Christen wurden, wurden uns [auch] Vater und Mutter«107. Die Bedeutung, die für einen ›Gnostiker‹ – im Falle des Phil-Evangeliums wahrscheinlich valentinia104 Zum Sprachgebrauch bei Aristoteles und den Platonikern vgl. M. Smith, a.a.O., S. 799– 80, sowie B. Layton, Prolegomena, S. 336 f. 105 Am nächsten kommt dem griechischen noch die Wendung im Evangelium veritatis (NHC I/3, p. 22.2 ff.): »Daher ist einer, wenn er erkannt hat (kopt.: oyeei efsafcayne), ein Wesen von oben«. M.A. Williams, Rethinking Gnosticism, S. 32, sieht in diesem Sachverhalt einen Hinweis darauf, dass der Terminus ›Gnostiker‹ als Selbstbezeichnung keineswegs »very widespread« war. 106 Vgl. dazu: F. Siegert, Selbstbezeichnungen der Gnostiker in den Nag Hammadi Texten, in: ZNW 71 (1980), S. 129–132. Auffällig sind bei diesen Selbstbezeichnungen die von W. Ullmann herausgestellten »Beziehungen zwischen gnostischen Gottesnamen und den Selbstbezeichnungen der Gnostiker in koptisch-gnostischen Quellen« (in: P. Nagel, Studia Coptica, Berlin 1974, S. 191–200); vgl. auch K. Rudolph, Die Gnosis, S. 220 f. 107 Vgl. dazu auch Clemens Alexandrinus, Exc.ex Theod. 68: »Solange wir noch Kinder des Weibes waren, … waren wir unvollkommen, unverständig, unmündig …, hervorgebracht wie Fehlgeburten … Als vom Heiland Gestaltete jedoch sind wir Kinder des Mannes und des Brautgemachs geworden«.

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nischer Prägung – mit der Bezeichnung ›Christ‹ verbunden war, zeigt sich im Logion 95 (p. 74,12–20): »Die Salbung ( ) ist der Taufe überlegen. Denn auf Grund der Salbung werden wir ›Christen‹ genannt, nicht [allein] wegen der Taufe. Auch Christus ist [ja erst] wegen der der Salbung [so] genannt worden«. Und schließlich in diesem Zusammenhang: »Der Vater salbte den Sohn. Der Sohn aber salbte die Apostel. [Und] die Apostel salbten uns« – denn: »Wer gesalbt ist, der besitzt alles …«108. Die ›Salbung‹ wird hier der (bloßen) ›Taufe‹ übergeordnet, um auf diese Weise dem besonderen Charakter des Selbstverständnisses der Gnostiker als ›den wahren Christen‹ (gegenüber den ›Kirchenchristen‹) Ausdruck zu geben – auch hier also: Abgrenzung des gnostischen Verständnisses vom ›Christ‹-sein gegenüber dem des ›kirchlichen‹ Christentums109. In dieselbe Richtung weist auch die Bemerkung des Hippolyt in seiner Refutatio omnium haeresium (V 9,22), wonach die Gnostiker für sich in Anspruch nahmen, ›allein Christen zu sein‹, ›allein‹ eben gegenüber dem konkurrierenden Anspruch der ›kirchlichen Christen‹110. – In eben diesen Zusammenhang gehört schließlich auch die lange Reihe der gnostischen (oder doch jedenfalls ›gnostisierenden‹) »Apokryphen und Pseudepigraphen«, »Evangelien« sowie »Apokalypsen«, in denen die frühchristlichen Gnostiker, jeder auf sein Weise, gegenüber den »Kirchenchristen« den Nachweis dafür antreten, dass ihre eigene spezifisch gnostische Tradition in der Kontinuität der »apostolischen Tradition« steht111.

108 Zu als Selbstbezeichnung des Gnostikers vgl. im Philippusevangelium (NHC II /3) auch die Logien 49 (p. 62,26–35); 59 (p. 64,22–30); 67 (p. 67,23–27) sowie Logion 102 (p. 75,30–76,5) und dazu: H.-M. Schenke, Das Philippusevangelium (NHC II ,3). Neu herausgegeben, übersetzt und erklärt (TU 143), Berlin 1997, sowie M. Tardieu, Le mot Gnostique, S. 24. 109 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Hervorhebung des (Sakraments des) ›Brautgemachs‹ im Logion 76 des Phil.-Evangeliums (NHC II /3, p. 65,25–29) und dazu wiederum H.-M. Schenke, Das Philippusevangelium, S. 402 ff., hier bes. S. 407 f. Zur Sache vgl. auch Clemens Alexandrinus, Exc. ex Theodoto 68 (s.o. Anm. 107). 110 Zur entsprechenden Polemik in den gnostischen Schriften vgl. z.B. Testimonium veritatis (NHC IX /3), p. 31,22–32: »Die Toren denken in ihrem Herzen, wenn sie [nur] dem Worte nach, nicht aber in Kraft bekennen: ›Wir sind Christen‹, wobei sie sich der Unwissenheit … ausliefern, weil sie weder wissen, wohin sie gehen, noch wissen, wer [eigentlich] Christus ist« oder auch Logos des großen Seth (NHC VII /2), p. 59,22 ff.: »Wir [sc.: die Gnostiker] wurden gehasst und verfolgt nicht nur von denen, die unwissend sind, sondern auch von denen, die da meinen, dass sie reich sind durch den Namen Christi, obgleich sie doch arm sind infolge von Unwissenheit«. Zum Ganzen vgl. E. Pagels, Versuchung durch Erkenntnis, S. 157 ff. In diesem Streit handelt es sich offensichtlich um eine Variante der Spannung zwischen ›Charisma und Institution‹, im Sinne nämlich eines eher ›individualistischen‹ Heils- und Selbstverständnisses der Gnostiker im Unterschied zur eher ›institutionellen‹ Einbindung der ›Kirchenchristen‹ in die sich im Verlauf des 2. Jh.s herausbildende ›frühkatholische‹ Kirche. 111 Zur Frage der hier vorliegenden »Fälschungen und Gegenfälschungen« vgl. C. Colpe, Art. Gnosis II , in: RAC XI , Sp. 643 f.; M. Krause, Christlich-gnostische Texte als Quellen für die Auseinandersetzung von Gnosis und Christentum, S. 53 ff. – Zum gnostischen Traditionsund Sukzessionsverständnis (mit seinem Vorbild im antiken philosophischen Schulwesen) vgl.

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Unmittelbarer Ausdruck eines spezifisch gnostischen Selbstverständnisses sind jedoch vor allem die in den gnostischen Originalschriften von Nag Hammadi in reichlichem Maße überlieferten Selbstbezeichnungen112. Auch dort, wo sie ihrerseits wiederum in der Kontinuität einer ursprünglich christlich-jüdischen Tradition stehen, gewinnen sie nunmehr, in einem spezifisch gnostischen Kontext, ihre besondere ›elitäre‹ Bedeutung, die immer zugleich etwas über das ›Wesen der Gnosis‹ aussagt. Neben der Selbstbezeichnung ›Heilige‹ ( ) gilt dies insbesondere für die Selbstbezeichnungen ›Auserwählte‹ ( ) oder auch ›Vollkommene‹ ( )113, noch deutlicher für die vielfach bezeugte Selbstbezeichnung ›Kinder‹ bzw. ›Söhne des Lichts‹114. Besonders zu beachten sind in diesem Zusammenhang jene Selbstbezeichnungen, mit denen in einer gewiss ›metaphorischen‹, aber eben doch auch ›genealogischen‹ – um nicht gleich zu sagen: ›naturhaften‹ – Weise »Wesen und Würde« des Gnostikers zur Aussage gebracht werden. Dies gilt vor allem im Blick auf die (vor allem im Raum der sog. Sethianischen Gnosis üblichen) Selbstbezeichnungen »Same des Vaters/der Vaterschaft« oder auch »Same« bzw. »Geschlecht des Seth« o.ä.115. Wenn in diesem Zusammenhang jenes »Geschlecht des Seth« auch als ein »königloses ( ) Geschlecht« bezeichnet wird, das – als solches – keiner irdisch-weltlichen Herrschaft unterworfen ist116, damit zugleich auch als ein ›unvergängliches‹ ( ) Geschlecht, das – als solches – keinerlei Veränderung mehr unterworfen ist117, ist offensichtlich, dass hier jeweils zusammen mit der ›anthropologischen‹ auch eine ›theologische‹ Aussage verbunden ist. Und das heißt N. Brox, Offenbarung, Gnosis und gnostischer Mythos bei Irenäus von Lyon, S. 123 ff. und S. 127 ff.: »Gnostische Diadoche und Paradosis«. 112 S.o. Anm. 106. 113 Vgl. zu z.B. Thomasevgl. (NHC II /2), die Logien 49 und 50; »Drei Stelen des Seth« (NHC VII /5), p. 118,17. Zu : Logos des großen Seth (NHC VII /2), p. 69,13; Drei Stelen des Seth p. 121,5 f.: »vollkommen um deinetwillen«; Zostrianus (NHC VIII /1), p. 48,1 f.; 59,17 f.; 60,23; 129,17. 114 Vgl. z.B. »Wesen der Archonten« ((NHC II /4), p. 97,13 f.; Dreigest. Protennoia (NHC XIII ), p. 41,1; 42,16 f.; 45,33 u.ö. sowie bes. das Thomasevangelium (NHC II /2), Logion 24 (p. 38,7–9): »Es ist Licht im Inneren eines Lichtmenschen, und er erleuchtet die ganze Welt«. Für kopt. rmoyoein steht in der griechischen Fassung des Pap. Oxyrrh. 655 . 115 Vgl. z.B. NHC I/3 (Ev. veritatis), p. 43,14; NHC II /4 (Wesen der Archonten), p. 96,27; 97,9; VII /2 (Logos des großen Seth), p. 61,29 f.; Pap. Berol. 8502, p. 36,3 f.; 64,5; 76,4. Zum »Samen des Seth« vgl. bes. NHC V/5 (Adam-Apokalypse), p. 65,5–9; 66,4–6; 69,11–17; 88,22.27–29. Dazu: A.F.J. Klijn, Seth in Jewish, Christian and Gnostic Literature (NT.S 46), Leiden 1977, S. 92 ff. Besondern hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die »Drei Stelen des Seth« (NHC VII /5, p. 118,12 f.): Seth gilt hier als »Vater des lebendigen und bewegungslosen(!) Geschlechts«. Dazu: B.A. Pearson, The Figure of Seth in Gnostic Literature, in: B. Layton (ed.), The Rediscovery of Gnosticism II , S. 472–503, hier S. 479 ff. 116 Vgl. z.B. NHC II /4 (»Wesen der Archonten«), p. 97,4; II /5 (Schrift ohne Titel), p. 17,11– 14. Die Formulierung im Koptischen (tgenea ete mn mnterro) entspricht genau dem griechischen bei den Nasassenern des Hippolyt, Ref. V 8, 2.30. Zur Sache vgl. F.T. Fallon, The Gnostics: Undominated Race, in: NT 21 (1979), S. 272–288. Kritisch dazu, i.S. nämlich einer Spätdatierung dieser Terminologie, R. Bergmeier, ›Königlosigkeit‹ als nachvalentinianisches Heilsprädikat: NT 24 (1982), S. 316–339, spez. S. 327 f. 117 Vgl. z.B. NHC II /1 (Apokr. Joh.), p. 2,20; III /2 (Ägypterevangelium), p. 51,8 f.; 59,12–15; 60,25 f. Pap. Berol. 8502 (Apokr. Joh.), p. 22,15; 65,2.; 73,9 f.; 75,20–76,1. Die hier

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konkret: Solcherlei Selbstbezeichnungen der Gnostiker, die nach Ausweis der Texte von Nag Hammadi geradezu eine Art »term. techn.« für die »Gnostiker« darstellen, Kennzeichen diese »Gnostiker« als ein »Geschlecht«, das unmittelbar an der Unveränderlichkeit, an der »Stabilität« des der Welt jenseitigen Gottes teilhat118.

Angesichts dessen, dass ›Unwandelbarkeit‹, und ›Unbewegbarkeit‹ Gottes eines der großen Themen der antiken und spätantiken Philosophie- und Religionsgeschichte ausmacht, zeigt sich hier ein umfassender, im Einzelnen weitverzweigter Zusammenhang zwischen der ›Gnosis‹ einerseits und bestimmten Traditionen der spätantiken Welt andererseits119. Dieser legt in Gestalt der Rezeption jener Überlieferungen durch die ›Gnostiker‹ zugleich einen der zentralen Wesenszüge einer spezifisch gnostischen Religiosität und Spiritualität offen: Sofern in den genannten Selbstbezeichnungen der ›Gnostiker‹ eine Korrespondenz zwischen theo-logischen und anthropo-logischen Aussagen besteht, wird mit solcherlei Selbstbezeichnungen immer zugleich bekundet, dass der ›Gnostiker‹, was sein Selbstverständnis betrifft, für sich letztlich eine Teilhabe am Wesen des der Welt transzendenten Gottes in Anspruch nimmt. Und dies bedeutete am Ende nichts anderes, als dass hier nicht nur von einem ›elitären‹ Selbstverständnis zu reden ist, sondern letztlich von einer Wesensgleichheit, ja Wesenseinheit des Gnostikers mit jenem dieser irdischen Welt transzendenten Gott! Kann, darf man hierzu sogar von einer Konsubstantialität mit Gott reden? B.A. Pearson jedenfalls hat in diesem Sachzusammenhang vermerkt: »With such expressions we are confronted with the heart and core of Gnostic religion, the idea of the consubstantiality of the Self with God«120. Von den überlieferten gnostischen Originalschriften her gesehen scheint also der Gesamtbefund hinsichtlich der Ausgangsfrage zunächst in die Richtung zu weisen, dass es sich bei dem Terminus eher um eine jeweils im Koptischen für ›unbeweglich/unwandelbar‹ benutzte Formulierung atkim entspricht griechischen : vgl. NHC III /1 (Apokr. Joh.), p. 33,3: tgenea naseulaton. 118 So NHC III /2 (Ägypterevangelium), p. 59,12–15. Diese Korrespondenz zwischen Theologie und Anthropologie zeigt sich besonders deutlich im Apokr. Johannes in der Anweisung an den Offenbarungsempfänger, die Belehrung über den ›vollkommenen Menschen‹ nur den ›Gleichgesinnten‹ zu vermitteln, die als solche »aus dem Geschlecht sind, das nicht wankt« (ete henebol hen tigenea ete askim), und die als solche auch imstande sind, zu ›begreifen‹. So Pap. Berol 8502, p. 22,13 ff.; vgl. auch »Sophia Jesu Christi« (ebd., p. 92,4 ff.): »Der, dessen Art man nannte: das Geschlecht nämlich, über dem keine Herrschaft ist; derjenige [nämlich], durch den ihr in Erscheinung getreten seid, wird von jenen Menschen des Ortes, über den es keine Herrschaft gibt, genannt: Der Ungezeugte ( ), Gott, der Erlöser der Kinder Gottes«. Zu den genannten Stellen vgl. W. Ullmann, Beziehungen zwischen gnostischen Gottesnamen und den Selbstbezeichnungen der Gnostiker, S. 191–200. 119 Vgl. dazu im einzelnen M.A. Williams, The Immovable Race. W. Ullmann, a.a.O. (Anm. 118), S. 195 f., verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Gottesbezeichnung ›Der Stehende‹ ( ) in der simonianischen ›Apophasis Megale‹ bei Hippolyt, Ref. VI ,9 ff.; vgl. auch M.A. Williams, a.a.O., S. 37 sowie S. 54 ff. 120 So B. Layton, Prolegomena, S. 337; vgl. auch S. 344, sowie P. Nagel, Beziehungen zwischen gnostischen Gottesnamen und den Selbstbezeichnungen der Gnostiker (S. 191–200).

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›formale‹ Bezeichnung handelt, die als solche noch keineswegs einen Zugang zu Sache und Wesen der ›Gnosis‹ eröffnet – geschweige denn, dass mit diesem Terminus zwischen den einzelnen Gruppen und Schulen der frühchristlichen Gnosis differenziert wird. Vergleicht man jedenfalls diesen – offensichtlich sekundär verallgemeinernden – Sprachgebrauch mit jenem – zeitlich gesehen – ursprünglichen Sprachgebrauch bei Platon, so kann man hier zunächst wohl mit Recht von »a significant deviation from established usage of this technical term« (sc.: bei Platon) sprechen. Und in der Tat besteht kein Zweifel daran, dass der Terminus , nicht zuletzt durch den einen weitgehend generalisierenden Sprachgebrauch der frühkirchlichen Häresiologen bedingt, im Grunde erst in der neueren Gnosisforschung zu einer generellen Kennzeichnung der ›Gnostiker‹ der spätantiken Religionsund Kirchengeschichte geworden ist121. Die Motive für einen solchen eher verallgemeinernden Sprachgebrauch bei den Häresiologen der Alten Kirche sind durchaus nachvollziehbar. Dabei mag vor allem das Bemühen bzw. die Absicht bestimmend gewesen sein, das an sich so vielfältige, ja ›pluralistische‹ Phänomen der frühchristlichen Gnosis – bildlich gesprochen: Die an sich so ›vielköpfige Hydra‹ der frühchristlichen Gnosis – auf so etwas wie einen ›gemeinsamen Nenner‹ zu bringen. In diesen Zusammenhang gehört gewiss auch das bereits bei Irenäus, aber auch in seiner Nachfolge bei Hippolyt unverkennbare Unternehmen, in einer gewissen Analogie zur »successio apostolica« so etwas wie eine successio haereticorum zu konstruieren, konkret eine einlinige ›Genealogie‹ der vielfältigen einzelnen Gruppen und Schulen, an deren Anfang der ›Erzketzer‹ Simon Magus steht122. Eusebius von Caesarea jedenfalls hat Irenäus später ausdrücklich dafür gelobt, dass er sich auf diese Weise einen Weg durch den , den »unermesslichen Abgrund«, jener Irrlehren gebahnt hat123. Aus alledem darf man nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass jene ›moderne‹ Verwendung des Terminus erst im 18. Jahrhundert aufgekommen sei124. Die nähere Betrachtung des Gebrauchs dieses Terminus 121 So jetzt auch K. Rudolph, Art. Gnosis/Gnostiker, in: Der Neue Pauly IV, Sp. 1117: »Erst die moderne Forschung hat den Begriff G. als eine generelle Bez. für die diesen Gruppen gemeinsame Weltanschauung eingeführt«. 122 So bereits Irenäus, Adv. Haer. I 23–28, hier bes. 23,2.5.; 25,1–6; 27,1–4 sowie I 27,4: »… ut scires quoniam omnes … Simonis Samaritani discipuli et successores sunt«. Vgl. ebenso: I 28,1 f.; III 4,3 sowie IV praef. 2. Auch bei Eusebius (H.E. IV 7,3 ff.) findet sich diese Konstruktion, die als solche freilich nicht ausschließt, dass auch die Gnostiker selbst sich in der Kontinuität einer bestimmten Lehrtradition, und d.h. in einer bestimmten , bzw. successio verstanden haben. Deutlichstes Beispiel dafür ist der von Epiphanius, Haer. 33,3 ff., überlieferte Brief des Ptolemäus an Flora mit der Formulierung: »Die apostolische Paradosis haben auch wir aus der Nachfolge ( ) empfangen«. 123 Eusebius, hist. eccl. IV 4,3. Vgl. auch Tertullian, Adv. Valentinianos 5: Irnaeus, omnium doctrinarum curiosissimus explorator. 124 So G.W.H. Lampe, A Patristic Greek Lexicon, p. 320: »… modern use of the term for a variety of 2 nd-century dualistic heresies is prob. of 18 th-century origin«. Demgegenüber M. Smith, The History of the Term Gnostikos, S. 803: »Not all the blame, however, can be

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bei den altkirchlichen Häresiologen, insbesondere bei Irenäus und Hippolyt, zeigt nämlich, dass der bereits hier festzustellende verallgemeinernde Gebrauch des Terminus einen Ansatz zur Differenzierung i.S. einer Selbstbezeichnung der ›Gnostiker‹ nicht ausschließt. Das einschlägige Werk des Justinus Martyr, auf das er selbst in seiner 1. Apologie (I 26) Bezug nimmt, das sog. »Syntagma gegen alle (inzwischen) entstandenen Häresien«, ist zwar nicht erhalten; indes zeigt auch der vor allem bei Irenäus und Hippolyt zu erhebende Befund, dass der bereits hier festzustellende verallgemeinernde Gebrauch dieses Terminus seinen Gebrauch im Sinne einer Selbstbezeichnung der ›Gnostiker‹ keineswegs ausschließt. So ist zunächst bei Irenäus von vornherein eine Verallgemeinerung des Terminus offensichtlich: Wer – wie Irenäus – sein antihäretisches Hauptwerk unter den Titel »Entlarvung und Widerlegung der fälschlich so genannten Gnosis« stellt, gibt von vornherein zu erkennen, die historisch gegebene Vielfalt der hier im Einzelnen erörterten ›Häresien‹ nach Möglichkeit unter einem einheitlichen Aspekt zu betrachten, und zwar bereits vom Ursprung jener Häresien her. So versteht es sich von selbst, dass jene von Irenäus entworfene successio haereticorum, und zwar von einem einheitlichen Ausgangspunkt (in Gestalt des bereits im Neuen Testament genannten Simon Magus) her, der Absicht geschuldet ist, die vorgefundene Pluralität von einzelnen Häresien nach Möglichkeit zu einer gewissen ›Einheit‹ zu stilisieren. Im Übrigen aber zugleich: Solche sekundäre ›Stilisierung‹ schließt nicht aus, dass ein derartiges Verfahren gewisse Hervorhebungen bestimmter gnostischer Schulen – wie z.B. die der ›Valentinianer‹ – aus offensichtlich aktuellem Anlass keineswegs ausschließt. Zunächst ist der Terminus bei Irenäus offensichtlich eher eine ›Sammelbezeichnung‹ für unterschiedliche Gruppen und Schulen. Dies zeigt sich – abgesehen vom Titel des Gesamtwerks – in den Vorreden zu den Büchern II , IV und V, darüber hinaus aber auch überall dort, wo die Nennung des Namens eines gnostischen ›Schulstifters‹ zugleich mit verallgemeinernden Bemerkungen verbunden ist. Z.B. Adv. Haer. II 31,1, wo die Nennung des Namens eines ›Schulstifters‹ zugleich mit dem verallgemeinernden Hinweis verbunden wird: vel quicumque alii sunt … oder auch: … et reliqui autem qui falso nomine Gnostici dicuntur125. Hier – wie auch an vielen anderen Stellen im Werk des Irenäus – ist eine bestimmte ›Strategie‹ erkennbar, und zwar derart, dass z.B. die ›Widerlegung‹ der Valentinianer in Adv. Haer. II 31,1 zugleich eine Widerlegung der »ganzen Menge der Häretiker« zur Folge hat: Destructis itaque his a Valentino sunt, omnis haereticorum eversa est multitudo! Oder noch deutlicher in der Vorrede zum 4. Buch von Adv. Haer.: Unter der Voraussetzung, dass die Lehre der Valentinianer eine recapitulatio omnium haeresium ist, gilt zugleich: qui enim his (sc.: den Valentiniaput on eighteenth-century scholars. They were following Irenaeus, in whose works we find a change of terminology«. 125 So N. Brox, , als häresiologischer Terminus, S. 108.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

nern) contradicunt … contradicunt omnibus qui sunt malae sententiae. Von daher gesehen ist der Terminus ›Gnostiker‹ bei Irenäus eine pragmatische, aus der aktuellen antihäretischen Situation heraus zu verstehende Gesamtbezeichnung, in der sich – möglicherweise – zugleich auch ein gewisses Maß von Ironie ausspricht126. Umso mehr Beachtung gebührt angesichts dessen den Ausnahmen von jener Regel, nämlich jenen Bezugnahmen auf die ›Gnostiker‹, die eine gewisses Maß an Differenzierung gegenüber jenem durch die aktuelle Polemik bedingten generalisierenden Verfahren erkennen lassen. So kann man – z.B. – bereits im Blick auf Adv. Haer. I 11,14 fragen, ob sich hier, was die Einbeziehung speziell der Valentinianer in den Kreis der ›Gnostiker‹ betrifft, eine Differenzierung andeutet, wenn 11,1 nicht nur von der »so genannten gnostischen Häresie« die Rede ist, sondern darüber hinaus ausdrücklich vermerkt wird, dass Valentinus »als erster deren [sc.: jener ›gnostischen Häresie‹] Prinzipien an den Charakter seiner eigenen Lehre angeglichen hat« – ein Verfahren, das Irenäus seinerseits am Ende (Adv. Haer. II 11,5) als den Versuch beurteilt, auf solche Weise »vollkommener als die Vollkommenen« bzw. »gnostischer als die Gnostiker« zu sein. – Auch Adv. Haer. III 11,2 ist in diesem Zusammenhang zu nennen, wo die ›Gnostiker‹ ausdrücklich von Marcion wie auch von den Valentinianern unterschieden werden, sowie Adv. Haer. V 33,1–3, wo zwischen den (von Simon Magus sich herleitenden) ›Gnostikern‹ und all’ jenen, die sich auf Valentinus berufen, unterschieden wird127.

Von hier aus ist es schließlich auch kein weiter Schritt mehr zu jener – aufs Ganze gesehen freilich eher seltenen – Verwendung des Terminus im Sinne einer Selbstbezeichnung der ›Gnostiker‹: So wird in Adv. Haer. I 25,6 in einem Kontext, in dem eingangs von Karpokrates und seiner Schule die Rede war, von einer Marcellina berichtet, quae Romam sub Aniceto venit, von deren Anhängern es nunmehr ausdrücklich heißt: Gnosticos se autem vocant. Entsprechendes gilt, was die Selbstbezeichnung bestimmter gnostischer Gruppen oder Schulen betrifft, auch für des Irenäus Zeugnis in Adv. Haer. I 30,15 und I 31,3128. Dieser keineswegs einheitliche Sprachgebrauch des Irenäus ist durch sein offensichtlich polemisches Verfahren bedingt: Einerseits weiß auch er 126 So N. Brox, a.a.O., S. 110 und 113 f. Von einem ironisierenden Gebrauch des Terminus durch Irenäus spricht auch C. Scholten, Probleme der Gnosisforschung, S. 488, und zwar speziell im Blick auf alle die, die nach des Irenäus Meinung »noch ohne echte Erkenntnis und fern der Wahrheit sind«. 127 Zur Unterscheidung zwischen ›Gnostikern‹ und ›Valentinianern‹ vgl. auch Tertullian, Adv. Valentinianos 39: tunc Gnostici erumpunt, tunc Valentiniani proserpunt, sowie Scorpiace 15: Die Unterscheidung zwischen Prodicus und Valentinus korrespondiert der Unterscheidung Gnostici – Valentiniani. 128 Zum Gebrauch des Terminus bei Irenäus in Adv. Haer. I vgl. A. Rousseau/L. Doutrelau, SC 263, S. 299 f. bzw. S. 300: »Dans toute cette deuxième série d’exemples, le terme a une signification générale, il ne désigne pas une secte particulière ou un groupe particulière de sectes«.

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sehr wohl um den ›historischen Sachverhalt‹, dass es nur einige Gruppen oder auch Schulen von Gnostikern gegeben hat, die sich ausdrücklich als bezeichnet haben; andererseits ist es offenkundig doch wohl der ›Übersichtlichkeit‹ und Eindeutigkeit seiner antignostischen Polemik geschuldet, dass er den Terminus weithin in seinem antignostischen Hauptwerk im verallgemeinernden Sinne verwendet, so besonders deutlich in Adv. Haer. II , Praefatio 1: Hier nimmt Irenäus zunächst speziell auf den Samaritaner Simon Magus sowie auf alle diejenigen, die ihm nachfolgten, Bezug, um seinerseits nunmehr hinzuzufügen: diximus quoque multitudinem eorum qui sunt ab eo Gnostici, auch wenn ›Differenzen‹ (zwischen den einzelnen gnostischen Schulen und Gruppen) durchaus vorhanden sind. In dieser Hinsicht ist dem (abschließenden) Urteil von N. Brox nichts hinzuzufügen: »Nicht die Einengung des Wortgebrauchs, sondern dessen Ausweitung ist das Werk des Irenäus«, und d.h. zugleich: »Irenäus greift diesen Terminus … als Niederschlag des häretischen Selbstbewusstseins auf, um ihn in ironischer Absicht auf alle auszudehnen, von denen er … nachweist, dass gerade sie ohne und fern der Wahrheit sind«129. Was die anderen der frühchristlichen Häresiologen betrifft, so verfährt Hippolyt speziell auf seinen Gebrauch des Terminus – wenn man so will – durchaus ›objektiver‹. Zwar findet sich auch bei ihm jener für Irenäus charakteristische verallgemeinernde Sprachgebrauch130; gleichwohl ist die Tendenz deutlich, diejenigen, »die sich selbst ›Gnostiker‹ nennen«, auch als solche kenntlich zu machen. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist bei Hippolyt bereits der Gebrauch der Metapher von der »Lernäischen Hydra« im Unterschied zu Irenäus Adv. Haer. I 30,15: Bezog Irenäus, diese Metapher ganz allgemein auf die »Schule des Valentinus«, so heißt es nunmehr bei Hippolyt, Ref. V 11, speziell auf die Naassener, die ja bereits als solche mit der ›Schlange‹ zu tun haben – also (ebd.): »So also treiben es nun die Naassener, die sich selbst Gnostiker nennen«. In diesem Sinne ist bei Hippolyt, was die für ihn charakteristische Verwendung des Terminus trifft, eine Konzentration auf diese eine gnostische Gruppe festzustellen, eben auf die ›Naassener‹ bzw. die ›Ophiten‹. Die letzteren nennt Hippolyt zwar nur einmal (Ref. VIII 18,3); angesichts dessen jedoch, dass er, was die Etymologie der Bezeichnung ›Naassener‹ betrifft, feststellt: bzw. (Ref. V 6,3 und 9,12), besteht kein Zweifel, dass die nur einmal genannten ›Ophiten‹ mit jenen ›Naassenern‹ identisch sind. Ein Sachverhalt, der einen genealogischen Zusammenhang speziell dieser Schule mit anderen gnostischen Schulen – wie den Peraten, den Sethianern 129

N. Brox, als häretischer Terminus, S. 113. So z.B. Ref. V 23,3; VII 35,1; 36,2; IX 4. Vgl. K. Koschorke, Hippolyt’s Ketzerbekämpfung und Polemik gegen die Gnostiker; G. Valley, A Study in Anti-Gnostic Polemics, S. 41–62; M.A. Williams, Rethinking Gnosticism, S. 37–39. 130

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wie auch jener Schule um den Gnostiker Justin und sein ›Baruchbuch‹ – nicht ausschließt. So gesehen sind es bei Hippolyt in erster Linie die »Naassener« bzw. die ›Ophiten‹, die »sich selbst Gnostiker« nennen (Ref. V 2 und 11), und dies nunmehr in einem exklusiven Sinn: ›Gnostiker‹ nämlich nennen sie sich, weil »sie allein ( ) die [unergründlichen] Tiefen Gottes erkennen« (Ref. V 6,3 f.). Entsprechendes gilt schließlich auch für den Gnostiker Justin. So heißt es bei Hippolyt, Ref. V 23,3: »Sie alle nennen sich selbst ›Gnostiker‹, weil sie allein die wunderbare Erkenntnis des ›Vollkommenen‹ und des ›Guten‹«, wie Hippolyt nun seinerseits polemisch formuliert, »[in gleichsam ›vollen Zügen‹] ausgetrunken haben«. Und die »wunderbare Erkenntnis des ›Vollkommenen‹ und des ›Guten‹«, das heißt schließlich auch: »Anfang der Erkenntnis, d.i. die Erkenntnis des Menschen, Gottes Erkenntnis aber, dies [allein] ist die vollkommene Vollendung ( )«, und dies nunmehr im exklusiven Sinne, denn »keiner [von den Menschen] ist Hörer bzw. Empfänger dieser Mysterien gewesen – (Ref. V 8,29). In diesem Sinne sind die Gnostiker im an dieser Stelle leicht ironischen Referat des Hippolyt »höchst staunenswerte« Leute, die sich selbst als ein »königloses Geschlecht« verstehen, das als solches »seinen Ursprung von oben« hat131. Ein solcher Bericht über die »Gnostiker«, wie er bei Hippolyt vorliegt, bringt es aber auch mit sich, dass die Frage nach Anfang und Ursache der gnostischen Häresie von Hippolyt anders beantwortet wird als von Irenäus. Am Anfang der gnostischen Häresie, hier nunmehr speziell der ›Ophiten‹ bzw. ›Naassener‹, steht nicht mehr, wie noch bei Irenäus, der ›Magier‹ Simon, sondern eben jene »Schlange« selbst. Sie ist, wie Hippolyt ausdrücklich vermerkt (Ref. V 6,3), »die Verursacherin der ganzen Irrlehre« und damit auch fons et radix haereticorum. Zwar wird Simon, der ›Magier‹, am Ende des vierten Buches der Refutatio des Hippolyt genannt (Ref. IV 51,3 f. 14), hier freilich nicht mehr als der Initiator einer successio haereticorum. Und zu Beginn des 6. Buches seiner Refutatio betont Hippolyt noch einmal, dass alles, was die bisher genannten Häresien betrifft, mit jener ›Schlange‹ seinen Anfang gemacht hat ( ). Soll bzw. kann man aus dieser gegenüber Irenäus veränderten Perspektive bei der Wahrnehmung der ›gnostischen Häresie‹ (mit K. Koschorke) die Schlussfolgerung ziehen, dass Hippolyts Refutatio omnium haeresium im Grunde gar nicht mehr ein Dokument der aktuellen antignostischen Polemik ist, sondern »die erfolgreiche Abdrängung der Gnostiker durch die Kirche bereits voraussetzt?«132. Für diese Hypothese könnte immerhin der Umstand 131

Hippolyt, Ref. V 8,1 f. Vgl. auch ebd. V 8,30 zur Teilhabe dieses Geschlechts am Ple-

roma. 132

So K. Koschorke, Hippolyt’s Ketzerbekämpfung, S. 4 und S. 94.

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sprechen, dass das Hippolyt-Referat über die gnostischen Gruppen und Schulen in den Büchern V–VIII im Buch IX dort einmündet, worin Hippolyt nunmehr in seiner eigenen Situation seinen eigenen sieht (Ref. IX 6), nämlich in der aktuellen Auseinandersetzung mit den (häretischen!) Lehren des Noëtos und des Kallistos im sog. Modalistischen Streit. Hier, in dieser speziellen kirchlichen Situation in Rom, liegt offensichtlich sein Interesse, ablesbar nicht zuletzt an dem für das Buch X seiner Refutatio charakteristischen ›Ich‹-Stil133, ebenso aber auch an seinem betonten Interesse an einer bis ins Einzelne ausgearbeiteten successio haereticorum, sobald er sich seiner eigenen Zeit nähert134. Ob man freilich aus einem sekundären Interesse des Hippolyt an der spezifisch gnostischen Häresie die Schlussfolgerung ziehen kann, dass seinem Referat ein besonderes Maß an »Objektivität« zukommt, muss am Ende fraglich bleiben135. Beachtenswert in der Tat bleibt bei alledem die von Hippolyt referierte untrennbare Verbindung der Selbstbezeichnung bestimmter gnostischer Gruppen und Schulen, so vor allem der Naassener bzw. der Ophiten, mit der Begründung solcher Selbstbezeichnungen im Wesen der ›Erkenntnis‹, die als solche, als ›Erkenntnis‹ nämlich des Menschen und als ›Erkenntnis Gottes‹, die ›Vollendung‹, die des Menschen als ›Gnostiker‹ zum Ziel hat. Damit ist aber auch deutlich: Bei der Frage nach dem Terminus als Selbstbezeichnung bestimmter gnostischer Gruppen und Schulen geht es nicht nur um formal-terminologische Fragen, sondern stets zugleich um das Sachthema des Selbstverständnisses der ›Gnostiker‹ – und damit stets auch um die Frage nach dem ›Wesen der Gnosis‹ überhaupt. Bevor in diesem Zusammenhang des Weiteren das entsprechende Zeugnis des Epiphanius zu erörtern ist, ist an dieser Stelle noch in Kürze auf eines der – vermeintlich – frühesten Zeugnisse für den Terminus einzugehen, nämlich auf das Zeugnis des Origenes in seiner Streitschrift Contra Celsum V 61, nach J. Holzhausen also auf den »frühesten sicher datierbaren Beleg für die Selbstbezeichnung Gnostiker«136, und zwar seitens eines nicht-christlichen Platonikers: In einem Kontext, in dem von einem ›dritten Geschlecht‹ die Rede ist, »das einige ›Psychiker‹ nennen, andere aber ›Pneumatiker‹«, heißt es hier: »Da gibt es einige, die sich ›Gnostiker‹ nennen«, und zwar analog zu jenen, die der philosophischen Schule der ›Epikuräer‹ angehören. Obwohl bei Origenes im Folgenden (c. Cels. V 62) die ›Simonianer‹ wie auch die ›Marcionisten‹ [sic!] genannt werden137, ist dem 133

Vgl. K. Koschorke, ebd., S. 56 ff. und S. 87 ff. Vgl. K. Koschorke, ebd., S. 56 f. und S. 86. Vgl. bereits A.v. Harnack, Zur Quellenkritik der Geschichte des Gnostizismus, Leipzig 1873, S. 82: »… während die Bestreitungen der frühen Väter vor allem der Widerlegung irgendeiner der gnostischen Hauptrichtungen dienen, läuft Hippolyt’s Werk in einer Bestreitung des Noetus und Callistus aus«. 135 Zur Fragestellung vgl. K. Koschorke, Hippolyts Ketzerbekämpfung, S. 87 ff., hier bes. S. 89 ff. und S. 93 f. 136 J. Holzhausen, in: JAC 44 (2001), S. 61. 137 Origenes, c. Cels. V 28. Vgl. hier die Bezugnahme auf die ›Ophiten‹ bzw. – wie Origenes sie nennt – die ›Ophianer‹, . 134

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ganzen Zusammenhang am Ende doch nicht mehr zu entnehmen als dies, dass jener Anspruch, ›Gnostiker‹ zu sein, im Grunde nicht mehr als eine ›lügnerische‹ Selbstbezeichnung ist138. Hervorzuheben in diesem Zusammenhang ist gleichwohl das Selbstverständnis jener ›Gnostiker‹ als ein ›drittes Geschlecht‹ ( ), ein Selbstverständnis, das Origenes seinerseits speziell auf die Valentinianer bezieht139.

Das Zeugnis des Irenäus und des Hippolyt hinsichtlich der Selbstbezeichnung der Gnostiker als wird im Übrigen durch Epiphanius und nicht zuletzt auch durch Clemens Alexandrinus bestätigt: Zwar eilt dem ›Ketzerbestreiter‹ Epiphanius gewiss nicht der beste Ruf voraus140; gleichwohl gebührt seinem umfassenden Werk unter dem Titel – wörtlich: ›Arzneikasten‹ oder auch ›Verbandkasten‹, gleichsam »gegen alle [Beschädigungen durch die] Häresien«, angesichts der hier mitgeteilten Exzerpte aus (verloren gegangenen) gnostischen Originalschriften besondere Beachtung. Hingewiesen sei hier nur auf das Haer 26,13 zitierte Fragment aus einem gnostischen Philippusevangelium, das in seiner Bedeutung zur Bestimmung des ›Spezifisch-Gnostischen‹ kaum zu überschätzen ist141. Dabei ist der Befund im Blick speziell auf den Gebrauch von als Selbst- oder Fremdbezeichnung keineswegs eindeutig: So kann Epiphanius diesen Terminus in den Büchern 26 und 27 seines Werkes speziell im Blick auf eine bestimmte ›Sekte‹ bzw. Schule der Gnostiker, nämlich die sog. Ophiten, verwenden und in dieser Begrenzung auch als Selbstbezeichnung der Ophiten. Für einen differenzierenden Sprachgebrauch des Epiphanius scheint zunächst auch die Abhandlung unterschiedlicher gnostischer Gruppen in Haer. 21 ff. zu sprechen, wo nacheinander Simon, Menander, Saturninus (usw.) und schließlich die (und ›Borboriten‹) als besondere Gruppe bzw. Schule genannt werden (26,1)142. Entsprechendes gilt wohl auch für eine Unterscheidung zwischen den ›Ophiten‹, den ›Nikolaiten‹ und den ›Gnostikern‹ in Haer. 31,32,7 sowie zwischen den ›Gnostikern‹ und den ›Sethianern‹ in Haer. 40,7,5. – Andererseits jedoch zeigt sich bei Epiphanius auch ein gleich138

So M. Hengel, Die Ursprünge der Gnosis und das Urchristentum, S. 194, Anm. 19. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die durch den Diognetbrief und das Kerygma Petri belegte Bezeichnung der Christen als ›drittes Geschlecht‹ (gegenüber ›Heiden‹ und ›Juden‹) sowie die Selbstbezeichnung der Gnostiker als ›viertes Geschlecht‹ (kopt.: pmehftoou ngenos) in NHC II /5, p. 125,8 f. und NHC III /1, p. 57,12. Dazu: F. Siegert, ZNW 71 (1980), S. 131. 140 Vgl. z.B. B. Altaner, Patrologie, S. 281: »Sein glühender, eher unerleuchteter Eifer für die Orthodoxie …«. 141 Überhaupt ist hier hervorzuheben, dass dem Werk des Epiphanius gerade in dieser Hinsicht, was die Erwähnung und Überlieferung des originär gnostischen Schrifttums betrifft, besondere Bedeutung zukommt. Vgl. dazu: J. Dummer, Die Angaben über die gnostische Literatur bei Epiphanius, Pan. Haer. 26 142 Vgl. auch Haer. 26,3,6 f. sowie 27,1,2, hier dann freilich im Bezug auf die Valentinianer. So auch 31,7,8; 36,4 und 23,1,1. Dazu M.A. Williams, Rethinking Gnosticism, S. 272, Anm. 31/32. 139

2.3 Exkurs: »Slippery Words«.

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sam ›expandierender‹ Gebrauch des Terminus , so z.B. in Haer. 31, einem gegen die Valentinianer und gegen die ›Gnostiker‹ gerichteten Buch, indem es ausdrücklich heißt: »Und sie alle nennen sich selbst ›Gnostiker‹, ich erwähne nur Valentinus und diejenigen, die [bereits] vor ihm ›Gnostiker‹ gewesen sind, darüber hinaus aber auch Basilides und Saturnilos … und die vielen anderen«143. Solch widersprüchlicher Befund bei Epiphanius ist nicht nur in seinem Unvermögen zu sehen, den intendierten Sachverhalt als solchen darzustellen, sondern am Ende auch im Gegenstand seiner Darstellung selbst, das heißt: In der Vielfalt und Uneinheitlichkeit des gnostischen Phänomens selbst. Bei alledem kann man gewiss davon ausgehen, dass jene Vielfalt auch die (tatsächliche) Selbstbezeichnung wenigstens einiger gnostischer Gruppen und Schulen – so z.B. der ›Ophiten‹ – als einschloss; unverkennbar ist gleichwohl das verständliche Bemühen des Häresiologen, eben jenen ›Pluralismus‹ des gnostischen Phänomens vermittels eines gezielt generalisierenden Sprachgebrauchs gleichsam ›auf einen Punkt‹ zu bringen – deshalb also: . In sachlicher Hinsicht ist es demgegenüber durchaus gewichtiger, dass Epiphanius keinen Zweifel daran lässt, dass sich im formalen Gebrauch des Terminus zugleich auch ein bestimmtes, eben spezifisch gnostisches Selbstverständnis (und Selbstbewusstsein!) ausspricht. Ganz in Entsprechung zu dem, was in dieser Hinsicht bereits bei Hippolyt zu erkennen war, gilt dies, was nunmehr Epiphanius betrifft, besonders für das Buch 26, wo im Zusammenhang des Referats über die ›Gnostiker‹ (im engeren Sinne) die grundlegende und – damit zugleich ›wegweisende‹ – Bedeutung der ›Erkenntnis‹ für den ›Heilsweg‹ des Gnostikers betont wird, so besonders deutlich in Haer 26, 10,7–10 sowie 13,2 f. Was hier im Einzelnen von Epiphanius dargelegt wird, kann geradezu als eine Art ›Grundkursus‹ zur Einführung in das Ganze der gnostischen Religion gelesen werden, konkret: das ›Sich-sammeln‹ (sc.: der ›Seele‹) aus der Gefangenschaft der ›Welt‹, die Notwendigkeit des Wissens um das eigene ›Woher‹ und (damit auch!) um das ›Wohin‹ (usw.). Und speziell in diesem Zusammenhang gewinnt auch wiederum jenes von Epiphanius in Haer 26,13,2 f. mitgeteilte Zitat aus jenem gnostischen Philippusevangelium seine besondere Bedeutung: »Der Herr hat mir offenbart, was die Seele [den ›Archonten‹ der Welt] sagen muss, wenn sie in den Himmel aufsteigt und wie sie jedem jener ›oberen Mächte‹ antworten muss, nämlich: »Denn ich habe mich selbst erkannt von überall her … Ich habe meine zerstreuten Glieder gesammelt, und ich weiß, wer du bist. Denn ich bin von oben her ( )… und so, heißt es, wird sie freigelassen«. ›Erkenntnis‹ seiner selbst also, verbunden mit einer »Sammlung« der in der Welt, dem Herrschaftsbereich der ›Archonten‹, zerstreuten Glieder, damit verbunden ein bestimmtes ›Herr143 Haer. 31,1,5. Vgl. auch Haer. 31, 7,8 sowie 33,1,1. Zu solchem Sprachgebrauch bei Epiphanius vgl. M.A. Williams, Rethinking Gnosticism, S. 39 f.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

schaftswissen‹ in gestalt bestimmter Abwehrformeln gegenüber jenen ›Archonten‹ – dies alles ist Gewähr für die Rückkehr der ›Seele‹, des ›Selbst‹ des Gnostikers, in die ursprüngliche Heimat. Solche Kennzeichnung des ›Heilswissens‹ des Gnostikers wird durch die gnostischen Originalschriften von Nag Hammadi, so z.B. durch das sog. Evangelium Veritatis aus dem Kodex I von Nag Hammadi als ›authentisch‹ bestätigt: »Daher [gilt:] Wenn einer erkennt, so ist er ein Wesen von oben«144. Von dieser Position her gesehen ist es am Ende in der Tat nur noch ein Schritt zum griechischen Terminus als Bezeichnung dessen, der die (zum Heil notwendige) »Erkenntnis« hat. Nicht zuletzt von daher gesehen bedarf es keiner Frage, dass der Terminus »Gnostiker« nicht nur ein sekundärer, nämlich verallgemeinernder Terminus der frühkirchlichen Häresiologen zur Bezeichnung der gnostischen Häresie gewesen ist, sondern in der Tat eine Selbst-Bezeichnung, und zwar in dem Sinne, dass dieser Terminus als solcher bereits darauf hinweist, dass eben die , die »Erkenntnis«, die zentrale soteriologische Kategorie im Blick auf den »Heilsweg« des Gnostikers darstellt. Der in diesem Zusammenhang immerhin naheliegenden Frage, ob dieser für die frühchristliche Gnosis grundlegende Sachverhalt auch ›außer-christlich‹, konkret also durch die von Plotin im 9. Kapitel des 2. Buches seiner ›Enneaden‹ (II 9, § 30) überlieferte Polemik bestätigt wird, ist an dieser Stelle nur in der gebotenen Kürze nachzugehen145. Immerhin, dass es sich bei den Kontrahenten des Plotin in der Tat um ›Gnostiker‹ handelt, steht angesichts dessen außer Frage, dass es auch hier um den Einspruch gegenüber denjenigen geht, die, wie es in der »Vita Plotini« des Porphyrios (c. 24) heißt, meinen, dass »der Schöpfer ( ) der Welt schlecht – und (deshalb) auch der ›Kosmos‹ als solcher von Übel« sei. Handelt es sich bei jenen ›Gnostikern‹ des Plotin bzw. auch des Porphyrios, also – möglicherweise – um dieselben ›Gnostiker‹, gegen die die Häresiologen der Alten Kirche Stellung beziehen? Naheliegend ist diese Vermutung in der Tat – angesichts dessen jedenfalls, dass Plotin sich in seiner Schrift »Gegen die Gnostiker« (s.o.) mehrfach mit der von seinen gnostischen Kontrahenten geübten Re-Interpretation der in Platons »Timaios« vorliegenden Vorstellung von einem ›Fall‹ bzw. ›Fehltritt‹ der (Welt-)›Seele‹ – gnostisch gesprochen: der ›Sophia‹ – und dem damit zusammenhängenden Verständnis des ›Demiurgen‹ aus Platons »Timaios« auseinandersetzt146. Angesichts dessen, dass diese anti-kosmische Interpretation Platons insbesondere im gnostischen Mythos der Valentinianer fest verankert ist, 144 NHC I/3, p. 22,2 ff. Zum Thema ›Erkenntnis‹ im »Evangelium veritatis« insgesamt vgl. A.M. McGuire, Conversion and Gnosis in the Gospel of Truth, S. 345 ff.; zur genannten Stelle: S. 349. 145 Zum Einzelnen vgl. u.a. H.-Ch. Puech, Plotin et les Gnostiques, in: Ders., En Quète de la Gnose I, S. 83–95; H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, 2. Teil, S. 251–327; K. Alt, Philosophie gegen Gnosis. Plotins Polemik in seiner Schrift II 9, Stuttgart 1990. 146 Vgl. Plotin, Enn. II 9,4: . Enn. I 8,7 ist sogar von der der Seele die Rede. Zur Relation ›Seele‹ – ›Sophia‹ vgl. Enn. II 9,10. Dazu: K. Alt, a.a.O. (Anm. 145), S. 9 f., sowie B. Aland, Die frühe Gnosis zwischen platonischem und christlichem Glauben, S. 11 ff.

2.3 Exkurs: »Slippery Words«.

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ist somit die Schlussfolgerung: »The ›Gnostics‹ of Plotin are the Gnostics of the Fathers« durchaus naheliegend147. Bemerkenswert ist mit Blick auf die Art und Weise der »antignostischen« Polemik« in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die Tatsache, dass beiderseits, sowohl auf der Seite Plotins wie auch aufseiten der frühkirchlichen Häresiologen, ein gewisses Maß an Übereinstimmung nicht zu übersehen ist: In beiden Fällen nämlich wird gegen jene ›Neuerungssucht‹ der Gnostiker das ›Alte und Ursprüngliche‹ geltend gemacht: Im Falle des Plotin ist dies – selbstverständlich – Platon selbst: »Jene ›Gnostiker‹«, so schreibt Plotin, »unterfangen sich, das in den Staub zu ziehen, was die alten gottbegnadeten Männer richtig und wahrheitsgetreu lehren«148. Und für die frühkirchlichen Häresiologen gilt es, gegenüber den »Neuerungen«, sprich: Verfälschungen, der Gnostiker die ursprüngliche, und d.h.: die »apostolische Tradition« als jene normative Instanz geltend zu machen, an der sich alle spätere kirchliche, also »rechtgläubige« Lehre auszurichten hat149.

Um es noch einmal mit dem Christenbestreiter Kelsos zu formulieren: Ein ist seine ›Rede‹ gegen die Neuerungen der Christen (einschließlich der christlichen Gnostiker) als ein , gewährleistet durch 150 die . Hier, bei Plotin auf der einen wie bei Irenäus auf der anderen Seite, liegt damit ein analoges ›Grundmuster‹ vor, das ›Grundmuster‹ nämlich von der normativen Geltung der Urzeit. Gleichwohl lässt sich solche Analogie nicht mit dem beiderseits vorliegenden Grundmuster eines gleichsam epigonalen Zeitalters verrechnen. Denn die Rückbindung aller kirchlichen Lehre und Verkündigung an ein bestimmtes geschichtliches Ursprungsgeschehen (in Gestalt der Offenbarung Gottes in Geschichte und Geschick des Jesus von Nazareth) aufseiten der altkirchlichen Häresiologen, und hier insbesondere des Irenäus, hat für das Christentum fraglos einen anderen Stellenwert als die – eher ›ideell‹ akzentuierte – Argumentation eines Plotin gegenüber jenen christlichen wie auch christlich-gnostischen ›Neuerungen‹. Vor allem hat ja eben die geschichtstheologische Argumentation des Irenäus zugleich das entscheidende Argument gegenüber der gnostischen Häresie bereitgestellt: Hier geht es ja nicht mehr um die Idee einer ›idealen 147 So M.J. Edwards, in: JThSt N. S. 41 (1990), S. 47. Ebd., S. 29 ff., zum hier anstehenden Problem des gnostisch-valentinianischen Mythos vom Fall der Sophia. 148 Enn. II 9 [30] und 10,12 ff. – Zu den »Neuerungen« der Gnostiker vgl. auch II 5,37 f.; 6,5.11 ff. Zum Rückbezug auf »die Alten«: ebd. 6,27 f. 53; 10,13 f. Zum Ganzen M.J. Edwards, a.a.O. (Anm. 147), S. 26: Ziel der Analyse ist »the compatibility of the pagan accounts with the testimony of the Fathers«. 149 Für Irenäus vgl. Adv. Haer. I 21,1 und 22,1: Cum teneamus autem nos regulam veritatis …, d.h.: »Wir dagegen halten [sc.: gegenüber den Neuerungen der Gnostiker] an der ›Regel der Wahrheit‹ fest«. Vgl. auch I 21,5. Zu den ›Neuerungen‹ der Gnostiker vgl. I 18,1; 20,1; 31,1 sowie II 11,7: Unter Berufung auf 1 Tim 6,20 ist hier von den voces novitatis (griech.: , so nach den Handschriften F G lat anstelle des ursprünglichen !) falsae cognitionis die Rede – denn: vere enim falsa cognitio ipsorum inventa est. Zur Sache vgl. N. Brox, Antignostische Polemik bei Christen und Heiden, S. 277 ff.; zum entsprechenden Sachverhalt bei Plotin: ebd., S. 281 ff. 150 So Fragment 116. Zum einzelnen in dieser Hinsicht: N. Brox, Antignostische Polemik bei Christen und Heiden S. 283 ff., sowie C. Andresen, Logos und Nomos. Die Polemik des Kelsos wider das Christentum, Berlin 1955, S. 111–114.130–137 sowie S. 120–141.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

Urzeit‹, im Verhältnis zu der alle folgende Geschichte nur noch als eine Verfalls- und Depravationsgeschichte gilt, sondern – im Grunde ganz im Sinne von Joh 1,14 – um die notwendige und unaufgebbare Rückbindung allen christlichen Glaubens an die Offenbarung Gottes in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort der Geschichte. So kommt jener außerchristlichen Bezeugung des Terminus durch den Neuplatoniker Plotin am Ende nur eine relative Bedeutung zu, sofern sie nämlich – zeitlich gesehen – erst relativ spät anzusetzen ist. Ältester Zeuge für den Gebrauch des Terminus ist demnach – da ja das ›Syntagma‹ des Justinus Martyr für diese Fragestellung ausfällt – nach wie vor der Kirchenvater Irenäus. Der neuplatonische Philosoph Plotin jedenfalls setzt sich mit den Christen bzw. mit den ›Gnostikern‹ in einer Zeit und Situation auseinander, in der der Terminus bereits zu einer Art term. techn. Für die ›Häresie‹ einer christlichen Gnosis geworden ist. Von daher gesehen muss am Ende die Frage wohl offenbleiben, wann und wo dieser Terminus zum ersten Mal als Selbstbezeichnung einer Gruppe oder Schule oder auch als häresiologischer Terminus benutzt worden ist. Soviel jedoch dürfte immerhin deutlich sein: Die Tatsache, dass Irenäus den Terminus bereits selbstverständlich (und dementsprechend auch schon in einem verallgemeinernden Sinn!) benutzt, lässt in jedem Falle den Rückschluss zu, dass sich dieser Terminus bereits in der ersten Hälfte des 2. nachchristlichen Jahrhunderts herausgebildet hat, und zwar – geht man in dieser Hinsicht von den neutestamentlichen Pastoralbriefen aus – zunächst als Selbstbezeichnung einer Gruppe, die mit dem elitären Anspruch, im Besitz der »wahren Erkenntnis« zu sein, in die christlichen Gemeinden eindrang. So gesehen wäre der Gebrauch des Terminus im Raum des frühen Christentums im Grunde von Anfang mit der Hypothek einer Abweichung vom ›rechten Glauben‹ im Sinne der ›Häresie‹ belastet gewesen. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist nicht zuletzt das entsprechende, freilich recht späte Zeugnis des Johannes Chrysostomus (aus dem 4./5. Jahrhundert), der in seiner 18. Homilie zu den Pastoralbriefen feststellt, dass jene mit dem Anspruch der ›Erkenntnis‹ (in einem esoterischen Sinne!) auftretenden Irrlehrer von 1 Tim 6,20 sich selbst genannt haben: quia nonnulli se Gnosticos vocabant, sive scientes quasi plus quam ceteri exciderunt151. Es ist nun eben dieser Anspruch der Häretiker der Pastoralbriefe, der in der Alten Kirche – soll man sagen: zwangsläufig? – die Frage aufgeworfen hat, ob neben jenen fälschlich so genannten Gnostikern – und im Gegensatz zu ihnen! – auch und gerade in der ›rechtgläubigen‹ Kirche von den ›wahren Gnostikern‹ zu reden wäre. Spätestens an dieser Stelle ist dementsprechend noch – in der gebotenen Kürze – auf Clemens Alexandrinus und seine Unterscheidung zwischen der ›wahren‹ und der ›falschen Gnosis‹ ein151

Homilie XVIII 2 zu 1 Tim 6,20 (MPG : Joh. Chrysostomus vol. XI , col. 598).

2.3 Exkurs: »Slippery Words«.

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zugehen152; dies umso eher, als offensichtlich bei ihm – wie im Übrigen offensichtlich auch bereits bei Hippolyt, Ref. V 28: Der Gnostiker Justin als – der neutestamentliche Ansatz für jene Unterscheidung in 1 Tim 6,20 gegeben war: Wo er, Clemens Alexandrinus, auch immer im umfangreichen Werk der ›Stromata‹ auf die (sich selbst so nennenden!) ›Gnostiker‹ zu sprechen kommt, steht – sprachlich gesehen – 1 Tim 6,20 im Hintergrund, die Rede also von einer ›fälschlich so genannten Gnosis‹, die als solche bereits die Frage nach ihrer Antithese in Gestalt der Rede von der ›wahren Erkenntnis‹ bzw. dem ›wahren Gnostiker‹ aufwirft153. Die entscheidende Frage freilich in diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem Kriterium zur Unterscheidung zwischen ›wahrer‹ und ›falscher Gnosis‹ bzw. zwischen dem ›wahren‹ und dem ›falschen Gnostiker‹, der sich – nach der Auffassung von 1 Tim 6,20 wie auch nach Clemens Alexandrinus selbst – nur auf ›lügnerische Weise‹ so bezeichnet. Diese Frage wird von Clemens mit aller Eindeutigkeit beantwortet: Dieses Kriterium ist nirgends anderswo gegeben als im »Glauben der Kirche« – »Glaube« hier selbstverständlich i.S. der fides quae creditur, also im gleichsam ›objektiven‹ Sinne. Und das heißt: Der ›rechte Glaube‹ der Kirche ist die conditio sine qua non, die Bedingung bzw. die Voraussetzung der rechten bzw. der ›wahren Gnosis‹: Clemens Alexandrinus, Strom. VI 61154. Gilt dies nun freilich für den ›wahren‹ Gnostiker im kirchliche Sinne, so steht offensichtlich jenes spezifisch gnostische Verständnis von ›Erkenntnis‹ auch seinerseits unter einem bestimmten Vorzeichen, nämlich dessen, was Irenäus wiederum die ›eigene Hypothese‹ ( ) genannt hat. Lediglich anhangweise ist in diesem Zusammenhang noch auf den entsprechenden Sachverhalt in der »Kirchengeschichte« des Eusebius hinzuweisen155: Zwar wird bei Eusebius sowohl in seiner »Kirchengeschichte« (I 1,1; III 3,5; 28,6; IV 11,2: 29,1; V 7,1.9) als auch in seiner Praeparatio evangelica (VII 8,5.9; XI 6,31), jeweils kurz auf das Phänomen der Gnosis eingegangen, jedoch gehen seine Kenntnisse in dieser Hinsicht nicht über die des Clemens Alexandrinus hinaus: »Eusebius tells us little or nothing of the substance of the Gnostic heresies he so vigorously attacks … Eusebius had obviously never read a single piece of Gnostic

152 Vgl. dazu im Einzelnen: W. Völker, Der wahre Gnostiker nach Clemens Alexandrinus (TU 57), Berlin 1952; A. Méhat, Vraie et fausse gnose de’après Clément d’Alexandrie, in: B. Layton (ed.) The Rediscovery of Gnosticism I, S. 426–433; P.Th. Camelot, Foi et Gnose. Introduction à l’étude de la connaissance mystique chez Clément d’Alexandrie, Paris 1995. Zum Einzelnachweis speziell für den ›wahren‹ Gnostiker i.S. des Clemens Alexandrinus vgl. G.W.H. Lampe, A Patristic Greek Lexicon, 11. Aufl. 1994, p. 320. 153 Vgl. z.B. Strom. III, c. IV 30,1; c. XVIII 10,3; Strom. VII, c. VII 41,3 u.ö. 154 In dieser Hinsicht stimmt Clemens Alexandrinus ganz mit Irenäus überein: Agnitio vera est apostoloru doctrina (Adv. Haer. IV 33,8). Zur Sache bei Clemens Alexandrinus vgl. bes. P.Th. Camelot, Foi et Gnose (s.o. Anm. 152). 155 Dazu im Einzelnen: B.A. Pearson, Eusebius and Gnosticism, sowie B. Layton, Prolegomena to the Study of Ancient Gnosticism.

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2. Urchristentum und Gnosis im Rahmen der spätantiken Religionsgeschichte

literature« – so das abschließende Urteil von B.A. Pearson zum Thema »Eusebius and Gnosticism«156.

Wenn nun gilt (s.o.), dass die frühchristliche Gnosis (in der Art wie Irenäus sie gekannt hat!) bei der ihr eigenen Art von Rezeption der ›ur-christlichen‹ Tradition von einer ihr ›eigenen Hypothese‹ ausging, wird man sie am Ende wohl nicht mehr unter dem Aspekt eines gleichsam ›kirchengeschichtlichen‹ Verständnisses aus gleichsam ›innerchristlichen‹ Wurzeln ableiten können. Die ›Gnosis‹, so jedenfalls, wie sie bereits bisher in den Blick gekommen ist, ist zweifellos mehr als nur eine ›innerchristliche‹ bzw. ›innerkirchliche‹ Häresie. Sie verkörpert, wie bereits ihre Selbstbezeichnungen (i.S. z.B. von , ›königloses Geschlecht‹ usw.) deutlich machen, in vielfältiger Gestalt eine ganz ›eigene‹ religiöse ›Grundidee‹, eben jene , wie sie bereits Irenäus in seiner Polemik gegen diejenigen herausgestellt hat, die sich »in lügnerischer Weise« (1 Tim 6,20) der ›Gnosis‹ rühmen, einer ›Erkenntnis‹ also, die all’ das, was in der ur-christlichen Tradition gesagt, geschrieben und überliefert worden ist, auf ihre eigene Weise interpretiert bzw. rezipiert – insgesamt ein Sachverhalt, der seinerseits wiederum darauf hinweist, dass ›die Gnosis‹ nicht aus gleichsam ›inner-christlichen‹ Wurzeln entstanden ist – und somit auch nicht nur als ein Phänomen der Kirchengeschichte betrachtet werden kann. Wie noch zu zeigen sein wird (im 4. Kapitel dieser Arbeit), gilt dies gerade auch im Blick auf die für die Gnosis charakteristische Rezeption der biblisch-neutestamentlichen Überlieferung157. Dies gilt im Übrigen auch dann, wenn es sich nach dem Zeugnis der neutestamentlichen Pastoralbriefe (1 Tim 6,20) zunächst eindeutig um eine innerhalb der christlichen Gemeinde zu lokalisierende ›Bewegung‹ oder auch ›Gruppenbildung‹ handelt. Gleichwohl wird man aus diesem Tatbestand nicht die Schlussfolgerung ziehen können, dass ›die Gnosis‹ – von daher gesehen – nichts anderes als eben ein ›häretisches‹ Phänomen der Kirchengeschichte gewesen ist und in diesem Sinne aus gleichsam ›inner-christlichen‹ Wurzeln entstanden ist: Die der Gnosis eigene ›Grundidee‹ ( ) ist jedenfalls nicht aus dem ›Urchristentum‹ bzw. dem frühen Christentum ableitbar – und eben in diesem Sinne nicht ein Phänomen der Kirchengeschichte, sondern der spätantiken Religionsgeschichte, das – als solches – sein eigenes Sinnzentrum hat und das – geht man jedenfalls vom Befund der zur Verfügung stehenden Quellen aus – spätestens in der Entstehungszeit der neutestamentlichen Pastoralbriefe, also unmittelbar zu Beginn des 2. nachchristlichen Jahrhunderts in die frühchristlichen Gemeinden eingedrungen ist und hier in der Folgezeit offensichtlich so etwas wie eine ›gnostische Krise‹ ausgelöst hat, und dies offensichtlich umso eher, als in jener Frühzeit des Christentums – worauf zuletzt wiederum K. Rudolph eindringlich auf156 157

B.A. Pearson, a. a.O., S. 304; vgl. auch B. Layton, a.a.O., S. 338 f. S. dazu unten Kap. 4 (S. 281 ff.).

2.3 Exkurs: »Slippery Words«.

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merksam gemacht hat158 – die Grenzen dessen, was eigentlich ›christlich‹ heißt, noch keineswegs in jeder Hinsicht eindeutig ›definiert‹ waren. Eine solche Abfolge der Ereignisse in der Begegnung von ›Christentum‹ und ›Gnosis‹ und – im Zusammenhang damit – auch der forschungsgeschichtliche Wandel von einer eher kirchengeschichtlichen zu einer eher religionsgeschichtlichen Betrachtung des gnostischen Phänomens provoziert notwendigerweise die Frage nach einer vor-christlichen oder doch jedenfalls nicht- bzw. außerchristlichen Gnosis, jene Grundfrage also, die – forschungsgeschichtlich gesehen – geradezu das ›Proprium‹ der sog. Religionsgeschichtlichen Schule ausmachte. Dieser ›Grundfrage‹ ist im folgenden Kapitel einmal mehr nachzugehen, wenn möglich, dann gerade hier mit den (eben schon angedeuteten) notwendigen Differenzierungen.

158 K. Rudolph, ›Christlich‹ und ›Christentum‹ in der Auseinandersetzung zwischen ›Kirche‹ und ›Gnosis‹. Gedanken zur Terminologie und zum Verständnis von ›Selbstverständnis‹ und ›Fremdverständnis‹, S. 192–214.

3. Kapitel

Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis 3.1 Grundsätzliches zur Fragestellung Die Frage nach einer vorchristlichen Gnosis gehört – auf den Verlauf der neueren Forschungsgeschichte gesehen – nach wie vor zu den ungelösten Problemen der gegenwärtigen Gnosisforschung und – insbesondere – der näheren Bestimmung der Relation zwischen ›Urchristentum‹ und ›Gnosis‹1. Nach wie vor ist für die Bestimmung dieser Relation die Alternative vorchristlich – nachchristlich geläufig und – dies muss man angesichts der rückläufigen Tendenz, für das älteste Christentum bereits eine vor-christliche Gnosis in Anschlag zu bringen, sogleich hinzufügen – damit zugleich auch die These, dass dieses älteste Christentum ursprünglich jedenfalls, abgesehen also von seinem späteren Übergang zur frühkatholischen Kirche in der Zeit der Wende vom 1. zum 2. nachchristlichen Jahrhundert, noch nicht im Wirkungsraum einer außer- bzw. vorchristlichen Gnosis gestanden hat2. Die Konsequenzen einer solchen (relativ unkomplizierten und undifferenzierten) Sicht der Dinge liegen – um mit M. Hengel zu formulieren – auf der Hand: »Eine ›vorchristliche Gnosis‹ im eigentlichen d.h. chronologischen Sinne lässt sich nicht nachweisen« – mit der Schlussfolgerung: »Die sogenannte Gnosis ist für das Urchristentum eher ein Randproblem und gehört in dessen Wirkungsgeschichte und nicht – wie man irrtümlich glaubte – zu dessen Vorgeschichte«3, woraus sich dann zugleich die Aufforderung ergibt, man solle »endlich zur Kenntnis nehmen, dass eine zeitlich und sachlich vorchristliche Gnosis trotz aller neuen Textfunde nicht nachgewiesen werden konnte, dass diese vielmehr nahezu ganz [?!] ein christlichen Phänomen ist und jüdisch-christliche Wurzeln hat«4. In der Tat: Solange man – z.B. mit R. Bergmeier – der Meinung ist, dass die »Bezeichnung ›vorchristlich‹ nur 1 Zur Fragestellung vgl. K. Berger, Art. Gnosis/Gnostizismus, in: TRE 13, S. 519–534, hier bes. S. 526 ff.: »Vorbereitende Traditionslinien« . Grundsätzlich kritisch zur Frage einer »vorchristlichen« Gnosis: S. Pétrément, A. Separate God; E. Yamauchi, Pre-Christian Gnosticism. A. Survey of Proposed Evidences, S. 170–186: Criticism of Methodology. 2 Zum Problem in dieser Hinsicht: G. Quispel, Gnosis als Weltreligion. S. 5: »Dass die Gnosis in Wesen und Ursprung nichtchristlich ist, wird immer klarer; ob sie auch vorchristlich ist, muss noch bewiesen werden«. Zur Unterscheidung zwischen ›vorchristlich‹ und ›nicht-christlich‹ vgl. auch H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des neuen Testaments II , S. 165–167. 3 M. Hengel, Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft: NTS 40 (1994), S. 321–357; Zitat: S. 330 f. 4 So M. Hengel, die johanneische Frage, S. 285.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

dann eindeutigen Sinn« hat, wenn sie in der Bedeutung von »dem Urchristentum voraufgehend verwendet wird«5, ist in der Frage einer näheren – und vor allem differenzierten! – Sicht der Relation Urchristentum – Gnosis kaum weiterzukommen. Die Grundfrage nämlich bleibt, ob sich die Relation Urchristentum – Gnosis überhaupt so einfach auf die (an der Datierbarkeit der hierfür in Betracht kommenden Quellen orientierten!) Alternative vor-christlich – nach-christlich reduzieren lässt? Immerhin hat bereits im Jahre 1961(!) C. Colpe hiervon als einer Alternative gesprochen, die »bisher weithin in der Erforschung der Umwelt des neuen Testaments, namentlich der ›Gnosis‹, an wesentlichen Punkten eine Verständigung verhindert« hat6. Von daher gesehen wäre es also durchaus an der Zeit, jene eher »statische« Alternative vor-christlich – nach-christlich zu überwinden oder doch jedenfalls zu relativieren, und zwar zugunsten einer Betrachtungsweise, die in ihre Überlegungen zumindest auch die Möglichkeit von (ursprünglich!) außer- bzw. nicht-christlichen gnostischen Quellen einbezieht. Darüber hinaus ist an dieser Stelle auch darauf hinzuweisen, dass – wiederum ganz i.S. einer Überwindung jener traditionellen Alternative! – A. Böhlig bereits i.J. 1968 vorgeschlagen hat, das Stichwort ›vorchristlich‹ nicht im Sinne einer »Gnosis ante Christum natum« zu verstehen, sondern i.S. einer »Gnosis, die der christlichen Gnosis des 2. Jh.s vorausgeht«7. Wie auch immer A. Böhlig seinerzeit diese differenzierende Betrachtungsweise im Einzelnen verstanden haben mag – der Vorteil einer solchen Betrachtungsweise zumal im Blick auf die Relation ›Urchristentum – Gnosis‹ liegt auf der Hand: Die Gnosisforschung wäre damit zunächst von der Hypothek entlastet, zuallererst einmal den Nachweis zu führen, dass es überhaupt so etwas wie eine »dem Urchristentum voraufgehende Gnosis« (R. Bergmeier) gegeben hat. Vor allem jedoch: Auf diese Weise wäre jedenfalls das Feld (zumindest!) des späten 1 nachchristlichen Jahrhunderts für eine differenzierendere Sicht der Dinge freigegeben als sie jene pure Alternative vorchristlich – nachchristlich bietet – und nicht zuletzt in diesem Zusammenhang: Einen Ansatz zu solcher differenzierenden Sicht der Dinge könnten in der durch den Handschriftenfund von Nag Hammadi eröffneten Forschungssituation jene Texte und Schriften darbieten, die – mit großer Wahrscheinlichkeit jedenfalls – als Zeugnisse einer (ursprünglich) außerbzw. nicht-christlichen Gnosis in Betracht kommen, die als solche ihre Wur5

So R. Bergmeier, Quellen vorchristlicher Gnosis?, S. 200, Anm. 1. C. Colpe, Die religionsgeschichtliche Schule, S. 199; im folgenden (S. 200) mit Hinweis auf die Differenz zwischen einer »phänomenologischen Wesensbestimmung der Gnosis, die meist zu einem vorchristlichen Ansatz führt« und einer »genetischen Bestimmung ihrer synkretistischen Einzelelemente, die in der nachchristlichen Zeit stehenbleiben muss«. 7 A. Böhlig, Christentum und Gnosis im Ägypterevangelium von Nag Hammadi, Zitat: S. 2 Anm. 5. Kritisch dazu wiederum R. Bergmeier, Quellen vorchristlicher Gnosis, S. 220, Anm. 1. 6

3.1 Grundsätzliches zur Fragestellung

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zeln nicht im frühen Christentum hat, in diesem Sinne also jedenfalls nicht nach-christlich ist8. Gleichviel wie man speziell in diesem Zusammenhang das Phänomen einer ›sekundären Christianisierung‹ (oder einer sekundären ›De-Christianisierung‹?) beurteilt9 – offensichtlich ist jedenfalls, dass zumindest ein Teil dieser Quellen jeweils bereits das Endstadium eines ihnen (in ihrer überlieferten Gestalt) voraufgegangenen Interpretations- und Redaktionsprozesses repräsentiert, und zwar – aller Wahrscheinlichkeit nach – im Sinne einer sekundären Christianisierung eines ursprünglich nicht-christlichen gnostischen Textes. Von hier aus gesehen wäre also durchaus die Möglichkeit gegeben, sich auf die Spurensuche nach einer außer- bzw. nicht-christlichen Gnosis zu begeben, die sich im Verlauf des 1. Jahrhunderts n.Chr. – also keineswegs notwendig ante Christum natum! – herausgebildet hat, als solche ein ›Produkt‹ des in der spätantiken Religionsgeschichte zunehmenden ›Dualismus‹, und zwar parallel bzw. etwa gleichzeitig zur Ursprungs- und Entstehungsgeschichte des Christentums – und in diesem Sinne auch – möglicherweise – in einer dann noch näher zu bestimmenden (positiven bzw. negativen) Relation zum Christentum. Das Neue Testament selbst – hier einmal als Dokumentation der Ur- und Frühgeschichte des Christentums verstanden – bietet dafür, wie noch zu zeigen sein wird, durchaus gewisse Anhaltspunkte. Um hier von vornherein Missverständnisse auszuschließen: Die soeben angedeutete Position bedeutet – forschungsgeschichtlich gesehen – keineswegs eine Rückkehr zur alten Position der ›Religionsgeschichtlichen Schule‹, wie sie seinerzeit vor allem W. Bousset mit der Grundthese »Die Gnosis ist zunächst eine vorchristliche Bewegung« formuliert hat10. Keineswegs korrekturbedürftig ist nach dem neuesten Stand der Gnosisforschung die Fortsetzung dieser Grundthese durch W. Bousset: Sie, die Gnosis, ist eine »Bewegung, die ihre Wurzeln in sich selber hat. Sie will daher auch aus sich selber heraus und nicht in erster Linie als ein Seitenzweig oder eine Nebenbildung der christlichen Religion verstanden werden«11. Das frühe Christentum selbst hat jedenfalls von Anfang an – oder vorsichtiger formuliert: bereits sehr frühzeitig keinen Zweifel daran gelassen, dass es sich bei der »fälschlicherweise so genannten Gnosis« (1 Tim 6,20) um eine religiöse Bewegung handelt, die – um es einmal so programmatisch zu sagen – dem ›Wesen des Christentums‹ zutiefst fremd ist und ›von außen her‹ in das Christentum bzw. in die christlichen Gemeinden eingedrungen ist. Mit anderen Worten: Der einst von W. Bousset bzw. durch die Religionsgeschichtliche Schule initiierte Schritt von einer intern-kirchengeschichtlichen zu einer religionsgeschichtlichen Betrachtung der Gnosis ist auch – und gerade! – 8 Vgl. H.-M. Schenke, Art. Nag Hammadi, in: Der neue Pauly 8, Sp. 693 f.: »Über die Vexierfrage nach dem Ursprung der Gnosis hat der Fund von N.H. zwar keine endgültige … Entscheidung gebracht, einen Originaltext aus eindeutig vorchristl. Zeit enthält er nicht. Aber der Fund hat doch bewiesen, dass die Gnosis ihren Wesen nach ein ›vor-christl.‹ Phänomen ist«. 9 Dazu grundsätzlich: R. McL. Wilson, Art. Apokryphen II , in: TRE 3, Sp. 321 f., hier auch zur Möglichkeit einer (sekundären) De-Christianisierung. 10 W. Bousset, Kyrios Christos, S. 183. 11 Ebd.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

beim gegenwärtigen Stand der Gnosisforschung nicht mehr rückgängig zu machen. Es bleibt also das Verdienst der »Religionsgeschichtlichen Schule«, auf ihre – heute im Einzelnen gewiss nicht mehr nachvollziehbare – Weise den Nachweis geführt zu haben, »dass es sich bei der gnostischen Bewegung um eine von Haus aus nichtchristliche Erscheinung gehandelt hat, die sich erst langsam mit christlichen Vorstellungen anreicherte, bis sie als eine eigenständige ›christliche Gnosis‹ in Erscheinung trat. Dieser Werdegang … ist gleichbedeutend mit der Entwicklung der Gnosis von einer relativ selbständigen hellenistisch-spätantiken Religion zu einer ›Häresie‹ des Christentums«12.

Eine solche soeben nur mehr angedeutete als im Einzelnen ausgeführte Position bliebe lediglich im Bereich des Hypothetischen, wenn sie sich nicht am Befund der zur Verfügung stehenden Quellen, und hier zunächst an dem im Neuen Testament überlieferten ältesten christlichen Schrifttum verifizieren ließe, und zwar im Blick speziell auf die Frage nach einer der christlichen Gnosis des 2. Jahrhunderts vorangehenden gnostischen Bewegung.

3.2 Der Quellenbefund 3.2.1 Das Zeugnis des Neuen Testaments Im Blick auf das Neue Testament ist hier offensichtlich zunächst ein Fragezeichen zu setzen, zumal das Thema ›Neues Testament‹ bzw. ›Urchristentum und Gnosis‹ beim gegenwärtigen Stand der Forschung keineswegs mehr zu den zentralen Themen gehört13. Dies gilt zunächst vor allem für die Frage der Rezeption ursprünglich (also: vorchristlich-)gnostischer Motive in den Schriften des Neuen Testaments. Speziell in dieser Hinsicht besteht gegenwärtig im allgemeinen wie im besonderen weitgehende Zurückhaltung: Dass die (oder doch jedenfalls bestimmte) Schriften des Neuen Testaments eine bereits ausgebildete gnostische Religion voraussetzen, gilt kaum mehr als wahrscheinlich oder ist doch zumindest umstritten – dies ist nun ein Sachverhalt, der an dieser Stelle nicht im Einzelnen aufzulisten ist. Vor Jahren schon hat M. Hengel im Blick auf diese spezielle Problematik festgestellt: »Die sogenannte Gnosis ist für das Urchristentum eher ein Randproblem und gehört in dessen unmittelbare Wirkungsgeschichte«14. Nicht (oder jedenfalls nicht unmittelbar) betroffen jedoch ist von diesem Urteil eine Gnosis in statu nascendi und – in diesem Zusammenhang – eine zumindest in bestimmten Schriften des Neuen Testaments gesprochene gnosisnahe oder – um mit C. Colpe zu formulieren15 – ›gnosisbereite‹ Sprache. 12

So K. Rudolph, Die Gnosis, S. 292 f. S. dazu oben Kapitel 1.2.1. 14 M. Hengel, in: NTS 40 (1994), S. 330 f. 15 C. Colpe, Art. Gnosis II , in: RAC 11, Sp. 622. 13

3.2 Der Quellenbefund

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Als paradigmatisch in dieser Hinsicht bietet sich hierfür vor allem ein Textzusammenhang – um nicht sogleich zu sagen: eine Sequenz – aus dem ersten Brief des Paulus an die Korinther an, und zwar – im Kontext der sog. »Weisheitsrede« des Paulus in 1 Kor 1–4 – der (relativ in sich geschlossene) Passus 1 Kor 2,6–16. In der Tat ergibt sich speziell hier für eine genuin gnostische Paulus-Rezeption nicht nur von den Einzelaussagen her, sondern auch von der Abfolge dieser Einzelaussagen in den VV . 8–9–10 – bis hin zur Entgegensetzung des ›Psychikers‹ und des ›Pneumatikers‹ in V. 14 – ein ganzes Beziehungsgeflecht hinsichtlich einer von Paulus hier gesprochenen ›gnosisnahen‹ oder sogar ›gnostisierenden‹ Sprache, die – als solche – der (späteren) Rezeption von 1 Kor 2,6 ff. in (christlich-)gnostischen Texten geradezu entgegenkam. Dabei soll hier gar nicht im Einzelnen auf die naheliegende Frage eingegangen werden, ob und inwieweit der Sprachgebrauch des Paulus an dieser Stelle unmittelbar mit seiner Auseinandersetzung mit seinen Kontrahenten in der Gemeinde in Korinth zu tun hat (an deren eigene Sprache er hier anknüpft, um sie umso wirksamer widerlegen zu können!). Kein Zufall jedenfalls ist es, dass eben dieser Textzusammenhang aus dem 1. Korintherbrief bereits M. Dibelius in seinem Aufsatz »Paulus und die Mystik« vom Jahre 1941 zu dem Urteil veranlasst hat: »Niemals in den uns bekannten Briefen hat Paulus gnostischer geredet«16, ein Urteil im Übrigen, das in der späteren Auslegungsgeschichte des 1 Kor z.T. noch sehr viel pointierter wiederholt werden sollte17 und schließlich u.a. zu der These Anlass gegeben hat, dass es sich bei diesem Passus im Grunde gar nicht um eine Eigenformulierung des Apostels selbst, sondern um einen ›Einspruch gegen Paulus‹, also am Ende um eine sekundäre Glosse seiner Gegner in der Gemeinde in Korinth handele18. Solcherlei ›Erklärungs‹-Versuchen mit Blick auf die Eigenart (und Problematik) des Textzusammenhangs ist hier jedoch nicht im Einzelnen nachzugehen. Offensichtlich ist jedenfalls in Bezug auf diesen Textzusammenhang selbst – eine in der Tat merkwürdige gnosisnahe Sprache, und zwar bereits hinsichtlich der »Archonten dieses Äons« in den VV . 6 und 8: So ist; hier vor allem die Aussage, dass sie, die »Archonten dieses Äons«, es gewesen sind, die »den Herrn aus Unkenntnis getötet haben« (V. 8), gänzlich singulär bei Paulus (wie auch im Neuen Testament überhaupt). Die des Öfteren schon angesichts dessen erwogene Möglichkeit, dass hier – im Grunde ganz so wie in den Evangelien des Neuen Testaments – auf die irdischen Machthaber, nicht also auf ›überirdische‹ dämonische Mächte, Bezug genommen sei, reißt nun freilich auseinander, was für das spätantike Weltbild

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In: Botschaft und Geschichte. Ges. Aufsätze II , S. 153. Vgl z.B. U. Wilckens, Weisheit und Torheit, S. 60: Paulus spricht »hier in der Tat ganz wie ein Gnostiker« sowie S. 98: »Das alles ist, wie durch eine Fülle religionsgeschichtlichen Vergleichsmaterials aufweisbar ist, ohne Abstrich gnostische Lehre in Reingestalt«. Vgl. in diesem Sinne auch W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth, S. 143 ff. Was die Auffassung von U. Wilckens betrifft, ist freilich anzumerken, dass er seine Sicht der Dinge vom Jahr 1959 in einem späteren Beitrag zur Festschrift für E. Dinkler, Theologia crucis – Signum crucis, Tübingen 1979, S. 501–537, erheblich variiert hat. Vgl. hierzu speziell S. 524–532 die erneute Stellungnahme »Zum Problem gnostischer Herkunft der Motive in 1 Kor 2,6–16«. An die Stelle der Gnosis tritt nunmehr die (hellenistisch-)jüdische Weisheitstradition. 18 So M. Widmann, 1 Kor 2,6–16: Ein Einspruch gegen Paulus, in ZNW 70 (1979), S. 44– 53. Zum religionsgeschichtlichen Problem von 1 Kor 2,6 ff. insgesamt vgl. W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 1. Teilband (EKK VII /1), Neukirchen-Vluyn 1991, S. 242 ff. 17

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

keine Alternative darstellte19. Es ist nun aber gerade diese Aussage in V. 8 von Jesu Kreuzigung durch die ›Archonten‹, die in den (späteren) Texten einer (christlichen) Gnosis mehrfach belegt ist20. – Grundsätzlich gilt das Gleiche auch im Blick auf das (bislang nicht eindeutig verifizierbare) Schriftzitat in V. 9 (aus einer Elia-Apokylpse?), das wiederum relativ häufig in gnostischen Schriften zitiert wird, und zwar nicht nur deshalb, weil es sich »in gnostischen Kreisen großer Beliebtheit erfreute«, sondern auch weil es hier schon »längst zur Losung eines gnostisch qualifizierten Erkenntnisbemühens geworden« war21. Offensichtlich gab es hier eine besondere Affinität der späteren christlichen Gnostiker zu einem – in ihrem Wahrnehmungsvermögen! – ›gnostischen Paulus‹. – Auf derselben Linie eines spezifisch gnostischen Paulus-Verständnisses liegt dann auch die (singuläre!) Rede des Paulus in V. 10, dass es – auf Grund einer Offenbarung Gottes »durch den Geist« (V. 10 a) – eben dieser ›Geist‹ ist, der ›alles erforscht‹, auch eben die ›Tiefen Gottes‹, eine Aussage, die was Paulus selbst betrifft zwar auch auf Röm 11,33 und – was den jüdischen Hintergrund solcher Rede betrifft – auf das »Testament des Hiob« (37,6) verweisen könnte22. Diese aber spielt in den Zeugnissen der Gnosis – hier im Sinne einer geheimen, allein den Gnostikern geoffenbarten Erkenntnis – eine so herausragende Rolle, dass es – im Kontext von 1 Kor 2,6 ff. gesehen – durchaus naheliegt, auch in dieser Hinsicht bestimmte Zusammenhänge oder auch ›Entwicklungslinien‹ im Verhältnis zwischen dem 1. Korintherbrief des Paulus und der Gnosis anzunehmen. In der Tat – wie H. Conzelmann es formuliert hat – der Terminus »eignet sich besonders gut zur Aufnahme durch die Gnosis. Hier kann Gott selbst als definiert werden«23. – Von daher (und den entsprechenden Zeugnissen in den gnostischen Texten her) gesehen liegt es im Übrigen durchaus nahe, auch die ›Irrlehrer‹- Polemik gegen die sog. Nikolaiten im »Sendschreiben« an die kleinasiatische Gemeinde von Thyatira in der »Offenbarung des Johannes«, hier speziell die offensichtlich sarkastische Rede von den in 2,24, in diesen Zusammenhang einzuordnen, konkret also im Sinne einer gezielt anti-gnostischen

19 Dazu: W. Schrage, ebd., 250.253 f. – Zur Diskussion um den Charakter der »Archonten« in 1 Kor 2 vgl. W. Carr, The Rulers of this Age – I Corinthians II . 6–8, in: NTS 23 (1977), S. 20–35, hier S. 28 ff. 20 Vgl. Irenäus, Adv. Haer. I 30,13; Ev. Veritatis (NHC I/3), p. 18,22–24; I. JakobusApk (NHC V/3), p. 31,21 f., sowie G.W. McRae, Nag Hammadi and the New Testament, S. 153–155, hier auch mit Hinweis auf die »Paraphrase des Seem« (NHC VII /2), p. 36,2–24, und die »Apokalypse des Adam« (NHC V/5), p. 77,4–20. 21 So K. Koschorke, Paulus in den Nag-Hammadi-Texten, S. 191. Vgl. z.B. die entsprechenden Zitate im Baruchbuch des Gnostikers Justin (Hippolyt, Ref. V 24,1; 26,16; 27,2 sowie VI 24,4); weiter: Clemens Alexandrinus, Exc. ex Theodoto 10,5; ActThom 39; ActPetri 39; Dialog des Erlösers (NHC III /5), p. 140,2–5; Oration Pauli (NHC I/1), p. A 23 ff. 22 Dazu: B. Schaller, Das Testament Hiobs (JSHRZ III /3), S. 537. Vgl. auch 1 QS XI 19: »die Tiefe deiner Geheimnisse …«. 23 H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK V), S. 91, hier mit Verweis auf ActThom 142 und Hippolyt, Ref. VI 30,7. Vgl. auch Irenäus, Adv. Haer. I 21,2; II 32,6; 38,1; IV 33,3. Nach dem Referat des Hippolyt, Ref. V 6,3 f., macht es geradezu das Wesen der ›Gnostiker‹, in diesem Falle der Naassener, aus, die ›Tiefen [Gottes]‹ zu erkennen. Für die Texte von Nag Hammadi vgl. Ev. Veritatis (NHC I/3), p. 22,25 f.; 35,15; 37,8; 40,26; Tract Tripart (NHC I/5), p. 54,15–24, Zum Ganzen vgl. W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther, S. 257 sowie S. 244, Anm. 128.

3.2 Der Quellenbefund

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Polemik zu verstehen24. – Und schließlich noch ein letzter Hinweis auf die gnosisnahe Sprache des Paulus in 1 Kor 2,6 ff. in diesem Zusammenhang: W. Schrage hat vor Jahren schon zur Rede des Paulus vom (im Gegenüber zum !) in 1 Kor 2,14 festgestellt, dass hier in der Tat »der Einfluss gnostischen Sprachgebrauchs mit Händen zu greifen« scheine25 – ›gnostischer Sprachgebrauch‹ nämlich im Sinne einer (für die Gnosis charakteristischen) ›dualistischen Anthropologie‹. Der Sachverhalt in dieser Hinsicht ist – verständlicherweise – umstritten26, deutlich aber ist doch in jedem Falle: Auch wenn H. Conzelmann hierzu festgestellt hat, dass die »Logik des Paulus … spezifisch ungnostisch« ist, weil Paulus seine eigene These »nicht aus der Beschaffenheit des Menschen begründet, sondern aus der Begegnung mit der Offenbarung«27 – die gnosisnahe Sprache des Paulus selbst ist gleichwohl auch an dieser Stelle bzw. in dieser Hinsicht kaum zu bestreiten.

Wie immer man hier, was die religionsgeschichtliche Frage speziell von 1 Kor 2,6 ff. betrifft, im Einzelnen entscheiden mag; eindeutig ist in jedem Falle: Hier, in 1 Kor 2,6 ff. (im Kontext von 1 Kor 1–4), ist auch der Apostel Paulus mit seiner – offensichtlich durch die Auseinandersetzung mit seinen Kontrahenten in der Gemeinde in Korinth bedingten! – gnosisnahen Sprache bereits Zeuge einer ›Entwicklungslinie‹, die zu »a gnostic way of thinking« hinführt28. Dies ist dann aber wiederum ein Hinweis darauf, dass die Entwicklung in dieser Hinsicht offenbar sehr viel komplexer und dynamischer verlaufen ist, als dass sie sich auf die bloße Feststellung von religionsgeschichtlichen ›Einflüssen‹ oder ›Abhängigkeiten‹ reduzieren ließe. Ein Modell für eine solche hier vorauszusetzende dynamische Entwicklung, die Wechselbeziehungen keineswegs aus-, sondern eher einschließt, könnte – beim gegenwärtigen Stand der Forschung – durchaus die des Öfteren vertretene Auffassung sein, dass die gnosisnahe Sprache, die hier gesprochen wird, gar nicht primär aus einer (bei den Kontrahenten des Paulus in Korinth bereits voll ausgebildeten) ›Gnosis‹ heraus zu verstehen ist, sondern aus einer (durchaus auch ›apokalyptisch‹ argumentierenden!) dualistischen Weisheit (im Kontext eines jüdischen Hellenismus), in deren Tradition und Kontinuität Paulus selbst steht, einer dualistischen Weisheit, die nachweislich eine 24 Zur Frage der (gnostischen?) Irrlehrer (der Nikolaiten) in Apk 2 vgl. die Kommentare, z.B. J. Roloff, Die Offenbarung des Johannes (ZBK 18), Zürich 1984, S. 56–58. 25 So W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther, S. 263 f. Nach W. Schmithals, Theologiegeschichte des Urchristentums, S. 138, lässt sich solche Gegenüberstellung »nur aus dem Denken eines substanzhaften Dualismus erklären«. 26 Vgl. nur die beiden Monographien zum Thema von B.A. Pearson, The Pneumatikos – Psychikos – Terminology in I Corinthians, sowie von M. Winter, Pneumatiker und Psychiker in Korinth. 27 H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, S. 94. 28 So B.A. Pearson, Philo, Gnosis, and the New Testament, S. 171. Im Übrigen vermerkt nicht umsonst S. Pétrement, A. Separate God, S. 176, dass sich aus der Entgegensetzung der »Herrscher dieses Äons« und des »Herrn der Herrlichkeit« in 1 Kor 2,8 am Ende durchaus »the transformation from a temporal dualism within the world to a dualism of a Gnostic type« erklären ließe. Dazu auch M.A. Williams, Rethinking Gnosticism, S. 230.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

der Quellen der (späteren christlichen) Gnosis gewesen ist29. Konkret würde dies – im Übrigen in Entsprechung zu einem (relativ!) weitreichenden Konsens der gegenwärtigen Forschung30 – bedeuten: Die gnosisnahe – um nicht gleich zu sagen: gnostisierende Sprache des Paulus in 1 Kor 2,6 ff. (oder auch in 1 Kor 8,1 ff. usw.) ist in einem mit der frühen Gnosis gemeinsamen Ursprungszusammenhang begründet, nämlich eben in jener (hellenistischjüdischen) ›dualistischen Weisheit‹. Dieser Ursprungszusammenhang setzt seinerseits wiederum für Paulus wie auch für die (spätere christliche) Gnosis eine etwa gleichzeitige Entwicklung im Verlauf des 1. nachchristlichen Jahrhunderts voraus, in der jenes gemeinsame Erbe einer ›dualistischen Weisheit‹ auf eigene Weise bzw. unter einem unterschiedlichen hermeneutischen Vorzeichen gestaltet bzw. verarbeitet worden ist. Im speziellen Falle der Gemeinde in Korinth bedarf es dabei keiner Frage, dass die gnosisnahe Sprache des Paulus ihrerseits nicht zuletzt, vielleicht sogar primär, durch die Auseinandersetzung mit seinen Kontrahenten in der Gemeinde bedingt ist, konkret also die Negation der Position seiner Gegner zum Ziel hat: Gnosisnahe Sprache also als Instrument der Zurechtweisung und Polemik31. Solche Strategie des Paulus im Falle der Gemeinde in Korinth, die – dies sei hier nur am Rande vermerkt – wohl auch in anderen Schriften des Neuen Testaments befolgt wird, mag hier zugleich den Übergang zu einem zweiten Aspekt des ›Zeugnisses des Neuen Testaments‹ gewähren, nämlich zu dem im Rahmen des Gesamtthemas ›Urchristentum und Gnosis‹ häufig diskutierten Thema der sog. ›Irrlehrer-Polemik‹ in bestimmten Schriften des Neuen Testaments. Dies soll hier primär unter dem Aspekt geschehen, in welchem Sinne und Maße in bestimmten Schriften des Neuen Testaments eine gezielt antignostische Polemik festzustellen ist, und zwar als Zeugnis für eine vorchristliche bzw. – besser – für eine dem Urchristentum etwas gleichzeitige gnostische Bewegung. Die im Folgenden im Rahmen dieser Fragestellung – im Überblick! – vorzutragende Analyse des neutestamentlichen Schrifttums beschränkt sich – dies sei vorweg ausdrücklich betont – im Wesentlichen auf die neutestamentliche, jeweils aus aktuellem Anlaß entstandene Briefliteratur (Paulusbriefe, deuteropaulinische Briefe sowie die sog. ›Katholischen Briefe‹). Was die sog. Geschichtsbücher des Neuen Testaments, also die Evangelien sowie das lukanische Geschichtswerk betrifft, so ist offensicht29 Zum Begriff »Dualistische Weisheit« vgl. E. Brandenburger, Fleisch und Geist. Paulus und die dualistische Weisheit, S. 15: »Wäre solcher Sprachgebrauch [sc.: wie in 1 Kor 2,14 f.] nicht eher in dualistisch-weisheitlichen Vorstufen (hellenistisch-)jüdischer Kreise als in der entwickelten Gnosis denkbar?« Vgl. ebd., S. 225 ff., zur Frage der Entstehung einer »dualistischen Weisheit« aus einer fortschreitenden »Dualisierung der spätjüdischen Weisheitstheologie«. 30 Dazu vgl. bereits. H. Koester in seiner Rezension zu U. Wilckens, Weisheit und Torheit, in: Gn. 33 (1961), S. 590–595, hier S. 594 f. Zur weiteren Literatur zu 1 Kor 2,6–16 vgl. W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (EKK VII /1), S. 238 f. Zur Sache selbst: ebd., S. 242.244 sowie S. 263 f. 31 Speziell zu dieser Problematik: W. Schrage, ebd., S. 240 f.

3.2 Der Quellenbefund

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lich, dass alle Versuche, das Phänomen der Evangelienschreibung im späteren Urchristentum, konkret im letzten Drittel des 1. Jahrhunderts, mit E. Käsemann u.a. aus einem anti-enthusiastischen bzw. sogar gezielt anti-gnostischen Impetus heraus zu verstehen, in diesem notwendig generalisierenden Erklärungsmodell nicht zu überzeugen vermocht haben32. – Grundsätzlich das Gleiche gilt auch im Blick auf die Frage nach anti-gnostischen Implikationen in den einzelnen (synoptischen) Evangelien bzw. im lukanischen Geschichtswerk. Als Beispiel für das letztere sei hier nur auf die große ›Abschiedsrede‹ des (lukanischen) Paulus in Act 20,17–35 hingewiesen, in der zwar gegen Ende (20,29 ff.) der (später von den frühkatholischen Kirchenvätern im einzelnen ausgeführte) Topos von ›Irrlehrern‹ vorgetragen wird, die (in der nach-apostolischen Zeit!) wie ›reißende Wölfe‹ in die christliche(n) Gemeinde(n) eindringen werden – ohne dass sich jedoch in dieser generellen Warnung etwas spezifisch anti-gnostisches ausmachen läßt33.

Was nun aber auch speziell die neutestamentliche Briefliteratur betrifft, als solche jeweils aus aktuellem Anlaß und im Blick auf eine bestimmte konkrete Situation der jeweiligen Gemeinde(n) verfaßt, so sind – beim gegenwärtigen Stand der Forschung – ganz offensichtlich die Zeiten vorbei, in denen man – zunächst vor allem auf die ›echten‹ bzw. ursprünglichen Briefe des Paulus bezogen – als Kontrahenten des Apostels in den paulinischen Gemeinden mehr oder weniger pauschal eine anti-gnostische Frontstellung voraussetzte34. Grundsätzlich das Gleiche gilt – wiederum nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung – für die sog. deuteropaulinischen Briefe sowie für die späteren Briefe des Neuen Testaments (Hebräerbrief, Judas- und 2. Petrusbrief usw.). Hier ist im Einzelnen doch wohl mehr zu differenzieren, zumal sich der ›Synkretismus‹ der spätantiken Religionsgeschichte im Einzelnen durchaus vielfältiger, um nicht zu sagen komplexer, darstellt als nur – wenn auch hier besonders deutlich – in der Gnosis. Die Forschungsgeschichte, wie sie speziell mit Blick auf die ›Opponenten‹ der Paulusbriefe J.J. Günther Jr. nachgezeichnet und dabei nachdrücklich auf die »bewildering variety of conclusions« hingewiesen hat35, gibt jedenfalls allen Anlaß zu einer ent32 E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, S. 195 ff.; E. Schweizer, Die theologische Leistung des Markus, in: Ders., Beiträge zur Theologie der Neuen Testaments, S. 22: »Am Horizont wurde eine Kerygmatheologie sichtbar, die alle Wurzeln in der Geschichte verloren hatte und ebenso gut an Hermes wie an Jesus angehängt werden konnte. Es drohte die Gnosis … In dieser Situation schrieb Markus sein Evangelium …«. Zum Problem vgl. auch H.-F. Weiß, Kerygma und Geschichte, S. 37 f. 33 Speziell zum lukanischen Geschichtswerk vgl. C. H. Talbert, An Anti-Gnostic Tenedency in Lucan Christology, S. 259–271; ders. Luke and the Gnostics. Dazu: W. Schmithals, Neues Testament und Gnosis, S. 128 ff. – Zum Markusevangelium vgl. J. Schreiber, Die Christologie des Markusevengeliums, in: ZThK 58 (1961), S. 154–170, sowie G. Strecker, Theologie des Neuen Testaments, S. 339 ff., hier mit dem negativen Urteil: »eine Konfrontation mit Gnosis und Dualismus ist für die synoptischen Evangelien nicht nachzuweisen. Dies gilt auch für Lukas …«; vgl. ebd., S. 571 f. 34 Zur Forschungsgeschichte vgl. E.E. Ellis, Paul and his Opponents: Trends in Research, S. 80–115; J. J. Gunther jr., St. Paul´s Opponents and their Backrounds; F. Wisse, The Opponents in the New Testament Writings in the Light of the Nag Hammadi Writings. 35 J. J. Gunther jr., a.a.O., S. 6; ebd., S. 1 ff., die entsprechenden Aufstellungen.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

sprechenden Differenzierung, die ihrerseits die Feststellung einer bestimmten Gnosisnähe im konkreten Einzelfall keineswegs notwendig ausschließt. Im jeweils konkreten Fall gilt dies in besonderer Weise für die deuteropaulinischen Briefe an die Epheser und Kolosser: Hier ist aus den neueren Kommentaren deutlich ablesbar, in welchem Maße weithin an die Stelle einer (einseitig) gnostischen Interpretation – im Falle des Kolosserbriefes: hinsichtlich der hier bekämpften Irrlehre; im Falle des Epheserbriefes: hinsichtlich der eigenen theologischen Substanz des Briefes – eine durchaus differenzierende Betrachtungsweise getreten ist – aber auch hier wiederum ohne damit grundsätzlich bzw. im konkreten Einzelfall bestimmte gnosisnahe Formulierungen auszuschließen36. In methodischer Hinsicht gilt hier grundsätzlich: Gewisse Berührungspunkte in diesen Briefen mit (zeitlich später anzusetzenden) gnostischen Anschauungen und Motiven sind noch nicht ein zureichender Grund, den jeweiligen Brief in seiner Substanz, so im Falle des Epheserbriefes, bzw. die jeweilige Irrlehre, so im Falle des Kolosserbriefes, insgesamt als Zeugnis einer frühen (christlichen) Gnosis zu benennen. Grundsätzlich das Gleiche gilt – was die neuere Forschungs- und Auslegungsgeschichte betrifft – im Übrigen auch im Blick auf das Thema der ›Irrlehrer‹ in den sog. katholischen Briefen des Neuen Testaments, hier insbesondere für den Judasbrief sowie für den 2. Petrusbrief. In diesen Briefen, ist es ganz offensichtlich der (nur noch) topologische Charakter der Ketzerproblematik, der jede konkrete Zuweisung an eine bestimmte Irrlehre faktisch unmöglich macht37.

Über die neutestamentliche Briefliteratur hinaus stellt nun immer noch das Johannesevangelium (im Zusammenhang mit den Johannesbriefen) ein spezielles Problem dar38. Zwar dürfte das vor Jahrzehnten bereits (1970) formulierte Urteil von L. Schottroff: »Johannes ist das erste uns ausführlicher bekannte System einer Gnosis, die sich christliche Traditionen adaptiert«39, beim gegenwärtigen Stand der Forschung wohl kaum noch einen Befürworter finden. Und – aufs Ganze gesehen – ist im Blick auf das Thema ›Johannesevangelium und Gnosis‹ auch eine rückläufige Tendenz festzustellen, als solche u.a. aus den neueren Kommentaren zum Johannesevangelium ablesbar – im deutlichen Unterschied jedenfalls von der ›klassischen‹ gnostischen 36 Für den Epheserbrief sei hier nur auf den sog. Weckruf in Eph 5,14 hingewiesen, den H. Schlier in seinem Kommentar noch ganz aus der gnostischen Tradition heraus verstanden wissen wollte, während J. Gnilka in seinem Kommentar (HthKzNT 10/2) gewichtige Gründe für eine biblisch-jüdische Herkunft geltend gemacht hat. Vgl. zum Ganzen auch neben den Kommentaren die »religionsgeschichtliche Studie« von R. Schwindt, Das Weltbild des Epheserbriefes, vom Jahr 2002, hier (S. 7–46) mit ausführlicher Darlegung der Forschungsgeschichte. 37 Speziell zum Judas – sowie zum 2. Petrusbrief vgl. H. Paulsen, Der zweite Petrusbrief und der Judasbrief (KEK XII /2) hier bes. S. 49: »Am ehesten plausibel erscheint noch eine Zuordnung zur ›frühen Gnosis‹, doch bleibt auch sie so vage, daß sich eine solche Deutung geschichtlich kaum verifizieren lässt«. 38 Zur Forschungsgeschichte vgl. W. Schmithals, Neues Testament und Gnosis, S. 96–123; ders., Johannesevangelium und Johannesbriefe (BZNW 64), S. 164 ff., sowie J. Becker, Das Johanesevangelium im Streit der Methoden, S. 56–65. 39 L. Schottroff, Der Glaubende und die feindliche Welt, S. 295. Vgl. ebd.: »Mit dem Johannesevangelium ist die gnostische Heilslehre in den Kanon gelangt«!

3.2 Der Quellenbefund

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Johannesinterpretation im Kommentar von R. Bultmann – aber, um hier sogleich die entsprechende Formulierung von K. Rudolph aufzunehmen40, der Streit um den Johannes gnosticus ist damit noch keineswegs entschieden. Und um dies festzustellen, bedarf es durchaus nicht erst der phantasievollen Konstruktionen, wie sie im Jahre 1994 in seiner »Geschichte des frühen Christentums« F. Vouga vorgelegt hat41. Im Blick auf den (im Einzelnen durchaus komplexen) Stand der Forschung in dieser Hinsicht wird man jedenfalls auf die (durchaus positivistische!) Fixierung auf die Konsequenz: Gnostische bzw. gnostisierende Tendenzen im 4. Evangelium sind nur dann ›aufweisbar‹, wenn zuvor die Existenz einer vor-christlichen bzw. vorjohanneischen Gnosis anhand entsprechender gnostischer Quellen nachgewiesen werden kann, verzichten müssen. Und dies zumal dann, wenn – was das Johannesevangelium selbst betrifft – zwar einerseits sein Ursprung im Judentum seiner Zeit unverkennbar ist, andererseits jedoch diese selbe Evangelienschrift mit ihrer unverkennbaren Neigung zu einer bereits im Prolog (V. 5!) hervortretenden dualistischen Weltsicht (wie überhaupt mit ihren Entgegensetzungen von ›Licht‹ und ›Finsternis‹, ›Leben‹ und ›Tod‹, ›Wahrheit‹ und ›Lüge‹!) in jedem Falle eine gewisse Nähe zu einer spezifisch gnostischen Sprache bekundet42. Ob damit bereits im Johannesevangelium, was seinen religionsgeschichtlichen ›Hintergrund‹ betrifft, eine spezifisch gnostische Kosmologie, Anthropologie und – was speziell die johanneische Rede vom ›Ab-‹ und ›Aufstieg‹ des johanneischen Jesus angeht (Joh 3,13!) – eine spezifisch gnostische Soteriologie vorausgesetzt wird43, ist – sofern damit zugleich bereits für die Entstehungszeit des 4. Evangeliums, also für den Ausgang des 1. nachchristlichen Jahrhunderts, so etwas wie ein ›gnostisches System‹ vorauszusetzen wäre (und nicht nur – analog zur entsprechenden Problematik bei Paulus – als Vorstufe der Gnosis eine ›dualistische Weisheit‹)44, unwahrscheinlich.

Immerhin: Was jene Gnosisnähe des Johannesevangeliums hinsichtlich seiner dualistischen Weltsicht betrifft – und damit auch die dieser Weltsicht entsprechende Einzeichnung der Christologie in ein dualistisches Rahmenkonzept (Joh 3,13.31!), so liegt hier doch ganz offensichtlich ein auf die Gnosis hin angelegtes Sinnpotential vor, das – bei entsprechender ›systematischer‹ Ausführung! – nicht mehr allzu weit von jenen Systembildungen entfernt war, wie sie, für die christliche Gnosis jedenfalls, für das 2. nachchristliche 40

K. Rudolph, Zum Streit um den Johannes gnosticus, S. 415–427. F. Vouga, Geschichte des frühen Christentums, S. 91 bzw. S. 92 ff. und S. 144 ff. 42 Vgl. nur die scharfen Gegenüberstellungen ›Oben – Unten‹, ›Erde – Himmel‹ als Ausdruck des johaneischen Dualismus. Dazu im Einzelnen: J. Becker, Das Evengelium nach Johannes, 1. Teilband, S. 174–179. 43 So jedenfalls nach wie vor die Auffassung von K. Rudolph, Die Gnosis, S. 175 und S. 329 f.; ders., Zum Streit um den Johannes gnosticus, S. 419 ff. 44 Vgl. K. Rudolph, ebd., S. 426 f.: »Ein Stück der Frühgeschichte der Begegnung christlicher Vorstellungswelt mit der Gnosis«, die sich u.a. auch »aus der Weisheitstradition« speiste. 41

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Jahrhundert – nunmehr auch durch die entsprechenden literarischen Quellen – bezeugt sind45. Und genau von daher gesehen gab es offensichtlich im Blick auf die Rezeption des Johannesevangeliums durchaus nicht erst im Verlauf des 2. nachchristlichen Jahrhunderts, sondern bereits am Ausgang des 1. Jahrhunderts bzw. um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert einen Interpretationskonflikt, der auch nicht durch jenes dezidierte von Joh 1,14 beigelegt werden konnte, mit dem sich das 4. Evangelium doch so grundsätzlich von jener gnostischen Häresie unterschied, der es – andererseits – mit seinem dualistischen Rahmenkonzept so nahe kam. Zu einem »frühen Zeugnis für einen ersten Protest« (gegenüber der christlichen Gnosis des 2. Jh.s) wird jener Grund-Satz von Joh 1,14 offensichtlich erst im Verein bzw. genauer: im ›kanonischen‹ Verbund mit dem 1. und 2. Johannesbrief 46 – sofern hier, in diesen Briefen (1 Joh 4,2 f.; 2 Joh 7) ganz offensichtlich der Versuch unternommen worden ist, in einem in der johanneischen ›Schule‹ aufgebrochenen Konflikt um die ›Geschichtlichkeit‹ bzw. – johanneisch gesprochen – um die ›Fleischwerdung‹ des Logos nun auch über die im 4. Evangelium singuläre Aussage von Joh 1,14 hinaus eindeutig Stellung gegenüber möglichen Fehlinterpretationen zu beziehen. Wie immer man die Johannesbriefe im Einzelnen beurteilen mag, und zwar speziell im Blick auf die Frage einer anti-gnostischen bzw. antidoketischen Ausrichtung insbesondere des 1. und des 2. Johannesbriefes47 – beide bezeugen in jedem Falle einen durch das Johannesevangelium initiierten Interpretationskonflikt und stellen so eine Art ›Kommentar‹ zum Evangelium dar. Aufgabe und Zielsetzung dieses ›Kommentars‹ ist es dabei offensichtlich, die durch das (bereits genannte) gnostische oder doch jedenfalls gnostisierende ›Sinnpotential‹ bedingte Ambivalenz des 4. Evangeliums gleichsam zu neutralisieren48. In diesem Sinne ist es durchaus nicht abwegig, die Johannesbriefe in ihrem Verhältnis zum Johannesevangelium als eine Art »johanneische Pastoralbriefe« zu bezeichnen49, als solche mit der Absicht verfaßt, das 45 Zum Stichwort ›Sinnpotential‹ vgl jetzt auch J. Zumstein, Zur Geschichte des johaneischen Christentums, Sp. 423 f. 46 So mit Recht M. Hengel, Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft: NTS 40 (1994), S. 331: »Der Johannesprolog und der 1. Johannesbrief, die beide eng zusammengehören, mögen hier ein frühes Zeugnis für einen ersten Protest darstellen«. 47 Zur Problematik in dieser Hinsicht vgl. H. Thyen, Art. Johannesevengelium, in: TRE 17, S. 212 f., Hier zur Frage eines Anti-Doketismus im Joh-Evangelium. Zur Problematik in den Johannesbriefen vgl. H. Thyen, Art. Johannesbriefe, in: TRE 17, S. 188 ff. Zum Ganzen vgl. auch M. Hengel, Die johanneische Frage, S. 164 ff. 170 ff. und S. 193 ff., hier zur Frage eines ›naiven Doketismus‹. 48 In diesem Sinne J. Zumstein, Zur Geschichte des johaneischen Christentums, S. 417. 421: 1 Joh als gleichsam »orthodoxer Kommentar des Evangeliums«, dessen Funktion im Wesentlichen darin besteht, »die Ambivalenz des Evangeliums zu neutralisieren«; ebd., S. 419: »Der erste Johannesbrief wird also gleichsam zur Eingangstür des Evangeliums in den Kanon«. 49 So H. Conzelmann, »Was von Anfang an war«, S. 201.

3.2 Der Quellenbefund

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Johannesevangelium nun wirklich unmißverständlich in eine anti-häretische bzw. – genauer – antignostische Frontstellung einzugliedern50. Was in diesem Zusammenhang am Ende noch einmal das Stichwort von einer Gnosisnähe des 4. Evangeliums betrifft, so setzt diese ihrerseits keineswegs eine (literarisch vermittelte) ›Abhängigkeit‹ von bestimmten gnostischen Quellenschriften voraus, wohl aber – vorsichtig ausgedrückt – den Ursprungsort des Johannesevangeliums bzw. der spezifisch johanneischen Tradition im Umkreis einer entstehenden Gnosis, möglicherweise in Syrien. Die Prioritätsfrage hinsichtlich der zeitlichen Ansetzung (schriftlicher) gnostischer Quellen ist dabei – wenn es sich denn hier um eine entstehende Gnosis handelt – durchaus zu unterscheiden von einer gleichsam unliterarischen Phase jener Gnosis in statu nascendi 51. Damit wäre dann zugleich auch die Möglichkeit eröffnet, die Relation Johannesevangelium – Gnosis (und darüber hinaus die Relation Urchristentum – Gnosis insgesamt!) nicht so sehr auf das starre Konzept literarisch vermittelter ›Abhängigkeiten‹ einzuengen, sondern – was, auf einen dynamisch verlaufenden historischen Prozess gesehen, sehr viel wahrscheinlicher und auch angemessener ist – aus konkreten Lebensbezügen an einem konkreten historischen Ort verständlich und nachvollziehbar zu machen. Ganz in diesem Sinne ist zum Abschluss dieses zugegebenermaßen sehr gerafften Überblicks über die Schriften des Neuen Testaments als Zeugnisse für die Frage nach der Relation ›Urchristentum – Gnosis‹ noch auf das spezielle Problem der sog. Pastoralbriefe des Neuen Testaments einzugehen: Was jedenfalls das Problem einer frühen Begegnung von Ur- bzw. Frühchristentum und Gnosis (und damit auch wiederum die ›Quellenfrage‹!) betrifft, so ist diesen Pastoralbriefen im Unterschied zu allen für diese Problemstellung überhaupt in Betracht kommenden Schriften des Neuen Testaments eine Sonderstellung zuzuweisen, als solche auch von (dem in dieser Hinsicht eher skeptischen) M. Hengel anerkannt: »Das Wort ›Gnosis‹ als Selbstbezeichnung für eine religiöse Bewegung begegnet uns erstmals im Neuen Testament, und zwar am Schluss des dem Paulus zugeschriebenen 1. Timotheusbriefes 6,20 f., als letzte Mahnung des Apostels an seinen Schüler …«52. In dieser Hinsicht, dass nämlich mit der Rede von der »fälschlicher- bzw. in lügnerischer Weise so genannten « in 1 Tim 6,20 tatsächlich die religiöse Bewegung der Gnosis gemeint ist, besteht in der Gnosisforschung gegenwärtig denn auch ein weitreichender Konsens – es sei denn, man macht 50 In diesem Zusammenhang hat auch das Stichwort einer ›Verkirchlichung‹ der johanneischen Tradition durch die Joh-Briefe seinen Ort. Dazu: Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, S. 466 ff.; zu den Joh-Briefen: ebd., S. 472 ff. und S. 482 f. 51 Zur Frage einer »unliterarischen Phase« in der Entstehungsgeschichte der Gnosis vgl. J. Becker, Das Johannesevangelium im Streit der Methoden, S. 57 f. 63; ders., Das Johannesevangelium, 1. Teilbd., S. 68–70. 52 M. Hengel, Die Ursprünge der Gnosis und das Urchristentum, Seite 190; ders., Paulus und die Frage einer vorchristlichen Gnosis (Kleine Schriften III ), S. 492.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

von dem ›reichhaltigen Angebot‹ Gebrauch, das K. Berger in verschiedenen Veröffentlichungen (seit 1984) im Blick auf die ›Irrlehre‹ der Pastoralbriefe gemacht hat: zunächst in der Tat ›Gnostiker‹ (1984), sodann ›Diasporapharisäer‹ (1988) und schließlich ›Judenchristen‹ (1994)53. Geht man demgegenüber von jenem bereits genannten Forschungskonsens aus, so handelt es sich bei der in 1 Tim 6,20 genannten, sich selbst als ›Gnosis‹ bezeichnenden religiösen Bewegung offensichtlich um eine (wohl elitäre) Bewegung, die in nachpaulinischer Zeit in bestimmte frühchristliche Missionsgemeinden eingedrungen ist und hier zu heftigen Auseinandersetzungen um die – wie die Pastoralbriefe sich ausdrücken – ›gesunde‹ bzw. (allein) ›gesundmachende Lehre‹ geführt hat. Bei dieser ›Irrlehre‹ also handelt es sich – auch in dieser Hinsicht besteht gegenwärtig ein weitreichender Konsens – um eine »frühe Form der Gnosis mit stark jüdischem Einschlag«54. Obwohl die nähere Kennzeichnung dieser ›Irrlehre‹ in den Pastoralbriefen offensichtlich bereits bestimmte traditionell geläufige Topoi Anwendung finden und in diesem Sinne eine sich hier bereits herausbildende stereotype ›Ketzerpolemik‹ bezeugen55, ist doch – wie nicht zuletzt auch die ›Personalisierung‹ der Irrlehre in bestimmten Namen anzeigt (1 Tim 1,20; 2 Tim 4,14) – durchaus eine sehr reale »also keineswegs nur ›typische‹ Irrlehre vorausgesetzt«56. Das primäre Kennzeichen dieser Irrlehre(r) ist – wiederum nach der Schlüsselstelle 1 Tim 6,20 – der (elitäre) Anspruch, für sich die ›wahre‹ bzw. die eigentliche ›Erkenntnis‹ zu reklamieren – und damit zugleich (möglicherweise jedenfalls) die ›Gnosis‹ als eine Art Selbstbezeichnung zu verwenden. Mag letzteres auch umstritten sein (und mag es an dieser Stelle auch überflüssig sein, jene gnostische Irrlehre der Pastoralbriefe in allen Details zu beschreiben) – bemerkenswert sind in jedem Falle die offensichtlich jüdischen Implikationen dieser Irrlehre, wie sie bereits am Anfang des 1. Timotheusbriefes hervortreten: Hier ist nicht nur vom und von die Rede (1 Tim 1,7.8 usw.), sondern auch – im Zusammenhang mit der Gnosis gewiss noch gewichtiger – von den ›Mythen‹ und den ›endlosen Genealogien‹ (1 Tim 1,4), von denen die ersteren im Titusbrief (1,14) ausdrücklich als ›jüdische Mythen‹ bezeichnet werden. Was auch immer im Einzelnen sich hinsichtlich der Sache hinter solcher Terminologie verber53 Zur genannten zeitlichen Abfolge vgl. K. Berger, Art. Gnosis/Gnostizismus I, in: TRE 13, S. 525; ders., Pharisäismus und Christentum, in: NT 30 (1988), S. 254 ff., sowie Theologiegeschichte des Urchristentums, S. 513–515, zum Standort der Pastoralbriefe hier S. 513: »Traditionell wird der Standort der Gegner der Pastoralbriefe als ›gnostisch‹ bezeichnet … Dieser Standpunkt wird hier bestritten«. Positiv heißt dies für K. Berger, daß es sich bei der Polemik der Pastoralbriefe gegen ›Judenchristen‹ im Grunde um ›antipharisäische Polemik‹ handelt. 54 Vgl. u.a. G. Haufe, Gnostische Irrlehre und ihre Abwehr in den Pastoralbriefen, S. 332 f.: »Vetreter einer frühen Form der Gnosis mit stark jüdischen Einschlag«; J. Roloff, Art. Pastoralbriefe, in: TRE 26, S. 57: ›Frühform der Gnosis‹, sowie L. Oberlinner, Die Pastoralbriefe, S. 63–73: »Vertreter einer frühen Form der Gnosis«. 55 So z.B. der Topos vom Auftreten der Irrlehrer ›in den letzten Zeiten‹: Tit 4,1 f.; 2 Tim 3,1 ff. sowie 1 Joh 2,18; 4,3; 2 Petr 2,14; Jud 4 ff. Vgl. auch den Topos vom dämonischen Ursprung der Ketzerei in 1 Tim 4,1 f. Sowie bereits bei Paulus: 2 Kor 4,4; 11,3.13 f. 56 Dazu im einzelnen G. Haufe, Gnostische Irrlehre und ihre Abwehr in den Pastoralbriefen, sowie die Kommentare. So im Übrigen bereits i.J. 1880 H. J. Holtzmann, Die Pastoralbriefe, S. 126 ff.

3.2 Der Quellenbefund

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gen mag – in einem gnostischen Kontext gesehen ist hier gewiss an das elementare Interesse der Gnosis an den großen Ursprungsmythen von Welt und Mensch in der biblisch-jüdischen Überlieferung zu denken. Auch das in diesem Zusammenhang in 1 Tim 1,4 genannte Stichwort der ›Genealogien‹ = ›Stammbaum, Geschlechtsregister‹, von den altkirchlichen Häresiologen sodann auf die ›Äonenreihen‹ in den späteren gnostischen Quellen bezogen, würde in diesem Zusammenhang durchaus Sinn geben, als Bezeichnung nämlich für die aus dem Ursprungsmythus abzuleitenden ›Geschlechterfolgen‹. Und ein letztes noch angesichts bestimmter jüdischer Implikationen der in den Pastoralbriefen vorausgesetzten gnostischen Irrlehre: Immerhin dreimal (1 Tim 6,4; 2 Tim 2,23 und Tit 3,9) wird hier der Begriff benutzt. Ob er mit dem deutschen ›Untersuchung‹ zu übersetzen ist, ist zumindest fraglich. Geht man jedoch von der Grundbedeutung von , ›suchen, forschen‹ aus, so könnte es sich hier, was die ›Untersuchungen‹ der Gnostiker der Pastoralbriefe betrifft, durchaus um eine Art term. techn. für die Schriftforschung handeln: ›Suchen/ forschen‹ nämlich nach der Auslegung der biblischen Überlieferungen – und so gesehen ganz i.S. des Verständnisses der Rede vom ›Suchen‹ und ›Finden‹ von Mt 7,7 par Lk 11,9 in (späteren) gnostischen Schriften: bzw. also geradezu ein hermeneutischer Terminus für die spezielle Weise der Schriftforschung der Gnostiker der Pastoralbriefe57. Der hier naheliegenden, seit langem bereits diskutierten Frage nach einem Ursprungszusammenhang zwischen Judentum und Gnosis ist an dieser Stelle nicht im Einzelnen nachzugehen.

So bleibt mit Blick auf die Pastoralbriefe am Ende noch die Frage nach der Datierung der hier vorausgesetzten Gnostiker zu beantworten: In dieser für die Ursprungsgeschichte der Gnosis nicht unwichtigen Frage besteht gegenwärtig ein (relativ) weitgehender Konsens. Eine Spät-Datierung der Pastoralbriefe in die Jahrzehnte 120–160 des 1. Jh.s n.Chr., die die Irrlehre der Pastoralbriefe bereits in einer engen Verbindung mit den großen Systemen der christlichen Gnosis sieht oder auch davon ausgeht, dass die in 1 Tim 6,20 genannten ›Antithesen‹ auf das entsprechende Werk des Marcion zu beziehen sind, wird gegenwärtig wohl kaum noch vertreten58. Vielmehr geht man überwiegend davon aus, dass es sich bei der ›Gnosis‹ der Pastoralbriefe um eine relativ frühe Gestalt der Gnosis handelt, die als solche noch nicht in unmittelbarer Verbindung mit den von den altkirchlichen Häresiologen bekämpften großen christlich-gnostischen Systemen des 2. Jh.s n.Chr. zu sehen ist. Konkret würde dies bedeuten, dass die ›Frühform‹ der in den Pastoralbriefen dokumentierten Gnosis entweder in den beiden ersten Jahrzehnten des 2. Jh.s anzusetzen wäre oder – noch weiter zurück – bis ins Ende des 57 Vgl. W. Schenk, Die Briefe an Timotheus I und II und an Titus (Pastoralbriefe) in der neueren Forschung: ANRW II 25/4, S. 3429. Zur Rezeption von Mt 7,7 par Lk 11,9 in der frühchristlichen Gnosis als ›Programm‹ gnostischer Schriftauslegung s.u. Kap. 4.2. 58 Zur Spätdatierung der Pastoralbriefe in diesem Sinne vgl. noch H. Köster, Einführung in das Neue Testament, S. 744, sowie PH. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, S. 237. Vgl. aber auch P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments II , S. 19, der die Pastoralbriefe einerseits in der Nähe zu den Systemen der christlichen Gnosis des 2. Jh.s. sieht, andererseits jedoch »ihre Ausgestaltung zu Lehrbriefen … im letzten Jahrzehnt des 1. Jh.s n.Chr.« ansetzt.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

1. Jh.s, also etwa um 90 n.Chr. zu datieren wäre. Genau an dieser Stelle wäre dann im Übrigen auch noch einmal auf den zu Beginn dieses Kapitels (S. 1 f.) zitierten Vorschlag von A. Böhlig zurückzukommen: Im Sinne nämlich der zuletzt genannten Datierung der Pastoralbriefe (rund um die Wende vom 1. zum 2. Jh.) würde es sich hier, in den Pastoralbriefen, in der Tat um eine Art von ›Gnosis‹ handeln, die – wie A. Böhlig formuliert hat – »der christlichen Gnosis des 2. Jh.s vorausgeht« – und damit zugleich: In diesem Sinne wäre die in den Pastoralbriefen vorausgesetzte ›Gnosis‹ gleichsam eine Station auf dem Wege von einer im Verlauf des 1. Jh.s noch im Entstehen begriffenen (und somit noch nicht in bestimmten literarischen Quellen dokumentierten!) Gnosis hin zu den großen gnostischen Systembildungen, wie sie vom 2. Jh. an in den antignostischen Werken der altkirchlichen Häresiologen (Justin, Irenäus usw.) bereits vorausgesetzt werden! Die Bedeutung einer solchen Sicht der Ursprungs- und Entstehungsgeschichte der gnostischen Bewegung für das Verständnis des Prozesses einer lebendigen – und in diesem Sinne keineswegs auf (eventuell gegenseitige) literarisch vermittelte Abhängigkeiten zu reduzierende! – Begegnung von ›Christentum‹ und ›Gnosis‹ kann kaum überschätzt werden – gewiß nicht zuletzt auch in der Hinsicht, dass auf diese Weise – endlich – die die Gnosisforschung bisher weithin bestimmende Alternative vor-christlich – nachchristlich wenn schon nicht überwunden, so doch in jedem Falle relativiert wäre. Die eindeutige Feststellung spezifisch gnostischer Infiltrationen in das früh- bzw. urchristliche Schrifttum wäre auf diese Weise nicht eben leichter geworden – auf der anderen Seite aber wäre die Feststellung der Gnosisnähe bestimmter literarischer Äußerungen des Urchristentums nicht mehr in jedem Falle ein Symptom der ›Ketzerei‹ bzw. des Abweichens vom Pfad eine früh- bzw. bereits urchristlichen ›Rechtgläubigkeit‹. Wie weit (oder auch: wie eng) die Grenzen in dieser Hinsicht in der Christenheit des 1. Jh.s gezogen worden sind, ist aus dem ur- und frühchristlichem Schrifttum selbst im Einzelnen abzulesen. Zu diesen Grenzen hat es aber nicht unbedingt gehört, ›Gnosisnähe‹ (z.B. im Sinne eines bestimmten dualistischen Weltbildes oder auch – speziell im Blick auf Paulus – im Sinne der Interpretation der Taufe als ein »Sterben und Auferstehen mit Christus« trotz der damit verbundenen Gefahren einer gleichsam ›enthusiastischen‹ Interpretation, wie sie offensichtlich in 2 Tim 2,18 vorliegt) von vornherein unter das Verdikt der ›Ketzerei‹ zu stellen59. Die Tatsache, dass in der Entstehungszeit der Pastoralbriefe am Ausgang des Urchristentums und seinem Übergang zur Zeit einer 59 Zum Problem in dieser Hinsicht vgl. J. Roloff, Art. Pastoralbriefe, in: TRE 26, S. 57, hier mit Hinweis darauf, daß angesichts von 2 Tim 2,18 die »Lehre des Paulus durchaus Motive [bot], die als Ansatzpunkt für eine solche gnostische Interpretation geeignet waren« (mit Verweis auf Röm 6, 1–4; Gal 3,13 usw.). Dem entspricht die Schlußfolgerung: »Die Pastoralbriefe müssen demzufolge als Dokumentation einer Kontroverse innerhalb der Paulusschule um die sachgemäße Interpretation des paulinischen Erbes verstanden werden«.

3.2 Der Quellenbefund

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›frühkatholischen Kirche‹ in dieser Hinsicht eine gewisse Verfestigung der unterschiedlichen bzw. kontroversen Positionen – um nicht gleich zu sagen: eine ›Frontbildung‹ – eingetreten ist, ist offenkundig – und nicht zuletzt wohl auch an der Paulus-Rezeption in gnostischen Kreisen ablesbar: Der 2. Petrusbrief jedenfalls spricht in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache, wenn es dort heißt, dass – zugegebenermaßen auch im Sinne des Autors selbst – in den Briefen des »geliebten Bruders Paulus … einiges schwer zu verstehen« ist, was nunmehr »die Unkundigen und [im rechten Glauben] Ungefestigten verdrehen«, und zwar »wie sie es auch mit den übrigen Schriften tun zu ihrem eigenen Verderben«60. Und nicht allzuweit von dieser Feststellung ist dann offensichtlich auch das vielzitierte Diktum des Tertullian vom Apostel Paulus als dem haereticorum apostolus entfernt61. Was in diesem Zusammenhang die Pastoralbriefe und ihr ›Paulusbild‹ anbelangt, so kommt ihnen in dieser Hinsicht, was den Streit um ›Rechtgläubigkeit und Ketzerei‹ betrifft, in der Tat eine ›Portalfunktion‹ zu für die Einbeziehung des (umstrittenen) Apostels Paulus in die antignostische Front – und damit zugleich auch für die endgültige Eröffnung der antignostischen Polemik seitens der altkirchlichen Häresiologen. Von daher gesehen ist es durchaus kein Zufall, dass einer der bedeutendsten unter ihnen, der »Kirchenvater« Irenäus von Lyon nämlich, sich bei der Ausarbeitung seines antihäretischen bzw. antignostischen Hauptwerkes ›Adversus Haereses‹ mehrfach ausdrücklich auf das Zeugnis der Pastoralbriefe von der »fälschlich so genannten Gnosis« bezieht und damit zugleich auch einen – für ihn – eindeutigen Zusammenhang zwischen seinem eigenen Bemühen und dem (inzwischen zum ›Kanon‹, also zur Richtschnur des Glaubens der Kirche gewordenen) Neuen Testament herstellt, ja, im Grunde auch sich selbst mit seinem Werk ›Adversus Haereses‹ in der Kontinuität der ›Ketzerbestreiter‹ des Neuen Testaments versteht62.

3.2.2 Das Zeugnis der altkirchlichen Häresiologen Selbstverständlich bezieht sich das Zeugnis der altkirchlichen Häresiologen in ihrer aktuellen oder auch – im Falle des Hippolyt – bereits zurückliegenden Auseinandersetzung auf die christliche Gnosis des 2. Jahrhunderts und der folgenden frühchristlichen Jahrhunderte. Für sie – wie auch schon für die Pastoralbriefe – zunächst nichts anderes als eine ›Häresie‹, d.h. eine se60 2 Petr 3,15 f. Dazu im einzelnen H. Paulsen, Der zweite Petrusbrief und der Judasbrief (KEK XII /2), S. 173 ff. 61 So Tertullian, Adv. Marcionem III 5,4. Daraus kann freilich kaum geschlossen werden, daß der Apostel Paulus im 2. nachchristlichen Jahrhundert überhaupt in den Ruf des »Apostels der Häretiker« geraten ist. Zum Problem in dieser Hinsicht vgl. A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 297 ff., sowie unten Kap. 4.3.2.3. 62 Zum Rückbezug auf die Pastoralbriefe vgl. bes. die Praefatio 1 zu Adv. Haer. I (1 Tim 1,4), weiter Adv. Haer. I 23,4; II 4,7; III 11,1; IV 35,1 mit Bezugnahme auf 1 Tim 6,20.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

kundäre und somit illegitime Gruppen- bzw. Sektenbildung innerhalb einer von ihrem Ursprung her ›rechtgläubigen‹ Kirche und in diesem Sinne primär ein kirchengeschichtliches Phänomen. Die schon bei Irenäus hervortretende Grundthese, derzufolge die ›Gnostiker‹ allesamt im Sinne einer genealogia haereticorum auf eine Gestalt, nämlich auf den aus der lukanischen Apostelgeschichte bekannten ›Magier‹ Simon als den ›Erzketzer‹ zurückzuführen sind, sagt dabei nichts über den tatsächlichen historischen Ursprung der Gnosis aus, sondern lediglich alles über den dezidiert nicht-christlichen Charakter der Gnosis. Hier geht es also nicht um ein historisches, sondern um ein dogmatisches Urteil: Bereits von ihrem Ursprungs- und Ausgangspunkt her gesehen hat die Gnosis wesensmäßig nichts mit dem christlichen Glauben zu tun; sie, diese Gnosis, ist vielmehr von ihrem Ursprung her ein häretisches Phänomen. Gleichwohl ist auch das Zeugnis der altkirchlichen Häresiologen für die Frage nach einem frühen, bis ins 1. nachchristliche Jahrhundert zurückreichenden Stadium der Geschichte der Gnosis nicht gänzlich ohne Belang, und zwar insbesondere dort, wo die altkirchlichen Häresiologen selbst im Zusammenhang ihrer antignostischen Polemik – entweder summarisch oder auch mit ausdrücklicher Benennung – ihrerseits auf gnostische Originalquellen zurückgreifen, sei es, dass sie aus solcherlei gnostischen Quellenschriften ausdrücklich zitieren, sei es auch nur, dass sie bestimmte gnostische Originalschriften ausdrücklich als solche benennen. Selbstredend hat dieser Rückgriff auf original-gnostische Quellen bei den altkirchlichen Häresiologen im Rahmen der historischen Nachfrage dort besonderes Gewicht, wo sich – wie vor allem im Falle des Simon Magus als des Urvaters aller ›Ketzerei‹! – mit der entsprechenden antignostischen Polemik zugleich die Frage nach Ursprung und Entstehung der gnostischen Häresie verbindet. Aufs Ganze gesehen gilt jedoch: Auch wenn die altkirchlichen Häresiologen – jeder für sich – unterschiedlichen Gebrauch davon machen – und bereits von daher gesehen der tatsächliche Quellenwert ihrer Darlegungen recht unterschiedlich ist! –, sind doch bei ihnen allen eine mehr oder weniger intensive Kenntnis und auch Benutzung bestimmter gnostischer Originalquellen vorauszusetzen. Und dies gilt nicht nur dort, wo solche Quellen ausdrücklich genannt oder gar zitiert werden, sondern auch dort, wo die antignostische Argumentation der Kirchenväter erkennbar auf der Basis solcher Quellen beruht. Sofern dies – zumindest im Falle des Irenäus wie auch später im Falle des Epiphanius – im Zusammenhang einer akuten Auseinandersetzung mit den verschiedenen gnostischen Gruppen und Gemeinschaften geschieht, ist solcherlei ›Quellenkunde‹ hinsichtlich der altkirchlichen Häresiologen gewiss ein Thema für sich. Vollständigkeit in dieser Hinsicht ist deshalb im Folgenden auch gar nicht anzustreben. Statt dessen soll hier lediglich paradigmatisch verfahren werden, und zwar einmal im Blick auf die altkirchlichen Häresiologen selbst, von denen im Folgen-

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den nur Irenäus, Hippolyt und Epiphanius zu Worte kommen sollen63, zum anderen aber auch im Blick auf die von ihnen ausdrücklich genannten bzw. zitierten gnostischen Originalquellen64. Was im Zusammenhang dieser Fragestellung zunächst Irenäus als den ältesten (uns erreichbaren) Häresiologen betrifft, so ist nun allerdings gerade bei ihm – zumal im Verhältnis etwa zu Epiphanius gesehen – die Ausbeute an ausdrücklich genannten bzw. zitierten gnostischen Originalquellen erstaunlicherweise relativ gering – erstaunlicherweise deshalb, weil er nach eigenem Zeugnis (Adv. Haer. I, praef. 2) die von ihm bekämpften Gnostiker aus eigener Anschauung gekannt und dementsprechend von einer »unzählbaren Menge an ›apokryphen‹ und erdichteten Schriften« zu berichten weiß65, von denen er im Einzelnen jedoch nur das von ihm als ›Machwerk‹ (confinctio) bezeichnete Evangelium des Judas erwähnt, also nicht einmal ausdrücklich zitiert66. Was die Abhängigkeit des Irenäus von gnostischen Originalquellen betrifft, ist es angesichts dessen umso bedeutsamer zu sehen, dass er gerade auch dort, wo er seine Leser im Einzelnen über Charakter und Wesen der gnostischen Häresie informiert, offensichtlich seinerseits unmittelbar auf ihm zugängliche gnostische Originalquellen zurückgreift und diese – wenn nicht zitiert, so doch jedenfalls – paraphrasiert. Seit der entsprechenden Beweisführung, die seinerzeit bereits C. Schmidt anhand des von ihm entdeckten Papyrus Berolinensis 8502 und des darin enthaltenen Apokryphon des Johannes vorgelegt hat, besteht heute – zumal nach der Entdeckung verschiedener Versionen derselben gnostischen ›Geheimschrift‹ in verschiedenen Kodizes des Handschriftenfundes von Nag Hammadi (NHC II /1; III /1; IV 1) – kein Zweifel mehr daran, dass Irenäus im 29. Kapitel des ersten Buches seines Werkes ›Adversus haereses‹ (Adv. Haer. I 29,1–4) auf eine von ihm freilich nicht ausdrücklich als solche benannte gnostische Originalschrift zurückgreift (und daraus ›zitiert‹!), und zwar jenes nunmehr in mehrfacher Gestalt vorliegenden Apokryphon des Johannes, wobei freilich die einst von Irenäus selbst benutzte gnostische Vorlage nicht notwendig mit einer der uns aus dem Pap. Berol. 8502 sowie aus dem Handschriftenfund von Nag Hammadi bekannten Versionen derselben ›Geheimschrift‹ identisch sein muss67. Der Hinweis auf die von Irenäus benutzte gnostische Originalschrift verdient im Übrigen umso mehr Beachtung, als neuerdings von A.H.B. Logan in seiner Monographie »Gnostic Truth and Christian Heresy« vom 63 Zu dieser Auswahl: G. Vallèe, A. Study in Anti-Gnostic Polemics. Vgl. auch K. Rudolph, Die Gnosis, S. 14 ff. 64 Vgl. dazu bereits die Zusammenstellung von R. Liechtenhan, Die pseudepigraphe Literatur der Gnostiker, hier bes. S. 226–230. 65 Irenäus, Adv. Haer. I 20,1; vgl. auch I 25,5. 66 Von einem Evangelium des Judas weiß auch Epiphanius, Haer. 38,1,5, sowie Theodoret, Haer. I 15 und Filastrius, Haer. 34. Für Irenäus ist in diesem Zusammenhang auch auf Adv. Haer. I 20,1 zu verweisen; hier mit Hinweis auf eine (nicht näher ausgewiesene) ›erdichtete Geschichte‹ wohl aus dem Kindheitsevangelium des Thomas (c. 6 bzw. c. 14). Adv. Haer. I 20,2 wird darüber hinaus ein apokryphes Jesuswort zitiert, dem – der Sache nach – das Logion 38 des koptischen Thomasevangeliums (NHC II /2) entspricht. 67 S. Dazu bereits Kap. 2.3.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Jahr 1996 – unter der Voraussetzung zugleich seiner Grundthese von der Gnosis als einem »basically Christian phenomenon«68 den Grund- und Ursprungsmythus der Gnosis überhaupt auf Grund eben jenes 29. (und 30.) Kapitels des ersten Buches von Irenäus’ ›Adversus haereses‹ zu entfalten versucht hat.69 So gesehen käme dann das dem 2. nachchristlichen Jahrhundert zuzuordnende Apokryphon des Johannes – wenn man die Auffassung vertritt, dass diese gnostische Geheimschrift »erst sekundär zu einem Gespräch Jesu mit Johannes umgestaltet wurde«70 – ebenfalls nicht mehr mittelbar als Zeugnis einer vor- bzw. außerchristlichen Gnosis in Betracht.

Gleichwohl bleibt im Blick auf das Zeugnis des Irenäus am Ende festzustellen: Auch wenn dieses Zeugnis, was jedenfalls den Befund an gnostischen Originalquellen betrifft, hinsichtlich der Quantität solcher Quellenzeugnisse relativ gering ist, so setzt der Kirchenvater doch für seine Zeit, das zweite nachchristliche Jahrhundert, wie zumindest in der polemischen Bemerkung von Adv. Haer I,20,1 angedeutet wird, eine bereits bemerkenswerte Breite an literarischer Produktion der (›christlichen‹) Gnosis voraus, damit zugleich gewiss auch schon ein weitverzweigtes christlich-gnostisches Phänomen in Gestalt einer ganzen Reihe von Schulen und ›Sekten‹ – die (christliche) Gnosis – wie er selbst sich ausdrückt (Adv. Haer. I 30,15) – eben als eine ›vielköpfige Hydra‹. Und nicht zuletzt: Vorausgesetzt wird hier, bei Irenäus, bereits die Existenz eines detaillierten, im Einzelnen ausgearbeiteten kosmogonisch-anthropogonischen Ur- und Grundmythus, der als solcher – nimmt man an dieser Stelle noch das Zeugnis der neutestamentlichen Pastoralbriefe hinsichtlich der für die ›fälschlich so genannte Gnosis‹ charakteristischen »endlosen Mythen und Genealogien« (1 Tim 1,4) hinzu! – doch wohl bereits eine längere Vor- bzw. Ursprungsgeschichte hat. Das heißt: Hier spricht nichts dagegen, vielmehr alles dafür, dass die Ursprungs- und Entstehungsgeschichte dieses gnostischen Mythus – und damit auch die Ursprungs- und Entstehungsgeschichte der gnostischen Religion bis in das 1. nachchristliche Jahrhundert zurückreicht. 68 A.H.B. Logan, a.a.O., S. XVIII : zu den »basic presuppositions« seines Buches gehört es »first, that the form or forms of Gnosticism found in the so-called ›Sethians‹ texts cannot be understood apart from Christianiti«. Ebd., S. XIX , mit Verweis auf die entsprechende Position von S. Pétrement: Gnosis also »a valid form (or forms) of interpreting Christianity«. 69 A.H.B. Logan, a.a.O., S. XX: »My final presupposition is to assume that Irenaeus’ summary in Adv. Haer. I 29 is closest to the orgiginal form of the Christian Gnostic myth of Father, Mother an Son …« Zur Rekonstruktion dieses ›Grundmythos‹ vgl. bes. die Kapitel I und II (S. 29 ff.), hier zu Beginn: »the Character of the Gnostic Myth underlying Irenaeus I. 29 und 30 and the Apocryphon of John«. 70 So H.-Ch. Puech, in: W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen I, S. 310. – Möglich ist freilich auch die Annahme, dass die verschiedenen Versionen des Apokryphon Johannis, darunter auch die Vorlage des Irenäus, ihrerseits bereits die christliche Re-Interpretation einer ursprünglich nicht-christlichen Vorlage darstellen. So jedenfalls Ph. Perkins, Irenaeus and the Gnostics, S. 199 f.; hier (S. 194. 198 f.) auch zu der Hypothese von F. Wisse, The Nag Hammadi Library and the Heresiologists, S. 215 ff., wonach Irenäus in Adv. Haer. I 29,1–31,2 seinerseits bereits frühere kirchliche Häresiologen – wie z.B. Justin – kopiert hat.

3.2 Der Quellenbefund

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Was die Quantität der in den Schriften der altkirchlichen Häresiologen bezeugten und – z.T. auch überlieferten – gnostischen Originalquellen betrifft, so übertrifft Epiphanius – wie bereits die entsprechende Aufstellung von R. Liechtenhan vom Jahre 1902 zeigt71 – seinen Vorgänger Irenäus bei weitem. Besonders hervorzuheben sind dabei – auch was die Qualität seiner Zeugnisse betrifft – der in Pan. 33,3–7 überlieferte Brief des Ptolemaios an Flora als das Zeugnis einer dem kirchlichen Christentum relativ nahestehenden valentinianischen Gnosis, weiter der sogen. Valentinianische ›Lehrbrief‹ von Pan. 31,5–6 sowie das für das gnostische Grundkonzept von Erkenntnis und Erlösung bemerkenswerte Zitat aus einem (mit der gleichnamigen Schrift von NHC II /3 freilich nicht identischen) Philippusevangelium72. Im Übrigen jedoch ist die Vielzahl der von Epiphanius im Einzelnen genannten gnostischen Originalquellen eher ein beredtes Zeugnis für den Fleiß des Sammlers und – zugleich – Polemikers, der mit dem Hinweis auf die Vielfalt der literarischen Produkte der (christlichen) Gnosis seinen Lesern wohl weniger Kenntnisse hinsichtlich des Sachverhalts als solchem vermitteln möchte, als ihnen vielmehr die Abscheulichkeit jener ›apokryphen‹ Erfindungen beredt vor Augen führen will: 73. Aufschlussreich ist gleichwohl in jedem Falle die von ihm vermerkte Fülle von ›apokryphen‹ Schriften der verschiedenen gnostischen Gruppen und Schulen, zu denen nicht nur die eher ›neutestamentlichen Apokryphen‹ wie z.B. die Evangelienschriften unter dem Namen der Eva, des Judas(!) oder auch das sogen. Evangelium der Vollendung gehören74, sondern auch – bemerkenswerter noch – eine Fülle von Schriften, die zunächst in der biblisch-jüdischen Tradition stehen. So insbesondere – im Referat über die gnostische Schule der Sethianer (Pan. 39,5,1) Bücher unter dem Namen des Mose(!) und des Seth – bis hin zu einer Apokalypse des Abraham75. In die gleiche Reihenfolge gehören offensichtlich auch die Pan. 26,8,1 erwähnten 71 R. Liechtenhan, Die pseudepigraphe Literatur der Gnostiker, S. 226–228; speziell zum Befund bei Epiphanius vgl. J. Dummer, Die Angaben über die gnostische Literatur bei Epiphanius, Pan. Haer. 26, S. 191–219. 72 Zur Bedeutung des Lehrbriefs für die valentinianische Gnosis vgl. freilich C. Markschies, Valentinus Gnosticus? S. 45, Anm. 217. – Zum Zitat aus dem gnostischen Philipusevangelium s.o. Kap. 2.3, S. 43, sowie J. Dummer, Die Angaben über die gnostische Literatur bei Epiphanius, S. 198 und S. 203 f. 73 So Haer. 26,12,1. Im folgenden (12,1–4) mit Hinweis auf eine Schrift über Abkunft und Geburt der Maria. Dazu: H.-Ch. Puech, in: W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen I, S. 316, sowie J. Dummer, Die Angaben über die gnostische Literatur bei Epiphanius, S. 201. 74 Zum Evangelium der Eva: Epiphanius, Haer. 26,2,6, mit Zitaten in 26,3,1 und 5,1; vgl. auch Irenäus I 30,7. – Zum Evangelium des Judas: Epiphanius Haer. 38,1,5; Irenäus Adv. Haer. I 31,1. – Zum Evangelium der Vollendung: Epiphanius, Haer. 26,2,5, sowie des weiteren Haer. 26,8,1 den Hinweis auf »andere Evangelien unter dem Namen der Jünger [Jesu]«. 75 Immerhin von sieben Büchern Seth ist hier die Rede, entsprechend Haer. 26,8,1 von vielen Büchern des Seth. Gemeint ist damit jener Seth, den man auch den nennt: Haer. 40,7,1.4 sowie wiederum Haer. 39,5,1, wo neben jenen ›sieben Büchern‹ auch noch weitere Bücher unter dem Namen des erwähnt werden.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Adam-Apokalypsen(!), während die Bücher unter dem Namen des Jaldabaoth wiederum eher genuin gnostische Produkte zu sein scheinen76. Gleiches gilt für das Pan. 26,1,3 f. erwähnte, wohl aus einer spezifisch gnostischen Interpretation der biblischen Sintflutgeschichte erwachsene Buch Noria, demzufolge Noria – im Unterschied zu ihrem den Archonten der Welt gehorsamen Mann Noah – die Rolle der Offenbarerin der , insbesondere der Barbelo, zugewiesen ist (Pan. 26,1,9). Von besonderem Interesse in diesem. Zusammenhang ist, dass jene Noria, hier unter dem Namen Norea, auch in zwei Schriften der Bibliothek von Nag Hammadi eine Rolle spielt, und zwar wiederum als Offenbarungsmittlerin: So einmal in der Schrift vom ›Wesen der Archonten‹ (NHC II /4, p. 140,10 f.) sowie in. der ›Titellosen Schrift‹ (vom Ursprung der Welt) in NHC II /5, p. 150,10 f. 23–2577. Unklar demgegenüber bleibt, ob es sich bei den von Epiphanius, Pan 40,7,6, erwähnten und den Gnostikern bzw. den Sethianern zugewiesenen »in den Himmel entrückten und nach drei Tagen (wieder) herabgestiegenen« Propheten Martiades und Marsianos um eigene Prophetenschriften – genauer wohl: um Offenbarungsschriften bzw. Apokalypsen handelt. Was jedenfalls den Propheten Marsianos betrifft, so ist zu ihm auf die ebenfalls einer sethianischen Gnosis zugehörige, nur lückenhaft überlieferte und – soweit noch erkennbar – nicht-christliche Apokalypse unter dem Namen Marsanes aus NHC X/1 hinzuweisen, in der dem Propheten von himmlischen Offenbarern geheimes Wissen mitgeteilt wird78. Insoweit besteht hier eine Beziehung zu weiteren, offensichtlich ebenfalls genuin nicht-christlichen Schriften von Nag Hammadi wie Zostrianos (NHC VIII /1) und Allogenes (NHC IX /3), die beide in des Porphyrius Vita Plotini (16,34) ausdrücklich als ›Apokalypsen‹ bezeichnet werden, und deren letztere auch wiederum Epiphanius selbst erwähnt: »Sie (sc.: die Sethianer) gebrauchen auch die sogenannten Allogeneis; so heißen die Bücher. Sie nehmen den Ausgangspunkt bei der Himmelfahrt des Jesaja und von einigen anderen Apokalypsen« (Pan 40,2,1).

Sind diese Hinweise auf einige wenige (ursprünglich wohl nicht-christliche!) gnostische Originalschriften schon interessant genug, so gilt dies umso mehr für jene eigenartige, offensichtlich auf eine Interpretation der biblischen Sintflutgeschichte zurückgehende gnostische Originalschrift, die Epiphanius in Pan 26,1,3 ff. erwähnt, und zwar nicht nur mit ihrem Titel, sondern auch mit einer Inhaltsangabe: Es handelt sich dabei um das Buch Noria, demzufolge der Noria – im Unterschied zu dem den ›Archonten‹ (sc.: dieser Welt) gehorsamen Noah – die Rolle einer Offenbarungsmittlerin hinsichtlich der , insbesondere der Barbelo, zugewiesen wird (Pan 26,1,9). Bei allen Unsicherheiten hinsichtlich der genaueren Bestimmung und Verortung der 76 Vgl. auch Haer. 25,3,4; 28,8,1, hier jedenfalls unterschiedlichen gnostischen Gruppen zugeordnet. 77 Vgl. dazu die Edition von B.A. Pearson, NHS 15, Leiden 1981, S. 229–250. 252–347. – Haer. 26,2–4 erwähnt und zitiert Epiphanius im Übrigen die eines Propheten Barkabbas. Zum Namen vgl. auch Eusebius, h.e. IV 7,7. Zur Sache vgl. J. Dummer, Die Angaben über die gnostische Literatur bei Epiphanius, S. 202. 78 So NHC II /5, p. 155,10 f. Im selben Zusammenhang ist p. 150,24 f. vom Ersten Logos der Norea die Rede. Vgl. dazu wiederum J. Dummer, Die Angaben der gnostischen Literatur bei Epiphanius, S. 205 f.

3.2 Der Quellenbefund

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von Epiphanius so zahlreich benutzten gnostischen Originalquellen ergibt sich am Ende zumindest hier ein weiter zurückreichender, literarisch zwar nicht aufweisbarer, aber doch in jedem Falle traditionsgeschichtlich wahrscheinlich zu machender Zusammenhang, und zwar nun eben zu der Rolle, die jene Noria – hier dann freilich unter mancherlei Varianten des Namens wie Norea, Noraia, Orea oder auch Horaia79 – in einigen der gnostischen Originalschriften von Nag Hammadi spielt. Es bedarf wohl keiner Frage, dass ein solcher Zusammenhang zwischen dem Zeugnis der altkirchlichen Häresiologen einerseits und den gnostischen Originalschriften von Nag Hammadi anderseits besonderer Beachtung an Stellen wert ist, an denen er – wie nun eben in diesem Falle – am Ende auf ein Zeugnis einer eindeutig nicht-christlichen Gnosis hinausführt. Im Einzelnen ist in diesem Zusammenhang zunächst auf die Titellose Schrift (sc.: Vom Ursprung der Welt) in NHC II /5 (p. 97,24–127,17) hinzuweisen, in der (p. 102, 10 f.) von einem 1. Buch der Noraia sowie (p. 102,24 f.) von einem Ersten Logos der [N]oraia die Rede ist, wobei sich die zuletzt genannte Angabe im Kontext eindeutig auf eine (Offenbarungs-)Rede der Noraia bezieht. Zwar besteht hier, was jenes 1. Buch der Noraia betrifft, eine gewisse Übereinstimmung mit dem Zeugnis des Epiphanius in Pan 26, 1,3 (s.o.); jedoch gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass das von Epiphanius erwähnte Buch der Noria mit dem in NHC II /5, p. 102,24 f., genannten 1. Buch der Noraia identisch ist.80 Weit wichtiger als diese eher formalen Überlegungen sind nun freilich die näheren Angaben zu Gestalt und Wirksamkeit jener Norea/Noria (o.ä.), wie sie in der Schrift Vom Wesen der Archonten (NHC II /74, hier speziell p. 91,34 ff.) vorgetragen werden, und zwar nunmehr offensichtlich in einer gewissen Entsprechung zum Zeugnis des Epiphanius in Pan 26,1,9! An beiden Stellen nämlich wird der Noria/Norea jeweils eine maßgebliche Bedeutung im Zusammenhang mit einer spezifisch gnostischen Soteriologie beigemessen. Und dies gilt auch dann, wenn sie – in den entsprechenden einzelnen Quellen – in ›genealogischer‹ Hinsicht eine jeweils unterschiedliche Zuordnung erfährt: So einmal (NHC II /4, p. 91,34 ff.) als Schwester bzw. als Frau des Seth (Epiphanius, Pan 39,5,2 f.), zum anderen aber auch als Frau des Noah (Epiphanius, Pan 26,1,4)81.

Eindeutig ist das Zeugnis des Epiphanius wie auch das Zeugnis der gnostischen Originalquellen von Nag Hammadi gleichwohl darin, dass dieser Noria / Norea in jedem Falle so etwas wie eine die Offenbarung und damit auch das Heil für den Gnostiker vermittelnde Funktion zugewiesen wird. Das ist in sich vordergründig als christlich gebenden Schriften wie NHC II /4 und 5 schon einigermaßen bemerkenswert. Wie immer man das literarische 79 Speziell zum Namen Horaia vgl. auch Epiphanius, Haer. 39,5,2 ff. Zu den verschiedenen Formen des Namens sowie zur Gestalt der Norea in der gnostischen Literatur: B.A. Pearson, The Figure of Norea in Gnostic Literature, S. 143–152. 80 Gegen H.-Ch. Puech, Les nouveaux écrits gnostiques découverts en Haute-Egypt, S. 105. 120–122. 81 Zur Zuordnung der Norea zu Seth vgl. bereits Irenäus, Adv. Haer. I 30,9: post quos secundum providentiam Prunici dicunt generatum Seth, post Noream; ex quibus reliquam multitudinem hominum generatam dicunt.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

und traditionsgeschichtliche Verhältnis dieser beiden Schriften zueinander bestimmen mag82, und so gewiss sich auch Epiphanius mit seinen Verweisen auf das Buch Noria in Pan 26,1,3 auf das Zeugnis einer bereits christlichen bzw. (sekundär) christianisierten Gnosis bezieht, so deutet doch im Blick auf diese beiden Schriften mancherlei daraufhin, dass die spezifisch christlichen Elemente darin wohl lediglich formaler Art sind und somit nicht das Zeugnis einer genuin christlichen Gnosis widerspiegeln, sondern eher das Zeugnis einer ursprünglich nicht-christlichen bzw. erst sekundär christianisierten Gnosis. Die Angehörigen des »Berliner Arbeitskreises für koptisch-gnostische Schriften« sprechen in diesem Zusammenhang wohl nicht zu Unrecht davon, »dass das christliche Element hier« nicht mehr als »nur ein nachträglicher hauchdünner Firnis ist«83. So liegt in der Schrift vom Wesen der Archonten (NHC II /4) lediglich zu Beginn eine eindeutig christliche Bezugnahme vor, wenn hier von dem großen Apostel (Paulus) die Rede ist und im Zusammenhang damit aus dem neutestamentlichen Epheserbrief (6,12) zitiert wird (p. 86,20–25). Spezifisch Christliches spielt dann auch noch p. 95,5 ff. eine Rolle, wenn hier von der als der ›Tochter‹ der Pistis Sophia gesprochen wird. Und schließlich wird auch noch am Ende der Schrift (p. 97,15 ff.) die Trinität Vater-Sohn-Heiliger Geist vorausgesetzt. Und wichtig angesichts dieser wenigen spezifisch christlichen Bezugnahmen: Im Rahmen der Sach-Argumentation dieser Schrift spielen diese wenigen christlichen Bezugnahmen keine wesentliche Rolle. – Für die Titellose Schrift (vom Ursprung der Welt), NHC II /5, gilt dies in gleicher Weise. Was die spezifisch christlichen Elemente in ihr betrifft, so ist auch hier wieder zu Beginn auf die Rede von der Pistis Sophia hinzuweisen (p. 104, 3 und 17), darüber hinaus vor allem auf die Szene von der Erschaffung einer Engel-Kirche, in deren Zusammenhang – im Rahmen einer Thronszene – auch ausdrücklich Jesus Christus genannt wird, und zwar als derjenige, der dem Erlöser ( ) gleicht und zu seiner (d.h. Gottes) Rechten auf dem herrlichen Thron sitzt (p. 105,20 ff.).

Trotz solcher – an sich eindeutigen – Hoheitsaussagen gilt jedoch und macht auch in der Schrift vom Wesen der Archonten (NHC II /4) die Hauptsache aus, dass die eigentliche heilsmittlerische Funktion hier eben nicht – wie man es in einer genuin christlichen eigentlich erwarten sollte – jenem Jesus Christus, sondern der eigenartigen (weiblichen) Gestalt der Norea zugewiesen wird84. Noch deutlicher tritt dann diese Akzentsetzung einer gnostischen Soteriologie in einer weiteren, offensichtlich nicht-christlichen, ursprünglich 82 Dazu wie auch zum Verhältnis beider Schriften zu den Nachrichten des Epiphanius vgl. wiederum J. Dummer, Die Angaben über die gnostische Literatur bei Epiphanius, S. 205 ff., sowie C. Colpe, JAC 18 (1957), S. 152–157. 83 So in dem Beitrag »Die Bedeutung der Texte von Nag Hammadi für die moderne Gnosisforschung«, in: K.-W. Tröger, Gnosis und Neues Testament, S. 34 und S. 36. Vgl. auch die entsprechende Klassifizierung beider Schriften durch K.-W. Tröger, in: Ders., Altes Testament – Frühjudentum – Gnosis, S. 21: »II . Gnostische Schriften, die ihren Wesen nach nicht christlich sind, aber christliche Elemente enthalten«. 84 Dazu vgl. B.A. Pearson, Revisiting Norea, in: K. L. King (ed.), Images of Feminism in Gnosticism, S. 265–275.

3.2 Der Quellenbefund

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wiederum titellosen Schrift hervor, nämlich in der (von ihrem Herausgeber, B.A. Pearson, so genannten) Schrift The Thought of Norea hervor (NHC IX /2)85. In dieser Schrift gibt es zweifellos bestimmte sachliche Beziehungen zur Schrift vom Wesen der Archonten (NHC II /4)86, nur dass hier, in NHC IX /2, die Heilsaussagen im Blick auf die Gestalt der Norea noch ein weiteres Mal gesteigert erscheinen. Für den Herausgeber dieser Schrift, B.A. Pearson, ist dies der Anlass gewesen, nicht nur von der ›Erlösung‹ (engl.: deliverance) der Norea und ihrer Re-Integration in das Pleroma zu sprechen, sondern – darüber hinaus – auch den wesentlichen Inhalt dieser Schrift mit dem Stichwort vom saved savior zu charakterisieren: »She is a saved savior, and her salvation is paradigmatic of that of her spiritual progeny«87. Angesichts dessen, dass solche Formulierung zumindest im deutschsprachigen Raum Erinnerungen an die letztlich fruchtlose Diskussion um einen gnostischen Mythus vom Erlösten Erlöser bzw. vom salvator salvandus auslöst, mag man fragen, ob und inwieweit solche Charakterisierung der ›heilsmittlerischen‹ Rolle der Norea angemessen ist – zumal auch B.A. Pearson selbst an anderer Stelle in dieser Hinsicht durchaus zurückhaltender formuliert: »Thus Norea, a naughty girl in Jewish legend, has become for the gnostics a moving symbol of acosmic redemption«88; gleichwohl bleibt bei alledem kein Zweifel darüber, dass der (ursprünglich aus jüdischer Überlieferung erwachsenen) Gestalt der Norea in der Gnosis – zunächst als Vermittlerin der von den Archonten dieser Welt befreienden Offenbarung89 – im Verlauf der Überlieferung (in Gestalt einer gnostischen Interpretation der biblischen Urgeschichte) eine heilsmittlerische Rolle zugewachsen ist, die in einer genuin christlichen Gnosis doch wohl zuallererst der Gestalt Jesu zukommt bzw. zumindest der »gefallenen und erlösten Sophia« gleichkommt90. Sind somit auch bei einem relativ späten Häresiologen wie Epiphanias (4. Jh.!) Spuren einer außer- bzw. nicht-christlichen Gnosis wahrzunehmen, so ist dies für einen wesentlich früheren altkirchlichen Häresiologen wie Hippolyt (3. Jh.) umso eher anzunehmen, und zwar hier insbesondere im Blick auf sein antihäretisches Hauptwerk, die sog. Refutatio omnium haeresium, das in der Alten Kirche eine nachhaltige Wirkungsgeschichte entfaltet hat91. 85

B.A. Pearson, Nag Hammadi Colices IX and X (NHS 15), Leiden 1981, S. 87–99. Zum Verhältnis dieser Schrift zu NHC II /4 vgl. B.A. Pearson, ebd., sowie ders., Art. Norea, Thought of, in: ABD IV, p. 1135. 87 So in: ABD IV, p. 1135 b. 88 So in: The Figure of Norea in Gnostic Literature, S. 152. 89 Dazu vgl. B.A. Pearson, ebd., S. 145; Vgl. auch H.-M. Schenke, »Das Wesen der Archonten«, in: ThLZ 83 (1958), Sp. 662. 90 So das Votum des »Berliner Arbeitskreises für koptisch-gnostische Studien«, in K.-W. Tröger, Gnosis und Neues Testament, S. 70: Norea wird hier (NHC IX /2) »mit der gefallenen und erlösten Sophia in eins gesehen und gesetzt«. So gilt sie zugleich als die »Stammmutter der Gnostiker«. 91 Von dem verloren gegangenen früheren antihäretischen Werk des Hippolyt, dem »Syntagma gegen alle Häresien«, soll hier abgesehen werden. Dazu vgl. R.A. Lipsius, Die Quellen 86

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Die Urteile über die Qualität dieses Hauptwerkes des Hippolyt, und zwar nunmehr speziell im Blick auf die Frage nach der Benutzung gnostischer Originalquellen, sind in der neueren Forschungsgeschichte keineswegs einheitlich – was zugleich heißt: Zum Teil auch keineswegs unkritisch92: So bescheinigte bereits A. Harnack in seinem Beitrag »Zur Quellenkritik der Geschichte des Gnostizismus« vom Jahr 1873 dem Hippolyt, dass in seinen Werken »das geschichtliche Interesse an der gnostischen Bewegung bei weitem das polemische« überwiegt. »Während Justin, Irenaeus und Tertullian bekämpfen und nur darstellen, um zu bekämpfen, liegt es Hippolyt weit mehr am Herzen, eine sachlich beleuchtete, genetisch erklärte, vollständige Ketzerliste zu geben« (S. 82). Durchaus kritischer lautet demgegenüber sein Urteil im 1. Band seiner »Geschichte der altchristlichen Literatur« vom Jahr 1893: Zwar wird auch hier noch positiv hervorgehoben, dass Hippolyt »eine ganz neue selbständige Darstellung« geben will, gleichwohl wird jedoch sogleich kritisch hinzugefügt: »… von der es jedoch wahrscheinlich ist, dass sie teilweise auf gefälschten Quellen beruht« (S. 167). Und neuerdings urteilt K. Koschorke sogar: »Hipp.s Quellenwert zur Kenntnis der von ihm dargestellten gnostischen Gruppen ist sehr viel niedriger, und seine absichtliche Umgestaltung vorgegebener Nachrichten sehr viel weitreichender als weithin angenommen wird. Vor allem fällt Hipp. aus als Zeuge über Erscheinungsbild und Artikulationsweise der christlich-gnostischen Häresien, die nicht bloß einzelne christliche Elemente einer vorgegebenen Mythologie einverleibten, sondern durch ihre gnostische Neudeutung der … christlichen Tradition der kirchlichen Orthodoxie ein gefährlicher Rivale sein konnten«93.

Nun, historisch genaue ›Objektivität‹ ist in einer Schrift mit dem Titel Refutatio omnium haeresium ohnehin nicht zu erwarten, was bereits daraus hervorgeht, dass Hippolyt in seiner Refutatio – was die Abfolge der von ihm dargestellten Häresien im Sinne einer successio hareticorum betrifft – offensichtlich ganz anders als in seinem verlorengegangenen Syntagma ganz bewusst und gezielt eine bemerkenswerte Umstellung in der Reihenfolge der Häresien vorgenommen hat94: Voran steht in der Refutatio nicht mehr – wie eigentlich zu erwarten – die Bezugnahme auf den ›Erzketzer‹ Simon. Dieser wird vielmehr erst nach den Naassenern, Peraten, Sethianern sowie nach dem Gnostiker Justin an fünfter Stelle erwähnt95. Und wenn bereits der aeltesten Ketzergeschichte, S. 5 ff. – Zur Wirkungsgeschichte der Refutation omnium haeresium vgl. bereits A. Harnack, Geschichte der altchristlichen Literatur I, S. 146: Hippolyt »ist durch seine ketzerbestreitenden Werke der einflußreichste Häreseologe geworden«, sowie K. Koschorke, Hippolyt’s Ketzerbekämpfung und Polemik gegen die Gnostiker, S. 3. 92 Vgl. u.a. A. Hilgenfeld, Ketzergeschichte des Urchristentums, S. 63 ff.; H. Staehelin, Die gnostischen Quellen Hippolyts in seiner Hauptschrift gegen die Gnostiker; A. Harnack, Geschichte der altchristlichen Litteratur I, S. 167 ff.; K. Koschorke, Hippolyt’s Ketzerbekämpfung, S. 3 ff., sowie G. Vallée, A. Study in Anti-Gnostic Polemics, S. 45–62. 93 K. Koschorke, Hippolyt’s Ketzerbekämpfung, S. 4 f. und S. 6. 94 Zum erschlossenen Sachverhalt im Syntagma des Hippolyt vgl. R.A. Lipsius, Die Quellen der aeltesten Ketzergeschichte, S. 9 ff., sowie A. Hilgenfeld, Ketzergeschichte des Urchristentums, S. 58 ff. 95 Zur Frage nach dem Motiv solcher Umstellung vgl. K. Koschorke, Hippolyt’s Ketzer-

3.2 Der Quellenbefund

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A. Hilgenfeld in seiner ›Ketzergeschichte des Urchristentums‹ die Auffassung vertreten hat, dass Hippolyt »unter den ältesten Haereseologen ähnlich da(steht), wie Lukas unter den synoptischen Evangelien«, so muss solcher Vergleich ja keineswegs zuungunsten des Hippolyt ausfallen – vielmehr: Wenn Hippolyt den historischen Verlauf der urchristlichen bzw. frühkirchlichen ›Ketzergeschichte‹ »mit ähnlicher Freiheit« behandelt, »wie Lukas die evangelische Geschichte«, so kann dies durchaus auch der Ausweis dafür sein, dass er, Hippolyt, »es aufs Neue unternommen (hat), allem von vorn an nachzugehen« und – vor allem – »neue Forschungen und Erfahrungen angebracht (hat)«96. Nicht zuletzt von einer so akzentuierten älteren Forschungsgeschichte her ist es durchaus verständlich, dass sich in der neuesten Forschungsgeschichte ein weitgehender Konsens hinsichtlich der (über die anderen altkirchlichen Häresiologen hinausragenden) Qualität des Umgangs des Hippolyt mit den ihm zur Verfügung stehenden gnostischen Originalquellen ergeben hat: »›Hippolytus‹ Refutatio firmly stands today as one of the best extant heresiological sources for the study of Gnosticism«97. Solches Urteil ist vor allem wohl darin begründet, dass Hippolyt – in seinem polemischen Bemühen, die (christlichen) Gnostiker als Nachahmer und damit auch als Plagiatoren der antiken Weisheit und Philosophie zu erweisen – sich veranlasst gesehen hat, ihre Schriften ausführlich zu paraphrasieren wie auch wörtlich zu zitieren. Was aber heißt und bedeutet das nunmehr konkret im Blick auf die in der Refutatio omnium haeresium benutzten gnostischen Originalquellen? Zunächst ist auch hier wieder – wie bereits bei Irenäus und bei Epiphanius – auf mehr oder weniger summarische Bemerkungen des Hippolyt hinsichtlich der reichen und vielfältigen Produktion von Schriften seitens der Gnostiker hinzuweisen, so z.B. auf die Ref. V 15,1 erwähnten Bücher der Sekte der Peraten oder auch auf die ›unzähligen Abhandlungen‹ der Sethianer (Ref. V 21,1). Im Zusammenhang seiner Darstellung der Häresie des (von ihm so genannten) ›Pseudo-Gnostikers‹ bekämpfung, S. 82 f.: »Das äußere Recht ihrer [sc.: der Naassener, Peraten, Sethianer] Plazierung am Anfang ergibt sich aus ihrer Verbindung mit Nikolaus (VII 36,3) und dem daraus resultierenden Ansatz (Nikolaus als Häretiker der apostolischen Zeit) … Aber das eigentliche Motiv ihrer Voranstellung dürfte für Hipp. ein anderes gewesen sein. ›Ein Schulbeispiel für den Synkretismus‹ urteilt Jonas über die Naassenerpredigt, und genau das Gleiche wird Hipp. im Sinn gehabt haben, als er sich an den Nachweis der heidnischen Herkunftn der Häresien machte. Mit diesem Gemisch aus Homer, Moses und heidnischer Mysterienweisheit als Introitus der Ketzergeschichte … war der angemessene Rahmen zum Verständnis der sonstigen Irrlehren gegeben«. 96 So A. Hilgenfeld, Ketzergeschichte, S. 68. 97 So M. Marcovich, Hippolytus. Refutatio omnium haeresium, S. VII . Vgl. auch ebd., S. 32 f. unter der Überschrift: »Hippolytus’ Great Dicovery and the Structure of the Elenchos«. Ähnlich urteilt auch J. Frickel, Unerkannte gnostische Schriften in Hippolyts Refutatio, S. 210: »… nicht wenige der von Hippolyt überlieferten Gnostiker-Berichte [sind] für die Gnosisforschung Quellen ersten Rangs … Denn: hat Hippolyt solche gnostischen Vorlagen wörtlich abgeschrieben, dann sind diese Texte Originalabschriften; literargeschichtlich haben sie darum einen ähnlichen Stellenwert wie z.B. die Manuskripte von Nag Hammadi«.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Justin spricht er – selbstverständlich polemisch abwertend – von einem ›unzählbaren Büchergeschwätz‹ (Ref. V 23,2). Im Einzelnen ist in diesem Zusammenhang auch Hippolyts Verweis auf bestimmte apokryphe christlich-gnostische Schriften zu nennen, so im Rahmen der Darstellung der Häresie der Naassener auf ein – von ›Geheimlehrern‹ ( ) verfasstes Ägypterevangelium (Ref. V 7,8 f.). Die wenigen Angaben, die Hippolyt über seinen Inhalt macht – offensichtlich geht es hier um die vielfältigen Veränderungen der Seele –, erlauben es nicht, dieses Evangelium der Naassener mit dem auch sonst von den Kirchenvätern mehrfach genannten Ägypterevangelium oder auch gar mit dem gleichnamigen Evangelium aus dem Handschriftenfund von Nag Hammadi (NHC III /2 und IV /2) zu identifizieren98. Gewichtiger demgegenüber ist dann schon – ebenfalls im Referat über die Häresie der Naassener – der Verweis auf ein gnostisches Thomasevangelium (Ref. V 7,20 f.). Das von Hippolyt mitgeteilte Zitat aus diesem Evangelium – Wer mich sucht, wird mich finden in Kindern von sieben Jahren an. Dort nämlich – im 14. Aon verborgen – werde ich mich offenbaren – zeigt jedenfalls an, dass dieses Thomasevangelium mit dem Thomasevangelium von Nag Hammadi (NHC II /2), hier insbesondere mit dem Logion 4, in einem Traditionszusammenhang steht99. – Unklar demgegenüber bleibt wiederum, ob Hippolyt in seinem Referat über den Gnostiker Justin (Ref. V 26,29) mit der hier geschilderten Episode aus dem Leben Jesu auf ein (unbekanntes) Kindheitsevangelium zurückgreift100. Aufs Ganze gesehen haben jedoch die eben gegebenen Hinweise allesamt einen – im Einzelnen mehr oder weniger – summarischen Aussagewert.

Anders verhält es sich dann schon mit jenen ›neuen gnostischen Texten‹, auf die jüngst vor allem J. Frickel und M. Marcovich aufmerksam gemacht haben: Auch sie sind zwar als solche zunächst Zeugnisse einer christlichen bzw. bereits christianisierten Gnosis, verweisen aber doch auch zugleich als gnostische Re-Interpretationen bestimmter Überlieferungen aus der antiken Philosophie – trotz ihrer Einbettung in einen christlich-gnostischen Kontext – je auf ihre Weise auf eine der Wurzeln der Gnosis im komplexen Ursprungszusammenhang der gnostischen Religion. Gerade in dieser Hinsicht macht Hippolyt – in seinem bereits vom 1. Buch seiner Refutatio her deutlichen Grundanliegen, die (christliche) Gnosis als Ganze aus den Voraussetzungen der antiken Philosophie zu erklären bzw. abzuleiten – zwar den gnostischen Häresien gegenüber den Vorwurf des bloßen Plagiats geltend; handelt es sich jedoch, was die Art und Weise des Umgangs der Gnostiker mit jenen Quellen der antiken Philosophie betrifft, tatsächlich um den – im Übrigen auch in der Gnosis aufweisbaren – Vorgang einer gnostischen Re98 Vgl. zur Stelle W. Schneemelcher, in: Hennecke-Schneemelcher, Neutestamentl. Apokryphen I, S. 174 ff.; speziell zu Hippolyt: S. 176. 99 Darüber hinaus weist nicht zuletzt auch die Zitierweise des Neuen Testaments bei den Naassenern in Hippolyts Refutatio auf eine traditionsgeschichtliche Nähe zwischen dem Thomasevangelium von NHC II /2 einerseits und der gnostischen Gruppe der Naassener hin. Dazu im einzelnen: R. M. Grant, Notes on the Gospel of Thomas, in: VC 13 (1959), S. 173 ff.; W. R. Schoedel, Nassenes Themes in the Coptic Gospel of Thomas, in: VC 14 (1960), S. 225–235. 100 So A. Harnack, Geschichte der altchristlichen Literatur I, S. 169.

3.2 Der Quellenbefund

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Interpretation jener Überlieferungen, so erscheint hier doch die Art des Hippolyt, die Gnostiker (mit einem wohl auf ihn selbst zurückgehenden Neologismus) zu nennen101, abseits aller vordergründigen Polemik in einem neuen Licht. Nach Ausweis der entsprechenden Untersuchungen zu Hippolyts Refutatio von J. Frickel und M. Marcovic handelt es sich hierbei um eine ganze Reihe von original-gnostischen Quellenschriften in der Refutatio, in denen bestimmte antike Philosophen ausdrücklich zitiert und zugleich – wie dies auch sonst in der Gnosis im Umgang mit ihren Quellen geschieht – in paraphrasierender Weise im Sinne einer interpretatio gnostica kommentiert, also gnostisch rezipiert werden102. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, was den Hippolyt selbst betrifft, dass er an keiner der hier in Betracht kommenden Stellen in seiner Refutatio ausdrücklich zu erkennen gibt, dass er jeweils die Quellen seiner gnostischen Kontrahenten selbst zitiert, ein Umstand, der M. Marcovic zu dem Urteil Anlass gegeben hat: »A plagiarist accuses a quoting writer of plagiarizing«103. Konkret geht es dabei um Kommentare bzw. Paraphrasen zu den des Aratus, zu Heraklit, zu Empedokles sowie zu Aristoteles. Dabei gebührt im Zusammenhang einer Interpretatio Gnostica in den jeweiligen Kommentaren bzw. Paraphrasen den Ausführungen der gnostischen Quellenstücke zu Empedokles und zu Aristoteles zweifellos besondere Beachtung104. – Was zunächst die Frage einer (zumindest) gnostisierenden Empedokles-Rezeption betrifft so ist – mit M. Marcovic – davon auszugehen, dass der zentrale Text in dieser Hinsicht in Hippolyts Refutatio VII 29,8–12.15.20–24 – von J. Frickel zu der Einheit VII 29,2–31,4 (c. 29 als Haupt-, c. 31,3–4 als Schlussteil) zusammengefasst –, wie besonders deutlich aus Ref. VI 24,4; 25,1–4 und 26,2 und 3 hervorgeht, eine ›gnostisierende pythagoreische Interpretation‹ des Empedokles voraussetzt105. Es bedarf keiner Frage, dass 101

So Ref. I, Vorrede 11; IV 51,9; VII 29,3; X 34,2. Entsprechend ist die Rede vom der Häretiker: Ref. VII 31,8; IX 31,1. Zur Sache: M. Marcovich, Hippolytus, S. 35 ff., ders., New Gnostic Texts, S. 120 f. 102 J. Frickel, Unerkannte gnostische Schriften in Hippolyts Refutatio, S. 119–137; M. Marcovich, New Gnostic Texts; vgl. auch L. Abramowski, Ein gnostischer Logostheologe, S. 37–45.57–62. Kritisch zu solcher Art von »Quellenscheidung« freilich C. Scholten, Art. Hippolytus II (von Rom), in: RAC XV, Sp. 516 bis 518 sowie Sp. 523 f. 103 M. Marcovich, Hippolytus, S. 37. 104 Zu Aratus vgl. Hippolyt, Ref. IV 46,6–49,4. Dazu J. Frickel, Unerkannte gnostische Schriften, S. 121 ff.; zum gnostischen Charakter S. 123: »Hier wird der Ursprung der Welt ganz ähnlich erklärt, wie z.B. in der Gnosis der Naassener, der Peraten … Die Ähnlichkeit der kosmogonischen Weltwerdung dieser gnostischen Systeme ist so auffallend, daß man eine ähnliche Grundkonzeption auch bei dem Verfasser der Aratosparaphrase voraussetzen möchte«; vgl. ebd., S. 126. – Zu Heraklit vgl. Hippolyt, Ref. IX 9 f. Und dazu im einzelnen J. Frickel, Unerkannte gnostische Schriften in Hippolyts Refutatio, S. 130 ff. 105 M. Marcovich, Hippolytus, S. 23 (zu Ref. VI 23–28) und S. 25 (zu Ref. 29,8–12). Besonders hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf Ref. VI 26,2, wo von einem »pythagorisierenden Empedokles« die Rede ist. Zum Ganzen vgl. bes. M. Marcovich, New Gnostic Texts, S. 126 ff., hier unter der Überschrift: »The ›Pythagorean‹ … and the ›Marcionite‹ doctrine is copied from a Gnostic Commentary on Empedocles«. Vgl. auch J. Frickel, Unerkannte gnostische Schriften, S. 126 ff.: »Ein gnostisch-allegorischer Kommentar zu Empedokles«.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

die Dualität der beiden gegensätzlichen Prinzipien, besser wohl der ›bewegenden Grundkräfte‹ (J. Frickel) des Empedokles, der einerseits und des andererseits, für eine gnostische Interpretation besonders günstige Ansatzpunkte bot. Ganz in diesem Sinne ist denn auch das Prinzip des , also des ›Hasses‹ bzw. des ›Streites‹ – gnostisch gesprochen – identisch mit dem (Ref. VII 29,15), ja am Ende sogar identisch mit ›dem Bösen‹ ( : Ref. VII 31,3)106. Die demgegenüber ist im Rahmen einer gnostisch-dualistischen Interpretation jener Dualität nicht nur die Ursache einer »Verwandlung der Dinge der Welt« (J. Frickel), sondern zugleich auch Ursache des »Auszugs aus dieser Welt« und der »Rückführung in das Eine« (jenseits jener Dualität!)107 – und in diesem Sinne zugleich so etwas wie eine der gnostischen Erlösergestalten. Dies gilt auch dann, wenn es in dieser soteriologischen Hinsicht dann noch zu einer eigenartigen ›Doppelung‹ kommt, durch den nämlich, von dem Ref. VII 31,5 aus108. Empedokles gesagt wird: , , selbst hat diesen Logos mit der ›Muse‹ identifiziert, weil es für ihn – ebenso auch wie für die um vieles späteren Gnostiker – am Ende darum geht, »über die seligen Götter die wahre Lehre zu künden« (Fragment 131 D = Hippolyt, Rerf. VII 31,4). Der Logos ist hier also eine Art von Mittler zwischen der (Gottheit der) einerseits und den Menschen in ›dieser Welt‹ (sc.: des Demiurgen!) andererseits. Keine Frage, dass eine solche, von Empedokles nicht zuletzt in seinen ›Hymnen‹ ausgeführte Position nunmehr – unter veränderten philosophie- und religionsgeschichtlichen Bedingungen – im Kontext einer christlichen Gnosis den Anlass dazu gab, den Logos des Empedokles mit der christlichen Erlösergestalt in eins zusetzen109. Diese Art einer Empedokles-Rezeption ist – so gesehen – nichts weniger als ein bloßes Plagiat, sondern vielmehr unter bestimmten Existenzbedingungen wie auch angesichts erheblicher philosophie- und religionsgeschichtlichen Veränderungen gegenüber der Zeit des Empedokles eine durchaus folgerichtige Entfaltung des Ansatzes der Philosophie des Empedokles. Keineswegs so – relativ – eindeutig wie im letztgenannten Fall stellen sich die Dinge, was die von M. Marcovich genannten »Neuen gnostischen Texte« betrifft, nun freilich speziell im Blick auf die von ihm angenommene Möglichkeit einer genuin gnostischen Aristoteles-Rezeption im Basilides-Referat in Hippolyts Refutatio VII 15–19 dar110. Kennzeichnend in dieser Hinsicht ist aus der neuesten For106 Als solche sind ›Philia‹ und ›Neikos‹ zugleich die »unterschiedlichen Prinzipien des Guten und des Bösen« (Ref. VII 31,3). Zur Sache vgl. auch Ref. VII 30,2 f. 107 J. Frickel, Unerkannte gnostische Schriften, S. 129, mit Verweis auf Ref. VII 29,8–10 (29,9!). 108 Vgl. auch Ref. VII 31,3 f.: Der steht »in der Mitte zwischen den unterschiedlichen Prinzipien«. Zur Frage, ob die Vorstellung vom ›(ge)rechten Logos‹ ursprünglich mit dem stoischen zu tun hat, vgl. M. Marcovich, New Gnostic Texts, S. 129 f. 109 Zur Sache vgl. M. Marcovich, New Gnostic Texts, S. 128 ff. – Zur EmpedoklesRezeption bei Hippolyt, Ref. VII 29–31 vgl. auch J. Mansfield, Bad World and Demiurge: A Gnostic Motif from Parmenides and Empedokles to Lucretus and Philo, in: R. van den Broek / M. J. Vermaseren, Studies in Gnosticism and Hellenistic Religions, S. 261–314, hier S. 278 f.: »Ref. VII 29–31 is indeed a Gnostic piece«. 110 Zum Folgenden vgl. M. Marcovich, New Gnostic Texts, S. 131 ff. Zur Analyse des Basilides-Referats in Ref. VII 20–27 und X 14 vgl. W.A. Löhr, Basilides und seine Schule, S. 284 ff., hier bes. S. 313 ff. zur Frage: »Das Basilidesreferat des Hippolyt – eine authentische Quelle für Basilides und seinen Schülerkreis?«

3.2 Der Quellenbefund

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schungsgeschichte bereits das Votum von W.A. Löhr, demzufolge der »Vergleich des Basilides mit Aristoteles … ein Charakteristikum der Häresiologie des Hippolyt sein dürfte«111. Darüber hinaus ist an dieser Stelle nicht zuletzt auch darauf hinzuweisen, dass neuerdings – wiederum von W.A. Löhr – auch schon die Identität des Basilides als eines Repräsentanten der Gnosis mit gewichtigen Gründen in Zweifel gezogen worden ist: Basilides sei wohl weniger ein ›Gnostiker‹ zu nennen, als vielmehr ein Vorläufer oder auch schon Repräsentant einer spezifischen ›alexandrinischen Theologie‹112. Eine solche Fragestellung – Basilides, ein ›Gnostiker‹? oder nicht vielmehr ein Repräsentant alexandrinischer Theologie? – erhält nun in der Tat ihr eigentliches Gewicht durch die – eindeutig wohl kaum zu beantwortende – spezielle Frage, ob und inwieweit das (gnostische?) System des Basilides ursprünglich wirklich als ein (von seinem Ansatz her!) dualistisches oder nicht vielmehr doch eher als ein (wiederum von seinem Ansatz her) monistisches System zu bezeichnen ist? Schon vor geraumer Zeit hat G. Quispel in einem Aufsatz zur Anthropologie des Basilides festgestellt: »Emanation, evolution, monism, dualism: what confusion, what contradiction!«113 – und dies nun nicht nur auf die Basilides-Forschung, sondern auch bereits im Blick auf die in dieser Hinsicht keineswegs einheitliche Berichterstattung über Basilides in den uns zur Verfügung stehenden häresiologischen Quellen: So ist nach dem ältesten uns überlieferten Basilides-Referat des Irenäus (Adv. Haer. I 24,3–7) das System des Basilides durchaus als ein – von seinem Ansatz her – dualistisches System zu bezeichnen, während Hippolyt (Ref. VII 15–19 bzw. 20–27) »ein wesentlich monistisches, stark griechisch-philosophisches Lehrgebäude« darbietet114. Ist das hier vorliegende Problem in der Berichterstattung des Irenäus einerseits, des Hippolyt andererseits vielleicht dadurch zu lösen, dass man die Irenäustradition »als eine (sekundäre) dualistische Umbildung des ursprünglichen Systems« betrachtet115 oder ist mit Blick auf die unterschiedliche Berichterstattung bei Irenäus einerseits und Hippolyt andererseits nicht vielmehr davon auszugehen, dass es sich bei dem letzteren zwar vom theologischen Ansatz her, in der von Aristoteles inspirierten Rede vom nichtseienden Gott, um einen monistischen Ansatz handelt, der als solcher, zumal in seiner Entfaltung in Richtung auf die Kosmologie bzw. Kosmogonie im Sinne einer creatio ex nihilo(!), bestimmte dualistische Implikationen durchaus nicht aus-, sondern eher einschließt?116 Insgesamt in 111 W.A. Löhr, Basilides und seine Schule, S. 293–295; Zitat: S. 294. Vgl. S. 295, Anm. 42: »Es ist also vermutlich Hippolyt, der das Aristotelesreferat (VII . 14–19) so angelegt hat, daß die Parallelen zu Basilides sichtbar werden«. 112 W.A. Löhr, ebd., S. 324 ff. und S. 331 ff. Vgl. bereits G. Quispel, The Gnostic Man: The Doctrine of Basilides, in: Ders., Gnostic Studies I, S. 103–133, hier S. 117 ff., der dem Basilides eine »strictly Christocentric conception« bescheinigt. Vgl. auch E. Mühlenberg, Art. Basilides, in: TRE 5, S. 380. 113 G. Quispel, ebd., S. 104. 114 So K. Rudolph, Die Gnosis, S. 311. Zur entsprechenden Differenz zwischen Irenäus und Hippolyt vgl. bereits H. Leisegang, Die Gnosis, S. 253 f., hier i.S. einer Differenz zwischen Dualismus und Pantheismus. 115 Dazu E. Mühlenberg, Art. Basilides, in: TRE 5, S. 297, sowie K. Rudolph, Gnosis und Gnostizismus, in: ThR 38 (1973), S. 2–7. 116 Zur Rede vom »nicht-seienden Gott« bei Hippolyt, Ref. VII 17,1; 19,7; 21,1.4.5; 22,6; 26,1 vgl. M. Marcovich, New Gnostic Texts, S. 132 f. – Zur Frage der mit solcher Rede von Gott verbundenen Konzeption der creatio ex nihilo vgl. G. May, Schöpfung aus dem Nichts, S. 63 ff., hier S. 84 f. zu Basilides.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

der Tat eine ganz eigenständige theologisch-kosmologische Grundkonzeption, die als solche freilich auch ein bestimmtes gnostisches Grundverständnis der Relation Gott – Welt einschließt bzw. jedenfalls doch zulässt – auch wenn mit dieser Art von Aristoteles-Rezeption nicht von vornherein jene sonst für die Gnosis charakteristische radikale Trennung zwischen dem schlechthin jenseitigen ›Gott‹ einerseits und der – von ihrem Ursprung her – gottfeindlichen Welt andererseits verbunden ist. So gesehen ist die Rede vom ›nicht-seienden Gott‹ keinesfalls lediglich der ›eigenen, karikierenden Ausdrucksweise‹ des Hippolyt zuzurechnen117; vielmehr steht sie – immer vorausgesetzt, dass es sich in Hippolyts Refutatio VII 15–19 tatsächlich um eine bestimmte Weise genuin gnostischer Aristoteles-Rezeption handelt – durchaus einer spezifisch gnostischen Rezeption bzw. Re-Interpretation der Rede des Aristoteles vom ›nicht-seienden Gott‹ offen und ist damit zugleich auch Dokument einer »ins Extreme gesteigerte(n) negative(n) Theologie, die Gott als allen Gottesprädikationen transzendent denkt«118, gerade so wiederum ein durchaus »originaler Zug gnostischer Spekulation«119, was im Übrigen auch durch Irenäus bestätigt wird, wenn er in seinem Basilides-Referat in Adv. Haer. I 24,3 und 4 vom innatus bzw. vom innominatus pater spricht. Anders formuliert: »Die Bezeichnung Gottes als ›nichtseiend‹ kann« in einem durch eine gnostische Aristoteles-Rezeption bestimmten Kontext »nur als die Aussage einer bis zum äußersten gesteigerten theologia negativa verstanden werden, wie sie für das gnostische Denken charakteristisch ist«120. Im Raum einer Gnosis, die nicht in dem Maße wie in der hier in Frage stehenden Gnosis die philosophische Überlieferung reinterpretiert, sondern deren Sprache eher aus mythologischen Traditionen gespeist ist, liest sich das selbstverständlich anders; gleichwohl besteht hinsichtlich der gemeinten Sache kein Unterschied: Man vergleiche in diesem Zusammenhang nur die ›Beschreibung‹ des Wesens des der Welt jenseitigen Gottes, wie sie in einem gnostischen Originalzeugnis wie dem Apokryphon des Johannes gegeben wird, hier im Rahmen einer Offenbarungsszenerie, nach der Benennung Gottes als ›unbegreifbar‹, ›unermesslich‹, ›unsichtbar‹ (usw.) vor allem in der Bezeichnung Gottes als etwas (wörtlich: ouhôb, d.h.: eine Sache), das vorzüglicher als dies (alles) ist, und dies nun gerade auch im Blick auf das ›Sein‹ Gottes, also: überhaupt nicht etwas, was existiert (kopt: et oop), sondern etwas, was vorzüglicher ist als dies121. Solche Gottesbezeichnung kommt in 117 So W. Foerster, Das Systen des Basilides, S. 236. Kritisch dazu: M. Marcovich, New Gnostic Texts, S. 133, Anm. 8. 118 So W.A. Löhr, Basilides und seine Schule, S. 306 f. 119 Zum Thema einer ›negativen Theologie‹ in der Gnosis grundsätzlich vgl. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 150 f. 248 ff., hier bes. S. 250 mit der These, daß sich das »Äußerste« einer »auch durch den Neuplatonismus nicht mehr zu überbietenden ›negativen Theologie‹ … zuerst auf rein gnostischem Boden und ganz im originalen Zuge gnostischer Spekulation« findet: »Basilides war es, der lange vor Plotin … in seiner nihilistischen Theologie vom ›nichtseienden Gott‹ spricht« (mit Bezug auf Ref. VII 20 ff.). In diesem Sinne handelt es sich hier um »Oppostionsformeln«, die als solche »einer eigenständigen dualistischen via negationis entsprungen« sind (ebd.). 120 So G. May, Schöpfung aus dem Nichts, S. 68. Kritisch dazu freilich W.A. Löhr, Basilides und seine Schule, S. 314. 121 So Apokr. Joh. (Pap. Berol. 8502), p. 23,15 ff. – Speziell zur Bezeichnung Gottes als ›nicht existierend‹ ebd., p. 24,20–22. Entsprechend die Version in NHC II /1, p. 2,10 ff. Vgl. K. Rudolph, Die Gnosis, S. 70 f., hier auch mit Verweis auf den Tractatus tripartitus (NHC I/4), p. 51,24–28; 54,2–23).

3.2 Der Quellenbefund

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der Tat jener Rede einer philosophischen Theologie von einem nicht-seienden Gott im Anschluss an Aristoteles in der Sache weitgehend nahe – wie auf der anderen Seite wiederum bemerkenswert ist, dass auch bei Hippolyt im Kontext jener philosophischen Theologie des Basilides das in einer eher mythologischen Gnosis weitverbreitete Motiv von einer Selbstüberhebung des Demiurgen seinen Niederschlag gefunden hat, so Ref. VII 25,3 (mit Zitat von Jes 45,5)122.

In diesem Sinn fügt sich am Ende – was hier zunächst vor allem die Rede von ›Gott‹ betrifft – auch das System einer philosophischen Gnosis bei Basilides – bei all seiner keineswegs zu bestreitenden Nähe zu einer spezifisch alexandrinischen Theologie durchaus in das Phänomen einer (christlichen) Gnosis ein. Die hier genannten und – zu einem Teil – im Einzelnen besprochenen Paradigmen einer gnostischen Rezeption bestimmter (und offensichtlich ausgewählter!) Überlieferungen der antiken Philosophie stellen jedenfalls keineswegs eine Alternative dar zu der die Gnosis im Übrigen bestimmenden Rezeption bestimmter religiöser bzw. religionsgeschichtlicher Überlieferungen. Und zugleich: Auch das philosophisch-gnostische System des Basilides ist in diesem Sinne als solches keineswegs ein zureichender Hinweis auf einen einlinigen Ursprungszusammenhang von Philosophie und Gnosis, sondern viel eher eine weitere Bestätigung für den (auch den Bereich der Philosophie einschließenden) Synkretismus der Gnosis. Eben dies letztere, dass sich die Gnosis nämlich – entgegen dem eigenen Anliegen des Hippolyt – nicht allein aus den Gegebenheiten und Voraussetzungen der (spät-) antiken Philosophie ableiten lässt, zeigen nun mit aller Deutlichkeit die weiteren in diesem Zusammenhang zu nennenden gnostischen Originalquellen, auf die Hippolyt in seiner Refutatio zurückgreift: So zunächst – was die ihm bekannten Schriften der Sethianer betrifft – die sog. Paraphrase des Seth (Ref. V 22,1), darüber hinaus aber auch sein Rekurs auf das Baruchbuch des Gnostikers Justin (Ref. V 23–27), des Weiteren die Einarbeitung der sog. Naassenerpredigt (Ref. V 6–9) in seinen Bericht über die Naassener (Ref. V 6,1 ff.) – und gewiss nicht zuletzt seine Benutzung der unter dem Namen des Simon überlieferten (Ref. VI 9–18). Bei allen diesen von Hippolyt z.T. ausgiebig benutzten, z.T. auch zitierten gnostischen Originalquellen handelt es sich zunächst um Zeugnisse einer bereits christlichen bzw. christianisierten Gnosis. Werden diese Quellen jedoch von Hippolyt allesamt in einer bereits (mehrfach) überarbeiteten Gestalt benutzt, so ist – von hier aus gesehen – jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen, dass wenigstens einige von ihnen auf ältere zwar nicht vorchristliche, aber doch wenigstens außer-christliche gnostische Originalquellen zurückgehen. Und nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang auch – was die Authentizität jener Quellen betrifft – auf die eigenen Angaben des Hip122 Vgl. bereits Hippolyt, Ref. VII 23,4 f., sowie Epiphanius, Haer. 26,2,3 f. – Zur Sache vgl. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 229 f., hier bes. S. 230, Anm. 1.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

polyt im Prooemium seiner Refutatio zu verweisen: So verweist Hippolyt im § 1 seiner Refutatio ausdrücklich darauf, dass er selbst einst in seinem Syntagma die Dogmen bzw. Lehrsätze seiner häretischen Kontrahenten gleichsam ›nur obenhin,‹ d.h. ohne auf die Einzelheiten einzugehen, widerlegt habe: Damals, zur Zeit der Abfassung des Syntagma, hielt er es also noch nicht für angemessen, »die unaussprechlichen (Geheimnisse) ihrer Lehren ans Licht zu bringen«. Demgegenüber hat er nunmehr, in seiner Refutatio, seine Strategie geändert – zumal sein früheres antihäretisches Werk bei seinen Kontrahenten offensichtlich nicht den beabsichtigten Erfolg gezeitigt hat. Und so sieht er sich nunmehr, in seiner Refutatio, nach Aussage des § 2 des Prooemiums, genötigt, ihre unaussprechlichen Geheimnisse zu enthüllen ( ). Gleichwohl geht es bei diesem gegenüber dem Syntagma veränderten Verfahren wohl nicht nur um eine wirkungsvollere Strategie in der antignostischen Polemik; vielmehr ist für die Zeit der Abfassung der Refutatio davon auszugehen, dass die Zurückhaltung Hippolyts gegenüber seinen gnostischen Gegnern zur Zeit der Abfassung des Syntagma durch seine noch unzureichende Kenntnis gnostischer Originalquellen bedingt war. In dieser Hinsicht hat sich die Sachlage zur Zeit der Abfassung der Refutatio offensichtlich verändert: M. Marcovich spricht in diesem Zusammenhang sogar – gewiss ein wenig zugespitzt – von ›Hippolytus’ Great Discovery‹, die als solche im Grunde der Entdeckung der ›Nag Hammadi Library‹ im 20 Jahrhundert gleichkäme123. Was nun die ›Große Entdeckung‹ des Hippolyt im Einzelnen betrifft, so ist hier an erster Stelle unter den von ihm benutzten gnostischen Originalschriften die Paraphrase des Seth in seinem Bericht über die gnostische Schule der Sethianer zu nennen (Ref. V 19–22): In ihr seien, so Hippolyt, alle ihre geheimen (oder auch: abscheulichen!) Lehren zu finden (Ref. V 22). Nach der Entdeckung der gnostischen Originalschriften von Nag Hammadi liegt es nun von vornherein nahe, jene Paraphrase des Seth des Hippolyt mit der hier, in Codex VII /1 (p. 1,1–49,9) überlieferten Paraphrase des S em zu vergleichen. Dieser Vergleich liegt umso näher, als in der Tat zwischen beiden gnostischen Originalschriften gewisse Übereinstimmungen festzustellen sind, so dass es – von daher gesehen – von vornherein naheliegt, eine Beziehung zwischen beiden Schriften anzunehmen. Fällt solcher Vergleich positiv aus – woran grundsätzlich nicht zu zweifeln ist –, so wäre damit nicht zuletzt auch eine Bestätigung für die Glaubwürdigkeit der Quellenbenutzung Hippolyts gewonnen124. 123 M. Marcovich, Hippolytus’ Ref. omnium haeresium, S. 32 f.: »But now, when writing the Elenchos, he has changed his mind: he feels that ›enough is enough‹, he decided to expose the heretics by fully disclosing their secret teachings and mysteries«. J. Frickel, Le Muséon 85 (1972), S. 426, spricht in diesem Zusammenhang von einem »gnostischen Quellenpaket«, das durch Mittelsmänner in die Hände des Hippolyt geraten sei und eine größere Menge bisher unbekannter gnostischer Schriften enthielt«. 124 So G. May, Schöpfung aus dem Nichts, S. 65.

3.2 Der Quellenbefund

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Im Einzelnen gilt dies bereits im Blick auf die Kennzeichnung beider Schriften als Paraphrase, die – nach Ausweis der entsprechenden Untersuchung von B. Aland – nicht lediglich im formalen Sinne eine bestimmte literarische Gattung bezeichnet, sondern – zugleich – eine bestimmte Art ›gnostischer Verkündigung‹125. Noch gewichtiger, was die Übereinstimmungen zwischen beiden Schriften betrifft, ist jedoch, dass beide Schriften dem Typus einer gnostischen Drei-Prinzipien-Lehre zuzurechnen sind, wie sie im Gesamtbereich der (christlichen) Gnosis keineswegs nur für die Sethianer bezeugt ist126. Konkret bedeutet dies, dass hier neben den beiden gegensätzlichen Grundprinzipien gnostischen Denkens – ›Licht‹ auf der einen Seite bzw. ›oben‹ und ›Finsternis‹ auf der anderen Seite bzw. ›unten‹ – noch ein weiteres Grundprinzip bzw. – wie es jedenfalls in der koptischen Paraphrase des S em heißt (NHC VII /1, p. 2,6 f.) – eine weitere ›Wurzel‹ (kopt.: noune) genannt wird, nämlich die des ›Geistes‹ ( ), die ihren Ort von Anfang an gleichsam zwischen den beiden Grundprinzipien von ›Licht‹ und ›Finsternis‹ hat127. Eben in dieser Hinsicht besteht nun aber zwischen den beiden Schriften eine grundsätzliche Übereinstimmung: Heißt es im Referat des Hippolyt: »Die Wesenheiten ( ) der Prinzipien ( ) sind Licht und Finsternis, in deren Mitte aber der unvermischte, reine Geist ( ) ist«, was zugleich heißt: »Der Geist ist (sc.: ursprünglich) angeordnet inmitten der Finsternis, die (als solche) unten ( ) ist, und des Lichtes, das (als solches) oben ( ) ist« (Ref. V 19,2 f.), so heißt es dementsprechend in der Paraphrase des S em von Nag Hammadi: »Es gab Licht und Finsternis, und Geist ( ) war in ihrer Mitte«128. Gibt es nun über die Übereinstimmung hinsichtlich der ›Prinzipienlehre‹ hinaus noch weitere Übereinstimmungen in der beiderseits benutzten Terminologie und. Metaphorik129, so ist die Schlussfolgerung unausweichlich, dass Hippolyt an dieser Stelle seiner Refutatio eine gnostische Originalquelle benutzt hat, die mit der (griechischen Fassung der) Paraphrase des S em von Nag Hammadi zwar nicht identisch ist, ihr aber in jedem Falle doch zumindest nahesteht. An eine Identität beider Schriften ist im Übrigen schon angesichts der 125 B. Aland, Die Paraphrase als Form gnostischer Verkündigung, spricht in diesem Zusammenhang von einer »Wechselbeziehung zwischen Inhalt und Form in gnostischen Schriften« (S. 75). Ebd., S. 76: »›Paraphrase‹ meint also … in erster Linie nicht die umschreibende Wiedergabe eines bestimmten vorgegebenen Textes, sondern die einer grundlegenden Einsicht und Überzeugung«. Ebd., S. 87: »Ja, der gnostische Mythos selbst ist in sich schon paraphrastisch, insofern als das immer erneute Auftreten und Handeln der verschiedenen Erlösergestalten darin auch nur die eine Grundtatsache der Überlegenheit und Befreiung des Lichts verdeutlichen soll«. 126 Zu den Repräsentanten solcher Drei-Prinzipien-Lehre vgl. W. Foerster, Die Gnosis. Zeugnisse der Kirchenväter, S. 315 ff.; zur Sache: H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 212–214,340–343.380 f. 127 Im Übrigen ist es eben diese ›Zwischeninstanz‹ jenes dritten Prinzips, die darauf verweist, daß die sogenannte Drei-Prinzipien-Lehre ihrerseits am Ende durchaus wiederum auf eine Zwei-Prinzipien-Lehre zu reduzieren ist. Zur Sache: H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 380 f. (Erg.-Heft zu Bd. I) und NHC VII /1, p. 26–28; ebd., p. 2,4–7. Für Hippolyt vgl. neben Ref. V 19,2 f. auch V 19,5.8–11 sowie X 11,2 (Epitome). 128 NHC VII /1, p. 26–28; ebd., p. 2,4–7. Für Hippolyt vgl. neben Ref. V 19,2f. auch V 19,5.8–11 sowie X 11,2 (Epitome). 129 Vgl. Hippolyt, Ref. V 19,2 ( ) mit NHC VII /1, p. 1,18 f. (dynamis nakeraios) sowie Ref. V 19,4 ( ) mit NHCVII /1, p. 4,4 f (anok gar pe aktin mpouoin). Vgl. auch die Synopse der Parallelen zwischen Hippolyts Referat zur Paraphrase des Seth und der Paraphrase des Seem bei C. Colpe, in: JAC 16 (1973), S. 109–114.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Ungleichheit der Namen Seth und S em nicht zu denken, zumal im Kodex VII von Nag Hammadi ansonsten – abgesehen also von der Paraphrase des S em – ausdrücklich zwischen den Namen Seth einerseits und S em andererseits unterschieden wird. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass Hippolyt an dieser Stelle seiner Refutatio eine gnostische Originalschrift von der Art jedenfalls der Paraphrase des S em benutzt hat130.

Im Zusammenhang mit der Frage nach Zeugnissen einer vor- bzw. nichtchristlichen Gnosis stellt sich am Ende aber auch noch die spezielle Frage, ob die gnostische Originalquelle, auf die Hippolyt hier zurückgegriffen hat, als solche bereits das Zeugnis einer christlichen oder auch (sekundär) christianisierten Gnosis ist – oder ob Hippolyt hier möglicherweise doch das Zeugnis einer nicht-christlichen Gnosis benutzt hat. Die Sachlage ebenso wie die Diskussionslage ist in dieser Hinsicht nach wie vor keineswegs eindeutig und somit auch umstritten, obwohl die Möglichkeit jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen ist, dass sich im Verhältnis der beiden hier in Frage stehenden gnostischen Schriften zueinander – ohne dass damit die These verbunden sein müsste, die Paraphrase des S em aus dem Handschriftenfund von Nag Hammadi hätte die unmittelbare Vorlage für die von Hippolyt benutzte Paraphrase des Seth gestellt – der Prozess einer sekundären Christianisierung eine ursprünglich nicht-christlichen Version der Paraphrase des S em widerspiegelt. Vom Zeugnis einer vor-christlichen Gnosis könnte damit selbstverständlich noch nicht die Rede sein, wohl aber wäre dann schon eher die Wahrscheinlichkeit für die Hypothese gegeben, dass eine ursprünglich nicht-christliche Gnosis im Verlauf ihrer Geschichte im (1. und) 2. nachchristlichen Jahrhundert in den Ausstrahlungs- und Wirkungsbereich des frühen Christentums gelangt ist und – eben als eine wesenhaft synkretistische Religion – in der Begegnung mit dem Christentum dessen Botschaft auf ihre, d.h. also: spezifisch gnostische Weise rezipiert hat131. Auszugehen ist im Blick auf eine solche Fragestellung jedenfalls davon, dass bestimmte Anklänge an das Neue Testament bzw. Zitate aus dem Neuen Testament in Hippolyts Referat zur Paraphrase des Seth – so z.B. die Anklänge an Phil 2,7 in Ref. V 19,20 f., an Phil 3,20 in Ref. V 21,6 sowie an Joh 4,10.14 in Ref. V 19, 21, darüber hinaus aber auch das wörtliche Zitat von Mt 10,34 in Ref. V 21,5 – als solche schon eindeutig darauf hinweisen, dass die unmittelbare Vorlage in Gestalt jener Paraphrase des Seth des Hippolyt das Zeugnis einer bereits christlichen bzw. 130 Genau umgekehrt beurteilt S. Pétrement, A Separate God, S. 601–607, das literarische Verhältnis zwischen beiden Schriften: Die Paraphrase de Seem sei eine bewußte Korrektur der Paraphrase des Seth. Zum Problem in dieser Hinsicht vgl. D.A. Bertrand, »Paraphrase de Sem« et »Paraphrase de Seth«, S. 146–157, sowie M. Tardieu, Les livres mis sous le nom de Seth et les Séthiens de l’Hérésiologie, S. 204 ff. 131 Kennzeichnend für solche Rezeption des Neuen Testaments ist, was die von Hippolyt referierte Paraphrase des Seth betrifft, die gnostische Deutung von Mt 10,34 in Ref. V 21,5: .

3.2 Der Quellenbefund

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christianisierten Gnosis gewesen ist132. Offensichtlich ist demgegenüber auch, dass die Paraphrase des S em aus dem Codex VII von Nag Hammadi angesichts des hier festzustellenden Fehlens solcher eindeutig christlichen Hinweise in jedem Falle ein älteres Stadium der ›Vorlage‹ des Hippolyt repräsentiert, sofern nämlich in der uns überlieferten Gestalt der Paraphrase des S em wirklich eindeutig christliche Akzentsetzungen fehlen oder doch jedenfalls lediglich andeutungsweise erschlossen werden können: Charakteristisch in dieser Hinsicht ist hier bereits die merkwürdige Gestalt des Offenbarungsmittlers an S em mit Namen Derdekea(s) (NHC VII /1, p. 1,4 f.): »Das, was mir, dem S em, Derdekea(s) offenbart hat nach dem Wissen der Größe …«. Diesen (nur hier in gnostischen Schriften überlieferten) merkwürdigen Namen als eine Art Decknamen für Christus zu deuten133, ist bloße Vermutung. Und darüber hinaus besteht auch keineswegs ein zwingender Anlass, die polemische Bezugnahme auf die Wassertaufe in NHC VII /1, p. 30,21 ff. und 36,25 ff. – wie mitunter angenommen134 – auf die Wassertaufe Johannes des Täufers zu beziehen, zumal diese in jener Zeit, also rund im 1. und 2. nachchristlichen Jahrhundert, nur eine unter anderen gewesen ist und im Umkreis des Judentums insbesondere das ›Mittel der Taufe‹ – wie K. Rudolph formuliert hat135 – ›damals‹ durchaus ›in der Luft‹ lag. Im Zusammenhang gesehen mit der auch sonst in der Paraphrase des S em nachzuweisenden jüdischen Tradition – insbesondere im Blick auf eine bestimmte, nämlich gnostische, Auslegung von Gen 1,1 ff. – spricht also manches dafür, hier – zur Frage der Wassertaufe – den Versuch einer besonderen spezifisch gnostischen Profilierung gegenüber dem Judentum zu sehen, nicht also (erst) gegenüber dem frühen Christentum!

Nicht zuletzt spricht also am Ende doch mancherlei dafür, in der Paraphrase des S em – genauer: in der ursprünglich griechisch-sprachigen Version dieser Offenbarungsschrift – das Dokument einer ursprünglich nicht-christlichen Gnosis zu sehen, von dem Hippolyt seinerseits eine bereits christianisierte Version benutzt hat136. Gewiss ist bei alledem – wie im Übrigen auch bei anderen Schriften aus dem Handschriftenfund von Nag Hammadi – die Möglichkeit einer sekundären De-Christianisierung einer ursprünglich christlich132 Vgl. F. Wisse, The N.H. Library and the Heresiologists, S. 219: »Hippolyt’s account is much shorter (than the Paraphrase of Shem) and must be based on a abbreviated and christanized form of the Nag Hammadi tractate«. 133 So der ›Berliner Arbeitskreis‹ in: K.-W. Tröger, Gnosis und Neues Testament, S. 58: »Eines der Hauptprobleme der Schrift ist die Identifizierung des Derdekas, dessen Name sonst noch nicht bekannt ist. Handelt es sich um einen Decknamen für Christus?«. 134 So wiederum der Berliner AK , a.a.O., S. 58 f. mit der Schlußfolgerung: »Dann aber wäre zumindest in dieser Partie die Schrift eine christlich-gnostische, nur daß dies – wie fast alles in der Schrift – verschlüsselt ist. Bemerkenswert ist, daß dies die schärfste Polemik gegen die Johannestaufe wäre, die uns bis jetzt bekannt geworden ist«. 135 K. Rudolph, Antike Baptisten, S. 11. Vgl. F. Wisse, The Redeemer Figure in the Paraphrase of Shem, S. 137: »This curious polemic is much more easely explained as directed at a Jewish baptismal sect than at Christian baptism«. 136 Zum nicht-christlichen Charakter der Paraphrase des Seem vgl. F. Wisse, The Redeemer Figure in the Paraphrase of Shem, S. 135, hier mit Verweis auf die nicht-christliche ›Christologie‹ der Schrift. Vgl. auch D.A. Bertrand, ›Paraphrase de Sem‹ et ›Paraphrase de Seth‹, S. 156: »la Paraphrase de Sem reflète un état plus archaique, ce qui ne veut pas dire que, sur le plan formel, elle soit moins développé que la Paraphrase de Seth«.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

gnostischen Schrift nicht von vornherein auszuschließen, jedoch im hier vorliegenden Falle – angesichts der relativ eindeutigen Relation zwischen Hippolyts Paraphrase des Seth und der Paraphrase des S em von Nag Hammadi – eher unwahrscheinlich137. Im unmittelbaren Anschluss an sein Referat über die Sethianer und – in diesem Zusammenhang – über die Paraphrasis des Seth (Ref. V 22 Ende) kommt Hippolyt ausführlich auf den Gnostiker Justin und damit zugleich auf eine weitere gnostische Originalquelle zu sprechen: Auf das Baruchbuch des Justin: Ref. V 23–27138. Im Unterschied freilich zur Paraphrasis des Seth im vorangehenden Abschnitt handelt es sich hier, bei dem Rückgriff auf die original-gnostische Quelle des Baruchbuches, eindeutig um das Zeugnis einer bereits christlichen oder doch jedenfalls christianisierten Gnosis. So beansprucht die an dieser Stelle in Frage stehende gnostische Originalquelle auch im Zusammenhang mit der Frage nach einer vor- bzw. nichtchristlichen Gnosis besondere Aufmerksamkeit, und zwar nicht nur – um mit M. Marcovich zu sprechen – als ein ›showcase of Gnostic Syncretism‹139, sondern zugleich auch als ein Paradigma für die Einbeziehung bzw. Rezeption der frühchristlichen Tradition jener Zeit (2. Jahrhundert n.Chr.) in ein genuin nichtchristliches, in seinem Ansatz durchaus eigenständiges Rahmenkonzept in den Sprach- und Wirkungsraum des Christentums – und in diesem Sinne dann auch wiederum als das Zeugnis für den dezidiert nicht-christlichen Charakter der Gnosis. Konkret bedeutet dies: In der Gnosis des Justin und seines Baruchbuches, begegnet man einer Art gnostischen Denkens, das sich – neben der Rezeption eines im Einzelnen vielfältigen außerchristlichen Traditionsgutes ganz im Sinne des für die Gnosis charakteristischen Synkretismus – nun eben auch der Sprache und Tradition des Christentums bedient, um sein eigenes ›gnostisches‹ Sinn- und Sachzentrum zur Sprache und – damit auch – zur Wirkung zu bringen. Das spezifisch Christliche ist hier in diesem Sinne am Ende nur noch ›Mittel zum Zweck‹ des Transports des Anspruchs auf die universale Geltung der eigenen, nämlich gnostischen Religion als einer ›Weltreligion‹. Obwohl, was in diesem Zusammenhang zunächst die Quellenfrage betrifft, in Hippolyts Referat (Ref. V 23–27) nicht immer präzise zwischen wörtlichem Zitat aus seiner gnostischen Quelle einerseits und eigenen referierenden Umschreibungen andererseits unterschieden werden kann, ist doch offensichtlich, dass Hippolyt von dem Gegenstand seiner Darstellung durchaus gute und gesicherte Kenntnisse gehabt hat: Nach Ausweis von Ref. V 23,2 und 24,2 kannte er mehrere Schriften des Justin, 137 Zur Frage einer sekundären De-Christianisierung vgl. D.A. Bertrand, a.a.O., S. 155 f.; F. Wisse, The Redeemer Figure, S. 135, sowie K.-W. Tröger, Altes Testament, Frühjudentum, Gnosis, S. 22. 138 Vgl. dazu auch im Rahmen der die ›Refutatio‹ des Hippolyt abschließenden Epitome: Ref. X 15,1–7, hier im Anschluß an Basilides. 139 So M. Marcovich, Justins Baruch: A Showcase of Gnostic Syncretism, S. 39–119.

3.2 Der Quellenbefund

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u.a. auch solche, in denen ›prophetische Aussprüche‹ exegesiert wurden (V 27,5 f); gleichwohl hat er sich – um nicht allzu viele dieser Schriften im Einzelnen ›durchgehen‹ zu müssen – vor allem auf eine Quelle konzentriert, nämlich auf die Schrift, , also eben auf das sogenannte Baruchbuch (Ref. V 24,2). Eine solche Konzentration auf diese eine Schrift des Justin hält er deswegen für gerechtfertigt, weil in ihr »derjenige, der es findet, die ganze Ausführung ihres Mythus erkennen wird« (Ref. V 27,5). Die – relative! – Zuverlässigkeit des JustinReferats des Hippolyt scheint damit gesichert. Andererseits lässt Hippolyt aber auch keinen Zweifel daran, dass mit seiner Darstellung der Position des Justin immer zugleich die Negierung dieser Position in gestalt einer z.T. überaus scharfen Polemik einhergeht: Betont Hippolyt bereits zu Beginn seiner Darstellung die generelle Gegnerschaft Justins im Blick auf die »Lehre der Heiligen Schriften« (Ref. V 23,1), so betont er am Ende, im Rückblick auf sein ›Referat‹: »Ich bin schon vielen Häresien begegnet, bin aber, meine Lieben, niemals auf etwas so Schlechtes gestoßen« (Ref. V 27,6) und gibt schließlich seiner Abscheu gegenüber der Lehre des Justin beredten Ausdruck, wenn er – in Anspielung auf Herakles – von der Notwendigkeit spricht, diese Art von ›Gnosis‹ wie einen ›Augiasstall‹ oder – noch deutlicher – wie eine ›Kloake‹ auszuräumen (Ref. V 7,6). Dass dementsprechend das Selbstverständnis des Justin wie auch seiner Anhänger als (Ref. V 23,3) mit der Desavouierung des Justin als beantwortet wird (Ref. V 28,1), versteht sich angesichts dessen von selbst, zumal Anspruch und Selbstverständnis des Justin und seiner Anhänger sich ausdrücklich mit der Position des Apostels Paulus nach 1 Kor 2,9 verbinden: Insgesamt dreimal(!) begegnet im Justin-Referat des Hippolyt unter ausdrücklicher Bezugnahme auf 1 Kor 2,9 der Anspruch der Gnostiker des Justin, eben vermittels dieser Art von ›Erkenntnis‹, das zu sehen und zu hören, »was noch kein (menschliches) Auge gesehen und kein (menschliches) Ohr gehört hat …« (Ref. V 24,1; 26,16; 27,2). Hier geht es im Streit mit den Häretikern ja um nicht mehr und nicht weniger als um die Beanspruchung der Autorität des Apostels Paulus für die eigene gnostische Position, also um den gnostisch rezipierten und damit auch gnostisch vereinnahmten Apostel Paulus. Dabei ist hier auf die aus dem Referat des Hippolyt deutlich erkennbare Position des Justin, also auf das gnostische System des Justin, auf seine Besonderheiten gegenüber den anderen gnostischen Systemen wie auch auf seine vielfältigen ›christlichen‹ wie auch auf seine im Einzelnen vielfältigen religionsgeschichtlichen Hintergründe und Voraussetzungen gar nicht erst näher einzugehen140. Deutlich ist in diesem System in jedem Falle die Ausrichtung aller einzelnen Aussagen zur Frage von Kosmogonie und Anthropogonie auf die tragischen Folgen jener Urgeschichte; deutlich damit aber auch, in welchem Maße hier die entsprechenden mythischen Vorbilder und Vorformen der traditionellen (und somit auch der biblischen) ›Urgeschichten‹ konsequent in ein bestimmtes, eben genuin gnostisches Rahmenkonzept eingefügt werden und auf diese Weise – im Sinne des Autors des Baruchbuches jedenfalls – zu Trägern und Vermittlern jenes Rahmenkonzepts umgestaltet werden. 140 Zu den Eigenarten dieses Systems gehört es im Übrigen, daß es nicht – wie andere gnostische Systeme – von einer Devolution bzw. von einem ›Fall‹ in der göttlichen Welt ausgeht, sondern eher eine Evolution, eine ›Aufwärtsentwicklung‹ gleichsam repräsentiert. Dazu: M.A. Williams, Rethinking Gnosticism, S. 28. Zum System des Gnostikers Justin vgl. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I., S. 335–339; E. Haenchen, Das Buch Baruch.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Im Einzelnen gilt dies für die hier in Anspruch genommenen Motive aus dem Raum der antik-spätantiken Philosophie- und Religionsgeschichte ebenso wie auch für die entsprechende Rezeption der biblischen Überlieferung, und zwar sowohl des Alten wie auch des Neuen Testaments (unter Einschluss dabei wohl auch des Judentums). Für den Gnostiker Justin – als Repräsentant eines synkretistischen Zeitalters und darüber hinaus als Vertreter eines spezifisch gnostischen Synkretismus – versteht es sich offensichtlich von selbst, biblisch-jüdische wie auch frühchristliche Elemente und Motive mit Elementen der paganen Mythologie zu kombinieren – bis hin zu jener in der Tat merkwürdigen ›Identifizierung‹ des höchsten Gottes des Justin, ›des Guten‹ schlechthin, mit der Gestalt des Priapos, des Gottes der Zeugungskraft!141.

Besondere Bedeutung bei dieser Einbeziehung aller im Baruchbuch des Justin aufgenommenen traditionellen Motive in ein besonderes, spezifisch gnostisches Rahmenkonzept im Zusammenhang der gnostischen Soteriologie des Buches kommt dem Motiv der Sendung des Baruch als des Offenbarungsempfängers in Ref. V 26 zu142. Hier ist nacheinander von der jeweils ohne Erfolg bleibenden Sendung des Baruch zu Mose (V 26,24 f.) sowie zu den Propheten (V 26,26 f.) die Rede, zu denen am Ende auch der Herakles (V 26,27) gehört. »Zuletzt aber«, heißt es dann in Ref. V 26,29, wird Baruch noch einmal ausgesandt: nach Nazareth nämlich, und hier zu Jesus – mit dieser Botschaft: »Alle Propheten vor dir ließen sich verführen. Versuche nun, Jesus, Menschensohn, dich nicht verführen zu lassen, sondern verkünde den Menschen diese Lehre und gib ihnen Kunde von dem, was den Vater und ›den Guten‹ betrifft, und steige hinauf zu ›dem Guten‹ und setze dich dort nieder zusammen mit unser aller Vater Elohim«. Zeigt schon der knappe ›Bericht‹ über die Begegnung des ›Engels‹ Baruch mit Jesus, in welchem Maß und Sinn die ›Sendung‹ Jesu hier in das spezifisch gnostische Rahmensystem des Justin einbezogen worden ist, so zeigt sich dies ebenso deutlich in der Art und Weise, in der hier Kreuz und Auferstehung gedeutet werden: Jesus gehorcht der Weisung des Boten bzw. des Engels Baruch, widersteht also der Verführung durch den Na’as, d.h. durch die Schlange(!), und wird deshalb gekreuzigt. Jesus aber lässt schließlich den Leib der Edem, d.h. des weiblichen bzw. mütterlichen Prinzips (im Rahmen der Drei-Prinzipien-Lehre des Justin: Ref. V 26,1 ff.), mit dem ›Kreuzeswort‹: »Weib, da hast du deinen Sohn!« am Kreuz zurück und steigt hinauf zu dem Guten (Ref. V 26, 29–32), wobei der Sohn (aus dem Kreuzeswort Jesu von Joh 19,26!) hier zugleich auf den der gnostischen Anthropologie gedeutet wird (Ref. V 26,32). Insgesamt also eine spezifisch gnostische Rezeption der Geschichte und des Geschicks Jesu, 141 Dazu im Einzelnen: M. Marcovich, Justins Baruch, S. 115–117, hier zu den Beweggründen des Justin, dieses antike Motiv in diesem Zusammenhang zu rezipieren. 142 Zu Baruch als »Offenbarungsempfänger« vgl. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 388; E. Haenchen, Das Buch Baruch, in: Ges. Aufs. I, S. 312–314, sowie M. Marcovich, Justins Baruch, S. 108 ff.

3.2 Der Quellenbefund

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wie sie deutlicher gar nicht vorgestellt werden kann und der dann am Ende dieser Geschichte auch noch das Lk 23,46 entsprechende Kreuzeswort Jesu entspricht: »Er selbst aber übergab seinen Geist in die Hände des Vaters – und stieg hinauf zu ›dem Guten‹«. So gesehen ist Jesus nach dieser Art gnostischer Rezeption seiner Geschichte in der Tat nichts anderes mehr als der ›Erstling‹ der Errettung aller Gnostiker aus dieser Welt!143. Angesichts der Rolle, die im Baruchbuch des Justin der Naas, d.h. die Schlange, spielt (Ref. V 26,6.22.26.31.34; 27,4), ist die Frage nicht abwegig, ob damit nicht zugleich auch ein Indiz für die Zuordnung des Systems des Justin zu anderen gnostischen Gruppen oder Schulen gegeben ist, so insbesondere zu den Naassenern des Hippolyt bzw. zu den Ophiten des Irenäus?144. Zu bedenken ist freilich in diesem Zusammenhang, dass die Benennungen der einzelnen gnostischen Gruppen und Schulen – aufs Ganze gesehen – doch wohl eher Fremdbezeichnungen sind, die als solche auf die altkirchlichen Häresiologen zurückgehen145. Dies gilt nicht zuletzt auch im Blick auf das spezielle Verhältnis von Naassenern einerseits und Ophiten andererseits. Hier ist offensichtlich Zurückhaltung gegenüber voreiligen Zusammenordnungen oder auch Genealogien geboten. R. McL. Wilson hat – mit Recht – zum Verhältnis zwischen Naassenern und Ophiten vermerkt: »Dies ist jedoch eines der Felder, wo die häresiologische Klassifizierung noch einmal überdacht werden muss«146. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang – abschließend – noch einmal die Feststellung, dass in der Art und Weise, in der im System des Justin die genuin christliche Überlieferung, und hier insbesondere die Überlieferung von Jesus, rezipiert worden ist, ein geradezu klassisches Paradigma für die konsequente Einbeziehung dieser Überlieferung in ein – wenn schon nicht zeitlich, so doch logisch vorgegebenes gnostisches Rahmenkonzept gegeben ist und das heißt am Ende: Das Christliche in der Gnosis des Justin ist als solches zugleich Zeugnis für die sekundäre Christianisierung einer spezifisch gnostischen Religion bzw. Religiosität, die sich – als synkretistisches Phänomen – von Fall zu Fall auch ganz anderer religiöser Bezugssysteme bedienen konnte, um ihren eigenen 143 Zur Darstellung der Jesus-Geschichte und zur Interpretation von Kreuz und Auferstehung bei Justin vgl. M.A. Williams, Rethinking Gnosticism, S. 21 f., sowie M. Marcovich, Justins Baruch, S. 112 ff. 144 Dazu vgl. R. McL. Wilson, Art. Gnosis/Gnostizismus, in: TRE 13, S. 13.544 f., sowie G. G. Stroumsa, Another Seed, S. 5, zur Frage, ob die Sethianer von den Ophiten abzuleiten sind. 145 Im Übrigen sprechen die von Hippolyt, Ref. V 2; 6,4; 11,1 sowie V 9,21 gebrauchten Selbstbezeichnungen »Gnostiker«, »Christen« und »Pneumatiker« dafür, daß es sich bei den Gruppen- bzw. Schulbezeichnungen Naassener bzw. Ophiten um Fremdbezeichnungen handelt. Zum Verhältnis zwischen beiden Schulen vgl. bereits R.P. Casey, Naassenes and Ophites, S. 374–387; zur Frage der Unterscheidung zwischen Naassenern und Valentinianern vgl. J. Frickel, Naassener oder Valentinianer?; speziell zu den Sethianern: F. Wisse, Stalking Those Elusive Sethians, S. 563–576. 146 R. McL. Wilson, in: TRE 13, S. 544

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

universalen Anspruch zur Geltung zu bringen147. Zumal die Darstellung Jesu im Zusammenhang der soteriologischen Sendung des Baruch spricht hier eine überaus deutliche Sprache: Die Heilssendung Jesu der genuin christlichen Tradition ist hier ganz und gar zu einem soteriologischen Grundkonzept umfunktioniert worden, das als solches nicht mehr genuin christlich, sondern genuin gnostisch ist. Zu fragen bleibt noch, ob grundsätzlich das Gleiche nun nicht auch für die Rezeption der christlichen Tradition in einer weiteren gnostischen Schule gilt, von der Hippolyt in einem wiederum relativ ausführlichen Referat seiner Refutatio handelt, in seinem Bericht nämlich über die sogenannten Naassener in Ref. V 6–11 (sowie im Rahmen der Epitome: Ref. X 9,1–3). Sofern Hippolyt in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf eine Originalquelle jener Naassener zurückgreift und daraus auch ausführlich zitiert, ist die Quellenlage hier besonders günstig, und es stellt sich zuerst und vor allem die Frage, inwieweit sich aus dem Referat bzw. Zitat des Hippolyt diese gnostische Quelle als solche erheben und auch im Einzelnen des Näheren bestimmen lässt148. Anhaltspunkte in dieser Hinsicht gibt es im Naassener-Referat des Hippolyt zur Genüge, angefangen bereits zu Beginn bei seinem Verweis auf die »Hauptsache ( ) ihrer zahlreichen Lehren« (Ref. V 7,1 f.). An dieser Stelle liegt im Übrigen offensichtlich so etwas wie die Überleitung bzw. Einleitung des Hippolyt zu der von ihm benutzten Quellenschrift vor, aus der – im Anschluss an die Formulierung in V 7,1: … , . – im Folgenden ausführlich zitiert wird. Der Umfang der Vorlage ist dementsprechend leicht zu bestimmen: Sie reicht von Ref. V 7,2 bis hin zu V 9,22 bzw. V 10,2. Bereits zuvor ist bemerkenswert, dass Hippolyt im Rahmen seiner Einleitung zum Zitat aus jener gnostischen Originalschrift ausdrücklich auf den ›hymnischen‹ Charakter seiner Quelle verweist: (sc.: auf , den ›Urmenschen‹) ). Von diesen ›Hymnen‹ der Naassener gibt er hier, zu Beginn seines Referats, freilich nur eine kurze Probe (Ref. V 6,5 f.); umso deutlicher tritt dieser hymnische Charakter der hier benutzten Quelle jedoch im Folgenden hervor: So bereits in den zahlreichen Zitaten aus Homer (Ref. V 7,30 ff.), vor allem aber gegen Ende der Quellenschrift im sog. Attis-Hymnus (Ref. V 9,8 f.) sowie – als Abschluss des ganzen Zusammenhangs – im sog. Naassenerhymnus (Ref. V 10,2). So gesehen ist die zitierte Quellenschrift durchaus planvoll angelegt149 – und erweist sich schon 147 In diesem Sinne auch E. Haenchen, Ges. Aufsätze I, S. 316 f.: »Die Benutzung des heidnischen, jüdischen und christlichen Gutes hat das eine gemeinsam: Das übernommene Material wird … ohne Rücksicht auf den ursprünglichen Sinn zur Darstellung des gnostischen Mythos verwendet«. Vgl. auch S. 334. 148 Zur Fragestellung vgl. R. Reitzenstein, Poimandres; ders. mit H. H. Schaeder, Studien zum antiken Synkretismus aus Iran und Griechenland, S. 104–173; zuletzt J. Frickel, Hellenistische Erlösung in christlicher Deutung, S. 1–6. 149 Vgl. L. Abramowski, Drei christologische Untersuchungen, S. 49: »Wenn man sich klarmacht, daß die knappen Mitteilungen Hippolyts in V 6 für einen längeren Text stehen, in dem die Hymnen auf den ›Menschen‹ wahrscheinlich so am Anfang standen, wie der Attishymnus und der Jesuspsalm am Schluß, so ergibt sich ein planvoller literarischer Aufbau des

3.2 Der Quellenbefund

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hier, von diesem Überblick her, als ein deutliches Zeugnis jenes Synkretismus, der »für die Gnosis der Kaiserzeit typisch ist«150. Im Übrigen lässt Hippolyt selbst bei alledem von vornherein keinen Zweifel an seiner kritischen Einstellung zu seiner Quellenschrift, so bereits in Ref. V 7,1 angesichts der von den Naassenern selbst für die hier vorliegende Quelle konstruierten Traditions- bzw. Sukzessionskette: »Damit nun die(se) gottlosen Frevler weder die Mariamne noch den (Herrenbruder) Jakobus noch gar den Heiland selbst verleumden, wollen wir (endlich) zu den Einweihungen (sc.: in die Mysterien) kommen, worauf dieser Mythos beruht …«.

Bei dieser hier, Ref. V 7,2–9,22 bzw. 10,2, überlieferten gnostischen Quellenschrift, handelt es sich konkret um die in der Forschungsgeschichte seit langem schon so genannte Naassenerpredigt, auch als Naassenerhomilie oder schlicht als Naassenerschrift bezeichnet. Ihr Thema ist – jedenfalls von den einleitenden Bemerkungen des Hippolyt her gesehen (Ref. V 6,4 f.) – der ›Urmensch ( )‹, weshalb dementsprechend auch die Überschrift Anthropos-Lehrschrift durchaus angemessen ist151. Im Übrigen weisen die unterschiedlichen literarischen Gattungsbezeichnungen ›Predigt‹, ›Homilie‹ oder auch ›Lehrschrift‹ auf den nicht ganz eindeutigen literarischen Charakter dieser Quellenschrift hin. R. Reitzenstein z.B. bezeichnete seinerzeit den »alten Text« als »eine Art exegetische Predigt über ein unlängst im Theater zu Ehren des Attis gesungenes Lied«152, früher noch als »Kommentar oder Paraphrase des den Schluss bildenden Liedes«153. Insgesamt doch wohl ein deutlicher Hinweis darauf, dass eine solche ›Lehrschrift‹ wie die Naassenerschrift – im Sinne jedenfalls der gnostischen Schule der Naassener selbst, wie nicht zuletzt der Naassenerhymnus am Ende der Schrift ausweist – eine durchaus praktisch-religiöse Ausrichtung hatte. Das zweite wesentliche Kennzeichen der bei Hippolyt überlieferten Naassenerpredigt: Als solche ist sie in der bei Hippolyt überlieferten Gestalt ganz eindeutig das Zeugnis einer christlichen bzw. jedenfalls christianisierten Gnosis. Dafür spricht nicht nur – zu Beginn – die Rückführung der in ihr enthaltenen Überlieferungen auf die Traditions- bzw. Sukzessionslinie Jesus – Naassenerberichts; der jetzige Abschluß durch den Jesuspsalm ist so wirkungsvoll, daß dies der ursprüngliche Abschluß dieses Teils des Sonderguts sein muß, wie er Hippolyt in der Bearbeitung durch den Redaktor vorlag«. 150 So J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 2. Vgl. auch ebd., S. 11 f.: »Ein Synkretismus, der nicht mehr zu überbieten ist«. 151 So J. Frickel, ebd., S. 104 ff. und S. 116 ff., der im Blick auf diese »Lehrschrift« von der »praktisch wörtlichen Widergabe einer gnostischen Schrift« spricht. Vom Thema dieser »Lehrschrift« her gesehen, dem Thema des »Urmenschen«, erhält im Übrigen auch der Grundsatz der Naassener, das die »Erkenntnis des Menschen« zugleich der »Anfang der Erkenntnis Gottes« sei (Ref. V 6,3; vgl. X 9,2) seinen eigenen Akzent: Es geht hier nicht lediglich um »Selbst-Erkenntnis«, sondern um die Erkenntnis des »Urmenschen«. Dazu im Einzelnen auch H.-M. Schenke, Der Gott ›Mensch‹ in der Gnosis, S. 57 ff. 152 R. Reitzenstein, Studien zum antiken Synkretismus, S. 106. 153 R. Reitzenstein, Poimandres, S. 98. Bemerkenswert für die jüngere Forschung ist auch die Auffassung, dass die Naassenerpredigt eine Art ›Missionsrede‹ ist, die als solche zeigt, »dass die Gnosis eine missionierende Religion« ist. So K. Rudolph, Die Gnosis, S. 233.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Herrenbruder Jakobus – Mariamne (Ref. V 7,1); dafür sprechen auch Zwischenbemerkungen wie z.B. Ref. V 9,22, in denen das Selbstverständnis – und Selbstbewusstsein! – der Gnostiker als der ›Pneumatiker‹ und ›wahren Christen‹ zum Ausdruck kommt, vor allem aber die die ganze Quellenschrift durchziehenden Zitate aus dem (Alten und) Neuen Testament sowie – am Ende schließlich – der sog. Naassenerhymnus (Ref. V 10,2) mit seiner ausdrücklichen Bezugnahme auf Jesus als den vom jenseitigen ›Vater‹ gesandten Helfer und Erlöser154. Verbinden sich nun aber damit zugleich die zahlreichen Zitate aus der griechisch-hellenistischen Literatur (u.a. aus Homer und Heraklit!) und Mythologie, insbesondere zwei Attis-Hymnen (Ref. V 9,8 f.) sowie die Anspielung auf die Isis-Mysterien in Ref. V 7,22 f., so kann die Naassenerschrift – von daher gesehen – nicht nur als ein Paradigma für den allgemeinen kaiserzeitlichen Synkretismus betrachtet werden, sondern insbesondere auch als der »vielleicht eindeutigste Beweis für den Einfluss der Mysterienreligionen auf die Entwicklung des Gnostizismus«155. Besondere Bedeutung dabei kommt gewiss den Attis-Hymnen in Ref. V 9,8 f. zu, die ja auch den Anlass gegeben haben, die Naassenerschrift insgesamt als eine Art Kommentar oder Paraphrase zum Attis-Hymnus zu kennzeichnen156. Schon von daher gesehen erweist sich die Naassenerschrift als ein höchst komplexes Gebilde – was im Übrigen keineswegs ausschließt, dass der von Hippolyt überlieferte Text »in seiner Gesamtheit … eine so gewollte gnostische Komposition und nicht eine (mehr oder weniger willkürliche) Auswahl Hippolyts« ist157. Andererseits ist es nun aber gerade dieser komplexvielschichtige Charakter des bei Hippolyt überlieferten Textes, der darauf hinweist, dass der hier vorliegende Textzusammenhang seinerseits bereits eine Geschichte hinter sich hat, und zwar sowohl in literarischer als auch in doktrineller Hinsicht. Und das heißt: Dieser Text fordert zu einer Rekonstruktion des Urtextes geradezu heraus158. Im Zusammenhang der Frage nach einer vor- oder doch jedenfalls nicht-christlichen Gnosis gesehen, stellt sich so vor allem die Frage, ob der überlieferte Text vielleicht Signale – sachlicher oder auch literarkritischer Art – enthält, die eben auf eine – wenn schon nicht vor-christliche, so doch wenigstens – nicht-christliche Vorlage 154 Vgl. J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 4: »Das Zeugnis einer (bereits) verchristlichten Gnosis des 2. Jahrhunderts«. 155 So R. McL. Wilson, in: TRE 13, S. 544; vgl. auch H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 350: Die Naassenerschrift als Paradigma für die »Gnostisierung der spätantiken Mysterientradition«. 156 So bereits R. Reitzenstein, Poimandres, S. 98, sowie jetzt auch J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 10: »Kernstück« des Naassenerberichts ist der Kommentar zu dem Ref. V 9,8 bzw. V 7,9 b–9,7 zitierten Attishymnus. 157 So J. Frickel, Naassener oder Valentinianer? S. 96. 158 Wenn es zutrifft, dass »die von Hippolyt überlieferte Naassenerschrift tatsächlich eine doktrinelle und damit auch eine literarische Entwicklung durchgemacht hat, dann kann es prinzipiell nicht unmöglich sein, die verschiedenen Schichten dieser Entwicklung zu bestimmen …«. So J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 6.

3.2 Der Quellenbefund

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hinweisen, damit zugleich wiederum auf das Phänomen einer sekundären Christianisierung bzw. Gnostisierung einer ursprünglich rein heidnischen Vorlage bzw. Überlieferungsstufe. Was zunächst die letztgenannte Fragestellung betrifft, so ist in dieser Hinsicht der erste Versuch in der neueren Forschungsgeschichte R. Reitzenstein zu verdanken, und zwar in seinen »Studien zur griechisch-ägyptischen und frühchristlichen Literatur« unter dem Titel ›Poimandres‹159. Im Zusammenhang seiner Zielstellung, »den hellenistischen Mythus vom Gotte zu finden« (Poimandres, S. 81), vertrat er die Auffassung, »dass sich in der von Hippolyt benutzten Hauptschrift der Naassener die christlichen Zitate und Gedanken leicht ausscheiden lassen, und dass wir einen allerdings stark verkürzten heidnischen Traktat übrig behalten«160. Dieser ›heidnische‹ Traktat ist – nach Reitzensteins Rekonstruktionsversuch – jedenfalls in seinem zweiten Teil (Poimandres, S. 92 ff. = §§ 20 ff.) eben jener ›Kommentar‹ bzw. jene ›Paraphrase‹ zu dem den Abschluss der Naassenerschrift bildenden Attis-Hymnus161. Im Ergebnis heißt das: Die dem Hippolyt vorliegende und von ihm übernommene Naassenerschrift stellt ihrerseits bereits eine christliche Überarbeitung bzw. eine sekundäre Christianisierung einer ursprünglich rein heidnischen Grundschrift – und das heißt zugleich: eines »ursprünglich heidnischen oder besser nichtchristlichen Kommentars des synkretistischen Attishymnus« dar162. Der Haupteinwand gegen diesen Rekonstruktionsversuch dürfte die Frage sein, ob es tatsächlich angängig ist, dieses Ergebnis einfach vermittels einer Streichung sämtlicher Zitate aus dem Neuen Testament zu erzielen.163 So ist im Zusammenhang dieser Fragestellung bzw. Verfahrensweise gewiss zuzugestehen, dass eine ganze Reihe der in der Naassenerschrift angeführten Zitate aus dem Neuen Testament schon durch die Art ihrer Einführung vermittels einer ›Deuteformel‹ ( o.ä.) von vornherein eher den Eindruck einer (sekundären) Interpolation (und Interpretation!) in einen ursprünglichen Zusammenhang erwecken164; andererseits gibt es aber auch wiederum eine Reihe von neutestamentlichen Zitaten, die als solche durchaus in ihren gegenwärtigen Kontext integriert sind165. So gesehen sind jene Zitate offensichtlich nicht lediglich im Grunde austauschbare Versatzstücke eines nachträglich 159

Hier S. 81 ff. Poimandres, S. 81 f.; vgl. ebd., S. 82 f.: »Was uns vorliegt, ist nach meiner Behauptung ein heidnischer Text mit gnostisch-christlichen Scholien«. Zu dessen Rekonstruktion: ebd., S. 83–96. 161 So in: Poimandres, S. 98. Vgl. auch ebd., S. 101: »Es ist eine Rede, eine Predigt, wenn man will, die von Anfang an auf das Lied zu(lenkt)«. 162 So J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 4 f. 163 Vgl. hierzu die entsprechende Verfahrensweise von R. Reitzenstein, Studien zum antiken Synkretismus, S. 105: »Hippolyt bietet einen alten Text, der in der unsinnigsten Weise durch Zusätze aus den Neuen und zum Teil auch aus dem Alten Testament entstellt ist. Die Zusätze aus dem Neuen Testament kann man überall fortschneiden, ja muss sie, um überhaupt Sinn und Zusammenhang zu erhalten, fortschneiden; eine nachträgliche Christianisierung hat also stattgefunden«. 164 Vgl. z.B. Joh 2,1 ff. in Ref. V 8,7 f.; Joh 6,53 in Ref. V 8,11; Joh 10,9 in Ref. V 8,20; Joh. 4,10 in Ref. V 9,18, insbesondere auch Röm 1,10 ff. in Ref. V 7,16 f. usw. Zum Stichwort ›Deuteformel‹ vgl. J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 14, sowie zur Sache: L. Abramowski, Drei christologische Untersuchungen, S. 29–31. 165 Vgl. Eph 3,15 in Ref. V 7,7; Phil 3,10 in Ref. V 7,11; Luk 17,20 f. in Ref. V 7,20 f. (mit anschließendem Zitat aus dem gnostischen Thomasevangelium). 160

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

konstruierten ›Schriftbeweises‹! Zudem ist zu berücksichtigen, dass R. Reitzenstein selbst seine zuerst im ›Poimandres‹ vom Jahr 1904 geäußerte Auffassung von den biblischen Zitaten im überlieferten Text der Naassenerschrift – und damit auch seine ursprüngliche Auffassung vom ›rein heidnischen‹ Charakter der Naassenerschrift – insofern geändert bzw. relativiert hat, als er später in seinen (zusammen mit H.H. Schaeder herausgegebenen) »Studien zum antiken Synkretismus aus Iran und Griechenland« vom Jahr 1926 angesichts der von ihm inzwischen vorausgesetzten »Beteiligung hellenistisch gebildeter Juden an der synkretistischen Literatur des Heidentums« zugestand, dass wenigstens die in der Naassenerschrift in ihrer überlieferten Gestalt enthaltenen Zitate aus dem Alten Testament »schon der Urform dieser Schrift angehörten«166. Dementsprechend wäre im Sinne Reitzensteins durchaus von einer »hellenistisch-jüdische(n) Naassenerpredigt« zu sprechen167. Könnte und sollte nun aber nicht das, was für die (zum Teil auch durchaus formelhaft eingeführten!) Zitate aus dem Alten Testament gilt, nicht ebenso auch für die Zitate aus dem Neuen Testament gelten – zumindest für diejenigen, die – wie oben bereits vermerkt – jeweils in ihren Kontext integriert sind? Mit Recht ist jedenfalls in der Kritik an der Position von R. Reitzenstein in dieser speziellen, für die Gesamtbeurteilung der Naassenerschrift jedoch nicht unwichtigen Hinsicht darauf hingewiesen worden, dass ›die christlichen Zitate‹ in der Naassenerschrift – zu einem Teil wenigstens – durchaus »auf derselben Ebene wie die alttestamentlichen« liegen und deshalb – auch wenn sie nicht »zu dem ursprünglichen Bestand der von jenen Exzerpten Hippolyts dargebotenen philosophischen Predigt« gehören168 – doch jedenfalls auf eine sehr frühe Redaktionsstufe der Naassenerschrift zurückgehen.

Was somit die Rekonstruktion einer Urschrift der von Hippolyt in seiner Refutatio überlieferten Naassenerschrift betrifft, so ist das bisher in dieser Hinsicht erzielte Ergebnis keineswegs so eindeutig wie man sich es wünschen möchte. Dies gilt am Ende auch für die zuletzt von J. Frickel unter der Überschrift »Hellenistische Erlösung in christlicher Sicht« vorgelegte Strukturanalyse, die auch ihrerseits – wie ihr Autor in seinem Vorwort (S. III ) betont – »nicht den Anspruch auf Endgültigkeit« erhebt. Zwar ist ein gewisses Wachstum dieser Naassenerschrift im Verlauf ihrer Überlieferung und ihrer redaktionellen Bearbeitung bis hin zu ihrer von Hippolyt zitierten Gestalt durchaus anzunehmen bzw. vorauszusetzen, endgültige Resultate lassen sich hier jedoch offensichtlich nicht erreichen. Auch nicht im Falle der von J. Frickel auf Grund seiner Strukturanalyse vermuteten zwei Redaktionsstufen eines Anthropos-Gnostikers sowie eines Pneuma-Gnostikers, wobei im Übrigen auch hier wieder – als Grundlage bzw. Ausgangspunkt für jene 166 R. Reitzenstein, Studien zum antiken Synkretismus, S. 105 f.; ders. Die hellenistischen Mysterienreligionen, S. 152 f. 167 R. Reitzenstein, Die Hellenistischen Mysterienreligionen, S. 273; ebd., S. 12: »ein völlig hellenisierter Orientale« habe die Naassenerpredigt »für eine phrygisch-jüdische Gemeinde« verfasst. Ähnlich auch noch H.-M. Schenke, Der Gott ›Mensch‹ in der Gnosis, S. 58–60. 168 So H. Schlier, Der Mensch im Gnostizismus, S. 61, Anm. 2. Zur Kritik an der Position von R. Reitzenstein vgl. bereits W. Bousset, Hauptprobleme der Gnosis; S. 183 f., sowie J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 4 f.

3.2 Der Quellenbefund

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beiden Redaktionsstufen – wie einst bei R. Reitzenstein! – eine Urschrift in gestalt eines nichtchristlichen Kommentars zum Attis-Hymnus vorausgesetzt wird169. Gleichwohl: Wie immer man auch zur Frage einer heidnischen oder auch hellenistisch-jüdischen Urschrift der Naassenerschrift des Hippolyt stehen mag – eindeutig bei alledem ist doch wohl so etwas wie eine (zunehmende) christlich-gnostische redaktionelle Überarbeitung jener ›Urschrift‹, und zwar nicht nur im Sinne des weiteren Zuwachses von neutestamentlichen Zitaten, sondern auch bis hin zu spezifisch christlich-gnostischen Einlassungen wie – z.B. – in Ref. V 9,21: , , . Insgesamt also bezeugt gerade auch die Naassenerschrift des Hippolyt den Prozess einer fortschreitenden Verchristlichung, die – in ihrem Zusammenhang bzw. in ihrem Kontext innerhalb der Naassenerschrift gesehen – faktisch zugleich eine Gnostisierung der (genuinen) christlichen Tradition bedeutet. Konkret heißt dies: Ebenso wie der synkretistische Charakter der Naassenerschrift immer zugleich Ausdruck des gnostischen Universalismus ist170, so sind auch die Zitate aus dem Neuen Testament im Kontext der gnostischen Naassenerschrift nicht eigentlich Fremdzitate; vielmehr dienen sie in ihrem Kontext einer Interpretatio gnostica, und dies im Grunde ebenso wie die in die Naassenerschrift hineingenommenen Zitate aus der griechischhellenistischen Philosophie und Mythologie171. Die neutestamentlichen Zitate in der Naassenerschrift stehen in diesem Kontext – also nicht mehr für ›genuin Christliches‹, sondern – indem sie jeweils ganz in das gnostische Rahmenkonzept einbezogen worden sind – für genuin gnostische Sachverhalte! Paradigmatisch dafür ist nicht nur die (redaktionelle) Einbeziehung der einzelnen neutestamentlichen Zitate in ihrem gnostischen Kontext, und zwar im Sinne einer Gnostisierung der ursprünglich christlichen Tradition, sondern insbesondere auch der die Naassenerschrift (in ihrer dem Hippolyt vorliegenden Gestalt!) abschließende sog. Naassenerhymnus bzw. Naassenerpsalm. Was zunächst die Zitate aus dem Neuen Testament betrifft, so seien hier zur Illustration jenes Sachverhalts einer Interpretatio gnostica nur auf einige wenige Beispiele hingewiesen, so auf das Zitat aus dem Epheserbrief (3,15) in Ref. V 7,7, das an dieser Stelle ganz in die gnostische Lehre vom Urmenschen hineingenommen ist. Noch deutlicher ist die Gnostisierung eines genuin christlichen Sachverhalts in Ref. V 7,15, wo die Rede vom in Eph 2,15 bzw. 4,24 in einen Zusammenhang mit der Verstümmelung des Attis gebracht und dann wiederum der gnostischen Vorstellung vom (mann-weiblichen) Urmenschen zugeordnet wird. Zu 169 Zur redaktionellen Bearbeitung des ursprünglich heidnischen Kommentars vgl. J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 64 ff. und S. 116 ff.; ders., Naassener und Valentinianer? S. 96 f. 170 Vgl. M.A. Williams, Rethinking Gnosticism, S. 107. 129, sowie J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 65. 171 Zur Sache vgl. M. Marcovich, Hippolytus Refutatio, S. 107. 129, sowie J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 65.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

verweisen ist hier etwa auch auf die Anspielung auf Lk 17,21 in Ref. V 7,20 f., der sogleich ein Zitat aus dem gnostischen Thomasevangelium folgt, oder auch auf die Anspielung auf Mk 4,21 bzw. Mt 5,15 in Ref. V 7,28, die wiederum ganz in den gnostischen Kontext integriert ist. Nicht zuletzt in diesem Zusammenhang ist auch das in der gnostischen Literatur – wie auch in den Mysterienreligionen! – weitverbreitete Motiv des ›Weckrufes‹ zu erwähnen, wie es in der Naassenerschrift in Ref. V 7,31–33 vorliegt, und zwar zunächst – charakteristisch für den Synkretismus der Naassenerschrift – mit Bezug auf Homers ›Odyssee‹ ( , 2–4): , sodann aber auch mit ausdrücklichem Bezug auf den ›Weckruf‹ von Eph 5,14: , , (mit folgendem Zitat von Eph 5,14). Die angesichts dessen naheliegende Frage, ob nun dieser ›Weckruf‹ eher von der Gnosis oder von den Mysterienreligionen her zu verstehen sei, kann – zumindest in dieser Hinsicht – gewiss nicht im Sinne einer Alternative beantwortet werden, zumal ja gerade die Naassenerschrift insgesamt – bei aller notwendigen grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Gnosis einerseits, Mysterienreligionen andererseits172 – auf ihre Weise die gleichwohl zwischen Gnosis und Mysterienreligionen bestehenden Beziehungen demonstriert173. Und schließlich: Es ist von vornherein zu erwarten, dass für die Gnostiker in den Gleichnissen des Neuen Testaments ein besonders geeigneter Anknüpfungspunkt für die eigene – gnostische – Grundkonzeption gegeben war. Dies gilt auch für die Naassenerschrift, so z.B. für die gnostische Rezeption des Gleichnisses vom ›Senfkorn‹ (Mk 4,31 f.) in Ref. V 9,5 f., an dieser Stelle im Übrigen in einem Zitat aus einer weiteren gnostischen Originalschrift, der sog. , die ansonsten bei Hippolyt im folgenden Buch seiner Refutatio (VI ) mit dem Magier Simon in Verbindung gebracht wird: Hier also, in einem gnostischen Kontext, wird nunmehr das ›Senfkorn‹ aus dem neutestamentlichen Gleichnis auf das Wachstum des göttlichen Samens im Menschen bezogen: »Dieser ist das Himmelreich, das Senfkorn, der unteilbare Punkt ( ), der im Körper ist, den niemand kennt als der Pneumatiker allein«174.

Ganz in diesem Sinne liegt in den hier kurz besprochenen Textbeispielen nichts anderes als eine vollständige Einbeziehung der genuin christlichen bzw. neutestamentlichen Tradition in ein vorgegebenes gnostisches Rahmenkonzept vor. Grundsätzlich in derselben Weise – wenn auch nicht formal auf christlich-neutestamentliches Traditionsgut zurückgreifend – gilt dies nun aber auch für den die Naassenerschrift abschließenden Naassenerhymnus 172 Dazu vgl. K.-W. Tröger, Mysterienglaube und Gnosis in Corp. Herm. XIII , S. V: »Deshalb habe ich an dieser Schrift, einem Musterbeispiel für die Berührung von Mysterienglaube und Gnosis, zu zeigen versucht, dass beide Religionen Phänomene sui generis sind«; zum einzelnen in dieser Hinsicht: ebd., S. 166 ff., bes. S. 169 f. 173 Vgl. dazu P. Pokorný, Der Epheserbrief und die Gnosis, S. 54. 94 f. sowie S. 119 f. Zur Sache vgl. G. McRae, Sleep and Awakening in Gnostic Texts, S. 503 f. 174 Zur Bedeutung der sog. »Himmelreichsgleichnisse« des Neuen Testaments in der Gnosis vgl. J. Frickel, Naassener oder Valentinianer?, S. 109 ff., hier bes. S. 110 f.: »Von diesen Himmelreichbildern scheint das Gleichnis vom ›Senfkorn‹ das am besten geeignete zu sein, um das Wachsen des göttlichen Samens im Menschen zu veranschaulichen«: »Die Entsprechung zwischen dem Punkt der Apophasis und dem synoptischen Himmelreichsgleichnis ist so gelungen, dass man sich unwillkürlich fragt, ob hier nicht der eigentliche Sitz im Leben für die gnostische Anwendung der Himmelreichsgleichnisse ist«.

3.2 Der Quellenbefund

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bzw. Naassenerpsalm in Ref. V 10,2175, und hier vor allem für das in diesem Hymnus bzw. Psalm sich abzeichnende Jesus-Bild. Dabei bedarf es keiner Frage, dass diesem Psalm am Ende der Naassenerschrift nicht nur in formaler, sondern gerade auch in sachlicher Hinsicht ein besonderes Gewicht zukommt: Im Kontext der Naassenerschrift insgesamt gesehen, korrespondiert dieser Psalm mit den eingangs der Naassenerschrift (Ref. V 6,5) erwähnten (wenn auch nicht ausdrücklich zitierten) Hymnen der Naassener und ist schon von daher gesehen als der ursprüngliche Schluss der Naassenerschrift zu betrachten, wie sie dem Hippolyt für sein Referat über die Naassener vorlag176. Insbesondere das Wort , wie es im Psalm selbst benutzt wird (Z. 18), ist offensichtlich zugleich ein Schlüsselwort der hier von Hippolyt benutzten Vorlage: Bereits in Ref. V 9,7 heißt es im Zusammenhang des Kommentars zum Attis-Lied, dass der im Theater das Attis-Lied vortragende Schauspieler – nach der Auffassung der Naassener – »die großen Mysterien besingt« ( )177. Hippolyt hat dies durchaus erkannt, wenn er sich bereits im Prooemium zu seiner Refutatio gezwungen sieht«, ihre, der Häretiker, »unaussprechlichen Geheimnisse« zu enthüllen (Ref., Prooemium § 2: ), und wenn er am Ende der Naassenerschrift, bevor er den diese Schrift abschließenden Naassenerpsalm zitiert (Ref. V 10,1), noch einmal seiner eigenen antignostischen Einstellung zu eben diesem Produkt der gnostischen Irrlehre Ausdruck gibt: Dieser Psalm sei von den Naassenern »schnell hingeschrieben« worden, weil sie meinen (i.S. von »wähnen«!), »durch ihn sich alle ihre Mysterien zuzusingen«, wobei es sich für Hippolyt von selbst versteht, dass diese ›Mysterien‹ der Naassener nichts anderes als »Geheimnisse 178. Dieses harsche Urteil schließt des Irrtums« sind: keineswegs aus, dass es sich bei diesem Psalm selbst im Rahmen der dem Hippolyt vorliegenden Naassenerschrift nicht lediglich um einen formalen Abschluss, sondern um einen – unter der Voraussetzung jedenfalls eines genuin gnostischen Weltempfindens! – auch menschlich anrührenden Höhepunkt der ganzen Naassenerschrift handelt.

175 Dazu im Einzelnen: B. Herzhoff, Zwei gnostische Psalmen, S. 78–142; A. Kehl, Beiträge zum Verständnis einiger gnostischer und frühchristlicher Psalmen, S. 95–101; M. Marcovich, The Naassene Psalm in Hippolytus (Haer. 5.10.2.), S. 80–88. 176 Es ist also nicht erst Hippolyt selbst gewesen, der diesen Psalm aus einer anderen gnostischen Quelle übernommen und an dieser Stelle platziert hat. So R. Reitzenstein u.a.; kritisch dazu J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 16 f. und S. 120. – Zum Nachweis des naassenischen Charakters des Psalms vgl. M. Marcovich, The Naassene Psalm in Hippolytus, S. 775–778. 177 Zur Stelle vgl. J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 206 f. 178 Im Übrigen zeigt der Gebrauch von in der Naassenerschrift insgesamt sehr deutlich die Beziehung zur Sprache der Mysterienreligionen: vgl. Ref. V 7,1. 20. 27; 8,9. 39. 42–44 (hier mit ausdrücklicher Beziehung auf die Eleusinischen Mysterien); V 9,7.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Was den Psalm im Einzelnen betrifft, so ist hier – da sein Sach- und Sinnzusammenhang ohnehin deutlich ist – auf die bei Hippolyt vorliegende Textgestalt (und die hier eventuell notwendigen Konjekturen) nicht einzugehen179. In sachlicher Hinsicht sind zunächst – auch angesichts seiner Eigenaussage – die vielfältigen Beziehungen zur vorangehenden Naassenerschrift hervorzuheben, die es zugleich unwahrscheinlich machen, diesen Psalm – im Unterschied zur Naassenerschrift – als einen Text der valentinianischen Gnosis auszuweisen180. Deutliche Beziehungen zur vorangehenden Naassenerschrift zeigen sich jedenfalls bereits im Blick auf die am Anfang des Psalms stehende Grundsatzerklärung über die drei Prinzipien ›Nous‹ – ›Chaos‹ – ›Psyche‹ (Z. 1–3). Grundsätzlich entspricht sie der in der Naassenerschrift auch sonst bezeugten Drei-Prinzipien- Lehre der Naassener181, und zwar gerade auch in einer Version, die – ebenso wie im Psalm – eine anthropologische Ausrichtung auf die Psyche (Z. 3) erkennen lässt182. Damit ist hier, am Beginn des Psalms (Z. 1–3), schon deutlich, dass die im Rahmen der gnostischen Drei-Prinzipien-Lehre erörterten Fragen der Kosmologie bzw. Kosmogonie ihrerseits auf die für die Gnosis eigentlich entscheidenden Grundfragen der Anthropologie (und Soteriologie) ausgerichtet sind183. Konkret heißt das: Im Zentrum der Betrachtung steht hier zunächst (Z. 4–9) die bildreiche Schilderung des Schicksals der , genauer: ihre ausweglose Verstrickung in das ›ausgeschüttete Chaos‹. Zwar gibt es zu den hier ausführlich beschriebenen Widerfahrnissen der Analogien in der Naassenerschrift selbst184, darüber hinaus im Übrigen auch in anderen gnostischen Gruppen und Schulen185; in dieser Gestalt jedoch bietet der Naassenerpsalm jenes gemein-gnostische Phänomen ohne Frage in einer besonders eindrücklichen Weise dar. Im Kontext des Psalms insgesamt handelt es sich dabei freilich nur um die Voraussetzung bzw. Bedingung für die in Z. 10 ff. beschriebene Intervention Jesu beim ›Vater‹ zugunsten der ›Seele‹, jener ›Seele‹ nämlich, die – wie es in Z. 11 drastisch heißt – als ein , d.h.: als ein Gegenstand der Begierde der bösen Mächte, mangels des entsprechenden Wissens dem ›bitteren Chaos‹ aus eigenem Vermögen nicht zu entkommen vermag (Z. 13: 179 Zugrunde liegt im Folgenden der von M. Marcovich, Hippolytus Refutatio (PTS 25) hergestellte Text. Zur Textkritik: ebd., S. 171 f. 180 So das Ergebnis der Analyse von B. Herzhoff, Zwei gnostische Psalmen, S. 122 ff. und S. 129–140. 181 Vgl. bes. die Trias – – und dazu: H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 343, Anm. 1. In anthropologischer Hinsicht vgl. die Trias in Ref. V 8,1 f., hier mit ausdrücklicher Abgrenzung gegenüber einer Ein-Prinzipien-Lehre. Auch im Rahmen seiner ›Epitome‹ kommt Hippolyt noch einmal auf die Drei-Prinzipien-Lehre der Naassener zu sprechen: Ref. X 9,1. 182 Vgl. Ref. V 7,7 und 8 f. Zum einzelnen in dieser Hinsicht: Th. Wolbergs, Griechische religiöse Gedichte, S. 45 ff. 183 Dazu grundsätzlich: E. Haenchen, Gab es eine vorchristliche Gnosis? S. 268 f.: »Das eigentliche Interesse unserer Schrift (wie der Gnosis überhaupt) haftet am Menschen und seinem Heil. Was an Kosmologischem einfließt, dient mehr zur Bestätigung der Anthropologie«. 184 Zu Z. 4 ff. des Psalms vgl. etwa Ref. V 7,8 f., hier mit Verweis auf ein gnostisches Ägypterevangelium. Dazu im Einzelnen: Th. Wolbergs, Griechische religiöse Gedichte, S. 45 ff. 185 Für die Sethianer vgl. Hippolyt, Ref. V 19,16 f.; für die Valentinianer die entsprechenden Ausführungen über das Schicksal der gefallenen Achamot bei Irenäus, Adv. Haer. I 4,1 f., hier besonders (4,2) mit der auch für den Naassenerpsalm charakteristischen Dialektik von Trauern und Lachen, Weinen und Fröhlichsein. – Für die Schriften von Nag Hammadi ist hierzu besonders auf den Athentikos Logos (NHC VI /3) zu verwiesen, hier p. 27,6 ff. und p. 29,3 ff.

3.2 Der Quellenbefund

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). Deswegen also nunmehr die Intervention (Z. 10) bzw. – Z. 15 – die Bitte 186 Jesu an den ›Vater‹ um seine Sendung: , . Es bedarf keiner Frage, dass auf diesem mit den genannten Aktivitäten Jesu beginnenden Teil (Z. 10 ff. bzw. Z. 15 ff.) der Hauptakzent des ganzen Psalms liegt: Hier kommt nun endlich – nach aller eindringlichen Schilderung der ausweglosen Situation der ›Seele‹ – sehr konkret (Z. 16 ff.!) das Thema der Soteriologie zum Tragen, und zwar in der Zuordnung zu dem – betont am Schluss des Psalms stehenden! – Stichwort der ›Gnosis‹ (Z. 21: ): Jesus also als der Bringer bzw. Vermittler der das Heil stiftenden ›Erkenntnis‹! Schon von daher (Z. 20 f.) gesehen liegt es nahe, dass die nähere Beschreibung der Heilssendung Jesu in den Z. 16–20/21 nicht lediglich eine mehr oder weniger zufällige Aufzählung unterschiedlicher Aspekte des Heilswirkens Jesu darstellt, sondern vielmehr durch einen (relativ!) einheitlichen Motivzusammenhang bestimmt ist. Konkret heißt das: Es geht in der Aufzählung der Z. 16 ff. um das Grundmotiv des ›Abstiegs‹ Jesu durch die Welt(en) der ›Äonen‹ (Z. 17) und der ›Götter‹ (Z. 19) – und im Zusammenhang damit um die Erschließung der (diesen ›Abstieg‹ überhaupt erst ermöglichenden) ›Siegel‹ (Z. 16: )187, um die Eröffnung aller ›Mysterien‹, die mit diesem ›Abstieg‹ (und auch wiederum mit dem ›Aufstieg‹!) verbunden sind (Z. 18: ), um die ›Übergabe‹ (Z. 21: ) bzw. die Vermittlung dessen, was den ›heiligen Weg‹ für die ›Seele‹ bisher ›verborgen‹ erscheinen ließ (Z. 20: ). Das Stichwort hat hier also – im Zusammenhang mit den vorangehenden Zeilen (Z. 16 ff.) gesehen – einen sehr konkreten, präzisen Sinn: ›Gnosis‹ im Sinne des Naassenerpsalms hat die Kenntnis der ›Siegel‹ (usw.) zur Voraussetzung, damit zugleich auch die Kenntnis der ›Mysterien‹ (Z. 18: geheimer Formeln?) hinsichtlich der ›Gestalten der Götter‹ (Z. 19), Kenntnis also jener ›Mächte und Gewalten‹, die sich der ›Seele‹ auf ihrem ›heiligen Weg‹ in den Weg stellen … Alles in allem: Das, was der ›Seele‹ bisher ›verborgen‹ war, was sie am Aufstieg aus der Welt des Chaos hinderte (Z. 14: ), ist ihr nunmehr offenbar geworden: sie kennt nunmehr – infolge der Sendung Jesu durch den ›Vater‹- das, was ihr bisher in Bezug auf den ›heiligen Weg‹ verborgen war (Z. 20) – mit der Konsequenz, dass ihr die ›Übergabe‹ der Aufstieg aus ihrer – bisher – ausweglosen Verstrickung ins Chaos eröffnet. Jesu , sein Weg ›durch die Äonen hindurch‹ (Z. 17), schafft den Grund für die der ›Seele‹, für ihren

186 Zum Motiv der ›Sendung durch den Vater‹ vgl. auch (für Basilides bzw. die Basilidianer) Irenäus, Adv. Haer. I 24,4. 187 ›Siegel‹ (Z. 16) steht hier konkret für eine magische Formel bzw. im Sinn einer Art ›Pass‹, mit dessen Hilfe der Aufstieg der ›Seele‹ durch die Welt der ›Äonen‹ ermöglicht wird. Zu diesem Verständnis von ›Siegel‹ ( ) vgl. auch den entsprechenden Sachverhalt in den spätgnostischen ›Büchern Jeu‹ (hrsg. bzw. übersetzt von C. Schmidt/W. Till, Koptisch-gnostische Schriften I), hier Kap. 33 ff. – Auch auf die sog. ›Archonten-Formel‹ im Ophiten-Referat des Origenes, c. Cels. VI 31 sowie auf Epiphanius, Haer. 40,2,8 ist in diesem Zusammenhang zu verweisen. In diesem Sinne sind die ›Äonen‹ in Z. 17 des Naassenerpsalms sowie die ›Götter‹ in Z. 18 als personifizierte dämonische Mächte zu verstehen, die die ›Seele‹ an ihrem Aufstieg aus dem Chaos der Welt hindern wollen: »Hier ist das Siegel als eine Art Pass gedacht, durch den der Durchgang durch die Welt der Äonen erzwungen wird«: so bereits W. Bousset, Hauptprobleme der Gnosis, S. 288, Anm. 3.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Weg aus dem Chaos. Also: , ›Erkenntnis‹, ist hier in der Tat – und somit selbst ›Heilsweg‹188. So gesehen kommt der Gestalt Jesu im Naassenerpsalm offensichtlich eine entscheidende, ja grundlegende soteriologische Bedeutung zu; und: Dieser Psalm ist in seinem Zusammenhang mit der Naassenerpredigt ohne Zweifel das Dokument einer christlichen Gnosis – oder sollte man hier, angesichts der hier vorliegenden spezifisch gnostischen Soteriologie, nicht doch eher von einer (sekundär) christianisierten Gnosis sprechen? Denn, ganz abgesehen von der zwar verschiedentlich erwogenen, jedoch wenig wahrscheinlichen Hypothese, dass im Naassenerpsalm Gestalt und Namen Jesu erst sekundär an die Stelle einer »ursprünglich dort genannten (gnostischen) Gottheit« oder Erlösergestalt eingetragen worden sind189 – sekundäre Christianisierung würde im hier vorliegenden Fall doch wohl eher heißen, dass die soteriologische Funktion Jesu ganz in einem für die Gnosis charakteristischen Sinn gestaltet und beschrieben wird. Konkret heißt dies: Von einer ursprünglich bzw. spezifisch christlichen Bezeichnung und Beschreibung der Soteriologie ist hier im Grunde nichts mehr zu erkennen. Die Gestalt Jesu hat vielmehr zur Gänze die Funktion einer gnostischen Erlösergestalt übernommen: Jesus als der Vermittler der ›Gnosis‹, als der Wegbereiter für den Aufstieg der ›Seele‹, für die Befreiung der ›Seele‹ aus dem ›bitteren Chaos‹, in das sie einst – durch welche Umstände auch immer – geraten ist bzw. ›geworfen worden ist‹190. Die Gestalt Jesu ist also hier gänzlich in ein genuin gnostisches Bezugs- und Sinnsystem integriert, das seinerseits für eine solche Darstellung der soteriologischen Funktion Jesu gewiss nicht die zeitliche (und damit gegebenenfalls vor-christliche!), wohl aber die logische Voraussetzung erfüllt. Was im Naassenerpsalm vorliegt, ist demnach das Resultat einer Entwicklungsgeschichte, die als solche nicht aus der Geschichte des Christentums selbst zu erklären und zu verstehen ist, sondern viel eher und um vieles wahrscheinlicher aus einer Begegnung von Christentum und Gnosis als zweier grundsätzlich zu unterscheidender religiöser Sinn- und Bezugssysteme mit einem je eigenen bzw. je genuinen Sach- und Sinnzentrum191. Gewiss kann man den hier, im Naassenerpsalm, sich so deutlich abzeichnenden Vorgang unter dem Stichwort eines typisch gnostischen Synkretismus verbuchen: mit einer vordergründigen ›Vermischung‹ ursprünglich differenter Elemente hat dieser Vorgang einer Begegnung von ›Christentum‹ und ›Gnosis‹ gewiss nicht zu tun, sondern vielmehr mit einer eben auch für den Synkretismus der Gnosis charakteristischen Integration ursprünglich nicht-gnostischer Elemente in das eigene gnostische Bezugssystem. In diesem Sinne hat die Kennzeichnung der soteriologischen Funktion Jesu im Naassenerpsalm geradezu paradigmatische Bedeutung für die Begegnung der Gnosis mit

188 Angesichts des im Schlussteil des Naassenerpsalms geschilderten Vorgangs ist es unangemessen, darüber zu reflektieren, ob es hier nur um die Mitteilung der Möglichkeit der Befreiung aus dem »bitteren Chaos« geht oder um »geschehende Erlösung«. So G. Bornkamm, in: ThWNT IV, S. 819, Z. 14 ff. 189 So W. Bauer, Der Naassenerpsalm, in: Hennecke-Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen II , S. 575. 190 Dazu im einzelnen H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 123 f. 207, Anm. 1; K. Rudolph, Die Gnosis, S. 166: »Die Erlöserfunktion Christi wird … ganz im gnostischen Geist aufgefasst; er [Christus] gilt als Verkörperung des ›Rufes‹ und als ›Befreier‹ der Seele«. 191 Dazu des Näheren Kap. 3 (Schluss).

3.2 Der Quellenbefund

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dem frühen Christentum, und zwar hier (noch) ganz unabhängig von der Frage nach einer historisch (und chronologisch) aufweisbaren vorchristlichen Gnosis.

Diesen Zusammenhang zur ›Great Discovery‹ des Hippolyt abschließend ist in der hier gebotenen Kürze noch auf eine weitere gnostische Quellenschrift einzugehen, die Hippolyt – bemerkenswerter weise – bereits in seinem Naassener-Referat zitiert (Ref. V 9,5), um sodann im folgenden 6. Buch seiner Refutatio ausführlich davon Gebrauch zu machen (VI 9,4; 14,4.6; 17,2 f.; 18,2–7). Es handelt sich dabei um die , also um eine Art ›Erklärungs-‹ oder auch ›Offenbarungsschrift‹, die im 6. Buch der Refutatio – darin liegt (auf den ersten Blick jedenfalls!) ihr besonderer Quellenwert! – unmittelbar mit der simonianischen Gnosis bzw. mit Simon in Verbindung gebracht wird, also mit jener eigenartigen – oder besser: rätselhaften – Gestalt, die nach der Auffassung der altkirchlichen Häresiologen die gnostische Häresie zur Zeit der Apostel (Act 8!) überhaupt erst begründet hat192. Mit dieser Apophasis Megale hat es nun freilich seine besondere Bewandtnis, und das heißt: Sogleich zu Beginn ist im Blick auf diese Quellenschrift festzustellen, dass die Geschichte der sie betreffenden Forschung bis zum heutigen Tage keineswegs ein wirklich eindeutiges Ergebnis hinsichtlich ihrer Herkunft erbracht hat193. Eindeutig ist zunächst nur, dass die von Hippolyt zum ersten Mal in seinem Naassener-Referat (Ref. V 9,5) zitierte Apophasis Megale (im Folgenden: AM ) nicht den gesamten Abschnitt Ref. VI 9,3–18,7 umfasst, sondern nur die hier eigens kenntlich gemachten Zitate (VI 9,4 usw.). Aber auch hier ist keineswegs ausgemacht, dass es sich bei ihnen wirklich um wörtliche Zitate aus der ursprünglichen, gegebenenfalls auf Simon selbst bzw. den ›historischen Simon‹ zurückgehenden AM handelt. Konkret stellt sich damit die Frage nach der Vorlage für Hippolyts Referat über den Gnostiker Simon, dessen Häresie Hippolyt – im Unterschied insbesondere zu Irenäus – ja bemerkenswerterweise keineswegs an den Anfang seines Berichtes über die gnostische Häresie gestellt hat194. Genau an dieser Stelle nun, was die Frage 192 S. dazu unten (Exkurs zu ›Simon Magus‹). Zu fragen bleibt nach dem Motiv des Hippolyt, innerhalb seines Naassener-Referat bereits (Ref. V 9,5) aus dieser ansonsten auf Simon zurückgeführten Schrift zu zitieren. Hat er in der Apophasis Megale eine den Naassenern verwandte Grundkonzeption von Gott und Welt gesehen? – so J. Frickel, Unerkannte gnostische Schriften in Hippolyts Refutatio, S. 135; Oder galt dem Hippolyt die Apophasis auch in seinem Naassenerbericht als eine ›Autorität‹? So B. Aland, Gnosis und Philosophie, S. 67, Anm. 126. Denkbar wäre immerhin auch, dass Hippolyt, der offensichtlich bewusst die Naassener an den Anfang seines Referats setzt (Ref. V 2), an dieser Stelle (V 9,5) bereits auf ein, seiner Meinung nach, ursprüngliches Zeugnis der Gnostiker verweisen will. Zur Sache vgl. W. Ullmann, Die Gottesvorstellung der Gnosis, S. 399; M.A. Williams, Rethinking Gnosticism, S. 130. 193 Zur Geschichte der Forschung zur »Apophasis« vgl. K. Rudolph, in: ThR 34 (1969), S. 212 f.; 37 (1972), S. 325–338; 42 (1977), S. 302–310, hier jeweils die Besprechung der einschlägigen Arbeiten von J. Frickel und B. Aland. Besonders hinzuweisen ist auf J. M.A. Salles-Dabadie, Recherches sur Simon le Mage I: L´Apophasis Megalè, Paris 1969 (dazu K. Rudolph, in: ThR 33 [1972], S. 331 ff.). 194 Dies ist umso bemerkenswerter, als Hippolyt sich im Schlussteil seines Berichts über Simon (Ref. VI 19 f.) offensichtlich unmittelbar an Irenäus, Adv. Haer. I 13, anschließt.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

nach der Vorlage für Hippolyts Simon-Referat betrifft, setzen in der neueren Forschungsgeschichte die literarkritischen Untersuchungen ein, die insbesondere mit dem Namen von J. Frickel verbunden sind und – was jedenfalls dessen Grundthese (und deren Begründung!) betrifft – auch weitgehende Zustimmung gefunden haben195: In dem bereits vor Jahrzehnten (1968) erschienenen (1.) Band seines Hauptwerkes, dessen seinerzeit angekündigter 2. Band leider niemals erschienen ist, hat J. Frickel es jedenfalls wahrscheinlich gemacht, dass die Vorlage, nach welcher Hippolyt in seiner Refutatio zitiert, keineswegs die ursprüngliche (und eventuell auf den ›historischen Simon‹ zurückzuführende) AM darstellt, sondern bereits eine Art Kommentar oder – besser noch – eine Paraphrase zur ursprünglichen AM ist196. Dieses heute weithin akzeptierte Ergebnis der Untersuchungen von J. Frickel bedeutet offensichtlich zugleich, dass die von Hippolyt benutzte Vorlage ihrerseits bereits eine längere Interpretations- und Überlieferungsgeschichte hinter sich hat, in deren Verlauf die ursprüngliche AM eine bestimmte – genauer: eine philosophische bzw. philosophierende – Überarbeitung erfahren hat. Daraus wiederum folgt, dass die von Hippolyt benutzte Vorlage der AM gewiss nicht – als Zeugnis gleichsam einer frühen bzw. ursprünglichen Gnosis! – auf den ›historischen Simon‹ zurückgeführt werden kann. So gesehen handelt es sich bei der von Hippolyt benutzten AM um eine relativ späte Schrift der Gnosis, »an der sich« – so B. Aland – »das Verhältnis von Gnosis und Philosophie beispielhaft studieren lässt«197, um eine Schrift, die zugleich aber auch für einen philosophischen ›Synkretismus‹ einer Spätzeit symptomatisch ist, der ursprünglich unterschiedliche philosophische Ansätze und Denkmodelle mit einander zu verbinden sucht. Gleichwohl hat dieses an der AM beispielhaft zu studierende Verfahren nichts mit einer rein vordergründigen ›Vermischung‹ jener unterschiedlichen Ansätze zu tun. Charakteristisch für jene in der AM sich abzeichnende Interpretations- und Redaktionsgeschichte ist vielmehr eine Schrift, bei der man angesichts eines weitgehend zurücktretenden ›antikosmischen Dualismus‹ fragen kann, ob sie – eher einen ›monistischen‹ Ansatz repräsentierend – überhaupt als eine gnostische Schrift zu bezeichnen sei198, der gerade vermittels der Rezeption ursprünglich philosophischer Überlieferungen ein unverwechselbarer gnostischer Stempel aufgedrückt worden ist. Dies gilt – ohne dass nunmehr an dieser Stelle die unterschiedlichen Komponenten jener in der AM rezipierten philosophischen

195 Insbesondere ist hier auf die weitgehende Zustimmung von B. Aland, Die Apophasis Megale und die simonianische Gnosis, zu verweisen. Vgl. auch K. Rudolph, in: ThR 37 (1972), S. 325–38; 42 (1977), S. 302 ff. 196 Zusammenfassend in dieser Hinsicht: J. Frickel, Ein Kriterium zur Quellenscheidung innerhalb der Paraphrase, in: Le Muséon 85 (1972), S. 425–450, hier S. 426: Was bei Hippolyt vorliegt, ist nicht »ein Exzerpt Hippolyts aus einer bisher unbekannten gnostischen Offenbarungsschrift Apophasis Megale …, sondern die (mit polemischen und redaktionellen Zusätzen Hippolyts versehene) vollständige Wiedergabe einer Paraphrase zu dieser Apophasis Megale«. 197 B. Aland, Gnosis und Philosophie, S. 35. Vgl. auch schon E. Haenchen, Simon Magus in der Apostelgeschichte, S. 269: »ein spätes Gebilde, das mühsam sehr verschiedene Denkmodelle zu vereinen sucht«. 198 In diesem Sinne K. Rudolph, Die Gnosis, S. 314, sowie B. Aland, in: ThPh 48 (1973), S. 417 f.; dies., Gnosis und Philosophie, S. 35 f. 58.66.

3.2 Der Quellenbefund

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Überlieferung im Einzelnen zu nennen sind199 – insbesondere im Blick auf den (von B. Aland so genannten) ›Entfaltungs-‹ bzw. ›Ausbildungssatz‹200, mit dem – in Ref. VI 9,6 mit ausdrücklicher Berufung und Platon und Aristoteles! – die philosophischen Kategorien von und bzw. und in den Kontext der Prinzipienlehre der AM eingebracht werden, und zwar nunmehr in der Ausrichtung auf eine spezifisch gnostische Anthropologie (und Soteriologie?): Entscheidend für die gnostisierende Rezeption bestimmter philosophischer Überlieferungen in der AM ist also der von jedem Gnostiker zu gehende bzw. zu verantwortende Schritt von der ›Möglichkeit‹ zur ›Wirklichkeit‹, und zwar im Sinne der ›Ausbildung‹ bzw. ›Entfaltung‹ – von Aristoteles her gesehen kann man gewiss auch sagen: Aktualisierung – der dem Menschen innewohnenden pneumatischen Potenz! Angesichts der Häufigkeit dieses Entfaltungs- bzw. Ausbildungssatzes in der AM – hingewiesen sei hier (neben Ref. VI 9,6) nur auf Ref. VI 10,2; 12,2–4; 14,6; 16,5 f.; 17,1.7; 18,1 ff. und insbesondere auf Ref. VI 14,6201 – kann man hier geradezu von einem pädagogischen Grundanliegen der AM im Blick auf ihre gnostischen Adressaten sprechen! Insgesamt also: Was hier, in der AM , vorliegt, ist gewiss nicht nur eine vordergründige, aus dem Synkretismus der Gnosis zu erklärende philosophische ›Verkleidung‹ eines gnostischen Grundanliegens, sondern primär – was jedenfalls das Anliegen des (ursprünglichen) Autors der AM betrifft – in der Tat eine Rezeption des Erbes der antiken bzw. spätantiken Philosophie zum Zwecke der Einschärfung existentieller gnostischer Grundwahrheiten202. Von solcher Rezeption ist im Übrigen – auch wenn spezifisch christliche Überlieferung in der AM weitgehend zurücktritt – die biblische Überlieferung keineswegs ausgeschlossen: Geradezu paradigmatisch dafür ist die Verbindung einer gnostischen Auslegung der biblischen Urgeschichte, hier insbesondere von Gen 1,2 und 1,26 in Ref. VI 14,4 ff. mit dem bereits genannten Topos der ›Ausbildung‹ bzw. ›Entfaltung‹: »›Bild‹ aber (Gen 1,26) ist der Geist (sc.: von Gen 1,2), der über dem Wasser schwebte; wenn der nicht ausgebildet wird, geht er mit der Welt zugrunde, da er nur der Möglichkeit nach blieb ( ) und nicht in der Wirklichkeit wurde ( )…; wenn er aber ausgebildet wird ( ) und von einem unteilbaren Punkt (aus) entsteht – wie in der geschrieben steht –, dann wird das Kleine groß werden. Das Große aber wird zu einem unermesslichen und unveränderlichen Äon werden – und (so) nicht mehr ins Werden gelangen«. Auf jene Ausbildung also kommt es an, und zwar eben im Sinne des griechischen – wörtlich also: im Sinne des aus dem Bild (in Gen 1,26!) heraus bilden bzw. gestalten! Das Bild aber von Gen 1,26 ist nichts anderes als der Geist Gottes, 199 Dazu bes. B. Aland, Gnosis und Philosophie, S. 66 ff.: Die in der AM vorliegende »Prinzipienlehre« steht ihrerseits im Zusammenhang mit einer »in gnostischen Kreisen des 2. Jh.s weit verbreiteten Neigung zum ›Pythagoreisieren‹«. Vgl. weiter ebd., S. 45 ff., hier mit Verweis auf die pythagoreisch-platonische Literatur der ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte (Moderatus und Numenius), sowie S. 59–61.69 ff.; vgl. auch B. Aland, in: ThPh 48 (1973), S. 418: Die »philosophische Gnosis des Apophasis-Kommentars«. 200 B. Aland, Gnosis und Philosophie, S. 38, spricht sogar von einem »gemeinsamen Grundgedanken« der Zitate aus der AM und Hippolyts Refutatio. Vgl. auch ebd., S. 38 ff. und S. 58 f. 201 Hier im Übrigen mit ausdrücklichem Bezug auf Gen 1,26. 202 Vgl. auch W. Ullmann, Die Gottesvorstellung der Gnosis, S. 394 f.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

der über dem Wasser schwebt (Gen 1,2). Falls diese Ausbildung versäumt wird, so gilt – wie in einem Zwischensatz eingeschoben ist – 1 Kor 11,32, das Verurteilt werden, nämlich mit der Welt203.

Es mag wohl angehen, dass man die AM – was solchen geradezu modelltypischen Umgang mit der biblischen (wie auch mit der philosophischen) Überlieferung betrifft – mit J. Frickel als eine ›Grundschrift der Gnosis‹ bezeichnet204; dies aber auf gar keinen Fall im Sinne eines Ursprungszeugnisses der Gnosis oder als »le temoin d’une gnose archaïque »205. Mit Recht hat K. Rudolph demgegenüber darauf hingewiesen, dass gegen solches Verständnis der AM nicht zuletzt auch die Simon-Tradition bei (dem Apologeten) Justin und Irenäus spricht, die von alledem, was an philosophischer Aufarbeitung der Überlieferung in der AM im Mittelpunkt steht, nichts verrät206. Angesichts der bereits fortgeschrittenen Entwicklung, die in der AM festzustellen ist, kann man diese gnostische Quellenschrift somit nicht unmittelbar auf den ›historischen Simon‹ zurückführen – und schon gar nicht mit W. Schmithals als das Zeugnis einer vorchristlichen Christusgnosis bezeichnen207. Denn: »Die historische Gestalt des Simon ist (hier bereits) verschwunden; er ist nur noch der Offenbarer der «208. Insgesamt also: Die AM als solche, in ihrer bei Hippolyt überlieferten Gestalt, ist zunächst nur das Zeugnis der »spätsimonianischen Schule«209 und führt – so gesehen – nicht auf den ›historischen Simon‹ zurück, sondern bezeichnet allenfalls eine Station in der Entwicklungsgeschichte der simonianischen Schule. Aber auch wenn man voraussetzt, dass die AM später überarbeitet, »wenn nicht erst nach seinem (sc: Simons) Tode unter seinem Namen verfasst« worden ist210, ist das hier anstehende zeitliche und zugleich sachliche Problem mit solcherlei Feststellungen noch keineswegs gelöst! Zumal nach 203 Dazu J. Frickel, Eine neue Deutung von Gen 1,26 in der Gnosis, S. 414: In dieser Auslegung ist von Gen 1,26 »auf das Pneumatische, das in jedem Menschen als Möglichkeit liegt, [zu] beziehen; wird der Mensch, wenn dieses Pneumatische in ihm sich zur Wirklichkeit entfaltet«. Zum einzelnen solcher Rezeption von Gen 1,26 vgl. J. Frickel, ebd., S. 416 ff. 204 So J. Frickel, Die Apophasis Megale, S. 200 ff.; dazu: B. Aland, Gnosis und Philosophie, S. 66. 205 So J. M.A. Salles-Dabadie, Recherches sur Simon le Mage I, S. 333. Kritisch dazu K. Rudolph, in: ThR 37 (1972), S. 331 ff., sowie B. Aland, Gnosis und Philosophie, S. 336 f. 206 Vgl. auch K. Rudolph, in: ThR 37 (1972), S. 323 und S. 338. 207 W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth, S. 32 ff. 208 So E. Haenchen, Gab es eine vorchristliche Gnosis? S. 298. Ähnlich bereits H. Leisegang, Die Gnosis, S. 67 ff. und S. 83: »Der historische Simon, an dessen Existenz nicht gezweifelt werden kann, hat sich in diesen Texten fast ganz verflüchtigt, der Kern seiner Persönlichkeit [sich] zu einem Typus kristallisiert«. 209 So K. Rudolph, Die Gnosis, S. 201; vgl. ebd., S. 313 f.: »… eine Art philosophischspekulativer Auslegung von Sprüchen, die auf ihn zurückgeführt werden, durch seine Schule im 2. Jahrhundert«. Ähnlich die Urteile von R. McL. Wilson, in: TRE 13, S. 544, und A. H. B. Logan, in: TRE 31, S. 275: »eine späte, philosophierende Überarbeitung des Simonianismus«. 210 So bereits A. Hilgenfeld, Die Ketzergeschichte des Urchristentums, S. 459.

3.2 Der Quellenbefund

117

antikem bzw. – besser – spätantikem Verständnis steht ja im Zusammenhang mit der Grundfrage aller spätantiken (und somit auch der neutestamentlichen) Pseudepigraphie die Rezeption eines ›Heros‹ bzw. – im Falle des Simon – eines Schulbegründers (o.ä.) in der ›Urzeit‹ ja keineswegs außerhalb der Kontinuität zu dieser ›Urzeit‹ – in diesem Falle also der Kontinuität zur Gestalt des Simon als des Begründers der simonianischen Schule bzw. der simonianischen Gnosis211. Die ›Fortschreibung‹ einer – wie auch immer gearteten – ›Urschrift‹ in Entsprechung zur jeweils neuen Situation schließt jedenfalls auch in diesem Falle eine ›spekulative‹ Fortschreibung unter Zuhilfenahme der philosophischen Tradition keineswegs aus, zumal dann, wenn – wie in diesem Falle – mit dem bereits in der lukanischen ›Apostelgeschichte‹ auftauchenden Motiv der (Apg 8,10) zumindest ein Ansatzpunkt gegeben ist, die an sich eindeutig spätere Identifizierung des Simon mit der höchsten Gottheit auf den ›historischen Simon‹ zurückzuführen212. Kennzeichnend für den in dieser Hinsicht bestehenden Zusammenhang zwischen dem ›Simon‹ der AM einerseits und der nachweislich ältesten Nachricht über den ›historischen Simon‹ in Apg 8 andererseits ist jedenfalls, dass die AM ihrerseits ganz offensichtlich ausdrücklich auf jenes Motiv der ›Großen Kraft‹ von Apg 8,10 zurückgeht. So gesehen ist an dieser Stelle – zumal im Rahmen der Frage nach einer vor- bzw. außerchristlichen Gnosis – die Notwendigkeit gegeben, diesen – zunächst das entsprechende Zeugnis der altkirchlichen Häresiologen betreffenden – Zusammenhang abschließend die Frage nach dem historischen Simon zu stellen:

Exkurs: ›Simon Magus‹ oder ›Simon Gnosticus‹?213 Im Zusammenhang der Frage nach einer vor- bzw. außerchristlichen Gnosis kommt der Frage nach Simon Magus als Begründer der gnostischen Häresie zweifellos besondere Bedeutung zu, und dies zumal dann, wenn man – zunächst – dem Zeugnis einiger altkirchlicher Häresiologen folgt, wonach Simon – so z.B. Eusebius von Caesarea (h.e. II 13,6, hier mit Berufung auf Irenäus) – nicht weniger als der gewesen ist: Also nicht nur im chronologischen Sinn der ›Anfänger‹ dieser Bewegung, sondern auch deren Begründer214.

211 Zur Frage der Pseudepigraphie in diesem Sinne: N. Brox, Falsche Verfasserangaben, S. 49 ff. 212 Vgl. entsprechend die Bezugnahme auf diese in Hippolyt, Refutatio V 9,5; VI 9,4; VI 13 und 18,3. 213 Zur Forschungsgeschichte: W.A. Meeks, Simon Magus in Recent Research, S. 137–142; K. Rudolph, Simon Magus oder Gnosticus? S. 279–359; K. Beyschlag, Simon Magus und die christliche Gnosis, S. 79–98 214 H.e. IV 7,1–2 gilt dem Eusebius dann freilich schlicht der ›Teufel‹ als der Urheber aller Häresie. Vgl. K. Rudolph, Die Gnosis, S. 291 f.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Diese Position ist bei den altkirchlichen Häresiologen zwar vielfach bezeugt215, doch bedarf es hier gleichwohl einer gewissen Differenzierung: So nennt Justinus Martyr als der älteste erreichbare Zeuge (wohl schon in seinem verloren gegangenen Syntagma) den Simon (in der Abfolge Simon – Menander – Marcion!) an erster Stelle216, ohne jedoch so etwas wie eine Genealogie der Häretiker oder gar eine successio haereticorum abzuleiten. Von Simon als dem Begründer der gnostischen Häresie schlechthin kann hier also noch nicht die Rede sein. Als solcher – und damit auch als Begründer einer successio haereticorum – tritt Simon, hier dann freilich in aller Deutlichkeit, erst bei dem wichtigsten der antignostischen Kirchenväter, bei Irenäus in den Blick, hier zugleich im Rahmen einer in sich gefestigten, ja geradezu programmatischen Grundkonzeption: Simon autem Samaritanus, ex quo universae haereses substituerunt – oder: Simoniani, a quibus falsi nominis scientia accepit initia217. Diese und andere Belege bringen deutlich genug zum Ausdruck, dass Irenäus jedenfalls – wie bereits die von ihm benutzte Terminologie anzeigt – von Simon her an der Herstellung einer successio haereticorum interessiert ist. Simon ist für ihn also nicht nur der ›Anfänger‹ aller Häresie, sondern der ›Erzketzer‹ schlechthin, und dies vor allem selbstverständlich im Blick auf die gnostische Häresie218. Dieses besondere Interesse des Irenäus ist ganz offensichtlich weniger ein ›historisches‹, als vielmehr ein ›dogmatisches‹ Interesse. Bei der mit Simon einsetzenden und von ihm begründeten successio haereticorum handelt es sich also zunächst um nichts anderes als um eine dogmatisch bedingte Konstruktion: Zwar wird mit der grundlegenden Verbindung der gnostischen Häresie mit Simon diese Häresie bereits in die Frühgeschichte des Christentums bzw. in das ›Apostolische Zeitalter‹ datiert – damit aber zugleich auch die Möglichkeit gewonnen, die gnostische Häresie von allem Anfang an als im Widerspruch zu den Aposteln (und damit zugleich auch zur ›Apostolischen Überlieferung‹) stehend zu kennzeichnen. Der Anspruch, den manche ›christliche‹ Gnostiker ihrerseits stellten, indem sie ihre Lehren auf geheime Überlieferungen von Aposteln und Apostelschülern zurückführten, sollte auf diese Weise von vornherein erledigt sein. Diese zuerst von Irenäus ausgearbeitete Konzeption hat in der Folgezeit zwar mancherlei Nachfolger gefunden – umso bemerkenswerter angesichts dessen, dass Hippolyt, der sich in Teilen seiner Refutatio ausdrücklich auf das antignostische Werk des Irenäus bezieht, in dieser Hinsicht ganz anders verfährt: Die Gestalt des Simon steht für ihn keineswegs am Anfang der gnostischen Häresie, und ob dies im (verloren gegangenen) Syntagma des Hippolyt noch anders war, lässt sich nur 215

Zur Sache vgl. K. Beyschlag, Zur Simon-Magus-Frage, S. 396 ff. Apol. I 26,1–3, hier am Ende (26,8) mit ausdrücklichem Bezug auf sein Syntagma. Vgl. weiter Apol. I 56,1–4 sowie Dial. c. Tryph. 120,6. 217 Adv. Haer. I 23,2 und 4 sowie I 27,4: … scires quoniam omnes qui quomodo adulterant veritatem … Simonis Samaritani magi discipuli et successores sunt; Adv. Haer. III Praefatio wird Simon als pater omnium haereticorum genannt. Vgl. weiter in diesem Sinn: ebd., Praefatio I zu Adv. Haer. II sowie I 29,7, hier speziell für die Barbelo-Gnostiker. 218 Vgl. den Exkurs »Simon ex quo universae haereses substituerunt« bei G. Lüdemann, Untersuchungen zur simonianischen Gnosis, S. 36 f., hier (S. 37) zum Motiv für solchen Traditions- und Sukzessionsgedanken: »Damit war ihr [der Gnostiker] Ursprung zwar in die apostolische Zeit verlegt, ihr Anspruch auf apostolischen Ursprung aber von vornherein erledigt; denn jener Simon hatte ja schon von Petrus, dem ersten Bischof der ›rechtgläubigen‹ Kirche, eine Abfuhr erhalten«. Zur Sache vgl. Eusebius, h.e. IV 7,3 ff.; Irenäus, Adv. Haer. I 21,5; 23,5; 27,2, sowie N. Brox, Offenbarung, Gnosis und gnostischer Mythos, S. 127 ff. 216

3.2 Der Quellenbefund

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vermuten. In seiner Refutatio jedenfalls stehen die Naassener – und mit ihnen die ›Schlange‹ (Gen 3,14!) – als ›Urheber des Irrtums‹ am Anfang219. Erst am Ende des 5. Buches seiner Refutatio – im Anschluss also an seine Darlegungen über die Naassener, Peraten, Sethianer sowie über den Gnostiker Justin – heißt es in Ref. V 28: . Im Folgenden (Ref. VI 7,1 ff. sowie VI 19 f.) bezieht er sich zwar auf Irenäus (Adv. Haer. I 23); dessen Urteil über Simon als Begründer einer successio haereticorum freilich wird nicht übernommen. Lediglich Ref. VI 20,4 wird dann ausdrücklich festgestellt, dass Valentinus, von dem im Folgenden die Rede ist (Ref. VI 21,1 ff.), vom ›Mythos‹ des Simon abhängig sei.

Unberührt von der Uneinheitlichkeit der altkirchlichen Zeugnisse bleibt jedoch die Ausgangsfrage: Ist mit der Gestalt des ›historischen Simon‹ tatsächlich der Beweis für eine (nicht nur) nicht-christliche, sondern zugleich auch vor-christliche Gnosis gegeben? – was zugleich heißt: Kann der ›historische Simon‹ als solcher überhaupt schon als der erste Gnostiker gelten?220 Die Beantwortung dieser Frage ist auch in der neueren und neuesten Forschungsgeschichte noch immer kontrovers, auch nach der großen Monographie von K. Beyschlag zum Thema221. Ob dies nun, wie mitunter behauptet wird222, nur oder doch jedenfalls primär an den für diese Fragestellung zur Verfügung stehenden Quellen liegt, ist durchaus fraglich, zumal in diesem Zusammenhang, was die Auswertung dieser Quellen betrifft, gewisse die gesamte Forschungsgeschichte begleitende religionsgeschichtliche wie auch theologische Vorentscheidungen zumindest eine ebenso große Rolle spielen wie die zur Verfügung stehenden Quellen selbst. Die Quellenlage in dieser Hinsicht ist – aufs Ganze gesehen – keineswegs so ›fragwürdig‹ oder gar ›konfus‹, wie sie manchem Betrachter erscheint223. Die ältesten einigermaßen sicher datierbaren (und im Folgenden dementsprechend auch primär zu berücksichtigenden) Quellen sind nach wie vor – für den Ausgang des 1. Jahrhunderts – der ›Bericht‹ des Lukas in Acta 8, weiter – für die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts – das zwar knappe, in gewisser Hinsicht aber doch aussagekräftige Zeugnis des Justinus Martyr vor allem in seiner 1. Apologie (c. 26) sowie – für die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts – der nunmehr schon recht umfangreiche Bericht 219 Vgl. Ref. V 6,3 f. sowie besonders V 11,1. Dazu bereits A. Hilgenfeld, Ketzergeschichte des Urchristentums, S. 67–69, hier mit der These, dass eigene Forschungen den Hippolyt zu dieser Auffassung gebracht haben. 220 So z.B. K. Rudolph, Die Mandäer I, S. 273, mit Bezug auf die ›samaritanische Gnosis‹ des Simon: »Diese Gnosis liefert den Beweis für eine vorchristliche Gnosis«! 221 Zur Kritik an der Position von K. Beyschlag vgl. K. Rudolph, in: ThR 42 (1977), S. 281 ff. 222 So z.B. W. Foerster, Die ›Gnostiker‹ Simon und Menander, S. 190: »Nun ist die Gestalt so umstritten, die Quellen so fragwürdig, dass es fast aussichtslos erscheint, zu sicheren Schlüssen zu gelangen«. Ähnlich neuerdings auch M.A. Williams, Rethinking Gnosticism, S. 165: »Our sources for the figure of Simon Magus and for religious traditions that are associated with his name are notoriously confusing and even conflicting«. 223 Zur Quellenkritik im einzelnen vgl. L. Cerfaux, La gnose valentinienne, S. 489–511; 16 (1926), S. 5–20.265–285.481–503, sowie zuletzt K. Rudolph, ThR 42 (1977), S. 288–320: ›Die Quellendiskussion‹.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

des Irenäus im ersten Buch seines antignostischen Hauptwerkes (Adv. Haer. I 23). Zu dessen Ergänzung ist – was diese primären Quellen betrifft – allenfalls noch Hippolyt mit seinem Referat über Simon bzw. die Simonianer in Ref. VI 19 f. (vgl. auch X 12) heranzuziehen. – Was die übrigen Quellen betrifft, so ist zwar gewiss nicht schlechtweg zu bestreiten, dass sich gegebenenfalls auch aus den späteren Quellen zur Frage des Simon bzw. des Simonianismus – so z.B. aus Epiphanius (Pan XXI 1–7), aus Tertullian (De anima 34) sowie aus dem ›Endstadium der SimonLegende‹ (K. Rudolph), wie es in den Pseudo-Klementinen (Hom. II 22 ff. Recogn. II 7 ff.) und in den Petrusakten vorliegt – bestimmte ›ursprüngliche‹ Informationen zu gewinnen sind224; den entscheidenden bzw. im eigentlichen Sinne grundlegenden Beitrag zu einer möglichst eindeutigen Beantwortung der historischen Simonfrage gewährleisten indes die in diesem kurzen Überblick an erster Stelle genannten Quellen in der Abfolge Lukas – Justin – Irenäus. So bleibt am Ende dieser kurzen Übersicht nur noch zu fragen, ob über die genannten Quellen hinaus möglicherweise noch weitere, eventuell neue Quellen zu beachten sind? Konkret betrifft diese Frage vor allem einen eventuellen Beitrag der Textfunde von Nag Hammadi zur historischen Simonfrage bzw. zur Geschichte des Simonianismus. In der Tat ist in der neueren Forschungsgeschichte in diesem Zusammenhang – z.T. mit Nachdruck – auf einige Kodizes von Nag Hammadi hingewiesen worden, so etwa auf die ›Apokalypse des Petrus‹ (NHC VII /3), auf die Schrift unter dem Titel ›Der Donner‹ (NHC VI /2), insbesondere jedoch auf die sog. Exegese der Seele (NHC II /6, hier bes. auf p. 127,19–129,5; p. 131,13–132,35; p. 133,31–134,15). Speziell zur letztgenannten Schrift heißt es dann auch im Votum des »Berliner Arbeitskreises für koptisch-gnostische Schriften«: »Wenn man überhaupt den Versuch machen will, die ursprüngliche Gestalt der simonianischen Gnosis zu rekonstruieren, dann müsste man von diesen Kapiteln ausgehen«225. Bei näherem Zusehen freilich kommt dieser Schrift von Nag Hammadi doch wohl eher eine Bedeutung für die (Früh-) Geschichte der simonianischen Gnosis zu, als dass sich von ihr aus ein Zugang zur historischen Simonfrage eröffnen würde226. Ganz anders verhält es sich in dieser Hinsicht mit den (aramäischen) Quellenschriften des samaritanischen Judentums, die – angesichts dessen, dass seinerzeit bereits M. Heidenheim in seiner Edition des Memar Marqa vom Jahr 1856 auf die entsprechenden Zusammenhänge hingewiesen hatte227 – hier keineswegs als ›neue Quellen‹ zu nennen sind. Die Bedeutung auch dieser Quellen für die Frage nach 224 Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist, dass sich auch in den späten Acta Petri noch das primäre, zuerst Act. 8 erwähnte Motiv von Simon als eine Art Inkorporation der ›Großen Kraft‹ erhalten hat. 225 So in: K.-W. Tröger, Gnosis und Neues Testament, S. 39. Ebd., S. 38: Das System von NHC II /6 »hat seine nächste Parallele im simonianischen System …, das von mehreren Exegeten als das älteste angenommen wird«. Zu diesen neuen Quellen: K. Rudolph, in: ThR 37 (1972), S. 338 ff.; 42 (1977), S. 352–359. Speziell zu NHC II /6 vgl. S. Arai, Simonianische Gnosis und die Exegese der Seele, S. 185–203. 226 Vgl. dagegen die Schlussfolgerungen von K. Rudolph, ThR 42 (1977), S. 359: »Für den ›historischen Simon‹ ist damit zwar unmittelbar nichts gewonnen, aber von der Aufhellung der sich auf ihn berufenden gnostischen Lehre fällt auch indirekt Licht auf ihn«, hier mit der Schlussfolgerung: »Überlieferungsgeschichtlich hat der Simon Gnosticus gegenüber dem Simon Magicus größere Chancen historischer Faktizität«. 227 M. Heidenheim, Der Commentar Marqa’s des Samaritaners (Bibl. Samaritana III ), Weimar 1896, S. XXV . Dazu J. Fossum, The Name of God and the Angel of the Lord, S. 167.

3.2 Der Quellenbefund

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dem ›historischen Simon‹ ist in der neueren Forschungsgeschichte nachdrücklich wieder in Erinnerung gebracht worden, auch wenn inzwischen deutlich geworden ist, dass die hier in Betracht kommenden Texte größtenteils erst Jahrhunderte nach dem 1. nachchristlichen Jahrhundert ihren schriftlichen Niederschlag gefunden haben228. Da es sich bei diesen Texten – z.T. jedenfalls – um liturgische Texte handelt, die im Synagogengottesdienst der Samaritaner benutzt wurden, will deren literarische Fixierung noch nicht allzu viel für die Frage ihrer Entstehung besagen. Und was in diesem Zusammenhang nun speziell den Simon betrifft, der in den zur Verfügung stehenden Quellen stets ausdrücklich als Samaritaner gekennzeichnet wird (Acta 8,9 usw.), so liegt es hier besonders nahe, u.a. auch auf jene genuin samaritanischen Quellen zurückzugreifen. Dies gilt umso mehr, als die Prädikation des Simon in Acta 8,10: , die als solche wohl doch zugleich eine Selbstprädikation des Simon im Sinne des voraussetzt, sich durchaus in der Kontinuität der (traditionellen) samaritanischen Gottesbezeichnung Große Kraft (im samaritanischen Aramäischen: elah rabbah o.ä.) verstehen lässt229.

Auch wenn die Bezeichnung Gottes als ›Kraft‹ bzw. – im Griechischen – auch über den Raum des (samaritanischen) Judentums hinaus nachweisbar ist230, dürfte doch von hier aus, d.h. von jenen samaritanischen Quellen her gesehen, ein authentisches Zeugnis für die historische Simonfrage gegeben sein, und zwar nun insbesondere auch im Blick speziell auf das Zeugnis des Lukas von Simon in Acta 8, und zwar nicht zuletzt im Blick auf die Frage von (vorlukanischer) Tradition und (lukanischer) Redaktion231. Was die in Acta 8,10 vorliegende Akklamationsformel ( .) konkret für das Selbstverständnis des Simon besagt, ist keineswegs eindeutig: Jedenfalls besteht keine Notwendigkeit, hier sogleich – wie dies später (der Samaritaner!) Justinus Martyr getan hat (s.u.) – an eine ausdrückliche ›Selbstvergötterung‹ zu denken; auch Begriffe wie ›Inkarnation‹ bzw. ›Inkorporation‹ sind hier zunächst noch fernzuhalten; wahrscheinlicher demgegenüber dürfte es dann schon sein, das (ursprüngliche) Selbstverständnis des Simon mit Begriffen wie ›Repräsentanz‹, ›Epiphanie‹ oder auch ›Offenbarung‹ zu umschreiben232: Simon also als eine Art ›Offenbarer‹ 228 Dem entsprechen auch die Vorbehalte gegenüber einem unkritischen Gebrauch der hier in Betracht kommenden samaritanischen Quellentexte: Vgl. E. Grässer, ThR 42 (1977), S. 26 f.; K. Beyschlag, Simon Magus, S. 93 ff. und S. 214. 229 Dazu im einzelnen H. G. Kippenberg, Garizim und Synagoge, S. 328 ff. – Dies gilt im Übrigen auch für die Act 8,10 benutzte Akklamationsformel »Dieser ist …«, die in der Liturgie der samaritanischen Synagoge verwurzelt ist. Dazu H. Kippenberg, ebd., S. 342 ff., sowie J. Fossum, The Name of God and the Angel of the Lord, S. 162–191, speziell S. 171 f. 230 So z.B. Philon, VitMos I 111; vgl. auch Mk 14,62 sowie Eusebius, h.e. II 23,1 (Hegesipp). 231 Dazu im Einzelnen die Kommentare sowie K. Rudolph, ThR 42 (1977), S. 314 ff.; E. Grässer, ebd., S. 25–34, sowie G. Lüdemann, The Acts of the Apostles and tne Beginning of Simonian Gnosis, S. 420–426, sowie J. Fossum, The Name of God and the Angel of the Lord, S. 162 ff. 232 Dazu vgl. J. Fossum, a.a.O., S. 171 f., sowie R. Bergmeier, Quellen vorchristlicher Gnosis? S. 203.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

der höchsten Gottheit, der dessen Wesen (im Sinne der ›Großen Kraft‹) nun auch in bestimmten (magischen?) ›Machthandlungen‹ darstellt, wie Lukas in Acta 8,9 und 11 ausdrücklich hervorhebt. Die ›magischen‹ Handlungen des Simon sind also – versteht man sie vom Selbstverständnis Simons her – Macht- und Krafterweise des höchsten Gottes selbst233. Dass es sich bei alledem, was die Berichterstattung des Lukas betrifft, bereits um eine gezielte ›Degradierung‹ des historischen Simon bzw. seines Selbstverständnisses handelt, ist keineswegs ausgemacht und lässt sich allenfalls hinsichtlich der Kennzeichnung Simons als ›Magier‹ (im Sinne von ›Zauberer‹!) wahrscheinlich machen234. Demgegenüber ist freilich, was die Darstellungsweise des Lukas betrifft, nicht zu übersehen, dass der Bericht des Lukas über Simon, was seine Stellung im Gesamtzusammenhang der ›Apostelgeschichte‹ (als Geschichte der urchristlichen Mission!) betrifft, spätestens von V. 11 an durch ein bestimmtes ›tendenziöses‹ Gefälle gekennzeichnet ist, und zwar eben von der in V. 10 vorliegenden wohl authentischen (Selbst-)Prädikation Simons her in Richtung auf die in V. 13 genannten des Philippus. Diese ›Zeichen und großen Machterweise‹ des Philippus, sind nun freilich nicht ›magische‹ Handlungen, sondern – gerade als ! – ›Machterweise‹, die nun ihrerseits den Anspruch des Simon, eine Art ›Offenbarer‹ oder ›Repräsentant‹ der (göttlichen) zu sein, relativieren bzw. überhaupt ad absurdum führen235; ein Umstand im Übrigen zugleich, der den ganzen Zusammenhang schließlich in die Taufe des Simon durch Philippus einmünden lässt (V. 13). So weit, so gut! Was den Simon nun erst recht zum Problemfall werden lässt, ist nach der Darstellung der lukanischen Apostelgeschichte jedoch gar nicht in erster Linie der in Acta 8,10 geäußerte theologische Anspruch des Simon. Dieser Anspruch ist – was das Gefälle der Simon-Geschichte bei Lukas betrifft – durch die Taufe des Simon durch Philippus ohnehin bereits erledigt. Im Folgenden (Acta 8,14 ff. bzw. 18 ff.) steht vielmehr nur noch sein, des Simon, nunmehr den Aposteln aus Jerusalem vorgetragenes Ansinnen im Mittelpunkt, gegen Geldleistungen (V. 18: ) die Gabe bzw. das Vermögen der Geistmitteilung zu erwerben. Und dies hat nun offensichtlich mit dem historischen Simon nichts mehr zu tun, sondern wohl eher mit bestimmten Erfahrungen der frühchristlichen Mission in Samarien. 233 Im Übrigen hat K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, S. 160, darauf aufmerksam gemacht, dass die Act 8,9 ff. benutzte Terminologie ( ) in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte auch im Zusammenhang mit den Taten Jesu benutzt wird. 234 Zur Frage einer polemisch bedingten Herabsetzung des Simon durch Lukas vgl. K. Rudolph, Die Gnosis, S. 312, sowie G. Klein, Art. Simon Magus, in: RGG 3. Aufl. VI , Sp. 39. 235 G. Lüdemann, The Acts of the Apostles and the Beginning of Simonian Gnosis, S. 424, sieht im Gefälle von der »großen Kraft« (Act 8,10) zu den »großen Machttaten« ein gezieltes Wortspiel.

3.2 Der Quellenbefund

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Das Ergebnis der Fragestellung: ›Magicus‹ oder ›Gnosticus‹? Muss also, was jedenfalls den ›Gnostiker‹ Simon betrifft, am Ende negativ ausfallen. Auch wenn man – etwa mit G. Klein – den ursprünglichen Simonianismus mit guten Gründen ganz generell einem spätantiken Synkretismus oder auch – speziell – einem bestimmten samaritanischen Synkretismus zuordnen kann236, so gilt doch: Spezifisch ›Gnostisches‹ lässt sich – zunächst jedenfalls von Acta 8 her gesehen – an Simon und seinem Selbstverständnis nicht ausmachen – geschweige denn so etwas wie eine bereits ›gnostisch‹ gestaltete Soteriologie.237 Es sei denn (wozu freilich keinerlei Anlass besteht!), man erblickt bereits in der Rede von der in Acta 8,22 eine ›ironische Anspielung‹ des Lukas auf die Gefährtin des Simon, also auf jene Helena bzw. (in der Gestalt der Helena), die dann später, zuerst bei Justinus Martyr und insbesondere bei Irenäus, eine wesentliche Rolle im Rahmen eines dann schon relativ in sich geschlossenen gnostischen Mythos spielt238. Damit wäre dann aber hier schon eine bestimmte Entwicklung des Simonianismus vorweggenommen, die sich eindeutig erst bei dem Märtyrer Justin belegen lässt (s.u.). Keine Frage bei alledem ist, dass es hier nicht ein »von Anfang an vorhandenes gnostisches Konzept« gab; vielmehr setzen die altkirchlichen Nachrichten über Simon eine Entwicklung voraus, »die Entwicklung (nämlich) von dem wundertätigen , der wohl gemäß seinem Anspruch als Epiphanie der göttlichen verehrt wurde, hin zu dem gnostischen Urgrund des Seins, dem super omnia pater …«239. Was aber im Rahmen dieser Entwicklungsgeschichte hin zum Simon Gnosticus den historischen Simon und sein Selbstverständnis betrifft, so wird man ihn als eine Art Offenbarer der höchsten Gottheit charakterisieren können, in diesem Sinne möglicherweise auch als einen oder – noch schlichter – als einen »samaritanischen Charismatiker …, der sich … für eine Manifestation der Gottheit selbst hielt«240, der jedoch noch nicht als der (erste) Repräsentant einer spezifisch gnostischen Grundkonzeption gelten kann. Das heißt: Der ›Simon Magicus‹ von Acta 8 kann nicht einfach zugleich – in der Vorwegnahme einer weitergehenden Entwicklung – als der ›Simon 236 Vgl. G. Klein, Der Synkretismus als theologisches Problem, S. 289–295. Dazu E. Grässer, ThR 42 (1977), S. 30 f., sowie R. McL. Wilson, in: TRE 13, S. 542: »es gibt Gründe, mit Cerfaux [Recueil Cerfaux, Gembloux 1954, S. 256] anzunehmen, dass Simons Religion ursprünglich nichts mit Gnostizismus zu tun hatte: »c’etait une gnose à base des mathes paiiens et de magie«. 237 Kurz und bündig formuliert G. Theissen, Die Religion der ersten Christen, S. 317: »Die Kirchenväter halten Simon Magus für den ersten Gnostiker. Die kurze Darstellung in der Apg aus dem Ende des 1. Jh. weiß davon nichts«. 238 So G. Lüdemann, ThR 65 (2000), S. 315; ders., NTS 33 (1987), S. 424. 239 So R. Bergmeier, Quellen vorchristlicher Gnosis? S. 206 f., hier im Anschluss an H. Waitz. 240 So zuletzt G. Theissen, Die Religion der ersten Christen, S. 317. Vgl. auch K. Rudolph, ThR 42 (1977), S. 351: »Am Ursprung steht eine charismatische Person …«, was i.S. von Rudolph freilich keineswegs ausschließt: »Ihre Beziehungen zur (entstehenden) Gnosis sind entgegen allen bisher vorgetragenen Einwänden nicht von der Hand zu weisen«.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Gnosticus‹ gelten. Dass aus dem ›Simon Magicus‹ schließlich ein ›Simon Gnosticus‹ wurde – dazu bedurfte es erst einer weitergehenden Entwicklung, mit der zugleich charakteristische Wandlungen der Simongestalt verbunden waren, und zwar im Sinne einer fortschreitenden – aber eben sekundären! – Gnostisierung der Gestalt und Wirksamkeit des Simon, die – nach Ausweis der zur Verfügung stehenden altkirchlichen Quellen – zwar bereits zu Beginn des 2. nachchristlichen Jahrhunderts einsetzte, aber gerade auch so einen Abstand zwischen dem historischen Simon des 1. Jahrhunderts und dem gnostischen Simon der altkirchlichen Häresiologen voraussetzt241. Die einzelnen Stationen dieser Entwicklungsgeschichte sind durch den überlieferten altkirchlichen Quellenbestand relativ gut bezeugt, und zwar in dem Sinne, dass sich diese Entwicklung vom historischen Simon zum ›Simon Gnosticus‹ im Wesentlichen im Verlauf des 2. Jh.s n.Chr. vollzogen hat. Die Hauptzeugen dafür sind – für die 1. Hälfte des 2. Jh.s – Justinus Martyr und – für die 2. Hälfte des 2. Jh.s – Irenäus. Am Ende gehört in diese Entwicklungsgeschichte aber auch jenes unter dem Namen des Simon überlieferte gnostische Originalzeugnis der simonianischen Gnosis hinein, das Hippolyt in sein – ansonsten weitgehend von Irenäus (Adv. Haer. I 23, 1–3) abhängiges242 – Referat über Simon aufgenommen hat (Ref. VI 7–19.20): Hier, in der , einem Spätzeugnis des Simonianismus in gestalt einer philosophierenden Interpretation des gnostischen Mythos, hat sich dann freilich die Gestalt des historischen Simon schon ›weitgehend verflüchtigt‹243. Innerhalb der Reihenfolge Acta 8 – Justinus Martyr – Irenäus kommt dem Zeugnis des Justin zweifellos besondere Bedeutung zu, weil es über das älteste Zeugnis von Simon in Acta 8 in bemerkenswerter Weise weit hinausgeht und eben zugleich für die 1. Hälfte des 2. Jh.s eine auf Simon sich berufende Konkurrenzbewegung zum frühen Christentum bezeugt. Aufs Ganze gesehen fällt dieses Zeugnis – vorliegend in Apol. I 26,1–3; 56,1–4; Dial. c. Tryph. 120,6 sowie Apol. II 15,1 – relativ knapp aus. Wenn Justin am Ende seiner ersten Apologie (26,8) seinen Lesern ausdrücklich die Lektüre seines (nicht erhaltenen) empfiehlt, so ist durchaus mit Recht zu schlussfolgern, dass er dort ausführlicher auf die ›Häresie‹ des Simon eingegangen ist, während es sich demgegenüber in 241 Dieser Prozess einer sekundären Gnostisierung setzt also in jedem Falle einen Abstand zwischen dem ›historischen‹ Simon und dem ›gnostischen‹ Simon voraus. Zum Problem vgl. auch G. Filoramo, A History of Gnosticism, S. 148; K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, S. 7 ff. und S. 159 ff. 242 Oder ist Hippolyt hier bereits von Justins Syntagma abhängig? So A. Hilgenfeld, Ketzergeschichte des Urchristentums, S. 181 f. 243 Vgl. B. Aland, in: ThPh 48 (1973), S. 418: »Die simonianische Gnosis hat sich von dem Stand, der bei Irenäus und Tertullian bezeugt ist, zur philosophischen Gnosis des ApophasisKommentars weiterentwickelt … Dabei verflüchtigt sich die Gestalt des historischen Simon immer mehr …«; dies., Gnosis und Philosophie, S. 35 und S. 62.

3.2 Der Quellenbefund

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Apol. I 26 und 56 lediglich um eine ›Kurzfassung‹ handelt. Auch angesichts dessen muss freilich die Frage offen bleiben, ob Justin tatsächlich bereits den gnostisch-simonianischen Mythos gekannt hat, wie er dann später bei Irenäus oder auch bei Tertullian (De Anima 34) überliefert ist244. Immerhin sind Ansätze zu diesem Mythos offensichtlich auch schon in der 1. Apologie vorhanden: Zwei in Apol. I 26,1–3 mitgeteilte Details hinsichtlich der Lehre Simons verdienen dabei besondere Beachtung und bezeugen damit auch eine über Acta 8 hinausgehende Entwicklungsgeschichte der simonianischen Gnosis in der 1. Hälfte des 2. Jh.s: Das erste Detail, das bei Justin im Vergleich mit Acta 8 auffällt, ist eine außerordentliche Verschärfung des theologischen Aspekts und zwar im Sinne einer durch ›Dämonen‹ verursachten Selbstvergötterung des Simon, die nach der Meinung des Justin die Grundlage für alle Häresie darstellt: Simon gehört nach Justin zu jenen, die da sagen: (Apol. I 26,1). Justin verweist in diesem Zusammenhang darüber hinaus noch auf jene (Weih-?)Inschrift auf einer römischen Bildsäule: SIMONI DEO SANCTO (Apol. I 26,2) und schließlich auch darauf, dass »fast alle Samaritaner ihn als den ersten bzw. höchsten Gott bekannt und angebetet haben« (Apol. I 26,3). Gegenüber Acta 8 ist hier zweifellos eine Steigerung bzw. eine Weiterentwicklung eingetreten: aus der von Acta 8,10 ist nunmehr der geworden, und dieser Sachverhalt ist dem Justin – was die Häresie des Simon betrifft – so wichtig, dass er ihn gleich mehrfach betont245. Welche Konsequenzen diese Art von ›Theologie‹ nun freilich für eine Anthropologie oder gar Soteriologie der simonianischen ›Gnosis‹ hat, wird von Justin – jedenfalls in seinen überlieferten Schriften – nicht mitgeteilt. Gleichwohl: so etwas wie eine ›Gnostisierung‹ der Simon-Überlieferung ist nun doch in dem zweiten von Justin in Apol. I 26 – im unmittelbaren Anschluss an den Kasus der Selbstvergötterung des Simon – mitgeteilten Detail wenigstens angedeutet, in der Nachricht nämlich, dass Simon »eine gewisse Helena mit sich herumgeführt« habe und dass man diese Helena »den aus ihm gewordenen bzw. entsprungenen ›Ersten Gedanken‹ ( ) genannt habe246. Nun ist es zwar durchaus wahrscheinlich, dass Justin sich in seinem ›Syntagma‹ des Näheren über die Art und Weise wie auch über die Konsequenzen dieser eigenartigen Beziehung Simon Helena/Ennoia ausgelassen hat; hier jedoch, in seiner ersten Apologie, ist es bei diesen wenigen Andeutungen geblieben. Immerhin dürfte in dieser eigenartigen ›Entzweiung‹ oder ›Aufspaltung‹ der einen Gottheit des Simon zumindest der grundlegende Ansatz zu der weitergehenden Entwicklung des ursprünglichen Simonianismus zur simonianischen Gnosis gegeben sein: Hier, bei Justin, kommt – von Apol. I 26 her gesehen – bereits das ganze gnostische Drama von ›Fall‹ und ›Erlösung‹ in den Blick, von der 244 Vgl. jedoch B. Aland, Philosophie und Gnosis, S. 60, sowie G. Lüdemann, Untersuchungen zur simonianischen Gnosis, S. 35 f. 245 Vgl. auch Apol. I 56 sowie Dial c. Tryph. 120,6. Zu der ursprünglich wohl dem altrömischen Schwurgott Semo sanctus gewidmeten Inschrift vgl. K. Rudolph, Die Gnosis, S. 313. 246 Apol. I 26,3. – Zur Frage, ob diese Verbindung Simon – Helena einen Anhaltspunkt am ›historischen Simon‹ hat, vgl. G. Theissen, Die Religion der ersten Christen, S. 318: »Auch dieser Mythos hat einen historischen Kern. Der historische Simon ist wahrscheinlich mit einer Begleiterin durch die Lande gezogen – so wie es die urchristlichen Charismatiker taten«.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

›Theologie‹ her also auch eine ganz bestimmte – eben gnostische – Art von Anthropologie und Soteriologie247.

So gesehen handelt es sich bei der hier, bei Justin, zum ersten Male bezeugten Verbindung des Simon mit der Gestalt der Helena/Ennoia nicht nur um »ein sehr altes, wahrscheinlich das älteste Stadium einer simonianischen Gnosis«248, sondern in der Tat um »das erste constitutivum eines gnostischen Mythos«249. Ob und – wenn ja – inwieweit Justin selbst diesen Mythos in seinem Syntagma angesichts einer simonianischen Gnosis seiner Zeit im Einzelnen entfaltet hat, ist – wie bereits oben (Anm. 247) vermerkt – von den erhaltenen Quellen her nicht zu belegen bzw. läßt sich lediglich vermuten. Diese ›vorläufige Form‹, in der dieser gnostische Mythos bei Justin, also etwa um die Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, vorlag250, ist in den folgenden Jahrzehnten des 2. Jahrhunderts zu einem gleichsam ›vollständigen‹ Mythos weiter entwickelt und entfaltet worden. In dieser Gestalt liegt er dann jedenfalls bei Irenäus, Adv. Haer. I 23,1 ff., vor, als Zeugnis der »most properly Gnostic phase in the development of the Simonian System«251. Der Frage, in welcher Gestalt im Einzelnen dieses nun eindeutig gnostische System des Simonianismus bei Irenäus vorliegt, ist an dieser Stelle – im Zusammenhang nämlich der Frage nach der Genesis dieses Systems – nicht mehr im Einzelnen nachzugehen. Von Interesse ist hier lediglich noch die Frage nach den Quellen des Irenäus für seine Darstellung. Und in dieser Hinsicht jedenfalls ist die Sachlage relativ eindeutig: Der entsprechende Zusammenhang mit dem ›Vorgänger‹ Justin bedarf hier jedenfalls keiner Frage. Zweimal, wenn auch nicht speziell im Zusammenhang mit der simonianischen Gnosis, bezieht Irenäus sich ausdrücklich auf das Syntagma des Justin, so Adv. Haer. IV 6,2: Et bene Justinus in eo libro qui est ad Marcionem ait quoniam … sowie Adv. Haer. V 26,2 im Zusammenhang seinen Darlegungen gegen Marcion und die Valentinianer: Bene Justinus dixit …252. Von daher gesehen ist die Vermutung keineswegs abwegig, dass Irenäus auch bei seinen Ausführungen hinsichtlich des simonianischen Systems in Adv. Haer. I 23 das Syntagma des Justin 247 Fraglich bleibt, ob man hier, bei Justin, bereits von Simon als einer ›Erlösergestalt‹ sprechen kann. So H. G. Kippenberg, Garizim und Synagoge, S. 330; R. M. Grant, Gnosticism and Christianity, S. 74 f. 248 So H. G. Kippenberg, Garizim und Synagoge, S. 123. Vgl. K. Rudolph, ThR 42 (1977), S. 328: »Die Interpretation des ›Simonianismus‹ als einer Spielart der Gnosis hängt wesentlich von der Ennoia / Helena-Figur und ihrer Verbindung mit Simon ab«. 249 So C. Colpe, RAC XI , Sp. 625 f.: »Erst damit ist die Selbstbezeichnung der göttlichen Einheit eingeleitet, das erste constitutivum eines gnostischen Mythos«. 250 So W. Foerster, Die ›ersten Gnostiker‹ Simon und Menander, S. 194, hier im Blick auf den historischen Simon! 251 So G. Filoramo, A History of Gnosticism, S. 148; ebd.: »Simonianism is transformed into a typical Gnostic System under decisive influence of Christianity«. 252 Der ursprüngliche griechische Text ist bei Eusebius, h.e. IV 18,9 überliefert. In sachlicher Hinsicht geht es an beiden Stellen bei Irenäus um die gnostische Leugnung der einen und einzigen Gottheit – und damit um die Lästerung des Weltschöpfers. Vgl. A. Hilgenfeld, Ketzergeschichte, S. 22 ff.

3.2 Der Quellenbefund

127

als Quelle benutzt hat; die Frage jedoch, in welchem Maß und Umfang dies tatsächlich geschehen ist, muss am Ende unbeantwortet bleiben253. Ganz unabhängig von der Quellenfrage stellt sich im Zusammenhang mit der simonianischen Gnosis allenfalls noch die Frage, ob jene – sich letztlich auf den Simon der neutestamentlichen ›Apostelgeschichte‹ berufende – Gnosis des 2. nachchristlichen Jahrhunderts zur Zeit des Irenäus überhaupt noch eine aktuelle Gefährdung der kirchlichen Rechtgläubigkeit darstellte? Die Art und Weise jedenfalls, mit der Irenäus speziell mit dieser ›Spielart‹ der Gnosis in seinem antignostischen Hauptwerk umgeht – genauer noch: welchen Stellenwert Irenäus der simonianischen Gnosis hier zuweist, spricht eine eindeutige Sprache bzw. ist aus Aufbau und Gliederung des ersten Buches deutlich ablesbar: Das eigentlich gnostische Problem seiner Zeit sieht Irenäus ganz eindeutig in der valentinianischen Gnosis, genauer noch: In der Gnosis des Ptolemaios, eines Zeitgenossen des Irenäus, dessen Lehrsystem – als ›Ableger‹ ( ) der Schule des Valentinus – ausführlich an erster Stelle erörtert wird (Adv. Haer. I 1–9), im Anschluss daran (I 11–22) weitere Spielarten der valentinianischen Gnosis. Lediglich um die ›Wurzel‹ der valentinianischen Häresie aufzudecken, geht Irenäus sodann in Adv. Haer. I 23,1–31,2 im Einzelnen auf den ›Erzketzer‹ Simon und seine unmittelbaren Nachfolger ein – denn (so Irenäus zum Abschluss von I 1–22 in I 22,2): um alle Häresien zu widerlegen und zu überführen, necessarium arbitrari sumus prius referre fontem et radicem eorum, womit dann zugleich, was zunächst die Gestalt des Simon betrifft, der nicht-apostolische – und damit zugleich wiederum – häretische Ursprung der gnostischen Bewegung insgesamt erwiesen ist! Im Anschluss an diesen – gleichsam ›historischen‹ – Exkurs lenkt Irenäus wieder zu Valentinus und seiner Schule zurück: A talibus … patribus et proavis eos qui a Valentino sunt254. Und entsprechend folgt dann im 2. Buch von Adv. Haer. die thematische Widerlegung der Lehre der Valentinianer, die – nach der Meinung des Irenäus – ihrerseits wiederum nichts anderes als eine recapitulatio der Lehre aller Häretiker ist255.

In diesem Sinne ist bei Irenäus ganz offensichtlich bereits der Endpunkt einer sich vom Simon der ›Apostelgeschichte‹ herleitenden Entwicklung erreicht, bei der die sachlich-thematischen Korrespondenzen zwischen einer zur Zeit des Irenäus bereits in den Hintergrund getretenen Entwicklungsstufe der Gnosis einerseits und der zur Zeit des Irenäus aktuellen Entwicklung andererseits offensichtlich sind. Wie immer man aber auch im Einzelnen diese Entwicklungsgeschichte einer simonianischen Gnosis beurteilen mag – deut253 In der älteren Forschung gab es in dieser Hinsicht einen weitreichenden Konsens, daß Irenäus bei seiner Darstellung des Simonianismus auf das Syntagma des Justin zurückgegriffen hat: Vgl. R.A. Lipsius, Die Quellen der ältesten Ketzergeschichte, S. 36–38.63 f. – Zur neueren Forschung vgl. K. Beyschlag, zur Simon-Magus-Frage, S. 401; R. Bergmeier, Quellen vorchristlicher Gnosis? S. 205 f., A.H.B. Logan, in: TRE 31, S. 273. Zuletzt jedoch N. Brox, Zum literarischen Verhältnis zwischen Justin und Irenäus, S. 124: »Übereinstimmungen und Differenzen erklären sich so, dass beide Autoren sich eines gebräuchlichen Schemas der christlichen Unterweisung bedienen«; ebd., S. 128. 254 So Adv. Haer. I 31,1. Vgl. aber auch schon I 30,15: a quibus, velut Lernaea hydra, multiplex capitibus fera … Valentini scola generata est. 255 So in der Praefatio (2) zu Adv. Haer. IV . Dem entspricht Adv. Haer. II 31,1: Destructis itaque his qui a Valentino sunt, omnes haereticorum eversa est multitudo.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

lich ist in jedem Fall: Mit dem historischen Simon des ersten nachchristlichen Jahrhunderts hat die – jedenfalls nach Auffassung des Irenäus – in der valentinianischen Gnosis gipfelnde Genealogie einer simonianischen Gnosis im Grunde nichts mehr zu tun. Was Gestalt, Botschaft und Wirksamkeit des historischen Simon betrifft, so bleibt es am Ende dabei, dass dieser historische Simon nicht als Zeuge für eine vor- bzw. nicht-christliche Gnosis in Betracht kommt. Hier bleibt es vielmehr bei dem Urteil, das bereits im Jahre 1835 F. Chr. Baur in seinem Buch »Die christliche Gnosis oder die christliche Religions-Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung« formuliert hat: »So vielfach (sc.: in der altkirchlichen Literatur) von dem Magier Simon, als dem Haupt und Stammvater der ältesten Häresien (sic!) die Rede ist, … so können wir doch kaum einige Schritte über die in der Apostelgeschichte gegebenen Nachrichten hinauswagen, und es dringt sich bei der Vergleichung der Hauptschriftsteller über ihn die Überzeugung auf, dass Simon die große historische Bedeutung, die ihm gewöhnlich gegeben wird, in keinem Falle schon ursprünglich hatte, sondern erst in der Folge erhielt«256. Als Zeuge für eine nicht-christliche Gnosis kommt der Magier Simon der Apostelgeschichte allenfalls erst in der Gestalt in Betracht, in der er und seine Lehre in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts im Bericht des Justinus Martyr dargestellt werden, hier noch ohne spezifisch christliche Akzentsetzungen257. Frühere, eventuell bis ins 1. Jahrhundert zurückreichende ›Vorformen‹ einer spezifisch gnostischen Simon-Rezeption sind damit keineswegs ausgeschlossen, jedoch als solche anhand der überlieferten Quellen nicht aufweisbar. So deutet also alles darauf hin, dass der entscheidende Schritt vom Simon Magicus zum Simon Gnosticus erst in der Zeit, allenfalls kurz vor der Zeit getan worden ist, in der der Apologet Justinus Martyr sich veranlasst gesehen hat, einen gnostischen – oder doch jedenfalls gnostisierenden – Simon in seinen ›Ketzerkatalog‹ aufzunehmen. Gewiss kann man angesichts dieses – zugegebenermaßen defizitären – Befundes darüber nachdenken (oder auch: spekulieren?), wie es wohl zu dieser erstmals von Justin bezeugten Entwicklung vom historischen Simon zum gnostischen Simon bzw. zum gnostischen Simonianismus gekommen ist; und nichts spricht – grundsätzlich – dagegen, in diesem Zusammenhang dann auch zu bestimmten wahrscheinlichen oder jedenfalls denkbaren Modellen zu gelangen258; ja, mehr noch: Es läßt sich bei alledem durchaus 256 F. Chr. Baur, a.a.O., S. 303 f. Zum Problem in dieser Hinsicht vgl. bereits A. Hilgenfeld, Der Magier Simon, S. 388–396. 257 Vgl. entsprechend R. Bergmeier, Quellen vorchristlicher Gnosis, S. 204 ff., hier bes. S. 206 f.: »Die Nachrichten über Simon zeigen nicht ein von Anfang an vorliegendes gnostisches Konzept, sondern setzen eine Entwicklung voraus, die Entwicklung von dem wundertätigen hin zu dem gnostischen Urgrund des Seins, dem super omnia pater, der die Freiheit von den praecepta der Engel gewährt«. 258 Vgl. z.B. B. Aland, Gnosis und Philosophie, S. 63 ff.: Simon »war kein gewöhnlicher Abtrünniger wie andere von der Gnosis reklamierte Gestalten. Er gab sich selbst als Gott

3.2 Der Quellenbefund

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wahrscheinlich machen, dass die Entwicklung zu einer gnostischen SimonRezeption – vom Zeugnis des Justin her gesehen – in jedem Falle, was also den terminus ante quem betrifft, in die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts zu datieren ist. Und nimmt man auch in diesem Zusammenhang das an sich eindeutige Zeugnis der neutestamentlichen Pastoralbriefe hinzu259, so ist es am Ende durchaus wahrscheinlich, dass eine Begegnung von ›Christentum‹ und ›Gnosis‹ bereits um die Wende vom 1. zum 2. nachchristlichen Jahrhundert stattgefunden hat. Andererseits wird man sich jedoch auch nicht der Grundfrage verschließen können, ob und inwieweit es überhaupt denkbar oder auch wahrscheinlich ist, dass eine in ihrem konkreten Erscheinungsbild so vielgestaltige Bewegung, wie die Gnosis sie darstellt, derart ›punktuell‹ auf eine bestimmte historische Gestalt – und damit gleichsam auf den einen ›Religionsstifter‹ – bzw. auf ein bestimmtes Datum im Verlauf der spätantiken Religionsgeschichte zurückgeführt werden kann? Allzu nahe liegt bei solchem Verfahren wiederum der Verdacht, dass auf diese Weise am Ende doch wiederum der – dogmatisch bedingten! – Position der altkirchlichen Häresiologen vom ›Erzketzer‹ Simon der entsprechende Tribut gezollt wird. Spätestens hier stellt sich – am Ende des Exkurses zum Thema ›Simon Magicus – Simon Gnosticus‹ – die Frage, ob und inwieweit das Problem einer vor- bzw. einer nicht-christlichen Gnosis allein auf Grund des Zeugnisses der altkirchlichen Häresiologen zu lösen ist, die doch allesamt zunächst davon ausgehen, dass es sich bei der Gnosis um eine ›christliche‹ Häresie handelt, also um eine zeitlich wie sachlich sekundäre Abweichung von der ursprünglichen christlichen, d.h. ›apostolischen‹ Wahrheit. Konkret heißt das, dass an dieser Stelle zumindest der Versuch zu machen ist, die Frage nach einer vorbzw. nichtchristlichen Gnosis auf Grund der überlieferten gnostischen Originalquellen zu beantworten, wie sie heute, insbesondere seit dem Fund der gnostischen Bibliothek von Nag Hammadi, immerhin in reichlichem Maße zur Verfügung stehen. Dieser Schritt vom Sekundärzeugnis der altkirchlichen Häresiologen zum Primärzeugnis der gnostischen Originalquellen liegt umso näher, als zwischen beiden – bei allen bemerkenswerten Konvergenzen – doch zugleich auch erhebliche Divergenzen festzustellen sind260.

aus … Diesen Anspruch konnte man sich zunutze machen und Simon … als Verkörperung des wahren und höchsten Gottes der Gnosis verkündigen … So wird verständlich, warum gnostischer Mythos und gnostische Lehre sekundär mit Simon in Verbindung gebracht wurden, ohne dass eine sachliche Beziehung von dem historischen Simon zur Gnosis bestanden hätte«. 259 S. dazu oben S. 73 ff. 260 Grundsätzlich zum Verhältnis beider Quellenkomplexe zueinander: F. Wisse, The N. H. Library and the Heresiologists, S. 205–233; H.-M. Schenke, Die Relevanz der Kirchenväter für die Erschließung der Nag-Hammadi-Texte, S. 209–218, sowie R. van den Broek, The Present State of Gnostic Studies, S. 49–55.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

3.2.3 Das Zeugnis der gnostischen Originalquellen Vorbemerkung: Die folgende Darstellung basiert im Wesentlichen auf den gnostischen Originalquellen des Handschriftenfundes von Nag Hammadi261. Von den bereits zuvor bekannten gnostischen Originalquellen werden – im unmittelbaren Zusammenhang mit den Texten von Nag Hammadi – lediglich die koptisch-gnostischen Schriften des Papyrus Berolinensis 8502 (auch BG = Berolinensis Gnosticus) berücksichtigt – hier insbesondere das Apokryphon Johannis sowie die Sophia Jesu Christi –, nicht dagegen die ebenfalls schon seit langem bekannten koptischgnostischen Schriften der Codices Askewianus und Brucianus (Pistis Sophia, die beiden Bücher Jeû sowie das sog. Unbekannte Altgnostische Werk). Diese Schriften repräsentieren nach einmütigem Urteil allesamt bereits die Spätform einer christlichen Gnosis (wohl des 3. Jh.s n.Chr.) und sind – schon von daher gesehen – im Zusammenhang der Frage nach einer vor-christlichen Gnosis allenfalls von sekundärer Bedeutung262.

Was demgegenüber die Schriften von Nag Hammadi betrifft, so haben auch sie – dies muß gleich zu Beginn festgestellt werden – die im Zusammenhang mit der Frage nach einer vor-christlichen Gnosis von ihnen erwartete entscheidende Wende nur in einem bedingten Maße gebracht. Begründet ist dies wohl nicht nur durch den eher zufälligen Charakter der Schriftensammlung einer (Kloster-?) Bibliothek, sondern auch durch die Vielfalt und Unterschiedlichkeit dieser Schriften, und zwar nicht nur im Blick speziell auf die durch sie repräsentierten literarischen Gattungen, sondern auch – und vor allem – durch die Unterschiedlichkeit, in der sich in diesen Schriften im Einzelnen die Beziehung zwischen Christentum und Gnosis darstellt – oder eben auch nicht darstellt. Andererseits ist aber gerade durch diesen Handschriftenfund die Möglichkeit gegeben, zu einer gewissen Annäherung an eine Antwort auf die Frage nach einer vor- bzw. nicht-christlichen Gnosis zu gelangen. Richtungweisend sind in dieser Hinsicht bereits die seit Bekanntwerden des Handschriftenfundes unternommenen Versuche, die hier überlieferten (51!) Schriften unter bestimmten Gesichtspunkten zu klassifizieren, und zwar nicht nur nach ihren literarischen Gattungen oder ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten – durch die entsprechenden Nachrichten der altkirchlichen Häresiologen bereits bekannten – gnostischen Schulen und Gruppen263, sondern vor allem auch im Blick auf die Frage nach der Beziehung 261 Vgl. dazu die Überblicksartikel »Nag Hammadi« von H.-M. Schenke, in: TRE 23, S. 731–736, sowie von B.A. Pearson, in: ABD 4, S. 984–993. Zur Geschichte der Forschung: J. M. Robinson, Nag Hammadi: The First Fifty Years, S. 3–33. 262 Zu Charakter und zeitlicher Ansetzung dieser Schriften: W. C. Till, Koptisch-gnostische Schriften I: Die Pistis Sophia …, hrsg. von C. Schmidt, 2. Aufl., Berlin 1954, S. XVI ff. und S. XXVI ff.; K. Rudolph, Die Gnosis, S. 32 f. 263 Zur letztgenannten Fragestellung vgl. M. Krause, Die Texte von Nag Hammadi, S. 240 f. – Zur Klassifizierung der Schriften von N.H. bereits J. Doresse, The Secret Books of the Egyptian Gnostics, S. 146–197; dazu M. Krause, Der Stand der Veröffentlichung der Nag Hammadi Texte, S. 67 ff. und S. 72 ff.

3.2 Der Quellenbefund

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zwischen Christentum und Gnosis, wie sie sich in diesen Texten darstellt. Angesichts der Vielfalt und Verschiedenheit der Texte von Nag Hammadi ist es immerhin bemerkenswert, dass sich gerade in der letztgenannten Hinsicht inzwischen ein weitgehender Konsens herausgebildet hat: Sieht man dabei zunächst von noch weitergehenden Differenzierungen und Klassifizierungen ab, so sind – lässt man in diesem Zusammenhang die wenigen nicht-gnostischen wie auch nicht-christlichen Schriften außer Betracht264 – drei Gruppen von Schriften zu unterscheiden: 1. die eindeutig als (ursprünglich) christlich-gnostisch zu bezeichnenden Schriften; 2. die Gruppe der (ursprünglich) nicht-christlich gnostischen Schriften und schließlich 3. die Gruppe derjenigen Schriften, die sich – möglicherweise – als Zeugnisse einer sekundären Christianisierung von ursprünglich nicht-christlichen gnostischen Schriften darstellen265. Es bedarf keiner Frage, dass vor allem die beiden letztgenannten Schriftengruppen im Rahmen der Frage nach einer vor- bzw. nicht-christlichen Gnosis besondere Aufmerksamkeit beanspruchen. Ebenso deutlich ist aber auch von vornherein zu betonen, dass das (manchen Schriften am Ende doch wohl mit Recht beigefügte) Prädikat nicht-christlich als solches noch keineswegs besagt, dass die so gekennzeichnete Schrift hinsichtlich ihrer zeitlichen Ansetzung als Zeugnis einer vorchristlichen Gnosis in Anspruch genommen werden kann266. Im Übrigen ist es offenkundig, dass vor allem die beiden letztgenannten Gruppen hinsichtlich ihrer Klassifizierung als nicht-christliche gnostische Schriften bzw. als Zeugnisse einer sekundären Christianisierung von ursprünglich nicht-christlichen gnostischen Schriften bis zum heutigen Tage keineswegs unumstritten sind. Der Streit um die rechte Zuordnung der hier in Frage stehenden Schriften hält nach wie vor an – was offensichtlich primär dem Vorverständnis des jeweiligen Betrachters vom Verhältnis zwischen Christentum und Gnosis geschuldet ist: So wird derjenige, der von vornherein von einem christlichhäretischen Grundverständnis der Gnosis ausgeht, auch in Schriften, die einem anderen Betrachter als ursprünglich nicht-christlich gelten, mehr oder weniger deutlich ›Belege‹ oder doch jedenfalls Spuren einer christlichen Bearbeitung finden und dementsprechend – was den Kasus einer (anhand von zwei miteinander verwandten Schriften festzustellenden) sekundären Chris264 Dies sind eindeutig: NHC VI /5 (Zitat aus Platons Politeia 588B–589B); NHC VI /6–8 (Texte einer hermetischen Gnosis); NHC VII /4 (›Lehren des Silvanus‹) sowie NHC XII /1 (›Sextus-Sentenzen‹). 265 Zu solcher Klassifizierung (mit Unterschieden im Einzelnen) vgl. A. Böhlig, Zur Frage nach den Typen des Gnostizismus und seines Schrifttums, S. 221 ff.; ders. / C. Markschies, Gnosis und Manichäismus, S. 180 ff.; M. Krause, Der Stand der Veröffentlichung der Nag Hammadi Texte, S. 71 ff. 266 Zur Unterscheidung »nicht-christlich« – »vor-christlich« vgl. H.J.W. Drijvers, in: K. Rudolph, Gnosis und Gnostizismus, S. 821 ff., hier S. 823: »So gibt es einen christlichen und einen nicht-christlichen Gnostizismus, wobei ›christlich‹ in diesem Zusammenhang nicht mehr bedeutet als: christliche Motive verwendend, denn ›in the end Gnosticism is fundamentally un-Christian and un-Jewish‹« (Zitat: R. McL. Wilson, The Gnostic Problem, S. 218).

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

tianisierung betrifft – in der Umkehrung der beiden in Betracht stehenden Schriften – eher den Sachverhalt einer sekundären De-Christianisierung konstatieren!267. Angesichts der auch gegenwärtig noch anhaltenden weitverzweigten Diskussion versteht es sich im Übrigen von selbst, dass die hier anstehenden Probleme und Fragestellungen nicht umfassend an allen hier in Frage stehenden Quellenschriften zu erörtern sind, sondern eher paradigmatisch anhand einzelner herausragender Beispiele. Dies gilt konkret auch schon im Blick speziell auf die zweite oben genannte Gruppe, also auf die (vermeintlichen oder auch möglichen) Zeugnisse einer nicht-christlichen Gnosis: Nach weitverbreiterter Lesart sind dieser Gruppe – neben der Sondergruppe der hermetischen Trakate (NHC VI /6–8) – die folgenden Schriften (in der Reihenfolge der Kodizes von Nag Hammadi) zuzurechnen: Der sog. Eugnostosbrief (NHC III /3); die Paraphrase des S em (VII /1); die Stelen des Seth (VII /2); die Apokalypse unter dem Namen Zostrianus (VIII /1); der Gedanke der Norea (IX /2); die Traktate Marsanes (X) und AIlogenes (XI /3) sowie die Adam-Apokalypse (V/5). Es sei hier dahingestellt, ob man alle diese hier genannten Schriften mit K. Koschorke als ›Beispiele lupenreiner paganer Gnosis‹ bezeichnen kann268; charakteristisch für diese Schriften ist es jedenfalls, dass mögliche spezifisch christliche Andeutungen bzw. Spuren in ihnen weitgehend hinter einem spezifisch gnostischem Rahmen bzw. Rahmenkonzept zurücktreten bzw. gar nicht mehr als solche auszumachen sind. Die Klassifizierung dieser Schriften als (ursprünglich) nicht-christliche gnostische Schriften erscheint – von daher gesehen – durchaus als angemessen. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang zweifellos – wie die Geschichte der Forschung bisher deutlich gemacht hat – die Adam-Apokalypse aus dem Codex V von Nag Hammadi, zumal diese Schrift, bereits von ihrem literarischen Genus her gesehen, nicht zuletzt auch in den Bereich der (jüdischen) ›Apokalyptik‹ wie überhaupt der traditionellen jüdischen Adam-Literatur hineingehört269. Die naheliegende Frage, ob diese gnostische Adam-Apokalypse nicht einen Beitrag zur Frage des Ursprungs der Gnosis, im Sinne eines Ursprungszusammenhangs Judentum – Gnosis, zu leisten vermag, ist an dieser Stelle freilich (noch) nicht im Einzelnen aufzuwerfen270. 267 Vgl. in diesem Sinne das Verfahren von S. Pétrement, A Separate God, S. 240 ff., das vom Prinzip einer sekundären De-Christianisierung der »so-called Non Christian Works« ausgeht. Vgl. aber auch E. M. Yamauchi, Pre-Christian Gnosticism in the Nag Hammadi Texts? S. 130 ff. 268 K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 5. 269 Dazu vgl. B.A. Pearson, The Figure of Seth in Gnostic Literature, S. 82 f., mit der Schlussfolgerung: »we are led to posit that the very phenomenon of Sethian Gnosticism per se is of Jewish, perhaps pre-Christian, origin«. Zur Diskussionslage in dieser Hinsicht: K. Rudolph, in: ThR 34 (1969), S. 160 ff. (Lit.). 270 Dazu vgl. G.W. MacRae, Apocalypse of Adam, S. 152: Diese Schrift repräsentiere »a transitional stage in evolution from Jewish to Gnostic apocalyptic«.

3.2 Der Quellenbefund

133

Seit A. Böhlig im Jahr 1963 die Erstausgabe und Erstübersetzung dieser Schrift publiziert hat271, steht jedenfalls der primär Jüdisch-gnostische Charakter der »Apokalypse des Adam« (ApkAd) außer Frage – und damit zugleich die Frage zur Debatte, ob diese Schrift nicht ursprünglich der genuin jüdischen Adam-Literatur zuzurechnen ist und erst auf einer sekundären Redaktionsstufe gnostisch rezipiert bzw. überarbeitet worden ist. In eben diese Richtung weist ja bereits das literarische Genus der ApkAd, das Genus eines »Apocalyptic Testament«, wie Ph. Perkins die ApkAd genannt hat272. Auf diesen Ursprung der gnostischen ApkAd im Judentum könnte darüber hinaus immerhin auch der Umstand hinweisen, dass in dieser Schrift – eigentlich ganz ungnostisch! – dem Gesetz eine gewisse positive Bedeutung beigemessen wird, d.h.: p. 83,11 ff. und p. 84,11 ff. die ›Gesetzeserkenntnis‹ mit der ›Heilserkenntnis‹ identifiziert wird273. Spezifisch-christliche bzw. grundlegend-christliche Akzentsetzungen sind in der ApkAd jedenfalls nicht zu erkennen. Formal gesehen stellt sich die ApkAd zunächst noch ganz in jüdischer Tradition – als eine Offenbarungsschrift dar, in der Adam die von ihm empfangene Offenbarung als eine Art Testament an seinen Sohn Seth übergibt. So gesehen ist die Schrift zweifellos der sog. Sethianischen Gnosis zuzurechnen274. Die hier schon naheliegende Frage, ob auf diese Weise dem Seth nicht nur die Rolle eines Offenbarers (»transmitter of knowledge« oder »revealer of Gnosis«) beigemessen wird, sondern auch die eines Erlösers (›savior‹), sei hier zunächst dahingestellt275; sachlich-inhaltlich gesehen wird jedenfalls in der ApkAd – auch wenn Einzelheiten in dieser Hinsicht nicht immer eindeutig sind! – ein ganzes geschichtstheologisches Drama im Sinne einer Heils- bzw. Unheilsgeschichte (›Salvation History‹!) entfaltet276, in dessen Verlauf es am Ende um die (Wieder-)Gewinnung der einst durch den »Sündenfall des Adam und der Eva verloren gegangenen »ewigen Erkenntnis des Gottes der Wahrheit« geht (p. 65, 9 ff.). So gesehen handelt es sich bei der ApkAd in der Tat um eine typisch gnostische Schrift, in der der am Anfang jener gnostischen ›Weltgeschichte‹ stehende Verlust der ›Erkenntnis des wahren Gottes‹ mit einer ganzen Reihe spezifisch gnostischer Metaphern wie ›Schlaf‹, ›Finsternis‹, ›Macht des Todes‹ (o.ä.) zur Aussage gebracht wird277. Was den Inhalt und Gegenstand dieser – wiederzuerlangenden – ›Erkenntnis‹ betrifft, so werden darüber – möglicherweise aus Gründen der Arkandisziplin – keine Aussagen gemacht; an dem (aus Schlaf, Tod und Finsternis) errettenden Charakter jener »Erkenntnis des 271 Mit P. Labib, Koptisch-gnostische Apokalypsen aus Codex V von Nag Hammadi, S. 86–117. Im Codex V/5 umfasst die »Apokalypse des Adam« die pp. 64,1–85,32. 272 Ph. Perkins, Apocalypse of Adam, S. 384. Vgl. ebd., S. 385 f., zum Zusammenhang mit der jüdischen Adam-Literatur. 273 So K. Rudolph, ThR 34 (1969), S. 165. 274 Dazu vgl. die Beiträge von B.A. Pearson und G.W. E. Nickelsburg in: B. Layton (ed.), The Resiscovery of Gnosticism II . Sethian Gnosticism, S. 472 ff. und S. 515 ff., sowie zur Frage einer sethianischen Gnosis von H.-M. Schenke, The Phenomenon and Significance of Sethian Gnosticism: ebd., S. 588–616. 275 Dazu in den Schriften einer sethianischen Gnosis: B.A. Pearson, The Figure of Seth in Gnostic Literature, S. 71 ff. und 76 ff. 276 K. Rudolph, ThR 34 (1969), S. 161, spricht hier von der »Form einer gnostischen Weltgeschichte in Anknüpfung an die Genesis-Überlieferungen«, und zwar in Gestalt der DreiPhasen-Gliederung einer Welt- bzw. Heilsgeschichte. Dazu auch B.A. Pearson, The figure of Seth, S. 68 ff. 277 Vgl. ApkAd p. 65,22 ff.; 66,2 f. sowie p. 67,4 ff.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

wahren Gottes« besteht jedoch kein Zweifel. Entscheidend ist letztlich allein die theo-logische Ausrichtung jener ›Erkenntnis‹: »Dies« – gemeint ist hier offensichtlich der gesamte Inhalt der Schrift! – »ist die verborgene Erkenntnis Adams, die er Seth übergeben hat, (und) das heißt: die heilige Taufe derer, welche die ewige Erkenntnis kennen«278. – Ob und inwieweit man bereits in dieser Rede von einer ›heiligen Taufe‹ einen Hinweis auf den christlichen Charakter der ganzen Schrift erkennen kann, muss schon angesichts dessen als höchst fraglich erscheinen, dass es in der ApkAd insgesamt in einer spezifisch gnostischen Weise um die Bewahrung des ›Samens (griech.: ) des Seth‹ geht (p. 65,5 ff.; 66,4–6; 69,11 ff.; 85,21 f.) – und damit zugleich um jenes »Geschlecht, über das niemand herrscht« (p. 82,19 f.), was zugleich heißt: um das »Geschlecht jener Menschen, die er sich erwählt hat, das leuchtet, so dass sie den ganzen Äon erleuchten«279. Durchaus problematischer in dieser Hinsicht erweist sich, was den möglicherweise christlichen Charakter der ganzen Schrift betrifft, auf den ersten Blick jene merkwürdige Gestalt eines ›Erleuchters‹ (griechisch: ), eine Art Erlöser-Gestalt also, der als solcher – als ›Erleuchter‹! – offensichtlich die Funktion zukommt, dem in der Welt – und ihrer Unheilsgeschichte! – beschlossenen ›Samen des Seth‹ zum Licht der Erkenntnis zu verhelfen280. Es ist durchaus naheliegend, vor allem diese ›Erlösergestalt‹, indem man sie mit der Gestalt Jesu identifiziert, als eine Art gnostischer Variante einer christlich-kirchlichen Christologie – und damit zugleich als ein deutliches Anzeichen des genuin christlichen Charakters der ApkAd zu betrachten281. Ganz abgesehen jedoch von der Frage, in welchem Verhältnis eigentlich diese Erlösergestalt zu der in der ApkAd offensichtlichen Offenbarungs- und Erlösungsfunktion des Seth zu sehen ist282, macht es am Ende keinen Sinn, diesen ›Erleuchter‹ mit Jesus zu identifizieren, wenn in derselben ApkAd (p. 85,28) zugleich von ›unvergänglichen Erleuchtern‹ im Plural die Rede ist!

Auch wenn also beim gegenwärtigen Stand der Forschung noch keineswegs alle Aspekte, unter denen die ApkAd zu betrachten ist, hinreichend geklärt sind; und: auch wenn vor allem die Diskussion um den christlichen oder nicht-christlichen Charakter der Schrift noch keineswegs ein Ende gefunden

278 Vgl. ApkAd p. 83,19 ff. – Zum Verständnis der ›Erkenntnis‹ in ApkAd vgl. auch ebd., p. 76,9–11 und 21 ff.; p. 83,11 ff. 19 ff. sowie p. 85,3–18, hier p. 85,9 ff.: »Dies sind die Offenbarungen, die Adam dem Seth offenbart hat … Dies ist die verborgene Erkenntnis Adams …, die heilige Taufe derer, die die ewige Erkenntnis kennen durch den Logosgeborenen …«. 279 ApkAd p. 83,1 ff. Zur Sache vgl. G. G. Stroumsa, Another Seed, S. 83 ff. sowie S. 100 f. 280 Zu dieser Funktion des ›Erleuchters‹ vgl. ApkAd p. 82,19 ff.: »Das königlose Geschlecht aber sagt: ›Gott hat ihn aus allen Äonen erwählt. Er hat veranlasst, dass eine Erkenntnis der Unbefleckten der Wahrheit durch ihn entstehe …‹«. 281 So S. Pétrement, A Separate God, S. 433 ff.; G. G. Stroumsa, Another Seed, S. 87 ff. Zum Problem in dieser Hinsicht: K. Rudolph, in: ThR 34 (1969), S. 164 ff. 282 Dazu vgl. B.A. Pearson, The Figure of Seth in Gnostic Literature, S. 78 f., sowie A. Böhlig, in: A. Böhlig /C. Markschies, Gnosis und Manichäismus, S. 181: »Nimmt man an, dass der im 3. Teil erscheinende Erleuchter … Seth ist, kann man vermuten, dass Seth hier im Menschen Jesus inkarniert ist wie im Ägypterevangelium. Sehr verwunderlich ist allerdings, dass der Name des Seth genannt wird, aber nicht der Jesu. Haben wir hier vielleicht ein Stadium vor uns, in dem diese Inkarnation im Sethianismus noch nicht vorhanden war?« Vgl. ebd., S. 181, Anm. 250.

3.2 Der Quellenbefund

135

hat283, lässt sich doch mit guten Gründen Folgendes zunächst feststellen: Was die Gesamtkonzeption der ApkAd betrifft, so stellt sie sich eindeutig als eine spezifisch gnostische Schrift (in jüdischer Tradition) dar, in der die (möglichen oder auch wahrscheinlichen) christlichen Elemente oder Implikationen zur Sache selbst nichts beitragen. In diesem Sinne ist die ApkAd – wie auch andere gnostische Schriften von Nag Hammadi (wie z.B. die Schriften ›Zostrianus‹ [NHC VIII /1] oder ›Marsanes‹ [NHC X/1]) – durchaus als ein nicht-christliches Zeugnis der Gnosis zu beurteilen. Einzuräumen ist bei solcher Feststellung jedoch auch, dass für diejenigen, die nach wie vor grundsätzlich von der These eines inner-christlichen Ursprungs der Gnosis ausgehen, jene Feststellung notwendigerweise die Schlussfolgerung bzw. die Hypothese zur Folge hat, dass jene – vermeintlich oder wirklich – nichtchristliche gnostische Schrift als solche keineswegs als Zeugnis der Existenz einer genuin nicht- bzw. außerchristlichen Gnosis zu gelten hat, dass diese Schrift vielmehr ihrerseits wiederum das sekundäre Produkt einer Ent- bzw. De-Christianisierung einer – von ihrem Ursprung her – christlichen Gnosis ist. Also: »Die Annahme eines rein innerchristlichen Ursprung des Gnostizismus zieht die Schlussfolgerung nach sich, dass ›nichtchristliche‹ gnostische Dokumente das Ergebnis einer Entchristianisierung seien«284. Eine solche Schlussfolgerung bzw. Hypothese setzt nun ihrerseits wiederum voraus, dass für den Sachverhalt einer sekundären Entchristianisierung ein entsprechender ›Sitz im Leben‹ in der Geschichte der (christlichen) Gnosis auszumachen ist, also eine bestimmte Situation in der (späteren) Geschichte der Gnosis, in der es – möglicherweise mit der Erkenntnis der Unvereinbarkeit von ›Christentum‹ und ›Gnosis‹ oder auch infolge des nachhaltigen Widerstandes des ›Christentums‹ gegenüber der ›Gnosis‹ – zu einer bewussten, ja gezielten Trennung der Gnosis von ihrem (zunächst) innerchristlichen Ursprung gekommen ist. Ob diese Hypothese – historisch gesehen – wahrscheinlich ist und sich – vor allem – aus den Quellen selbst im Einzelnen begründen lässt, bleibt fraglich; grundsätzlich auszuschließen ist sie jedenfalls nicht285. Nicht zu übersehen ist bei alledem, dass dieser Aspekt einer sekundären Entchristianisierung nicht nur für die (vermeintlichen) Zeugnisse einer nicht-christlichen Gnosis berücksichtigt wird, sondern – darüber hinaus – auch für jene Schriften, die in der Forschung bisher als Zeugnisse einer – ebenfalls aus der Geschichte der Gnosis zu erklärenden – sekundären Christianisierung von ursprünglich nicht-christlichen gnostischen Schriften galten! Auch im Blick auf die hier in Betracht kommende Gruppe gnosti283 Vgl. dazu E. M. Yamauchi, The Issue of Pre-Christian Gnostizismus in the Light of the Nag Hammadi Texts, S. 77–82. 284 So R. McL. Wilson, in: TRE 13, S. 545, hier freilich mit dem Zusatz: »Aber obwohl die Möglichkeit einer Entchristianisierung berücksichtigt werden muss, lässt das vorhandene Beweismaterial (ApocJoh, EvMar, SJC , Eug) eher auf die Christianisierung älteren, gleichwohl gnostischen Materials schließen«. 285 Zum Problem in dieser Hinsicht s.o. S. 111.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

scher Schriften wird also vorausgesetzt, dass das ›Christentum‹ in jedem Falle das (zeitlich) Primäre und (sachlich) Ursprüngliche sei – die ›Gnosis‹ demgegenüber das (zeitlich und sachlich) Sekundäre bzw. Abgeleitete! Sollte man – angesichts eines so eindimensionalen Geschichtsbildes vom Verhältnis ›Christentum‹ – ›Gnosis‹ nicht doch eher – was auch, historisch gesehen, durchaus wahrscheinlicher ist! – davon ausgehen, dass die Kategorien sekundäre Christianisierung oder auch sekundäre De-Christianisierung eben nicht im Sinne einer Alternative auf die ›wirkliche‹ Geschichte der Relation von ›Christentum‹ und ›Gnosis‹ anzuwenden sind, sondern auf der Grundlage einer Wechselbeziehung zwischen ›Christentum‹ einerseits und ›Gnosis‹ andererseits?286. Abseits zunächst aller grundsätzlichen Entscheidungen hinsichtlich der Zuordnung der hier in Frage stehenden gnostischen Schriften zu der einen oder der anderen Gruppe steht damit die Frage nach den Kriterien zur Beurteilung dieser Schriften in diesem oder in jenem Sinne zur Debatte. Die neuere Geschichte der Forschung, insbesondere im Blick auf das Korpus der gnostischen Schriften von Nag Hammadi, hat – bei allen Unsicherheiten im Einzelnen – im Blick speziell auf den Sachverhalt einer sekundären Christianisierung ein Ergebnis – vorsichtiger formuliert: bestimmte wesentliche Gesichtspunkte – erbracht, die bei der Entscheidung in dieser Hinsicht in jedem Falle zu berücksichtigen sind: Hatte seinerzeit bereits A. Böhlig auf den für die Frage einer sekundären Christianisierung entscheidenden Aspekt hingewiesen: »M.E. löst sich auch diese Frage zugunsten einer Christianisierung, wenn wir die Verbindung von Traditionsstücken bei der Kompilation annehmen«287, so hat vor allem M. Krause eine entsprechende Kriteriologie ausgearbeitet, die – trotz des harschen Urteils von S. Petrement: »The hobbyhouse of Krause and of all these who want to deny Gnosticism a Christian origin«288 – jedenfalls als Arbeitsgrundlage für die in dieser Frage anstehenden Entscheidungen gelten kann289. Grundlegend ist dabei vor allem das Kriterium einer Unterscheidung oder auch Spannung bzw. Diskrepanz zwischen ›frame-story‹ bzw. ›frame-work‹, d.h. zwischen dem vorliegenden literarischen ›Rahmenwerk‹ einerseits und dem Inhalt (›contents‹) der jeweiligen Schrift andererseits. Konkret gemeint sind damit vor allem jene Spannungen und Diskrepanzen, die als solche darauf hinweisen, dass die fragliche Schrift erst nachträglich etwa zu einem Dialog (zwischen Jesus und seinen Jüngern) umgestaltet worden ist290. Zu den von 286 Vgl. dazu H.-M. Schenke im Blick speziell auf den Sethianismus in: B. Layton, The Rediscovery of Gnosticism II , S. 607 f. 287 A. Böhlig, in: Gnosis und Synkretismus I, S. 223. 288 S. Pétrement, A Separate God, S. 450. 289 M. Krause, The Christianization of Gnostic Texts, S. 190 ff., knüpft dabei an die Beobachtungen an, die bereits J. Doresse, The Secret Books of the Egyptian Gnostics, S. 197–218, gemacht hat. 290 Zur Frage der Kriterien vgl. M. Krause, Die Texte von Nag Hammadi, S. 237–239; ders., The Christianization of Gnostic Texts, S. 190 f., sowie H.-M. Schenke, The Penomenon of Gnostic Sethianism, S. 611: »discrepance between frame-work and contents«.

3.2 Der Quellenbefund

137

M. Krause herausgearbeiteten »objective criteria for the Christianizing of Gnostic texts« gehören – nach M. Krause – weiterhin: Widersprüche und Unebenheiten innerhalb der in Frage stehenden Texte sowie offensichtlich sekundär hinzu- bzw. eingefügte Schriftzitate, denen im jeweiligen Kontext eine kommentierende bzw. bestätigende Funktion zukommt.

Geht man bei der Frage, welche (christlich-)gnostische Schriften im Zusammenhang der Frage nach einer sekundären Christianisierung konkret in Betracht kommen, zunächst von der literarischen Gattung des (Offenbarungs-) Dialogs aus, so sind hier an erster Stelle zwei Schriften vor allem zu nennen: Die sog. ›Sophia Jesu Christi‹ (SJC ), überliefert im schon länger bekannten Pap. Berol. 8502 sowie im Kodex III /4 von Nag Hammadi, sowie das sog. ›Apokryphon des Johannes‹ das – wiederum bereits im Pap. Berol. 8502 sowie in den Kodizes von Nag Hammadi zweimal in einer kürzeren (NHC III /1) sowie in einer längeren Fassung {NHC II /1) überliefert – die entsprechenden literarkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Überlegungen und Untersuchungen geradezu herausfordert. – Darüber hinaus kommen im Schrifttum von Nag Hammadi in diesem Zusammenhang möglicherweise noch einige weitere Schriften in Betracht, auf die hier zunächst nur hingewiesen sei: Das sog. Ägypter-Evangelium (NHC III /2 und IV /2), das ›Evangelium der Maria‹ wiederum aus dem Pap. Berol. 8502, die unter dem Titel ›Hypostasis der Archonten‹ überlieferte Schrift (NHC II /4) sowie die sog. ›Paraphrase des S em‹ (NHC VII /1) – sofern diese zuletzt genannte Schrift nicht bereits als Zeugnis einer nicht-christlichen Gnosis zu gelten hat. Den Modellfall für den Prozess einer sekundären Christianisierung stellt von den genannten Schriften ohne Zweifel die Sophia Jesu Christi (SJC ) dar, und zwar vor allem deshalb, weil zu ihr in Gestalt des sog. Eugnostosbriefes (NHC III /3 und V/1) so etwas wie ein Vergleichstext – vielleicht präziser noch: so etwas wie eine nicht-christliche ›Vorlage‹ überliefert ist. Träfe letzteres zu, dann wäre am Verhältnis beider Schriften zueinander relativ genau das ›Wachstum‹ gleichsam von einer ursprünglich nicht-christlichen gnostischen Schrift zu deren sekundärer Erweiterung im Sinne einer sekundären Christianisierung zu erkennen bzw. nachzuweisen291. Hatte W.C. Till in seiner Erstausgabe des Pap. Berol. 8502 vom Jahre 1955 auf Grund einer tabellarischen Übersicht über die Parallelüberlieferungen von Eugnostosbrief einerseits und SJC andererseits noch die Vermutung geäußert, »dass die SJC die Quelle des Eug war und nicht umgekehrt292, so hat demgegenüber M. Krause – in Aufnahme entsprechender Überlegungen von J. Doresse und somit auch seinerseits davon ausgehend, dass zwischen beiden Schriften eine literarische 291 R. McL. Wilson, Gnosis und Neues Testament, S. 105, sieht im Verhältnis beider Schriften zueinander einen »Testfall für die Beziehung des Gnostizismus zum Christentum«. Zur Forschungsgeschichte zu Eugnostos und SJC vgl. K. Rudolph, in: ThR 34 (1969), S. 208–210. 292 W. C. Till, Die gnostischen Schriften des koptischen Pap. Berol. 8502, S. 54.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Beziehung bestehen muss, ja dass die »eine Schrift aus der anderen entstanden sein« muss – in seiner grundlegenden Arbeit über »Das literarische Verhältnis des Eugnostosbriefes zur Sophia Jesu Christi« die entsprechenden Kriterien zugunsten der entgegen gesetzten Auffassung entwickelt, zugunsten der These nämlich, dass die SJC gegenüber dem ursprünglich ›paganen‹, d.h. nicht-christlichen Eugnostosbrief (Eugn) in mancherlei Hinsicht Anzeichen für eine sekundäre christliche Redaktion aufweist293. Dies gilt offensichtlich bereits im Blick auf das ›Rahmenwerk‹ (›framework‹) der SJC , in dem zu Beginn (p. 77,8–80,4) die ›klassische‹ christliche Szene einer Erscheinung des Auferstandenen vor seinen Jüngern (und Jüngerinnen!) auf dem Berge (mit nachfolgender Jüngerbelehrung) nachgestellt wird und am Ende der Jüngerbelehrung (p. 126,17–127,10) der Abschied des Auferstandenen von seinen Jüngern (mitsamt der entsprechenden Reaktion: »Sie [aber] gerieten in große, unaussprechliche Freude im Geist …«). Der Mittel- bzw. Hauptteil der SJC ist durch die der literarischen Gattung des Dialogs entsprechenden, die Offenbarungsrede des auferstandenen Jesus jeweils unterbrechenden (insgesamt zwölf) Bitten und Fragen der Jünger und Jüngerinnen bestimmt bzw. durch die Antworten des Auferstandenen, die – in ihrer Substanz jedenfalls – dem Eugn entnommen sind. Dies mit der (für eine sekundäre Redaktion nicht verwunderlichen!) Folge, dass das in SJC in das ›Gemeingut‹ (von Eugn und SJC ) eingefügte ›Sondergut‹ den Gedankengang, der in Eugn noch einigermaßen deutlich erkennbar war, einigermaßen verwirrend erscheinen lässt – aber: »Diese Schwierigkeiten lösen sich von selbst, wenn man das Sondergut der Sophia Jesu Christi ausscheidet«, d.h. »Dann erhält man einen verständlichen Text, der dem Eugnostosbrief nahesteht. Das bedeutet aber, dass der Eugnostosbrief die primäre Schrift ist, aus der die Sophia Jesu Christi durch viele Einschübe, ihr Sondergut, entstanden ist«294. So gesehen, erscheint die Schlussfolgerung unausweichlich, dass das, was in der SJC vorliegt, in der Tat nichts anderes ist als eine (sekundäre) christliche Überarbeitung des Eugn, und zwar – was die literarische Gattung betrifft – im Sinne der Umwandlung eines ›Lehrbriefes‹ in einen (Offenbarungs-)Dialog wie er in der frühchristlichen Literaturgeschichte – einschließlich der christlichen Gnosis – ein weit verbreitetes literarisches Genus darstellt. Damit ist zunächst – was jedenfalls das literarische Verhältnis von Eugnostosbrief und Sophia Jesu Christi betrifft – ein (relativ!) eindeutiges Ergebnis gewonnen. Gleichwohl hat die weitergehende Diskussion um das literarische Verhältnis von Eugn und SJC – auch abgesehen von der Gegenthese! – doch auch deutlich gemacht295, dass man sich den in diesem Falle so offenkundigen Prozess einer sekundären Christianisierung – ganz abgesehen einmal von der Frage des Prozesses der Übersetzung der in Frage stehenden Schriften aus dem griechischen Original ins Koptische – wohl doch nicht allzu einlinig vorzustellen hat – jedenfalls nicht in dem Sinne, dass der (anonyme) Autor bzw. Kompilator der SJC einfach den in NHC III /3 und V/1 – also in unterschiedlichen Fassungen (und in koptischer Sprache!) überlieferten Eugn unmittelbar zu seiner ›Vorlage‹ gehabt hat! So ist hier – neben dem Hinweis auf den grundlegenden Beitrag von M. Krause – zur Veranschaulichung des komplizierten Traditions- und Redaktionsprozesse vom (ursprünglich in 293

M. Krause, Das literarische Verhältnis des Eugnostosbriefes zur Sophia Jesu Christi. So M. Krause, ebd., S. 221 f. 295 Zur Geschichte der Forschung in dieser Frage vgl. J. M. Robinson, The Coptic Gnostic Library Today, S. 374–376; K. Rudolph, in: ThR 34 (1969), S. 208–210. 294

3.2 Der Quellenbefund

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griechischer Sprache abgefassten) Eugnostosbrief zu den unterschiedlichen Fassungen der Sophia Jesu Christi auf die eindringliche Analyse des Problems in der Übersetzung und Kommentierung des Pap. Berol. 8502 durch M. Tardieu vom Jahre 1984 zu verweisen, hier insbesondere auf das jenen Prozess veranschaulichende Stemma296.

Gleichwohl stehen solche vielfach verästelten Traditions- und Redaktionsprozesse in diesem konkreten Fall nicht der von M. Krause gewiesenen Grundrichtung hinsichtlich des literarischen Verhältnisses von Eugnostosbrief und Sophia Jesu Christi entgegen – damit aber auch nicht dem Sachverhalt einer sekundären Christianisierung. Und dies nicht zuletzt in dem Sinne, dass es sich bei solcherlei Traditions- und Redaktionsprozessen eben nicht nur um formale Prozesse (im Sinne des Übergangs von einer vorgegebenen literarischen Gattung – in diesem Falle der des Briefes zu der des Dialogs) handelt, sondern in Einheit mit der Verwandlung des Briefes zu einem Dialog zugleich um bestimmte Akzentverschiebungen in der Sache. So ist es ja offensichtlich, dass mit der redaktionellen Bearbeitung des ›Eugnostosbriefes‹ in der ›Sophia Jesu Christi‹ zugleich eine Redaktion und Interpretation einer bestimmten (z.T. wohl noch durchaus vor-gnostischen!) Kosmologie in Richtung auf eine (eindeutig gnostische!) Soteriologie verbunden ist. Ganz in diesem Sinne hat D.M. Parrot vor Jahren bereits im Blick speziell auf das literarische Verhältnis von ›Eugnostosbrief‹ und ›Sophia Jesu Christi‹ mit Recht die Frage aufgeworfen, was eigentlich sekundäre Christianisierung in sachlich-theologischer Hinsicht heißt: »Was it … simply an attempt on the part of Gnostics to dress up their doctrines in Christian clothing, or was it the result of the impact upon the Gnostics of a new religious vitality, as I believe?«297. Und ganz in diesem Sinne spricht auch C. Colpe – im Blick nicht nur auf die »Sophia Jesu Christi«, sondern auch im Blick auf das »Apokryphon des Johannes«! – von der Notwendigkeit, diese Schriften »daraufhin zu untersuchen, wie gnostische Mythen weitergeschrieben oder neu konstituiert werden«298. Von daher gesehen und vor allem an den Kriterien zur Bestimmung der Relation von Eugn und SJC gemessen, spricht manches dafür, auch weitere gnostische Originalschriften aus dem Textbestand von Nag Hammadi unter dem Aspekt einer (möglichen) sekundären Christianisierung zu betrachten. Besonders hervorzuheben ist dabei vor allem das (in insgesamt vier verschiedenen Fassungen überlieferte) Apokryphon des Johannes, die »Geheim296

M. Tardieu, Écrites Gnostiques: Codex de Berlin, S. 61 und 65–67. So D. M. Parrot, Evidence of Religious Syncretism in Gnostic Texts from N.H., S. 77. Vgl. ebd., S. 182: Der Nachdruck, der in SJC auf dem Werk des Erlösers liegt, »indicates a shift of interest away from cosmology to soteriology«. 298 C. Colpe, in: JAC 19 (1976), S. 120. Zum Schritt von der Kosmologie zur Soteriologie in Eugnostos und SJC : ebd., S. 131; vgl. auch G.W. MacRae, Nag Hammadi and the New Testament, S. 148. 297

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

schrift des Johannes« (Pap. Berol. 8502/2; NHC II / 1; III /1 und IV / 1), hier jeweils in einer kürzeren (Pap. Berol. 8502 und NHC III /1) und in einer längeren Fassung (NHC II /1 und IV /1). Bereits diese (im Einzelnen unterschiedliche) Mehrfachüberlieferung derselben Schrift weist auf die herausragende Bedeutung gerade dieser ›Geheimschrift‹ (zunächst) für die (christliche) Gnosis hin – darüber hinaus aber auch darauf, dass diese Schrift – wie bereits die unterschiedlichen Versionen anzeigen – einen ›komplizierten‹, im Detail kaum noch zu rekonstruierenden »Entstehungsprozess hinter sich hat«299. Eine ›komplizierte Entstehungsgeschichte‹, d.h. dann aber zugleich auch: eine bestimmte, durchaus nicht einlinig verlaufene Überlieferungs- und Interpretations- bzw. Redaktionsgeschichte. Im Rahmen der hier vor allem interessierenden Fragestellung wäre dies dann entsprechend zu präzisieren: Gibt es in den überlieferten Textgestalten des ›Apokryphon des Johannes‹ (im Folgenden: AJ ) Anhaltspunkte dafür, dass auch diese für die Geschichte der Gnosis offensichtlich wichtige ›Geheimschrift‹ in ihrer in den Textzeugen überlieferten Endgestalt als das Produkt einer sekundären Christianisierung und die (zu erschließende oder doch jedenfalls zu postulierende) ›Urschrift‹ des AJ als das Zeugnis einer (noch) nicht-christlichen Gnosis zu betrachten ist? Auch wenn für das AJ nicht – wie im Falle der Relation Eugn / SJC – ein Vergleichstext außerhalb der Überlieferung des AJ selbst zur Verfügung steht, wären hier doch auch jene Kriterien wiederum in Anschlag zu bringen, die bereits für die Bestimmung der Relation Eugn / SJC galten. Das Hauptkriterium wäre dann – analog zur SJC – zunächst die Unterscheidung zwischen der (narrativen) Rahmenhandlung (›frame-work‹) des AJ einerseits und dem (lehrhaften) Inhalt (›contents‹) dieser ›Geheimschrift‹ andererseits300. Der Befund, der sich bei einer solchen Unterscheidung ergibt, ist in der Tat auffällig: In der Eingangsszene des AJ steht die – durch die polemische Frage eines Pharisäers ausgelöste – Grundfrage des ›Johannes‹: »Wie wurde denn der Erlöser eingesetzt, und weshalb wurde er in die Welt geschickt von seinem Vater, der ihn sandte? Und: wer ist sein Vater …? (p. 19,10 ff. und p. 20,8 ff.). Diese Dialogszene ist die Voraussetzung für das im Folgenden (p. 20,19 ff.) geschilderte Offenbarungsgeschehen bzw. die damit einsetzende Offenbarungsrede des – was zwar nicht ausdrücklich gesagt wird – ›auferstandenen‹ Jesus. Dies ist die geradezu als ›klassisch‹ zu bezeichnende Disposition für die Vielzahl von Offenbarungsreden und Offenbarungsdialogen in der ›apokryphen‹ frühchristlichen Literatur. Diese Szenerie zu Beginn des AJ findet sodann – insbesondere im 2. Teil der Offenbarungsrede – ihre Fortsetzung in einer bestimmten Dialogstruktur der Offenbarungsrede in den (Zwischen-)Fragen des Johannes, und zwar nach dem Muster: »Ich (sc.: Johannes) sagte zu ihm …«/»Er aber sagte …« (p. 58,1 ff./14–16; 64,13–16/17 ff.; 66,13–17/18 ff.; 67,18 ff./68,3 ff. – usw.). Beschlossen wird der ganze Zusammenhang am Ende der Offenbarungsrede mit der »Übergabe dieses Geheimnisses« an Johannes (p. 76,5 ff.: »Ich will 299

So K. Rudolph, in: ThR 34 (1969), S. 146. Zitiert wird im Folgenden das AJ nach der (der Fassung von Codex III /1 von N.H. nahestehenden) Version des Pap. Berol. 8502. 300

3.2 Der Quellenbefund

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euch verkünden, was geschehen wird; denn ich habe dir dieses gegeben, um es aufzuschreiben, [und] man soll es sicher hinterlegen« – mit folgender Fluchandrohung an diejenigen, die diese ›Geheimlehre‹ um des Gewinns willen an andere weitergeben, und dem Entschwinden des Offenbarers: »Und er (sc.: Johannes) kam zu seinen Mitjüngern und begann ihnen das zu sagen, was ihm vom Erlöser ( ) gesagt worden war« (p. 76,15–77,5). Es folgt die Unterschrift mit dem Titel »Die Geheimlehre ( ) des Johannes« (p. 77,6 f.).

Offensichtlich ist bei alledem, dass die im AJ in der Offenbarungsrede des auferstandenen Erlösers im Einzelnen entfaltete ›Geheimlehre‹ – sieht man einmal von den relativ wenigen Unterbrechungen durch die Zwischenfragen des Johannes ab – eher den Eindruck einer (relativ) in sich geschlossenen ›Abhandlung‹ erweckt, in der eine in sich geschlossene Antwort auf die typisch gnostische Frage gegeben wird, wie »das Böse in die Welt gekommen ist« und wie der Mensch sich davon zu befreien vermag301. So gesehen stellt das ›Rahmenwerk‹ des AJ im Grunde lediglich eine Situation zur eigentlichen Offenbarungsrede zur Verfügung, die als solche die durch die Rahmenhandlung bezeichnete konkrete Situation weit überschreitet. Hinzu kommt vor allem auch die mit Blick auf den sachlichen Inhalt der Offenbarungsrede selbst nicht zu umgehende Feststellung, dass sie – aufs Ganze gesehen – durch keinerlei spezifisch christliche Akzente bestimmt ist. Hier gibt es vielmehr eine auffällige Diskrepanz zwischen der Rahmenhandlung einerseits und dem Inhalt der Offenbarungsrede andererseits: »But the framework, which is so distinctly Christian, has no clearly discernible continuation in the interior of the writing, except in the simple addresses to the revealer in the dialogue passages«302. Und am Ende kann man in diesem Sinne sogar sagen, dass es gerade die in den überkommenen Versionen des AJ vorliegenden christlichen Elemente sind, die in diesem Falle die Vermutung der sekundären Christianisierung einer ursprünglich nicht-christlichen Schrift nahelegen bzw. bestätigen. ›Christus‹ selbst kommt ja im Zentrum des AJ , also in der eigentlichen ›Geheimlehre des Johannes‹ gar nicht als der ›Erlöser‹ vor – vorsichtiger gesagt: nicht in der Ausschließlichkeit, wie man dies für eine ursprüngliche christlich-gnostische Schrift erwarten mag303. Vieles – um nicht geradezu ›Alles‹ zu sagen – spricht also zugunsten der Auffassung, dass in der Tat im ›Apokryphon des Johannes‹ nicht ein Grunddokument einer ursprünglich christlichen Gnosis vorliegt, sondern das Zeugnis eines

301 So W. C. Till, Die gnostischen Schriften des koptischen Pap Berolinensis 8502, S. 35. Zum Gegenstand der im AJ geoffenbarten Geheimnisse im einzelnen: ebd., S. 35–51. 302 So H.-M. Schenke, The Phenomenon and Significance of Gnostic Sethianism, S. 611 f. 303 Zur Christologie des AJ vgl. S. Arai, Zur Christologie des Apokr. des Johannes, S. 317 f. M. Krause sieht in diesem Sinne alle von ihm ausgearbeiteten Kriterien einer sekundären Christianisierung bestätigt. Zur Fragestellung vgl. auch B.A. Pearson, The Problem of Jewish Gnostic Literature, S. 20: AJ »is a document whose present form represents a secondary Christianization of previously non-Christian material«.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

sekundären Prozesses der nachträglichen Christianisierung einer ursprünglich nicht-christlichen gnostischen Schrift. Im Übrigen bedarf es angesichts dieses Ergebnisses im Blick auf das AJ keiner Frage, dass sich für diejenigen, die nach wie vor grundsätzlich von einem christlichen Ursprung der Gnosis – als einer sekundären christlichen Häresie! – ausgehen, die Dinge auch im Blick auf das AJ – selbstverständlich – gänzlich anders darstellen. Hingewiesen sei hier nur auf A.H.B. Logan, der in seinem jüngsten Werk ›Gnostic Truth and Christian Heresy‹ bereits in der ›Introduction‹ die ›basic presuppositions‹ nennt, von denen er im Folgenden ausgeht: Zu diesen ›basic presuppositions‹ gehört an erster(!) Stelle, dass der ›Sethian Gnosticism‹, dem ja auch das AJ zuzurechnen ist, ›a basically Christian phenomenon‹ ist. Und ganz auf dieser Linie liegt dann auch seine zweite ›Grundvoraussetzung‹, »that one is justified in seeking both a central core of ideas, a myth or myths based on and concretely expressed in a rite of initiation as a projection of Gnostic experience, which holds it together, and in treating it as a valid form (or forms) of interpreting Christianity«304. Dem entspricht dann auch die Grundthese von S. Pétrement in ihrer umfassenden Untersuchung ›A Separate God‹, auf die sich A.H.B. Logan ausdrücklich beruft: »Pétrement has made a strong case for understanding the heart of Gnosticism as the revelation by Jesus Christ …«305. Was schließlich noch einmal die Frage einer sekundären Christianisierung im Falle des AJ betrifft, so sei hier noch kurz auf eine besondere Variante in dieser Hinsicht hingewiesen, und zwar im Rahmen einer ›Feministischen Theologie‹: In dem von K.L. King edierten Sammelband ›Images of Feminism in Gnosticism‹ vom Jahr 1988 geht die Herausgeberin in ihrem eigenen Beitrag zum Thema unter dem Titel »Sophia and Christ in the Apocryphon of John« (S. 158–176) ebenfalls davon aus, dass im AJ das Dokument einer sekundären Christianisierung vorliegt (S. 160 f.). Auch sie geht also von der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen ›frame-work‹ einerseits, ›contents‹ (sc: der eigentlichen Offenbarungsrede) andererseits aus, variiert nun ihrerseits dieses Ergebnis im Sinne einer feministischen Theologie. Das heißt konkret: Lediglich die Rahmenhandlung des AJ präsentiert (den männlichen) Christus als den ›Erlöser‹, während für den eigentlichen Inhalt der ›Geheimlehre des Johannes‹ gilt: »The primary savior figure in the text, the Epinoia of Light, is female«306. Das Ergebnis einer solchen Betrachtung des AJ liegt auf der Hand: Über jede formale Analyse einer Diskrepanz zwischen der Rahmenhandlung einerseits und dem Inhalt der Schrift andererseits hinaus hat die von K.L. King aus dem Vergleich von Pap. Berol. 8502 und NHC II /1 gewonnene Erkenntnis einer sekundären Christianisierung hinsichtlich der Soteriologie des AJ am Ende nichts anderes zur Konsequenz als eine sekundäre ›masculinization‹ in der Soteriologie des AJ307.

304

A. H. B. Logan, Gnostic Truth and Christian Heresy, S. XIII ff.; Zitate: S. XVIII f. Ebd., S. XIX . Zur Position von S. Pétrement, A Separate God, zum AJ vgl. S. 420 f. 436 ff. 306 Karen L. King, Images of Feminism in Gnosticism, hier in ihrem Beitrag: »Sophia and Christ in the Apocryphon of John«: S. 167 ff. und S. 173 f.: »Pronoia as female savior figure«. 307 Diese Formulierung in der kritischen Antwort von J. D. Turner auf K. L. Kings Beitrag: a.a.O., S. 178. Vgl. jedoch B.A. Pearson, Revisiting Norea, S. 268: »What is also of interest, 305

3.2 Der Quellenbefund

143

Von den weiteren Schriften aus der Bibliothek von Nag Hammadi, die im Verlauf der Diskussion anhand der von M. Krause erarbeiteten Kriterien – im Einzelnen gewiss mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit – als Zeugnisse einer sekundären Christianisierung in Betracht gezogen worden sind308, sei hier abschließend nur noch auf das in den Schriften von Nag Hammadi zweifach überlieferte sog. Ägypterevangelium (NHC III /2 und IV /2) hingewiesen, von dem vor Jahrzehnten bereits A. Böhlig in seiner Abhandlung über »Das Ägypterevangelium. Ein Dokument des mythologischen Gnostizismus« gemeint hat: »Wenn man annimmt, dass in Nag Hammadi auch Texte vorhanden sind, die erst [sekundär] christianisiert worden sind, so ist das Ägypterevangelium ein geeignetes Objekt zur Nachprüfung«309. Der Sachverhalt einer sekundären Christianisierung im Blick speziell auf das Ägypterevangelium ist freilich keineswegs unumstritten. A. Böhlig selbst war in seiner ersten Publikation zum Thema »Christentum und Gnosis im Ägypterevangelium« noch der Meinung, dass es sich beim Ägypterevangelium (ÄgEv) um eine Schrift handelt, »die bereits in ihrer Konzeption(!) stark vom Christentum aus beeinflusst war«, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass die »Auseinandersetzung mit Paulus, dem Apostolus haereticorum, und mit dem in diesen Kreisen so beliebten Johannesevangelium … deutlich spürbar« sei, sondern – darüber hinaus – auch insofern, als in diesem »Evangelium«(!) der »Logos, Christus und Jesus … ihren gebührenden Platz im Heilsgeschehen« erhalten310. Seit der Veröffentlichung dieses Beitrages (im Jahre 1969) hat die weitergehende Forschung jedoch zu einer – auch von A. Böhlig geteilten – erheblich anders akzentuierten Auffassung vom ÄgEv geführt, und zwar nun eben im Blick auf den ursprünglich christlichen bzw. christlich-gnostischen Charakter dieser Schrift: Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass das ÄgEv als solches, d.h. in seiner in den beiden Codices von Nag Hammadi vorliegenden Gestalt das Zeugnis einer christlichen Gnosis ist: Der deutlichste Hinweis darauf liegt in dem (nur in NHC III /2 überlieferten) Kolophon vor, in dem sich – nach der Unterschrift »Das Evangelium der Ägypter« (p. 69,6) – in der Verbindung mit der Kennzeichnung des Buches als »Das von Gott geschriebene heilige Buch des großen unsichtbaren Geistes« zugleich das bekannte Akrostichon (›Jesus Christus – Gottes Sohn – Soter‹) findet. Hinzu kommt – neben einigen (möglichen) Anspielungen auf Zitate aus dem Neuen Testament – innerhalb der Schrift die jeweils mehrfache Nennung von ›Jesus‹ und – insbesondere – ›Christus‹. Gleichwohl wäre es am Ende verfehlt, aus derartigen Anzeichen sogleich auf den ursprünglich christlichen bzw. christlich-gnostischen Charakter der Schrift zu schließen. Dem steht bereits – was den Kolophon in this connection, is that (secondary!) Christianization of some gnostic texts also leeds to a masculinization of Gnostic soteriology«. 308 Dies sind u.a. folgende Schriften: Hypostasis der Archonten (NHC II /4); Schrift ohne Titel (II /5); Paraphrase des Seem (VII /1); Dreigestaltige Protennoia (XIII ). Vgl. C. Colpe, in: JAC 18 (1975), S. 157, zu NHC II /4: »die äußere Verchristlichung von HA und SoT … besteht in Zitaten und im Einrücken Christi in die Reihe der Erlöser«. 309 A. Böhlig, Gnosis und Synkretismus I, S. 363. Zu vergleichen ist hier auch der Exkurs zur Ursprünglichkeit der Christologie im Ägypterevangelium (S. 363–365). 310 A. Böhlig, Christentum und Gnosis im Ägypterevangelium, S. 18.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

betrifft – die Tatsache entgegen, dass die Schrift am Ende die Unterschrift trägt: »Das heilige Buch des großen unsichtbaren Geistes« (NHC III /2, p. 69,19 f.), der auch das ›Incipit‹ entspricht: »Das Buch der heiligen Anrufung des großen unsichtbaren Geistes« (ebd., p. 40,12 f.). Eben dieser Titel – »Das heilige Buch des großen unsichtbaren Geistes« – dürfte also der ursprüngliche Titel einer Schrift gewesen sein, die erst sekundär – durch die Hinzufügung jenes Kolophons zu einer christlichgnostischen Schrift umgestaltet worden ist311. Dasselbe gilt dann selbstverständlich auch für die Unterschrift in NHC III /2, p. 69,5–7: »Das Evangelium der Ägypter« (mit dem Zusatz: »Das von Gott geschriebene heilige verborgene Buch«!) Und endlich: Dasselbe gilt dann – im Blick auf den eigentlichen Inhalt des ÄgEv – von den mehrfachen Bezugnahmen auf ›Christus‹ bzw. auf den ›großen Christus‹, die – je in ihrem Kontext – ganz offensichtlich mit interpretierenden bzw. kommentierenden Formeln (wie: ›welcher ist …‹) sekundär hinzugefügt worden sind312. So gesehen, kann man – mit R. McL. Wilson – durchaus feststellen: »The Christian element in the document is comparatively slight«313. So gesehen liegt die Schlussfolgerung nahe, dass diese Schrift ursprünglich gar kein ›Evangelium‹ im genuin christlichen Sinne gewesen ist. Ihr ursprünglicher Titel lautete vielmehr: Das heilige Buch des großen unsichtbaren Geistes. Erst sekundär ist daraus – vermittels bestimmter nachträglicher Interpolationen und Zusätze, von denen hier zunächst nur auf den Kolophon zu verweisen ist – das christlichgnostische ›Ägypterevangelium‹ geworden314. Als ursprünglich nicht-christliche gnostische Schrift ist dieses ›Evangelium‹ – von ihrem Ansatz her! – ein Buch des ›großen Seth‹ gewesen – und in diesem Sinne auch das genuine Zeugnis einer sethianischen Gnosis, das als solches offensichtlich in einer engen Beziehung zu den anderen Zeugnissen der sethianischen Gnosis von Nag Hammadi steht, insbesondere zur Adam-Apokalypse (NHC V/5) sowie zum Apokryphon Johannis, auf das es – was wohl kein Zufall ist – in zwei Kodizes (NHC III /1 und IV /1) unmittelbar folgt315. Charakteristisch für den sethianischen Charakter der Schrift ist, dass Seth ausdrücklich als ihr Autor genannt wird: »Dieses Buch hat der große Seth Buchstabe für Buchstabe geschrieben«, heißt es hier – ja noch mehr: »Er – Seth – hat es 311 Zum sekundären Charakter des Kolophons vgl. A. Böhlig / F. Wisse in der Textedition (NHS 4, Leiden 1975), S. 8 f. 206 f.; vgl. auch P. Bellet, The Colophon of the Gospel of Egyptians, in: R. McL. Wilson, Nag Hammadi and Gnosis, S. 44–65. 312 Vgl. z.B. NHC III /2, p. 54,18–20 = IV /2, p. 66,6–8; III /2, p. 65,16 f. = IV /2, p. 77,13 f., sowie NHC IV /2, p. 56,26 f.; 59,16 f.; 60,7. Dazu im Einzelnen den Kommentar von A. Böhlig/ F. Wisse (NHS 4), S. 175.180. Im Übrigen vgl. A. Böhlig, in: A. Böhlig/C. Markschies, Gnosis und Manichäismus, S. 187: »Die Stellen, an denen ›Christus‹ vorkommt, lassen sich auch bei Streichung des Namens sinnvoll übersetzen«! 313 Vgl. auch G.W. MacRae, Nag Hammadi and the New Testament, S. 149: »This work is clearly a product of Christian Gnosticism, but a close analysis of it and a comparison with the ›Apocalypse of Adam‹ suggest that here we have another glimpse of the process by which an originally non-Christian myth was appropriated an at least superficially christianized«. 314 Vgl. auch G.W. MacRae, Nag Hammadi and the New Testament, S. 149: »This work is clearly a product of Christian Gnosticism, but a close analysis of it and a comparison with the ›Apocalypse of Adam‹ suggest that here we have another glimpse of the process by which an originally non-Christian myth was appropriated an at least superficially christianized«. 315 Zu den Beziehungen zur Apk des Adam vgl. A. Böhlig, Gnosis und Synkretismus I, S. 345 f. Zu den Beziehungen zum (1. Teil des) Apokryphon des Johannes vgl. C. Colpe, in: JAC 19 (1976), S. 127 ff.

3.2 Der Quellenbefund

145

auf dem Gebirge … niedergelegt, damit es in den letzten Zeiten und Fristen … hervorkomme und kundgemacht werde diesem unvergänglichen heiligen Geschlecht des großen Soter …«316. Der große Seth ist hier, im sog. Ägypterevangelium, die zentrale Figur der ganzen Schrift – und in diesem Sinne insbesondere im 2. Teil der Schrift auch die primäre – weil dem System immanente – Erlösergestalt317. Für eine (ursprünglich nicht-christliche) Seth-Schrift, die erst nachträglich christianisiert worden ist, ist es dann auch nur konsequent wenn nach NHC III /2, p. 63,25–64,3 par NHC IV /2, p. 75–14–17 eben dieser Seth als derjenige genannt wird, der »den lebendigen Jesus angezogen und [so] die Kräfte der dreizehn Äonen [ans Kreuz] angenagelt hat«318. Jesus – und mit ihm seine Kreuzigung! – ist hier gleichsam zu einer irdischen Erscheinungsform des Seth geworden – eine Vorstellung, die im Übrigen, was die Gestalt Jesu als solche betrifft, nach dem Bericht des Epiphanius den (christlich-gnostischen) Sethianern durchaus geläufig war319. Bei alledem macht nun – was jedenfalls das sog. Ägypterevangelium selbst betrifft – gerade jene Metaphorik vom Anziehen (Jesu)« auf ihre Weise wiederum deutlich, dass ›der große Seth‹ durchaus die primäre Erlösergestalt ist, die erst nachträglich in eine Verbindung mit Jesus gebracht worden ist.

Insoweit stellen sich die Dinge, was die Frage der sekundären Christianisierung einer ursprünglich nicht-christlichen gnostischen Schrift betrifft, im Blick auf das sog. Ägypterevangelium durchaus eindeutig dar – aber: Lässt sich das, was an den relativ geringen spezifisch christlichen Spuren im ÄgEv in seiner vorliegenden Gestalt überliefert ist, nicht auch ganz anders verstehen, nämlich – so wie R. McL. Wilson gefragt hat320 – als »a relic of an earlier and more Christian stage«? Konkret würde dies bedeuten, dass für das ÄgEv – wie auch für jene anderen Schriften von Nag Hammadi, für deren überlieferte Endgestalt der Prozess einer sekundären Christianisierung wahrscheinlich gemacht werden konnte – nun gleichsam der umgekehrte Vorgang einer sekundären De- bzw. Ent-Christianisierung vorauszusetzen wäre – mit der Konsequenz u.a., dass im konkreten Falle einer sekundären Christianisierung des Eugnostosbriefes in der Sophia Jesu Christi das (zeitliche) Nacheinander dieser beiden Schriften – entgegen der in diesem Falle angenommenen Abfolge Eugn – SJC – umzukehren wäre! Nun ist – neben 316 Vgl. NHC III /2, p. 68,1 f. 10 ff. Nach Colpe, in: JAC 19 (1976), S. 129, ist die Zuschreibung des Buches an Seth als Autor »eine konsequente Extrapolation in die Rolle des Verkündigers des erlösenden Systems«. 317 Vgl. NHC III /2, p. 60.9 ff. (= NHC IV /2, p. 71,18 ff.) sowie NHC III /2, p. 68,20 ff. – Zu Seth als Erlösergestalt vgl. auch C. Colpe, in: JAC 19 (1976), S. 129: »Seth ist der eigentliche Erlöser, er ist durch und durch systemimmanent«. 318 Zur Stelle im einzelnen vgl. A. Böhlig/F. Wisse, Nag Hammadi Codices III ,2 und IV,2, S. 193, sowie C. Hedrick, Christian Motifs in the Gospel of Egyptians, S. 248 f., der die Konfusion in beiden Textzeugen hinsichtlich der unterschiedlichen Position des Namens Jesus als einen Hinweis auf die sekundäre Verbindung des Seth mit Jesus betrachtet – mit der Schlussfolgerung, »that the name of ›Jesus‹ is a Chritianizing interpolation« (S. 249). 319 Epiphanius, Haer. 39,1,3 und 39,3,5. Vgl. auch A. Böhlig, Gnosis und Synkretismus I, S. 356. 320 R. McL. Wilson, The Gospel of Egyptians, S. 245.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

dem Prozess einer sekundären Christianisierung von ursprünglich nichtchristlichen gnostischen Schriften – die Möglichkeit einer sekundären Debzw. Entchristianisierung grundsätzlich nicht auszuschließen: »The other possibility, that we have in our documents is a trend away from Christianity, must still be kept open«321. Angesichts dessen, dass ja auch die Auffassung vom Prozess einer sekundären Christianisierung in keinem Falle die Beweislast für eine generelle Entwicklung von einer vor- bzw. nicht-christlichen Gnosis zu einer sekundär christianisierten Gnosis zu tragen vermag322, ist in der neueren Forschungsgeschichte bereits mehrfach der Versuch gemacht worden, für bestimmte Schriften von Nag Hammadi den Nachweis einer (sekundären) De-Christianisierung zu führen. Besonders hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf den Versuch von H.-M. Schenke, in diesem Sinne das literarische Verhältnis des Eugnostosbriefes zur Sophia Jesu Christi zu bestimmen, »da« – so H.-M. Schenke – »von vornherein in der Geschichte der Gnosis neben der Tendenz der Verchristlichung mit der Entchristlichung zu rechnen« sei323.

Nun hat R. McL. Wilson gewiß Recht, wenn er in dieser Hinsicht, was also die Möglichkeiten einer (sekundären) Christianisierung oder einer (sekundären) De-Christianisierung betrifft, keine Alternative sehen möchte: »to think merely in terms of Christianisation or de-Christianisation, as mutually exclusive alternatives, may be an over-simplification«324; gleichwohl bleibt zu bedenken, dass für das literarische Phänomen einer sekundären Christianisierung von ursprünglich nicht-christlichen gnostischen Texten immerhin – wie oben im Einzelnen an den hierfür in Betracht kommenden Schriften von Nag Hammadi dargelegt – bestimmte Beobachtungen zur Kohärenz bzw. ursprünglichen Einheitlichkeit der hier in Betracht kommenden Schriften sprechen. Demgegenüber bedarf es für die Alternative in dieser Hinsicht, für das Phänomen einer sekundären De-Christianisierung also, zur näheren Begründung für solchen Vorgang erst des (an den in Betracht kommenden Texten selbst nicht festzumachenden!) Postulats, dass es in der Geschichte einer von ihrem Ursprung her christlichen Gnosis unter bestimmten historischen und religiösen Bedingungen schließlich zu einer bewußten, ja gezielten De-Christianisierung der überlieferten christlichgnostischen Schriften gekommen ist. Und was jene »bestimmten historischen und religiösen Bedingungen« betrifft, so wäre dann – was deren Konkretion 321 Ebd., S. 246: »… do such features reflect the Christianizing of an otherwise non-Christian document or are grey to be regarded as the last faint traces of a system which was originally more strongly Christian?«. 322 Demgegenüber freilich K. Rudolph, Nag Hammadi und die neuere Gnosisforschung, S. 7: Die sekundäre Christianisierung von ursprünglich nicht-christlichen Schriften sei »als literarischer Beweis für den nichtchristlichen Ursprung derartiger Werke zu werten, und damit zugleich auch der Gnosis in ihrer Frühform«. 323 So H.-M. Schenke, Nag Hammadi-Studien II , Zitat: S. 266; vgl. auch R. McL. Wilson, Gnosis und Neues Testament, S. 110. 324 R. McL. Wilson, The Gospel of the Egyptians, S. 245.

3.2 Der Quellenbefund

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betrifft – vorauszusetzen, dass es in der (späteren) Geschichte der Gnosis zu einer Situation gekommen ist, in der sich die Gnostiker – im Blick eben auch auf ihr überliefertes Schrifttum – angesichts einer zunehmenden Isolierung der gnostischen ›Häretiker‹ infolge der antignostischen Polemik der altkirchlichen Häresiologen des 2. bis 4. Jahrhunderts – am Ende veranlasst oder auch gezwungen sahen, sich gleichsam auf sich selbst zurückzuziehen, das heißt: auf »the non-Christian, esoteric, and hermetic elements within its tradition«: »Gnostics became members of an independent esoteric sect, moved towards the more congenial Mandaean and Manichaean circles« – mit der Konsequenz schließlich: »The rest were no longer within the Christian sphere of influence«! Zugegebenermaßen handelt es sich bei dieser von Ph. Perkins vorgetragenen Version um eine geistreiche, historisch vielleicht sogar grundsätzlich mögliche Konstruktion325 – aber am Ende doch eben um eine Konstruktion, angesichts deren es schließlich doch keiner Frage bedarf, dass der Prozess einer sekundären Christianisierung von ursprünglich nicht-christlichen gnostischen Schriften durchaus wahrscheinlicher ist als der umgekehrte Prozess. Als – nach Lage der Dinge: wahrscheinliches – Ergebnis kann damit festgestellt werden: Ebenso wenig wie die von den altkirchlichen Häresiologen benutzten gnostischen Quellen können auch die gnostischen Originalquellen von Nag Hammadi als Zeugnisse einer vor-christlichen Gnosis betrachtet werden. Was dagegen aus ihnen – oder doch jedenfalls aus einem Teil von ihnen – entnommen werden kann, ist das Zeugnis einer ursprünglich nichtchristlichen Gnosis, einer vor-christlichen Gnosis allenfalls im Sinne einer Gnosis, »die der christlichen Gnosis des 2. Jh.s vorausgeht«326, und die – in diesem Sinne – nicht lediglich als eine aus dem Christentum selbst erwachsene ›Häresie‹ anzusehen ist. Insofern demonstrieren die gnostischen Originalquellen von Nag Hammadi in der Tat »a development model within Gnosticism itself that leads from a non-Christian Gnostic myth to a patently christianized version«327. Angesichts dessen liegt dann auch die Schlussfolgerung nahe: »If this movement corresponds to the genesis of Gnosticism itself, its importance lies in the fact that so-called Christian Gnosticism is a secondary phenomenon – secondary not only to Christianity but to Gnosticism itself« – und: »The most striking instance of this development in the Nag Hammadi collection is one in which it can be observed as a literary process«328. – Ob und inwieweit damit die im Zusammenhang dieses ›literarischen Prozesses‹ konkret in Betracht kommenden Schriften also solche 325 Ph. Perkins, Gnosticism as a Christian Heresy, in: M. Eliade (ed.), The Encyclopedia of Religion 5/6, S. 578 f. (Zitat: S. 559). 326 So A. Böhlig, Christentum und Gnosis im Ägypterevangelium, S. 2, Anm. 5. 327 So G.W. MacRae, Nag Hammadi and the New Testament, S. 147. 328 Ebd., S. 147, hier im Folgenden mit Verweis auf den ›literarischen Prozess‹ einer sekundären Christianisierung: »The important thing is that certain the Nag Hammadi documents tend to suggest that this authentic Christian Gnosticism is the result of a process of assimila-

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

zugleich für die spezielle Frage nach einer – wie immer auch im Einzelnen gearteten- Einwirkung der Gnosis auf das Schrifttum des Urchristentums von Bedeutung sind, ist freilich eine nach wie vor gänzlich offene Frage329. Im Folgenden ist demgegenüber zunächst noch der Frage nachzugehen, ob und inwieweit dies nun auch für jene gnostischen (?) Schriften zutrifft, die in der Forschungsgeschichte seit langem schon eine besondere Rolle bei der Suche nach einer vor-christlichen Gnosis – besser wohl: nach einer außerchristlichen bzw. heidnischen Gnosis gespielt haben.

3.2.4 Zeugnisse einer außer-christlichen bzw. heidnischen Gnosis? Zwei Quellenkomplexen vor allem ist in der Forschungsgeschichte bei der Frage nach einer vor-christlichen bzw. einer außer-christlichen Gnosis seit langem bereits eine besondere Rolle zugewiesen worden: Zum einen dem Schrifttum der sog. Hermetik, wie es vor allem in der Schriftensammlung des Corpus Hermeticum überliefert ist, und zwar als dem Repräsentanten einer hellenistischen (oder auch: philosophischen) Gnosis, und zum anderen im Schrifttum der Mandäer als den Repräsentanten einer orientalischen Gnosis. Zu diesen beiden Quellenkomplexen kommen im Zusammenhang dieser Fragestellung – freilich nur in zweiter Linie – noch weitere Quellenschriften hinzu, und zwar die sog. Oden Salomonis, das sog. Perlenlied aus den apokryphen Thomasakten sowie die (manichäischen) Thomas-Psalmen, auf die freilich an dieser Stelle nur in der gebotenen Kürze einzugehen ist.

3.2.4.1 Zur Frage einer außer-christlichen Gnosis im Schrifttum der Hermetik Die Bedeutung des hermetischen Schrifttums – in Gestalt vor allem der Sammlung des Corpus Hermeticum – lag in der Forschungsgeschichte der Gnosis bzw. des Gnostizismus einst – insbesondere auf Grund der Forschungen von R. Reitzenstein und W. Bousset330 – vor allem darin, dass dieses Schrifttum oder doch jedenfalls bestimmte Teile desselben in Gestalt vor allem der von W. Bousset so genannten ›dualistisch-pessimistischen‹ Traktate des Corpus Hermeticum ganz unmittelbar als ein Primärzeugnis für eine vor-

ting an established non-Christian Gnosticism, not a process of heresy originating in a Christian orthodoxy« (S. 149). 329 Ebd., S. 149: »This christianizing process has been dealt with here at some length because to the extent that we can infer an originally non-Christian Gnosticism, we can regard the question of Gnostic influence on the New Testament as an open«. 330 Vgl. bes. R. Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen, S. 46 ff., sowie W. Bousset in seiner Rezension zu J. Kroll, Die Lehren des Hermes Trismegistos, in: W.Bousset, Religionsgeschichtliche Studien, S. 97–159.

3.2 Der Quellenbefund

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christliche hellenistische Gnosis galten331: »Aber immer deutlicher taucht bei allen diesen Untersuchungen die Gestalt einer vorchristlichen, rein hellenistischen Gnosis vor unseren Blicken auf. Und die religionsgeschichtliche Bedeutung des hermetischen Schrifttums beruht darauf, dass sie das zentrale(!) Zeugnis für diese hellenistische Gnosis enthalten«332. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier Gnosis und (eine bestimmte, nämlich ›dualistische‹ Art von) Hermetik in eins gesetzt oder doch jedenfalls unmittelbar miteinander verbunden werden, dürfte heute, beim gegenwärtigen Stand der Forschung (gerade im Blick auch speziell auf die Hermetica!) wohl kaum noch in dieser Weise nachvollziehbar sein, und zwar gerade auch im Blick speziell auf die im Zusammenhang der Frage nach einer vor-christlichen Gnosis anstehenden Datierungsfragen! Die erste Frage, die – zumal in einem von den gnostischen Originalschriften herkommenden Argumentationszusammenhang! – an die Grundkonzeption von R. Reitzenstein und W. Bousset zu stellen ist, ist ja schon die Grundfrage, ob es überhaupt angemessen ist, Gnosis bzw. Gnostizismus einerseits und Hermetik andererseits in dem Maße – vorsichtig formuliert – einander anzunähern bzw. sogar miteinander gleichzusetzen, so dass die entsprechenden ›gnostischen‹ Traktate des Corpus Hermeticum als unmittelbar repräsentativ für die Gnosis in Anspruch genommen werden können?333 – ganz zu schweigen an dieser Stelle noch von der beim gegenwärtigen Stand der Forschung mehrfach betonten Position, dass die hermetischen Schriften und hier insbesondere der erste Traktat des Corpus Hermeticum, der sog. Poimandres – bisher als ein geradezu ›klassisches‹ Zeugnis für den (vor-christlich-)gnostischen Charakter der Hermetica geltend – seinerseits bereits unter einem spezifisch christlichen Vorzeichen als eine Art ›paganisiertes Evangelium‹ zu betrachten sei! – womit nun in der neuesten Forschungsgeschichte das bisher weithin als eine ›Säule‹ der Existenz einer wenn schon nicht vor-, so doch wenigstens außer-christlichen Gnosis geltende hermetische Schrifttum am Ende ebenfalls – wie bereits einige von den gnostischen Original Schriften von Nag Hammadi – gleichsam in den ›Strudel‹ einer (sekundären) De-Christianisierung bzw. (sekundären) Paganisierung eines ursprünglich christlichen Schrifttums geraten ist! 331 Zur Klassifizierung der hermetischen Traktate in ›dualistisch-pessimistische‹ Traktate (C.H. I.IV .VI .VII .XIII ) und ›monistisch-optimistische‹ Traktate (C.H. II .III .V.VIII .XI .XIV ) sowie ›Mischtraktate‹ (C.H. IX .X.XII .XV ) vgl. W. Bousset, Religionsgeschichtliche Studien, S. 98 und S. 152 f., sowie K.-W. Tröger, Mysterienglaube und Gnosis im Corpus Hermeticum XIII , S. 5 f. 332 So W. Bousset, Religionsgeschichtliche Studien, S. 159. Vgl. ebd., S. 106 f.: »Was wir hier vor uns haben, ist eben … direkt als Gnosis, und zwar als hellenistische Gnosis anzusprechen«. Vgl. auch J. Doresse, »Les livres secrets des Gnostiques d’Égypte, S. 306: »Ils expriment effectivement une Gnose, mais une paienne, essentiellement philosophique«; K. Prümm, Relgesch. Handbuch, S. 535: »Die Hermetik als Typ heidnischer Gnosis«. 333 Auch W. Bousset, Kyrios Christos, S. 133.137, Anm. 2, hat bereits die Eigenart der Hermetik im Sinn der »Mysterienfrömmigkeit einer Sekte« erkannt; ebd., S. 231 f.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Damit ist dann freilich auch schon deutlich, dass die für die ältere Forschungsgeschichte hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Gnosis und Hermetik charakteristische Position der Zusammengehörigkeit von Hermetik (in Gestalt vor allem der sog. dualistisch-pessimistischen Traktate des Corpus Hermeticum) und (vor- bzw. außerchristlicher) Gnosis so jedenfalls, wie dies bisher weithin angenommen worden ist334, unter den gegenwärtigen Fragestellungen und Bedingungen – zumindest – problematisch geworden ist. Bei alledem ist es im Übrigen unbestritten, dass beide – die Gnosis wie auch die Hermetik – je auf ihre Weise am allgemeinen spätantiken Synkretismus teilhaben. Speziell im Blick auf die Hermetica gilt dies freilich weniger im Sinne eines ›allgemeinen‹ griechisch-orientalischen Synkretismus335, sondern eher schon im Sinne einer spezifisch »Greco-Egyptian syncretism«336 – zunächst noch ganz zu schweigen von jener »seltsamen Mischung von gnostischen, gnostisierenden und ungnostischen Zügen«337, die sich ergibt, wenn man in derselben Sammlung des Corpus Hermeticum – im Anschluss an die entsprechende Quellenscheidung von W. Bousset338 – zwischen dualistisch-pessimistischen Traktaten einerseits, monistisch-optimistischen Traktaten andererseits und – dazu noch – den sog. Mischtraktaten unterscheidet! Eine ›reine‹ gnostische Quelle ist es also nicht, die hier fließt. Und dies gilt nicht nur im Blick auf jene Unterscheidung zwischen dualistisch-pessimistischen einerseits, monistisch-optimistischen Traktaten andererseits, sondern nun eben auch – zum Teil jedenfalls – für die als dualistisch-pessimistisch gekennzeichneten Traktate selbst: So besonders – sieht man hier zunächst einmal von dem in der Forschungsgeschichte von Anfang an als spezifisch gnostisch geltenden Traktat Poimandres ab – für den 13. Traktat (C.H. XIII ), der – nach der entsprechenden Analyse durch K.-W. Tröger – ein »Musterbeispiel für die Berührung von Mysterienglaube und Gnosis« darstellt, wobei sogleich hinzuzufügen ist, »dass beide Religionen«(!), also Mysterienreligion einerseits, Gnosis andererseits, »Phänomene sui generis« sind339. Mit der Kennzeichnung dieses Traktats (und auch anderer Traktate des Corpus Hermeticum) als Mischtraktate (im Sinne eines vordergründig verstandenen Synkretismus) ist es hier also offensichtlich nicht getan – zumal dann, wenn man – mit K.-W. Tröger – davon ausgeht, dass »der Myste in den Mysterien eine neue, göttliche bzw. pneumatische Substanz erhält, also eine substantielle Veränderung und Verwandlung durchmacht (vgl. C.H. XIII )«, während »der Gnostiker nach seiner Erweckung und Erlösung substantialiter derselbe [bleibt], der er vorher und schon 334 Vgl. z.B. W. Bousset, ebd.; H. Köster, Einführung in das Neue Testament, S. 401: »Es scheint mir sicher zu sein, dass das Corpus Hermeticum eine heidnische Gnosis voraussetzt«. 335 So noch K. Rudolph, Die Gnosis, S. 30: »ein typisches Produkt des griechisch-orientalischen Synkretismus«. 336 So B.A. Pearson, Jewish Elements in Corpus Hermeticum I, S. 147: »Tractate I of the Corpus Hermeticum is a document of considerable importance for the history of GrecoEgyptian religious syncretism and the history of Gnosticism in general«; entsprechend auch die Definition von K. Rudolph, in: ThR 38 (1973), S. 2: »Die Hermetik ist das Produkt eines hellenistisch-gnostischen Synkretismus auf ägyptischem Boden«. 337 So K. Rudolph, Die Gnosis, S. 305. 338 S. dazu oben Anm. 331. 339 So K.-W. Tröger, Mysterienglaube und Gnosis in Corp. Herm. XIII , S.V. ders., Gnosis und Neues Testament, S. 112: »wesenhaft verschiedene Phänomene«!

3.2 Der Quellenbefund

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immer war. Denn er ist bereits göttlicher Natur und braucht nicht erst noch verwandelt zu werden«, woraus – wiederum nach K.-W. Tröger – folgt, »dass der Vergottung des Mysten in den Mysterien-Religionen das Wieder-Gott-Werden des von Natur aus Geretteten in der (›reinen‹) Gnosis gegenübersteht«340. Angesichts einer solchen Definition (= ›Abgrenzung‹) von ›Mysterienglaube‹ bzw. Mysterienreligion einerseits und (›reiner‹!) Gnosis andererseits stellt sich dann schon die naheliegende Frage, ob – so voneinander ›abgegrenzt‹ – ›Gnosticism and Hermetism‹ am Ende nicht doch – was die soteriologische Frage, zweifellos eine Grundfrage der spätantiken Religionsgeschichte betrifft – zwei unterschiedliche oder doch jedenfalls grundsätzlich voneinander zu unterscheidende ›Heilswege‹ darbieten, ›two roads to salvation‹ gleichsam?!341. Gewisse Gemeinsamkeiten sind damit – wie auch R. van den Broek zurecht vermerkt – keineswegs ausgeschlossen; und überhaupt wird man grundsätzlich zu fragen haben, ob und inwieweit solcherlei ›Definitionen‹, die am Ende ja doch auf bestimmten ›idealtypischen Konstruktionen‹ beruhen, in einem Zeitalter des Synkretismus das tatsächliche religiöse Leben an seinem jeweiligen konkreten historischen Ort bestimmt haben?342.

Wenn also das im Corpus Hermeticum überlieferte Schrifttum überhaupt – oder doch wenigstens ein Teil davon – im Umkreis der Gnosis anzusiedeln ist, stellt sich die Frage, worin eigentlich die eigenartige Gemengelage bzw. der komplex-vielschichtige Charakter dieses Schrifttums begründet ist, wie er – nicht zuletzt – auch durch die bisher bereits unternommenen Versuche einer Klassifizierung der einzelnen Traktate angezeigt wird343? Die Antwort auf solche Frage liegt nahe: zunächst doch wohl im ursprünglichen historischen Ort der Hermetik. Eindeutiger Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage sind die hier, im hermetischen Schrifttum, vollzogene Identifizierung des ägyptischen Gottes Thot mit dem griechischen Gott Hermes sowie die – von daher zu verstehenden – spezifisch ägyptischen Motive, die zumal in der neueren Forschung immer deutlicher herausgestellt worden sind344. Von daher gesehen ist ohne Frage Ägypten der Ursprungsort der Herme340

K.-W. Tröger, Mysterienglaube und Gnosis, S. 169 f. So R. van den Broek, Gnosticism and Hermetism in Antiquity: Two Roads of Salvation, S. 3–21, hier mit Hinweis auf die bestimmende Rolle der Philosophie in der Hermetik sowie auf die Differenzen im Gottesverständnis, in der Kosmologie und Anthropologie (S. 10 ff.). 342 In diesem Sinne K. Rudolph, in: ThR 38 (1973), S. 1 f.: »Den Verfassern [der hermetischen Traktate] dürfte allerdings der Gegensatz von ›Mysterien‹ und ›Gnosis‹ nicht so bewusst gewesen sein, wie ihn eine heutige ›idealtypische‹ Rekonstruktion aufzieht«. Vgl. aber auch K.-W. Tröger, Mysterienglaube und Gnosis, S. 4: »Mysterienglaube im Dienste der Gnosis«. 343 Dabei bedarf es keiner Frage, dass jene ältere Klassifizierung von W. Bousset nicht mehr dem gegenwärtigen Stand der Forschung entspricht. Entsprechend die Kritik von W. Löhr, Verherrlichung Gottes durch Philosophie, S. 15 f. – Andererseits zeigt jene »Klassifizierung« auf ihre Weise immer noch das Grundproblem der Komplexität der im Corp. Herm. zusammengestellten Traktate an. Zum Ganzen ist die von J.-P. Mahé, Hermès en Haute-Égypte II , S. 405–457, vorgelegte literaturgeschichtliche Theorie zur Entstehung der hermetischen Traktate zu vergleichen; dazu K. Rudolph, in: ThR 50 (1985), S. 17 ff. 344 Dazu im Einzelnen: M.-Th. Derchain, L’Authenticité de l’inspiration égyptienne de la ›Corpus Hermeticum‹, S. 175 ff. – Weitere Lit. bei W. G. Löhr, Verherrlichung Gottes durch Philosophie, S. 5 ff. 341

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

tik – freilich muss man sogleich hinzufügen: das Ägypten des hellenistischen Zeitalters und hier insbesondere Alexandria als Zentrum eines spezifisch alexandrinischen Hellenismus mitsamt all’ seinen Implikationen sowohl in religions- wie auch in philosophiegeschichtlicher Hinsicht – kurz gesagt: Alexandria »as a place of confrontation for the religious beliefs of ancient Egypt, for Greek philosophy, for Judaism, and for Gnosis«345. Wenn also in der neueren Forschung jener ägyptische Ursprung der Hermetik – gewiss grundsätzlich mit Recht – hervorgehoben wird, so kann und darf dies doch nicht dazu führen, die von diesem Ursprung ausgehenden, im Einzelnen vielfältigen Entwicklungslinien der Hermetik bzw. des im Corpus Hermeticum gesammelten Schrifttums zu vernachlässigen346. Von hier aus, konkret also von Alexandria als dem Ort eines spezifisch ägyptisch-alexandrinischen Hellenismus aus, ist der religionsgeschichtliche wie auch der philosophiegeschichtliche Kontext des überlieferten hermetischen Schrifttums am besten zu verstehen, und zwar sowohl in seinen offensichtlichen Beziehungen zur griechisch-hellenistischen Philosophie allgemein als auch – speziell – in seinen ebenso offensichtlichen Beziehungen zu einem Judentum alexandrinischer Prägung, nicht zuletzt aber auch in seinen Beziehungen bzw. – vorsichtiger formuliert – in seiner Nähe zur Gnosis. Geht man angesichts des eben kurz skizzierten komplexen Sachverhalts von dem zuletzt genannten Stichwort Gnosis aus, so könnte man – was die Art und Weise der Rezeption der griechisch-hellenistischen Philosophie im hermetischen Schrifttum betrifft – zunächst der Meinung sein, dass dieses Schrifttum – gewiss nicht insgesamt, aber doch wenigstens in einigen seiner Traktate (Corp. Herm. I und XIII !) – das Zeugnis einer bestimmten Art philosophischer Gnosis ist – und in diesem Sinne einer Gnosis für die ›Gebildeten‹ jener Zeit347. Indes: Was zunächst bereits die Vielfalt der im hermetischen Schrifttum rezipierten Überlieferungen aus der griechisch-hellenistischen Philosophie betrifft, so könnte man eher geneigt sein, in Analogie zum Synkretismus der spätantiken Religionsgeschichte von einem philosophischen Synkretismus zu sprechen348. Folgt man dabei einem negativen 345 So J.-P. Mahé, Art. Hermes Trismegistos, in: M. Eliade, Encyclopedy of Religion, S. 292. 346 Denn, so W.G. Löhr, a.a.O., S. 282, »irgendwann ist diese Religion aus den kleinen, esoterischen Priesterzirkeln, in denen sie entstanden sein mag, ausgebrochen«; sowie ebd.: »… dieser Ausbruch gelang, weil die Hermetik sich mit religiösen und philosophischen Vorstellungen der Umwelt verband«, was u.a. auch heißt: »In die ›hohe‹ philosophische Hermetik dringt gnostisches Gedankengut schließlich in einem solchen Maße ein, dass Hermetik und Gnosis ununterscheidbar werden«! – und dies »wohl nicht zuletzt deshalb, weil hermetischem und gnostischem Denken die Vorstellung von der Erlösung durch Wissen zugrunde liegt« (S. 282). 347 Vgl. W. G. Löhr, Verherrlichung Gottes durch Philosophie, S. 282: »der Hermetismus ist so, wie er uns im CH entgegentritt, eine hellenistische philosophische Intellektuellenreligion«. 348 Vgl. A. Reckmann, Art. Hermetismus, in: HWP 3, Sp. 1075: »eine synkretistische Verschmelzung von gnostisch-hellenistischem, platonisch-pythagoräischem und mystisch-kabbalistischem Gedankengut«!

3.2 Der Quellenbefund

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Vorverständnis des Stichwortes ›Synkretismus‹, so könnte es naheliegen, diese Art einer ›philosophischen Gnosis‹, wie sie uns jedenfalls in bestimmten Traktaten des hermetischen Schrifttums entgegentritt, von vornherein negativ zu bewerten. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Art und Weise, in der – z.B. – H. Dörrie das Gesamtphänomen der Hermetik beurteilt: »Der Hermetismus ist … aus der Hinterlassenschaft (oder soll man sagen: dem Abfall?) der griechischen Philosophie erwachsen«; weiter: »Eine echte Religion aber ist der Hermetismus nicht …, Philosophie aber ist der Hermetismus noch viel weniger«; oder auch: »Der Hermetismus ist ein einzigartiges Zeugnis für eine Vulgär-Überlieferung philosophischen Gutes; er ist ein einzigartiges Zeugnis für die Existenz einer philosophischen Halbbildung, in welcher sich die vormals geprägten Begriffe wieder in Vorstellungen zurückverwandeln. Man dürfte es eine Re-Primitivierung des zuvor Differenzierten nennen« – usw.349. Geht man nun – andererseits – von einem positiven Verständnis des Stichwortes ›Synkretismus‹ aus350, so lässt sich die durchaus eigenartige Rezeption – von ihrem Ursprung her – unterschiedlicher Überlieferungen aus der antiken Philosophiegeschichte am Ende auch in einem grundsätzlich positiven Sinn verstehen: Als Ausdruck nämlich eines universalen Anspruchs der Hermetik – ganz zu schweigen an dieser Stelle von der Tatsache, dass in der spätantiken Philosophie zunehmend eine (im Einzelnen wiederum unterschiedliche) religiöse Ausrichtung zum Tragen kommt351. Und nicht zuletzt in diesem Zusammenhang: Die Tatsache einer bis in die Neuzeit anhaltenden Wirkungsgeschichte der Hermetik kann – wie immer man das Nachleben der spätantiken Hermetik insbesondere in esoterischen Gruppen und Zirkeln beurteilen mag – doch zumindest als ein Indiz dafür stehen, dass jener ursprüngliche universale Anspruch der Hermetik in einem bestimmten Sinne durchaus eingelöst worden ist352. Den vielfältigen Verflechtungen der Hermetik mit der antiken und spätantiken Philosophie ist in der Forschungsgeschichte bereits des Öfteren – im Einzelnen selbstverständlich mit unterschiedlichen Akzentsetzungen – nachgegangen worden. Besonders hervorzuheben sind hier insbesondere die entsprechenden umfangreichen Arbeiten von J. Kroll und J.A. Festugière. Der Erstere hat dabei – hier wohl den Anregungen seines Lehrers W. Kroll folgend – den Akzent vor allem auf den Einfluss der stoischen Philosophie, und hier wieder insbesondere auf den stoischen Philosophen und Universalgelehrten Poseidonios gesetzt353. Demgegenüber wird der Horizont hinsichtlich des philosophischen Charakters der Hermetik in dem vierbändigen, bis heute unentbehrlichen Standardwerk von A.J. Festugière unter dem 349 Alle Zitate nach H. Dörrie in seiner Rez. Von A.-J. Festugière, La révelation d’Hermès Trismégiste, in: H. Dörrie, Platonica Minora, S. 100–111, hier S. 101.105. 350 S. dazu oben Kap. 2.2.1; für die Gnosis Kap 2.2.3. 351 Herausragendes Beispiel in dieser Hinsicht ist der Philosoph und Theologe Plotin. Dazu: H. Dörrie, Plotin. Philosoph und Theologe, S. 361: »Plotin wurde zum Urheber der imposanten Schlussphase der antiken Religionsgeschichte, durch ihn wandelte sich der Platonismus in ein Gefäß, in das alle Strömungen außerchristlicher antiker Religiosität zusammenflossen«. 352 Zur Wirkungsgeschichte der Hermetik vgl. A. Faivre, Art. Hermetism, in: M. Eliade, Encyclopedia of Religion 6, S. 293–302. S. 293: »Alexandrinian Hermetism is one of the most important resources of modern esotericism«. 353 J. Kroll, Die Lehren des Hermes Trismegistos. Dazu die kritische Besprechung durch W. Bousset, in: GGA 1914, S. 657–755, erneut abgedruckt in: W. Bousset, Religionsgeschichtliche Studien, S. 97–159, hier bes. S. 101 ff.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Titel »La révélation d’ Hermès Trismégiste« (Paris 1949–1954) von vornherein sehr viel weiter gespannt, und zwar nicht nur im Blick auf die im Einzelnen vielfältigen philosophiegeschichtlichen Beziehungen und Zusammenhänge, sondern auch in dem Sinne, dass hier – und zwar eben unter der Überschrift »La révélation …«! – ebenso von vornherein betont wird, in welchem Maße die im hermetischen Schrifttum – und hier insbesondere im Traktat I (›Poimandres‹) und im Traktat XIII (Von der ›Wiedergeburt‹) – jeweils rezipierten philosophischen Traditionen einem zutiefst religiösen – um nicht gleich zu sagen: einem gnostischen – Grundverständnis und Grundanliegen zugeordnet erscheinen354. So gesehen ist dann die Hermetik weniger das Zeugnis einer philosophischen ›Gnosis‹, als vielmehr – wie wiederum in den beiden eben genannten Traktaten aus dem Corpus Hermeticum besonders deutlich hervortritt – Zeugnis einer Offenbarungs- und Erlösungsreligion mit universalem Anspruch – und mit der Gnosis nun in der Tat insofern verbunden, als Erlösung hier wie dort durch ein bestimmtes Wissen des Menschen um sich selbst (und damit auch um seine Herkunft!) vermittelt wird: Erlösung also durch ! Zumindest in dieser Hinsicht sind die (Wechsel-?)Beziehungen zwischen ›Hermetik‹ einerseits und ›Gnosis‹ andererseits in besonderer Weise offensichtlich. So kann man also – mit H. Dörrie – durchaus feststellen: »Die Basis [sc.: der Hermetik] ist eine Umsetzung platonischer Philosophie in religiöse Offenbarung«355, und zwar einer Offenbarung, die am Ende das Heil des Menschen im Sinne seiner Rückkehr zu sich selbst sieht. Oder muss man nicht angemessener noch formulieren: die das Heil des Menschen als Rückkehr zu seinem ›Selbst‹ zum Ziel hat? Insgesamt also: Philosophisches Interesse ist hier, in der Hermetik, immer zugleich religiöses Interesse; und dementsprechend auch das hier seinen Ausdruck findende – in der Tat elementare – Interesse an der ›Gnosis‹, an der ›Erkenntnis‹: Im Sinne nämlich der Gleichsetzung von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis.

Hat diese Art von Hermetik – wie oben bereits vermerkt – ihren ursprünglichen historischen Ort im alexandrinischen Hellenismus, so kann es auch kaum mehr verwundern, dass das hermetische Schrifttum oder doch jedenfalls ein Teil davon – wobei hier wiederum vor allem der 1. Traktat des Corpus Hermeticum, der sog. ›Poimandres‹, zu nennen ist – ganz offensichtlich auch vom Judentum, genauer: vom alexandrinischen jüdischen Hellenismus, beeinflusst ist. Bereits auf Grund der von C.H. Dodd in seinem Buch »The Bible and the Greeks« vom Jahre 1935 vorgelegten Untersuchungen ist der Sachverhalt in dieser Hinsicht eindeutig: »the influence of Judaism is equally certain«356, und dies wiederum nicht nur im Blick auf den ›Poimandres‹, sondern auch im Blick auf eine ganze Reihe weiterer Traktate des Corpus 354 A.-J. Festugière I, S. 85: »En vérité l’hermétisme est l’une des formes qu’ a prises la pieté hellénistique quand, fatiguée du rationalisme, elle s’est abondannée à la révélation«. 355 H. Dörrie, Platonica Minora, S. 100: »Ihren besonderen Charakter gewinnen die hermetischen Schriften dadurch, dass hier in Ausdrucksform religiöser Offenbarung umgesetzt wird, was sonst Beweismittel wissenschaftlicher Diskussion war«; ebd., S. 106: »An die Stelle philosophischer Erkenntnis tritt offenbarte Unterweisung«. 356 So J. P. Mahé, in: M. Eliade, Encyclopedia of Religion 6, S. 286. Vgl. auch den Überblick über den Stand der Forschung bei A. Kehl, Art. Hermetik B. Hermetik und Judentum, in: RAC 14, Sp. 794 f. (Lit.).

3.2 Der Quellenbefund

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Hermeticum. Und dies gilt im Einzelnen nicht nur hinsichtlich bestimmter terminologischer Übereinstimmungen zwischen den hermetischen Schriften einerseits und der griechischen Übersetzung des Alten Testaments in Gestalt der ›Septuaginta‹ andererseits, sondern auch – also weit umfassender – in dem Sinne, dass speziell wiederum der Traktat ›Poimandres‹ mit seiner Darstellung von Kosmogonie und Anthropogonie geradezu »as a kind of rewriting of the Book of Genesis« bezeichnet werden kann357. Was die Vermittlung dieses spezifisch jüdischen Erbes an die alexandrinische Hermetik betrifft, so muß man in dieser Hinsicht nicht nur ganz allgemein an das alexandrinische Judentum denken; vielmehr liegt es hier durchaus nahe, speziell auch an eine Art Vermittlerrolle des Philon Alexandrinus zu denken358, was zudem auch dem alexandrinischen Judentum bzw. der jüdischen Gemeinde in Alexandria eine erhebliche Ausstrahlungskraft auf bestimmte ›heidnische‹ Kreise bescheinigt. Verstärkt wird dieser Eindruck im Übrigen auch noch dadurch, dass sich – wie die weitergehende Forschung gezeigt hat – im hermetischen Schrifttum (und hier insbesondere wiederum in den Traktaten I und XIII des Corpus Hermeticum) offensichtliche Bezugnahmen auf (oder doch jedenfalls Anklänge an) jüdische Gebete bzw. die jüdische Liturgie des Synagogengottesdienstes finden, und zwar bis hin zum zentralen Bekenntnis des Judentums, dem Sch’ma’ Jisrael359. Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang auch auf eine ganze Reihe von Berührungspunkten der Hermetik mit einer bestimmten Art von jüdischer Apokalyptik hinzuweisen, so im Falle des ›Poimandres‹ auf gewisse Übereinstimmungen mit dem (möglicherweise im Bereich des alexandrinischen Judentums beheimateten) sog. Slavischen Henochbuch360. Und endlich: Den eben genannten eindeutig jüdischen Implikationen im hermetischen Schrifttum korrespondiert – gleichsam auf der anderen Seite – die für das ägyptisch-alexandrinische Judentum, und hier insbesondere für Artapanos, nachweisbare Tendenz, alle ägyptische Weisheit ihrerseits im Sinne einer Interpretatio Judaica des Thot/Hermes letztlich auf 357 So H. D. Betz, Hermetism and Gnosticism, S. 206 f. Zum entsprechenden Nachweis im einzelnen sowie zum Einfluss des jüdisch-alexandrinischen Milieus auf die Kosmogonie des »Poimandres« vgl. C.H. Dodd, The Bibel and the Greeks, S. 99–144, sowie J. P. Mahé, La création dans les Hermetica, S. 13 ff. 33 ff. 39 ff. 358 So im Übrigen bereits W. Kroll, Art. Hermes Trismegistos, in: PWRE XV (1912), Sp. 818, hier freilich mit dem Zusatz: »Aber die eigentliche Parallele bietet doch nicht Philon, sondern die gnostischen Systeme«. 359 In diesem Sinne bereits R. Reitzenstein, in: Reitzenstein / Schaeder, Studien zum antiken Synkretismus, S. 8 ff.: »Die vielen mit beginnenden Lobpreisungen … können sehr wohl jüdischem Ritual entsprechen«. Dem entspricht die Vermutung (a.a.O., S. 30 f.), dass der Autor des Poimandres ein Vertreter des alexandrinischen Judentums sein könnte. – Zur Sache vgl. auch M. Philonenko, Une utilisation du Shema dans Poimandres, in: RHPhR 59 (1979), S. 369–372; ders., Le Poimandres et la liturgie juive, in: F. Dunand/F. Lévèque (ed.), Les syncrétismes dans les religions de l’Antiquité, S. 204–211. 360 So bereits C. H. Dodd, The Bible and the Greeks, S. 111 ff. 152.156.230. Zur Sache vgl. auch J.-P. Mahè, Hermès en Haute Egypte II , S. 83–85, unter der Überschrift: »Apocalyptique juive et judaisme alexandrine«.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

jüdische Urheberschaft, konkret in Gestalt des Mose bzw. des Abraham, zurückzuführen361. Von daher gesehen erscheint denn auch die bereits von R. Reitzenstein geäußerte Vermutung nicht mehr als gänzlich abwegig, ob nicht hinter dem anonymen Autor des ›Poimandres‹ am Ende ein gebürtiger, freilich ›unorthodoxer‹ Jude, zumindest aber ein Proselyt oder ein ›Gottesfürchtiger‹ heidnischer Herkunft steht362. Eine solche gleichsam ›unmittelbare‹ Herleitung jüdischer Elemente im hermetischen Schrifttum bleibt ebenso bloße Spekulation wie auch die noch weiterreichende Annahme, dass es sich bei bestimmten Traktaten des Corpus Hermeticum um die ägyptisch-alexandrinische Sonderart einer jüdischen Gnosis handele.

Ein jüdisches Dokument ist der ›Poimandres‹ jedenfalls nicht; vielmehr – wie B.A. Pearson formuliert hat – »the curious mixture of Jewish piety, Gnosticism and Hermetic paganism«363 – und in diesem Sinne ein typisches Zeugnis für den spätantiken Synkretismus auf ägyptisch-alexandrinischem Boden. Es ist durchaus naheliegend und auch in hohem Maße wahrscheinlich, dass diesem synkretistischen Charakter des hermetischen Schrifttums am Ende auch die (jedenfalls für bestimmte Traktate des hermetischen Schrifttums) charakteristische gnostische oder doch jedenfalls gnostisierende Komponente zuzuordnen ist – was zugleich bedeutet, dass an dieser Stelle noch einmal die Frage nach dem Verhältnis von Hermetik einerseits und Gnosis andererseits aufzunehmen und – wenn möglich – auch zu beantworten ist: Geht man dabei zunächst von der Ursprungs- und Entstehungsgeschichte der Hermetik aus, wie sie vor allem J.-P. Mahé unter der Überschrift »De la aux hermètiques« im Einzelnen entwickelt hat364, so bedarf es gar keiner Frage, dass Hermetik nicht gleich Gnosis ist, die Begriffe ›Gnosis‹ bzw. ›Gnostizismus‹ und ›Hermetik‹ also nicht einfach promiscue zu gebrauchen sind365. Ihrem Ursprung nach ist die Hermetik jedenfalls nicht-gnostisch – was indes nicht ausschließt, dass gnostische oder doch jedenfalls gnostisierende Elemente der Hermetik oder doch jedenfalls Teilen der hermetischen Literatur im Verlauf ihrer langen Entwicklungs- und Überlieferungsgeschichte sekundär zugewachsen sind, also einer sekundären Stufe der Entwicklungsgeschichte der Hermetica bzw. einer späteren Kommentarschicht zugehören366. Solche Feststellung des sekundären Charakters 361 Dazu G. Mussies, The Interpretatio Judaica of Thot-Hermes, S. 89–120; A. Kehl, Art. Hermetik, in: RAC 14, Sp. 795. 362 So R. Reitzenstein, in: R.Reitzenstein/H.H. Schaeder, Studien zum antiken Synkretismus, S. 31: ›ein unorthodoxer Jude‹; B.A. Pearson, Jewish Elements in Corpus Hermeticum I, S. 147: ein Proselyt oder ein ›Gottesfürchtiger‹. 363 So B.A. Pearson, ebd., S. 143 ff. 364 J.-P. Mahé, Hermès en Haute Egypt II , S. 407–459. 365 So mit Recht G. van Moorsel, The Mysteries of Hermes Trismegistos, S. 20. Zur Frage der Relation Gnosis – Hermetik grundsätzlich: R. McL. Wilson, Art. Hermetik, in: RAC 14, Sp. 802–805; H. D. Betz, Hermetism and Gnosticism, S. 206–221. 366 Dazu im Einzelnen: J.-P. Mahé, Hermès en Haute Egypt II , S. 428–431.441; ders., Art. Hermes Trismegistos, in: M. Eliade (ed.), Encyclopedia of Religion 6, S. 292.

3.2 Der Quellenbefund

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der gnostischen Implikationen im hermetischen Schrifttum schließt freilich nicht aus, sondern vielmehr ein, dass die Entwicklung im Verhältnis ›Hermetik‹ – ›Gnosis‹ so weit gehen kann, dass in einem bestimmten Entwicklungsstadium in dieser Hinsicht »Hermetik und Gnosis ununterscheidbar(!) werden, wohl nicht zuletzt deshalb, weil hermetischem wie gnostischem Denken die Vorstellung von der Erlösung durch Wissen zugrunde liegt«367. Einerseits ist also, was den jeweiligen Ursprung betrifft, zwischen ›Hermetik‹ und ›Gnosis‹ grundsätzlich zu unterscheiden; andererseits aber hat sich die Hermetik selbst in einem durch den spätantiken Synkretismus bestimmten Stadium ihrer Entwicklungs- und Überlieferungsgeschichte auch einem spezifisch ›gnostischen‹ Zeitgeist geöffnet, und zwar mit der Perspektive, dass sie – genauer wohl: bestimmte Teile des hermetischen Schrifttums – am Ende auch zu einem Dokument der Gnosis geworden ist. Solche differenzierende Sichtweise auf das Verhältnis von Hermetik einerseits, Gnosis andererseits schließt dann freilich auch ein, dass – was die bisherige Forschungsgeschichte betrifft – die Zeiten vorüber sind, in denen man – wie z.B. einst noch H. Jonas – das hermetische Schrifttum (oder doch jedenfalls Teile davon) ohne Vorbehalte als Zeugnis einer heidnischen (und damit möglicherweise auch vorchristlichen!) Gnosis betrachtete368. Was die Frage der Zugehörigkeit der Hermetik zur Gnosis betrifft, so ist die Forschungslage auch gegenwärtig noch keineswegs einheitlich. Immerhin befand z.B. H. Dörrie in seinem Artikel ›Hermetica‹ in der 3. Auflage der ›RGG ‹ (Band III , Sp. 265) vom Jahre 1959 noch, dass die Hermetik ›aus dem Geist der Gnosis‹ hervorgegangen sei369, so werden seit geraumer Zeit schon in dieser Hinsicht gewisse Vorbehalte geltend gemacht, so z.B. auch durch K. Rudolph, wenn er in einem Forschungsbericht zum ›alexandrinischen Gnostizismus‹ sogleich zu Beginn ausdrücklich vermerkt: »Im weiteren Sinne gehört in diesen Abschnitt auch die Hermetik«, also trotz aller im folgenden aufgewiesenen Zusammenhänge zwischen Hermetik einerseits und alexandrinischem Gnostizismus andererseits zunächst (was wohl insbesondere den Ursprung der Hermetik betrifft!) zwischen Hermetik und Gnostizismus grundsätzlich unterscheidet370.

367 So G. Löhr, Verherrlichung Gottes durch Philosophie, S. 282 f., hier mit dem Zusatz: »Das hat die Gnosis-Forscher lange in die Irre geführt, die Hermetik als eine Form der Gnosis zu betrachten«. 368 Vgl. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 344–348. Speziell zum Poimandres: Ders., Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 183–211, hier S. 183 f.; hierzu die englische Fassung, The Gnostic Religion, S. 41: »This literature, not as a whole, but in certain parties, reflects gnostic spirit … The Hermetic Poimandres itself … is to be regarded as a prime document of independent Gnosticism«. Kritisch dazu A. Böhlig, Gnosis und Synkretismus I, S. 227: »Das ist vielleicht zuviel gesagt. Aber man kann die Hermetik nur zusammen mit dem Gnostizismus betrachten«. 369 H. Dörrie, Platonica Minora, S. 372: Die Hermetik als »außerchristliches Gegenstück der Gnosis«. 370 K. Rudolph, in: ThR 38 (1973), S. 1. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die These von H. Langerbeck, Aufsätze zur Gnosis, S. 24 f.: Die Hermetik als »ein Nebenast am weit-

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Gleichwohl: Wie man auch immer im Einzelnen die Relation zwischen Hermetik und Gnosis bestimmen mag, so z.B. auch in dem Sinne, dass für die Hermetik »eine Bezeichnung wie Semignostizismus den Sachverhalt angemessen treffe«371 – unbestritten bleibt doch bei allen in dieser Hinsicht geltend gemachten Vorbehalten die an den vielfältigen Sachbezügen zwischen Hermetik und Gnosis aufweisbare Nähe jedenfalls bestimmter Traktate des Corpus Hermeticum zur Gnosis; eine Nähe, die in bestimmten konkreten Fällen, so insbesondere im Falle des ›Poimandres‹ (C.H. I), so weit gehen kann, dass Hermetik und Gnosis am Ende ›ununterscheidbar werden‹372. Offensichtlich verhalten sich also die Dinge im Blick auf die Relation zwischen Hermetik und Gnosis so, dass diese beiden religiösen Phänomene der spätantiken Religionsgeschichte in einem bestimmten Stadium ihrer Geschichte im Milieu eines spezifisch alexandrinischen Synkretismus einander begegneten, hier – möglicherweise – in eine Wechselbeziehung zueinander traten373, so dass – schon von daher gesehen – eine wirklich präzise, gleichsam definitorische Abgrenzung zwischen beiden Phänomenen gar nicht mehr möglich ist oder doch jedenfalls als schwierig erscheint. Dies festzustellen schließt durchaus ein, dass beide Phänomene, die Hermetik einerseits und die Gnosis andererseits, jeweils eigene Akzente aufzuweisen haben374 – aber: um zwei gänzlich voneinander geschiedene ›Heilswege‹ handelt es sich bei ihnen nicht, jedenfalls nicht mehr in der Phase der beiderseitigen Begegnung375. In diesem Sinne gilt dann endlich, was die Relation Hermetik – Gnosis betrifft, das Urteil von R. McL. Wilson: »if these texts [sc.: die hermetischen Texte] are not specifically gnostic, they were at least acceptable to Gnostics«376. Und ganz unabhängig davon, ob in den gnostischen Schriften von Nag Hammadi, speziell im Ägypterevangelium (NHC III /2; IV /2), ausdrücklich auf den ›Poimandres‹ (als den ›unvergänglichen Menschen‹!) Bezug genommen wird377 – den eindeutigen Beweis für diese Akzeptanz ursprünglich hermetischer Schriften seitens der Gnostiker liefert die (christliche) verzweigten Baum des alexandrinischen Platonismus des 2. Jahrhunderts«, aus dem auch die alexandrinische Gnosis (Basilides, Valentinus) erwachsen ist. 371 So G. van Moorsel, The Mysteries of Hermes Trismegistos, S. 21. 372 So G. Löhr, Verherrlichung Gottes durch Philosophie, S. 282 f. 373 In diesem Sinne bereits W. Kroll, in: PWRE 15, Sp. 282 f. 374 Dazu: R. van den Broek, Gnosticism and Hermetism in Antiquity, S. 3–21, sowie G. Filoramo, The Transformation of the Inner Self in Gnostic and Hermetic Texts, S. 137– 149. 375 Vgl. hierzu die Rezension von R. van den Broek / W. J. Hanegraaff, Gnosis and Hermetism from Antiquity to Modern Times, durch H. Strutwolf, in: ThLZ 124 (1999), Sp. 489. 376 R. McL. Wilson, Gnosis and Gnosticism: The Messina Definition, S. 543. 377 So bleibt fraglich, ob die Rede vom rome naphtartos poimael in NHC III /2, p. 66,1 f. (in der Parallelüberlieferung NHC IV /2, p. 78,2: pimael) auf den »Poimandres« der hermetischen Schriften bezogen werden kann. Zur Identifizierung vgl. J.-P. Mahé, Hermès en Haute Egypt II , S. 445, sowie K. Rudolph, in: ThR 50 (1985), S. 18.

3.2 Der Quellenbefund

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Gnosis selbst, und zwar in Gestalt einer Rezeption solcher Schriften in der Bibliothek von Nag Hammadi. Angesichts einer -von H.D. Betz so genannten – »Connection with the Nag Hammadi Texts«, die auch sachliche Entsprechungen zwischen dem hermetischen Schrifttum und den gnostischen Schriften von Nag Hammadi einschließt378, handelt es sich dabei keineswegs nur um einen ›Zufallsfund‹ in der ansonsten gnostischen Bibliothek von Nag Hammadi, vielmehr bezeugt »die Aufnahme hermetischer Traktate … in eine hauptsächlich gnostische Bibliothek«, wie R. McL. Wilson mit Recht betont hat, »dass solche Texte entweder von Gnostikern akzeptiert werden konnten oder aber von Gegnern als den gnostischen ähnliche Schriften betrachtet wurden«379. Betrachtet man die hier in Frage stehenden koptischhermetischen Schriften aus Codex VI von Nag Hammadi des Näheren, dürfte durchaus das erstere zutreffen: Die Akzeptanz nämlich dieser ursprünglich hermetischen Schriften seitens der Gnostiker. Konkret handelt es sich dabei um die in NHC VI /6–8 überlieferten Schriften380, von denen hier freilich nur die erste von ihnen, nämlich der in NHC VI /6 (p. 52,1– 63,32) überlieferte Traktat »De Ogdoade et Enneade« (Ogd Enn), von Interesse ist, da die beiden weiteren Texte (NHC VI /7 und 8) bereits bisher in griechischer bzw. lateinischer Version bekannt sind: So entspricht das NHC VI /7 (p. 63,33–65,7) überlieferte liturgische Stück bzw. Gebet dem seit langem schon bekannten griechischen Version im Papyrus Mimaut (Paris, Papyrus 2391, hier Col. XVIII ) bzw. dem im Asclepius c. 41 in lateinischer Version vorliegenden Text381, während der in NHC VI /8 (p. 65,15–78,43) überlieferte Dialog zwischen Hermes Trismegistos und Asclepius, einschließlich der ursprünglich wohl selbständig überlieferten Apokalypse in Ascl 24–26 (NHC VI /8, p. 70,2–74,17), den Kapiteln 21–29 des lateinischen Asclepius entspricht382. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist allenfalls noch die (am Ende von NHC VI /7 bzw. am Anfang von NHC VI /8 überlieferte) Schreibernotiz (p. 65,8–14), aus der sich möglicherweise 378 H. D. Betz, Hermetism and Gnosticism, S. 209 ff., hier mit Verweis auf die »Lehren des Silvanus« (NHC VII /4, p. 92,10 f.) und andere Texte. Zu den Beziehungen zwischen der »Schrift ohne Titel« (NHC II /5) und den Hermetica vgl. H.-M. Schenke, in: ThLZ 84 (1959), Sp. 253 f., und J.-P. Mahé, Hermès en Haute Egypte II , S. 16. 379 R. McL. Wilson, Art. Hermetik, in: RAC 14, Sp. 803. Zur Frage der Akzeptanz hermetischer Schriften in der Gnosis vgl. A. Böhlig, Gnosis und Synkretismus I, S. 227 f.; ders., in: A. Böhlig/C. Markschies, Gnosis und Manichäismus, S. 173 f., zur Frage, ob die im Codex VI von Nag Hammadi enthaltenen Schriften »nur mehr oder weniger zufällig unter die Schriften von Nag Hammadi gekommen sind?«, hier mit der Antwort: »wohl kaum. Interessierte Gnostiker sahen, wie nahe ihnen zumindest gewisse Teile des hermetischen Schrifttums standen«. 380 Dazu insgesamt: C. Colpe, JAC 15 (1972), S. 5–18; J. Doresse, Hermès et la Gnose, S. 54–69; ders., Les livres secrets, S. 256–263; J.-P. Mahé, Hermès Trismégiste et Nag Hammadi, S. 34–43; K.-W. Tröger, Die Bedeutung der N.H. Schriften für die Hermetik, S. 175–190. 381 Ed. in J. M. Robinson, The Coptic Gnostic Library, vol. 3, S. 35–387. Zum griechischen Text im Pap. Mimaut vgl. bereits R. Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen, S. 175–190. 382 Ed. in: J. M. Robinson, The Coptic Gnostic Library, vol. 3, S. 395–451, sowie in: J.-P. Mahé, Hermès en Haute Egypte II , S. 145–207, hier mitsamt den griechischen Fragmenten.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

entnehmen lässt, dass es neben den in NHC VI überlieferten Schriften noch eine ganze Reihe weiterer hermetischer Schriften in der Bibliothek von Nag Hammadi gegeben hat383. – Ganz anders stellen sich die Dinge für den bisher unbekannte Traktat »De Ogdoade et Enneade« in NHC VI /6 (p. 52,1–63,32) dar, der – was das bisher bereits bekannte hermetische Schrifttum betrifft – unverkennbar den Traktaten I und XIII des Corpus Hermeticum nahe steht und so auf seine Weise wiederum die unmittelbare Nähe der Hermetik zur Gnosis bestätigt384. In einem ersten Überblick über die im Codex VI von Nag Hammadi enthaltenen Schriften urteilt C. Colpe im Blick auf den in Gestalt eines Dialogs zwischen Hermes Trismegistos und einem (nicht näher benannten) ›Sohn‹ gehaltenen Traktat: »NHC VI 6 dürfte bald als ein ähnlich klassischer Traktat gelten wie Corp. Herm. 13« – und dann mit Blick speziell auf das hier, p. 55,24–57,25, überlieferte Gebet: es »enthält die ganze Hermetik in nuce und ist wohl das schönste und klarste, das wir nunmehr aus diesem Bereich kennen«385. Nicht zuletzt bestätigen sich mit diesem Traktat einmal mehr die bisher bereits bekannten Beziehungen zwischen Hermetik und Gnosis einerseits und einer bestimmten spätantiken Mysterienfrömmigkeit (und Mysterienpraxis?) andererseits386.

Angesichts dessen, dass sich in den genannten hermetischen Schriften in der Bibliothek von Nag Hammadi (wie auch in den in griechischer Sprache überlieferten Traktaten des Corpus Hermeticum) keine – oder vorsichtiger gesagt: keine offensichtlichen – spezifisch christlichen Spuren finden, kann man – zunächst – durchaus mit Fug und Recht das gesamte hermetische, der Gnosis in jedem Falle nahestehende Schrifttum als das (mittelbare) Zeugnis einer außer-christlichen Gnosis betrachten – was freilich keineswegs sogleich auch heißt: als Zeugnis einer vor-christlichen Gnosis! Damit steht auch an dieser Stelle wiederum ein Problem zur Debatte, das in der bisherigen Diskussion noch keineswegs einer wirklich eindeutigen Lösung zugeführt worden ist – das Problem nämlich einer Datierung des hermetisch(-gnostischen) Schrifttums. Gestellt ist dieses Problem zunächst gewiss mit dem komplexvielschichtigen Charakter des hermetischen Schrifttums, darüber hinaus aber auch damit, dass diese Art von Literatur in erster Linie an inner-religiösen bzw. inner-philosophischen Vorgängen interessiert ist und – bereits von 383 Der Text lautet hier (NHC VI /7 a, p. 65,8–14): »Ich habe [nur] diesen Teil für dich kopiert; tatsächlich aber sind viele andere in meine Hände gekommen. Ich habe sie nicht alle kopiert, da ich dachte, dass sie [schon] zu dir gelangt sind«. Zum einzelnen: J.-P. Mahé, Hermès en Haute Egypt II , S. 459–468. Immerhin kann man fragen, ob diese Schreibernotiz auch für den Authentikos Logos von NHC VI /3 sowie für bestimmte Passagen des Testimonium Veritatis von NHC IX /3 gilt. 384 Vgl. J.-P. Mahé, Hermès en Haute Egypte II , S. 119 f. 142–144, sowie K. Rudolph, in: ThR 50 (1985), S. 16, zum Charakter der Sammlung von Nag Hammadi insgesamt: »Sie ist durch und durch für Gnostiker bestimmt …; entsprechend werden auch die hermetischen Texte von vornherein in Anspruch genommen und verstanden«. 385 C. Colpe, in: JAC 15 (1972), S. 15. 386 Vgl. Colpe, ebd., S. 16: Dieser Text »könnte … dafür zeugen, dass hinter ihm eine wirkliche Mysterienpraxis steht«. Zur Fragestellung insgesamt vgl. auch K.-W. Tröger, Mysterienglaube und Gnosis in Corp. Herm. XIII , S. V f. und S. 166 ff.

3.2 Der Quellenbefund

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daher gesehen – kein Interesse an zeitgeschichtlichen Daten und Vorgängen hat. Dies hat zur Folge, dass die Frage einer Datierung der hermetischen Literatur auch beim gegenwärtigen Stand der Forschung noch weitgehend eine offene Frage ist. Zwar scheint sich gegenwärtig – im Unterschied zu der Position, die in dieser Hinsicht einst R. Reitzenstein im Blick speziell auf den ›Poimandres‹ als die ›älteste erhaltene gnostische Schrift‹ bezogen hat387 – die Datierungsfrage für das hermetische Schrifttum auf das zweite und dritte Jahrhundert n.Chr. einzupendeln; angesichts dessen jedoch, dass zumindest das im Corpus Hermeticum enthaltene Schrifttum als solches einen längeren Überlieferungs- und Sammlungsprozess (und damit gewiss auch einen Redaktions- bzw. Kommentierungsprozess!) voraussetzt, ist damit das tatsächliche Alter der in dieser Sammlung enthaltenen einzelnen Traktate noch keineswegs eindeutig bestimmt. Allenfalls ist damit der terminus ante quem für die Genesis der hermetischen Literatur bzw. das Datum der Endredaktion benannt. Folgt man auch in dieser Frage dem von J.-P. Mahé vorgelegten Entwurf der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des hermetischen Schrifttums, so ist von vornherein deutlich, dass es sich bei der Literaturwerdung und Sammlung dieses Schrifttums um einen über einen längeren Zeitraum sich erstreckenden Prozess handelt, der als solcher eine bis in die vorchristliche Zeit zurückreichende Entwicklungsgeschichte keineswegs aus-, sondern eher einschließt. Auch wenn man davon ausgeht, dass die gnostische Redaktions- bzw. Kommentarschicht im Verlauf dieses Prozesses erst relativ spät anzusetzen ist388, ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass man speziell in dieser Hinsicht bis ins 1. nachchristliche Jahrhundert zurückgelangt und damit – vom speziellen Zeugnis der neutestamentlichen Pastoralbriefe hier einmal ganz abgesehen – in einen Zeitraum, in dem auch das urchristliche Schrifttum seinen Ursprung hat389. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass dieses urchristliche Schrifttum – oder doch jedenfalls Teile desselben – seinerseits von einer bereits voll ausgebildeten ›hermetischen Gnosis‹ abhängig ist, wohl aber, dass die Geschichte des Urchristentums auch schon im (späten) 1. Jahrhundert n.Chr. – um es ganz zurückhaltend zu formulieren – nicht gänzlich abseits einer gnostischen bzw. gnostisierenden Strömung in der spätantiken Religionsgeschichte ihren Ort gehabt hat.

387 R. Reitzenstein, in: R.Reitzenstein/H.H. Schaeder, Studien zum antiken Synkretismus, S. 32. Ders., Poimandres, S. 36: Die »Urform des Poimandres sei vor Beginn des 2. Jh.s vor Christus zu datieren! So auch W. Bousset, Kyrios Christos, S. 132, Anm. 2; vgl. demgegenüber W. Bousset, Religionsgeschichtliche Studien, S. 155 f.: Wende vom 1. zum 2. nachchristlichen Jahrhundert. 388 Vgl. W. G. Löhr, Verherrlichung Gottes durch Philosophie, S. 7 f. 389 So z.B. der Datierungsvorschlag für den »Poimandres« von C. H. Dodd, The Bible and the Greeks, S. 204 ff.: Frühes 2. oder spätes 1. Jh. n.Chr.; C. Colpe, Art. Corp. Herm., in: Der Kleine Pauly 5, Sp. 1549: »Das C.H. ist nach und nach zw. dem 1. Jh.v. und dem 4. Jh. n.Chr … entstanden«(!).

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Dies alles, was hier zur Frage des Verhältnisses von ›Hermetik‹ und ›Gnosis‹ wie auch speziell zur Frage der zeitlichen Ansetzung einer gnostischen bzw. gnostisierenden Hermetik festzustellen war, würde nun freilich radikal – wörtlich also: von der Wurzel bzw. vom Ursprung her! – wiederum in Frage gestellt bzw. sich als irrelevant erweisen, wenn es tatsächlich zuträfe oder sich jedenfalls doch wahrscheinlich machen ließe, dass die Hermetik (in ihrem für das frühe Christentum relevanten gnostisierenden Entwicklungsstand!) ihrerseits bereits unter einem gewissen christlichen Einfluss – genauer: unter dem Einfluss eines christlichen Alexandrinismus – gestanden hat. Speziell für den 1. Traktat des Corpus Hermeticum, den ›Poimandres‹, der in der neueren Forschungsgeschichte von Anfang an die Hauptrolle in der Frage: Hermetische Gnosis – Urchristentum gespielt hat, wäre es jedenfalls von erheblicher Bedeutung, wenn gerade für diesen Traktat der Nachweis zu führen wäre, dass es sich hier am Ende um nichts anderes als ein (sekundär) ›paganisiertes Evangelium‹ handele! Ansätze in dieser Richtung hat es in der Geschichte der Forschung zu den Hermetica durchaus schon gegeben: War einst R. Reitzenstein noch der Meinung, dass es – im Blick speziell auf den ›Poimandres‹ – ›von vornherein aussichtslos‹ sei, ›nach christlichen Gedanken in dieser Schrift zu suchen‹390, so hat es in der weiteren Forschungsgeschichte zunächst ein Stadium gegeben, in dem – repräsentiert vor allem durch C.H. Dodd – zwar gewisse Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten in der Sprache der Hermetica und speziell des ›Poimandres‹ mit dem Neuen Testament, speziell mit dem Johannesevangelium und dem 1. Johannesbrief, festgestellt wurden – ohne dass freilich aus diesem (im Einzelnen mehr oder weniger eindeutigen!) Befund sogleich die Schlussfolgerung gezogen wurde, dass es sich hier – auf der Seite des ›Poimandres‹ – um ein Abhängigkeitsverhältnis handele391. C.H. Dodd vermerkte vielmehr im Rahmen der Ausführung jener speziellen Gemeinsamkeiten zwischen dem Johannesevangelium einerseits und dem ›Poimandres‹ andererseits in seinem Werk »The Interpretation of the Fourth Gospel« vom Jahre 1954: »I should agree with Reitzenstein and Scott in concluding that there is no sufficient reason for suspecting any Christian influence«392 und stellt im folgenden zu den zuvor im Einzelnen aufgewiesenen sprachlichen Entsprechungen fest: »While there is nothing to lead us to infer any direct literary relationship between the two writings, it will hardly be questioned that the similarities of expression suggest a common back-

390 R. Reitzenstein, Poimandres, S. 36. Vgl. aber auch Ph. Perkins, Art. Gnosticism, in: M. Eliade, Enc. of Religion 5, p. 566 f.: »Christian influences … are completely absent from the so-called Corpus Hermeticum. The treatises in this group of works were all written around the beginning of the Christian era in Alexandria«. 391 C. H. Dodd, The Bible and the Greeks, S. 204: »The Poimandres shows no dependence on Christian writings, but his thought has affinities with some aspects of early Christian thought« – mit Hinweis insbesondere auf das Joh-Evangelium: »These points of contact, however, are not such as to suggest a literary dependence of John upon Poimandres, or vice versa«. 392 C.H. Dodd, The Interpretation of the Fourth Gospel, S. 33.

3.2 Der Quellenbefund

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ground of religious thought«393. Keine Frage: C.H. Dodd steht mit seinem Urteil zu den sprachlichen Entsprechungen zwischen dem hermetischen Schrifttum einerseits und dem Joh-Evangelium bzw. dem 1. Joh-Brief andererseits ganz auf der Linie des von R. McL. Wilson formulierten methodischen Grundsatzes: »Ähnlichkeit in Formulierung oder Inhalt sowie der Gebrauch einer gemeinsamen Terminologie beweisen durchaus noch nicht notwendigerweise, dass irgendeine Beziehung vorliegt, da die Wörter und Ideen« – ich füge hinzu: in einem je unterschiedlichen Kontext – »in sehr verschiedener Weise und in ganz unterschiedlicher Absicht verwendet sein können«394. Eben, dieser elementare methodische Grundsatz (und die darauf beruhende Zurückhaltung im Gebrauch der Kategorie literarischer Abhängigkeit!) scheint nun freilich in einigen neueren Publikationen zur Frage der Relation Hermetik – Christentum seine Überzeugungskraft weitgehend eingebüßt zu haben. Nachdem bereits vor Jahrzehnten verschiedentlich genealogische Zusammenhänge zwischen Christentum und Hermetik vermutet worden sind, und zwar im Sinne einer Abhängigkeit der Hermetik vom Christentum bzw. von einer christlichen Gnosis395, ist hier aus neuerer Zeit zunächst vor allem, auf die umfassende Untersuchung zu den Ursprüngen der (christlichen!) Gnosis von S. Pétrement unter dem Titel »Le Dieu Séparé« vom Jahr 1984 hinzuweisen396, hier im Blick speziell auf den ›Poimandres‹ mit der These, dass dieser Traktat des Corpus Hermeticum seinerseits bereits die christliche Gnosis voraussetze – ebenso wie dann auch der Traktat XIII des Corpus Hermeticum »from ordinary Christianism or from Valentinian Christianity« abzuleiten sei397. Einen (vorläufigen?) Höhepunkt in dieser Richtung markiert schließlich die eingehende ›philologische‹ Untersuchung wiederum des Traktats ›Poimandres‹ unter der Überschrift: »Der Poimandres. Ein paganisiertes Evangelium« durch J. Büchli vom Jahre 1987, von der ihr Rezensent als von »eine[r] bisherige Vorstellungen revolutionierenden These«, ja sogar von einer »fast kopernikanischen Wende in der [Gnosis-] Forschung« urteilte398. Für J. Büchli stellt sich in diesem Sinne der ›Poimandres‹ als ein von seinem Autor ins hellenistische Heidentum gleichsam zurückverwandeltes (in diesem Sinne also ›paganisiertes‹!) ›Evangelium‹ dar, das als solches ganz und gar vom Christentum – genauer: vom frühchristlichen 393 Ebd., S. 33 f.; entsprechend auch die Schlussfolgerung: »We may fairly conclude that even if some Christian influence may have indirectly made itself felt, yet the doctrine is not likely to have been derived from Christian sources … Thus we have probably to regard the idea of rebirth as belonging to the common background of thought«. 394 R. McL. Wilson, Art. Hermetik, in: RAC 14, Sp. 798, hier mit Verweis auf die Rede von den ›vernünftigen Opfern‹ in Röm 12,1 par C.H. I 31. 395 Vgl. z.B. A. J. Festugière, Hermetica, S. 2–20, hier speziell zur ›Taufe‹ in C.H. IV 3 f.; K. Prümm, Religionsgeschichtliches Handbuch, S. 535 ff.: »Die Hermetik als Typ heidnischer Gnosis«, hier speziell S. 559 f. Zu CH XIII ; S. 578 zu CH XIII 20 mit Verweis auf Tit 3,5 und 1 Petr 1,3. 396 In der Übersetzung ins Englische durch C. Harrison: A Separate God. The Christian Origins of Gnosticism. 397 S. Pétrement, A Separate God, S. 463–468, hier bes. S. 464. Dabei wird die in CH XIII vorausgesetzte Situation des »Abstiegs vom Berg« in geradezu abenteuerlicher Weise mit der »Lehre auf dem Berg«, d.h. mit der »Bergpredigt« des Neuen Testaments in Verbindung gebracht. 398 J. Büchli, Der Poimandres. Ein paganisiertes Evangelium. Vgl. dazu die Rez. von R. Schnackenburg, in: BZ N.F. 34 (1990), S. 144–146; Zitat: S. 144 f.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Alexandrinismus – abhängig sei399. Nun, dass es zahlreiche Entsprechungen bzw. Übereinstimmungen zwischen dem Corpus Hermeticum (und speziell dem ›Poimandres‹) und der frühchristlichen Literatur gibt, ist unbestreitbar und auch seit langem schon bekannt: C.H. Dodd mit seiner ›Interpretation of the Fourth Gospel‹ ist hier ebenso zu nennen wie auch A.D. Nock in seinem Kommentar zur (gemeinsam mit A.J. Festugière veranstalteten) Edition des Corpus Hermeticum – die entscheidende Frage ist nur, wie nun konkret solche Übereinstimmungen und Entsprechungen zu erklären sind? – jedenfalls doch nicht in jedem Falle – geht man in dieser Hinsicht jedenfalls von dem oben zitierten methodischen Grundsatz von R. McL. Wilson aus – im Sinne von irgendwelchen ›Abhängigkeiten‹! Im Übrigen: Was J. Büchli selbst in der ›Einleitung‹ zu seiner Untersuchung des ›Poimandres‹ als »Ziel und methodisches Vorgehen der Untersuchungen« vorgibt (S. 6 f.), ist keineswegs sehr überzeugend und lässt somit von vornherein Zweifel an der Zuverlässigkeit seiner ›Ableitungen‹ des ›Poimandres‹ aus der frühchristlichen bzw. frühchristlich-gnostischen Literatur entstehen: »auf philologischer Basis« will er den im ›Poimandres‹ vorliegenden Text analysieren, wobei »auf philologischer Basis« für ihn nichts anderes heißt, als »auf lexikalischer Basis«, um auf diese Weise »Sicherheit über den geschichtlichen Ort eines Gedankens« zu gewinnen. Geschieht dies nun konkret in der Ausschöpfung »alle[r] modernen Hilfsmittel« – angefangen bei G. Kittels Theologischem Wörterbuch zum Neuen Testament über W. Bauers »Wörterbuch zum Neuen Testament«, »Lampes Patristik-Lexikon« bis hin zu den »Notes de léxicographie néo-testamentaire« von C. Spicq, einschließlich der entsprechenden Konkordanzen-, so muss es wohl vornherein als fraglich erscheinen, ob allein auf diesem Wege eine »kategoriale Analyse« durchzuführen ist, »um zu entscheiden, ob ein Gedanke mehr in die jüdische, d.h. biblische oder in die griechische Welt gehört« (S. 7, hier mit dem Zusatz: »Auch hier bietet uns Kittel die entscheidende Grundlage«!). Schon rein methodisch gesehen dürfte ein solches allein am lexikalischen Befund orientiertes Verfahren weniger einen Fort-, als vielmehr einen Rückschritt in der Forschung signalisieren. Der von R. McL. Wilson formulierte methodische Grundsatz dürfte jedenfalls in dieser Hinsicht durchaus weiterführen. Klarheit und Eindeutigkeit in der »sprachlichen Analyse« der »Schlüsselwörter des Textes« bzw. »Sicherheit über den geschichtlichen Ort eines Gedankens« (S. 7) ist auf diesem ›lexikalischen‹ Wege kaum zu gewinnen. Und so ist es durchaus zu erklären, dass – z.B. – J. Holzhausen in seiner »Studie zum ›Poimandres‹ (= CH I), zu Valentin und dem gnostischen Mythos« unter dem Titel »Der ›Mythos vom Menschen‹ im hellenistischen Ägypten« bei der kritischen Betrachtung der Analyse des ›Poimandres‹ durch J. Büchli zu einem gänzlich anderen Ergebnis kommt: »Der ›Poimandres‹ ist kein ›paganisiertes Evangelium‹«400 – was zugleich in positiver Hinsicht heißt: Der ›Poimandres‹ steht – gemeinsam mit dem Christentum! – in der Tradition eines ›hellenistischen Judentums‹ – und aus »diesem Grunde ergeben sich in mancherlei Hinsicht Ähnlichkeiten zwischen der Hermetik und dem Christentum, da beide Bewegungen den gleichen Ausgangs399 Nach der geschichtlichen Einordnung durch J. Büchli gehört der Poimandres »in die Wirkungsgeschichte des Origenes« hinein, also etwa in die Mitte des 3. Jh.s n.Chr. (S. 207 f.); ebd.: ›Sitz im Leben‹ des Poimandres sind »die geistigen Auseinandersetzungen in Alexandria seit dem Ende des 2. Jh.s«. 400 J. Holzhausen, Der Mythos vom Menschen, S. 68.

3.2 Der Quellenbefund

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punkt haben«401 und – so muss man hinzufügen – die beiderseits aufgenommenen ›jüdisch-hellenistischen‹ Traditionen je auf ihre Weise in ein – vom Ansatz her! – unterschiedliches Bezugssystem einfügen.

Ganz abgesehen von der speziellen Problematik der Rede von einem »paganisierten Evangelium«402, stellt sich somit die Frage, ob die von J. Büchli aufgewiesenen (vermeintlichen!) Gemeinsamkeiten bzw. Entsprechungen zwischen der Sprache der Hermetik einerseits und der frühchristlich-alexandrinischen Sprachtradition andererseits am Ende gar nicht primär durch irgendwelche (literarische?) Abhängigkeiten des ›Poimandres‹ von jener frühchristlichen Sprachtradition zu erklären sind, sondern vielmehr dadurch, dass beide – jene frühchristlich-alexandrinische Sprachtradition einerseits und die Sprache des ›Poimandres‹ andererseits – aus einem gemeinsamen Sprachfundus geschöpft und diese Sprachtradition einer jeweils unterschiedlich zentrierten Ausrichtung zugeordnet haben403. So gesehen würde sich dann die Hermetik am Ende zwar nicht als Zeugnis einer vor-christlichen Gnosis bzw. – genauer – eines vorchristlichen, der Gnosis zumindest nahestehenden Mysterienglaubens erweisen, wohl aber als das Zeugnis einer außer-christlichen Gnosis, die – zeitlich gesehen – als Sammlung in Gestalt des »Corpus Hermeticum« zwar erst in das 2. oder 3. nachchristliche Jahrhundert anzusetzen ist, als sekundäre Sammlung jedoch auf eine jener Sammlung vorangehende Entwicklungsgeschichte verweist, die – aller Wahrscheinlichkeit nach – mindestens bis ins 1. nachchristliche Jahrhundert zurückgeht. Beziehungen – auch im Sinne von Wechselbeziehungen! – zwischen dieser Art von Gnosis und dem ur- bzw. frühchristlichen Schrifttum sind also auch hier – über alle Datierungsfragen hinaus – nicht von vornherein auszuschließen. Und auch noch einmal in diesem speziellen Zusammenhang: Die Feststellung von Beziehungen zwischen ursprünglich unterschiedlichen Phänomenen in der spätantiken Religionsgeschichte ist grundsätzlich nicht vermittels der Kategorie der Einflussnahme oder gar der Abhängigkeit der einen von der anderen Seite zu bewältigen. Entscheidend im jeweiligen Falle ist am Ende allein, in welchem Maße und Sinne eine bestimmte – in diesem Falle: die gnostische – Sprach- und Sachtradition jeweils einer neuen und anderen Sinnmitte bzw. einem neuen und anders zentrierten Bezugssystem zugeordnet worden ist.

401

J. Holzhausen, a.a.O., S. 68. Dazu J. Büchli, Der Poimandres, S. 204 und S. 208: »Dessen [des Verf.s des Poimandres] Paganisierung wäre somit nicht primär eine Bewahrung des Heidnischen vor dem Christlichen, sondern eine Rettung des Christlichen im Heidnischen«! 403 So übrigens bereits C. H. Dodd, The Bible and the Greeks, S. 247 f.: »Thus the parallels … are explicable as the result of minds writing under the same general influences«; ders., The Interpretation of the Fourth Gospel, S. 33 und S. 36: »The similarities of expression suggest a common background of religious thought«. 402

166

3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

3.2.4.2 Zur Frage einer vor- bzw. außerchristlichen Gnosis im Schrifttum der Mandäer Repräsentierte das hermetische Schrifttum – gleichwie in welchem Maße in den einzelnen Traktaten des Corpus Hermeticum philosophische Überlieferungen zur Geltung kommen – aufs Ganze gesehen doch eher eine bestimmte Art philosophischer Gnosis, so repräsentiert das überlieferte mandäische Schrifttum – ganz im Unterschied dazu – ganz offensichtlich den Typus einer mythologischen Gnosis. Konkret heißt dies, dass man – von der Hermetik herkommend – im Falle des mandäischen Schrifttums gleichsam in eine ›andere Welt‹ eintritt404. ›Gnostiker‹, eben ›Mandäer‹ – abgeleitet (im ostaramäischen Dialekt des Mandäischen) von manda = ›Wissen / Erkenntnis‹ – sind ja auch sie, auch wenn mandaiia = Mandäer noch nicht zu den ältesten Selbstbezeichnungen der Mandäer gehört, sondern eher die Selbstbezeichnung na uraiia, d.h.: die ›Observanten‹, dies aber eben (auch) im Sinne der ›Eingeweihten‹ – in die Geheimnisse der ›Gnosis‹ (manda) nämlich405. ›Gnosis‹ also auch hier, dies nun freilich – ganz im Unterschied zur hermetischen Gnosis – in einer mythologischen Gestalt, als solche vom Ursprung und Schicksal der ›Gnostiker‹ in einer äußerst bildhaften, mitunter geradezu poetischen Sprache erzählend. Konkret heißt das: Das, was H. Jonas die spezifisch gnostische ›Daseinshaltung‹ genannt hat, das Schicksal des Gnostikers nämlich in der Welt, findet hier, im mandäischen Schrifttum, einen existentiellen, ja geradezu elementaren Ausdruck wie sonst kaum in den überlieferten gnostischen Quellenschriften406, auch wenn es in diesen, und zwar sowohl in den durch die antihäretischen Kirchenväter überlieferten (christlich-)gnostischen Texten als auch im gnostischen Schrifttum von Nag Hammadi, durchaus gewisse Entsprechungen gibt. Zur Illustration in dieser Hinsicht sei hier vor allem auf den sog. Naassenerhymnus (Hippolyt, Ref. V 10,2) verwiesen, darüber hinaus auch auf das Motiv von ›Schlafen‹ und ›Erwachen‹ – »Schlaf als Metapher für das Defizit an ›Gnosis‹«! –, wie es (bis hin zu Eph 5,14!?) bereits H. Jonas und zuletzt besonders G. McRae als eine Art gnostisches (auch die Hermetica einschließendes) Grundmotiv herausgearbeitet haben407. 404 Zur ersten Information über den Stand der Forschung vgl. K. Rudolph, Art. Mandäer / Mandäismus, in: TRE 22, S. 19–25 (mit Übersicht über die Quellen und die Sekundärliteratur: S. 24 f.). Hervorzuheben ist aus der Sekundärliteratur nach wie vor(!) K. Rudolph, Die Mandäer I. Prolegomena: Das Mandäerproblem. 405 Dazu im Einzelnen: K. Rudolph, Die Mandäer I, S. 112 ff.: »Letztlich meinen ›Mandäer‹, d.i. ›Gnostiker‹, und ›Nasoräer‹, d.i. ›Observanten‹, dasselbe: Kenntnis und Beobachtung der ›Mysterien‹ als Korrelat zu beiden Namen« (S. 114). 406 Paradigmatisch dafür sind die von K. Rudolph in seine Gesamtdarstellung »Die Gnosis« übernommenen Texte aus der Literatur der Mandäer (S. 130 ff. 191 ff. und S. 195 ff.) 407 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 113 ff., spricht hier sogar von einem »geschlossenen Zyklus von Bildsymbolen«. Zur Sache: G. McRae, Sleep and Awakening in Gnostic Texts, S. 496–507.

3.2 Der Quellenbefund

167

So ist es kein Zufall, sondern bewusste Entscheidung, wenn H. Jonas eben den mandäischen Schriften den ›hermeneutischen Vorzug‹ zugebilligt hat, den ›Logos der Gnosis‹ am adäquatesten zur Aussage zu bringen: Der ›phantasievoll-mythische Logos‹, der im mandäischen Schrifttum zur Aussage kommt, ist zwar »der am meisten ›orientalische‹, volksmäßige«, eben so aber auch »der unmittelbarste Ausdruck gnostischen Seelenlebens geworden. In ihm bietet sich daher« – so weiter H. Jonas – »das Eigenwesen der Gnosis am reinsten so dar, wie es nach größtmöglichem Abzug aller ›Pseudomorphose‹ nur erscheinen kann – also eine optimale Erscheinung derselben«408. All diese im Einzelnen anhand der entsprechenden mandäischen Texte vielfältig nachweisbare Hochschätzung des mandäischen Schrifttums für das Gesamtverständnis der Gnosis steht nun freilich unter dem Vorbehalt der Beantwortung der Frage nach Zeit und Ort des Ursprungs des Mandäismus in der spätantiken Religionsgeschichte – und eben in dieser Hinsicht gibt es in der Geschichte der Mandäerforschung – von Anfang an bis zum heutigen Tage – keine wirklich eindeutige Antwort409. Die Ursprungsfrage im lokalen Sinne – ob westlich-palästinisch oder östlich-babylonisch – dürfte zwar inzwischen geklärt sein, und zwar in dem Sinne, dass die (auch gegenwärtig noch im südlichen Irak und im südwestlichen Iran existierende ›Taufsekte‹ der) Mandäer ihren Ursprung in Palästina, genauer: im Umfeld des Jordan, gehabt hat und somit erst später, wohl doch infolge bestimmter Verfolgungen an ihrem Ursprungsort, ins ›babylonische Exil‹ gegangen ist – gänzlich offen dagegen ist nach wie vor die Frage nach ihrem zeitlichen Ursprung. Selbst K. Rudolph, gegenwärtig gewiss einer der besten Kenner der mandäischen Literatur (und seinerseits zugleich auch ein Befürworter eines – relativ – frühen Ursprungs der Mandäer!) räumt ein, dass es »trotz der umfangreichen Literatur der Mandäer … bis heute nicht gelungen ist, ihren Ursprung und ihre ältere Geschichte völlig aufzuhellen«410. Die Schwierigkeiten in dieser Hinsicht sind offensichtlich im Charakter der überlieferten mandäischen Literatur selbst begründet, nämlich im fast vollständigen Mangel an historisch und chronologisch verwertbaren Angaben in dieser Art von Literatur. Dies gilt im Übrigen auch angesichts dessen, dass sich die Quellenlage – insbesondere seit der Publikation des grundlegenden mandäischen Schrifttums (in Gestalt des ›Schatzes‹ [Ginza] sowie des ›Johannesbuches der Mandäer‹) durch M. Lidzbarki – erheblich verändert hat. Über diese Schriften hinaus steht gegenwärtig – vor allem durch die Forschungsarbeit von Ethel S. Drower bedingt – eine Fülle weiterer 408 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 94 ff.; Zitat: S. 95, sowie ebd.: Im »phantasievoll-mythischen Logos [der Mandäer] bietet sich … das Eigenwesen der Gnosis am reinsten dar«. 409 Zur Forschungsgeschichte vgl. K. Rudolph, Zum gegenwärtigen Stand der mandäischen Religionsgeschichte, S. 121–148, ders., Der Mandäismus in der neueren Gnosisforschung, S. 244–277. 410 So K. Rudolph, in: TRE 23, S. 19 f.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

mandäischer Schriften zur Verfügung411, die nach Ausweis der seitdem erschienenen Sekundärliteratur jedoch lediglich zu weiteren Hypothesen bzw. – um mit K. Rudolph zu reden – ›Vermutungen.‹ über ›Alter und Heimat der Mandäer‹ geführt haben, in keinem Falle aber zu einem auch nur relativ eindeutigen Ergebnis im Blick vor allem auf die Frage der zeitlichen Ansetzung des Ursprungs der Mandäer412. Eine ›Geschichte der Mandäer‹ ist somit, was insbesondere deren Anfänge betrifft, nur schwer zu schreiben413. Und dies gilt nicht zuletzt – den ›westlichen‹ Ursprung der Mandäer hier vorausgesetzt – für das spezielle, deswegen aber doch keineswegs periphere Problem ihres (Ursprungs-?) Verhältnisses zum Judentum bzw. zu ihrem, der Mandäer, Ursprungszusammenhang mit einem ›gnostischen‹ oder doch jedenfalls ›gnostisierenden‹ Judentum. Zwar ist es – historisch gesehen – unbestreitbar oder doch wenigstens höchst wahrscheinlich, dass die Mandäer – ihren ›westlichen‹ bzw. syrisch-palästinischen Ursprung hier einmal vorausgesetzt – in ihren Anfängen in einer – im Einzelnen wie immer auch gearteten – Beziehung zum Judentum gestanden haben; und darüber hinaus kann man in diesem Zusammenhang – mit K. Rudolph – auch durchaus davon ausgehen, dass sie mit ihren Taufgepflogenheiten in der Kontinuität bestimmter (häretisch-) jüdischer (und judenchristlicher) ›Taufsekten‹ gestanden haben414; als problematisch demgegenüber muss dann freilich schon jene – wiederum von K. Rudolph geäußerte – Vermutung erscheinen, dass es sich bei den Mandäern um eine »Absplitterung vom offiziellen(!) Judentum gehandelt habe415. Zunächst: Was heißt das: ›offizielles Judentum‹? – wenn denn der Mandäismus bis ins 1. nach-christliche Jahrhundert zurückreichen sollte? Und zudem: Kann man von einer solchen ›Absplitterung‹ her, was die jüdische Seite betrifft, sogleich auf die Existenz einer jüdischen Gnosis schließen und auf diese Weise Ursprung und Entstehung des Mandäismus als einen – zunächst jedenfalls – gleichsam innerjüdischen Prozess betrachten, in dessen Verlauf zudem noch die QumranEssener (als Repräsentanten einer ›jüdischen Gnosis‹!) eine mehr oder weniger bestimmende Rolle gespielt haben?416. Solche Konstruktion der Ursprungs- und Entstehungsgeschichte der Mandäer muss am Ende nun doch als höchst fragwürdig erscheinen, und zwar nicht zuletzt auch schon angesichts der hier vorausgesetzten unmittelbaren Verbindung von Judentum und Gnosis, die als solche, im Sinne nämlich einer jüdischen Gnosis, ja nichts anderes als eine contradictio in adiecto darstellt: ›Judentum‹ und ›Gnosis‹, die letztere auf einem ur-anfänglichen und in 411

Vgl. den Überblick bei K. Rudolph, in: TRE 22, S. 19 f. und S. 24 f. Aus dem Überblick über die Sekundärliteratur bei K. Rudolph, TRE 22, S. 24, sind die Arbeiten von R. Macuch zu »Alter und Heimat der Mandäer« sowie zu den »Anfängen der Mandäer« besonders hervorzuheben. 413 Dazu besonders K. Rudolph, Der Mandäismus in der Gnosisforschung, S. 268 ff.: »Probleme der mandäischen Geschichte« (mit »Zeittafel zur mandäischen Geschichte und Mandäerforschung«: S. 274–276). 414 Dazu K. Rudolph, Antike Baptisten, S. 17, hier mit der Schlussfolgerung: »Man kann die Mandäer mit Recht eine als Taufsekte organisierte Form der Gnosis betrachten, die auf einem synkretistisch-jüdischen Substrat basiert«. 415 So K. Rudolph, in: K.-W. Tröger, Gnosis und Neues Testament, S. 140. Was aber heißt hier, was die in Frage stehende Zeit betrifft, »offizielles Judentum«? Vgl. im Übrigen auch K. Rudolph, Die Gnosis, S. 390 f. 416 Vgl. in diesem Sinne bes. G. Quispel, Jewish Gnosis and Mandaean Gnosticism, S. 82–122, hier – im Blick speziell auf NHC VI /2, 13,1–31,32 – im Sinne eines Zusammenhangs zwischen jüdischer Weisheit und Gnosis. 412

3.2 Der Quellenbefund

169

diesem Sinne radikalen Dualismus beruhend – das ›verträgt‹ sich nicht miteinander, auch wenn man in diesem Zusammenhang in Rechnung stellt, dass die Gnosis insgesamt – einschließlich der sog. ›Christlichen Gnosis‹! – im Einzelnen in reichem Maße auf jüdisches Erbe zurückgegriffen hat, eben dieses ›Erbe‹ dann freilich zugleich in das genuin gnostische Rahmen- und Bezugssystem eingebunden hat. Schon von daher gesehen ist die Kritik an solcher Konzeption bzw. Konstruktion vom Ursprung der mandäischen Gnosis nicht ausgeblieben417.

Über solche Vermutungen (und die darauf beruhenden Konstruktionen) scheint nun freilich – was die Frage nach der Möglichkeit einer Datierung des Ursprungs der mandäischen Gnosis und damit auch des Alters des mandäischen Schrifttums betrifft – jener eingehende Textvergleich hinauszuführen, den im Jahre 1949 bereits T. Säve-Söderbergh in seinen ›Studies in the Coptic Manichaean Psalmbook‹ – mit dem Untertitel: ›Prosody and Mandaean Parallels‹ – vorgelegt hat418. Eindeutiges Ergebnis dieser Studien ist jedenfalls der Nachweis, dass die sog. Thomas-Psalmen aus dem manichäischen Psalmenbuch bzw. »nahezu alle von ihnen einen poetischen Typus repräsentieren, der für mandäische Hymnen charakteristisch ist«419, wobei den mandäischen Hymnen zweifellos die Priorität gegenüber den manichäischen Vergleichstexten zukommt. Die Schlußfolgerung lautet dementsprechend, dass »these psalms were written in a milieu of Mandaean affinity and were composed in a form familiar to proselytes from such a sect«420. Geht man nun davon aus, dass die manichäischen Thomaspsalmen zwischen 250 und 275 n.Chr. zu datieren sind, so ist damit in jedem Falle so etwas wie ein »chronologischer Fixpunkt in der Geschichte der orientalischen Gnosis« gewonnen, der freilich, was nun wiederum speziell die mandäischen Hymnen betrifft, allenfalls bis in die 1. bzw. 2. Hälfte des 3. nachchristlichen Jahrhunderts führt421. Das Urteil von G. Quispel, dass die »ganze Mandäerfrage … dadurch eine neue Perspektive« bekommen hat, dürfte angesichts dessen wohl doch ein wenig zu enthusiastisch ausgefallen sein422 – es sei denn, man verfährt in dieser Hinsicht, was die Relation der manichäischen Thomaspsalmen zu den mandäischen Hymnen betrifft, in der Weise, in der 417 In diese Richtung geht die scharfe Kritik am Modell eines Ursprungszusammenhangs zwischen jüdischer Weisheit und Mandäismus bei S. Pétrement, A Separate God, S. 476–481. 418 Hier bes. S. 155 ff.: »Concluding Remarks on the Psalms of Thomas and the Mandaean Psalms: ›These psalms were written in a milieu of Mandaean affinity and were composed in a form familiar to proselytes from such a sect‹« (S. 156). 419 So die Formulierung des Ergebnisses der Studie von T. Säve-Söderbergh durch C. Colpe, Die Thomaspsalmen als chronologischer Fixpunkt in der Geschichte der orientalischen Gnosis, S. 82. 420 So T. Säve-Söderbergh, Studies in the Coptic Manichaean Psalmbook, S. 82. 421 Vgl. K. Rudolph, Der Mandäismus in der neueren Gnosisforschung, S. 263 f.; ders., Die Mandäer I, S. 185 ff., sowie C. Colpe, Die Thomaspsalmen als chronologischer Fixpunkt in der Geschichte der orientalischen Gnosis, S. 81 ff.; dazu: K. Rudolph, in: ThR 37 (1972), S. 355–357. 422 G. Quispel, Gnosis als Weltreligion, S. 1 f. Zitat: S. 2.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

A. Adam – unter der Voraussetzung, dass die »Thomaspsalmen … sich bei der Analyse als außerchristliche und zum großen Teil vorchristliche Texte erwiesen« haben! – in der Sapientia Salomonis (18, 14–16) einen Hinweis auf die Benutzung des 1. Thomaspsalms sieht – und von da aus die These zu begründen versucht, dass dieser Psalm (noch) »die Vorstufe der gnostischen Vorstellungswelt« repräsentiert, während das Buch der »Weisheit Salomos« »auf Grund seiner Beziehung zum ersten Thomaspsalm als erstes Dokument der werdenden Gnosis« zu beurteilen sei423. Will und kann man diesen Hypothesen und Konstruktionen nicht folgen, so bleibt am Ende nur die hypothetische Annahme, dass mit der (relativen!) Datierbarkeit der manichäischen Thomaspsalmen (und ihren Korrelaten bzw. Vorstufen im mandäischen Schrifttum) nun doch so etwas wie ein – um mit C. Colpe zu formulieren – »chronologischer Fixpunkt in der Geschichte der orientalischen Gnosis«, vielleicht sogar »ein archimedischer Punkt innerhalb der vorderasiatischen Religionsgeschichte« gewonnen ist, mit dem sich zugleich »so etwas wie eine Geschichte der östlichen Gnosis« abzeichnet424. Das in diesem Zusammenhang von C. Colpe für die Thomaspsalmen entworfene ›Etappen‹-Modell von insgesamt fünf verschiedenen Stufen bzw. ›Bereiche[ n] gnostischer Spekulation‹ könnte sich hier durchaus als eine nachvollziehbare Hypothese einer sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Entwicklungsgeschichte erweisen425 – auch wenn dabei die hier besonders interessierende Schicht, »die Thomaspsalmen und mandäischen Schriften gemeinsam ist«, erst der zweiten Etappe (nach der ersten, »Ende des 2. bis Anfang des 3. Jh.« datierten Etappe!) zugewiesen wird und die »volle mandäische Gnosis« dann erst der fünften Etappe, der bereits in der vierten Etappe »das ausgebildete, gegenüber der Gnosis der Thomaspsalmen insgesamt weiterentwickelte manichäische System« zugehört.

Dieses Modell impliziert dann freilich auch die Hypothese, dass es sich bei dieser Entwicklung im Mandäismus und im Manichäismus um eine ›rein endogene‹ Entwicklung handelt, die als solche auf keinerlei christlichen oder gar christologischen Voraussetzungen beruht – was zugleich heißt: Inhaltlich gesehen liegt hier eine nicht-christliche Entwicklung vor, die jedoch – chronologisch gesehen – als eine nach-christliche Entwicklung zu bezeichnen ist426 Von daher gesehen stellt sich am Ende unabweislich die Frage, ob (und inwieweit) sich mit diesem Modell einer Entwicklungsgeschichte der (von 423 Zitate nach A. Adam, Die Psalmen des Thomas und das Perlenlied, S. 79 f. sowie S. 33. Speziell zur SapSal als »erstes Dokument der werdenden syrischen Gnosis«: ebd., S. 30 ff. Kritisch dazu bereits C. Colpe, in JAC 7 (1964), S. 83, Anm. 18: »Wertvolle Einzelbeobachtungen solcher Art sind in dieser Arbeit leider in ganz unhaltbare Grundthesen eingebettet«. 424 Zitate nach C. Colpe, JAC 7 (1964), S. 77 und S. 84. 425 C. Colpe, ebd., S. 84 und S. 85 ff. – Vgl. auch P. Nagel, Die Thomaspsalmen, S. 22 ff., hier bes. S. 24: »Die nicht spekulativ, sondern literaturgeschichtlich begründete Datierung der Thomaspsalmen bildet unzweifelhaft ein tragfähiges chronologisches Fundament«. 426 C. Colpe, ebd., S. 92 f.

3.2 Der Quellenbefund

171

C. Colpe so genannten) ›orientalischen Gnosis‹ die sogenannte ›Mandäerfrage‹ am Ende als endgültig ›erledigt‹ erweist, und zwar sowohl im Blick auf die Ursprungs- und Frühgeschichte der Gnosis selbst als auch im Blick auf das frühe Christentum bzw. das Neue Testament (und hier insbesondere im Blick auf das Johannesevangelium!)?! Die Antwort auf diese Frage ist – sofern es hier um die mandäischen Schriften als Zeugnisse einer vor-christlichen Gnosis geht! – eindeutig negativ zu beantworten. Die Zeiten sind heute jedenfalls vorüber, da man den mandäischen Schriften einen herausragenden, ja geradezu grundlegenden Quellenwert für die Frage nach der Relation »Neues Testament und Gnosis« zuerkannte427. Denn wenn es nachweisbar ist, dass die manichäischen Thomaspsalmen »Bearbeitungen mandäischer oder prämandäischer Texte« sind, sind sie zunächst nur »ein sicherer Beweis für die Existenz der zentralen Elemente der mandäischen Religion in der vormanichäischen Zeit und ihrer Bedeutung für den Manichäismus«428. Dem entspricht es auch, wenn es im Zusammenhang der ›Mandäerfrage‹ und ihrer Bedeutung für das Neue Testament – wie K. Rudolph feststellt429 – »merklich stiller geworden« ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der einst noch W. Bauer und vor allem R. Bultmann in ihren Kommentaren das Johannesevangelium vor dem ›Hintergrund‹ des mandäischen Schrifttums kommentierten, ist gegenwärtig entweder ganz und gar abhanden gekommen oder doch jedenfalls einer mehr differenzierenden Sichtweise gewichen430. Andererseits aber besteht kein Zweifel daran, dass das in weiten Partien des mandäischen Schrifttums seinen Ausdruck findende ›spezifisch gnostische‹ Existenz- und Weltverständnis – ganz unabhängig von der Frage seiner genauen Datierung – seinen paradigmatischen Wert behalten wird; und dies umso eher, als – wie wiederum K. Rudolph deutlich gemacht hat431 – in dieser Hinsicht erstaunliche Konvergenzen zwischen dem mandäischen Schrifttum einerseits und den gnostischen Schriften von Nag Hammadi andererseits bestehen, Konvergenzen vor allem sachlich-inhaltlicher Art, die sich gewiss nicht aus irgendwelchen ein- oder gegenseitigen Abhängigkeiten bzw. Einflussnahmen, wohl aber aus einem »gemeinsamen Fundus der gnostischen Vorstellungs-, Bilder- und Sprachwelt« erklären lassen432. Auch von daher gesehen hat H. Jonas seinerzeit zweifellos zu Recht im Zusammenhang der Frage einer Konkretion des (von ihm so genannten) ›Logos 427 So z.B. noch S. Schulz, in: ThR 26 (1960), S. 331: »Eine neue Epoche in der Erforschung der Gnosis hat damit eingesetzt«! 428 So K. Rudolph, Die Mandäer I, S. 186. 429 K. Rudolph, Der Mandäismus in der neueren Gnosisforschung, S. 267 f. 430 Für R. Bultmann ist – neben seinem Kommentar zum Joh-Evangelium – besonders sein Aufsatz: Die Bedeutung der neuerschlossenen mandäischen und manichäischen Quellen für das Verständnis des Joh-Evangeliums, S. 100–146, zu nennen. 431 K. Rudolph, Coptica-Manichaica, S. 191–216. 432 K. Rudolph, ebd., S. 193, hier mit dem Zusatz: »… oder aus einer vorgnostischen Traditionsgemeinschaft (z.B. jüdisch-biblisches oder syrisch-mesopotamisches Substrat, orientalischer Synkretismus)«.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

der Gnosis‹ eben dem Mandäismus eine primär hermeneutische, nicht also: chronologische Vorzugsstellung eingeräumt433. In diesem Sinne liegt der Wert der mandäischen Gnosis für die Gnosisforschung insgesamt auf der Hand – auch wenn sich die Frage nach der Ursprungszeit des Mandäismus im chronologischen Sinne kaum eindeutig beantworten läßt. Und nicht zuletzt in diesem Zusammenhang: Der spezielle Zeugniswert des mandäischen Schrifttums besteht darin, dass dieses Schrifttum – wie immer man sich in der Frage des Ursprungs des Mandäismus in einem ›häretischen Judentum‹ oder auch in ›Randerscheinungen des Judentums‹ (K. Rudolph) entscheidet – doch in jedem Falle die Option für einen Ursprungszusammenhang Judentum – Gnosis offenhält. Auf die beiden im Folgenden im Zusammenhang der Frage nach einer vorchristlichen Gnosis noch zu erörternden Quellen ist – betrachtet man sie jedenfalls in einem Zusammenhang mit dem mandäischen Schrifttum – hier nur noch anhangsweise einzugehen. Beide, nämlich die Oden Salomonis sowie das sogenannte Perlenlied aus den apokryphen Thomasakten, sind in der Forschungsgeschichte seit langem bereits in einem sachlichen Zusammenhang mit oder doch jedenfalls in einer gewissen Entsprechung zu dem mandäischen Schrifttum sowie den manichäischen (Thomas-)Psalmen gesehen worden, und zwar als Zeugnis für die »Frühgeschichte der orientalischen Gnosis des 1. und 2. Jh. n.Chr.«434. Dem ist freilich sogleich hinzuzufügen: Jenseits dieses Zusammenhangs haben weder die Oden Salomonis (OdSal) noch das ›Perlenlied‹ einen eigenen Zeugniswert für eine vorchristliche Gnosis. Als unmittelbare Zeugen für eine vorchristliche Gnosis kommen sie nicht in Betracht: Die OdSal wegen ihres offensichtlich christlichen bzw. christlich-gnostischen (?) Charakters; das Perlenlied angesichts seiner Integration in den Kontext der apokryphen, dem 2. oder 3. Jh. n.Chr. zugehörigen Thomasakten. Gleichwohl ist ihnen beiden im Zusammenhang der Frage nach einer vor-christlichen Gnosis ein wenigstens mittelbarer Zeugniswert nicht abzusprechen: Was zunächst die ersteren, die OdSal. und ihre Kennzeichnung als ein (gnostisches) ›Psalm-‹ oder ›Hymnenbuch‹ oder gar als eine Art ›Gesangbuch‹ (einer gnostischen Gemeinde) betrifft, so ist zwar nicht zu übersehen, dass in der seit Beginn des 20. Jahrhunderts andauernden Forschungsgeschichte zunehmend eine gewisse Ernüchterung eingetreten ist435. Einer 433 Vgl. jedoch S. Schulz, Die Bedeutung neuer Gnosisfunde für die nt.liche Wissenschaft, S. 331: Der »prinzipiell richtig(e)« Ansatz von H. Jonas »für die Erschließung des Phänomens Gnosis vor allem die mandäischen Texte« heranzuziehen, sei darin begründet, dass »diese Proto-Mandäer bzw. Nasoräer … zur ältesten historisch fassbaren Gnosis« gehören. 434 So K. Rudolph, Der Mandäismus in der neueren Gnosisforschung, S. 268. 435 Zur Bezeichnung der OdSal als ein Psalm- bzw. Hymnenbuch vgl. bereits A. Harnack, Die Oden Salomos, in: ZNW 11 (1910), S. 291–328. Daran knüpft die auch gegenwärtig noch anzutreffende Bezeichnung als ›Gesang-‹ oder ›Gebetbuch‹ an. So z.B. Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, S. 40: »Liederbuch einer christlich-gnostischen Ge-

3.2 Der Quellenbefund

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der besten Kenner in dieser Hinsicht, M. Lattke, ist sogar der Meinung, dass hinsichtlich der OdSal »alle sogen. Einleitungsfragen … offen sind und z.T. auch noch unbeantwortet bleiben müssen«436. Skepsis ist also angebracht, und sie beginnt mit der Frage nach dem (ursprünglich) christlichen Charakter der OdSal437, setzt sich fort in der Frage nach ihrer Datierung und kulminiert schließlich in der seit Beginn der Forschungsgeschichte aktuellen Frage nach ihrem gnostischem – oder nicht-gnostischem Charakter. Was zunächst die Frage nach dem christlichen Charakter der Oden Salomos (in ihrer überlieferten Gestalt) betrifft, so wird zwar der Name ›Jesus‹ nicht genannt; im Übrigen jedoch ist in den OdSal so etwas wie eine spezifisch christliche ›Heilsgeschichte‹ eindeutig vorausgesetzt: Von der ›Menschwerdung‹ (Gottes) ist hier ebenso die Rede (OdSal 7,4; vgl. 19,6 ff.: ›Jungfrauengeburt‹!) wie von einer ›Geisttaufe‹ (vermittels einer Taube: OdSal 24,1); von dem ›einen Christus‹ bzw. ›Messias‹ (syr.: mš : Od Sal 9,3; 41, 15), der als solcher ›unser Erlöser‹ ist (OdSal 42,18); von seinem Kreuzestod ebenso (OdSal 27,1–3; 42,1 f.) wie von seiner ›Auferstehung‹ (OdSal 42,6) und OdSal 6 (passim) schließlich vom Siegeszug des ›Herrn‹ (syr.: marja)438 – insgesamt also eine Art von Christologie, die ihre jüdischen Wurzeln, insbesondere wohl in der sapientialen Tradition des Judentums, noch deutlich erkennen lässt439. – Zumindest ebenso bedeutsam in dieser Hinsicht sind aber auch die seit langem schon vermerkten sprachlichen (und damit auch sachlichen!) Gemeinsamkeiten bzw. Entsprechungen mit der frühchristlichen Literatur, hier insbesondere mit dem Johannesevangelium sowie mit den Briefen des Ignatius440. Dabei deutet im Übrigen nichts darauf hin, dass diese ›Gemeinsamkeiten‹ auf irgendwelche literarisch vermittelten ein- oder gegenseitigen Einflussnahmen bzw. Abhängigkeiten zurückzuführen sind; viel eher kommt hierfür ein gemeinsames Entstehungs- bzw. Ursprungsmilieu in Betracht, in dem die OdSal wie auch das 4. Evangelium und die Ignatiusbriefe – selbstverständlich in jeweils unterschiedlicher Ausrichtung bzw. Akzentsetzung! – verwurzelt sind441.

meinschaft aus der Mitte des 2. Jh.s«; H. Köster, Einführung in das Neue Testament, S. 657: »das älteste christliche Gesangbuch«, sowie K. Rudolph, Die Gnosis, S. 238: »Gesang- oder Gebetbuch einer christlich-gnostischen Gemeinde Syriens«. 436 So M. Lattke, Die Messiasstellen der Oden Salomos, S. 430. 437 Dazu bes. J.T. Sanders, The New Testament Christological Hymns, S. 101–120, hier S. 105: »That the Odes of Solomon contain Christian elements is not to doubdet, yet some of these secondary«. 438 Zu einer Art »Trinitätslehre« vgl. auch Od Sal 19,2; 23,22. Zur Christologie der OdSal vgl. bereits R. Abramowski, Der Christus der Salomooden, S. 46 f. u. S. 62 ff., hier verbunden mit der These einer »sekundären Christianisierung«. 439 Dazu im einzelnen: A. F. J. Klijn, The Influence of Jewish Theology on the Odes of Salomon and the Acts of Thomas, S. 167–179, hier freilich mit der Bestreitung des gnostischen Charakters der OdSal verbunden. 440 In dieser Hinsicht wird in der Forschung ganz allgemein weniger mit irgendwelchen »Abhängigkeiten«, als vielmehr mit einem »common background« gerechnet. So z.B. J.T. Sanders, The New Testament Christological Hymns, S. 103 f. 441 In diesem Sinn bes. H. Schlier, Religionsgeschichtliche Studien zu den Ignatiusbriefen, S. 178 f. Speziell zum Joh-Evangelium vgl. C. K. Barrett, Das Evangelium nach Johannes, S. 127.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Solche sprachliche und sachliche (und damit wohl auch lokale!) Nähe der OdSal zu der durch das Johannesevangelium und die Ignatiusbriefe repräsentierten frühchristlichen Literatur hat dann freilich auch ihre Konsequenzen für die (nach wie vor umstrittene) Frage nach der Datierung bzw. zeitlichen Ansetzung der OdSal, und zwar im Sinne ihrer Früh-Datierung, konkret also etwa zu Beginn des 2. Jh.s n.Chr. (oder sogar in der Zeit der Wende vom 1. zum 2. Jh.?). Speziell in dieser Hinsicht kann man beim gegenwärtigen Stand der Forschung – sieht man jedenfalls von der ausgesprochen späten Datierung der OdSal um 200 bzw. im 3. Jh. n.Chr. durch H.J.W. Drijvers ab442 – durchaus von einem relativen Konsens sprechen443, der seinerseits wiederum der Frage nach dem gnostischen Charakter der OdSal ein besonderes Gewicht verleiht: Eben diese Frage – sind die OdSal (insgesamt oder auch nur teilweise) als ein Dokument der (frühchristlichen) Gnosis zu betrachten? – gehört nun freilich zu den am meisten umstrittenen Fragen der gegenwärtigen Forschung444. Bezeichnend für die Diskussionslage in dieser Hinsicht ist bereits die Tatsache, dass der im Jahre 1998 im 29. Band der ›Theologischen Realenzyklopädie‹, hier S. 731 f., erschienene Artikel zu den OdSal alle (nach Meinung des Verfassers notwendigen) Sachfragen erörtert, ohne dass dabei ein einziges Mal die Stichworte ›Gnosis‹ oder ›gnostisch‹ benutzt werden! Im Übrigen: darauf, dass hier in der Tat ein Problem vorliegt, hatte seinerzeit schon W. Bauer hingewiesen, wenn er – einerseits – von der Sammlung der OdSal als einem ›gnostischen Hymnenbuch aus dem 2. Jh.‹ sprach, dem aber – andererseits – sogleich hinzufügte: »Gnostisch ist dabei in einem weiten Sinne zu fassen«445. Was die Fragestellung und ihre besondere Problematik betrifft, so ist jedenfalls von vornherein offensichtlich, dass angesichts der die gegenwärtige Diskussion gerade in dieser Hinsicht bestimmenden Alternativen und verabsolutierenden Thesen – etwa im Sinne von J.H. Charlesworth’ apodiktischem »The Odes of Solomon – not Gnostic«446 – kaum weiterzukommen ist, sondern – wenn überhaupt – nur mit einer im Blick auf das religionsgeschichtliche Problem der OdSal differenzierenden Betrachtungsweise. In diesem Zusammenhang will nun freilich die eindeutig gnostische Rezeption einiger OdSal (5,1–11; 1,1–5; 6,8–18; 25,1–12; 22,1–12) in der (sehr späten) »Pistis Sophia«, hier in den Kapiteln 58.59.65.69.71, noch nicht allzu viel über den gnostischen Charakter der OdSal selbst besagen, zumal diese Rezeption hier 442 H. J.W. Drijvers, Odes of Solomon and Psalms of Mani, S. 129 f. Kritisch zu solcher Spätdatierung R. Abramowski, Sprache und Abfassungszeit der Oden Salomos, S. 88–90. 443 Vgl. R. Abramowski, Der Christus der Salomooden, S. 45: »um die Wende des 1. Jh.s«, mit der Begründung, dass die »rein soteriologische Einstellung« die OdSal »in die Nähe der christlichen Urliteratur rückt« (ebd.). Zur Diskussion im Einzelnen vgl. J. H. Charlesworth, Art. Solomon, Odes of, in: ABD VI , S. 114 f. 444 Zur Diskussion in dieser Hinsicht vgl. M. Lattke, Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung für NT und Gnosis I, S. 209. 445 W. Bauer, in: E. Hennecke-W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen II , 3. Aufl., S. 577. 446 So der Titel seines Aufsatzes in der Auseinandersetzung mit H. Jonas und K. Rudolph, in: CBQ 31 (1969), S. 357–369.

3.2 Der Quellenbefund

175

zusammen mit den biblischen Psalmen erfolgt und – was die Auswahl wie auch die gnostische Paraphrase der OdSal (wie auch der biblischen Psalmen!) betrifft – offensichtlich primär durch das (noch keineswegs spezifisch gnostische) Motiv einer Beschreibung der Drangsal des Frommen in der Welt bedingt ist und in diesem Sinne keineswegs notwendig den gnostischen Charakter der hier rezipierten ›Vorlage‹ (in Gestalt der OdSal) voraussetzt447. Andererseits ist aber auch zu berücksichtigen, dass es sich in der Sammlung der OdSal offensichtlich um eine Art ›Gesangbuch‹ einer (gnostischen?) Gemeinde handelt, das als solches weniger tiefschürfende theologische oder auch philosophische Thesen und Begründungszusammenhänge vorträgt, wie sie sich sonst häufig in gnostischen Schriften finden, vielmehr Ausdruck und Niederschlag einer Art (gnostischer?) ›Gemeindefrömmigkeit‹ ist448. Entsprechend dieser ›literarischen Gattung‹ der OdSal ist hier die Abhandlung der ›großen Themen‹ gnostischer Mythologie und Aitiologie hinsichtlich der Kosmogonie, Anthropogonie (usw.) von vornherein nicht zu erwarten, sondern viel eher jene Aussagen, die die religiöse Beziehung bzw. Gemeinschaft der zu Erlösenden mit dem Erlöser und – in diesem Sinne – vor allem das Thema der Soteriologie zum Inhalt haben – und gerade so wiederum die OdSal »in die Nähe der christlichen Urliteratur« rücken449. Überhaupt wird man angesichts dieses besonderen literarischen Charakters der OdSal nicht von einzelnen ›Begriffen‹ ausgehen dürfen – so z.B. auch nicht allein von der (immerhin auffällig häufig in den OdSal gebrauchten) Wurzel jd’ (und ihren Derivaten)450, sondern eher vom Gesamtensemble der Aussagen, Motive und Bilder, die auch anderen (späteren) Texten der Gnosis, hier insbesondere der mandäischen Hymnenliteratur, eigen sind451 und auf diese Weise – auch wenn in den OdSal (als ein Erbe aus der Tradition des Judentums?) kein ausgeprägter Dualismus zu erkennen ist – so etwas wie eine (möglicherweise einer noch unausgebildeten ›Frühphase der Gnosis‹ zugehörende) gnostisierende Tendenz innerhalb der Sammlung der OdSal offenbar machen452. Solche Entdeckung wäre dann auch ganz unabhängig davon gültig, ob man – z.B. mit S. Schulz – aus den OdSal einen ›vollständigen‹(!) gnostischen ›Erlösermythos‹ zu erheben vermag, und zwar mit den einzelnen Stationen von Katabasis (OdSal 22,1.12) – Fremdsein in der Welt (17,6; 28,10; 41,8) – Unterliegen des Erlösers (28,7 f.; 42) – Göttliche Hilfe (22,54; 41,9) – Überwindung der Hölle (42.11 ff.) –

447 Zur Rezeption der OdSal in der »Pistis Sophia« vgl. M. Lattke, Die gnostische Interpretation der Oden Salomos in der Pistis Sophia, S. 207–225. 448 Zum Stichwort »Gemeindefrömmigkeit« im Blick auf die OdSal: K. Rudolph, Die Gnosis, S. 34. 449 So L. Abramowski, in: ZNW 35 (1936), S. 45. Vgl. auch M. Lattke. Die OdSal in ihrer Bedeutung für Neues Testament und Gnosis, S. 53 f.: »Wahrscheinlich wird man … nie sagen können, die Oden Salomos seien gnostisch im Sinne eines vollständigen Kosmogonieund Erlösungsmythos«. 450 Dazu K. Rudolph, in: RdQ 4 (1964), S. 525 und 546 ff., sowie M. Lattke, Exkurs 7 (»Erkennen« und »Erkenntnis« in den OdSal), in: Ders., Oden Salomos. Text, Übersetzung, Kommentar, Teil 1 (NTOA 41/1) S. 101–104. 451 Zur Frage »Die OdSal und die mandäische Literatur« vgl. K. Rudolph. RdQ 4 (1964), S. 528–557; ders., Die Mandäer I, S. 25–27.162.247. 452 So M. Lattke, Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung … (OBO 25/4), S. 57. Vgl. auch die Zuordnung der OdSal zur »Frühgeschichte der orientalischen Gnosis« durch K. Rudolph, Der Mandäismus in der neueren Gnosisforschung, S. 268 mit Anm. 73.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Erweckung der Gläubigen (42) – ihre Befreiung (17,8 ff.) – und schließlich Anabasis (21,2; 38,1 ff.)453. Ein Übriges in dieser Hinsicht, was den ›gnostischen‹, besser: den ›gnostisierenden‹ Charakter der OdSal betrifft, könnten schließlich auch jene Analogien zwischen den OdSal und dem sog. Evangelium Veritatis von Nag Hammadi (NHC I/3, p. 16,31–43,24) leisten, auf die insbesondere H.-M. Schenke hingewiesen hat und die sich nicht nur auf »Wortwahl und Bildgebrauch« beschränken, sondern auch bemerkenswerte Übereinstimmungen in der Rede von Gott (im Gegenüber zur Nichtigkeit der Welt!) sowie in der Christologie einschließen454. Da sich auch hier Übereinstimmungen zwischen den OdSal einerseits und dem Evangelium Veritatis andererseits nicht auf literarisch vermittelte Abhängigkeiten bzw. Einflussnahmen zurückführen lassen, kann man dem Urteil, das P. Nagel am Ende seiner Untersuchung über »Die Herkunft des Evangelium Veritatis in sprachlicher Sicht« formuliert hat durchaus zustimmen: »Der sprachliche und religionsgeschichtliche Befund gestattet den vorläufigen Schluss, dass die Oden Salomos eine Frühstufe desjenigen gnostischen Typus darstellen, der im Evangelium Veritatis des Codex Jung seine spekulative Ausformung gefunden hat«455. Obgleich also mancherlei auf eine gnostisierende Grundrichtung in den OdSal hinweist, wird man gleichwohl fragen müssen, ob man angesichts des hier vorliegenden Gesamtensembles von gnostischen Aussagen, Motiven und Bildern sogleich die OdSal insgesamt als ›gnostisch‹ bezeichnen muss?456. Die neuere Forschungsgeschichte (bis hin zu dem grundlegenden Werk von M. Lattke) gibt demgegenüber zu einer eher zurückhaltenden Einordnung der OdSal Anlass: gnostisierende Tendenz? – Ja! – aber: Wenn es denn zutrifft, dass die »religionsgeschichtlich und literaturgeschichtlich schwer einzuordnenden« Od Sal in den »Überlappungsbereich von Christentum, Gnostizismus und Judentum« fallen457, so ist an dieser Stelle, was die religionsgeschichtliche Einordnung der OdSal betrifft, von vornherein weniger von (notwendig statischen!) Einstufungen (an einen bestimmten religionsgeschichtlichen ›Ort‹) als vielmehr von fließenden Übergängen auszugehen – was im Falle der OdSal konkret heißt: Ein jüdisch-christliches Dokument, gerade als solches aber doch zugleich mit bestimmten gnostisierenden Tendenzen verbunden, nicht aber einfach ein gnostisches (einen vollständigen Kosmogonie- und Erlösungs453 So S. Schulz, Art Salomooden, in: RGG 3. Aufl. V, Sp. 1340 f., hier mit der (im Anschluss an H. Jonas formulierten) Schlussfolgerung, dass »Vorstellungswelt und Existenzverständnis« der OdSal eindeutig als ›gnostisch‹ zu bezeichnen seien. Ähnlich Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, S. 754 f.: Grundmuster der OdSal sei der gnostische Mythos vom »Erlösten Erlöser« (mit Verweis auf OdSal 42,18). ›Erlösung‹ i.S. der OdSal wäre demnach die »Selbstidentifikation des zu Erlösenden mit dem Erlöser«. 454 Hinzuweisen ist hier vor allem auf die Entsprechung zwischen OdSal 11,6–8 und Evangelium Veritatis, p. 22,13–20. Im Übrigen vgl. H.-M. Schenke, Die Herkunft des sog. Evangelium Veritatis, S. 26–29, hier mit der These: »Die Oden Salomos sind der einzige gnostische Text, in dem wir Zentralgedanken des sog. EV wiederfinden«. 455 P. Nagel, in: OLZ 61 (1966), Sp. 5–14; Zitat: Sp. 14. 456 So die Fragestellung bei H. Köster, Einführung in das Neue Testament, S. 657: »Obgleich an dem gnostischen Charakter dieser Vorstellungen nicht zu zweifeln ist, kann man sich doch gut denken, dass gerade in Bezug auf die Zukunfts- und Auferstehungshoffnung gnostische Bilder und Begriffe weit über die der Gnosis verpflichteten Kreise hinaus verbreitet waren«. 457 M. Lattke, Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung … IV (OBO 25/4), S. 108.

3.2 Der Quellenbefund

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mythos einschließendes) Dokument458, gerade so aber auch den Weg anzeigend zu einer voll ausgebildeten christlichen Gnosis des 2. Jh.s n.Chr. Nicht zuletzt für jene gnostisierenden Tendenzen in den OdSal sprechen nun aber nicht nur die in der Forschungsgeschichte seit langem schon vermerkten Entsprechungen zwischen den OdSal und der mandäischen Literatur, sondern auch die Entsprechungen zwischen den OdSal und den apokryphen Thomasakten und hier insbesondere dem sog. Perlenlied459, die sich – möglicherweise – wiederum aus demselben (lokalen und) religionsgeschichtlichem Milieu erklären lassen460.

Im Vergleich mit den OdSal gesehen scheinen die Dinge im Falle des sog. Perlenliedes (PL ) in den Kapiteln 107 bzw. 108–113 der apokryphen Thomasakten (ActThom) sehr viel eindeutiger zu liegen. Jedenfalls geht diesem in sich geschlossenen Text- und Sachzusammenhang in der Sekundärliteratur zum Thema ›Gnosis‹ ein großer Ruf voraus: Spätestens seit H. Jonas’ vielzitiertem Urteil – »Nirgends wohl ist das gnostische Grunderlebnis schlichter und ergreifender eingefangen als hier«461 – gilt das ›Perlenlied‹, ein poetischer Text mit märchenhaften Zügen, als eines der ›klassischen‹ Grunddokumente der Gnosis, dem es keineswegs nur um märchenhaftes Fabulieren geht, dem vielmehr ein bestimmtes – eben ›gnostisches‹ – Grundkonzept zugrunde liegt – in jedem Falle also: Das PL , das ist einer der ›großen Texte‹ der Gnosis, dem es zwar an den ansonsten in gnostischen Schriften breit erörterten Themen der Kosmogonie und Anthropogonie mangelt, der aber gerade so – um noch einmal H. Jonas zu zitieren – »das gnostische Grunderlebnis« umso eindrücklicher darstellt. Bereits in dieser Hinsicht zeigt das PL mancherlei Verwandtschaft mit den OdSal, darüber hinaus aber auch mit den Schriften der mandäischen Gnosis462, was – insbesondere im letztgenannten Fall – wiederum für den gnostischen Charakter des PL spricht; jedoch ist in diesem Zusammenhang zugleich auch auf die eindeutig bestimmbaren Beziehungen zum Manichäismus hinzuweisen, hier insbesondere im Blick auf die manichäischen Thomaspsalmen, in denen – man vergleiche besonders den 10. Psalm – der ›Königssohn‹ des PL offensichtlich 458 So das zurückhaltende Urteil von M. Lattke, in: Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung … (OBO 25/4), S. 52 f. 459 Dazu bereits R. Abramowski, in: ZNW 35 (1936), S. 63 f., der in diesem Zusammenhang vor allem auf das Brief-Motiv in OdSal 23 verweist. Dazu auch H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 320 ff., hier besonders S. 327 f. 460 So im Blick speziell auf das »edessenische Milieu von c. 200 n.Chr.« H.J.W. Drijvers, in: TRE 29, S. 723, Z. 17 ff.: »Dort finden die Verbindungen [der OdSal] z.B. mit dem Perlenlied in den apokryphen Thomasakten … ihre Erklärung«. 461 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 320–326, Zitat: S. 326; ders., Gnosis, Die Botschaft des fremden Gottes, S. 144 ff. Vgl. auch H.J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums II , S. 196: »einer der schönsten, wenn nicht der schönste gnostische Text überhaupt«. 462 Dazu im Einzelnen: R. Reitzenstein, Das iranische Erlösungsmysterium, S. 55 f. und S. 70 ff.; A. Adam, Die Psalmen des Thomas und das Perlenlied als Zeugnisse vorchristlicher Gnosis, S. 68 ff. – Zu den Beziehungen zwischen den OdSal und den Thomasakten im Einzelnen vgl. A. F. J. Klijn, The Acts of Thomas, S. 46–49.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

mit Mani selbst identifiziert wird … Insgesamt also: Was im sogenannten Perlenlied vorliegt, dokumentiert – auch wenn man zunächst einmal von der Integration des PL in den christlichen Kontext der ActThom absieht – in jedem Falle eine gewisse Ambivalenz – um nicht zu sagen ›Polyvalenz‹ dieses Textes, die offensichtlich nicht einfach auf einen Nenner zu bringen ist – und eben deshalb in der weitverzweigten Sekundärliteratur zu sehr unterschiedlichen Interpretationen geführt hat. Und dies gilt in der neueren Forschungsgeschichte nicht nur hinsichtlich der Frage, ob es sich im PL tatsächlich – wie früher häufig angenommen – um das Zeugnis einer vor-christlichen Gnosis handelt, sondern auch hinsichtlich der Frage, ob hier überhaupt ein gnostisches Dokument vorliegt. Charakteristisch für die neuere Forschungs- und Interpretationsgeschichte ist bereits der Versuch von G. Quispel, das PL auf der Grundlage des Perlengleichnisses von Mt 13,45 f. bzw. der (juden-christlichen) Version dieses Gleichnisses im koptischen Thomasevangelium (NHC II /2, Logion 84) zu verstehen, um auf diese Weise die Stellung des PL im Kontext der im Übrigen enkratitisch ausgerichteten ActThom »aus dem Geist des syrischen Christentums« verständlich zu machen463. Die in der Forschungsgeschichte einst – im Gefolge der ›Religionsgeschichtlichen Schule‹ – als selbstverständlich geltende gnostische Interpretation des PL ist jedenfalls gegenwärtig weithin einer zunehmenden Skepsis gewichen – mit den entsprechenden Folgerungen auch für eine Datierung des PL : Dass das PL als ein Zeugnis für eine vor-christliche Gnosis anzusehen sei, als solches – wie z.B. A. Adam vermutet hat464 – in der Mitte des 1. nachchristlichen Jahrhunderts zu datieren, wird heute wohl niemand mehr behaupten wollen. Paradigmatisch für die weitreichende Skepsis in dieser Hinsicht ist nicht zuletzt auch der Wandel, der sich in der Abfolge der unterschiedlichen Bearbeitungen der ActThom bzw. speziell des PL in den »Neutestamentlichen Apokryphen« von E. Hennecke und W. Schneemelcher vollzogen hat: Während G. Bornkamm in der 3. und 4. Auflage dieses Werkes noch fraglos davon ausging, dass die »Erlösungsanschauung, die den Akten zugrunde liegt, … die der Gnosis« ist und dass in diesem Zusammenhang das PL »zu den schönsten Dokumenten der Gnosis« zu rechnen sei, »die uns erhalten sind«465, spielt die ›gnostische Frage‹ in der Neubearbeitung der 5. Auflage vom Jahre 1989 durch H.J.W. Drijvers faktisch keine Rolle mehr: War Drijvers in seinem Aufsatz über »Die Ursprünge des Gnostizismus als religionsgeschichtliches Problem« von 1967/68 noch der Meinung, dass es zu weit gehe, dem PL 463 Vgl. G. Quispel, Makarius, das Thomasevangelium und das Lied von der Perle, S. 39–65, hier (S. 64) mit dem Ergebnis: »Das Perlenlied ist ein christliches Gedicht«. Kritisch dazu bereits H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist II ; S. 346–352; K. Rudolph, in: ThR 34 (1969), S. 214 ff. – Zur Forschungs- und Interpretationsgeschichte insgesamt vgl. P.-H. Poirier, L’Hymne de la Perle des Actes de Thomas, S. 29–167, hier S. 71 ff. zur gnostischen Interpretation des Perlenliedes. 464 A. Adam, Die Psalmen des Thomas und das Perlenlied, S. 58 f. 465 Zitate nach G. Bornkamm, in: Hennecke-Schneemelcher II , 3./4. Aufl., S. 300 und S. 303; vgl. ebd.: »Eingekleidet in eine märchenhafte Erzählung läuft in der Dichtung in seltener Reinheit und Vollständigkeit, unverwirrt durch kosmische Spekulationen, der gnostische Erlösungsmythos ab; nichts deutet dabei auf christlichen Ursprung«.

3.2 Der Quellenbefund

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»jeden gnostischen Charakter abzusprechen und es strikte als eine Ausdeutung der Parabel [Mt 13,45 f.] zu betrachten, wie Quispel es in der Nachfolge von A.F.J. Klijn tut«466, so ist für ihn nunmehr, im Jahre 1989, das PL nichts anderes mehr als eine »symbolische Darstellung des Lebens von Adam, dem Menschen, der aus freiem Willen mit einem Teil seines Erbteils das Vaterhaus, das Paradies, verließ …«, sein Hauptthema dementsprechend dasselbe wie das der ActThom überhaupt: »die Rückkehr« nämlich »des Menschen aus der dämonischen Welt in den Stand, in dem Gott ihn geschaffen hat, und die Wiedervereinigung mit seinem Bruder Christus, mit dem er Erbe im Reich sein wird«467. Dies ist nun eine sehr merkwürdige Deutung, die als solche bestimmte Eigenheiten des PL – so insbesondere die Motive des Vergessens der eigenen Herkunft sowie der (in Gestalt eines ›Himmelsbriefes‹ erfolgenden) Erinnerung an die eigentliche Herkunft – im Grunde gänzlich außer Betracht lässt. Man muss angesichts solch unterschiedlicher Deutungen gewiss wiederum auf die dem PL selbst innewohnende Ambivalenz hinweisen. Und mit Recht hat H.-J. Klauck in diesem Zusammenhang festgestellt: »Gegen eine verbreitete Tendenz, die Erzählung [sc.: des PL ] von vornherein gnostisch zu vereinnahmen oder in dem Königssohn schon von der Anlage her den Religionsstifter Mani erkennen zu wollen, muss man zunächst festhalten, dass sich der Text auch nichtgnostisch verstehen lässt« – jedoch sogleich hinzugefügt: »Allerdings muss man ebenso entschieden festhalten, dass sich der Text für eine gnostische Relecture geradezu anbietet und sicher auch gnostisch gelesen und verwendet (und auf Mani übertragen) worden ist«468 – Bereits von solchen Überlegungen her gesehen wird man also nicht sagen können, dass ein gnostisches Verständnis des PL von vornherein auszuschließen sei, zumal ja das PL – ganz im Widerspruch zu seinem poetisch-märchenhaften Charakter! – keineswegs so etwas darstellt wie die ›narrative‹ Version einer bestimmten gnostischen ›Dogmatik‹ im Sinne eines vollständigen gnostischen Erlösermythus. Die nicht zu bestreitende (und als solche gegen den gnostischen Charakter geltend gemachte) Feststellung, dass im PL »alle charakteristischen Merkmale der klassischen gnostischen Systeme … ganz und gar« fehlen, dass hier also – um nur ein Beispiel zu nennen – »von einem Fall im Pleroma … nicht die Rede« ist, »die Schöpfung … nicht von einem bösen Demiurgen geschaffen« ist und »die Materie … deshalb an sich nicht schlecht« ist469, kann hier – angesichts der ›poetischen‹ Textsorte des PL – kaum als Argument gegen eine gnostische Interpretation geltend gemacht werden. Eine im Einzelnen ausgeführte gnostische Systematik (im Sinne der Abfolge von Kosmogonie, Anthropogonie usw. – bis hin zur Soteriologie und Eschatologie), wie sie nach Ausweis der antignostischen Po466 H. J.W. Drijvers, The Origins of Gnosticism as a religious and historical problem, in: NedThT 22 (1967/68), S. 321–351 (in deutscher Übersetzung in: K. Rudolph, Gnosis und Gnostizismus, S. 799–841). 467 H. J.W. Drijvers, in: Hennecke-Schneemelcher II , 5. Aufl., S. 297 f. sowie S. 294 ff. insgesamt sowie S. 300 ff. – Vgl. dagegen G. Bornkamm, in: Hennecke-Schneemelcher II , 3./4. Aufl., S. 304: »Die Dichtung lässt sich mit gleichem Recht als Lied von der Erlösung des Erlösers wie als Lied von der Rettung der Seele bezeichnen. Dass beide, Erlöser und Seele, eines Ursprungs, Schicksals und Wesens sind, gehört zu den Grundgedanken gnostischer Lehre«! 468 H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums II , S. 197. 469 So die Argumentation von H. J.W. Drijvers, in: Hennecke-Schneemelcher II , 5. Aufl., S. 301.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

lemik der altkirchlichen Häresiologen für die klassischen (christlich-)gnostischen Systeme des 2. und 3. Jahrhunderts bestimmend ist, ist im PL ohnehin nicht zu erwarten. Will man angesichts solcher Ambivalenz des in den ActThom überlieferten ›Perlenliedes‹ – einerseits: Das PL lässt sich ›auch nichtgnostisch verstehen‹; andererseits: das PL bietet sich »für eine gnostische Relecture geradezu« an (s.o.: H.-J. Klauck) – überhaupt einen Schritt weiterkommen, so genügt es angesichts der diffusen Gesprächslage offensichtlich nicht, den (ursprünglich!) gnostischen Charakter des PL – wie dies bisher zumeist geschehen ist – anhand der Parallelen und Entsprechungen zum überlieferten originär gnostischen Schrifttum aufzuweisen. Demgegenüber besteht eher noch die Möglichkeit, dem in den ActThom überlieferten Text (und seiner Ambivalenz!) vermittels einer Redaktions- bzw. Schichtenanalyse auf die Spur zu kommen, wie sie zuletzt vor allem J.-E. Ménard in seiner Untersuchung über »Le Chant de la Perle« vorgelegt hat470. Auszugehen ist dabei von der Feststellung, dass das PL im überlieferten Text der ActThom als ein in sich geschlossener Textzusammenhang in einen genuin christlichen Kontext integriert ist, gerade so aber noch deutlich genug Spuren einer Vorgeschichte – genauer: einer Redaktionsgeschichte – erkennen lässt: Auszugehen ist bei solcher Redaktions- bzw. Schichtenanalyse von der ›jüngsten‹ Redaktionsstufe, nämlich von der in der Forschungsgeschichte zum PL seit langem schon erkannten manichäischen Redaktion471, in der das PL – nach Ausweis zumindest des 10. manichäischen Thomaspsalms – direkt auf Gestalt und Schicksal des Mani bezogen worden ist472. Diese manichäische Endredaktion schließt aber ein bzw. setzt voraus, dass ihr ein vor-manichäisches Stadium der Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte des PL vorausgegangen ist – mit den Worten von J.-E. Ménard heißt dies: »l’Hymne refléterait un stade prémanichéen ou prémandéen«473, auf dem Grunde des Ursprungszusammenhangs zwischen Manichäismus und Gnosis also ein gnostisches Stadium der Redaktionsgeschichte des PL , das – vom Lokalkolorit der Erzählung des PL her gesehen – mit J.-E. Ménard als ein iranisches Stadium zu kennzeichnen ist, ›iranisch‹ deshalb, weil die Erzählung als solche im Lande der Parther ihren Ort hat, und zwar zur Zeit der Arsakiden474. Sofern sich mit dieser Verortung nicht die insbesondere von G. Widengren vertretene exklusive Auffassung vom »iranischen Hintergrund der Gnosis« verbindet475, ist dagegen nichts einzuwenden. Bereits H. Jonas hat ja 470

J.-E. Ménard, La Chant de la Perle, S. 289–325. Vgl. bereits W. Bousset, Manichäisches in den Thomasakten, S. 23–39; G. Bornkamm, Mythos und Legende, S. 115–117.119.121, sowie neuerdings P. Nagel, Die apokryphen Apostelakten in der manichäischen Literatur, S. 171 f.; J.-D. Kaestli, L’utilisation des actes apocryphes des apòtres dans le Manichaisme, S. 107–116. 472 So P. Nagel, a.a.O., S. 172: »… das Perlenlied, das in nuce den ganzen Erlösungsmythos enthält, ist auf der Grundlage älterer folklorischer und mythischer Motive direkt auf die Gestalt und das Schicksal des Mani hin umgearbeitet worden«. 473 J.-E. Ménard, Le chant de la Perle, S. 298; dazu vgl. bereits G. Bornkamm, in: Hennecke-Schneemelcher II , 3./4. Auflage, S. 307: »Die Akten im ganzen aber erweisen sich als Verbindungsglied zwischen der älteren Gnosis und dem Manichäismus. Sie lassen eine vormanicheische syrische Gnosis erkennen, aus deren Elementen Mani selbst seine Lehre bildete«. 474 J.-E. Ménard, Le chant de la Perle, S. 301, Anm. 48 und S. 318. Verweis dafür u.a. auf den im PL genannten offiziellen Titel der Arsakiden »König der Könige« im PL (V. 41 nach der Zählung von Ménard). 475 So der Titel des programmatischen Aufsatzes von G. Widengren, in: ZRGG 4 471

3.2 Der Quellenbefund

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seinerzeit das PL dem ›iranischen Typus‹ der Gnosis zugeordnet476, und die etwa anhand des gnostischen Schrifttums von Nag Hammadi nachweisbaren (und von J.-E. Ménard in seinem Kommentar zum PL [S. 309 ff.] durchgängig herausgestellten) Zusammenhänge zwischen dem PL und diesem Schrifttum lassen es durchaus zu, die Stichworte ›iranisch‹ und ›gnostisch‹ geradezu promiscue zu benutzen477. Höchst fraglich ist es demgegenüber, ob und inwieweit es möglich ist, von diesen beiden sozusagen sekundären Schichten des PL , der manichäischen und der iranischen bzw. gnostischen, mit J.-E. Ménard noch eine weitere Schicht abzuheben, und zwar eine syrisch-judenchristliche oder auch jüdisch-christliche Schicht, die als solche zugleich die Primärschicht in der Traditions- und Redaktionsgeschichte des PL darstellen würde. In dieser ursprünglichen Schicht wäre dann – als Ausgangspunkt gleichsam der ganzen Entwicklung – das Thema des die eine kostbare Perle suchenden Kaufmanns von Mt 13,45 f. unter dem Einfluss der jüdischen Adamlehre (›adamologie juive‹) wie auch unter dem Einfluss des im neutestamentlichen Philipperbrief (2,6–11) vorliegenden Weg-Schemas im Einzelnen ausgestaltet worden478. Dies ist nun freilich eine schwerlich nachvollziehbare Hypothese, als solche nur aus dem Motiv nachzuvollziehen, den Ort des (wohl doch ursprünglich gnostischen!) PL in den im Übrigen eher christlich-enkratitischen ausgerichteten Thomasakten verständlich zu machen. Demgegenüber stellt sich der Sachverhalt im Blick auf die ›zweite‹, von J.-E. Ménard als ›iranisch‹ bezeichnete Redaktionsschicht (relativ!) eindeutig dar: Sie vor allem ist die eigentlich gnostische oder doch jedenfalls der Gnosis nahestehende Schicht, bei der allenfalls zu fragen bliebe, aus welchen Gründen sie in eine ›Apostelgeschichte‹ aufgenommen worden ist, die im Übrigen eher ein enkratitisch ausgerichtetes syrisches Christentum repräsentiert. Das ›farbenreiche orientalische Märchen‹ des PL selbst jedenfalls ist in der Tat – um mit G. Widengren zu formulieren – eine ›hochpoetische Allegorie aller wesentlichen Themen der gnostischen Frömmigkeit‹479, was ja im Übrigen gerade auch J.-E. Ménard im Einzelnen in seinem Kommentar zum PL nachweist. Wenn es sich nun – um noch einmal die bereits zitierte Formulierung von G. Widengren aufzunehmen – im PL um ein ›farbenreiches orientalisches Märchen‹ und – in seiner gnostischen Rezeption – um eine ›hochpoetische Allegorie aller wesentlichen Themen der gnostischen Frömmigkeit‹ handelt, ist hier von vornherein nicht eine bestimmte gnostische ›Dogmatik‹ in narrativer Gestalt zu erwarten, eher dann schon eine gewisse – möglicherweise sogar gewollte! – Ambivalenz hinsichtlich der in diesem ›Lied‹(!) auftretenden Personen und ihrer Verhaltensweisen – konkret also vor allem: Was bzw. wer ist in dieser ›Allegorie‹ mit dem ›Prinzen‹ bzw. ›Königssohn‹ gemeint? – Wer bzw. was mit der ›Perle‹? Der ›Königssohn‹: Ist mit ihm also der gnostische ›Erlöser‹ gemeint, der sich nach ›Ägypten‹, dem Land der (1952), S. 97–114, der in dieser Hinsicht in den wesentlichen Punkten der Auffassung von R. Reitzenstein, das iranische Erlösungsmysterium, S. 70 ff., folgt. 476 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 320 ff. 477 Zu den Entsprechungen zwischen dem »iranischen« PL und den gnostischen Schriften von Nag Hammadi vgl. auch J. Magne, Le chant de la Perle, S. 25–36. 478 So J.-E. Ménard, Le chant de la Perle, S. 291. – Zur Frage der Beziehungen zwischen den PL und Phil 2,6–11 vgl. R.-P. Martin, Carmen christi, S. 157–161. 479 So G. Widengren, Der iranische Hintergrund der Gnosis, S. 106. Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, S. 710, spricht in diesem Zusammenhang sogar von der »gnostische[n] Urgestalt«.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Finsternis und der Lüge, aufmacht – besser noch: dorthin ausgesandt wird, um die ›Perle‹, d.h. die ›Seele‹ des Menschen bzw. des Gnostikers aus ihrer Gefangenschaft in der ›Welt‹ zu befreien, dabei jedoch – unter dem Einfluss seiner neuen Freunde in Ägypten – am Ende selbst seine Herkunft und damit auch seinen Auftrag vergisst und erst wieder der von außen her in Gestalt eines (redenden!) Briefes kommenden Erinnerung an seine Herkunft und seinen Auftrag bedarf? – Ein ›salvator‹ also, der am Ende selbst der ›Erlösung‹ und Befreiung bedarf: Ein salvator salvandus? Mit Recht hat H. Jonas dazu bereits festgestellt: »Die vielumstrittene Frage, ob der ›Königssohn‹ die menschliche Einzelseele oder den Erlöser bedeutet, verliert angesichts der mythischen Analogie, ja Identität, welche dieses ganze Verhältnis zumal in der östlichen Gnosis durchwaltet, viel von ihrer vermeintlichen Bedeutung und jedenfalls ihren alternativen Charakter, wenn man sich erst einmal die grundsätzliche Doppelbedeutung dieser Symbole in der Gnosis klar gemacht hat … Ein ›sowohl – als auch‹ ist hier angemessener als ein ›entweder-oder‹ …«480. Eine Alternative bei solcher Deutung der beiden ›Hauptpersonen‹ des PL besteht jedenfalls nicht, wenn in der Gnosis der ›Erlöser‹ – um sein Werk vollenden zu können – gleichsam ›Knechtsgestalt‹ annimmt und sich damit den Bedingungen der Welt der Finsternis (›Ägypten‹!) ausliefert481. Die in diesem Zusammenhang benutzte metaphorische Sprache (›Perle‹ – ›Fremdheit‹ in Ägypten – ›Schlaf‹/›Trunkenheit‹ – ›Vergessen‹ der Herkunft und des Auftrags – ›Weckruf‹ in Gestalt eines Briefes bzw. Adlers, der ›ganz Rede wurde‹ usw.) ist – in ihrem Zusammenhang gesehen – geradezu typisch für gnostisches Denken (und Empfinden!) und erweist somit das PL in der Tat als ein »klassisches Dokument der Gnosis«482, das in seiner vorliegenden Gestalt – dies ist hier ausdrücklich zu betonen! – aller spezifisch christlichen Züge entbehrt und in diesem Sinne zwar nicht geradezu als vor-christlich483, wohl aber als nicht-christlich zu charakterisieren ist. Der – vom PL in seinem Kontext in den ActThom her gesehen – naheliegenden Frage, ob und in welchem Umfang in den ActThom noch weitere gnostische oder doch jedenfalls gnostisierende Indizien enthalten sind, soll hier nicht mehr im Einzelnen nachgegangen werden. G. Bornkamm ist in dieser Hinsicht seinerzeit zu einer stattlichen Auflistung gelangt – und damit denn auch zu dem Urteil, dass die »Erlösungsanschauung, die den Akten [insgesamt!] zugrunde liegt, … die der Gnosis ist«484. Dieses gnostische Gesamtbild der ActThom ist jedoch – wie ins480 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 320; ders. Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 158 ff., hier bes. S. 161: »In Wahrheit ist gerade das, was dem Interpreten ein Rätsel aufgibt, nämlich die Austauschbarkeit von Subjekt und Objekt des Auftrags, von Erlöser und Seele, von Prinz und Perle, der Schlüssel zum wirklichen Sinn des Gedichts und zur gnostischen Eschatologie überhaupt …«. 481 Vgl. auch K. Rudolph, Die Gnosis, S. 34: »Dahinter … steht der Mythos von der Erlösung der Seele aus der Finsternis (Ägypten!) zum Lichtreich«, sowie C. Colpe, Die Religionsgeschichtliche Schule, S. 176 ff., hier (S. 177) mit der Präzisierung: »Der Königssohn ist das Selbst des Urmenschen, der seine Seele, d.h. seine Substanz zurückzugewinnen versucht«. 482 So G. Widengren, in ZRGG 4 (1992), S. 105, vgl. auch J.-E. Ménard, Le chant de la Perle, S. 301: »On aurait ici le dogme du gnosticisme pur«. 483 So freilich wiederum G. Widengren, Religionsphänomenologie, S. 516, Anm. 124, der hier nicht nur feststellt, dass das PL »… von christlichen Elementen völlig frei« sei, sondern auch auf »die Tatsache« verweist, »dass das Lied von der Perle nicht nur nicht-christlich, sondern auch vor-christlich ist«. 484 So G. Bornkamm in der 3./4. Aufl. von Hennecke-Schneemelcher II , S. 300.

3.2 Der Quellenbefund

183

besondere die letzte Bearbeitung der ActThom durch H.J.W. Drijvers offenbar gemacht hat (s.o.) – durchaus umstritten. Neuerdings hat auch der Gnosisforscher R. McL. Wilson – mit Berufung auf eine Untersuchung von A.F. Findlay485 – ein sehr viel differenzierteres Bild von der ›Gnosis‹ der ActThom gezeichnet, das dem historischen Sachverhalt am Ende doch wohl näher kommt: »Fraglos kann das Buch als gnostische Arbeit gelesen werden; dies haben Bornkamm und Vielhauer bewiesen. Zur Debatte steht [gleichwohl], ob das Buch seiner Herkunft nach und von Anfang an eine gnostische Komposition gewesen ist«486. Unbeschadet solcher notwendigen Einschränkung: Ein eindeutiger Ansatz für eine spezifisch gnostische Relecture der ActThom bleibt – wie man sich auch entscheiden mag – das PL auf Grund einer spezifisch gnostischen Metaphorik, die es ganz eindeutig mit weiteren überlieferten gnostischen Texten außerhalb der ActThom verbindet, und zwar sowohl mit den gnostischen Schriften von Nag Hammadi als auch mit den bereits länger bekannten gnostischen Texten487. Stellvertretend für die Frage nach weiteren spezifisch gnostischen Indizien in den ActThom sei an dieser Stelle nur noch auf ein besonders kennzeichnendes Indiz für gnostische – oder doch jedenfalls gnostisierende – Tendenzen in den ActThom hingewiesen, und zwar im 15. Kapitel der ActThom: Im größeren Zusammenhang der Hochzeits- bzw. Braut/Bräutigam-Metaphorik, die sich an das ›Hochzeitslied‹ in c. 6 anschließt, heißt es hier im Dankgebet des Bräutigams (im griechischen Text): – also: »Du jedoch hast mir gezeigt, mich selbst zu suchen und zu erkennen, wer ich war und wer ich jetzt bin, damit ich wieder würde, was ich [einst] war …«. Dies ist in der Tat eine typisch gnostische Erkenntnisformel bzw. eine geradezu klassische Definition dessen, was ›Erkenntnis‹ im gnostischen Sinne heißt488, als solche durchaus jener ›Definition‹ vergleichbar, die Clemens Alexandrinus in seinen ›Excerpta ex Theodoto‹ (78, 1 f.) überliefert hat: .

Bei alledem bedarf es keiner Frage: Ebenso wie die zitierte Gnosis-Formel des Gnostikers Theodotus zunächst Zeugnis einer christlichen Gnosis ist, so ist auch das ›Perlenlied‹ (und darüber hinaus auch weitere Stücke in den ActThom – wie z.B. die Gnosis-Formel im 15. Kapitel) in den ActThom in einen christlichen Kontext hineingenommen und in diesem Sinne zunächst Zeugnis einer christlichen Gnosis – die Eigenaussage des PL (wie auch der Gnosis-Formel in ActThom c. 15) ist jedoch, für sich betrachtet, so eindeutig gnostisch geprägt, dass man sie durchaus als Zeugnis einer ursprünglich 485

A.F. Findlay, Byways in Early Christian Literature, Edinburgh 1923, hier bes. S. 278 f.

288 f. 486

R. McL. Wilson, Art. Apokryphen II , in: TRE 3, S. 347, Z. 5 ff. und Z. 33 ff. Zur gnostischen Metaphorik im Einzelnen vgl. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 109 ff., hier speziell zum PL : S. 121 ff.; II , S. 346 ff.; ders., Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 90 ff. und S. 148 ff. Vgl. auch O. Betz/T. Schramm, Perlenlied und Thomasevangelium, S. 37 ff. 488 Dazu O. Betz/T. Schramm, a.a.O., S. 35: »Hier spricht sich das gnostische Existenzverständnis geradezu klassisch aus …«. 487

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

nicht-christlichen Gnosis gelten lassen muss, die erst sekundär, durch die Einstellung in den christlichen Kontext der ActThom, christianisiert worden ist. Zeugnis einer vor-christlichen Gnosis ist damit das PL als solches gewiss nicht, wohl aber Zeugnis für ein bestimmtes Stadium in der Begegnung des frühen Christentums mit einer nicht-christlichen Gnosis, die für beide, für das frühe Christentum wie auch für die Gnosis wohl von Anfang an als eine Wechselbeziehung zu bestimmen ist. Vom konkreten Fall der Thomasakten her gesehen stellt sich somit am Ende die Frage, ob im konkreten Fall der Thomasakten nicht zugleich eine Art Paradigma für diese Wechselbeziehung vorliegt, die von Anfang an – seit es jedenfalls so etwas wie eine ›Gnostische Religion‹ gegeben hat – für das Verhältnis von ›Christentum‹ und ›Gnosis‹ bestimmend gewesen ist.

3.3 Schlussfolgerungen Beim gegenwärtigen Stand der Gnosisforschung ist es nicht eben leichter geworden, sich – wie hier – zu Schlussfolgerungen aus einem Kapitel zu äußern, in dem es um die Grundfrage einer vor-christlichen Gnosis ging. Dies gilt nicht zuletzt auch im Blick auf einige kleinere Arbeiten zum Thema der ›Gnosis‹, die jüngst Chr. Markschies (als Vorarbeiten zu einer bereits angekündigten umfassenden Darstellung) vorgelegt hat489. Zumindest ein Versuch in Richtung auf solche ›Schlussfolgerungen‹ soll gewagt werden, auch wenn dieser Versuch sich in mancherlei Hinsicht erheblich von den von Chr. Markschies bisher vorgelegten Grundthesen unterscheidet – mit anderen Worten: Ein Versuch, der hoffentlich wieder ein wenig Bewegung in zunächst ›festgefahrene‹ Positionen (und Anti-Positionen!) zu bringen vermag. Bereits die Formulierung der Überschrift bzw. der Fragestellung in dem (offensichtlich programmatischen) Aufsatz »Christliche Religionsphilosophie oder vorchristliche antike Religion: Was ist Gnosis?« zeigt aufs Deutlichste, dass auch die gegenwärtige Diskussion um Ursprung und Geschichte (und damit über das ›Wesen der Gnosis‹!) nach wie vor durch die Alternative ›vor-christlich‹ – ›nach-christlich‹ bestimmt ist, durch eine Alternative also, zu der vor Jahrzehnten schon C. Colpe die Auffassung vertreten hat, dass sie im Grunde (und gerade auch im Blick auf den gegenwärtig zur Verfügung stehenden Quellenbestand) unbrauchbar geworden ist490. ›Vor-christlich‹, d.h. dann wohl (nicht unbedingt: ante Christum natum, sondern) vor der 489 C. Markschies, Christliche Religionsphilosophie oder vorchristliche antike Religion: Was ist Gnosis?, S. 47–69. 490 C. Colpe, Die religionsgeschichtliche Schule, S. 199 ff., hier bes. S. 200 mit der Differenzierung, dass eine »phänomenologische Wesensbestimmung der Gnosis« meist zu einem »vorchristlichen Ansatz« führt, während eine »genetische Bestimmung ihrer synkretistischen Einzelelemente … in der nachchristlichen Zeit stehen bleiben muss«.

3.3 Schlussfolgerungen

185

grundlegenden Phase der Entstehung und Ausbildung des frühen Christentums im Verlauf des 1. Jh.s n.Chr. Versteht man das Stichwort vorchristlich in diesem Sinne, dann ist hier unumwunden zuzugeben, dass es – was den gegenwärtig erreich- und verfügbaren Bestand an literarischen Quellen betrifft – in der Tat keine einzige gnostische Quellenschrift gibt, die als solche als vor-christlich (im genannten Sinn) auszuweisen ist491. Insoweit ist der Sachverhalt eindeutig. Von allzu weitgehenden Schlussfolgerungen daraus sollte jedoch die (ebenso wenig bestreitbare) Tatsache zurückhalten, dass es – hier einmal ganz abgesehen von der Frage nach Zeugnissen einer ›heidnischen‹ Gnosis in Gestalt der Hermetica (usw.) – sowohl in den antignostischen Stellungnahmen der altkirchlichen Häresiologen als auch in den koptisch-gnostischen Schriften der Bibliothek von Nag Hammadi eine ganze Reihe von Hinweisen und Anzeichen auf literarische Zeugnisse der Gnosis gibt, die – in ihrer vorliegenden Gestalt jedenfalls – als literarische Zeugnisse einer nicht- bzw. außerchristlichen Gnosis oder auch als Zeugnisse einer erst sekundär christianisierten Gnosis zu gelten haben492. Wer freilich in der traditionellen wie auch in der gegenwärtigen Gnosisforschung von vornherein davon ausgeht, dass die ›Gnosis‹ als solche ein nach-christliches bzw. ein erst auf dem Boden des Christentums entstandenes Phänomen ist, wird auch hierzu die entsprechende ›Lösung‹ des Problems zur Hand haben – in dem Sinne nämlich, dass das Phänomen der sekundären Christianisierung einer ursprünglich nicht-christlichen Schrift schlechthin bestritten wird oder dass man im Falle von eindeutig nicht-christlichen literarischen Zeugnissen der Gnosis von dem Postulat ausgeht, dass der nicht-christliche Charakter dieser Schrift(en) auf dem Wege einer sekundären De- bzw. Entchristianisierung oder auch Paganisierung einer genuin christlichen bzw. christlich-gnostischen Schrift zu erklären sei. Im zuletzt genannten Fall ist dann freilich auch nötig, den Vorgang einer sekundären De- bzw. Entchristianisierung von Zeugnissen einer ursprünglich bereits christlich akzentuierten Gnosis (in einem gleichsam gegenseitigen Begründungszusammenhang!) nun auch historisch nachvollziehbar zu machen – unter der Voraussetzung nämlich, dass es in der späteren Geschichte der Gnosis in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten eine Situation gegeben hat, in der sich eine nunmehr eindeutig ›christliche Gnosis‹ infolge der tatsächlichen Wirkung der antignostischen Polemik der altkirchlichen Häresiologen schließlich aus dem Raum von Christentum und Kirche gleichsam ›auf sich selbst‹ zurückgezogen bzw. sich von ihrem Ursprung innerhalb des Christentums bewusst und gezielt abgewendet – um nicht gleich zu sagen: ›abgenabelt‹ hat493. Die Schwäche dieser ›Beweisführung‹ liegt freilich darin, 491 Vgl. in diesem Sinne auch H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist II , S. 342: »… mit den derzeit vorhandenen Zeugnissen« ist die »Frage nach einer ›vorchristlichen Gnosis‹ unentscheidbar«. 492 Dazu im Einzelnen s.o., S. 64 ff. sowie zu den gnostischen Schriften von Nag Hammadi, S. 130 ff. 493 So neuerdings auch C. Markschies, Christliche Religionsphilosophie oder vorchristliche antike Religion: Was ist Gnosis?, S. 59. Zum Problem in dieser Hinsicht s.o. S. 42 f., sowie

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

dass der ›Beweis‹ für eine solche Entwicklungsgeschichte einer genuin ›christlichen Gnosis‹ am Ende gar nicht anders als durch den Verweis auf jene sekundär entchristianisierten Schriften selbst geführt werden kann!

Nicht zuletzt von daher gesehen stellt sich am Ende nun doch die grundsätzliche Frage, ob und inwieweit in dieser Hinsicht überhaupt mit einem primär an den überlieferten Quellen orientierten Verfahren, das als solches stets mit literarisch vermittelten Abhängigkeiten bzw. Beeinflussungen zu rechnen genötigt ist, zu wirklich sachgerechten Schlussfolgerungen zu gelangen ist? – zumal sich doch offensichtlich das (gegenseitige) Verhältnis von Christentum einerseits und Gnosis andererseits nicht (nur!) auf die (beiderseitige) Benutzung von literarischen Quellen reduzieren lässt, sondern sich viel eher – und auch viel wahrscheinlicher! – zunächst, in der Frühzeit also, durch eine lebendige Begegnung, jeweils konkret ›vor Ort‹, bestimmen lässt. Auch wenn sich das Problem der Relation ›Christentum – Gnosis‹ auf diese Weise als sehr viel komplizierter und vielschichtiger – um nicht gleich zu sagen: dynamischer – erweisen sollte als bei jenem traditionellen primär an (möglichst) datierbaren Quellen orientierten (und damit eher statischen) Verfahren, käme man auf diese Weise doch in jedem Falle der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit sehr viel näher – so wie dies vor Jahrzehnten bereits C. Colpe formuliert hat: Maßgeblich für die Grundfrage der Relation ›Christentum – Gnosis‹ wäre dann nicht mehr ein (wie immer im Einzelnen gearteter) Quellenpositivismus, sondern die Relation von ›challenge and response‹, von ›Herausforderung‹ und ›Reaktion‹ bzw. ›Antwort‹ am jeweiligen konkreten historischen Ort494. Wirklich nachweisbare literarisch vermittelte Abhängigkeiten der einen von der anderen Seite – oder auch umgekehrt – wären dann eher die Ausnahme. Ganz in diesem Sinne hat R. McL. Wilson vor Jahrzehnten bereits mit Recht geltend gemacht, dass ›die traditionelle Sicht‹ die Definition von ›Gnosis‹ ›auf die häretischen christlichen Systeme des 2. Jh.‹ einengt (und damit zugleich – so muss man hinzufügen – auf die entsprechenden literarischen Quellen). Der »Nachteil dieser traditionellen Sichtweise ist« – so weiter R. McL. Wilson –, dass sie Trends und Tendenzen in eine gnostische Richtung wenig oder gar nicht in Betracht zieht, die sicherlich schon vor dem Aufstieg der entwickelten gnostischen Systeme bestanden«495. ›Trends‹ und ›Tendenzen‹ also z.B. zu einer gnosisnahen oder auch gnosisbereiten Sprache (C. Colpe), die bereits vor der Etablierung der großen (christlich-)gnostischen Systeme des 2. Jh.s gesprochen wurde und die als solche bis in jene die entsprechende Periodisierung in der Geschichte der Gnosis von Ph. Perkins, Gnosticism a Christian Heresy, S. 578, zur 3. Periode einer »De-Christianisierung«: S. 579. 494 C. Colpe, Die Thomaspsalmen als chronologischer Fixpunkt in der Geschichte der orientalischen Gnosis, S. 92 f. 495 R. McL. Wilson, Art. Gnosis / Gnostizismus II , in: TRE 13, S. 536, Z. 20 ff. und Z. 26 ff.

3.3 Schlussfolgerungen

187

Phase der Ursprungs- und Entstehungsgeschichte der Gnosis zurückführt, die J. Becker vor Jahren bereits (im Blick speziell auf das religionsgeschichtliche Problem des Johannesevangeliums) in Aufnahme einer Formulierung von W. Schmithals als eine »unliterarische Phase der gnostischen Bewegung« bezeichnet hat496. Es bedarf wohl keiner Frage, dass hinsichtlich jener »unliterarischen Phase der gnostischen Bewegung« nun wiederum von den Pastoralbriefen des Neuen Testaments zu reden sein wird – setzen sie doch um die Wende vom 1. zum 2. Jh., wenn nicht schon früher, die Begegnung von ursprünglich durch die Paulus-Tradition bestimmten Gemeinden mit einer religiösen Bewegung voraus, die – was die ›Irrlehrer‹ der Pastoralbriefe betrifft – sich selbst als Gnosis bezeichnet (1 Tim 6,20). Hier geht es also (noch) nicht um eine literarisch vermittelte Beziehung zwischen der frühchristlichen Gemeinde einerseits und der Gnosis andererseits, sondern – was nicht zuletzt durch die Schärfe der Polemik in den Pastoralbriefen unterstrichen wird – um eine lebendige, ja dynamische Begegnung an einem konkreten historischen Ort, in diesem Sinne also in der Tat um ›challenge‹, d.h. ›Herausforderung‹, und die der konkreten Situation entsprechende ›response‹, d.h. ›Antwort‹ bzw. ›Reaktion‹, welche letztere – nach dem Stil der Ketzerpolemik der Pastoralbriefe zu urteilen – so eindeutig wie nur möglich ausgefallen ist. Bei alledem ist darüber hinaus auch deutlich, dass der in den Pastoralbriefen erreichte Stand der Kontroverse Christentum – Gnosis seinerseits wiederum unmittelbare Bedeutung für den Zeitpunkt – oder besser: Zeitraum – der Entstehung der Gnosis hat. Zwar wird man – was z.B. die Argumentation betrifft: »Wenn aus dem 2. Jh. n.Chr. gnostische Zeugnisse vorliegen, so ist es geboten, mit der Möglichkeit gnostischer Gemeinden oder zumindest mit Frühformen der Gnosis schon im 1. Jh. n.Chr. zu rechnen«497 – seine berechtigten Zweifel haben können; im Falle der um die Wende vom 1. zum 2. Jh. n.Chr. – wenn nicht gar im letzten Jahrzehnt des 1. Jh.s – zu datierenden Pastoralbriefe aber ist es geboten, eine zumindest bis in die 2. Hälfte des 1. Jh.s zurückreichende Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte jener ›Gnosis‹ vorauszusetzen. Und es ist dann auch eben dieser Sachverhalt, der es wohl doch nicht nur ›wahrscheinlich‹ macht, dass sich jene religiöse Bewegung, die wir – von 1 Tim 6,20 her gesehen – mit dem Namen ›Gnosis‹ bezeichnen, etwa(!) gleichzeitig mit dem Christentum, und d.h. zugleich: Wohl bereits vor der Abfassungszeit der Pastoralbriefe ausgebildet hat498. 496 W. Schmithals, Neues Testament und Gnosis, S. 14, sowie J. Becker, Das Johannesevangelium im Streit der Methoden, S. 57 f. 63. 497 So H. Hübner, An Philemon. An die Kolosser. An die Epheser (HNT 12), Tübingen 1997, S. 20. 498 Vgl. in diesem Sinne z.B. R. McL. Wilson, in: TRE 13, S. 542 (Z. 37 ff.): »Es ergibt sich das Bild einer Bewegung, die sich in neutestamentlicher Zeit allmählich entwickelt, teilweise in Wettstreit mit dem Christentum, mit ihm in Wechselbeziehung stehend, jedoch ohne das wir die Stufen ihres Werdens präzise fassen könnten«. B.A. Pearson, Use, Authority and

188

3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

So gesehen setzen die Pastoralbriefe bereits einen ihnen vorlaufenden Prozess der Begegnung von Christentum und Gnosis voraus, der gewiss, was die Art und Weise einer solchen ›Begegnung‹ im jeweils konkreten Falle betrifft, äußerst vielfältig verlaufen ist. ›Vielfältig‹ muss dabei keineswegs von vornherein heißen ›in Angriff und Abwehr‹, also gleichsam ›in Konkurrenz‹ miteinander. In einem Zeitalter des Synkretismus kann dies auch heißen, dass – in welchem Ausmaß auch immer – im Rahmen dieser ›Begegnung‹ so etwas wie ein Austausch der sprachlichen Äußerungen stattgefunden hat499, der die entsprechenden eigenen Akzentsetzungen auf der einen oder der anderen Seite keineswegs ausschloss … Insgesamt gesehen: Die Kategorie der ›Begegnung‹ lässt sich gewiss nicht – positiv oder negativ verstanden – auf die eine Formel bringen, zumal in der Frühzeit von Christentum und Gnosis ohnehin nicht von vornherein mit den eher statischen Kategorien von (literarisch vermittelten) ›Abhängigkeiten‹ oder ›Einflussnahmen‹ zu rechnen ist. Durchaus angemessen jedoch könnte es erscheinen, im Rahmen einer solchen ›Begegnung‹ das Stichwort einer Wechselbeziehung zu verwenden500, dem – im englisch-sprachigen Raum – etwa das Stichwort interaction entsprechen könnte501. Und gerade dies zuletzt genannte Stichwort – ›interaction‹ – könnte wiederum besonders deutlich darauf aufmerksam machen, dass es bei dieser ›Begegnung‹ von frühem Christentum und früher Gnosis um einen durchaus lebendigen – also eben dynamischen Vorgang geht, der auch in den späteren Zeiten jener Begegnung von Christentum und Gnosis, also auch im 2. Jh. n.Chr. (und in den folgenden Jahrhunderten) durchaus noch – wenn auch der Frühzeit gegenüber durch das Vorhandensein literarischer Quellen anders strukturiert – im Gange war. Es ist so durchaus verständlich, wenn, um hier nur ein Bespiel zu nennen, Ph. Perkins in ihrem Artikel »Gnosticism as a Christian Herersy« insgesamt drei Perioden der »interaction of gnosticism and Christianity« unterscheidet: Die 1. Periode als »the late first century and early second century, in which the foundations of gnostic traditions were laid at the same time that the New Testament was being written«; die 2. Periode: »The mid-second century to the early third century, the period of the great gnostic teachers and systems«, und schließlich die 3. Periode: »The end of the second century into the fourth century, Exegesis of Mikra in Gnostic Literature, S. 652, spricht von einer »coalescens of Gnosticism and Christianity«. 499 S.o. S. 64 ff. zur Frage einer ›gnosisnahen‹ bzw. ›gnosisbereiten‹ Sprache in einigen Schriften des Neuen Testaments. 500 Vgl. in diesem Sinne bereits A. Hilgenfeld, Der Gnostizismus, S. 1–63, sowie R. McL. Wilson, Gnosis und Neues Testament, S. 34 f., wo eine »Periode wechselseitiger Durchdringung« vor einer »Periode gegenseitiger Abgrenzung« angesetzt wird; ders., in: TRE 13, S. 536 (Z. 41 ff.) und S. 542 (Z. 37 ff.). 501 So G.W. McRae, Nag Hammadi and the New Testament, S. 150: »possibility of interaction between Gnostics and Christians during the formation period of the New Testament writings themselves«. Ph. Perkins, Gnosticism as a Christian Heresy, S. 578, unterscheidet »Three periods of ineraction of Gnosticism and Christianity«.

3.3 Schlussfolgerungen

189

the period of the heresiological reaction against gnosticism«502. Am Ende kommt es jedoch auf einen übergreifenden (und damit notwendig verallgemeinernden) Terminus gar nicht an; maßgeblich in dieser Hinsicht kann nur eine Beurteilung des jeweils einzelnen und konkreten Kasus sein, für den sich so etwas wie eine Begegnung von Christentum und Gnosis wahrscheinlich machen lässt, so z.B. im Sinne einer Gnosisnähe der Sprache bestimmter Schriften des Neuen Testaments (wie im Falle einiger Paulusbriefe oder auch des Johannesevangeliums) oder auch im Sinne der ausdrücklichen Polemik gegen eine Frühgestalt der Gnosis (wie im Falle der Pastoralbriefe). Alle diese Bemühungen um die notwendige Überwindung der Alternative vorchristlich-nachchristlich – dies muss hier am Ende aus gegebenem Anlass noch hinzugefügt werden – wären jedoch wiederum gegenstandslos geworden, wenn tatsächlich die zuletzt von C. Markschies erneut formulierte Alternative »Christliche Religionsphilosophie oder vorchristliche antike Religion« auch weiterhin das Gesamtbild von der Relation (Ur-)Christentum – Gnosis bestimmen sollte503 – denn: Die Antwort auf die hier formulierte Frage: »Was ist Gnosis?« kann – eben von der hier herausgestellten Alternative her – im Sinne des Autors offensichtlich nur lauten: Selbstverständlich eine »christliche Religionsphilosophie«! – Die Entscheidung also für das von C. Markschies bereits in seinem Artikel »Gnosis / Gnostizismus« in der 4. Auflage der RGG von ihm so genannte ›zweite Modell‹ einer »philosophierenden Interpretation des Christentums« (im Gefolge der Grundthese von A.v. Harnack von der Gnosis als einer ›Hellenisierung des Christentums‹). Diesem ›zweiten Modell‹ gegenüber haben – so wiederum C. Markschies – »in jüngster Zeit … detaillierte Untersuchungen einzelner Texte und grundsätzlichere Veränderungen der Sicht auf die Geistes- und Religionsge[schichte] der kaiserzeitlichen Antike die Dominanz des ersten Modells enden lassen« – des »ersten Modells«, d.h. jenes Modells der sog. Religionsgeschichtlichen Schule, demzufolge die Gnosis als ein »Phänomen sui generis« zu verstehen ist504. Die Konsequenzen dieses Versuches einer – wie C. Markschies in dem bereits genannten programmatischen Aufsatz formuliert – »Reintegration der Gnosis in die Kirchen- und Theologiegeschichte des zweiten Jahrhunderts« (a.a.O., S. 56 ff.) sind in der Tat weitreichend: nicht nur, dass auf diese Weise »ein historisch in den letzten Jahrzehnten etwas heimatlos gewordenes Phänomen wieder in seinen spezifischen historischen Kontext hineingestellt werden soll« (a.a.O., S. 56) – was dann zugleich auch heißt: »Die Gnosis begreife ich … als den wohl energischsten Versuch, das Christentum 502

Ph. Perkins, in: M. Eliade (ed.), The Encyclopedia of Religion 5, S. 578 f. So in dem Aufsatz: Christliche Religionsphilosophie oder vorchristliche antike Religion: Was ist Gnosis? sowie bereits in seinem Art. »Gnosis/Gnostizismus«, in: RGG 4. Aufl., Band III , Sp. 1045 f., und zwar i.S. von 2 ›Grundmodellen‹ der Gnosis, einmal als ›Weltanschauung sui generis‹ bzw. als ›eigenständige Weltreligion‹ und zum anderen als »eine bestimmte philosophierende Interpretation des Christentums«. 504 So C. Markschies, in: RGG III , Sp. 1046. 503

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

durch konsequente Platonisierung und Mythologisierung einer (Halb-)Bildungselite nahezubringen« (a.a.O., S. 58): »durch konsequente Platonisierung und Mythologisierung«, d.h. – da ja ›platonisierende‹ Tendenzen in der frühchristlichen Theologiegeschichte (angefangen bei den sog. Apologeten bis hin zu Origenes) nichts Ungewöhnliches sind – dass die »gnostische Theologie … platonische Philosophumena in einem solchen Umfange [rezipierte], dass die Einheit der identitätsstiftenden Mitte der christlicher Theologie schließlich durch eine Pluralisierung beschädigt bzw. zerstört wurde« (a.a.O., S. 59). Und konkret heißt dies wiederum, dass »sich die ursprünglich auf bestimmte philosophische Zusammenhänge hin orientierten Mythen selbständig [machten]«, also gleichsam eine ›Eigendynamik‹ entwickelten und damit den (ursprünglichen) ›organisierenden Gesamtsinn‹ verloren (ebd.) – womit dann schließlich endgültig der Weg zu einer (ursprünglich) christlichen ›Häresie‹ beschritten worden ist. Der konkrete historische Ort dieser Entwicklung wäre dann – wie C. Markschies im 3. Teil seines programmatischen Aufsatzes darlegt (S. 61 ff.) – die valentinianische Gnosis des 2. Jh.s n.Chr., d.h. nicht primär Valentinus selbst, der ja – wie C. Markschies bereits in seiner Monographie ›Valentinus gnosticus?‹ im Einzelnen ausgeführt hat505 – entgegen dem Verständnis der altkirchlichen Häresiologen (und insbesondere des Irenäus!) nur mit Vorbehalt der Gnosis zuzurechnen ist, sondern seine eigenen Schüler (Ptolemaios und Herakleon), die je auf ihre Weise den (ursprünglich platonischen!) Mythos ihres Lehrers (in Gestalt eines ›künstlichen Mythos‹!) gleichsam fortschrieben: »Ein Spezifikum der valentinianischen Gnosis ist nun, wie der Mythos weitergeht, und da geht es nun tatsächlich recht mythologisch zu …« (a.a.O., S. 65 f.). Insgesamt also: Auf diese Weise entsteht in dem genannten programmatischen Aufsatz (wie auch in den übrigen bereits genannten Arbeiten) von C. Markschies ein in sich geschlossenes Bild von Ursprung und Wesen einer ›christlichen Religionsphilosophie‹, dessen Stringenz man sich – jedenfalls angesichts der Voraussetzungen, von denen C. Markschies ausgeht – kaum entziehen kann.

Zu diesen – für C. Markschies offensichtlich selbstverständlichen – Voraussetzungen gehört es jedenfalls, von dem (oben, S. 186 f., bereits genannten) ›zweiten Modell‹ auszugehen, d.h. von der Voraussetzung, dass die Gnosis ausschließlich nur als ›christliche Gnosis‹ in Betracht kommt und eben damit – logischerweise – nur als eine bestimmte Art ›christlicher Religionsphilosophie‹. Dies nun freilich zugleich wiederum mit der Konsequenz, dass die Frage nach dem Ursprung der Gnosis von vornherein auf die in der Tradition des (mittleren) Platonismus stehende valentinianische Gnosis reduziert wird. Gegen eine solche Sichtweise spricht jedoch bereits die Tatsache, dass die valentinianische Gnosis zwar z.B. im antignostischen Hauptwerk des Irenäus in der Tat eine zentrale Stellung innehat, für Irenäus selbst aber immerhin noch eine Vorgeschichte hat, die – nach seiner Auffassung jedenfalls – bis auf Simon Magus, den ›Urvater‹ aller Ketzerei, zurückgeht. Nun gibt es zwar berechtigte Zweifel, dass jener ›Simon Magus‹ bereits ein 505 C. Markschies, Valentinus gnosticus?; ders., Valentins Schüler und ihr Missverständnis – von der philosophischen Bibelauslegung zum häretischen Kunstmythos, S. 26–37.

3.3 Schlussfolgerungen

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›Simon Gnosticus‹ gewesen ist506, kein Zweifel jedoch besteht daran, dass die valentinianische Gnosis ihrerseits bereits eine Vorgeschichte gehabt hat – mit anderen Worten: Die Frage nach dem Ursprung der Gnosis lässt sich keineswegs auf eine – ihrerseits in der Tradition des Platonismus stehende – valentinianische Gnosis reduzieren. Dementsprechend sind angesichts der Konstruktion von C. Markschies durchaus kritische Fragen zu stellen, und zwar einmal im Blick auf die (für die Hypothese von C. Markschies) grundlegende Rolle, die hier für die Entstehung der Gnosis dem Platonismus des 2. Jh.s n.Chr. zugewiesen wird, zum anderen aber auch im Blick auf den gnostischen (Kunst-) Mythus, dessen Entstehung C. Markschies wiederum nicht anders als in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Platonismus der valentinianischen Gnosis sieht. ›Konsequente Platonisierung und Mythologisierung‹, die letztere wiederum von Platon her(!), sind hier die entscheidenden Stichworte für die Entstehung und Ausbildung der (valentinianischen) Gnosis und stehen beide in einem unmittelbaren Zusammenhang miteinander507. Was dabei zunächst die Grundfrage nach dem Verhältnis von Gnosis und Platonismus betrifft, so ist der hohe Stellenwert des letzteren für die Geschichte der gnostischen Bewegung im 2. Jh. n.Chr. (und hier insbesondere für die valentinianische Gnosis!) gar nicht zu bestreiten508. ›Belege‹ dafür im Einzelnen sind leicht auszumachen, und zwar nicht nur in den Quellen der valentinianischen Gnosis, sondern auch in gnostischen Originalquellen der Bibliothek von Nag Hammadi: Bereits die Tatsache, dass unter den Schriften von Nag Hammadi im Codex VI /5 ein relativ umfangreiches Zitat aus Platons Politeia (588 A – 589 B) überliefert ist, spricht eine deutliche Sprache, ebenso aber auch jene anderen Schriften von Nag Hammadi, in denen man bisher mehr oder weniger weitreichende platonische Einflüsse festgestellt hat. Als ein besonders deutliches Beispiel in dieser Hinsicht sei hier nur der Traktat (Offenbarungsschrift?) unter dem Namen Marsanes (NHC X/1) genannt, den B.A. Pearson geradezu als eine Art »intellectual interaction between Gnostics and Platonist scholars« charakterisiert hat509. Nun steht jedoch gerade diese Schrift gar nicht primär für einen Ursprungszusammenhang zwischen Platonismus und Gnosis, sondern viel eher für eine bestimmte Art von Rezeption des Platonismus in der Gnosis! Und das heißt konkret: Alles, was hier aus der Tradition des Plato506

S. dazu oben den Exkurs: »Simon Magus oder Simon Gnosticus«? (S. 117 ff.). So wiederum besonders in dem bereits mehrfach genannten Aufsatz »Christliche Religionsphilosophie oder vorchristliche antike Religion?«, S. 58: »Die Gnosis begreife ich nun als den wohl energischsten Versuch, das Christentum durch konsequente Platonisierung und Mythisierung einer (Halb-)Bildungselite nahe zu bringen …«. 508 Zum Thema vgl. bereits H. J. Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik, S. 223–264. Dem Verf. geht es freilich in seiner Monographie zur Geschichte des Platonismus nicht primär um die Frage nach dem Ursprung der Gnosis, sondern um die Einordnung der (valentinianischen) Gnosis in die spätantike Philosophiegeschichte. Von daher gesehen kann Krämer auch ganz unbefangen, mit ausdrücklicher Berufung auf W. Boussets »Hauptprobleme der Gnosis«, von einem »ursprünglichen Dualismus der älteren und orientalischen Gnosis« schreiben. 509 So B.A. Pearson, Gnosticism as Platinism, S. 158. 507

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nismus gleichsam ›übernommen‹ wird, steht seinerseits wiederum – besser wohl: seinerseits bereits – unter einem gnostischen Vorzeichen. Was die Relation Platonismus und Gnosis betrifft, so ist also zwischen der Frage eines Ursprungszusammenhangs einerseits und der Frage der Rezeption andererseits grundsätzlich zu unterscheiden. Nur von dieser (dem ›originalen‹ Platonismus keineswegs konformen) gnostischen Rezeption her ist denn auch das für die Gnosis wenig schmeichelhafte, oft kolportierte Urteil von A.D. Nock über die Gnosis als »a wild-run Platonism«, d.h.: als eine Art »wildgewordener« Platonismus zu verstehen510. B. Aland hat sich in ihrem Aufsatz unter dem Titel »Die frühe Gnosis zwischen platonischem und christlichem Glauben« – wiederum speziell zur valentinianischen Gnosis – demgegenüber sehr viel zurückhaltender und auch sachbezogener geäußert: »… die Valentinianer bedienten sich des platonischen Modells nur, um anderes, der philosophischen Tradition durchaus Fremdes damit zu erläutern. Präziser: Sie entlehnten in einer Weise, die dem Sinn des Entlehnten geradezu widerspricht«511.

Steht aber – so gesehen – die Platon-Rezeption in der Gnosis ihrerseits von vornherein(!) unter einem gnostischen Vorzeichen, so hat dies nun auch die entsprechende Konsequenz für das Thema des gnostischen Mythos bzw. – von der Position von C. Markschies her gesehen – für den Prozess einer Mythologisierung in der Gnosis. Das Thema des gnostischen Mythos ist in der Gnosisforschung von Anfang an – bis heute – eine der umstrittensten Fragen. Im Blick speziell auf die Position von C. Markschies heißt dies konkret: Der Vorgang – besser wohl: der Prozess einer Mythologisierung (von ursprünglich nur »auf bestimmte philosophische Zusammenhänge hin orientierten Mythen«!), der in der Schule des Valentinus schließlich ›außer Kontrolle geriet‹ und auf diese Weise gleichsam notwendig zu einer »verwilderten, mythologischen Gnosis« – und damit dann auch zur Häresie führte512, lässt sich nicht, jedenfalls nicht allein, auf den hier, bei C. Markschies, vorausgesetzten Prozess einer Platonisierung reduzieren. Hier handelt es sich am Ende doch wohl – auch wenn da mancherlei Vorgänger für die Position von C. Markschies zu nennen sind513 – um eine gewisse Engführung bzw. – zumindest – um eine gewisse Einseitigkeit hinsichtlich der Frage nach Genesis und Geschichte des gnostischen Mythos bzw. der gnostischen Mythologie – in dem Sinne nämlich, dass hier nunmehr eine Umkehrung des Schemas »Von der Mythologie zur Philosophie« zu dem Schema »Von der Philosophie zur 510 So A. D. Nock, Gnosticism, S. 266. Die Formulierung von A. D. Nock ist im übrigen eine Abwandlung der Rede von der Gnosis als »un platonisme romantique« bei S. Pétrement, Le dualisme chez Platon, les Gnostiques et les Manichéens, S. 129. 511 B. Aland, Die frühe Gnosis zwischen platonischem und christlichem Glauben, S. 3. Vgl. auch ebd., S. 9. 512 So C. Markschies, a.a.O. (s.o. Anm. 489), S. 59 f.; ders., in: A. Böhlig/C.M., Gnosis und Manichäismus, S. 26, die Überschrift zum 3. Beitrag: »Valentins Schüler und ihr Missverständnis – von der philosophischen Bibelauslegung zum häretischen Kunstmythos«. 513 So besonders E. de Faye, Gnostiques et Gnosticisme, und F.C. Burkitt, Church and Gnosis. – Im Übrigen hat bereits B. Aland (s.o. Anm. 511), S. 3 und S. 20 ff. sehr deutlich auf die Umbildung des platonischen Mythos aus dem »Timaios« in der valentinianischen Gnosis hingewiesen.

3.3 Schlussfolgerungen

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Mythologie« vorausgesetzt wird. Demgegenüber hat H.J.W. Drijvers bereits in den Jahren 1967/68 in seiner Untersuchung der ›Ursprünge(!) des Gnostizismus als religionsgeschichtliches Problem‹ festgestellt: »Das Problem wird ebenso wenig gelöst durch die These, dass der philosophisch geartete Gnostizismus die ältesten Rechte habe, und dass der spätere mythologische Gnostizismus eine Degenerationserscheinung sei« – und vor allem in diesem Zusammenhang: »Philosophie und Mythologie können auf solche Weise nicht getrennt werden«514. Mit einem Wort (bzw. Satz) gesagt: Auch hier verhindert wieder eine der in der Gnosisforschung seit alters her bekannten Alternativen die Einsicht in einen – in Wirklichkeit – sehr viel komplexeren Sachverhalt. Im Übrigen sei hier durchaus zugestanden, dass man aus der Gesamtdarstellung von »Gnosis und spätantiker Geist« durch H. Jonas mit der Abfolge vom ersten Teil unter der Überschrift »Die mythologische Gnosis« zum zweiten Teil unter der Überschrift »Von der Mythologie zur mystischen Philosophie« zunächst durchaus den Eindruck von einer gleichsam einlinigen Entwicklung von der mythologischen Gnosis zu einer philosophischen Gnosis gewinnen kann – und in diesem Zusammenhang schließlich auch den Eindruck, dass am Anfang einer so skizzierten Entwicklung so etwas wie ein gnostischer Urmythos gestanden hat. Dieser Eindruck täuscht jedoch – und ist im Übrigen auch im Sinne von H. Jonas selbst keineswegs zutreffend.515 Denn:

Einen einheitlichen bzw. in sich geschlossenen gnostischen Urmythos, der sich sodann in einem Differenzierungsprozess zu den vielfältigen, in den Quellen überlieferten Varianten entwickelt hätte, hat es offensichtlich nie gegeben. Das heißt: wenn überhaupt, lässt sich ein solcher Urmythos anhand der überlieferten, im Einzelnen weitverzweigten Quellenfragmenten am Ende nur vermittels einer idealtypischen Rekonstruktion gewinnen516. Von daher gesehen kann man jenen gnostischen Mythos – grundsätzlich jedenfalls – durchaus einen Kunstmythos nennen, als solcher in religionsgeschichtlicher (wie auch in philosophiegeschichtlicher!) Hinsicht aus vielfältigen Bestandteilen ›zusammengefügt‹517. Was jedoch soll und will solche 514 H. J.W. Drijvers, in: K. Rudolph, Gnosis und Gnostizismus, S. 814, hier auch mit Hinweis auf die Positionen von E. De Faye und F. C. Burkitt; vgl. auch ebd., S. 825, zur Position von H. Langerbeck, Aufsätze zur Gnosis. 515 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 255–262, hier bes. S. 256: »Der ›Mythos‹ erzählt wie ein Schicksalsdrama die Geschichte des Alls, die die ›Spekulation‹ weiter in seinsbegriffliche Ableitung verwandelt (wobei die Übergänge zwischen beiden Typen fließend sind)«. 516 Vgl. z.B. den Versuch einer solchen ›idealtypischen‹ Rekonstruktion bei C. Scholten, Art. Gnosis, in: LthK 3. Aufl., Bd. IV, Sp. 805, und dazu grundsätzlich auch die Kennzeichnung der Kategorie ›Gnostizismus‹ als »typological construct« durch M.A. Williams, Rethinking Gnosticism, S. 45–53. 517 Zur (andauernden!) Diskussion um den gnostischen Mythos als ›Kunstmythos‹ vgl. bereits H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 82 ff., sowie Bd. II , S. 328–346, hier bes. S. 339: Der gnostische Mythos ist ›nicht naiv‹ – vielmehr: »Mit all seinen Rohheiten ist er ein

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›Zusammenfügung‹ schon für den für die Gnosis charakteristischen Synkretismus besagen? – für einen gleichsam programmatischen Synkretismus also518, der als solcher gewiss nicht als eine Art zu bezeichnen ist, sondern bewusst und gezielt die in seiner religions- und philosophiegeschichtlichen Umwelt bereits in (im Einzelnen unterschiedlichen) Mythen und Mythenfragmenten vorliegenden Ursprungserzählungen nicht nur als solche übernimmt, sondern sie in einem Rezeptionsprozess durch einen gemeinsamen, spezifisch gnostischen Richtungssinn zu einer neuen (relativen) Einheit miteinander verbindet. Das Ergebnis eines solchen Rezeptionsprozesses hat H. Blumenberg in seiner Monographie zur ›Arbeit am Mythos‹ den gnostischen ›Grundmythos‹ genannt, der – im Unterschied zu einem bloßen ›Kunstmythos‹ – in seiner für die Gnosis von vornherein intendierten soteriologischen Ausrichtung durchaus einen ›homogenen Entwurf‹ darstellt519. Einen ›Kunstmythos‹ kann man diesen ›Grundmythos‹ allenfalls im Blick auf die einzelnen hier versammelten, gleichsam ›geliehenen‹ Mythologoumena nennen – Grundmythos der Gnosis gleichwohl, sofern nämlich die hier versammelten Mythologoumena unterschiedlicher Herkunft in ihrer für die Gnosis charakteristischen soteriologischen Ausrichtung auf die Beantwortung der Grundfrage der gnostischen Heilslehre zu einer (relativen) Einheit verbunden sind. Eben in dieser neuen, spezifisch gnostischen Ausrichtung handelt es sich bei jenen traditionellen bzw. vorgegebenen Mythologoumena – wie K. Rudolph mit Recht festgestellt hat – »durchaus nicht um ›künstliche‹, im Grunde belanglose Zusammenstellungen, sondern um Illustrationen existentieller Sachverhalte der [spezifisch] gnostischen Weltauffassung« – oder, wie es bei K. Rudolph in diesem Zusammenhang weiter heißt: »Seine [sc.: des Gnostizismus] Mythologie ist eine bewusst geschaffene Überlieferung aus fremdem Gut, das er sich seiner Grundauffassung entsprechend angeeignet hat«520. raffiniertes Erzeugnis, bewusst konstruiert, um eine Botschaft mitzuteilen, ja, sogar ein Argument vorzutragen, und überlegt aus den zusammen geraubten Elementen älterer Mythen zusammengesetzt. Kurz, es ist sekundäre, abgeleitete Mythologie, deren Künstlichkeit irgendwie zu ihren Wesen gehört …«. 518 S. dazu oben Kapitel 2.2.3.: »Zum Problem Gnosis und Synkretismus«. 519 H. Blumenberg, Epochenschwelle und Rezeption, S. 110: »Dieser Grundmythos ist ein homogener Entwurf …«; ebd.: er »hat von vornherein eine soteriologische Funktion: indem er über die Herkunft des Menschen Bericht erstattet, eröffnet er ihm Richtung und Möglichkeit seiner Zukunft. Alles, was über Weltentstehung, Weltaufbau und Vorgeschichte des Menschen erzählt wird, steht außerhalb eines theoretischen Interesses von vornherein im Dienste der Wiederbeschaffung des verlorenen Heils«. Vgl. auch die Unterscheidung zwischen ›Grundmythos‹ und ›Kunstmythos‹ in: H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 193–238. Im Übrigen benutzte bereits H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist II , S. 1 und S. 15, den Terminus ›Grundmythos‹ (als ›primären‹ Mythos). 520 K. Rudolph, Die Gnosis, S. 63, hier mit der Fortsetzung: »In seinem eigenen Lichte aber ist sie die ihm zugewachsene Bestätigung seiner Wahrheit, die er oft auf Uroffenbarung zurückführt, d.h. aus der Urzeit herleitet«. Zum soteriologischen Charakter dieses Grundmythos vgl. auch K. Rudolph, Art. Gnosis, Gnostizismus, in: Der neue Pauly 4 (1998), S. 1119.

3.3 Schlussfolgerungen

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Trotz neuerlichen Einspruchs (s. dazu unten!) ist es durchaus angemessen, hinsichtlich der konkreten Gestalt jenes gnostischen ›Grundmythos‹ – zunächst – auf die bekannte Grundformel eines spezifisch gnostischen (genauer eines valentinianischen) Welt- und Heilsverständnisses in den »Excerpta ex Theodoto« des Clemens Alexandrinus zu verweisen: , , , , , , 521. Schon H. Jonas hat zu dieser (soteriologischen und – damit auch – eschatologischen!) Grundformel vermerkt: »Hier haben wir … eine vollständige Schematik des gnostischen Mythos … Wir brauchen uns nur daran zu halten, um einen sicheren Führer durch die ganze Vielfalt gnostischer Mythologie und Spekulation zu haben«, in dem Sinne nämlich, dass die »beiden ersten Themenpaare … die Abwärtsbewegung« bezeichnen, »die beiden letzten die Rückwendung und Aufwärtsbewegung, ihre Korrespondenz den soteriologischen ›Schluss‹ des Ganzen. Dass es jedes Mal Paare sind, spiegelt die dualistische Spannung, die Polarität und daher notwendige Dynamik des gnostischen Seinsbildes wieder. In jedem der vier Themenpaare wird die korrelative Aufeinanderfolge eines Geschehens, das der Mythos zu entwickeln hat, exponiert«522. In der Tat, wie es (im unmittelbaren Anschluss an H. Jonas) H. Blumenberg formuliert hat: Hier, in den »Excerpta ex Theodoto«, ist der gnostische Grundmythos »auf eine der Abstraktion sich nähernde Formel gebracht«523. Im Übrigen: Dass es sich bei der Formel aus den »Excerpta ex Theodoto« tatsächlich um eine gnostische Grundformel handelt, wird nicht zuletzt auch wieder durch die gnostischen Originalschriften von Nag Hammadi bestätigt, so vor allem durch das »Lehrgespräch des erhöhten Jesus Christus mit den Aposteln«, wie es im »Brief des Petrus an Philippus« (NHC VIII /2, p. 134,18 ff.) überliefert ist: auf die Erscheinung des erhöhten Jesus Christus (p. 134,9–18: »Da erschien ein großes Licht … Und eine Stimme rief zu ihnen und sprach: ›Hört auf meine Worte, dass ich euch sende. Was verlangt ihr nach mir? Ich bin Jesus Christus, der allezeit bei euch ist‹«) antworten die Apostel: »Herr, wir wollen den Mangel der Äonen und ihre Erfüllung erkennen, und wie wir an diesem Ort festgehalten werden bzw. wie wir hierher gekommen sind, bzw. wie wir wieder gehen werden, bzw. wieso wir eigentlich die Vollmacht des Freimuts haben, bzw. weswegen die Mächte gegen uns streiten …«524. Ganz entsprechend heißt es dann auch im sog. »Thomasbuch« von Nag Hammadi (NHC II /7, p. 138,8–10) im Dialog zwischen dem ›Erlöser‹ und 521

Exc. ex Theodoto 78,2, zitiert nach der Ausgabe von F. Sagnard, SC 23, S. 202. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 26. Vgl. auch ebd., S. 258, sowie die »existentiale Interpretation« von Exc. ex Theodoto 78,2 in: Ders., Die Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 394 f. 523 H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 205–207; Zitat: S. 207. Zur zentralen Bedeutung der Formel vgl. auch K. Koschorke, Hippolyts Ketzerbekämpfung, S. 43 ff., hier bes. S. 43 f. 524 So nach der Übersetzung von H.-G. Bethge, in: Hennecke-Schneemelcher (5. Aufl.) I, S. 280 f. Vgl. zur Stelle auch A. Böhlig, in: A. Böhlig/C. Markschies, Gnosis und Manichäis522

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Thomas: »Erforsche dich selbst und erkenne, wer du bist, wie du bist und wie du sein wirst …« mit der Fortsetzung (ebd., p. 15 ff.): »Denn wer sich [selbst] nicht erkannt hat, hat nichts erkannt. Wer aber sich selbst erkannt hat, hat [damit auch] schon die Erkenntnis von der Tiefe des Alls erlangt«. Und endlich: auch die oben bereits aus dem 15. Kap. der Thomasakten im Rahmen eines Dankgebetes zitierte Formel weist in dieselbe spezifisch gnostische Richtung: »Ich danke dir, Herr … [der] du mir gezeigt hast, mich selbst zu suchen und zu erkennen, wer ich war und wer und wie ich jetzt bin, damit ich wieder würde, was ich war …«525. Von daher gesehen bedarf es jedenfalls keiner Frage mehr, dass jene ›Grundfrage‹ von Exc.ex Theod. 78,2 – in ihrem ursprünglichen gnostischen Kontext wie auch im Vergleich mit ihren eben zitierten Varianten gesehen – sich eindeutig als eine gnostische Grundfrage erweist, und zwar als eine soteriologische Grundfrage nach dem Heil bzw. einer Erlösung außerhalb der Welt. Damit soll auch gar nicht bestritten werden, dass die Frage nach dem ›Woher?‹ und ›Wohin?‹ – außerhalb jenes gnostischen Kontextes, also in ihrer Struktur »an und für sich« betrachtet – durchaus auch in anderen Bereichen gewisse (formale!) Parallelen hat: Eigens zu nennen wären hier etwa die in den rabbinischen ›Vätersprüchen‹ (mAv 3,1) formulierten Fragen: »Wisse, woher du kamst und wohin du gehst und vor wem du einst Rechenschaft und Rechnung ablegen musst« oder auch – wiederum aus einem ganz anderen Bereich und Kontext! – in den präpositionalen Prinzipien-Reihen der griechischen philosophischen Tradition (hier i.S. der Antwort auf die Fragen bzw. ’ )526. Nun kann man gewiss darüber streiten, ob und inwieweit jene (oben zitierte) gnostische Grundfrage tatsächlich – wie K. Koschorke gemeint hat – »die einzige Konstante gnostischen Denkens« ist, »alles übrige – der Gegenstandsbereich, an dem die Fragestellung durchgeführt wird, die Weise ihrer Thematisierung und die Form ihrer Beantwortung – demgegenüber sekundär und variabel«527; aus den eben genannten (formalen!) Parallelen jedoch nunmehr die Schlussfolgerung abzuleiten, dass »nicht [schon] die Fragen … gnostisch [sind], sondern [erst die] Antworten, die auf diese Fragen gegeben werden«528, muss hier am Ende doch wohl als höchst problematisch erscheinen, als eine Argumentation nämlich, die offensichtlich ganz und gar vom konkreten ›Sitz im mus, S. 184 f., hier, S. 185, Anm. 272, mit dem Zusatz: »Exc. Theod. 78,2 wird hier sehr verkürzt wiedergegeben«. 525 Entsprechende Formulierungen finden sich des Öfteren im gnostischen Schrifttum: vgl. z.B. NHC VI /4 (»Gedanke unserer großen Kraft), p. 37,2 ff.: »Warum fragt ihr nicht, welcher Art ihr sein werdet? oder aber: Wie ihr entstanden seid? – Vgl. auch W. C. Till in seiner Ausgabe der gnostischen Schriften des Pap. Berol. 8502, S. 35, der darauf verweist, dass das »im Apokr. Des Johannes entrollte Weltbild … auf zwei große Fragen Antwort geben [soll]: Wie ist das Böse in die Welt gekommen? Und: Wie kann sich der Mensch davon befreien?« – mit dem Zusatz: »Diese Fragestellung ist im Text nicht unmittelbar enthalten, bildet aber die unausgesprochene Grundlage für die Entwicklung des Weltbildes«. 526 So C. Markschies, Valentinus Gnosticus? S. 391, Anm. 22, mit Verweis auf J. Dillon, The Middle Platonists, S. 238 f. – Zur »Prinzipienreihe« (und der hier sich darstellenden »Metaphysik der Präpositionen«) vgl. W. Theiler, Die Vorbereitung des Neuplatonismus, S. 8 ff. 20 ff. und S. 32 ff. 527 K. Koschorke, Hippolyts Ketzerbekämpfung, S. 44 f. 528 So die Argumentation von C. Markschies, Valentinus Gnosticus? S. 391, Anm. 22, hier auch mit Hinweis auf die (freilich gnostische!) Interpretation von Exc. ex Theod. 78,2, durch A. Böhlig, Bemerkungen zur Metaphysik in Gnosis und Philosophie, S. 34–37.

3.3 Schlussfolgerungen

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Leben‹ jener gnostischen Grundformel in ihrem gnostischen Kontext absieht. Was jedenfalls diese Grundformel in der Version der »Excerpta ex Theodoto« angeht, so spricht hier bereits die Formulierung vom (passiv erlittenen!) ›Geworfensein‹ eine überaus deutliche – eben gnostische! – Sprache; und es ist – von daher gesehen – kein Zufall, dass kein geringerer als A.D. Nock bereits (in seiner Rezension zu H. Jonas’ Gnosis und spätantiker Geist I) seinen Versuch, jene Formel aus den Exc. ex Theodoto zu einer Formulierung des Porphyrios, De abst. 1,27, in Beziehung zu setzen, wonach der gleichsam ›normale‹ Mensch demjenigen gegenübergestellt wird, »der sich Rechenschaft darüber gibt, wer er ist und woher er gekommen ist und wohin er eilen sollte«, diese ›Parallele‹ zu Exc. ex Theodoto doch alsbald wieder relativiert hat: »Wenn wir die Vorstellung von der Wiedergeburt und das kraftvolle nicht berücksichtigen und die Last der Erlösung dem Individuum aufbürden, dann erhalten wir eine Lehre, die sich nicht von Porphyrios’ Auffassung unterscheiden lässt …«529.

Geht man in diesem Sinne – mit H. Blumenberg – nun freilich davon aus, dass sich in bzw. hinter der soteriologischen Grundformel von Exc. ex Theodoto 78,2 ein ganzer gnostischer ›Grundmythos‹ verbirgt und dass es die Funktion dieses Mythos ist, in narrativer Gestalt zu »erklären«, »wie es zu diesem [in Exc. ex Theodoto 78,2 vorausgesetzten] Dualismus von Welt und Gott, Selbst und Leib, Gnostikern und anderen Menschen gekommen ist«530, so reicht dafür der Rekurs allein auf eine aus einer Platonisierung folgende Mythologisierung gewiss nicht mehr aus. Und genau hier ist dann (zumindest!) auch, was die Mythenbildung in der Gnosis im Einzelnen betrifft, der jedenfalls aus bestimmten gnostischen Schriften von Nag Hammadi überaus deutlich hervorgehende Anteil aus der biblisch-jüdischen Tradition unübersehbar – jener Anteil an der Mythenbildung in der Gnosis also, der bei jener Auffassung von der Gnosis als einer »christlichen Religionsphilosophie« im Sinne von C. Markschies gänzlich außer Betracht bleibt. Eben von diesem in einer ganzen Reihe der gnostischen Schriften von Nag Hammadi so überaus deutlich hervortretenden Anteil der biblisch-jüdischen Tradition an der Ausbildung der konkreten gnostischen Ursprungsmythen her gesehen ist es durchaus kein Zufall, dass die in der Geschichte der Gnosisforschung seit langem bereits vertretene Auffassung von einem (außerchristlichen!) Ursprung der Gnosis im Judentum bzw. am Rand des Judentums insbesondere seit der Entdeckung der Bibliothek von Nag Hammadi einen erheblichen Auftrieb erfahren hat. Ob man daraus die Schlussfol529 A.D. Nock, in: Gnomon 3 (1936), S. 605–612 = in deutscher Übersetzung in: K. Rudolph (ed.), Gnosis und Gnostizismus, S. 374–386; Zitat: S. 380. Auch A. Böhlig verweist in seiner Interpretation von Exc. 78,2 auf Porphyrios, De abst. I 27; bemerkenswert ist jedoch hier vor allem seine wiederum gnostische Interpretation des »wohin eilen wir« von Exc. ex Theod. 78,2 i.S. von: »wo wir in Schrecken waren«. Zur Metapher vom ›Geworfensein‹ vgl. die ›existentiale‹ Interpretation bei H. Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 394 f. 530 So die Bestimmung der Funktion des Mythos bei G. Theissen, Die Religion der ersten Christen, S. 315 f.

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gerung von dem einen Ursprungszusammenhang Judentum – Gnosis ziehen kann, ist zwar nach wie vor umstritten531, nicht zuletzt angesichts dessen, dass es bei einem synkretistischen Phänomen wie der Gnosis ohnehin fraglich ist, ob hier, bei der Ursprungsfrage, überhaupt eine Alternative zwischen einem (philosophischen bzw.) hellenistischen Ursprung einerseits und einem jüdischen Ursprung andererseits angebracht ist – keiner Frage aber bedarf es, dass bestimmte biblisch-jüdische Überlieferungen (insbesondere aus den Ursprungserzählungen der ›Genesis‹) eine erhebliche Rolle bei der Ausgestaltung des gnostischen Grundmythos gespielt haben. Auf eben diesen Sachverhalt haben bereits in den 60 er Jahren des letzten Jahrhunderts – je auf ihre Weise – A. Böhlig und O. Betz aufmerksam gemacht532; und seitdem ist dieser Sachverhalt mit der fortschreitenden Publikation und Bearbeitung der Texte von Nag Hammadi zunehmend konkretisiert worden. So vielfältig im Einzelnen nun auch das Erscheinungsbild in dieser Hinsicht sein mag – eines ist in jedem Falle deutlich: Gerade von jener gnostischen Grundformel in den Excerpta ex Theodoto (78,2) her gesehen ist die Frage nach dem, »was am Anfang geschah« (O. Betz), und zwar im Blick auf den Ursprung von Welt und Mensch, für die Gnosis offensichtlich von elementarem, um nicht gleich zu sagen: existentiellem, nämlich soteriologischem Interesse: Mit der Frage nach dem Ursprung von Welt und Mensch, mit der Frage also nach dem ›Woher‹, kommt hier, im Bezugssystem der Gnosis, ja zugleich die (soteriologische) Frage nach dem ›Wohin‹ in den Blick. Der ›hinter‹ jener gnostischen Grundformel von Exc. ex Theodoto stehende gnostische Grundmythos wird – eben jenem existentiellen Interesse folgend – hier, von jenem jüdisch-gnostischen (Ursprungs-)Zusammenhang her gesehen, eben nicht ›spekulativ‹, nicht philosophisch entfaltet, sondern in der Orientierung an den biblisch-jüdischen Ursprungserzählungen, also gleichsam dem ›Logos‹ des Mythos folgend533. Die (gleichsam!) existentiale Deutung, wie sie in jenen (biblisch-jüdischen!) Ursprungserzählungen von vornherein angelegt ist, wird hier, in der gnostischen Rezeption dieser Ursprungserzählungen, auf gnostische Weise ausgeführt und lässt somit jene biblisch-jüdischen Mythen zu gnostischen ›Existentialmythen‹ werden, die als solche – sofern man jedenfalls weiß, ›woher‹ man kommt, ›wohinein‹ man ›geworfen‹ ist, und ›wohin‹ man geht – zugleich die Möglichkeit einer 531 Literatur zur Fragestellung bei K. Rudolph, in: ThR 36 (1971), S. 1–6 und S. 89–124. Besonders hinzuweisen ist hier nur auf den programmatischen Aufsatz von K. Rudolph, Randerscheinungen des Judentums und das Problem der Entstehung des Gnostizismus, vom Jahr 1967; erneut abgedr. In: K.R., Gnosis und spätantike Religionsgeschichte. Ges. Aufsätze, S. 144–169. 532 A. Böhlig, Der jüdische Hintergrund in gnostischen Texten von Nag Hammadi, in: A.Böhlig, Mysterion und Wahrheit, S. 80–101; O. Betz, Was am Anfang geschah. Das jüdische Erbe in den neugefundenen koptisch-gnostischen Schriften von N.H., S. 24–43. 533 Vgl. C. Colpe, in: RAC XI , Sp. 639 f.: »nicht rein spekulativ entworfen«, sondern »orientiert an vorgegebenen Erzählungen«.

3.3 Schlussfolgerungen

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›Reversibilität‹ (des gegenwärtigen Zustandes) bzw. einer ›restitutio in integrum‹ in sich schließen534. Was die entsprechenden Zeugnisse dafür in den gnostischen Quellen betrifft, und zwar insbesondere in den gnostischen Schriften der Bibliothek von Nag Hammadi, so sind hier vor allem die folgenden Schriften zu nennen: Die »Hypostasis der Archonten« (NHC II /4), die in ihrem ersten Teil geradezu eine Art Paraphrase der ›Genesis‹ darstellt; weiter: die (titellose) Schrift vom ›Ursprung der Welt‹ (NHX II /5); das sog. ›Ägypterevangelium‹ (NHC III /2 und IV /2); die »Adam-Apokalypse« (NHC V/5) und – gewiss nicht an letzter Stelle! – das »Apokryphon des Johannes« in seinen verschiedenen Versionen (BG 8502; NHC II /1; III /1 und IV /1), welche letztere bereits anzeigen, dass gerade für diese Schrift ein längerer Entstehungs- bzw. Redaktionsprozess (auch i.S. einer sekundären Christianisierung!) vorauszusetzen ist535.

Was nun konkret die Art und Weise der Rezeption der biblisch-jüdischen Überlieferung in den gnostischen Schriften betrifft, so ist es – bei aller Vielfalt der exegetischen Methoden536 – deutlich, dass es sich dabei um eine konsequente, mitunter auch als ›Protestexegese‹ bezeichnete537, ReInterpretation der biblischen Überlieferung unter gnostischem Vorzeichen handelt, die als solche – im Einzelnen – mit der biblischen Überlieferung zugleich auch bestimmte nichtbiblische jüdische Überlieferungen einschließt. Letzteres ist zugleich ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Rückbezug auf die biblischen Ursprungserzählungen des Buches ›Genesis‹ in der Gnosis nicht erst durch das Christentum vermittelt worden ist538. Aufs Ganze gesehen gilt jedoch: Zwar kann man sagen, dass jene biblischen Ursprungserzählungen den gnostischen Grundmythos, was jedenfalls sein ›Material‹ betrifft, konstituieren; am Ende aber wird hier, in den gnostischen Schriften, eine ganz andere ›story‹ als die ursprünglich biblische erzählt: eben der der Gnosis eigene Mythos vom Ursprung – oder mit anderen Worten. »When

534 Zum Begriff »Existentialmythen« vgl. J. und A. Assmann, Art. Mythos, in: H. Cancik (u.a.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe IV (1998), S. 179–200, hier S. 180.185 f. 195. 535 S. dazu oben Kap. 3, S. 130 ff., sowie B.A. Pearson, Use, Authority and Exegesis of Mikra in Gnostic Literature, S. 647 ff. 536 Dazu vgl. P. Nagel, Die Auslegung der Paradieserzählung in der Gnosis, S. 52 ff.: »Interpretationstypen der Auslegung«. Zur gnostischen Hermeneutik grundsätzlich: K. Rudolph, Bibel und Gnosis, S. 137–156; B.A. Pearson, Some Observations on Gnostic Hermeneutics, S. 243–256; ders., Biblical Exegesis in Gnostic Literature; L. Painchaud, The Use of Scripture in Gnostic Literature, S. 129–147, sowie K.-W. Tröger, Altes Testament – Frühjudentum – Gnosis, passim. 537 Zum Stichwort »Protestexegese« vgl. K. Rudolph, Randerscheinungen des Judentums und das Problem der Entstehung des Gnostizismus; G. G. Stroumsa, Mythos und Erinnerung. 538 So W. Beltz, Gnosis und Altes Testament, S. 353–357; ders., Elia redivivus, S. 137–141, hier S. 141.

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the Gnostic interprets the Bible, he uses another story, his own myth of the origins«539. So gesehen sind ›Mythen‹ bzw. Ursprungserzählungen offensichtlich von grundlegender (und damit auch in alle Zukunft weisender) Bedeutung; grundlegend vor allem im Sinne einer Beantwortung der in der gnostischen Grundformel aus den Excerpta ex Theodoto (78,2) aufgeworfenen Grundfragen der Existenz des Gnostikers in einer ihm feindlichen Welt. Was hier jedoch, in dieser Grundformel, in äußerster – eben formelhafter – Konzentration vorliegt, wird in den den gnostischen Grundmythos konstituierenden Ursprungserzählungen im Einzelnen entfaltet, und dies nun auch – und insbesondere! – im Blick speziell auf den Anfang und die Urgeschichte des Menschengeschlechts: Die Namen von Adam und Eva, von Kain und Abel und – nicht zuletzt – von Seth (Gen 4,25 f.) markieren hier, in diesen Ursprungserzählungen von der Geschichte der Menschheit, immer zugleich bestimmte, für die Zukunft speziell der ›Gnostiker‹ entscheidende Weichenstellungen. Von daher gesehen gehören dann freilich zum Grundmythos der Gnosis (und zu dessen Konkretion!) auch und vor allem Fragen der Genealogie, Fragen also der Abfolge in der Geschichte des Menschengeschlechts. ›Mythos‹ und ›Genealogie‹, d.i. nicht nur zufällig ein Begriffspaar, sondern ein Grundaspekt in der Betrachtung der Menschheitsgeschichte – beides also voneinander nicht ablösbar540. Einer der frühesten Belege dafür ist – was speziell die Geschichte der Gnosis betrifft – 1 Tim 1,4, hier freilich, in den neutestamentlichen Pastoralbriefen, im Sinne der Abwehr einer (christlichen) Häresie! Nach der herkömmlichen, z.T. bereits von den altkirchlichen Häresiologen vertretenen und von daher denn auch in die meisten der neueren Kommentare zu den ›Pastoralbriefen‹ gelangten Auffassung haben es solche spezifisch gnostischen ›Genealogien‹ vor allem mit (auf ›Emanationen‹ zurückgehenden) ›Archonten‹und ›Äonen‹-Reihen zu tun, als solche bereits Ergebnis einer Fehlentwicklung541. C. Colpe hat in diesem Sinne sogar die Auffassung vertreten, dass »sich in gnostischen Systemen die Genealogie geradezu als das Prinzip ihrer Konstruktion« er539 So Ph. Perkins, The Gnostic Dialogue, S. 8; vgl. ebd., S. 9 und S. 18. Zum Problem vgl. auch O. Betz, Das Problem der Gnosis seit der Entdeckung der Texte von Nag Hammadi, S. 64: »die Intention des Textes [wurde] bei der Exegese der Urgeschichte dem dualistischen Kanon der Gnosis entsprechend umgebogen, teilweise geradezu auf den Kopf gestellt; in einer Art von gnostischem ›al tiqre‹ … wird Moses Darstellung gelegentlich korrigiert: ›Nicht so, wie Mose sagte‹ …«. 540 Zum Begriffspaar »Mythus – Genealogie« vgl. bereits Platon, Tim 22 a; Polybios, Historiae IX 12,1, sowie F. Jacoby, Die Fragmente der griechischen Historiker, 1. Teil: Genealogie und Mythologie, S. 47 f. 541 Für die altkirchlichen Häresiologen vgl. Irenäus, Adv. Haer. I 30; Tertullian. De praescr. haer. 33,8; De anima 18,4: haereticorum idearum sacramenta: hoc enim sunt aeones et genealogiae illorum. Weitere Belege bei W. Speyer, Art. Genealogie, in: RAC IX , Sp. 1252 f. Speziell zur Frage der ›Emanationen‹ vgl. J. Ratzingen, At. Emanation, in: RAC IV, Sp. 1219 f. 1222. Zur Rezeption dieser Deutung der »Genealogien« von 1 Tim 1,4 (usw.) vgl die Kommentare zu den Pastoralbriefen.

3.3 Schlussfolgerungen

201

weist: »Dies gilt in umfassender Hinsicht für alle Systeme, in denen sich die himmlische Welt durch einen sich verzweigenden genealogischen Prozess pleromatisch ausdifferenziert und danach eine materielle Welt aus sich heraussetzt«542. Speziell im Blick auf die Kosmogonie im gnostischen Sinne mag dies wohl gelten – ist dafür aber der Genealogie-Begriff wirklich geeignet, dem doch eigentlich – wie C. Colpe wenig später selbst feststellt – das »Schema Elternschaft (bisexuell oder polar-geschlechtlich) – Zeugung – Kindschaft« zugrunde liegt?!543. Gerade in dieser Hinsicht aber bieten nunmehr die gnostischen Texte von Nag Hammadi, und hier insbesondere die Textzeugnisse einer sog. Sethianischen Gnosis ein überaus reiches Anschauungsmaterial! Dabei ist an dieser Stelle auf die nach wie vor kontrovers diskutierte Frage nicht einzugehen, ob und inwieweit es sich in jenen Schriften einer sogen. ›Sethianischen Gnosis‹ um das Zeugnis für eine eigene bzw. eigenständige gnostische ›Gemeinde‹ oder auch ›Schule‹ (i.U. etwa zu den gnostischen Schulen der ›Valentinianer‹ oder auch der ›Basilidianer‹) handelt544; immerhin: Die Bedeutung der Hervorhebung speziell des Seth in einer ganzen Reihe von Texten von Nag Hammadi wäre ja noch bedeutsamer, wenn es sich hier tatsächlich um eine gleichsam schulübergreifende, nicht nur an eine bestimmte einzelne ›Schule‹ gebundene Überlieferung handelte. In jedem Falle jedoch: Jene Zeugnisse einer ›sethianischen‹ Gnosis sind ein geradezu paradigmatisches Beispiel dafür, in welchem Maße sich die Gnosis die biblischen Überlieferungen von den ›Anfängen des Menschengeschlechts‹ zu eigen gemacht hat, um nunmehr auf ihre Weise von jenen – mit den Namen von ›Adam und Eva‹ verbundenen – Ursprüngen her eine eigene spezifisch gnostische Genealogie zu entwerfen und – damit zugleich – auf diese Weise die in der gnostischen Grundformel von Exc. ex Theodoto 78,2 aufgeworfenen Grundfragen nach dem ›Woher‹ und dem ›Wohin‹ zu beantworten. Gewisse spekulative Züge in der Rezeption der biblischen Überlieferung sind bei alledem nicht ausgeschlossen; zumindest ebenso deutlich ist aber auch das besondere – geradezu als existentiell zu bezeichnende – Interesse, das in diesem Zusammenhang für die gnostische Rezeption jener biblischen Überlieferung bestimmend ist:

Der Mythos von der Ur- und Ursprungszeit der Menschheitsgeschichte – konkret also die biblische Überlieferung von den drei Söhnen Adams und Evas – verbindet sich auch hier wieder, wie bereits in dem Zusammenhang von (jüdischen!) ›Mythen und Genealogien‹ bei den gnostischen Gegnern der neutestamentlichen Pastoralbriefe (1 Tim 1,4), unmittelbar miteinander: 542

C. Colpe, in: JAC 17 (1976), S. 133. Ebd., S. 133 unten. 544 Als eine eigenständige Häresie werden die ›Sethianer‹ jedenfalls bei Hippolyt, Ref. V 4 und 19–22 sowie bei Epiphanius, Haer. 39, 1,1–5,3 genannt. Zur Kontroverse in dieser Hinsicht: B. Layton (ed.), The Rediscovery of Gnosticism II : »Sethian Gnosticism«, hieraus bes. die Beiträge von K. Rudolph, Die »Sethianische Gnosis« – eine häresiologische Fiktion? (S. 577 f.); H.-M. Schenke, The Phenomenon and Significance of Gnostic Sethianism (S. 588–616); M.A. Williams, The Immovable Race, S. 186–209: »Indications of More Than One Social Group«; ders., Rethinking Gnosticism, hier bes. S. 13 den Versuch einer Definition: »›Sethianism‹ is therefore a convient working designation for a tentatively defined network of mythological and theological relationships among certain sources, the nature of whose social-historical connections is still uncertain«. Ausdrücklich gegen den Charakter der sog. ›Sethianer‹ als einer eigenen gnostischen Schule bzw. Gruppe zuletzt C. Markschies, Die Gnosis, S. 98 ff. 543

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

als ein Geschehen in der Urzeit weiterwirkend bis in die (jeweilige) Gegenwart hinein. Konkret heißt das: Für die gnostische Rezeption der biblischen Überlieferung von Seth als dem dritten Sohn von Adam und Eva ist es im Anschluss an Gen 4,25 (LXX !) charakteristisch, dass die Gestalt des Seth nicht gleichsam ›an und für sich‹ betrachtet wird, sondern immer nur in ihrer Beziehung zu seiner Nachkommenschaft (Gen 4,25: ) bzw. zu seinem ›Geschlecht‹ ( ), dem ›Geschlecht‹ nämlich der Gnostiker als einem ›unerschütterlichen‹, ›nicht wankenden‹, ›unvergänglichen‹ Geschlecht545. Aus diesem sethianischen Grundmythos ergibt sich also eine ganz bestimmte Genealogie, die – sofern Seth hier ja für seine eigene Nachkommenschaft eine gleichsam soteriologische Qualität und Funktion gewinnt – am Ende im Kontext einer christlichen Gnosis dazu führen kann, dass Seth nicht mehr nur die Funktion des ›Prototyps‹ der Gnostiker erhält, sondern er nunmehr auch ausdrücklich in eine Beziehung zu Jesus bzw. zu Christus gesetzt wird546. Von den in der Bibliothek von Nag Hammadi überlieferten gnostischen Originalschriften sethianischer Prägung, die – neben den entsprechenden Nachrichten der altkirchlichen Häresiologen (Epiphanius, Hippolyt u.a.) – auf Gestalt und Nachkommenschaft des Seth Bezug nehmen547, gilt dies insbesondere für das sog. Ägypterevangelium (NHC III /2 und IV /2) sowie für die Apokalypse des Adam (NHC V/5)548. Besonders deutlich tritt die Gestalt des Seth in ihrer umfassenden Bedeutung für die (›sethianischen‹) Gnostiker im Ägypterevangelium hervor, in einer Schrift, die nach ihrem eigenen Zeugnis von Seth selbst geschrieben und – wie es hier p. 68,1 f. (NHC III /2) heißt – ›niedergelegt‹ ist (vgl. p. 68,10 ff.). Der ›große und unvergängliche Seth‹ (p. 51,20 f.) ist – als solcher – zugleich der ›Vater des großen, unvergänglichen und nicht wankenden Geschlechts‹ (p. 51,7–9; 59,12–15; 59,25–60,2; 62,15 ff. u.ö.); dies ein Sachverhalt, der im Übrigen auch in weiteren, einer ›sethianischen‹ Gnosis zugerechneten Schriften hervortritt, so z.B. im Apokryphon des Johannes (BG 8502) in der Rede von dem ›Geschlecht, das nicht wankt‹ (p. 22,15; 65,2; 73,9; 75,20; 88,8), oder auch in der Schrift der Drei Stelen des Seth (NHC VII /5), hier bereits in der Überschrift: »Die Offenbarung des Dositheus, die drei Stelen des Seth betreffend, des Vaters des lebendigen und unerschütterlichen Geschlechts« (p. 118,10 ff.; vgl. auch p. 119,30 ff.; 120,5 ff.). – Grundsätzlich durchaus entsprechend stellt sich dieser Sachverhalt in der Apokalypse des Adam (NHC V/5) 545 Zu der im Einzelnen wechselnden, in der Sache jedoch konstanten Terminologie in dieser Hinsicht vgl. M.A. Williams, The Immovable Race, passim. 546 So besonders bei Epiphanius, Haer. 39,3,5 (usw.). 547 Folgende Schriften aus der Bibliothek von Nag Hammadi gelten als ›sethianisch‹: Apokr. des Johannes (BG 8502; NHC II /1; III /1; IV /1); die Hypostase der Archonten (NHC II /4); das Ägypterevangelium (NHC III /2; IV /2); die Adamapokalypse (NHC V/5); die Drei Stelen des Seth (NHC VII /5); Zostrianus (NHC VIII /1); Melchisedek (NHC IX /1), Marsanes (NHC X); Allogenes (NHC XI /3) sowie die Dreigestaltige Protennoia (NHC XIII ). 548 Zur Gestalt des Seth in den genannten Schriften im Einzelnen: B.A. Pearson, The Figure of Seth in Gnostic Literature, S. 472–504; F. Wisse, Stalking Those Elusive Sethians, S. 563–576; A. F. J. Klijn, Seth in Jewish, Christian and Gnostic Literature, S. 82–117.

3.3 Schlussfolgerungen

203

dar: So heißt es hier z.B. p. 65,6 ff. (mit Bezugnahme auf Gen 4,25): »Ich (Adam) habe dich genannt mit dem Namen, welcher der Same ( ) dieses großen Geschlechts ( ) ist …« oder p. 69,12 ff.: »[die Leute] von der Nachkommenschaft ( ) der Menschen, zu denen die Offenbarung der Erkenntnis ( ) gelangt ist …« – mit dem Unterschied nur, dass Seth in dieser »Offenbarungsschrift« grundlegend als Offenbarungsempfänger (von Adam her) – und damit zugleich als Offenbarungsmittler an sein, des Seth, Geschlecht dargestellt wird. So hier besonders p. 85,19–24: »Dies sind die Offenbarungen, die Adam seinem Sohn Seth aufgedeckt hat; und sein [sc.: des Adam] Sohn hat sie seinem ›Samen‹ erzählt. Das ist die [einst] verborgene Erkenntnis Adams, die er [dem] Seth übergeben hat« – Offenbarung also der bislang verborgenen Gnosis als Weisung auf den ›Heilsweg‹ des Geschlechts des Seth, d.h.: für die Gnostiker! Von hier aus gesehen ist es offensichtlich nur noch ein kleiner Schritt, der Gestalt des Seth eine gleichsam soteriologische Funktion beizumessen: so wiederum im Ägypterevangelium, hier p. 60,2–61,2; 63,4–8 und besonders p. 68,1 ff.: »Dies ist das Buch, das der große Seth geschrieben und niedergelegt hat … (p. 68,14 ff.:), damit es in den letzten Zeiten und Fristen ( ) … kundgemacht werde diesem unvergänglichen heiligen Geschlecht des großen …«. Das »Geschlecht des Seth«, dies ist aus diesem Textzusammenhang zu folgern, bzw. Seth selbst ist ›der eigentliche Erlöser‹ – und: ›er ist es durch und durch systemimmanent‹549. Von daher gesehen, liegt schließlich die Frage nahe, ob er als solcher in einer christlichen Gnosis am Ende mit Christus selbst identisch ist? Nun, ob wirklich ›identisch‹, das ist die Frage – gleichwohl: in jedem Falle ist es von hier aus nur noch ein kleiner Schritt, wenn bei den (christlichen) Sethianern Seth nunmehr in eine Beziehung zu Jesus bzw. zu Christus gesetzt wird, so – z.B. – wenn es wiederum im Ägypter), evangelium (NHC III /2, p. 64,1 ff.) heißt: »… des Logos-Geborenen ( des lebendigen Jesus, dessen, den der große Seth angezogen und [so] die Kräfte ( ) der dreizehn Äonen an[s Kreuz] genagelt hat«; oder wenn es schließlich bei Epiphanius im Blick auf die Sethianer heißt: …, [ ] , 550. Christus selbst, das ist hier also eine Art von (eschatologischer) Manifestation des Seth, eben dies aber offensichtlich im Sinne einer sekundären Zuordnung Christi zur Gestalt des Seth! – angesichts dessen liegt zumindest die Frage nahe, dass es sich bei dieser sethianischen Gnosis um eine Art (zwar nicht vorchristlicher, aber doch jedenfalls) nicht-christlicher Gnosis handelt.

549 So C. Colpe, in: JAC 19 (1976), S. 129 f. – Zur Sache vgl. auch B.A. Pearson, The Figure of Seth in Gnostic Literature, S. 489 f. 496 ff., hier bes. S. 498: »As a result of these observations, it might be posited that a constitutive feature of ›Sethian‹ Gnosticism is the notion of Seth as a heavenly redeemer, who can manifest himself in a variety of earthly incarnations, such as Zostrianus, Zoroaster, Melchizedek, Jesus Christ, etc.« 550 Epiphanius, Haer. 39,3,5. Vgl. auch Filastrius, Adv. Haer. 3,3: De Seth autem ipso Christum deum genus deducere aiunt. Vgl. auch Tertullian, Adv. omnes haereses 2: de Christo autem sic sentiunt, ut dicant illum tantummodo Seth et pro ipso Seth ipsum fuisse. Eindeutig wird die Identität Seth-Christus auch durch einen koptischen Zaubertext bezeugt: M. Kropp, Ausgewählte Zaubertexte III , Brüssel 1933, S. 9: »Ich beschwöre dich bei deinem eingeborenen Sohn, dessen wahrer Name ist: Seth, Seth [nämlich], der lebendige Christus«.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

Ein Letztes in diesem Zusammenhang noch: Die besondere Hervorhebung der Gestalt des Seth als Stammvater des Geschlechts der ›Gnostiker‹ ist – nach Ausweis der altkirchlichen Häresiologen – durchaus nicht nur ein Proprium einer spezifisch sethianischen Gnosis gewesen. Hier gibt es vielmehr auch außerhalb der Zeugnisse einer sethianischen Gnosis gewisse Analogien bzw. Parallelerscheinungen insbesondere in den von den altkirchlichen Häresiologen überlieferten Zeugnissen der ptolemäischen Schule der valentinianischen Gnosis, Zeugnisse also, die ihrerseits wiederum darauf hinweisen, dass die Grenzen zwischen einzelnen gnostischen Richtungen und Schulen, in diesem Falle die Grenzen zwischen dem Sethianismus und dem Valentinianismus, keineswegs immer eindeutig zu ziehen sind. Konkret gilt dies insbesondere im Blick auf die Entfaltung einer (zunächst spezifisch valentinianischen) Anthropologie, und zwar im Sinne einer »Drei-Naturen-Lehre«: Auch und gerade diese Anthropologie nämlich wird in der valentinianischen bzw. ptolemäischen Gnosis auf der biblischen Grundlage von Gen 4, d.h. an den drei Söhnen des Adam und der Eva, an Kain, Abel und Seth entfaltet: So heißt es bei Irenäus, Adv. Haer. I 7,5 in seinem Referat über den ptolemäischen Zweig der Schule des Valentin (vgl. Adv. Haer. I, Praefatio 1): , , , , ’ …551. Seth gilt hier – wie im Grunde auch in der sethianischen Gnosis – als der Ur- und Stammvater des Geschlechts der ›Pneumatiker‹, eine Bezeichnung, die in der gemeinten Sache durchaus dem entspricht, was in den sethianischen Schriften der Bibliothek von Nag Hammadi vom ›Samen‹ und ›Geschlecht des Seth‹ ausgesagt wird552. Ebenso deutlich hat solche (ursprünglich valentinianische?) Genealogie im Sinne einer »Drei-NaturenLehre« ihren Ausdruck in den (der ›orientalischen Schule‹ des Valentinianismus zugehörigen) Excerpta ex Theodoto des Clemens Alexandrinus gefunden553. Hier (54,1–3) heißt es: : Die erste ›Natur‹, die des Kain, war / ist , die zweite, die des Abel, war / ist , die dritte schließlich, die des Seth, war . Seth ist hier der Ur- und Stammvater des ›geistlichen Geschlechts‹. Und in diesem Sinne gilt für ihn – im Blick auf seine Nachkommenschaft: (wie einst Kain) (wie einst Abel), .

Dieser – zugegebenermaßen – weiträumige Exkurs zur Frage der Rezeption der biblischen bzw. biblisch-jüdischen Überlieferung in der sog. sethianischen Gnosis hat im Zusammenhang dieses Kapitel durchaus seinen Ort: sofern er nämlich in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der durch die neutestamentlichen Pastoralbriefe aufgeworfenen Frage steht, 551 So wörtlich übernommen von Epiphanius, Haer. 31,23,1–4, in seinem Referat über die Valentinianer. 552 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Verbindung des Seth mit dem ›Geist‹ im Apokr. des Johannes (BG 8502, p. 63,12–64,3). 553 Zur Einordnung der Excerpta ex Theodoto in den Valentinianismus vgl. F. Sagnard (ed.), Clément d’Alexandrie, Exc. ex Theodoto, SC 23, S. 5 ff.

3.3 Schlussfolgerungen

205

welche – möglicherweise grundlegende – Bedeutung für den gnostischen Grundmythos jene in 1 Tim 1,4 ausdrücklich als ›jüdisch‹ gekennzeichneten ›Mythen und Genealogien‹ für die Ursprungs- und Entstehungsgeschichte jener religiösen Bewegung gehabt haben, die bereits die Pastoralbriefe selbst als (freilich ›fälschlicherweise‹ so genannte) ›Gnosis‹ bezeichnen. Die damit aufgeworfene Frage nach einem unmittelbaren Ursprungszusammenhang der Gnosis mit dem Judentum oder – vorsichtiger gesagt – mit bestimmten ›Randerscheinungen‹ des spätantiken Judentums kann beim gegenwärtigen Stand der Forschung trotz einer Fülle von Literatur in dieser Hinsicht noch nicht eindeutig beantwortet werden554. Zeichnen sich jedoch in der bereits in den Pastoralbriefen vorausgesetzten ›Gnosis‹ (1 Tim 6,20!) wie auch in der sethianischen Gnosis bestimmte Tendenzen ab, dass für die Entstehung und Ausbildung des gnostischen Grundmythos in jedem Falle bestimmte biblische (und jüdische!) ›Mythen und Genealogien‹ (1 Tim 1,4!) eine wesentliche, um nicht gleich zu sagen: grundlegende Rolle gespielt haben, so ist damit in jedem Falle – wie hier auch immer die entsprechenden Beziehungen und Verflechtungen im Einzelnen zu bestimmen sind! – der Blick auf eine zwar nicht vor-christliche, wohl aber auf eine nicht-christliche Gnosis freigegeben, die sich – aller Wahrscheinlichkeit nach – neben dem frühen Christentum herausgebildet hat und – wie wiederum aus dem entsprechenden Zeugnis der Pastoralbriefe hervorgeht – offensichtlich bereits relativ früh in die Phase einer Wechselbeziehung oder auch Interaktion mit dem frühen Christentum getreten ist555. Ebenso deutlich ist dann aber – insbesondere wiederum im Blick speziell auf die Pastoralbriefe des Neuen Testaments! – auch, dass zu dieser ›Wechselbeziehung‹ bzw. ›Interaktion‹ offensichtlich von Anfang an auch die Auseinandersetzung mit bzw. die Distanzierung von jener sich nur ›fälschlicherweise‹ oder – noch deutlicher ›in lügnerischer Weise‹ als ›Gnosis‹ deklarierenden religiösen Bewegung getreten ist. Die Frage nach der ursprünglichen Relation zwischen Gnosis einerseits, Christentum andererseits stellt sich damit – so gesehen – jedenfalls sehr viel dynamischer dar – damit gewiss auch komplizierter; eben so aber am Ende auch wirklichkeitsnäher: näher nämlich an der Wirklichkeit eines sich in vielerlei (gegenseitigen!) Verflechtungen vollziehenden Lebens(!), das sich nicht – jedenfalls normalerweise nicht – auf irgendwelche (konstruierte) Alternativen (in diesem Falle auf die pure Alternative einer vor- oder nachchristlichen Gnosis reduzieren lässt. In diesem Sinne könnte die bereits im Jahre 1963(!) von K. Rudolph geforderte ›grundsätzliche (historische) Klä554 Vgl. dazu den programmatischen Aufsatz von K. Rudolph, Randerscheinungen des Judentums und das Problem der Entstehung des Gnostizismus, S. 105–122 (= in: K.Rudolph, Ges. Aufsätze, S. 144–169) sowie G. G. Stroumsa, Mythos und Erinnerung: Jüdische Dimensionen der gnostischen Revolte gegen die Zeit, S. 15–30. 555 Wozu auch – dies sei hier noch einmal betont – der Sachverhalt einer sekundären Christianisierung von ursprünglich nicht-christlichen gnostischen Schriften gehört und – speziell im Rahmen einer sethianischen Gnosis – die Zuordnung Christi zur Gestalt des Seth.

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3. Zum Problem einer vor-christlichen Gnosis

rung‹ der an sich ja statischen Begriffe ›vor-christlich‹ und/oder ›nach-christlich‹ ein erster Schritt in diese Richtung eines ›beweglicheren‹ Umgangs mit solcherlei Begriffen sein556. Solange jedoch auch gegenwärtig noch immer bestimmte, aus der Geschichte der Gnosisforschung sattsam bekannte alternative Modelle den gegenwärtigen Stand(!) der Gnosisforschung bestimmen – wie z.B. die bereits genannte Alternative ›Christliche Religionsphilosophie‹ oder ›Vorchristliche antike Religion‹? – ist weder ein Ende der Diskussion um die Frage ›Urchristentum – Gnosis‹ abzusehen noch eine Lösung der damit aufgeworfenen Detailfragen.

556 So K. Rudolph in seiner Rez. von C. Colpe, Die religionsgeschichtliche Schule, in: ThLZ 88 (1963), Sp. 27–33; hier: Sp. 32. Zum Problem vgl. auch C. Colpe, a.a.O., S. 199 ff.

4. Kapitel

Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis des zweiten Jahrhunderts 4.1 Kirchliche Schriftauslegung versus gnostische Schriftauslegung Während die Auseinandersetzung mit den ›Irrlehrern‹ bzw. ›Irrlehren‹ in den Schriften des Neuen Testaments – sieht man dabei zunächst vom besonderen Fall der ›Ketzerpolemik‹ der Pastoralbriefe ab – nur den jeweils aktuellen Anlass im Blick hat und dementsprechend nur mehr oder weniger fragmentarische Nachrichten zu Art und Charakter der jeweils in Frage stehenden ›Irrlehre‹ vermittelt, ist für die frühchristlichen Häresiologen des 2. nachchristlichen Jahrhunderts, was jedenfalls die frühchristliche Gnosis betrifft, der Verlauf der Fronten zwischen ›Rechtgläubigkeit‹ einerseits und ›Ketzerei‹ andererseits offensichtlich klarer und eindeutiger geworden und damit zugleich ein gewisser Wandel zu einer eher sachbezogenen Art und Weise der Auseinandersetzung festzustellen. ›Sachbezogen‹, d.h. hier, im 2. Jahrhundert n.Chr., offensichtlich stets zugleich ›schriftbezogen‹, und das heißt: Die Auseinandersetzung mit der Gnosis stellt sich hier, im 2. Jh. n.Chr., immer zugleich wesentlich als ein »Kampf um die Schrift« dar1, als ein Streit also um das ›rechte‹ Schriftverständnis vorzugsweise des Neuen Testaments. Dies geschieht unter der Voraussetzung, dass die Repräsentanten der frühchristlichen Gnosis nach dem Zeugnis der frühkirchlichen Häresiologen im Blick auf das ihnen, den Gnostikern, eigene Welt-, Menschen- und Heilsverständnis grundlegend von der ›Schrift‹ her, speziell vom Neuen Testament her, argumentieren und offensichtlich die ›Deutungshoheit‹ gleichsam über die ›Schrift‹ für sich in Anspruch nehmen. Wenn überhaupt, so ist die von W.A. Löhr aufgeworfene Frage, ob es so etwas »wie eine definierte gnostische Weise der Rezeption« gibt2, von hier aus zu beantworten. Konkret heißt dies: Geht es bei den frühchristlichen Gnostikern einerseits und den frühkirchlichen Häresiologen andererseits, möglicherweise doch im Zentrum um 1

So A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 22 ff. W.A. Löhr, Das antike Christentum im zweiten Jahrhundert – neue Perspektiven seiner Erforschung, Sp. 256, hier mit dem Zusatz: »Wie wäre diese zu beschreiben? Gibt es ein Bewusstsein für den ›Eigensinn‹ der rezipierten Texte?«. 2

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

eine jeweils andere Art von ›Biblischer Theologie‹, beide Arten grundsätzlich voneinander unterschieden durch einen anderen Ansatz bzw. durch ein anderes hermeneutisches Vorzeichen, unter dem jeweils auf der einen bzw. anderen Seite dieselbe eine Schrift des Neuen Testaments rezipiert wird? Exegeten jener einen Schrift des Neuen Testaments sind jedenfalls auch die frühchristlichen Gnostiker gewesen – und zudem gibt es Anlass zu der Vermutung, dass sie, die Gnostiker, auch die ersten ›Exegeten‹ des Neuen Testaments gewesen sind: »Gnostiker … waren die ersten Christen, die apostolische Schriften auslegten und dies am fortlaufenden Text praktizierten«3 – was dann zugleich bedeuten würde, dass eine Art ›Biblischer Theologie‹, wie sie Irenäus von Lyon am Ausgang des 2. Jh. s in seinem großen, die Polemik der neutestamentlichen Pastoralbriefe (1 Tim 6,20!) weiterführenden Werk »Entlarvung und Widerlegung der fälschlich so genannten Gnosis« vorgelegt hat, am Ende nichts anderes als eine Reaktion auf jene Inanspruchnahme der biblischen Überlieferung durch die frühchristlichen Gnostiker gewesen ist. Unmittelbarer Anlass für jene These vom Primat der Gnostiker hinsichtlich einer (kontinuierlichen?) Auslegung des Neuen Testaments ist jedenfalls die unter ihrem Namen bezeugte Kommentarliteratur, für die nicht nur auf den ersten bezeugten Kommentar zum JohEvangelium des Ptolemaios, eines Schülers des Valentinus, zu verweisen ist, sondern auch auf den – wie man ihn genannt hat – ›ältesten Evangelienkommentar‹ des Gnostikers Basilides, von Clemens Alexandrinus (Strom. IV 81,1) ein wenig bescheidener unter der Überschrift »Exegetica« erwähnt, ein Kommentar aber immerhin, der nach dem Zeugnis des Eusebius (H.E. IV 7,7) vierundzwanzig(!) Bücher zum Lukas-Evangelium umfasst haben soll. Dieser Kommentar wäre dann zugleich – so seinerzeit H. Windisch4 – »der älteste Kommentar zum LcEvangelium, überhaupt der älteste Evangelienkommentar, von dem wir wissen«.

Eindeutiger ist demgegenüber, dass Theorie und Praxis der Schriftauslegung durch die frühchristlichen Gnostiker bereits im 2. Jh. auf den entschiedenen Widerspruch seitens der frühkirchlichen Häresiologen gestoßen sind. In chronologischer Hinsicht sind hier an erster Stelle die sog. Apologeten zu nennen, von denen – als Zeuge für die erste Hälfte des 2. Jh.s! – Justinus 3 So M. Krause, Christlich-gnostische Texte als Quellen der Auseinandersetzung von Gnosis und Christentum, S. 52. Vgl. auch E. Mühlenberg, Art. Schriftauslegung III , in: TRE 30, S. 474, Z. 30 ff.: »Gnostiker waren die ersten Christen, die apostolische Schriften auslegten und dies auch am fortlaufenden Text praktizierten«. – Von dieser Frage ist die andere zu unterscheiden, ob die Gnosis überhaupt aus der Schriftauslegung entstanden ist? Vgl. in diesem Sinne den Hinweis von C. Colpe, in: JAC 23 (1980), S. 122 f., hier speziell im Blick auf das sog. Testimonium veritatis (NHC IX /3): »Gäbe es nur dieses interessante Dokument und sonst nichts, würde man daraus die Entstehung der Gnosis durch Schriftauslegung ableiten«! Zum Problem vgl. auch K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker gegen das kirchliche Christentum, S. 213 ff., hier unter der Überschrift: »Die christliche Tradition als der primäre Ansatzpunkt der christlichen Gnosis« (S. 211). 4 So H. Windisch, Das Evangelium nach Basilides: ZNW 7 (1906), S. 236–246; Zitat: S. 246. – Zur Frage eines Evangelienkommentars des Basilides: E. Mühlenberg, Art. Basilides, in: TRE 5, S. 296, 33 ff., sowie W.A. Löhr, Basilides, S. 11–14.

4.1 Kirchliche Schriftauslegung versus gnostische Schriftauslegung

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Martyr nach eigenem Zeugnis in seiner Ersten Apologie (I 26,8) sogar ein (auch von Eusebius, H.E. IV 11,10, erwähntes) »Syntagma gegen alle [inzwischen] aufgetretenen Häresien« verfasst hat; ein Werk, das als Ganzes nicht mehr erhalten geblieben ist (und sich wohl auch nicht mehr aus den entsprechenden Werken der späteren frühchristlichen Häresiologen rekonstruieren lässt)5. Immerhin: Irenäus hat nach dem Zeugnis seines eigenen antignostischen Hauptwerks (Adv. Haer. IV 6,2 und V 26,2) jenes Werk des Justin noch gekannt, wenn auch nur in Gestalt eines speziell die Irrlehre des Marcion betreffenden »Syntagma«6. Angesichts solcher Quellenlage hinsichtlich der Vorgänger des Irenäus in der »Entlarvung und Widerlegung der fälschlich so genannten Gnosis« besteht jedenfalls kein Zweifel darüber, dass mit dem umfassenden Werk des Irenäus in der Auseinandersetzung mit der frühchristlichen Gnosis ein erster Höhepunkt erreicht ist7. Was nun das Zeugnis des Irenäus betrifft, so kann an der Authentizität seiner antignostischen Argumentation schon deshalb kein Zweifel sein, weil der ›Kirchenvater‹ bei seiner Widerlegung der »fälschlich so genannten Gnosis« und – insbesondere – ihres Missbrauchs der Schrift nicht nur von einer »ungezählten Menge von apokryphen und gefälschten Schriften seiner Kontrahenten weiß« (Adv. Haer. I 20,1), sondern auch selbst deren Schriften gesammelt hat: Iam autem et collegi eorum conscriptiones (Adv. Haer. I 31,2). Die Tatsache, dass Irenäus bereits im ersten Buch seines Werkes (Adv. Haer. I 29,1–4) eine seit der Entdeckung des Papyrus Berolinensis 8502 unter dem Namen »Apokryphon des Johannes« bekannte Originalschrift der sog. Barbelo-Gnosis exzerpiert hat, gibt jener ›Sammeltätigkeit‹ des Irenäus erst ihre konkrete Gestalt8. Für die Qualität seiner »Entlarvung und Widerlegung der fälschlich so genannten Gnosis« spricht darüber hinaus die Tatsache, dass der Kirchenvater seinerseits offensichtlich in einem lebhaften mündlichen Diskurs mit seinen Kontrahenten gestanden hat9 – 5 Zur Frage einer Benutzung von Justins »Syntagma« durch Irenäus (und die späteren Häresiologen) vgl. A.v. Harnack, Zur Quellenkritik der Geschichte des Gnostizismus, S. 36–82; R.A. Lipsius, Die Quellen der ältesten Ketzergeschichte, S. 36–64; A. Hilgenfeld, Die Ketzergeschichte des Urchristenthums, S. 21–30.46–58. Zur Fragestellung vgl. auch A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 189 ff., hier besonders S. 195 ff. Zur Frage nach den »Vorstufen und Vorarbeiten für die heilsgeschichtliche Sicht des Irenäus«. Zuletzt zur Sache: N. Brox, Zum literarischen Verhältnis zwischen Justin und Irenäus, S. 121–128. 6 Dazu vgl. Eusebius, h.e. IV 11,8, sowie die Bezugnahme auf Irenäus, Adv. Haer. IV 6,2 und V 26,2, in h.e. IV 18,9. 7 Zur antignostischen Polemik des Irenäus im Einzelnen vgl. B. Reynders, La polémique de saint Irénée. Méthode et principes, S. 5–27; A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen; N. Brox, Offenbarung, Gnosis und gnostischer Mythos bei Irenäus von Lyon, S. 42–68. 8 Zum Apokryphon des Johannes (AJ ) vgl. auch die verschiedenen Versionen in NHC II /1; III /1; IV /1 sowie bereits C. Schmidt, Irenäus und seine Quelle in adv. haer. I 28, S. 315–336; W.C. Till (ed.), Die gnostischen Schriften des koptischen Papyrus Berolinensis 8502, S. 33. 9 Hauptbeleg dafür ist Adv. Haer. I, Praefatio 2: »Darum habe ich es für notwendig gehalten, nachdem ich auf die Schriften dieser Leute gestoßen bin, die nach eigener Aussage Schüler

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

und dies getreu seiner Devise, dass nur derjenige, der »Häresien gut kennt, sie auch zu widerlegen vermag« – dies freilich auch ein Grundsatz, den er zugleich kritisch gegenüber seinen Vorgängern geltend macht: Quapropter hi qui ante nos fuerunt, et quidem multo nobis meliores, non tamen satis potuerunt contradicere his qui sunt a Valentino, quia ignorabant regulam ipsorum (Adv. Haer. IV, Praef. 2). Die Frage zumindest ist erlaubt, ob solche Kritik an seinen Vorgängern auch bereits dem »Syntagma« des Justin gegolten hat. Irenäus jedenfalls geht es bei alledem nicht lediglich um eine je aktuelle Auseinandersetzung mit seinen eigenen gnostischen Kontrahenten, sondern um eine grundsätzliche Kontroverse, die für ihn den sie normierenden ›Kanon‹ in der kirchlichen regula veritatis hat: Nos autem unum et solum verum dominum sequentes et regulam veritatis sequentes eius sermones, de eisdem semper eadem dicimus omnes10. Von daher gesehen steht für Irenäus von vornherein fest, dass die Schriftauslegung seiner Kontrahenten, insbesondere der Valentinianer, nichts anderes als Missbrauch und Verfälschung, ja Pervertierung der Schrift ist, und zwar gegenüber ihrem ursprünglichen Sinn: »Offenbar also ist ihre Exegese als Verfälschung ( )«11. Die grundlegende Differenz zwischen Irenäus und seinen Kontrahenten besteht im (jeweiligen) Maßstab, im ›Kanon‹ für das rechte Schriftverständnis. Und ist dieser Maßstab für Irenäus mit der kirchlichen regula veritatis gegeben, so für seine Kontrahenten mit dem ihnen eigenen ›Gebilde‹ ( ) bzw. mit der ihnen eigenen ›Hypothese‹, was zugleich seitens der Gnostiker eine ›Anpassung‹ des Neuen der Schriften des Neuen Testaments an die eigenen, spezifisch gnostischen Lehren zur Folge hat. Der Vorwurf einer sekundären Anpassung der Schrift an das eigene, gleichsam von außen her an die Schrift herangetragene argumentum ist dementsprechend das das ganze Werk des Irenäus durchziehende Grundargument gegen die Schriftauslegung der Gnostiker als Verfälschung der Schrift: Die Schrift ist hier, bei den Gnostikern, entgegen ihrem ursprünglichen Sinn nichts anderes mehr als eine Art ›Illustrationsmaterial‹ einer ihr ursprünglich fremden, nämlich unchristlichen Theologie, Anthropologie und (damit Valentins sind, und auch mit einigen von ihnen zusammengetroffen bin und ihre Ansichten gründlich erkannt habe …«. Vgl. auch II 7,9; III 2,1. Irenäus hat also durchaus in einem »contacte vivant« (F.M.M. Sagnard, La Gnose valentinienne, S. 81–88) mit seinen gnostischen Kontrahenten gestanden. 10 IV 35,4. Vgl. auch I Praef. 1: »Es gibt Leute, die geben die Wahrheit aus der Hand und bringen falsche Lehren auf« (im Folgenden mit Zitat 1 Tim 1,4) sowie III 2,1 den gnostischen Grundsatz, dass die traditio nicht per litteras weiterzugeben ist, sondern allein per vivam vocem (mit Berufung auf 1 Kor 2,6!). Zur regula veritatis bei Irenäus: E. Lanne, La Règle de la vérité, S. 57–70, sowie H. Ohme, Art. Kanon I, in: RAC , Lfg. 154/55, Sp. 10 f. 11 Adv. Haer. I 19,2. – Zur Verfälschung der Schrift durch die Gnostiker vgl. bes. Adv. Haer. I 8,1–9,2. Vor allem am Verfahren der Gnostiker mit den Parabeln und Allegorien der Schrift lässt sich nach Irenäus solche Verfälschung der Schrift festmachen, so z.B. Adv. Haer. I 10,2; 20,1–24,3, und dazu N. Brox, Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 30 f.

4.1 Kirchliche Schriftauslegung versus gnostische Schriftauslegung

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auch) Soteriologie: Missbrauch also der Schrift12. ›Anpassung‹, das heißt also: Perversion der Schrift entgegen ihrem ursprünglichen – und d.h. zugleich: kirchlichen – Sinn: »Das [in der Schrift] gut Gesagte suchen sie ihren schlechten Erfindungen anzupassen« (Adv. Haer. I 3,6) oder auch: »Sie verfahren gewissenlos mit den Worten des Herrn; sie sind schlechte Exegeten des [ursprünglich] gut Gesagten geworden« – so Irenäus in der Vorbemerkung bereits zum ersten Buch seiner »Entlarvung und Widerlegung der ›fälschlich so genannten Gnosis‹« hier – charakteristischerweise – im unmittelbaren Anschluss an die ausdrückliche Bezugnahme auf die ›Genealogien‹ und ›Untersuchungen‹ von 1 Tim 1,4 (Adv. Haer. I, Praef. 1). Leichtfertiges und gewissenloses Verfahren mit den ›Worten des Herrn‹ – mit einem Wort: ›schlechte Exegese‹, das ist der Grundtenor der Kritik des Irenäus, dem er in seinem antignostischen Hauptwerk in immer erneuten unterschiedlichen Variationen Ausdruck verleiht. Das Stichwort ›Anpassung‹ (in variierender griechischer bzw. lateinischer Terminologie) ist geradezu zu einem Leitwort geworden: Sie, die Gnostiker, »versuchen ihren eigenen Aussagen die Parabeln des Herrn, die Sprüche der Propheten wie auch die apostolischen Worte anzupassen, damit ihr eigenes Gebilde nicht ohne jedes eigene Zeugnis erscheine; und sie überschreiten [auf diese Weise] die Ordnung wie auch den Zusammenhang der Schriften« (I 8,1 sowie überhaupt I 8,1–5), was zugleich heißt: »Sie versetzen und verformen [die biblischen Texte], machen etwas ganz anderes daraus und täuschen viele auf diese Weise, wie sie ›angepasste‹ Herrenworte nach ihrer Phantasie zusammenstellen« (ebd.). Oder auch: »Da siehst du die Methode …, mit der sie sich selbst betrügen. Sie mißhandeln die Schriften, indem sie versuchen, ihre eigene Erfindung (ihr eigenes ›Plasma‹) aus ihnen [sc.: den Schriften] zu begründen« (I 9,1) – oder auch I 9,2: »Sie reißen jedes der Schriftworte aus seinem wahren Zusammenhang, missbrauchen die [biblischen] Namen und übertragen sie auf ihre eigenen Grundsätze« ( ), was zugleich heißt: »Sie übertragen die Schrift aus ihrem ›natürlichen‹ Gebrauch in einen ›widernatürlichen‹ Gebrauch« (I 9,4). Insgesamt also: »Die Gnostiker sind darauf aus, die Worte Gottes ihren eigenen Mythen anzupassen« (I 3,6), und dies gilt für sie vor allem dort, wo die Schrift selbst als ›mehrdeutig‹ erscheint (ebd.)13.

In unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Art von ›Anpassung‹ steht auch der von Irenäus seinen Kontrahenten immer erneut vorgehaltene Eklektizismus, also ein durchaus selektiver Missbrauch der Schrift, als solcher bedingt durch die Auswahl von Schriftstellen, die in besonderem Maße der eigenen 12 So A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 47 sowie S. 11 ff. und S. 59 ff. Zum Einzelnachweis: ebd., S. 9 ff. Zur Terminologie einer ›Anpassung‹ an das eigene gnostische ›Plasma‹ vgl. I 13,1.6; 8,1; 9,1; an das eigene gnostische argumentum bzw. die eigene gnostische ›Hypothese‹: I 8,1; 9,2 f., sowie Clem. Al., Strom. III 4,39: »Sie pervertieren die Schriften zu ihrem eigenen Vergnügen«! 13 Vgl. weiter in diesem Sinne: Adv. Haer. I 1,3; 18,1; 20,2, und dazu im Einzelnen A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 9 ff., hier S. 10: »Gnostischer Schriftgebrauch lässt erkennen, dass nicht nur die Interpretation einiger Stellen, sondern die christliche Hypothesis, das argumentum veritatis, grundlegend verändert wird«.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

gnostischen ›Hypothese‹ gemäß sind14. Dies gilt – verständlicherweise – insbesondere im Blick auf die biblischen Gleichnisse und Parabeln (und ihre allegorische Auslegung!), die den gnostischen Rezipienten besonders geeignet erscheinen, in ihnen jene Mysterien wiederzuentdecken, an denen sie – von ihren eigenen Voraussetzungen her – ›eigentlich‹ interessiert sind15. Für Irenäus seinerseits, der im Übrigen durchaus einräumt, dass diese Parabeln viele (verschiedene) Deutungen zulassen (Adv. Haer. II 27,3: Qia autem parabolae possunt multas recipere absolutiones) und dass man sie, wie er sich recht drastisch ausdrückt, »in vielerlei Richtungen zerren kann« (II 10,1), ergibt sich aus der Problematik der Parabeln selbst – zunächst jedenfalls – die Schlussfolgerung: »Nichts darf man auf allegorische Weise deuten, sondern alles [in der Schrift] ist sicher, wahr und wirklich« (V 35,2), was ihn, den Irenäus, dann freilich nicht daran hindert, die Allegorese auch seinerseits zu praktizieren16. Offensichtlich (und auch konsequent) ist für ihn bei alledem, dass man nicht – wie er jedenfalls seinen Kontrahenten vorwirft – den biblischen Parabeln eine Vorzugsstellung einräumt, primär von ihnen her also den i.S. der Gnostiker angemessenen Zugang zur Schrift gewinnt. Wer so verfährt, wird – wie Irenäus meint – »immer suchen, aber nie finden« – und dies deshalb, »weil er die disciplina verworfen hat, die es [doch allein] ermöglicht, auch über das Suchen hinaus zum Finden zu gelangen« (Adv. Haer. II 27,2: Itaque secundum hanc rationem homo quidem semper inquiret, numquam autem inveniet, eo quod ipsam inventionis aiecerit disciplinam).

Das Stichwort disciplina meint in diesem Zusammenhang nicht nur eine bestimmte Methode bei der Schriftauslegung, sondern eher jene kirchliche ›Disziplin‹, die i.S. des Irenäus ihrerseits erst alle rechte Schriftauslegung normiert und reguliert. Konkret heißt das: Auch hier macht Irenäus angesichts der Willkür, ja der ›Sophisterei‹ der gnostischen Schriftauslegung (und speziell der gnostischen Gleichnisdeutung) am Ende wieder den Kanon der regula veritatis geltend: Sic enim apud nullum erit regula veritatis (Adv. Haer. II 27,1), darüber hinaus – besser wohl: auf dieser kanonischen Grundlage – aber auch den ›gesunden Menschenverstand‹! Im Unterschied zur ›Sophisterei‹ der gnostischen Exegeten ist hier, beim ohnehin schwierigen Geschäft sachgemäßer Schriftauslegung, ein sensus sanus angesagt und – mit ihm, wie N. Brox formuliert hat17, auch ein bestimmtes Maß an ›hermeneutischer Bescheidenheit‹, die nur das in der Schrift erforscht, quae quidem dedit in hominum potestatem Deus et subdidit nostrae scientiae (Adv. Haer. II 27,1). 14 Dazu vgl. bes. Adv. Haer. II, Praefatio 1: et quante ex scripturis eligentes adaptare conantur fictioni suae diligenter retulimus. Vgl. weiter I 19,1; 26,2; 27,2; III 11,7.9; 12,12 sowie N. Brox, Antignostische Polemik bei Christen und Heiden, S. 272 f. 15 Vgl. Adv. Haer. III 5,1: parabolas et aenigmata gelten den gnostischen Auslegern der Schrift als inennarabile mysterium. II 10,1: quia autem parabolas, quae quaeruntur ita ipsae quomodo dictae sint, male ad eum qui inventus est ab ipsis transfigurantes. 16 Zum Problem in dieser Hinsicht: N. Brox, Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 30 ff., hier bes. S. 32: »Für Irenäus ist es ein Unterschied, wer da allegorisiert. Tun des die Gnostiker, so tun sie Verbotenes. Tut es Irenäus, so legt er die Bibel aus«. 17 Zu Terminus und Sache: N. Brox, Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 35 ff.

4.1 Kirchliche Schriftauslegung versus gnostische Schriftauslegung

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Genau jene ›Hermeneutik der Bescheidenheit‹ ist nach dem Urteil des Irenäus nicht die Sache der Gnostiker. Für sie ist viel eher, i.S. des Irenäus jedenfalls, eine ›Hermeneutik der Arroganz‹ charakteristisch, als solche in dem die Welt überschreitenden Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Gnostiker begründet, also in einer Position der – so jedenfalls das Urteil des Irenäus – Maßlosigkeit, des ›Überschritts‹ über das dem Menschen zugemessene Maß hinaus: supergredientes legem humani generis (Adv. Haer. IV 38,4), was dann speziell wiederum für die Schriftauslegung zur Folge hat: ordinem quidem et textum Scripturarum supergredientes (Adv. Haer. I 8,1)18. Das Thema »Kirchliche Schriftauslegung versus gnostische Schriftauslegung« erscheint hier nunmehr variiert zum Thema »Hermeneutik der Bescheidenheit versus Hermeneutik der Arroganz«, einer »Arroganz, die nicht lernen und empfangen will«19, so dann aber auch ständig neu auf der Suche ist: quaerere quidem semper in excusatione habent, … invenire vero nunquam possunt (Adv. Haer. III 24,2). Was hier, in der Auseinandersetzung zwischen einem genuin christlichkirchlichem Schriftverständnis einerseits und einem genuin gnostischem Schriftverständnis anderseits vorliegt, das ist in der Tat, um eine Formulierung von A. LeBoulluec in seiner Monographie »La notion d’hérésie« zu gebrauchen20, ein »Konflikt der Interpretationen« – und ein notwendiger Konflikt deshalb, weil dieser Konflikt seinen Grund in einem je unterschiedlichen Ansatz bzw. in je unterschiedlichen Voraussetzungen der Interpretation hat. Spätestens an dieser Stelle ist somit auf die im eigentlichen Sinne grundlegende Voraussetzung, auf das hermeneutische ›Vorzeichen‹ gleichsam des von Irenäus so entschieden disqualifizierten Gebrauchs der Schrift durch seine gnostischen Kontrahenten einzugehen: Für Irenäus selbst und seine Position in diesem Konflikt stellen sich die Dinge relativ eindeutig dar: Angesichts der Selbstüberhebung und Arroganz seiner Kontrahenten kommt es für ihn zuerst auf die rechte Voraussetzung für das eigene Verständnis der Schrift an. Die ›wahre Gnosis‹, ein »Oppositionsbegriff zur ›fälschlich so genannten Gnosis‹ (seit 1 Tim 6,20)«, ist für ihn das Kriterium21. Das Problem in dieser Hinsicht hat N. Brox sehr klar formuliert: Faktisch nämlich besteht auch für Irenäus seine ›hermeneutische Orientierung‹ nicht im Bibeltext als solchem. Und d.h. konkret: »im Grunde ist eben doch die Glaubensregel als 18 Zu dieser Grundtendenz gnostischen Denkens: A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 11: »Gnostisches Denken ist im Grunde ein ›supergredi‹. Gnosis ist für Irenäus ein ›Über-Gott-hinaus-denken‹ …«, hier mit Verweis auf Adv. Haer. IV 19,1: Supra enim Deum factae sunt cogitationes ipsorum, supergressi cordibus suis ipsum magistrum suspicione quidem superelati et supergressi. Vgl. auch V 20,2, hier im Übrigen mit Verweis auf Röm 12,3! 19 So A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 11. 20 T. I: De Justin à Irénée (Prémière partie); t. II : Clément et Origène (Deuxième partie), in: Études Augustiennes, Paris 1985. 21 Vgl. dazu N. Brox, Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 37 ff.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

›wahre Gnosis‹ der Leitfaden … Folgerichtig bezieht sich Irenäus nicht einfach auf die Bibel, sondern auf die Bibel in der ihr im Lauf der Überlieferung vorgegebenen Auslegung«22. Mit dieser Position begibt sich Irenäus freilich zugleich in eine nicht zu leugnende »formale Parallelität zum Denken der häretischen Gnosis«: Auch die gnostischen Kontrahenten des Irenäus stehen ja auf dem Standpunkt, dass man »die Wahrheit [aus den Schriften] nur dann finden kann, wenn man die ›Überlieferung‹ nicht negiert« (Adv. Haer. III 2,1). Im Grunde also ebenso wie seine gnostischen Gegner hat Irenäus für seine Auslegung der Schrift eine »Autorität außerhalb der Bibel«, freilich mit dem Unterschied, dass für ihn jene ›Überlieferung‹ in der schriftlich weitergegebenen Überlieferung der regula veritatis besteht, während sich die Gnostiker für ihre Art der Auslegung auf jene Überlieferung berufen, die per vivam vocem weitergegeben wird (Adv. Haer. III 2,1, hier mit ausdrücklicher Berufung auf 1 Kor 2,6) Die »formale Parallelität zum Denken der häretischen Gnosis« ist offensichtlich, ebenso aber auch die darin sich aussprechende Tatsache, dass die konkrete Auslegung der Bibel – so wiederum N. Brox – »jeweils aus dem umgreifenden hermeneutischen Horizont einer vorausliegenden Gnosis« lebt, »hier der häretischen, dort der kirchlichen« die Irenäus auch die ›wahre Gnosis‹ nennt«23. Offensichtlich ist bei alledem nicht nur jene formale Parallelität der Position des Irenäus und der seiner Kontrahenten, sondern auch der grundlegende Unterschied zwischen beiden Grundpositionen: Während Irenäus in einem Überlieferungskontinuum steht, das primär durch die biblische Überlieferung bestimmt ist, gilt für seine gnostischen Kontrahenten, dass der ihnen eigene hermeneutische Maßstab von außerhalb der biblischen Überlieferung an diese herangetragen wird. Konkret bedeutet dies, dass die Gnostiker in ihr Verständnis der biblischen Überlieferung ein gänzlich andersartiges Verständnis von Gott, Welt und Mensch einbrachten24 – und dementsprechend auch die biblische Überlieferung an dieses andersartige, grundlegend nicht-christliche Verständnis von Gott, Welt und Mensch anzupassen genötigt waren. Mit einem Wort: ›Interpretationsprinzip‹ der biblischen Überlieferung ist für die Gnostiker eben die spezifisch gnostische Gottes- und Weltanschauung25. Konkret und zugleich paradigmatisch hat dieses ›Interpretationsprinzip‹ nach dem Zeugnis des Irenäus seinen Ausdruck zunächst in der gnostischen Rezeption von Mt 7,7 par Lk 11,9 gefunden, hier vor allem in der Sentenz »Suchet – so werdet ihr finden«. D.h. zugleich in der Auseinandersetzung um 22

So N. Brox, ebd., S. 39. So N. Brox, ebd., S. 39. 24 Vgl. K.-W. Tröger, Judentum – Christentum – Gnosis, S. 167. 25 So N. Brox, Offenbarung, Gnosis und gnostischer Mythos bei Irenäus von Lyon, S. 44. Zur gnostischen Hermeneutik ebd., S. 42 ff., sowie zur gnostischen Interpretation des Neuen Testaments: ebd., S. 56 ff., hier besonders S. 68: Die gnostische Exegese ist eine »gewaltsame, nachträgliche Verifizierung des gnostischen Mythos an der biblischen Überlieferung«. 23

4.2 »Suchet – so werdet ihr finden« als Programm gnostischer Schriftauslegung

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das rechte Verständnis dieser Sentenz, hat sich offensichtlich ein ganzes Kapitel der Auseinandersetzung zwischen der frühchristlichen Gnosis einerseits und dem kirchlichen Christentum andererseits niedergeschlagen26, ja, man kann sagen, dass ein wesentlicher Teil jener Auseinandersetzung im Zeichen einer je unterschiedlichen Interpretation dieser Sentenz ausgetragen worden ist – was i.S. des Irenäus im Blick auf seine gnostischen Kontrahenten zugleich heißt: quaerere quidem semper in excusatione habent …, invenire vero nunquam possunt (Adv. Haer. III 24,2).

4.2 »Suchet – so werdet ihr finden« als Programm gnostischer Schriftauslegung Zunächst ist jene Sentenz »Suchet – so werdet ihr finden«, der notwendige Zusammenhang also zwischen ›Suchen‹ und ›Finden‹, in der antiken Literatur eine weitverbreitete, geradezu sprichwörtliche Wendung gewesen27. Mt 7,7 par Lk 11,9 liegt – von daher gesehen – zunächst nur eine spezielle Ausprägung dieser Sentenz vor, hier nun freilich im Kontext der beiden anderen Sentenzen: »Bittet – so wird euch gegeben« und »Klopfet an – so wird euch aufgetan«. Damit ist auch schon deutlich, dass jene in der antiken Welt geläufige Sentenz ihre je besondere Bedeutung jeweils erst durch den situativen bzw. literarischen Kontext erhält, innerhalb dessen sie jeweils ›zitiert‹ wird. Dies gilt bereits im Blick auf den Gebrauch der Sentenz im Alten Testament28: Objekt des ›Suchens‹ (hebr. bqs bzw. drš) und des ›Findens‹ ist hier zwar noch nicht speziell die ›Schrift‹, umso grundlegender jedoch das ›Suchen und Finden‹ Gottes selbst, am eindrücklichsten wohl formuliert im Buch des Propheten Jeremia (29,13 f.): »Sucht ihr mich, so findet ihr mich. Wenn ihr von ganzem Herzen nach mir fragt, lasse ich mich von euch finden – Spruch des Herrn«29. In der späteren biblischen Weisheitsliteratur wird diese Grundlinie zwar noch durchgehalten – so z.B. im Sirachbuch (32,14): »Wer Gott sucht, nimmt Belehrung an / Wer sich ihm zuwendet, erhält Antwort« zugleich jedoch deutet sich hier bereits eine gewisse Akzentverschiebung an, und zwar hin zum ›Suchen‹ i.S. der Schriftforschung, so z.B. Sir 26 Zur Rezeption von Mt 7,7 par Lk 11,9 in der frühchristlichen Gnosis vgl. N. Brox, Suchen und Finden, S. 17–36, sowie K. Koschorke, ›Suchen und Finden‹ in der Auseinandersetzung zwischen gnostischem und kirchlichem Christentum, S. 51–65. 27 Zur Gattung der sententia vgl. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, §§ 872–879. In der Abfolge von ›Suchen‹ und ›Finden‹ ist diese Sentenz zugleich eine ›Sequenz‹: Auf das ›Suchen‹ folgt das ›Finden‹. Das ›Suchen‹ (oder auch ›fragen‹ bzw. ›forschen‹) ist in jedem Falle die conditio sine qua non für das ›Finden‹. 28 Vgl. dazu H. Spieckermann, Suchen und Finden, hier für das Alte Testament S. 305–311: »Suchen und Finden in Israel«. 29 Vgl. auch Dt 4,29–31; Ez 34,15 f.; dazu H. Spieckermann, ebd., S. 308 f., der in diesem Zusammenhang (S. 306) von der »Komplementarität des erkenntnisfreundlichen Gottes und des erkenntnissuchenden Menschen« spricht.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

6,27 f.: »Frage und forsche / Suche und finde – und hast du sie [die Weisheit] erfasst, so lasse sie nicht wieder los«. Die (personifizierte) ›Weisheit‹ ist nunmehr Gegenstand des ›Suchens‹ und des ›Findens‹ – auch wenn sich hier bereits eine gewisse Skepsis im Blick auf den (notwendigen) Zusammenhang vom ›Suchen‹ und ›Finden‹ zeigt, so z.B. in den ›Sprüchen Salomos‹, hier besonders deutlich Prov 1,28: »Dann werden sie nach mir rufen – doch ich höre nicht; sie werden mich suchen, aber nicht finden«30. In welchem Maße der jeweilige (zeitgeschichtliche) Kontext die traditionelle Rede von der Sequenz(!) des ›Suchens und Findens‹ bestimmt, zeigt sich im Alten Testament besonders deutlich im Buch Kohelet. Hier erreicht jene Skepsis hinsichtlich einer (notwendigen) Sequenz des ›Suchen und Findens‹ ihren Höhepunkt: ›Suchen – und kein Finden‹! – so kann man mit H. Spieckermann die Grundposition dieses Buches beschreiben – genauer noch: »Suchen und Finden als Gottes heilsame Bewegung zu seinem verstreuten Volk und Suchen und Finden als Gotteserkenntnis zwischen Bemühen und Geschenk – das ist das theologische Erbe, das aus Prophetie und Weisheit auf Kohelet gekommen ist. Er hat dieses Erbe genau gekannt. Was hat er aus diesem Erbe gemacht?«31. Die von H. Spieckermann betonte »Komplementarität von Suchen und Finden« ist hier offensichtlich an ihr Ende gekommen. An die Stelle jener Komplementarität ist nunmehr, in der Zeit der entsprechenden Reflexion des Kohelet, die Einsicht getreten, dass es zwar (immer noch) eine Zeit zum ›Suchen‹ gibt, die freilich als solche zugleich eine ›Zeit zum Verlieren‹ ist32. Skepsis, ja Resignation stehen hier am Ende des ›Suchens‹ – so z.B. Koh 7,25 und 27: »Aber sieh dir an, was ich, Beobachtung um Beobachtung, herausgefunden habe, … bis ich schließlich das Rechenergebnis fand – oder vielmehr: wie ich immer wieder suchte – und nichts fand«! Ist dies gleichsam das letzte Wort des Alten Testaments zum Thema ›Suchen und Finden‹ oder kann man – wiederum mit H. Spieckermann – mit Recht fragen, ob das, was im späteren Sirachbuch, hier besonders Sir 6,27 f., sowie in der Sapientia Salomonis, hier besonders SapSal 6,12–16, zum Thema gesagt wird, nicht doch so etwas darstellt wie ein »theologisches Kontrastprogramm« zur radikalen Skepsis des ›Kohelet‹?33. 30 Vgl. demgegenüber aber auch Prov 8,17: »Ich liebe alle, die mich lieben / und wer mich sucht, der wird mich auch finden« sowie SapSal 6,12–16, hier 6,14: »Wer sie [die Weisheit] am frühen Morgen sucht, braucht keine Mühe, er findet sie vor seiner Tür sitzen«. Zu einer in der biblisch-jüdischen Weisheitsliteratur sich abzeichnenden Skepsis vgl. auch das entsprechende Zeugnis aus der jüdischen Apokalyptik in 4 Esra 5,9 f.: »… dann wird sich die Weisheit verbergen, und die Einsicht sich in ihre Kammer zurückziehen. Sie wird von vielen gesucht, aber nicht gefunden …« 31 So H. Spieckermann, a. a.O., S. 311. 32 Koh 3,6; dazu H. Spieckermann, a.a.O., S. 314: Nach Koh 3,6 »gibt es zwar die Zeit des Suchens, nicht aber die Zeit des Findens … Eine ›neue‹ Ordnung hat sich aufgetan, die im Unterschied zur Komplementarität und Finalität von Suchen und Finden das sinnfeindliche Joch von Suchen und Verlieren (in dieser Reihenfolge) kennt«. Vgl. ebd., S. 321 ff., hier bes. S. 325. 33 Vgl. H. Spieckermann, ebd., S. 330 f., hier S. 331: »Hier [in Sir 5,27 f. und Sap Sal

4.2 »Suchet – so werdet ihr finden« als Programm gnostischer Schriftauslegung

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Naturgemäß ganz anders stellt sich der entsprechende Sachverhalt im genuin griechisch-hellenistischen Raum dar, hier insbesondere im Raum der Philosophie: Das ›Suchen‹ steht hier, wie nicht zuletzt der Apologet und Platoniker Justin bezeugt34, für das »durch den Logos« geleitete, also ›vernunftgemäße‹ Fragen und Forschen. Und dies gilt gerade auch dort, wo sich dieses ›Suchen‹ – hier i.S. des Fragens und Forschens – auf Gott als den »Schöpfer und Vater des Alls« richtet: Ihn zu ›finden‹, ist – so jedenfalls Platon – »eine schwierige Sache – und nun [gar noch] den Gefundenen allen [Menschen] weiterzusagen, geradezu unmöglich«35. In jedem Falle liegt es hier, bei Platon, an der Qualität bzw. Intensität des Fragens und Forschens – denn: nur unter der Bedingung, dass in der rechten Weise gefragt und geforscht wird, »wirst du auch finden«36. In jedem Falle jedoch: Die Möglichkeit, auf solche Weise zum ›Finden‹ zu gelangen, ist grundsätzlich gegeben – sofern jedenfalls das ›Suchen‹ vom Logos geleitet wird – und, so muss man speziell für Platon hinzufügen, sofern das ›Suchen und Lernen‹ am Ende in der ›Erinnerung‹, in der ›Anamnese‹ besteht37. Grundsätzlich auf derselben Linie liegt dann wohl auch die – am Ende freilich nur formale – Parallele zu Mt 7,7 bei Epiktet, Diss. I 28,20; IV 1,51: »Suche [nur] – und du wirst finden!«, die als solche lediglich der Aufforderung Ausdruck gibt, das im Menschen (als solchem) angelegte Potential der ›Eudämonie‹ zu aktualisieren. Auch der jüdische Religionsphilosoph Philo Alexandrinus ist mit dem relativ häufigen Gebrauch der Sentenz ›Suchen – Finden‹ zunächst durchaus in diesen philosophiegeschichtlichen Kontext einzuordnen: Dies gilt vor allem im Blick auf das (freie) Zitat aus Platons Timaios (28 C) in seiner Abhandlung über die ›Einzelgesetze‹ (SpecLeg I 32): »Den Vater und Lenker aller Dinge nun zu erkennen und zu erfassen, ist gewiss schwierig – doch darf man nicht darauf verzichten, nach ihm zu forschen«. Auch wenn er wenig später in dieser Hinsicht so etwas wie einen »anthropologischen Vorbehalt« geltend macht38, hat ihn dies nicht davon abgehalten, vor allem in seinem Traktat De fuga et inventione eine ganze Systematik zum Thema ›Suchen und Finden‹ zu entfalten, und zwar zunächst im Rückbezug auf die biblische

6,12–16] sind Kohelets kritische Reflexionen ferngerückt und Gottes einladendes Wort vom Suchen und Finden in der Bergpredigt eigentümlich nahegekommen«. 34 Justin, Apol. II 10,6, mit freiem Zitat von Platon, Timaios 28 C. 35 So Platon, Timaios 28 C. 36 So Platon, Gorgias 503 D. Vgl. weiter Apologie 23 B; Kratylos 440 D sowie die ausführliche Erörterung über den Charakter des ›Suchens‹ in Menon 80 D–81 E. 37 Dazu vgl. E. Heitsch, Finden, Wiederfinden, Erfinden. Überlegungen zu Platons Phaidon 76 c 4–5 (AAWLM .G. 1979, Nr. 14), Wiesbaden 1979, S. 15 f. 38 Spec Leg I 36: »Was nun das Wesen Gottes anlangt, so ist es freilich schwer zu erfassen und zu begreifen. Trotzdem muss man es zu erforschen suchen, soweit es möglich ist. Denn nichts Besseres gibt es, als den wahren Gott zu suchen, wenn es auch Menschenkraft übersteigt, ihn zu finden« (Übersetzung nach I. Heinemann, in: Philo von Alexandria, Die Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von L. Cohn, I. Heinemann u.a., Band II ).

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Überlieferung, hier insbesondere auf Dt 4,29 f.39. In diesem Zusammenhang heißt es sodann, was Philons ›Systematik‹ hinsichtlich dieses Themas betrifft, im § 120 von De fuga et inventione: »Es empfiehlt sich, auch die über das Finden und Suchen vom Gesetzgeber angestellten philosophischen Betrachtungen nicht unbesprochen zu lassen. Er lässt nämlich manche weder suchen noch finden, andere in beidem richtig handeln, andere wiederum nur in einem von beiden zum Ziel gelangen; von den letzteren sucht der eine Teil, ohne zu finden, der andere [aber] findet, ohne gesucht zu haben«40. Die Frage, ob die Wendung im § 120 als ein Hinweis darauf zu werten ist, dass Philo in den §§ 119–176 eine Vorlage oder doch zumindest eine ›ältere Grundlage‹ benutzt hat41, kann hier offenbleiben; keiner Frage jedoch bedarf es, dass dem Philon daran gelegen ist, die besonders im § 142 mit Zitat von Dt 4,29 f. betonte biblische Überlieferung ihrerseits mit der Überlieferung aus der platonischen Philosophie zu verbinden. Dementsprechend steht der dem Thema ›Suchen und Finden‹ gewidmete Exkurs in »De fuga et inventione« unter der Überschrift: (§ 120)42. Auf eben diesen philosophie- und religionsgeschichtlichen Kontext verweist schließlich auch der Gebrauch der Sentenz vom ›Suchen und Finden‹ in der sog. Areopagrede des lukanischen Paulus in Acta 17,27. Auch wenn sich neuerdings in der Kommentarliteratur zur ›Apostelgeschichte‹ eine Tendenz abzeichnet, in der Auseinandersetzung mit M. Dibelius’ Beitrag »Paulus auf dem Areopag« vom Jahr 1939 den ›Einfluss‹ einer ›hellenistisch-philosophischen‹ Interpretation in der Argumentation des lukanischen Paulus zugunsten einer hier aufgenommenen biblischen Tradition zurückzudrängen43, ist doch – seit dem Votum von M. Dibelius: »… hier muss sich zeigen, ob die Geschichtsbetrachtung des Alten Testaments oder die Weltbetrachtung der Philosophie … in der Areopagrede vorherrscht«44 – davon auszugehen, dass es bei dem hellenistisch gebildeten Lukas in dieser Hinsicht gewiss nicht um eine Alternative geht, sondern viel eher um eine (missionskerygmatisch begründete) Beziehung bzw. Verbindung zwischen dem hellenistisch-phi39

De fuga et inventione §§ 119 (Gen 16,7) und 142 (Dt 4,29 f.). Übersetzung nach: Philo von Alexandria, Die Werke in deutscher Übersetzung, Bd. VI , S. 82 f. 41 So W. Bousset, Jüdisch-christlicher Schulbetrieb in Alexandria und Rom, S. 33 f. Vgl. auch ebd., S. 128 ff., zu De fuga et inventione §§ 23–57. 42 Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Gebrauch der Termini und analog zu und in De fuga et inventione §§ 126.129.131; SpecLeg I 40. Zum Gebrauch der Sentenz ›Suchen – Finden‹ bei Philon vgl. Leg All III 47; De Sacr. Abel et Caini § 64; De praem et poen § 50 u.ö. 43 So J. Jervell, Die Apostelgeschichte (KEK 3), S. 448 f.; vgl. auch A. Weiser, Die Apg (Ökumen. TB zum NT 5/2, S. 473: »Lukas hat die biblische und philosophische Ausdrucksweise miteinander verbunden, ohne damit die heidnischen Inhalte zu übernehmen oder die biblischen preiszugeben«. 44 M. Dibelius, Aufsätze zur Apostelgeschichte, S. 33. 40

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losophischen Bildungsgut seiner Zeit einerseits und der biblisch-jüdischen Tradition andererseits. Ganz in diesem Sinne könnte die Rede vom ›Suchen‹ Gottes in Acta 17,27 zwar zunächst die Auffassung nahelegen, dass hier unmittelbar auf die entsprechenden Aussagen vom ›Suchen‹ Gottes im Alten Testament zurückgegriffen wird45; die Art und Weise, in der dies geschieht, weist jedoch eindeutig darauf hin, dass Lukas an dieser Stelle einen gebräuchlichen »Topos des hellenistischen Judentums« verwendet46. Die Befürchtung, dass auf diese Weise die ursprüngliche biblisch-jüdische Überlieferung in einen (stoischen) ›Pantheismus‹ oder – möglicherweise sogar – in einen ›hellenistischen Synkretismus‹ überführt wird, besteht jedoch keineswegs zu Recht47. Wohl aber ist von hier aus die in der Tat bemerkenswerte Zurückhaltung hinsichtlich der Sentenz vom ›Suchen und Finden‹ in Acta 17,27 zu verstehen: Die traditionelle Sentenz, die hier als Folgerung aus Acta 17,26 benutzt wird, ist keineswegs als eine Sequenz (i.S. einer notwendigen Abfolge von ›Suchen‹ und ›Finden‹) zu verstehen. Hier gibt es vielmehr am Ende nur eine hypothetisch zugestandene Möglichkeit: »… ob sie ihn wohl finden möchten«! Es ist also zumindest zweifelhaft, ob die von Gott gesetzte Möglichkeit auch zur Wirklichkeit gerät. Und wenn es am Ende von V. 27 im Sinne einer Begründung heißt, dass Gott »ja nicht fern von einem jedem von uns ist«, muss jenes ja keineswegs notwendig zum Erfolg, zum ›Finden‹ Gottes führen: »… der Erfolg bleibt offen, er muss nicht eintreten«48. Die Frage stellt sich hier von selbst: Gehört der Gebrauch der Sentenz vom ›Suchen und Finden‹ in Acta 17,27, was die Sequenz vom ›Suchen und Finden‹ betrifft, am Ende gar auf die Seite der Skepsis des Kohelet? Ausdruck also allenfalls noch einer vagen Hoffnung?49 Nach Lukas doch wohl eher i.S. einer Hoffnung, dass an die Stelle der Möglichkeiten, die eine ›natürliche Theologie‹ bzw. eine ›natürliche‹ Gotteserkenntnis eröffnet, durch Gottes eigene ›Rede‹ in Geschichte und Geschick Jesu eine ganz andere Möglichkeit und Wirklichkeit der Erkenntnis Gottes getreten ist. Auch wenn dies in Acta 17 nicht ausdrücklich gemacht worden ist, der weitere Kontext des lukanischen Geschichtswerkes (einschließlich seines ersten Teils!) bestimmt auch hier den konkreten Gebrauch der traditionellen Sentenz vom ›Suchen und Finden‹ im lukanischen Geschichtswerk. 45 So die Position von B. Gärtner, The Areopag Speech and Natural Revelation, Uppsala 1955, S. 158. 46 So E. Haenchen, Die Apostelgeschichte (KEK 3), 12. Aufl., S. 461, Anm. 5. Zitat: S. 465, mit Verweis auf Philon, Spec Leg I 32.36 und Sap Sal 13,6. 47 Zum Problem in dieser Hinsicht: G. Schille, Die Apostelgeschichte des Lukas (ThHKzNT 5), S. 358 f. 48 So G. Schneider, Die Apostelgeschichte (HthK V/2), S. 24 f. mit Anm. 89. Vgl. auch H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte (HNT 7), S. 100: Die Wendung »lässt das Finden in der Schwebe« (mit Verweis auf Philo, Spec Leg I 36). 49 Zum Problem in dieser Hinsicht vgl. J. Roloff, Die Apostelgeschichte (NTD 5), S. 262: Mit solcher Formulierung in Act 17,27 wird angedeutet, »dass es sich hier nicht um eine realisierte, sondern um eine hypothetische Möglichkeit des Menschen handelt«.

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So bedarf es auch keiner Frage, dass die traditionelle Sentenz vom ›Suchen und Finden‹ in der Gnosis wiederum eine ihrem eigenen Kontext entsprechende besondere Bedeutung gewinnt. Bezeichnend für die spezifisch gnostische Rezeption dieser Sentenz ist bereits das entsprechende Zeugnis der altkirchlichen Häresiologen, hier vor allem das Zeugnis des Irenäus in seiner »Entlarvung und Widerlegung der fälschlich so genannten Gnosis«: Obwohl Irenäus keineswegs an einer gleichsam ›neutralen‹ Darstellung der Position seiner Gegner interessiert ist, können die von ihm mitgeteilten Informationen über seine Gegner im Wesentlichen als durchaus zuverlässig gelten50. Dies gilt auch im Blick auf die grundlegenden hermeneutischen Fragen und Probleme der gnostischen Schriftauslegung, man kann geradezu feststellen, dass des Irenäus ›Entlarvung und Widerlegung‹ seiner Kontrahenten sich in weiten Teilen – ganz i.S. des »Schrifttheologen« Irenäus – als eine Auseinandersetzung um die Grundfragen hinsichtlich eines sachgemäßen Schriftverständnisses darstellt. Dabei ist es folgerichtig und von seiner eigenen Position her auch angemessen, dass er das Schriftverständnis seiner Kontrahenten als ein grundlegendes Missverständnis be- bzw. verurteilt: Eben dieses spezifisch gnostische Schriftverständnis ist nach dem Zeugnis des Irenäus aufs Engste mit jener Sentenz vom ›Suchen und Finden‹ von Mt 7,7 verbunden: »Suchet – so werdet ihr finden«, das ist geradezu ein Programmwort gnostischer Schriftauslegung, eine Sentenz und – zugleich – Sequenz, mit der die Gnostiker selbst ihre besondere und zugleich permanente Schriftforschung rechtfertigen51. Dies bezeugt – selbstverständlich auf seine polemische Weise – auch Irenäus selbst (Adv. Haer. II 13,10): De quibus et dixerit dominus: ›Quaerite et invenietis‹ [Mt 7,7], ut quaerant scilicet qui de Bythos et Sige, Nus et Alethia processerunt …, d.h.: »Von ihnen [den Gnostikern] soll der Herr gesagt haben: ›Sucht und ihr werdet finden‹ – und [dementsprechend] suchen sie nun …«52. Ist diese Aufforderung zum ›Suchen und Finden‹ von Mt 7,7 in diesem Sinne geradezu »un mot technique de la Gnose« geworden53, so versteht sich von daher auch, dass der einmal in Gang gesetzte ›Forschungsdrang‹ sie, die Gnostiker, am Ende gar nicht mehr 50 Zu Stil und Eigenart der antignostischen Polemik des Irenäus vgl. A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 1–50: »Detectio et eversio. Eine Analyse der irenäischen Polemik«; F.-M. Sagnard, La Gnose Valentinienne et le Témoignage de Saint Irénée, hier bes. Chap. VII : L’ironie dans l’oeuvre d’Irénée (S. 266–291), sowie A. LeBoulluec, La notion d’hérésie, S. 133–188 und S. 189–253. 51 Dazu die oben Anm. 26 genannten Arbeiten von N. Brox und K. Koschorke sowie F.-M. Sagnard, a.a.O. S. 266–291 (unter der Überschrift: »l’ironie dans l’oeuvre d’Irénée«), sowie A. LeBoulluec, La notion d’hérésie, S. 133–188 und S. 189–253. 52 Vgl. auch Adv. Haer. II 18,6: »Denn sie lassen den Soter (salvator) deshalb zu seinen Jüngern gesagt haben: ›Suchet …‹, damit sie den ungeborenen Bythus suchten …«; II 30,2: »Und jenes [Wort], was geschrieben steht: ›Suchet, so werdet ihr finden‹, interpretieren sie als zu dem Zweck gesagt, dass sie sich selbst über dem Demiurgen finden« (uti Demiurgum semetipsos adveniant). 53 So F.-M. Sagnard, La Gnose Valentinienne, S. 278. – Zur disciplina inventionis vgl. D. R. Rynders, La polémique de Saint Iréneé, S. 11.

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zur Ruhe kommen lässt, wozu Irenäus seinerseits wiederum kritisch vermerkt: Et quaerere quidem semper in excusatione habent, caecutiunt enim, invenire vero numquam possunt (Adv. Haer. III 24,2) oder auch: Itaque secundum hanc rationem quidem semper inquiret, numquam autem inveniet, eo quod ipsam inventionis abiecerit disciplinam54. Im § 92 seiner später verfassten »Darstellung der Apostolische Verkündigung« kann Irenäus, ohne dass hier eine ausdrücklich anti-gnostische Stellungnahme deutlich wird, schließlich so weit gehen, für die ›Erkenntnis‹ der Christen den Gebrauch der Sentenz ›Suchen und Finden‹ in Jes 65,1 geltend zu machen: Manifestus factus sum [his] qui me non quaerebant; inventus sub [ab his] qui me non interrogabant; et dixi: Ecce adsum, genti, [his] qui non invocaverunt nomen meum. Zumindest implicite handelt es sich auch hier zugleich um eine Stellungnahme gegen den Such- und Forschungsdrang der Gnostiker: ›Das ist‹ – so bemerkt N. Brox zur genannten Stelle aus der ›Epideixis‹ des Irenäus55 – »der autoritative Beweis und die Selbstbestätigung: Die Wahrheit will als Offenbarung lediglich erwartet, angenommen und festgehalten, nicht aber erforscht, gesucht, tiefer erkannt werden …«. Und das ist am Ende wohl auch, um mit H. Blumenberg zu formulieren56, »die Überwindung der Gnosis als ›Aufhebung‹ ihres Erkenntnisanspruches in der christlichen Lehre«. Angesichts dessen erscheint die Frage nicht überflüssig, wie es eigentlich zu jenem spezifisch gnostischen Verständnis der Sentenz von Mt 7,7 i.S. eines dem Menschen bzw. dem Gnostiker auferlegten fortdauernden ›Suchens‹ gekommen ist. Die Antwort ist eindeutig: Grundlegend dafür ist wohl die Isolierung und damit auch Verabsolutierung dieser Sentenz aus ihrem ursprünglichen gleichsam ›evangelischen‹ Kontext in Mt 7,7 f. Hier hat die Sentenz vom ›Suchen und Finden‹ ursprünglich ihren Ort in der ›Klammer‹ gleichsam zwischen zwei weiteren Sentenzen, in denen jeweils das ›Empfangen‹ betont erscheint: »Bittet – so wird euch gegeben« und »Klopfet an – so wird euch aufgetan«. In diesem Kontext ist die traditionelle Sentenz vom ›Suchen und Finden‹ jedenfalls nicht als ein Aufruf zu verstehen, das dem Menschen als solchen innewohnende Such- und Forschungspotential bis zum Äußersten zu aktualisieren. Im ursprünglichen Kontext von Mt 7,7 ist vielmehr – wie insbesondere aus der Begründung der Aufforderung von Mt 7,7 in 7,8 hervorgeht, darüber hinaus aber auch aus der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Mt 7,7 in der Exegese der altkirchlichen Kommentare57 – das ›Geschenkhafte‹ des Findens betont; eben dies will ja auch die Rede von einem 54 Adv. Haer. II 27,2. Vgl. auch IV 9,3: Für den, der sich aufmacht, »einen anderen Gott neben dem zu erfinden, der von Anfang an verkündet worden ist«, gilt: quaerent quidem semper, invenient autem nunquam Deum, sowie V 20,2 (mit Bezug auf 2 Tim 3,7): semper quaerentes et nunquam verum invenientes 55 N. Brox, Suchen und Finden, S. 27. 56 H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. 339. 57 Vgl. dazu Origenes, Comm. in Matth., Fragment 138 f. Weitere Belege bei K. Beyschlag, Zur Geschichte der Bergpredigt in der Alten Kirche, S. 307 f. (Anm. 35).

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›evangelischen Kontext‹ der Sentenz von Mt 7,7 bedeuten: Das ›Finden‹ des Gesuchten ist eben nicht eine vom Menschen als solchem zu erbringende Leistung. Abgelöst von diesem Kontext kann bzw. muss diese Sentenz in der Tat als ein Aufruf zur anhaltenden, gleichsam unermüdlichen Anstrengung des ›Suchens‹, Fragens und Forschens verstanden werden, die erst im Finden, in der Entdeckung des ›eigentlichen‹ Sachverhalts ihr Ziel erreicht – und in diesem Sinne am Ende auch die vom Menschen zu erbringende Bedingung des Findens ist. A. Bengsch hat dazu, speziell zu Irenäus, Adv. Haer. III 24,2, vermerkt: »… im Grunde ist es Arroganz, die nicht lernen und nicht empfangen will«58. Es ist wohl kein Zufall, dass der Alttestamentler H. Spieckermann es gewesen ist, der in seiner bereits genannten Untersuchung zum Thema ›Suchen und Finden in Israel‹ eingangs bereits den ›evangelischen‹ Sinn jener Sentenz von Mt 7,7 par Lk 11,9 nachdrücklich betont hat, indem er auf das für das Alte Testament charakteristische komplementäre Verhältnis vom ›Suchen‹ und vom ›Finden‹ aufmerksam macht – und in diesem Zusammenhang am Ende auch auf den ›evangelischen‹ Kontext der Sentenz von Mt 7,7 verweist: »Die Einheit von bittender und begabter Existenz wird in der Bergpredigt durch die Zusammengehörigkeit von Suchen und Finden, von Anklopfen und Auftun paradigmatisch verstärkt«59. – Bedarf es angesichts dessen noch des Hinweises darauf, dass jene ›nicht-evangelische‹ Interpretation von Mt 7,7 in der Gnosis ihren Grund letztlich in einer dezidiert nicht-christlichen Anthropologie hat – in der Auffassung nämlich, dass der Mensch selbst, genauer: der Gnostiker, der am Ende allen seines Suchens und Forschens zum ›Finden‹ gelangt, zur Entdeckung bzw. zur ›Erkenntnis‹ seines eigentlichen Seins – dass eben dieser Mensch ja von seinem Ursprung her an der göttlich-jenseitigen Natur Anteil hat und – so gesehen – nur noch darauf bedacht sein muss, in seiner ›Erkenntnis‹ die ihm eigene ursprüngliche Potenz zu re-aktivieren bzw. zu aktualisieren … Von der Position des Irenäus her gesehen: Hier wird in der Tat das ›überschritten‹, was nach Irenäus die ›Ordnung der Schrift‹ ausmacht: »ordinem quidem et textum Scripturarum supergredientes …«60. Der bisher vom Zeugnis des Irenäus ausgehende Befund hinsichtlich der Sentenz vom ›Suchen und Finden‹ als Programmwort gnostischer Rezeption des Neuen Testaments wird durch das Zeugnis des Tertullian, und zwar vor 58 A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 11. – Zum Stichwort ›evangelischer Kontext‹ vgl. auch A. LeBoulluec, La notion d’hérésie, S. 242: »cette parole du Seigneur, dédachée de son sontexte évangélique … joue un ròle capital dans la gnose chrétienne et dans le combat qui lui livre de christianisme ecclésiastique«. 59 Alle Zitate aus H. Spieckermann, Suchen und Finden. Kohelets kritische Reflexionen, S. 305. Vgl. ebd.: »Dass das Suchen … in der Gewissheit des Findens … unternommen werden darf, hat einen alttestamentlichen Hintergrund«. 60 Irenäus, Adc. Haer. I 8,1. A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 11, stellt zu dieser Stelle mit Recht fest, dass solches »Überschreiten« von »Ordnung und Reihenfolge der Schriften« in der für das gnostische Denken charakteristischen Grundtendenz des supergredi begründet ist.

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allem in seiner Schrift De praescriptione haereticorum, im Wesentlichen bestätigt, ja noch weiter vertieft: Wie bereits bei Irenäus geht es auch hier um einen aktuellen Streit um die rechte Schriftauslegung, bei dem die Sentenz von Mt 7,7 im Mittelpunkt steht; ja Tertullian dokumentiert noch über Irenäus hinaus, dass die Sentenz von Mt 7,7 zu einer Art von »Stiftungstext für das besondere, soteriologisch qualifizierte gnostische Fragevermögen und Frage-Niveau geworden ist«61. Mt 7,7, das ist die Bibelstelle, quem et nostri praetendunt ad ineundam curiositatem, et haeretici incukcant ad importandum scrupulositatem. Scriptum est, inquiunt, quaerite et invenietis (De Praescr. Haer. 8,1) – ein Sachverhalt, der den Tertullian alsbald zu der Mahnung veranlaßt: Interim ex fiducia probationis praevenio admonens quosdam, nihil quaerendum ultra quod crediderunt id esse, quod quaerere debuerunt: ne quaerite et invenietis sine disciplina rationis interpretentur (ebd. 9,6). Hier geht es offensichtlich nicht nur um die Zurückweisung der Berufung der Häretiker auf Mt 7,7; vielmehr gerät hier die jeweilige Deutung geradezu zum »Maßstab für Nähe und Ferne zur kirchlichen Rechtgläubigkeit«62, die Schrift »De praescriptione haereticorum« des Tertullian zugleich zu einer Apologie einer kirchlich-legitimen Auslegung von Mt 7,7 werden lässt. Paradigmatisch für die Position des Tertullian ist in dieser Hinsicht vor allem das 9. Kapitel seiner Streitschrift: Im Gegensatz zu seinen Kontrahenten, die bei ihrer Art von Schriftauslegung »über das hinaus fragen, was sie zu fragen schuldig waren« (ultra quod crediderunt id esse, quod quaerere debuerunt), und auf diese Weise Mt 7,7 sine disciplina rationis interpretieren (c. 9,6), geht Tertullian von dem Grundsatz aus: unum itaque certum aliquid institutum esse in Christo, quod credere omni modo debeant nationes, et idcirco quaerere, ut possint, cum invenerint, credere. Unius porro et certi instituti infinita inquisition non potest esse (c. 9,3 f.). Konkret heißt das: quaerendum est donec invenias, et credendu ubi inveneris – et nihil amplius, nisi custodiendum, quod credidisti … – also: »Man muß suchen, bis man findet, und glauben, wenn man gefunden hat – und [dann] ist nichts [mehr] weiter zu tun, als zu bewahren, was man im Glauben gefunden hat«63. In diesem Sinn gibt es für Tertullian durchaus ein bestimmtes Maß des ›Suchens‹, und zwar ›den Glauben‹ der fides quae creditur: Ad hoc ergo quaeris, ut invenias, et ad hoc invenis ut credas. Omnem prolationem 61 So N. Brox, Suchen und Finden, S. 21. In welchem Maß dies der Fall ist, belegt besonders deutlich Tertullian, De praescr. haer. 43,2: »›quaerite et invenietis‹ ubique meminerunt«, d.h.: »Ihr (sc. der Häretiker) ›Suchet, so werdet ihr finden‹ vergessen sie nirgends«. Vgl. auch K. Koschorke, Suchen und Finden, S. 58; ders., Die Polemik der Gnostiker, S. 200 f. 62 So K. Koschorke, Suchen und Finden, S. 60. 63 Vgl. auch ebd., c. 10,2–4: Igitur quaerendum est, quod Christus instituit … utique donec invenias. Invenisti autem cum credidisti. Nam non credidisses, si non invenisses; sicut nec quaesisses, nisi ut invenires. Ad hoc quaeris, ut invenias, et ad hoc invenis ut credas. Omnem prolationem quaerendi et inveniendi credendo fixisti.

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quaerendi in iveniendi credendo fixisti … (c. 10,4 f.). Ist also ›der Glaube‹ einmal ›gefunden‹, so hat alles ›Suchen‹ und Fragen sein Ende gefunden: »Wo nämlich wäre denn das Ende des Suchens, die finis quaerendi? Ubi expunctio inveniendi? – apud Marcionem? sed et Valentinus propinit: quaerite et invenietis …« (c. 10,7 ff.). Solches ›Maß des Glaubens‹ ist bei den Kontrahenten des Tertullian nicht gegeben. Sie, die – wie bereits Irenäus (Adv. Haer. I 8,1) kritisch vermerkte – die »Ordnung der Schrift überschreiten«, sind auch in dieser Hinsicht maßlos, indem sie – man vergleiche noch einmal c. 9,6! – ultra quod crediderunt hinaus, also sine disciplina rationis suchen und fragen, was am Ende heißt: Sie suchen und fragen fortwährend – und kommen auf solche Weise niemals zum Glauben (c. 10,6: semper quaeremus et nunquam omnino credemus). Bei alledem ist es für Tertullian selbst keine Frage, dass ›der Glaube‹ – eben als fides quae creditur – eine disciplina erfordert, eben die von ihm geforderte disciplina rationis (c. 9,6). Und deren Maß und Norm ist für ihn, wie bereits für Irenäus, in nichts anderem gegeben als in der regula fidei bzw. veritatis, sie also auch das Kriterium aller sachgemäßen Schriftauslegung: Quaeremus ergo in nostro, et a nostris, et de nostro: idque dumtaxat, quod salva regula fidei potest inquaestionem devenire64. Nach c. 19,1 ist die Konsequenz dementsprechend: »Nicht also auf die Schrift [als solche] hat man sich zu berufen, vielmehr ist zuvor die Frage zu stellen«, quibus competat fides ipsa, cuius sint scripturae, a quo, et per quos, et quando, et quibus est tradita disciplina, qua fiunt Christiani (c. 19,2) – denn, wie es dann im c. 9 weiter heißt: Ubi enim apparuerit esse veritatem disciplinae et fidei Christianae, illic erit et veritas scripturarum, et expositionem, et omnium traditionem Christianorum (c. 9,3)65. Von daher gesehen kann man sagen, dass Tertullian – um mit H. Blumenberg zu formulieren – die »Differenz zwischen der Gnosis und seinem Glauben« am Ende »auf die verschiedene Interpretation des biblischen Befehls: Suchet und ihr werdet finden« reduziert. »Die Gnosis [dagegen] perenniert dieses Bedingungsverhältnis, sie hält der Unruhe des Suchens immer weitere Chancen des Findens offen, während Tertullian in dem einmaligen Akt der Annahme des Glaubens das Ende des Suchens und die Totalität des Gefundenhabens lokalisiert«66. Ob man daraus, wiederum mit H. Blumenberg, die Folgerung ziehen kann, dass die Gnosis für Tertullian ›ihre Wurzel in der obstinaten Insistenz des Weiterfragens‹ hat (ebd., S. 345), wäre gewiss kritisch zu fragen; Tertullian seinerseits illustriert jedenfalls den Widersinn 64 De praescr. haer. 12,5. Vgl. auch c. 13,1.6 sowie bes. c. 14,3 f. und 14,5: adversum regulam nihil scire omnia scire est. Weiter: ebd., c. 17,2 f; 21,6; 27,1 sowie c. 37,1 und 44,7–9. Zum differenzierenden Sprachgebrauch des Tertullian hin sichtlich des Verständnisses von regula vgl. H. Ohme, Art. Kanon (Begriff), in: RAC , Lfg. 154/155, Sp. 11 f. 65 Zur Sache vgl. auch c. 37, 1–3. 66 Zitate nach H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. 346 und S. 345.

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solchen Verhaltens seiner Kontrahenten am biblischen Gleichnis vom ›verlorenen Groschen‹: Semel dixerim, nemo quaerit, nisi qui aut non habuit, aut perdidit. Perdiderat unam ex decem didrachmis anus illa, et ideo quaerebat, ubi tamen invenit, quaerere desiit – mit der Schlußfolgerung: Adeo finis est et quaerendi, et pulsani et petendi. Petenti enim dabitur, inquit, et pulsanti aperietur, et quarenti invenietur67. In diesem Sinn ist das fortdauernde ›Suchen‹ der Häretiker als solches schon der Beweis dafür, dass sie am Ende gar keine ›Christen‹ sind – denn: Fides, inquit, tua te salvum fecit, non exercitatio scripturarum (c. 14,3) – also: Cum enim quaerunt adhuc, nondum tenent: cum autem non tenent, nondum crediderunt; cum autem nondum crediderunt, non sunt Christiani (c. 14,10). Und demgegenüber nun des Tertullian eigene Position – und damit zugleich die des ›wahren Christen‹: »Wir indes bedürfen seit Jesus Christus des Forschens nicht mehr, auch nicht des Untersuchens, seitdem das Evangelium verkündet wurde. Wenn wir glauben, so müssen wir über den Glauben hinaus (ultra credere) nichts mehr [wissen]« (c. 7,12 f.). An dieser Stelle zeigt sich nun auch in aller Eindeutigkeit, dass die Kontrahenten des Tertullian ihrerseits von einer gänzlich andersartigen hermeneutischen Voraussetzung für die ihnen eigene Art von Schriftauslegung ausgehen. Von diesem so klar und eindeutig erscheinenden Befund bei Irenäus und bei Tertullian her gesehen, könnte man immerhin geneigt sein, in der jeweils unterschiedlichen Art der Rezeption von Mt 7,7 seitens der frühchristlichen Gnostiker einerseits und der ›frühkatholischen Väter‹ andererseits ein Kriterium für eine eindeutige Unterscheidung zwischen ›Rechtgläubigkeit und Ketzerei‹ zu sehen – zurückhaltender formuliert: einen »Indikator für Nähe und Ferne zur kirchlichen Rechtgläubigkeit«68. Am Ende freilich muss die soeben an Irenäus und Tertullian exemplifizierte Betrachtungsweise als allzu einfach erscheinen. Es ist jedenfalls gewiss kein Zufall, dass die insbesondere von Tertullian favorisierte Position – die Rezeption von Mt 7,7 als »Indikator für Nähe und Ferne zur kirchlichen Rechtgläubigkeit« – in der weiteren Geschichte des Problems der Schriftforschung in der Alten Kirche nicht maßgeblich geworden ist. Neben der von Tertullian vertretenen Position – das ›Suchen‹ von Mt 7,7 hat im ›Finden‹, d.h. im einmal angenommenen Glauben, sein Ende und Ziel gefunden – ist es offensichtlich insbesondere die Schriftstelle Joh 5,39 gewesen, die in der weiteren Geschichte der Schriftforschung in der Alten Kirche, und zwar insbesondere bei Clemens Alexandrinus und Origenes eine besondere Rolle gespielt hat: Beide, die man auch die ›kirchlichen Gnostiker‹ genannt hat, stehen auch hinsichtlich der Rezeption von Mt 7,7 offensichtlich ›zwischen den Fronten‹ der frühchristlichen Gnostiker einerseits und der ›frühkatholischen Väter‹ Irenäus und Tertullian 67 68

De praescr. haer. 11,3–7. Vgl. dazu B. Aland, Gnosis und Kirchenväter, S. 179–181. So K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 201.

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andererseits. Beide, Clemens Alexandrinus wie auch Origenes, zeigen – je auf ihre Weise – in aller Eindeutigkeit an, dass das im Blick auf die Schriftforschung verstandene ›Suchen und Finden‹ von Mt 7,7 – sofern jedenfalls die von daher motivierte Schriftforschung ihr Fundament im ›Kerygma‹ und damit auch im ›Gemeindeglauben‹ hat – durchaus i.S. eines dynamischen und – damit zugleich – fortdauernden Prozesses verstanden werden kann, auf diese Weise aber auch i.S. eines Prozesses, der – um mit K. Beyschlag zu formulieren69 – »das theosophische Programm der häretischen Gnosis in die Form einer kirchlichen Theologie verwandelt«. Voraussetzung für die Position der ›kirchlichen Gnostiker‹ im Blick speziell auf die Rezeption von Mt 7,7 ist die – auf Grund von 1 Kor 1,21 und 2,4–7 getroffene – Unterscheidung zwischen dem ›schlichten‹, dem kirchlichen Kerygma zugeordneten ›Gemeindeglauben‹ einerseits und jener ›Weisheit für die Vollkommenen‹, von der der Apostel Paulus 1 Kor 2,6 geschrieben hat andererseits70. Auf Grund solcher Unterscheidung, mit der Clemens Alexandrinus wie auch Origenes der spezifisch gnostischen Position relativ nahekommen, wird die Sentenz von Mt 7,7 für beide geradezu zu einem Leitmotiv für ihre Schriftforschung71, genauer noch: für den andauernden Prozess einer christlich-kirchlichen Schriftauslegung. Das griechische Verbum , ›suchen, forschen‹ gewinnt in diesem Zusammenhang den Charakter eines term. techn für die Schriftauslegung bzw. Schriftforschung72. Auf diese Weise ergibt sich nicht nur eine Entsprechung zwischen dem griechischen Verbum einerseits und dem hebräischen bzw. aramäischen drš andererseits73, sondern zugleich auch eine Analogie zu einer (gnostisch-?) spekulativen Schriftauslegung, wie sie, eben unter dem Stichwort , offensichtlich bereits zur Zeit der neutestamentlichen Pastoralbriefe praktiziert worden ist74. Nicht zuletzt aber auch in diesem Zusammenhang: Hier ergibt sich auch eine, zumindest formale Entsprechung zur christlich-häreti69 K. Beyschlag, Zur Geschichte der Bergpredigt in der Alten Kirche. ZThK 74 (1977), S. 291–322, hier S. 312, Anm. 6. – Zur Sache insgesamt (unter dem Aspekt von Mt 7,7) vgl. N. Brox, Suchen und Finden, S. 30–34; K. Koschorke, Suchen und Finden, S. 63 f.; ders., Die Polemik der Gnostiker, S. 201 f. 235–237. Speziell zu Clemens Alexandrinus vgl. A. LeBoulluec, La notion d’hérésie, S. 382 ff. und S. 385 ff. 70 1 Kor 2,6. Vgl. auch Hebr 5,13 f. Dazu speziell für Clemens Alexandrinus: W. Völker, Der wahre Gnostiker nach Clemens Alexandrinus, S. 301–445, hier bes. S. 384 ff.: »Gnosis als Schriftauslegung«. 71 So A. LeBoulluec, Clément d’Alexandrie, Les Stromates V, t. II (SC 279), S. 69: »c’est un ›Leitmotiv‹ chez Clément«. 72 Vgl. W. Mizugaki, ›Spirit and Search‹, S. 579: »We conclude, therefore, that about the time Origen was formulating his hermeneutical ideas for On First Principles, he was already aware that the ›seek and find‹ od Matt 7:7 applied to the interpretation of scripture generally«. 73 Vgl. A. Schlatter, Das Matthäusevangelium, zu Mt 7,7 sowie Strack-Billerbeck I zu Mt 7,7; II , S. 467 zu Joh 5,39. 74 Vgl. hier bes. 1 Tim 1,4; 6,4; 2 Tim 2,23 und Tit 3,9. W. Schenk, in: ARNW II /25.4, S. 3429, sieht im Begriff an den genannten Stellen einen Hinweis auf »die kennzeichnende gnostische Grundbeschäftigung ›Suchen und Finden‹«.

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schen bzw. gnostischen Schriftauslegung, und zwar in dem Sinne, dass beide, Clemens wie auch Origenes, den Prozess einer kirchlichen Schriftforschung als einen andauernden, die Existenz des ›vollkommenen‹ Christen stetig begleitenden Prozess betrachten. Konkret heißt dies, dass das nach Mt 7,7 einst von Jesus selbst geforderte ›Suchen‹ keineswegs, wie noch Tertullian in seiner Auseinandersetzung mit den Häretikern meinte, mit dem ›ZumGlauben-Gekommensein‹ an sein Ziel und Ende gelangt ist; vielmehr ist hier nunmehr, bei Clemens und Origenes, der ›Glaube‹ seinerseits wiederum die Basis und Voraussetzung für ein – nunmehr freilich kirchlich legitimiertes – ›Suchen und Finden‹: »Glaube zuerst – und du wirst finden«, nämlich »vielen heiligen Nutzen«75. Bezeichnend für diese gegenüber Irenäus und Tertullian deutlich veränderte Position ist bereits der (mit Zitat von Mt 7,7 verbundene) Hinweis des Clemens Alexandrinus (Strom. V 11,1) auf den »Glauben, der nicht müßig und für sich bleiben soll«, der sich vielmehr mit dem (fortdauernden) ›Suchen und Forschen‹ verbinden soll, um auf diese Weise im Glauben ›voranzuschreiten‹, denn – so die Begründung bei Clemens (Strom. I 51,4 f.) – am Ende ist es ja doch der ›Logos‹ selbst, der zum ›Suchen und Finden‹ nicht nur auffordert, sondern auch »das Suchen ins Finden überführt, dabei nur das leere Geschwätz verbannt«, im Übrigen aber »die Forschung ( ), die den Glauben befestigt, billigt«. Im selben Zusammenhang ist es dann auch kein Zufall, dass Clemens solche Aufforderung zu andauernder Schriftforschung mit den entsprechenden Zitaten aus der griechischen Literatur untermauert, so in Strom. V 11,2 f. mit Verweis auf Sophokles und Menander, während er an anderer Stelle (Strom. IV 5,1) sogar das Orakel der Pythia bemüht: »Du wirst finden, wenn du [nur] suchst«! – Ganz in diesem Sinn bezieht dann auch Origenes in seinem Werk »Contra Celsum« (V. 16) im Rahmen seiner Kritik an den simpliciores ausdrücklich Stellung gegen jene, die nicht zur Schriftforschung bereit bzw. imstande sind – obwohl es doch in dieser Hinsicht eine ausdrückliches Gebot Jesu selbst gibt, 76 nämlich Joh 5,39: . Dem entspricht es wiederum, wenn er in seiner Homilie zu Num 17,4 ausdrücklich betont, dass es gar kein Ende für jenes ›Suchen‹ und ›Forschen‹ geben kann: quoniam finis nullus est, quis enim terminus Dei erit? – und diese ›Weisheit Gottes‹ ist es ja, wie es hier weiter heißt, imcomprehensibilis … et inaestimabilis. Was hier, in dieser Homilie zu Num 17 vorliegt, ist eine ausgesprochen theologische Begründung für ein fortdauerndes ›Suchen‹ des Christen. Und so heißt es 75 So Origenes, in: Philocalia 1,28 (= ebd. 10,1). Vgl. auch ebd., 12,2 (2 Tim 3,16) und 13,4. Dazu M. Harl, in: SC 302, S. 147 f. und S. 403 f.; Hom. in Ez. 14,2. – Zum (Gemeinde-)Glauben als Ausgangspunkt und Basis eines ›kirchlich legitimierten Suchens und Findens‹ vgl. auch Clemens Alexandrinus, Strom. II 91,5; Paid. I 91,3 sowie Strom. V 12,1; VII 55,6. 76 Zur Kritik des Origenes an den simpliciores vgl. neben c. Cels. V 16 auch seinen JohKommentar (I 28 sowie Fragment CXIII ) sowie K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 202 und S. 236 f.

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auch im Kommentar des Origenes zum JohEvangelium (XXXII 21), hier im Zusammenhang der Interpretation von Ex 4,6 f.: »Zu erklären, wofür das Zeichen [von Ex 4,6 f.] ein Symbol sein könnte, ist schwierig und übersteigt unsere Fähigkeiten« – gleichwohl »besteht kein Anlass, vom Suchen abzulassen …«. – Grundlegend für Origenes ist bei alledem, dass er sich mit seiner Forderung eines fortdauerndes ›Suchens‹ des (›vollkommenen‹) Christen auf ein eigenes Wort bzw. ein ausdrückliches Gebot Jesu selbst berufen kann, nämlich auf Joh 5,3977; dies unter der in der altkirchlichen Auslegung von Joh 5,39 bis hin zu Cyrill von Alexandria allgemein üblichen Voraussetzung, dass an dieser Stelle im JohEvangelium ein Imperativ vorliegt78. Das von Joh 5,39 steht für Origenes – wie im Übrigen auch bereits für Tertullian (De praescr. haer. 8,6 f.) – parallel zum von Mt 7,7. Noch gewichtiger für das Verständnis des Imperativs in Mt 7,7 bei Clemens und bei Origenes ist, dass beide kirchliche Gnostiker – ganz i.U. zur Rezeption von Mt 7,7 in der Gnosis – diesen Imperativ in die Reihe der Imperative von Mt 7,7 – und damit zugleich in den ›evangelischen Kontext‹ von Mt 7,7 integrieren. Mit Mt 7,7 wird bei Clemens wie auch bei Origenes eine theologische Einheit verstanden. Konkret bedeutet dies: Die Aufforderung zum ›Suchen‹ und ›Forschen‹ steht hier gleichsam in der Klammer des einerseits und des andererseits. Dieser Sachzusammenhang aller drei Verben von Mt 7,7 hat keineswegs zur Folge, dass auf solche Weise nun auch die beiden Imperative und – wie N. Brox gemeint hat79 – »mit in den gnostischen Sog gezogen werden«. Solche Integration der Aufforderung zum ›Suchen‹ in den ursprünglichen Kontext von Mt 7,7 hat vielmehr zur Folge, dass das ›Suchen‹ nun nicht mehr als ein gleichsam ›autonomes‹ Tun des Menschen verstanden wird, sondern, was jedenfalls das ›Finden‹ betrifft, als ein von Gott gewährtes Widerfahrnis – so jedenfalls offensichtlich das Verständnis von Mt 7,7 bei Clemens Alexandrinus (Strom. V 16,6): . Dies schließt keineswegs aus, dass Clemens die Probleme und die Schwierigkeiten dieses Weges des ›Suchens und Findens‹ nicht gesehen hätte: »Eng und schmal ist der Weg des Herrn [Mt 7,14] und Gewalttätigen gehört das Reich Gottes« (Mt 11,12) – weshalb es ja heißt: »Suche und du wirst finden, sofern du dich denn auf dem wahren 77 De princ. IV 3,5 ist dementsprechend von Joh 5,39 als einem »Gebot des Retters« die Rede und entsprechend c. Cels. VI vom »Gebot Jesu«. 78 Zum Problem in dieser Hinsicht vgl. bereits W. Bauer, Das Joh-Evangelium (HNT 6), 2. Aufl. 1925, S. 86, der für die Interpretation von Joh 5,39 als Imperativ auf Tertullian, Origenes, Methodius von Olympos, Johannes Chrysostomus und Theodor von Mopsuestia verweist – mit dem Zusatz: »Erst Cyrill Alexandrinus verwirft diese Deutung zugunsten des Indikativs, der schon wegen des folgenden [V. 40] vorzuziehen ist«. 79 N. Brox, Suchen und Finden, S. 30. Ebd.: »Das Element des Christentums ist – ganz gnostisch – die Suche«.

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königlichen Weg hältst und nicht [von diesem Wege] abkommst« (Strom. IV 5,3). Hier geht es also in der Tat auch – um mit N. Brox zu formulieren80 – um die »engagierte Bemühung des Menschen«. Ist diese ›Bemühung‹ indes darin begründet, dass Gott – wie Clemens in seiner Schrift »Quis dives salvetur« (10,2) formuliert hat – da ihm Gewalt zuwider ist, »nicht zwingt«, sondern »den Suchenden gewährt und den Bittenden darreicht und den Klopfenden öffnet«, so ist hier alles »engagierte Bemühen« doch wiederum in jenen »evangelischen Kontext« von Mt 7,7 hineingenommen, in dem es am Ende eben nicht mehr um das eigenmächtige und eigenverantwortliche Tun des Menschen ›als solchen‹ geht. Und grundsätzlich Entsprechendes gilt auch für die Einbeziehung des Imperativs ›Suchet – und ihr werdet finden‹ von Mt 7,7 in den Rahmen der Sentenzen »Klopfet an – so wird euch aufgetan« und »Bittet so wird euch gegeben werden«, wie sie bei Clemens nicht zuletzt auch in Strom. VIII 1,1 f. vorliegt81. Noch deutlicher in dieser Hinsicht stellt sich der Befund bei Origenes, dem ersten ›biblischen Hermeneutiker‹ der Alten Kirche, dar: Auch bei ihm, so z.B. in c. Cels VI 7, ist das ›Suchen‹ – ebenso wie das ›Bitten‹ und das ›Anklopfen‹ – von Mt 7,7 auf das Verstehen der Schrift, auf den ›Sinn‹ ( ) bezogen82. Konkret handelt es sich dabei offensichtlich um eine aktuelle Polemik gegen die simpliciores, also gegen jene ›einfältigen‹ Christen, die, was jedenfalls die Schriftforschung betrifft, ›nachlässig‹ sind bzw. es an der entsprechenden ›Übung‹ fehlen lassen – umso deutlicher werden gerade sie darauf hingewiesen, dass jenes ›Suchen‹ (i.S. der von Jesus selbst geforderten Schriftforschung nach Joh 5,39!) nur dann den Sinn der Schrift erschließt, wenn es in das ›Bitten‹ und ›Anklopfen‹ von Mt 7,7 gleichsam eingeschlossen ist. Und noch deutlicher in dieser Hinsicht formuliert Origenes in seinem Kommentar zum Mt-Evangelium (Fragment 138 I), hier unter der Überschrift: »Auf dreifache Weise wird die Wahrheit der heilbringenden Dogmen« ( ) empfangen: Hier wird die Trias der Imperative von Mt 7,7 gleichsam ›trinitarisch‹ zur Aussage gebracht: Das ›Bitten‹ ist ›von Gott, dem Vater‹, das ›Suchen‹ von dem ›Heiligen Geist‹, und das ›Anklopfen‹ schließlich von dem, »der gesagt hat: ›Ich bin die Tür‹«83; und im Fragment 139 des Mt-Kommentars zu Mt 7,7 wird diesem dreifachen Weg des ›Bittens‹, des ›Suchens‹ und des ›Anklopfens‹ noch hinzugefügt: »Wenn eines von diesen fehlt, wird gar nichts erlangt« 80

N. Brox, ebd., S. 31. Vgl. auch Strom. VIII 2,1–5. 82 Vgl. N. Brox, ebd., S. 32 sowie S. 33 f. 83 Vgl. auch Fragment 138 II (zu Mt 7,7): – – . Dementsprechend spricht N. Brox, ebd., S. 32 ff. hierzu von einem ›dreifachen Weg‹ des ›Suchens‹, des ›Bittens‹ und des ›Anklopfens‹. Zu diesem dreifachen Weg vgl. auch Fragment 139 zu Mt 7,7. Im MtKommentar selbst (zu Mt 18,20 = Tom. XIII 15) wird die Thematik – und Problematik – des ›Suchens‹ und ›Findens‹ auf Mt 18,20 bezogen. 81

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( )84. Die deutlichste Akzentsetzung in diesem Sinn erfolgt jedoch in Gestalt der Mahnung, die Origenes in seinem (dem Verstehen der Schrift gewidmeten) Brief dem Gregorios Thaumaturgos zuteil werden lässt: »Begnüge dich indes nicht mit dem ›Anklopfen‹ und mit dem ›Suchen‹ – das Wichtigste vielmehr hinsichtlich des Nachdenkens über die göttlichen Dinge ist das Gebet …«85. Von hier aus gesehen besteht also, was den Origenes betrifft, keinerlei Anlass zu dem (von N. Brox geäußerten) Verdacht, dass die Rezeption von Mt 7,7 bei (Clemens Alexandrinus und) Origenes als ein Zeichen dafür zu werten sei, dass die beiden Logien vom ›Bitten‹ und vom ›Anklopfen‹ in Mt 7,7 a.c – zusammen mit einem ganz im gnostischen Sinn verstandenen ›Suchen‹ – »mit in den gnostischen Sog gezogen« worden seien, so dass am Ende, so wiederum N. Brox – das ›Element‹ dieses von beiden Alexandrinern vertretenen Christentums »ganz gnostisch« sei86. Recht betrachtet ist vielmehr die Rezeption von Mt 7,7 durch (Clemens Alexandrinus und) Origenes nicht durch eine gleichsam von außen her an die Schrift herangetragene gnostische Weltanschauung bedingt, sondern ›bibeltheologisch‹ begründet: Dass »wir«, die Christen, wie Origenes in seinem Kommentar zum JohEvangelium (XXXII 21) formuliert, »vom Suchen nicht ablassen dürfen«, ist bei ihm nicht wie bei den Gnostikern spekulativ, sondern vom Neuen Testament selbst her begründet. Dies zeigt sich besonders deutlich in jenem großen Abschnitt von »De principiis« (IV 1–3), in dem Origenes seine biblische Hermeneutik im Einzelnen entfaltet, hier insbesondere in De princ. IV 3,14: Von Röm 11,33 her kommt Origenes hier zu dem Ergebnis, dass kein »gesunder menschlicher Verstand« (mens sana creata), also kein Mensch in seiner Geschöpflichkeit, imstande ist, die Schrift ›vollständig‹ bzw. ›endgültig‹ zu erfassen, und eben in diesem Sinne alles auf die Schrift bezogene ›Suchen und Finden‹ des Menschen niemals an sein Ende gelangt87: quis enim terminus Die sapientia erit? – wie Origenes in seiner Homilie zum Buch Numeri fragt und sich in diesem Zusammenhang schließlich auch auf den Philipperbrief des Paulus (3,13) bezieht: … et ita semper se ad priora extendens … Numquam es enim quando anima scientiae igniculo succensa otiari possit et qiescere, sed semper a bonis ad meliora et iterum ad supe84 Vgl. dementsprechend in c. Cels. VI 7 den Zusatz zur Trias von »Suchen – Bitten – Anklopfen«: Weil – allein auf diese Weise – die christliche Lehre »nicht der Weisheit ledig ist«. 85 Hier im 4. Kapitel (Text nach der Edition von H. Crouzel, in: SC 148, S. 192–194) mit der Fortsetzung: »… auf das Gebet eingehend hat der Soter nicht nur das ›Klopfet an, und es wird euch aufgetan‹ und das ›Suchet, und ihr werdet finden‹ gesagt, sondern auch das ›Bittet, und es wird euch gegeben werden‹« (ed. H. Crouzel, p. 194,91–93). Zur Rezeption von Mt 7,7 in diesem Zusammenhang vgl. auch H. Crouzel, a.a.O., S. 192,85 ff. Demzufolge geht es in diesem Zusammenhang i.S. des Origenes in Mt 7,7 um das ›rechte Suchen‹ bei der Lektüre der Hl. Schriften. 86 So N. Brox, Suchen und Finden, S. 30 f. 87 Origenes, Hom. in Num. XVII 4,2.3.

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riora melioribus provocatur88. So gesehen erklärt Origenes in ›De principiis‹ (IV 3,14) – wiederum mit Bezugnahme auf Phil 3,13 – es geradezu als ›wünschenswert‹ (optabile), »ut pro viribus se unusquisque semper[!] extendat ad ea quae priora sunt, ea quae retrorsum sunt obluiscens, tam ad opera meliora, quam etiam ad sensum inellelectumque puriorem per Iesum Christum …, cui est gloria in saecula«89. So sehr Origenes sich mit seinem Insistieren auf die Notwendigkeit eines andauernden ›Suchens‹ zunächst der Position der Gnostiker anzunähern scheint, so bedarf es doch keiner Frage, dass hier im Grunde von Anfang an, nämlich von der Begründung jenes fortwährenden ›Suchens‹ her, ein wesentlicher Unterschied zur genuin gnostischen Position festzustellen ist: Das ›Suchen‹ i.S. einer fortdauernden Schriftforschung erwächst bei Origenes aus einer qualitativ andersartigen Grundhaltung heraus: Geht es bei Origenes um eine biblisch (Phil 3,13) und damit auch theologisch begründete Schriftforschung, die den ›Suchenden‹ immer tiefer in die Geheimnisse des Heilsplans Gottes hineinführt, ohne auf diese Weise die einmal gesetzten menschlich-kreatürlichen Grenzen zu überschreiten, so geht es bei der Rezeption der Schrift durch die Gnostiker um den im Grunde nie zum Ende kommenden Versuch, die biblische Überlieferung an das eigene vorgefasste Welt- und Menschenbild ›anzupassen‹ und auf diese Weise in die eigene, eben die gnostische Vorstellungswelt zu integrieren. Es bedarf also keiner Frage: »This attitude [des Origenes] stands in a sharp contrast to that of some Gnostics who took pride in their possession of perfect knowledge«.90 Spätestens hier offenbart sich wiederum die Grunddifferenz zwischen der Position des Origenes einerseits und der Gnostiker andererseits, eine Grunddifferenz, die nicht zuletzt auch bei der Frage eine entsprechende Rolle spielen sollte, ob und inwieweit Origenes, und zwar vor allem mit seinem Werk »De principiis«, in die Geschichte der frühchristlichen Gnosis hineingehört.91 Nach H. Strutwolf in seiner Monographie »Gnosis als System« (mit dem Untertitel: »Zur Rezeption der valentinianischen Gnosis bei Origenes«) geht es dabei »recht eigentlich um die Frage, warum es eine kirchliche Gnosis gab, die nicht, wie etwa Irenäus und Tertullian, nur die negative Abgrenzung von der Gnosis vornahm, sondern sich deren beste Intentionen 88

Origenes, Hom. in Num. XVII 4,2.3. Vgl. dazu W. Mizugaki, Spirit and Search, S. 578: »The fact that Origen concludes his substantive argument on hermeneutics by citing Phil 3:13 is a matter of considerable importance. To this citation he appends a word that has no counterpart in the original, the word ›ever‹ (semper). By doing so, he indicates that the search never ends«. 90 So W. Mizugaki, Spirit and Search, S. 577. 91 Zur Fragestellung vgl. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist II ; ders., Origenes’ – ein System patristischer Gnosis; G. Quispel, Origene and the Valentinian Gnosis, S. 29–42; H. Langerbeck, Die Anthropologie der alexandrinischen Gnosis, in: Ders., Aufsätze zur Gnosis, S. 38–82; H. Strutwolf, Gnosis als System, S. 11–29.356–366. Zur entsprechenden Diskussion seit A.v. Harnack: A. LeBoulluec, La notion d’hérésie, S. 460–488 sowie S. 507–518. 89

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aneignete und in die großkirchliche Tradition einführte, d.h. die Gnosis geistig beerbte und sie so erst wirklich innerlich überwinden konnte«92. Hier wird in der Tat vorausgesetzt, dass Origenes – eben indem er »sich deren beste Intentionen aneignete« und sie damit »geistig beerbte«! – durchaus als ein ›Gnostiker‹ zu bezeichnen ist, und dies – nach Auffassung von H. Strutwolf – auch dann, wenn das Stichwort ›Rezeption‹ in diesem Zusammenhang nicht nur eine ›Aneignung‹ der valentinianischen Gnosis benennt, sondern zugleich auch deren ›Umformung‹, insgesamt also eine »produktive Übernahme der [gnostisch valentinianischen] Tradition«93. Was nun jene ›Nähe‹ des Origenes zur Gnosis betrifft, so kann man in dieser Hinsicht bereits auf die geographische Nähe des Origenes zur alexandrinischen Gnosis des Valentinus verweisen94, in diesem Zusammenhang auch auf gewisse Strukturanalogien zwischen den Systemen der valentinianischen Gnosis einerseits und des Origenes andererseits, wie sie K. Rudolph im Einzelnen aufgelistet hat: Angefangen also bei der beiderseitigen Hochschätzung der ›Erkenntnis‹ bis hin zu dem gnostischen »Seelenmythos mit seinem Fall und Aufstiegscharakter«95. So gesehen ist gegen die Feststellung, dass Origenes »stark vom Dialog mit der valentinianischen Gnosis bestimmt« ist, kaum etwas einzuwenden96. Angesichts einer auffälligen Gnosis-Resistenz der gegenwärtigen Origenes-Forschung, repräsentiert etwa durch den Artikel »Origenes / Origenismus« von R. Williams in der »Theologischen Realenzyklopädie«97, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich diese Fragestellung bereits bei H. Jonas, dem wohl entschiedensten Verfechter der These von der Zugehörigkeit des Origenes zur Gnosis, keineswegs undifferenziert, ja geradezu widersprüchlich darstellt: So ist bei H. Jonas der Befund, dass sich auch Origenes »in die große Gemeinschaft der ›Gnosis‹ im engeren Sinne einordnet«, und zwar »trotz seines christlichen Tat- und Gerechtigkeitsprimats«98, zunächst wohl nur dadurch gewonnen, dass H. Jonas einleitend zu seiner Darstellung der entsprechenden Problematik bei Origenes ausdrücklich betont, dass die ›Metaphysik‹ des Origenes in seiner Darstellung in De principiis, »rein für sich, losgelöst von ihren exegetischen und homiletischen Verflechtungen in den übrigen Schriften« zur 92

H. Strutwolf, Gnosis als System, S. 14. Zur Frage der Rezeption in diesem Sinne vgl. H. Strutwolf, Gnosis als System, S. 23 ff. sowie S. 356 ff. 94 Dazu vgl. K. Rudolph, Die Gnosis, S. 22.345.349 f. 95 K. Rudolph, Die Gnosis, S. 21 f. und S. 397. Speziell zum gnostischen Mythos der ›Wiedergewinnung‹ vgl. bereits H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist II , S. 186 f. 96 So H. Strutwolf, Gnosis als System, S. 356. 97 Hier Bd. 25, S. 397–417, speziell S. 407 ff. Bemerkenswert ist, dass die gnostische Fragestellung hier weder in der Darstellung der Lehre des Origenes noch im Literaturverzeichnis (S. 417–420) auch nur mit einem Wort oder Titel erwähnt wird. Vgl. allenfalls noch S. 470: »Jeder Dualismus ist ausgeschlossen«, an dessen Stelle steht vielmehr »die Überzeugung von Gottes Gerechtigkeit und der Freiheit des geschaffenen Willens«. 98 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist II , S. 211. 93

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Erörterung kommen soll99. Konkret heißt das, dass ein in sich stimmiges Bild von der ›gnostischen‹ Metaphysik, folgt man dem Argumentationsgang von H. Jonas, nur vermittels eines gewissen Maßes an Abstraktion zu gewinnen ist, unter Absehung von alledem, was in »De principiis« für Origenes als den entschiedenen Repräsentanten einer biblischen Hermeneutik bestimmend ist. Immerhin ist H. Jonas sich der Problematik seines methodischen Verfahrens bewußt gewesen, wenn er feststellt, dass bei Origenes »das ›Erkenntnis‹-Moment in seiner metaphysischen Bedeutung fast ganz fehlt, jedenfalls die gefallenen Zustände nicht primär Privationen des Wissens sind« und »sein System nicht im terminologisch engeren Sinne als ›gnostisch‹ zu bezeichnen ist«100. Ausgehend von einer solchen ambivalenten Beurteilung des ›Gnostikers‹ Origenes, ist hier, was speziell die Frage der Rezeption der (valentinianischen) Gnosis durch Origenes betrifft, wohl eher eine ›dynamische‹ Terminologie angebracht, und zwar i.S. von ›Rezeption und Abgrenzung‹, von ›Metamorphose‹ (der ursprünglich gnostischen Mythologoumena) oder auch i.S. des Prozesses der ›Entmythisierung‹ oder auch ›Entmythologisierung‹ einer ursprünglich gnostischen Metaphysik bei Origenes101. Spätestens hier bleibt noch die Frage zu beantworten, nach welchem Maßstab – i.S. von ›Kanon‹ bzw. regula – Origenes eigentlich bei seiner – an sich nicht zu bestreitenden – Rezeption der valentinianischen Gnosis und – in diesem Zusammenhang – bei seiner eigenen Darlegung der Ur-Anfänge in De principiis verfahren ist? Die Antwort auf diese Frage ist im Grunde bereits mit dem Hinweis darauf gegeben, dass Origenes offensichtlich ganz programmatisch bereits in seiner Praefatio (§§ 1–4) die auch für ihn fraglose Autorität der traditionell-kirchlichen regula fidei bzw. regula veritatis vorangestellt hat, konkret also ausdrückliche Bezugnahme auf die ecclesiastica praedicatio per successionis ordinem ab apostolis tradita et usque ad praesens in ecclesiis permanens, hier (§ 2) auch noch mit dem Zusatz: illa sola credenda est veritas, quae in nullo ab ecclesiastica et apostolica traditione discordat. Dass es sich bei diesem einleitenden Rekurs auf die kirchliche Lehre und Tradition keineswegs lediglich um ein ›Zugeständnis‹ handelt, zeigt sich sodann im 4. Buch von »De principiis«, wenn dort (IV 2,2 [9]), und zwar im Zusammenhang einer Erörterung der Grundfragen einer sachgemäßen Schriftauslegung, ausdrücklich wiederum die Frage des ›Kanons‹, der regula, – und damit auch die ›apostolische Sukzession‹ geltend gemacht 99 H. Jonas, ebd., S. 175. Zur »Gnostische[n] Charakteristik des Systems von De principiis«: S. 203 ff. 100 H. Jonas, ebd., S. 188. Zur Sache in dieser Hinsicht: S. 184 ff., hier bes. S. 187 f. zur Frage einer biblischen Variante des gnostischen Prinzips. 101 In diesem Sinne K. Rudolph, Die Gnosis, S. 351 f. 397 f., hier S. 397: Origenes habe »in seinem System ›Über die Uranfänge‹ … den gnostischen (spezifisch valentinianischen) Seelenmythos mit seinem Fall- und Aufstiegscharakter in einer Weise ins Christliche transponiert, die ihn weithin [zugleich] ›entmythologisiert‹ …«.

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wird. Auch für Origenes gilt also: »Seule la règle de foi, transmise depuis les apòtres par la prédication de l’Eglise, est la norme de vérité«102. Bleibt trotz alledem bei Origenes am Ende doch noch eine gewisse Ambivalenz hinsichtlich seiner Treue zum traditionellen Kanon der rechtgläubigen Kirche? – so z.B. in dem Sinne, dass für Origenes zwar die traditionelle kirchliche Glaubensregel der Maßstab für die Rezeption der valentinianischen Gnosis ist, dies aber mit der Einschränkung, dass jene Glaubensregel im Grunde nur ein »negatives Kriterium« ist, »da sein Forschungsprojekt ja gerade darin besteht, diejenigen Fragen, die die regula offen lässt, durch spekulative Schriftauslegung zu beantworten«103. Angesichts dessen, dass sich das Denken des Origenes »im Spannungsfeld von griechischer Philosophie, christlicher Gnosis und kirchlicher Tradition« entwickelt104, sind Alternativen hier offensichtlich nicht am Platz. Am Ende steht bei Origenes vielmehr eine durchaus »eigenständige Hypothese, die das Überkommene produktiv verarbeitet und zum unverwechselbaren christlichen System … verschmilzt«105. Was indes die Ambivalenz jener ›kirchlichen Gnosis‹ des Origenes betrifft, was ihn, den ›Kirchenvater‹, mit der Gnosis verbindet und zugleich doch von der Gnosis unterscheidet, hat seinerzeit bereits H.v. Campenhausen in seiner Darstellung der ›Griechischen Kirchenväter‹ vom Jahr 1956 unübertreffbar zum Ausdruck gebracht: »Origenes schildert den Erlösungsvorgang weniger anthropologisch als die Philosophen, d.h. nicht einfach als Mythos vom Fall und der möglichen Heimkehr der Seele, sondern vielmehr theologisch als Ausdruck der göttlichen Liebesgesinnung und Führung … Entscheidend christlich ist [dabei] nur dies, dass Origenes – gegen die formale Logik seines Systems – nicht davon lässt, konkret alle Erkenntnis und Heiligung an die Person und das Vorbild Christi anzuschließen und dass die Bibel die entscheidende Urkunde, Sicherung und Hilfe seines Glaubens bleibt«106. »Suchet – so werdet ihr finden« als Programmwort der christlichen Gnosis, und zwar nicht nur i.S. einer (anhaltenden) Schriftforschung, sondern zugleich i.S. einer Existenzweise gleichsam des ›wahren Christen‹ – eben dies wird über das entsprechende Zeugnis der antignostischen Kirchenväter, insbesondere des Irenäus und Tertullian, hinaus nicht zuletzt auch durch die nach dem Handschriftenfund von Nag Hammadi zur Verfügung stehenden 102 So H. Crouzel/M. Simonetti, in SC 253, S. 10 (ff.). Zur Bedeutung der Praefatio in diesem Sinne für das Gesamtwerk von »De principiis« vgl. ebd., S. 10–18, sowie bereits P. Koetschau in seiner Ausgabe von »De principiis« (in GCS ), S. CXXXVII –CXXXIX . 103 So H. Strutwolf, Gnosis als System, S. 23 f.; vgl. demgegenüber S. 358, wo H. Strutwolf von einer »große[n] Nähe der origeneischen Spekulation zur valentinianischen Gnosis« spricht, »die allerdings die kirchliche Grundeinstellung des Origenes nicht vergessen machen« darf. 104 H. Strutwolf, ebd., S. 363. 105 Ebd., S. 363. – Kritisch zu allen Alternativen von »Rechtgläubigkeit« und »Ketzerei« in dieser Hinsicht: R. McL. Wilson, The Gnostic Problem, S. 134 ff. 106 H.v. Campenhausen, Die griechischen Kirchenväter, S. 50. Vgl. auch ebd., S. 59.

4.2 »Suchet – so werdet ihr finden« als Programm gnostischer Schriftauslegung

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gnostischen Originalquellen im Einzelnen belegt bzw. bestätigt. Auch wenn die in dieser Hinsicht relevanten gnostischen Schriften als solche, zumal in ihrer koptischen Sprachgestalt, zeitlich weit später anzusetzen sind als die entsprechenden Zeugnisse der Kirchenväter, wird hier, in diesen (christlich-) gnostischen Originalquellen, doch in jedem Falle etwas von dem historischen Hintergrund deutlich, auf dem die Polemik der Kirchenväter gegen das anhaltend-fortdauernde ›Suchen‹ und Forschen der Gnostiker – ›Suchen‹ und Forschen gleichsam als Existenzweise jener Gnostiker! – zu verstehen ist: ›Gnosis‹, ›Erkenntnis‹ als Ziel allen ›Suchens‹ und Forschens, das ist diesen Quellen zufolge eben nicht ein einmal erlangter Besitz, in diesem Sinne auch keine unverlierbare Qualität des ›Gnostikers‹, »sondern etwas, auf das die Seele stets aufs Neue aus sein muss«107. Um ein anhaltendes, fortdauerndes ›Suchen‹ also geht es hier – und dies allein wäre dann auch »die adäquate Verwirklichungsform« der »Erkenntnis«108, die auch im ›Zum-Glauben-Gekommensein‹ des Christen ihr Ziel noch keineswegs erreicht hat. Wenn seitens der antignostischen Kirchenväter Tertullian vor allem letzteres – und damit zugleich das ›Maß des Glaubens‹ – ausdrücklich gegen seine gnostischen Kontrahenten geltend gemacht hat109, so dürfte genau in den hier in Betracht kommenden gnostischen Originalschriften, etwas von der eigenen Position jener namenlosen Gegner des Tertullian deutlich werden – damit zugleich aber auch etwas von der »Polemik der Gnostiker gegen das kirchliche Christentum« selbst; darüber hinaus: Von diesen unterschiedlichen Positionen der frühchristlichen Gnostiker einerseits, der antignostischen Kirchenväter andererseits dürfte zugleich auch verständlich werden, warum erstere die ›Kirchenchristen‹ geradezu als die ›Nicht-Suchenden‹ disqualifiziert haben. Konkret in Betracht für die Position der Gnostiker und die aus dieser Position erwachsende Polemik gegen die ›Kirchenchristen‹ kommt dabei zunächst die unter dem Titel ›Testimonium Veritatis‹ überlieferte Schrift aus dem Kodex IX von Nag Hammadi (NHC IX /3)110. Zwar äußert sich auch in dieser Schrift das Selbstverständnis der Gnostiker in einem geradezu perfektionistischen Sinn: Er, der Gnostiker, hat bereits »gefunden« (p. 64,4); er ist bereits »zu sich selbst gekommen« (p. 43,22 f.), ist bereits »zur Wahrheit gelangt« (p. 43,12 f.) usw. – aber: Solche Redeweise ist gleichwohl nicht Ausdruck dafür, dass das ›Heil‹ für den Gnostiker ein einmal gegebener und damit verfügbarer Besitz ist. Jedenfalls schließt das hier dokumentierte Selbstverständnis des Gnostikers – ganz abgesehen von der für diese Schrift 107

So K. Koschorke, Suchen und Finden, S. 53; ders., Die Polemik der Gnostiker, S. 198. So K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 53. 109 Vgl. Tertullian, De praescr. haer. 10 ff., hier speziell c. 10,9: Ero itaque nusquam, dum ubique convenio quaerite et invenietis sowie c. 43,2: Quaerite et invenietis ubique meminerunt. 110 Vgl. dazu K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 91 ff. 108

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charakteristischen »asketisch ausgerichteten Kritik … an der Kirche«111 – nicht den Vorwurf an die ›Kirchenchristen‹ aus, dass diese schon deshalb im Irrtum sind, weil sie eben »nicht [weiter und anhaltend] nach den Geheimnissen forschen, die um unsretwillen vorgebildet sind« (p. 45,19–22). Und dies heißt zugleich: Sie, die ›Kirchenchristen‹, »wissen nicht, wer Christus [eigentlich] ist« (p. 32,1 f.) – und dies wiederum hat zur Folge: »sie wissen nicht, wohin sie gehen« (p. 31,29 f.). Deutlicher noch in dieser Hinsicht wird die unter dem Titel »Authentikos Logos« überlieferte Schrift aus dem Kodex VI von Nag Hammadi (NHC VI /3), die vor allem in dem abschließenden Abschnitt (p. 33,4–35,22) ein eindeutiges Zeugnis für die Auseinandersetzung der Gnostiker mit den ›Kirchenchristen‹ darstellt112: Den ›Suchenden‹, hier offensichtlich eine Art Selbstbezeichnung der Gnostiker (p. 33,17), werden die »Unverständigen« gegenübergestellt – »unverständig« eben deshalb, weil sie »nicht [mehr] suchen«. Dem entspricht auch die ausdrückliche Aufforderung an die Adressaten der Schrift: »Suche und forsche nach dem Weg, auf dem du gehen kannst, denn es gibt nichts, was so gut ist wie dieses [Suchen]« (p. 34,18–23) – eben jenes rastlose ›Suchen‹ und ›Forschen‹, das die Gnostiker auszeichnet, während bei den ›Kirchenchristen‹ fehlendes ›Sich-abmühen‹ konstatiert wird – und dementsprechend am Ende auch ›Unwissenheit‹ (p. 30,26–31,8). So wird in dieser Schrift, wie K. Koschorke formuliert hat113, der ›Statik des kirchlichen Glaubens‹ die ›Dynamik gnostischen Suchens‹ gegenübergestellt, was – in polemischer Umkehrung – wiederum dem Bild entspricht, das Tertullian in seiner Schrift »De praescr. haer.« von seinen gnostischen Kontrahenten zeichnet: Ero itaque nusquam, dum ubique convenio quaerite et invenieis (c. 10,9) – oder auch: Quaerite et invenietis ubique meminerunt (c. 43,2)114. Es sei hier dahingestellt, ob man mit K. Koschorke eine solche Aufforderung zu einem anhaltenden, über den gegenwärtigen ›Stand‹ immer erneut hinausgehenden ›Suchen‹ und ›Forschen‹ als »das eigentliche gnostische Missionskerygma« bezeichnen kann115. Unbestreitbar ist jedoch, dass der Aufforderung zu einem beständigen ›Suchen‹, Fragen und Forschen in den genannten gnostischen Schriften ein gleichsam ›missionarischer‹ Impuls eigen ist, der auf seine Weise anzeigt, dass es in diesen gnostischen Originalschriften nicht nur um die eigene, gleichsam ›esoterische‹ Erbauung und Konsolidierung der gnostischen Konventikel und Gemeinschaften gegangen ist. Hier geht es immer zugleich um eine ›Ortsbestimmung‹ der gnostischen Gemeinschaften gegenüber der frühkatholischen Kirche. In diesem Sinne ist 111

Dazu K. Koschorke, ebd., S. 123 ff. Dazu K. Koschorke, ebd., S. 198 ff.; ders., Suchen und Finden, S. 51–58. 113 Die Polemik der Gnostiker, S. 200. 114 Vgl. dazu K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 200–202; ders., Suchen und Finden, S. 58, sowie A. LeBoulluec, La notion d’hérésie, S. 244. 115 K. Koschorke, Suchen und Finden, S. 59. 112

4.2 »Suchet – so werdet ihr finden« als Programm gnostischer Schriftauslegung

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jenem beständigen ›Suchen‹ nicht zuletzt auch eine gleichsam soteriologische Qualität eigen116. Im Einzelnen ist dabei, was zunächst die Schriften des Berolinensis Gnosticus 8502 betrifft, auf die spezifisch gnostische Variation von Mt 7,7 im sog. Evangelium der Maria hinzuweisen: »Seid auf der Hut«, heißt es hier, »dass niemand euch irre führe mit den Worten: ›seht hier‹ oder ›seht da‹! Denn der Sohn des Menschen ist in eurem Inneren. Folgt ihm nach – [denn:] Die ihn suchen, werden ihn finden«117. – Von den Schriften von Nag Hammadi ist – außer den bereits genannten Belegen aus dem Testimonium Veritatis und dem Authentikos Logos – insbesondere auf das Evangelium Veritatis (NHC I/3) hinzuweisen: Wenn es hier bereits am Anfang heißt (p. 17,2–4): »Das Evangelium ist die Offenbarung der Hoffnung, denn es ist das Finden für die, die nach ihm [dem Vater] suchen«, so handelt es sich hier wenn nicht um eine Anspielung auf Mt 7,7, so doch in jedem Fall um einen Rekurs auf die in der Antike geläufige Sentenz. Gleiches gilt auch für p. 31,28–35: Jesus, so heißt es hier, ist ein ›Weg‹ geworden für die, die »in die Irre geführt wurden«, eine ›Erkenntnis‹ für die, die ›ohne Erkenntnis‹ waren – und in diesem Sinne dann auch: Er, Jesus, ist »ein Finden geworden für die, die ihn suchten«118. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang weiter auf den sog. Dialog des Erlösers (NHC III /5), hier auf die Abfolge ›Suchen – finden – sich freuen‹ (p. 129,15 f.), sowie auf die typische gnostische Interpretation von Mt 7,7 in den Lehren des Silvanus (NHC VII /4): Wenn hier (p. 117,5–9) vom ›Anklopfen‹ die Rede ist, ist es naheliegend, an eine Bezugnahme auf Mt 7,7 zu denken, dies in Gestalt einer gnostischen Rezeption: ›Anklopfen‹ nämlich nicht, wie ursprünglich im Paralellismus membrorum von Mt 7,7 gemeint, i.S. des Gebets, sondern i.S. eines »Anklopfens bei sich selbst« (kopt.: tohm erok waak)119. – Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch noch auf die gnostische Spätschrift der Pistis Sophia hinzuweisen, hier vor allem auf das 83. Kapitel (im 2. Buch) mit ausdrücklicher Berufung auf Mt 7,7 par Lk 11,9 f. (wie auch an weiteren Stellen) i.S. der Suche nach den ›Mysterien des Lichtes‹. Mit Recht hat N. Brox dazu festgestellt: »Der Sachverhalt ist eindeutig: Mt 7,7 b.c (V. 7 a fehlt) ist [hier] zum ›Stiftungstext‹ für das besondere, soteriologisch qualifizierte gnostische Fragevermögen und Frage116

K. Koschorke, ebd., S. 59. Evangelium der Maria: BG 8502, p. 8,15 ff. – Für das ›Zitat‹ von Mt 7,7 ist hier im Koptischen auf das Wortspiel von koptisch sine (›suchen‹) – cine (›finden‹) hinzuweisen. Vgl. für BG 8502 auch die »Sophia Jesu Christi«, p. 80,9 ff. Für die Schriften von Nag Hammadi vgl. entsprechend das Evgl. Veritatis (NHC I/3), p. 8,20 f., sowie den Hermetischen Traktat (NHC VI /6), p. 60,10 f. 118 Vgl. weiter p. 18,13.28 f.; 24,15 ff.; 34,35 f. und p. 42,34–36. Zur Rezeption des Neuen Testaments im Evangelium veritatis insgesamt vgl. W. C. van Unnik, The Gospel of Truth and the New Testament, S. 115. 119 Vgl. entsprechend p. 117, 17–22. – Zum »Authentikos Logos« (s.o. S. 19) vgl. die weiteren Belege bei K. Koschorke, Suchen und Finden, S. 53 ff., und darüber hinaus auch den Tract. Tripartitus (NHC I/5), p. 61,24–28 65,14–31; 71,9 f. sowie p. 72,4 f. 117

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Niveau geworden und führt als solcher längst ein selbständiges, d.h. kontextunabhängiges Dasein«120. In diesen spezifisch gnostischen Kontext einer Aufforderung zum ›Suchen‹ und ›Forschen‹ hinein gehört schließlich auch der in gnostischen Schriften wiederum häufig begegnende, aus den synoptischen Evangelien übernommene ›Weckruf‹: »Wer Ohren hat zu hören – der höre!«. Dieser ›Weckruf‹ (und mit ihm die ausdrückliche Aufforderung zum ›Suchen und Finden‹ bzw. zum Forschen nach dem rechten Verstehen) findet sich in gnostischen Schriften in auffälliger Breite und muss geradezu als ein Charakteristikum bei der Rezeption der neutestamentlichen Überlieferung in der frühchristlichen Gnosis gelten: So begegnet diese ›Weckformel‹ bereits mehrfach in den Schriften des Berolinensis Gnostius121, gehört aber auch in der Pistis Sophia gleichsam zum Repertoire einer gnostischen Hermeneutik: ›Hören‹, das meint hier: den Sinn, die Bedeutung der Rede Jesu ›verstehen‹ (griech: ) bzw. ›erfassen‹ (griech.: )122, ein ›Hören‹ und ›Verstehen‹ also, das – wie Hippolyt in seinem Referat über die ›Doketen‹ (Ref. VIII 9,1) ausführt – »nicht jedermanns Sache ist« – und noch deutlicher in seinem Referat über die ›Naassener‹ (Ref. V 8,29): »Wer Ohren hat zu hören – der höre«, d.h.: [denn] »niemand von diesen ist zu einem Hörer dieser Mysterien geworden – es sei denn allein die vollkommenen Gnostiker«. In diesem Sinn fügt sich dieser ›Weckruf‹ ganz in einen spezifisch gnostischen Kontext ein123. Dies gilt im Übrigen auch und für den wiederholten Gebrauch jenes ›Weckrufs‹ im koptischen Thomasevangelium (NHC II /2), hier in den Logien 8.21.24.63.65 und 96 – freilich unter der Voraussetzung, dass dieses ›Evangelium‹ (i.S. einer Sammlung der ›geheimen Sprüche des lebendigen Jesus‹) als solches, d.h. in seiner vorliegenden Endredaktion, eine ursprünglich gnostische Schrift ist und als solche auch zu lesen und zu verstehen ist124. 120 N. Brox, Suchen und Finden, S. 21. Für die »Pistis Sophia« vgl. auch die Kapitel 100.133 sowie Kap. 111: »Forschet alle Zeit und lasst nicht ab, bis dass ihr die Mysterien des Lichts findet, die euch in das Lichtreich führen werden«. 121 BG 8502, hier zunächst im »Evangelium der Maria« (p. 7,8 f.), hier in Korrespondenz zu der Formel: »Wer begreift, der möge [auch] begreifen« (p. 8,1 f.). Vgl. auch p. 8,10 f. sowie in der »Sophia Jesu Christi«, p. 89, 4–6: »Wer Ohren hat, zu hören, der vernehme das Unvergängliche«; vgl. weiter ebd., p. 90, 13 f.; 100,10–12 sowie p. 107,18–108,1. 122 So bes. »Pistis Sophia«, c. 43 und c. 87. Vgl. auch c. 42: ›Hören‹ hier i.S. der »Auflösung des Gedankens«! Vgl. weiter die cc. 17.18.33 u.ö. 123 Zur Sache vgl. J.-É. Ménard, L’évangile selon Thomas, S. 90 f., hier S. 91: »La parole correspond bien au sens gnostique«. Speziell im Blick auf die Gleichnisse im ThEv kommt H. Montefiore, A Comparison of the Parables of the Gospel according to Thomas and of the Synoptic Gospels, S. 237 f., zum sog. ›Weckruf‹ zu dem Ergebnis: »It is probably on this account thatThomas leaves some of his parables in a comparatively primitive state, while he seems to be prepared to alter drastically many of Jesus’ sayings to suit his gnostic purpose«. 124 Zu dieser Unterscheidung vgl. R. McL. Wilson, Art. Apokryphen II , in: TRE 3, S. 325, zur Frage: »Wie gnostisch ist das ThEv?«: »Hier mag eine … Unterscheidung angebracht sein. Fraglos kann das ThEv als gnostische Schrift gelesen werden …, aber bedeutet dies, dass es gnostischen Ursprungs ist, von einem Gnostiker in der Absicht verfasst, dass es auf gnostische Weise verstanden werde?« – und weiter ebd., S. 325 f.: »Möglicherweise ist das Thomasevan-

4.2 »Suchet – so werdet ihr finden« als Programm gnostischer Schriftauslegung

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Die Frage, ob das Thomasevangelium (ThEv) in diesem Sinn von seinem Ursprung her als ein gnostisches Werk (ingestalt einer Sammlung der Logien Jesu) zu beurteilen ist, ist zwar nach wie vor umstritten125; geht man jedoch davon aus, dass hier eine ursprünglich nicht-gnostische Überlieferung der Logien Jesu aufgenommen worden ist, die – möglicherweise – bereits auf die (vor-)synoptische Tradition der Logien Jesu zurückzuführen ist, dann spricht nichts gegen die Hypothese, dass jene Tradition, wie sie jetzt im ThEv vorliegt, sekundär im Verlauf ihrer Überlieferung – möglicherweise auch i.S. der »Weiterentwicklung einer der Weisheitstradition inhärenten gnostisierenden Neigung«126 – von gnostischer Seite rezipiert und somit sekundär ›gnostisiert‹ worden ist. Wie immer ein solcher Vorgang im Blick auf die hier überlieferten einzelnen Logien zu erklären sein mag – keiner Frage bedarf es, dass jene Überlieferung der Logien Jesu vermittels des dieser ›Evangelien‹-Schrift voranstehenden Prologs wie auch durch das programmatische Logion 1 unter ein eindeutig gnostisches ›Vorzeichen‹ gestellt worden ist. Um mit E. Haenchen zu formulieren: »… das ganze synoptische Spruchgut ist im ThEv ›verfremdet‹ worden. Es wird Ausdruck eines völlig anderen Inhalts. Es tritt in den Dienst einer anderen Heilsbotschaft«127. Konkret gilt dies formal gesehen schon hinsichtlich der hier vorgetragenen ›Jüngerbelehrung‹ durch den – wie es im ›Incipit‹ heißt – ›lebendigen‹, d.h. den auferstandenen und gegenwärtigen Jesus, der als solcher zugleich der Spender des ›Lebens‹ ist. Dies gilt aber auch in sachlicher Hinsicht: Es sind die ›geheimen Worte‹, nach der griechischen Erstüberlieferung des Papyrus Oxyrhynchos 654 die , die der ›lebendige Jesus‹ seine Jünger lehrte, und es sind zugleich die ›verborgenen Worte‹, die als solche, wie es im Logion 1 des ThEvs heißt, der ›Deutung‹ ( ) bedürfen«128. gelium, so wie es uns heute vorliegt, das Ergebnis eines Wachstums und Entwicklungsprozesses, dessen einzelne Stufen nicht immer mit Sicherheit erkannt werden können …«. Andererseits ist es für den gegenwärtigen Forschungsstand auch kennzeichnend, dass H.J.W. Drijvers in seinem Artikel »Thomas, Apostel« in TRE 33, S. 430–433, zwar auf das ThEv eingeht (S. 430), ohne jedoch auf dessen – möglicherweise – gnostischen Charakter zu sprechen zu kommen. 125 Vgl. dazu: K. Grobel, How Gnostic is the Gospel of Thomas?, S. 367–373; Y. Janssens, L’evangile selon Thomas et son caractère gnostique, S. 301–328; H. Köster, in: J.M. Robinson / H. Köster, Entwicklungslinien, S. 128 ff. und S. 155 ff. – Am entschiedensten gegen den (ursprünglich!) gnostischen Charakter des ThEv.s hat sich G. Quispel ausgesprochen: Makarius, das Thomasevangelium und die Gnosis, S. 65–113. 126 So G. Theissen/A. Merz, Der historische Jesus, S. 54: »Das ThEv spiegelt eine Gnosis in statu nascendi, ohne entwickelte Kosmologie, Äonenlehre etc., die sich als Weiterentwicklung einer der Weisheitstradition inhärenten gnostischen Neigung erklären lässt«. Vgl. auch F. Vouga, Geschichte des frühen Christentums, S. 138 ff.: »Die Rezeption der weisheitlichen Tradition im Rahmen eines gnostischen Erlösungsmythos«. 127 E. Haenchen, Neutestamentliche und gnostische Evangelien, S. 38. 128 Zur Wendung vgl. auch die ›apokryphe‹ Überlieferung bei Hippolyt, Ref. VII 20,1, derzufolge Basilides und sein Schüler Isidor sich darauf berufen haben, dass ihnen Matthias(!) solche »geheimen Worte« überliefert habe, »die er – im besonderen belehrt – vom Soter (selbst) gehört hat«. Schon von daher gesehen ist deutlich, dass der Topos von den ›geheimen Worten‹, die Jesus seine Jünger gelehrt hat, in der Gnosis weit verbreitet

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Hier, mit dem ›Incipit‹ des ThEv.s und mit dem programmatischen Logion 1, ist jedenfalls ein eindeutig gnostisches Vorzeichen gesetzt, mit dem im ThEv selbst die mehrfach (Logien 8.21.24.63.65.96) überlieferte Aufmerksamkeitsformel »Wer Ohren hat zu hören, der höre« korrespondiert, die den Hörer bzw. den Leser des ThEv.s zu der entsprechenden hermeneutischen Bemühung auffordert. Symptomatisch für jene spezifisch gnostische Rezeption der Logien Jesu im ThEv ist im Logion 1 bereits die Rezeption von Joh 8,52: Nicht mehr – wie ursprünglich an dieser Stelle – heißt es hier: »Wer meine Worte bewahrt …«, sondern »Wer die Deutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken«. Aus diesem Eingriff in den ursprünglichen Wortlaut von Joh 8,52 hat M. Marcovich mit Recht die Schlussfolgerung gezogen: »By twisting and distorting the canonical saying John 8:52 … the compiler of the GTh shows us his gnosting visiting card. Logion 1 implies that all these secret words of the collection are thought of as bearing a gnostic message: to find out this meaning equals to achieve the life everlasting«129. Und dies gilt auch ganz unabhängig von der in der Forschungsgeschichte umstrittenen Frage, ob das ThEv bereits von seinem Ursprung her ein gnostisches Evangelium ist oder nicht, wie R. McL. Wilson vermutet hat, »das Ergebnis eines Wachstums- und Entwicklungsprozesses« ist, »dessen einzelne Stufen nicht immer mit Sicherheit erkannt werden können«130. In jedem Falle weist die mit dem Prolog und dem Logion 1 gegebene ›Lese-Anleitung‹ in die Richtung einer im ThEv vorliegenden gnostischen Rezeption der Überlieferung von den Logien Jesu. Demgegenüber ist es eine sekundäre Frage, ob und inwieweit jener gnostische Charakter (der Endredaktion) des ThEv.s noch des Näheren zu präzisieren ist, i.S. seiner Zuweisung zu einer bestimmten gnostischen Schule, wie sie uns aus den antihäretischen Schriften der altkirchlichen Häresiologen bekannt sind. Geht man in dieser Hinsicht von einer griechischen Urschrift des ThEv.s aus, wie es die ist – vgl. z.B. nur im Thomasbuch (NHC II /7), p. 138,1 ff.: »Die geheimen Worte, die der Erlöser zu Judas Thomas gesagt hat (und) die ich selbst, Mathaias, aufgeschrieben habe«. Eben in diesen Sachzusammenhang gehört dann auch die für eine ganze Reihe der Schriften von Nag Hammadi charakteristische Verbindung von ›Dialog und Spruchüberlieferung‹. Dazu speziell vgl. H. Köster, Dialog und Spruchüberlieferung in den gnostischen Texten von Nag Hammadi, S. 532–556, der in diesem Sinne von ›Spruchdialogen‹ bzw. vom ›Dialog als Spruchauslegung‹ spricht. 129 M. Marcovich, Textual Criticism on the Gospel of Thomas, S. 53 f. – Zur grundlegenden Bedeutung des hermeneutischen Logions 1 für die Spruchsammlung des ThEv.s insgesamt vgl. auch K. Koschorke, Hippolyt’s Ketzerbekämpfung, S. 46: Entscheidend für das rechte Verständnis der Spruchsammlung des ThEv.s ist der Spruch 1: »Wer die Erklärung dieser Worte findet …«. 130 R. McL. Wilson, Art. Apokryphen, in: TRE 3, S. 325 f., mit Verweis u.a. auf J. M. Robinson, in: H. Köster/J. M. Robinson, Entwicklungslinien, S. 67: »Die Entwicklungsgeschichte dieser ›Gattung‹ von ›Sprüchen der Weisen‹ reicht von der jüdischen Weisheitsliteratur bis zur Gnosis, wo der esoterische Charakter solcher Sammlungen dazu führt, dass sie auch als ›Geheime Sprüche‹ bezeichnet werden können«.

4.2 »Suchet – so werdet ihr finden« als Programm gnostischer Schriftauslegung

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dem Anfang des ThEv.s entsprechenden ›geheimen Worte‹ des Oxyrhynchus Papyrus 654 immerhin nahelegen, ist dies durchaus wahrscheinlich. Immerhin zitiert Hippolyt in seinem Naassener-Referat (Ref. V 7,20) aus einem griechischen ›Evangelium nach Thomas‹, in dem sich eine Entsprechung zum Logion 4 des ThEv.s findet. Ob sich – von daher gesehen – eine Zuweisung des ThEv.s zur gnostischen Schule der Naassener wahrscheinlich machen lässt, bleibt gleichwohl fragwürdig131. Wie auch immer es sich im Einzelnen mit solchen Beobachtungen und Vermutungen zu einer spezifisch gnostischen Vor- und Überlieferungsgeschichte des ThEv.s im Blick auf die hier überlieferten Logien Jesu auch verhalten mag – in jedem Fall bleibt es dabei, dass bereits am Anfang des ThEv.s ein Paradigma für eine spezifisch gnostische Rezeption nicht nur der Überlieferung der Logien Jesu, sondern auch für die gnostische Rezeption jener Sentenz von Mt 7,7 par Lk 11,9 f. vorliegt. Kommt nach dem Zeugnis der frühkatholischen Häresiologen dieser Sentenz eine grundlegende Bedeutung für die gnostische Schriftauslegung zu, so geht es nunmehr im ThEv, im grundsätzlichen ganz entsprechend – um das ›Finden‹ der rechten Deutung speziell der hier überlieferten Logien Jesu. Im Logion 2 jedenfalls schließt sich nunmehr sogleich die – wiederum programmatische – Aufforderung an die Rezipienten an: »Wer sucht, der möge nicht aufhören zu suchen, bis er findet …« – ›Suchen‹ hier als ein beständiges, immer fortdauerndes ›Suchen‹ – und in diesem Sinne gleichsam als eine Grundhaltung des rechten ›Gnostikers‹, wie sie auch noch in der späten Gnosis der Pistis Sophia, hier insbesondere im c. 100 (Schmidt-Till, S. 160 f.), als eine Grundhaltung des Gnostikers beschrieben wird: »Deswegen nun habe ich zu euch gesagt: ›Suchet, auf dass ihr findet‹« und (ebd.): »Deswegen nun verkündet dem ganzen Menschengeschlecht: ›Nicht sollt ihr nachlassen zu suchen Tag und Nacht, bis dass ihr die reinigenden Mysterien findet …‹«. Deswegen auch schon im ThEv die Bitte der Jünger an Jesus: »Belehre uns doch über den Ort, an dem du bist – denn es ist für uns notwendig, dass wir danach suchen« (Logion 24) – und als Antwort Jesu auf die Bitte seiner Jünger nun wiederum die ›Weckformel‹: »Wer Ohren hat zu hören – der höre!« (ebd.). Ganz in diesem Sinn begegnet die Sentenz vom ›Suchen und Finden‹ noch mehrfach im ThEv (Logien 38.76.77.92.94.107) – auch dies wiederum ein Hinweis auf die grundlegende hermeneutische Bedeutung dieser Sentenz im Raum einer christlichen Gnosis. Indes geht es offensichtlich nicht nur um ein im Grunde unaufhörliches ›Suchen‹ i.S. einer permanent fortdauernden Bemühung um das Verstehen 131 Vgl. die entsprechende Diskussion bei R. M. Grant, Notes on the Gospel of Thomas, S. 170–180, mit dem Ergebnis: »The conclusion we should draw is that many of the sources of the Gospel of Thomas have passed through Naassene hands«. Vgl. zur Sache auch W. R. Schoedel, Naassene Themes in the Coptic Gospel of Thomas, S. 233, hier mit der Hypothese, dass das ThEv im Grunde »a Naassene document« sei!

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der Logien Jesu, sondern am Ende auch um das ›Finden‹. Deshalb nun auch im ThEv im Logion 2 die ebenso programmatische Mahnung: »Wer [aber] sucht, der möge nicht aufhören zu suchen, bis dass er findet, und wenn er findet …«. Im Logion 2 wird gleichsam der ›Ertrag‹, das Ziel jenes unablässigen Suchens formuliert, hier ist vielmehr zugleich auch vom Ziel und Ende des ›Suchens‹ die Rede: »… und wenn er findet …«. Konkret-inhaltlich gesehen erfolgt im Logion 2 solche Zielangabe des ›Suchens‹ in Gestalt einer Sequenz, und zwar in aufsteigender Linie, in Gestalt einer Klimax also (latein.: gradatio bzw. ascensio)132, die in einzelnen Etappen »une progression spirituelle« beschreibt: Suchen – Finden – Erschüttert bzw. Bestürzt sein – Verwundert sein – Herrschen über das All133. Bei dieser Abfolge handelt es sich um die Version eines Grundschemas, das in der frühchristlichen bzw. gnostischen Literatur eine relativ weitverbreitete Geschichte gehabt hat und in unterschiedlichen Varianten vorliegt: So, der Variante des ThEv.s relativ nahestehend, im Papyrus Oxyrh. 654,5–9, des Weiteren vor allem bei Clemens Alexandrinus, hier als ein Fragment des Hebräerevangeliums überliefert (Strom. II c. 9, 45,5 und V c. 14, 96,3), sowie in z.T. verkürzter Gestalt, in den Schriften von Nag Hammadi: Was dabei zunächst den Pap. Oxyrh. 645 betrifft, so ist ein traditionsgeschichtlicher Zusammenhang mit dem Logion des ThEv.s angesichts der nahezu wörtlichen Entsprechungen zwischen Pap. Oxyrh. 654,1–5 und dem ThEv (Prolog/ Logion 1) schwerlich zu bestreiten, auch wenn das letzte Glied der Sequenz im Pap. Oxyrh., die Steigerung von der ›Herrschaft‹ zur ›Ruhe‹, im ThEv fehlt – oder: Soll man den kopt. Text des ThEv.s an dieser Stelle vom griech. Text des Pap. Oxyrh. her ergänzen? Die ›ideale‹ Version hätte dann (ursprünglich?) so gelautet: »Jesus spricht: ›Nicht möge der Suchende aufhören zu suchen bis dass er findet; und wenn er gefunden hat, wird er [angesichts des Fundes] erschüttert / bestürzt sein, und als solcher wird er zur (Königs-)Herrschaft gelangen; und als einer, der zur Königsherrschaft gelangt, wird er [endlich] zur Ruhe gelangen‹«134. In verkürzter Gestalt demgegenüber liegt die Klimax bei Clemens Alexandrinus vor, hier einmal als Fragment aus einem Hebräerevangelium in Strom. II c. 9,45,5, sodann aber – vor allem, da der Version des ThEv.s nahestehend – in Strom. V c. 14,96,3: »Nicht soll der Suchende aufhören [zu suchen], bis dass er findet; und wenn er gefunden hat, wird er [i.S. offenbar eines mysterium tremendum] erschüttert werden, als solcher aber wird er zur Königsherrschaft – und als solcher – [endlich]– zur Ruhe gelangen«135. Schließlich ist 132

Dazu vgl. H. Lausberg, Handb. der literarischen Rhetorik I, S. 315 f. (§§ 623 f.). So H.-Ch. Puech, En quéte de la Gnose II , S. 76 f.: »… cinq degrèes de sa structure correspondant aux cinq étapes d’une progression spirituelle«. 134 Zu solcher Rekonstruktion der ›idealen‹ Gestalt der Klimax im Logion 2 vgl. J.-É. Ménard, L’Evangile selon Thomas, S. 5 und S. 78. 135 Vgl. auch A. LeBoulluec, in: SC 279, S. 304 f., sowie H. Koester, Les discours d’adieu de l’Évangile de Jean, S. 270, Anm. 2: »cette form [sc.: Clem. Al., Strom. V c. 14, 96,3] 133

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in diesem Zusammenhang auch noch auf gewisse Entsprechungen zu dieser Klimax in den gnostischen Schriften von Nag Hammadi hinzuweisen, so z.B. im Thomasbuch (NHC II /7), hier p. 141,11–15: »Und wenn ihr betet, werdet ihr Ruhe finden, denn ihr habt [dann ja] Leiden und Mühsal [dann ja] hinter euch gelassen. Denn wenn ihr aus den Mühen und Leiden des Lebens herauskommt, werdet ihr Ruhe finden bei dem Guten (kopt.: entootf mpagathos), und ihr werdet herrschen mit dem König«. Sachlich entspricht dem wiederum die Sequenz ›Suchen – Finden – Freude‹ im ›Dialog des Erlösers‹ (NHC III /5, p. 129,14 f.) sowie die Abfolge ›Ruhe – Herrschen‹ in der 2. Jakobus-Apokalypse (NHC V/4, p. 56,2–5), in der Epistula Jacobi Apocrypha (NHC I/2, p. 3,25–34) sowie in ActThom 136 (ed. Bonnet p. 243,8–10): »… und indem sie zur Ruhe gelangt sind, werden sie [auch] herrschen«136. Was hier, im Einzelnen mit geringfügigen Abweichungen, im Wesentlichen jedoch übereinstimmend, beschrieben wird, das sind, um noch einmal die Formulierung von H.-Ch. Puech aufzunehmen, die auf der Sequenz vom ›Suchen und Finden‹ aufbauenden unterschiedlichen »étapes d’une progression spirituelle«. Hier wird gleichsam der soteriologische ›Ertrag‹ jenes ›Suchens und Findens‹ formuliert, besser wohl: die Verheißung, die dem unablässigen ›Suchen‹ des Gnostikers gegeben ist – ein ›Ertrag‹, an dessen Ende und Zielpunkt das gnostische Heilsgut schlechthin steht, nämlich die ›Ruhe‹, die , die in gnostischen Schriften als das letzte Ziel aller ›Erkenntnis‹ einen hohen Stellenwert hat – ganz so, wie es auch in den Oden Salomonis (26,12) heißt: »Denn es ist genug, Erkenntnis zu haben und darin Ruhe zu finden …«. Diese ›Ruhe‹ hier also gleichsam der ›Ort‹ des endgültigen Heils137 – denn: ›Ruhe‹ wird gefunden ›in der Ruhe Gottes selbst‹. Und dem entspricht schließlich die ›Ortsbeschreibung‹ jener ›Ruhe‹, wie sie Clemens Alexandrinus in seinen Excerpta ex Theodot (63–65) überliefert hat: Die der ›Pneumatiker‹ hat ihren Ort 138. Angesichts dieses Befundes, der durch die Schriften von Nag Hammadi, hier insbesondere durch das Evangelium Veritatis (NHC I/3) weitere Beest san doute plus proche de original que celle transmise dans la version copte de l’Evangile de Thomas«. 136 Dazu vgl. J. Helderman, in the Epistula Jacobi Apocrypha, S. 41 ff. Zu Rolle und Bedeutung der (kopt.: emton/emtan) in der Gnosis insgesamt vgl. auch Ph. Vielhauer, . Zum gnostischen Hintergrund des Thomasevangeliums, S. 215–234, hier bes. S. 217 ff. 137 Zu OdSal 26,12 vgl. Ph. Vielhauer, ebd., S. 226 f. Entsprechend auch in der »Sophia Jesu Christi« (BG 8502), p. 123,2 ff.: »Wer aber den Vater in heiligem Wissen erkennt, wird zum Vater eingehen und wird zur Ruhe (kopt.: emton) kommen im ungezeugten Vater. Wer aber mangelhaft erkennt, wird im Mangel bleiben …«. 138 Zur lokalen Auffassung von einem ›Ort der Ruhe‹ vgl. auch noch das späte Zeugnis im Unbek. Altgnostischen Werk (in der Ausgabe bzw. Übersetzung von C. Schmidt / W.C. Till, S. 366, 8–14). Dazu vgl. auch Ph. Vielhauer, , S. 218 f.

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stätigung erhält139, erscheint es umso auffälliger, dass im Logion 2 des Thomasevangeliums das in den meisten der genannten Fälle an letzter Stelle jener ›progression spirituelle‹ als Höhe- und Zielpunkt genannte Glied der Klimax, eben die Verheißung der endgültigen ›Ruhe‹, fehlt – obwohl doch im ThEv ansonsten mehrfach darauf Bezug genommen wird, so in den Logien 86 und 90, hier im Übrigen mit deutlichem Bezug auf Mt 11,28–30, darüber hinaus in den Logien 50 und 60 (i.S. des Imperativs: »Sucht auch ihr nach einem Ort …«) sowie im Logion 51. Einerseits also im ThEv ein ausgesprochenes Interesse an jenem gemein-gnostischen Topos der – andererseits jedoch in dieser Hinsicht eine Fehlanzeige, von der man – ganz i.S. jener »progression spirituelle« von Logion 2 – einen Verweis auf die endgültige ›Ruhe‹ erwartet! Wie ist dieser eigenartige Befund zu erklären? Dass es sich hier um eine bewusste Verkürzung der traditionellen Klimax (i.S. von P. Oxyrh. 654 bei Clemens Alexandrinus, Strom. V c. 14, 96,3) handelt, ist wenig wahrscheinlich. Näher liegt die Annahme, dass dieses Fehlen der ›Ruhe‹ im Logion des ThEv.s aus der Vor- bzw. Traditionsgeschichte des koptischen Textes, also aus der griechischen Vorlage des ThEv.s zu erklären ist. Hier nämlich könnte durchaus ein Motiv für den Übersetzer ins Koptische geltend gemacht werden, und zwar in dem Sinne, dass jener Übersetzer (und damit zugleich Redaktor) ganz bewusst an der Stelle des des P. Oxyrh. 654, Z. 8 f. ein bzw. gelesen und dieses ins koptische e m pterf, d.h.: ›über das All‹, übersetzt hat140, um auf diese Weise zugleich einen Sachzusammenhang zum Folgenden Logion 3 herzustellen, in dem nun – wiederum programmatisch – von der ›Königsherrschaft‹ die Rede ist: Die ›Königsherrschaft‹, so heißt es dort, ist nicht schlechthin ›im Himmel‹, sie ist vielmehr, wie der Jesus des ThEv.s seine Jünger lehrt, »in euch und [doch zugleich] außerhalb von euch«! In diesem Sachzusammenhang zwischen den Logien 2 und 3 des ThEv.s besteht für den Übersetzer bzw. Redaktor des ThEv.s kein spezifisches Interesse an dem (für ihn an anderer Stelle durchaus gewichtigen) Thema der . Hier handelt es sich also keineswegs um einen Übersetzungsfehler, sondern um bewusste redaktionelle Gestaltung der Vorlage.

139 Vgl. NHC I/3, p. 24,17–20, hier zum Zusammenhang ›Erkenntnis‹ – ›Ruhe‹, sowie p. 40,30–32; 42,21 f.; 43,1, und dazu H. Holze, ANAPAUSIS im anachoretischen Mönchtum und in der Gnosis, S. 8–10; zum ThEv ebd., S. 7 f. 140 Zum Problem vgl. J.-É. Ménard, L’Évangile de Jean, S. 79: »Le copte aura pu lire ana panta au lieu d’ , mais on ne voit pas comment l’inverse pourrait ètre possible«. Vgl. auch M. Marcovich, Textual Criticism on the Gospel of Thomas, S. 57 f., hier unter der Voraussetzung, dass Poxyrh 654 und Clemens Alexandrinus, Strom. V 96,3 den ursprünglichen Wortlaut bieten. Zur Rekonstruktion des ursprünglichen Wortlautes von Logion 2 vgl. M. Marcovich, The Text of the Gospel of Thomas (Nag Hammadi II . 2), in: Ders., Studies in Greco Roman Religions and Gnosticism, S. 58–61.

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Über solcherlei Versuche (und Vermutungen) hinaus, den ursprünglichen (griechischen) Wortlaut vom Logion 2 des ThEv.s im Kontext der gnostischen -Vorstellung herzustellen, ist dieses Logion freilich auch in anderer Hinsicht bedeutsam: Denn wenn es zutrifft, dass – so H. Jonas141 – der gnostische Mythos als solcher, von seinem Ansatz her ein eschatologischer Mythos ist, dann ist dieses Logion 2, indem hier gleichsam der ›Heilsertrag‹, im Kontext genauer: das Ziel der vorauslaufenden Suchbewegung formuliert wird, zugleich Ausdruck einer spezifisch gnostischen Eschatologie. Und das heißt: Hier, insbesondere in der in diesem Logion formulierten Klimax, äußert sich eine eschatologische Hoffnung und Verheißung, die eine zutiefst negative Welterfahrung widerspiegelt und die Einlösung dieser Hoffnung i.S. einer innerweltlich zu praktizierenden Weltüberlegenheit eben auf das entsprechende ›Suchen‹ des Gnostikers konzentriert. Es bedarf keiner Frage, dass jenes ›Suchen‹ in der Ausrichtung auf die Deutung der Überlieferung von den Worten des ›lebendigen Jesus‹ eben von der Einlösung jener Hoffnung und Verheißung her, seine eigentliche Motivation erfährt. Was in diesem Kontext noch einmal speziell das Logion 2 betrifft, so kann man die hier sich aussprechende Verheißung zunächst – zumal auch vom Logion 51 des ThEv.s her gesehen142 – durchaus als Ausdruck einer präsentischen Eschatologie bezeichnen, die als solche – wie eben jenes Logion 51 besagt: »Aber ihr erkennt mich nicht« – vom ›Erkenntnis‹-Stand der Jünger abhängig ist, in diesem Sinne dann primär am Schicksal (und Verhalten!) des Einzelnen interessiert ist – und sei es auch erst am Schicksal des Einzelnen nach seinem Tod143. Charakteristisch für solche ›Individualeschatologie‹ ist in den gnostischen Schriften – abgesehen vom ThEv – vor allem die Vorstellung vom Seelenaufstieg bzw. von der ›Himmelsreise der Seele‹ nach dem Tod des Einzelnen: ›Aufstieg‹ und ›Himmelsreise der Seele‹, die – gewappnet gleichsam mit den entsprechenden apotropäischen Formeln – die ihr feindlich gesonnenen Planetensphären durchschreitet, bis sie endlich im Jenseits dieser Sphären, im Jenseits der ›Welt‹ also, zu ihrer ›Ruhe‹ gelangt. Dies ist eine individualeschatologische Erwartung, die in gnostischen Schriften weitverbreitet ist, bis hin zu den späten Schriften der »Pistis Sophia« und den mandäischen 141 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 261: »Der gnostische Mythos ist … sowohl seinem Inhalt als auch seiner Formstruktur nach eschatologisch« (im Folgenden mit Hinweis u.a. auf Clem. Al., Exc.ex Theod. 78,2!); weiter: ebd., S. 258 ff.; II , S. 11 ff., hier (S. 15) die Definition: »Gnosis als die mythische Anschauung des eschatologisch gefaßten Weltwesens, die sich in bestimmten Mythologoumena ausgelegt hat«. 142 Auf die Frage der Jünger: »Wann wird die ›Ruhe‹ der Toten kommen, und wann wird die neue Welt kommen?« antwortet Jesus: »Die ihr [erst] erwartet, ist [schon] gekommen – aber ihr erkennt sie nicht«. Dazu wiederum Ph. Vielhauer, ANAPAUSIS , S. 229 und S. 231. 143 Vgl. auch K. Rudolph, Die Gnosis, S. 186: »Von der Anlage her ist die Gnosis an diesem individuellen Ende des Menschen in erster Linie interessiert; anders ausgedrückt: Die individuelle Eschatologie, d.h. die Lehre vom Schicksal des einzelnen nach dem Tode, steht im Vordergrund«.

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Schriften, hier häufig i.S. der Rede von den »himmlischen Wohnungen«144. – Fraglich demgegenüber muß bleiben, ob in den Zusammenhang einer solchen ›Individualeschatologie‹ auch die wiederum für das ThEv charakteristische Rede vom einzubeziehen ist, die Rede vom ›Einzigen‹ bzw. ›Einzelnen‹, der – nach Logion 49 (und 50) zugleich der ›Auserwählte‹ ist und als solcher bereits innerweltlich die für seine Existenz in der Welt gesetzten Trennungen und Unterschiede (bis hin zum Geschlechtlichen) überwunden bzw. rückgängig gemacht hat145. In jedem Fall jedoch charakteristisch für das Denken und Hoffen der Gnostiker ist es, dass eine solche gleichsam präsentische Eschatologie keineswegs eine futurische, ja apokalyptische Eschatologie ausschließt, letztere auch i.S. einer ›Naherwartung‹, wie sie sich im ThEv wiederum im Logion 111 äußert: »Jesus sagte: ›Die Himmel werden aufgerollt werden und die Erde in eurer Gegenwart, und der Lebendige aus dem Lebendigen wird weder Tod noch Angst sehen‹ – weil Jesus sagt: ›Wer sich selbst findet, dessen ist die Welt nicht wert‹«146. Eine Alternative von einer präsentischen Eschatologie einerseits und einer futurischen bzw. apokalyptischen Eschatologie andererseits gibt es hier nicht, und dies schon gar nicht i.S. der These von R.M. Grant, derzufolge es – unter der Voraussetzung eines Ursprungszusammenhangs zwischen (jüdischer) Apokalyptik und Gnosis – die Enttäuschung der eschatologischer Hoffnungen der jüdischen Apokalyptik gewesen ist, die am Ende in der Gnosis zu einer Spiritualisierung und – damit auch – Vergegenwärtigung der ursprünglichen eschatologischen Hoffnungen geführt hat: Der eigentliche Anstoß zu einem spezifisch gnostischen Denken sei also aus dem Scheitern von ursprünglich apokalyptischen Erwartungen erwachsen147. Nun besteht gewiss kein Zweifel daran, dass es in der frühchristlichen Gnosis so etwas wie eine ›präsentische‹ Eschatologie gegeben hat. Gleich144 Zur »Himmelsreise der Seele« vgl. Origenes, Contra Celsum VI 27.30 f. Zum Einzelnen: W. Bousset Die Himmelsreise der Seele, S. 136–169 und S. 229–273; H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 205–210; K. Rudolph, Die Gnosis, S. 186 ff. – Zum konkreten Verlauf dieser ›Himmelsreise‹ sei hier nur auf das »Evangelium der Maria« (BG 8502, p. 15,3 ff. und p. 17,4 ff. hingewiesen. Vgl. auch ebd. im Apokr. des Johannes (BG 8502, p. 67,18 ff.). 145 Vgl. hier, im ThEv, neben dem Logion 46 besonders das Logion 75: »die Einzelnen ( ) sind es, die in das Brautgemach eingehen werden«. – Zum Terminus im ThEv vgl. M. Harl, À propos des Logia de Jésus: Le sens du mot MONACOS , S. 464–474, sowie H.-Ch. Puech, En quète de la Gnose II , S. 95 ff. 216 ff. und S. 238 ff. 146 Zur Stelle vgl. Ph. Vielhauer, Anapausis. Zum gnostischen Hintergrund des Thomasevangeliums, S. 234. 147 So R. M. Grant, Gnosticism and Early Christianity, S. 34: »Faith was shaken in God, his covenant, his law, and his promises. Out of such shaking, we should claim, same the impetus toward Gnostic ways of thinking …«. Zum religionsgeschichtlichen Ursprung der Gnosis in der jüdischen ›Apokalyptik‹ vgl. ebd., S. 26 ff. sowie S. 36: »the thesis that Gnosticism originated out of apocalyptic Judaism«. W. Schmithals, Die Apokalyptik, S. 67 ff., spricht sogar von einem ›gemeinsamen Daseinsverständnis‹ von Apokalyptik und Gnosis. Zur Frage eines Ursprungszusammenhangs in dieser Hinsicht vgl. den Literaturbericht von K. Rudolph, in: ThR 36 (1971), S. 96 ff.; ders., Die Gnosis, S. 297 ff.

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wohl kann die traditionelle Sicht einer spezifisch gnostischen Eschatologie, derzufolge, wie es bereits in den neutestamentlichen Pastoralbriefen (2 Tim 2,18) heißt, ›die Auferstehung bereits geschehen‹ ist, abgesehen vom besonderen Fall der Pastoralbriefe (und ihrer anti-gnostischen Frontstellung)148, zumal nach dem Handschriftenfund von Nag Hammadi schwerlich beibehalten werden. Die Eschatologie der frühchristlichen Gnosis ist offensichtlich vielfältiger und wohl auch spannungsreicher gewesen als es jene traditionelle Sichtweise wahrhaben wollte. Bei der in jenen Schriften von Nag Hammadi dokumentierten ›Eschatologie‹ geht es offensichtlich weniger um die Beschreibung einer gleichsam ›statischen‹ Position als vielmehr um die Beschreibung eines dynamischen Prozesses, der sich als solcher nicht auf eine bestimmte Position einschränken lässt. Wenn es – beispielsweise – im Logion 18 des ThEv.s auf die Frage der Jünger an Jesus: »Sage uns, wie unser Ende sein wird?« in der Antwort Jesu heißt: »Habt ihr denn schon den Anfang entdeckt, dass ihr nach dem Ende fragt? Denn dort, wo der Anfang ist, dort wird auch das Ende sein – selig ist [also], wer am Anfang stehen wird, und er wird [von daher] das Ende erkennen und den Tod nicht schmecken«; oder wenn im Logion 51 wiederum die Frage der Jünger lautet: »Wann wird die Ruhe der Toten eintreten und wann wird die ›neue Welt‹ kommen?« und die Antwort Jesu lautet: »Die [neue Welt], die ihr erwartet, ist [schon] gekommen – doch ihr erkennt sie nicht«, so ist offensichtlich, dass es hier, da die gnostische Frage nach den ›letzten Dingen‹ zur Diskussion steht, nicht nur um eine gleichsam ›rein präsentische‹ Eschatologie geht; vielmehr ist in beiden genannten Fällen, was jedenfalls die Antwort Jesu auf die Frage seiner Jünger nach dem ›Wann endlich?‹ betrifft, eine merkwürdige ›Offenheit‹ in der Antwort Jesu festzustellen, die sich auch nicht auf die Formel einer gleichsam ›rein präsentischen‹ Eschatologie bringen lässt149. Nachdem bereits i.J. 1970 M.L. Peel mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht hat, dass es nach dem Zeugnis fast aller bisher bekanntgewordenen gnostischen Originalschriften (und dabei mitunter auch in ein und derselben Schrift!) Hinweise auf eine futurische, ja sogar ausgesprochen apokalyptische Eschatologie gibt150, ist offensichtlich, dass es wenig Sinn gibt, angesichts des ›exegetischen Befundes‹ hinsichtlich der gnostischen Eschatologie von einer 148 Vgl. aber auch, was die Schriften von Nag Hammadi betrifft, den Rheginosbrief (NHC I/4), p. 49,15 ff., sowie das Philippusevangelium (NHC II /3), p. 56,15 ff., und dazu M. L. Peel, Gnosis und Auferstehung. 149 Zur Problematik einer strikten Unterscheidung zwischen ›präsentischer‹ und ›futurischer‹ Eschatologie vgl. J. Frey, Die johanneische Eschatologie I, S. 407–412, hier grundsätzlich zur »Problematik der Forschungskategorien«. 150 M. L. Peel, Gnostic Eschatology and the New Testament, S. 141–165, spricht in diesem Zusammenhang von »a kind of instant eschatology, being already saved in the Now« (S. 143). Vgl. aber auch ebd., S. 159 ff., zur Frage einer ›Endzeit speculation‹ in der Gnosis. Zu einem ›universaleschatologischen‹ Aspekt in der Gnosis vgl. R. Haardt, Das universal-eschatologische Vorstellungsgut in der Gnosis, S. 315–336. Zum Thema der Eschatologie in der Gnosis insgesamt: A. H. B. Logan, Gnostic Truth and Christian Heresy, S. 301 ff.

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Alternative zwischen ›präsentischer‹ und ›futurischer‹ bzw. ›apokalyptischer‹ Eschatologie auszugehen. Mehr noch: Seitdem mit den gnostischen Originalschriften von Nag Hammadi auch eine ganze Reihe gnostischer ›Apokalypsen‹ ans Tageslicht gekommen ist, erscheint es als durchaus gerechtfertigt, auch von einer spezifisch gnostischen Apokalyptik zu reden, mit der sich zugleich eine gänzlich neue Dimension in der Forschungsgeschichte der spätantiken bzw. frühchristlichen Gnosis eröffnet hat. Mit Recht hat deshalb H.G. Kippenberg seinen ›Vergleich jüdischer, christlicher und gnostischer Apokalyptik‹ mit der Feststellung begonnen: »Seit dem Bekanntwerden der Nag-Hammadi-Bibliothek steht das Verhältnis von Gnosis und Apokalyptik wieder zur Debatte«151. So gewiss es hier nicht der Ort ist, des Näheren auf diese ›gnostische Apokalyptik‹ einzugehen, soll doch wenigstens exemplarisch solche keineswegs ›statische‹, sondern viel eher an der Dynamik eines ›Schon‹ und ›Noch nicht‹ orientierte gnostische Eschatologie verdeutlich werden, wie sie sich paradigmatisch im ›Dialog des Erlösers‹ (NHC III /5) darstellt – und hier offensichtlich zugleich alle Gegenüberstellungen oder gar Alternativen von ›präsentischer‹ Eschatologie einerseits, ›futurischer‹ Eschatologie andererseits als letztlich unsachgemäß erweist: So findet sich hier, im ›Dialog des Erlösers‹, bereits zu Beginn (p. 120,3–8) in der Rede des Erlösers an seine Jünger die Äußerung einer – vordergründig betrachtet – ›präsentischen‹ Eschatologie, und zwar i.S. einer unmittelbaren ›Naherwartung‹: »Die Zeit« – besser wohl: der Kairos! – »ist bereits gekommen, Brüder, da wir (alle) unsre Mühsal hinter uns lassen und [damit endlich] in der Ruhe ( ) stehen«. Im unmittelbaren Anschluss daran (p. 122,1 ff.) folgt dann freilich eine eher ›futurisch-eschatologische‹ Belehrung der Jünger: »Ich werde euch belehren: Wenn die Zeit der Auflösung (kopt.: bol ebol) kommt, wird die erste Macht der Finsternis (kopt.: kjom mpkake) über euch kommen. Fürchtet euch [aber] nicht, sondern sprecht vielmehr: ›Siehe, die Zeit ist gekommen …‹« Dem entspricht, wiederum i.S. einer Naherwartung, die Aussage p. 132,5 ff., in der Matthäus zunächst den Erlöser anspricht: »Herr, ich möchte den Ort jenes Lebens[sehen], an dem es keine Finsternis [mehr] gibt, sondern wo reines Licht ist« – und darauf die Antwort des Erlösers: »Es sprach der Herr: ›Bruder Matthäus, du wirst ihn [jenen ›Ort des Lebens‹] nicht sehen, solange du das Fleisch an dir trägst«. Und weiter sodann p. 138,11 ff.: »Judas sagte [zu Jesus]: ›Siehe, die Archonten sind über uns, [und] sie sind es, die über uns herrschen‹«, darauf wiederum die Antwort Jesu: »Ihr seid es [doch], die über sie herrschen werden – aber erst dann, wenn ihr euch des Neides entledigt 151 So H. G. Kippenberg, Ein Vergleich jüdischer, christlicher und gnostischer Apokalyptik, S. 751; dazu auch K. Rudolph in seinem Schlusswort, ebd., S. 784 f. Vgl. auch die Beiträge ebd. von M. Krause (S. 621–637), G. McRae (S. 317–328) sowie den Überblick über die hierzu in Betracht kommenden Schriften von Nag Hammdi bei F.T. Fallon, The Gnostic Apocalypses, S. 123–150.

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habt – dann werde ich euch mit Licht bekleiden, und ihr werdet in die Brautkammer eintreten«. Und schließlich p. 141,2 ff.: »Matthäus sagte: ›[Warum] ruhen wir nicht [sofort]?‹ Der Herr sprach: ›Erst wenn ihr diese Lasten abgelegt habt‹« – und weiter: »Erst wenn ihr die Werke hinter euch gelassen habt, die euch nicht folgen können, dann werdet ihr ruhen … Selig [also] ist der Mensch, der gefunden hat« (p. 141,24). ›Präsentische‹ und ›futurische‹ Eschatologie, jeweils für sich verstanden, lassen sich hier offensichtlich gar nicht mehr strikte unterscheiden, und d.h.: Eschatologie (i.S. der Frage nach den ›letzten Dingen‹) ist hier eher wohl als ein Prozess verstanden. Eben dies unterstreicht zuletzt im ›Dialog des Erlösers‹ noch einmal jene merkwürdige Antwort Jesu auf die Frage der Jünger (p. 142,16 ff.): »Sie sprachen zu ihm: ›Welches ist der Ort, wohin wir gehen?‹ Der Herr sprach: ›Der Ort, den ihr erreichen könnt – er ist hier!‹« – die Aussage einer ›präsentischen‹ Eschatologie also, diese aber nun wiederum unmittelbar im Zusammenhang mit Aussagen, die in eine (nahe) Zukunft verweisen. In der Tat also: »We discover a duality that is sustained throughout the Dialogue: first, an emphasis on realized eschatology; second, juxtaposed with this, clear evidence of futuristic eschatology. This duality seems to be integral to the structure of the present Dialogue«152. In dieser Art von Gnosis, wie sie der Dialog des Erlösers repräsentiert, geht es jedenfalls nicht um eine Art von »enthusiastischer Vorwegnahme des Eschaton«, am Ende überhaupt nicht um irgendwelche gleichsam statische Befindlichkeiten, sondern viel eher um einen Prozess; nicht also um ein bereits jetzt erfülltes Dasein in dieser Welt, sondern um die vorläufige Existenz in dieser Welt auf dem Wege zu einer – noch ausstehenden – endgültigen ›Entweltlichung‹: (Nah-)Erwartung also einer noch ausstehenden Aufhebung allen ›Mangels‹ ( ), und zwar restitutio in integrum in der jenseitig-göttlichen Welt des , des Ortes also der ›Fülle‹ und der ›Ganzheit‹. Und nicht zuletzt in diesem Zusammenhang: Hier geht es für den Gnostiker immer zugleich – wie in einer christlichen Gnosis nicht anders zu erwarten – um einen Weg, auf dem der ›Erlöser‹ Jesus, er nunmehr ›angepasst‹ an das genuin gnostische Grundverständnis von ›Welt‹ als Ort des ›Mangels‹ ( ) und der göttlichen Welt als Ort der ›Fülle‹ ( ), Rolle und Funktion des Lehrers bzw. des eingenommen hat, als Führer gleichsam auf dem Weg vom Ort des Mangels und der Zerrissenheit zum Ort der Fülle oder, wie es auch heißt, zum ›Brautgemach‹153. 152 So E. Pagels/H. Koester, Report on the Dialogue of the Savior (CG III ,5), S. 68. Vgl. auch ebd., S. 71 f. 153 Vgl. dazu Clemens Alexandrinus, Excerpta ex Theodoto 23,2; 26,3; 32,2; 33,5; 35,1; 36,2. Für die Schriften von Nag Hammadi vgl. bes. die Entgegensetzung von ›Mangel‹ und ›Fülle‹ im Evangelium Veritatis (NHC I/3), p. 24,28–25,19: »Da der Mangel entstanden ist, weil sie den Vater nicht kannten, darum wird, wenn sie den Vater erkennen, von dem Augenblick an der Mangel nicht mehr bestehen. Wie eines Menschen Unwissenheit sich im Augen-

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

So gesehen stellt die dualistische Unterscheidung zwischen dem Pleroma und dem Kenoma in der Tat – wie bereits R.A. Markus in seiner Untersuchung ›Pleroma and Fulfilment‹ festgestellt hat154 – »the very raison d’ètre of the gnostic myth« dar, genauer noch: die raison d’ètre des gnostischen Mythos als eines eschatologischen, auf eine endgültig-endzeitliche restitutio in integrum ausgerichteten Mythos155. Aufs Ganze gesehen: Was in der Logiensammlung des Thomasevangeliums wie auch in den Spruchdialogen aus dem Handschriftenfund von Nag Hammadi praktiziert wird156, ist am Ende nichts anderes als das ›Suchen‹ und ›Finden‹ der rechten Deutung der Logien Jesu i.S. des Logions 2 des ThEv.s. Von diesem Programmwort ausgehend geschieht die Deutung der Logien Jesu vermittels einer Einbeziehung der Überlieferung von den Worten Jesu in ein spezifisch gnostisches Grund- bzw. Vorverständnis, also in einen durch die Gnosis selbst bestimmten hermeneutischen Horizont. In diesem Sinne haben sowohl das ThEv als auch die ›Dialoge als Spruchauslegung‹ (H. Köster) an jener ›Such‹-Bewegung der Gnostiker teil, wie sie nun für die Rezeption des Neuen Testament insgesamt bestimmend ist. Das ›wahre‹ Verständnis des Neuen Testaments wie auch – speziell – der Sonderüberlieferung von den Logien Jesu wird erst unter der Voraussetzung eines gnostischen Vorverständnisses ›gefunden‹. So gesehen sind ›Suchen und Finden‹ der rechten Deutung im Blick auf die Überlieferung von den Logien Jesu nichts anderes als ein spezieller Fall des gnostischen Verständnisses von Mt 7,7 bzw. Lk 11,9 f. im Blick auf die Rezeption des Neuen Testaments insgesamt in der frühchristlichen Gnosis. Was das ›kirchliche‹ bzw. ›frühkatholische‹ Christentums des 2. Jh.s einerseits, die frühchristliche Gnosis andererseits – in ›formaler‹ Hinsicht miteinander verbindet, ist mit K. Koschorke formuliert157 »die gemeinsame Teilhabe an den Schätzen der christlichen Offenbarung«; was sie, die frühchristliche Gnosis, vom kirchlichen Christentum unterscheidet, ist die Art und Weise der jeweiligen Rezeption, der »verstehenden Aneignung eben dieser Schätze« (K. Koschorke) – denn: wirklich ›angeeignet‹ werden diese ›Schätze‹ in der blick, da er erkennt, von selbst auflöst; wie die Finsternis sich auflöst, wenn das Licht scheint, so löst auch der Mangel sich auf mit demEintritt der Fülle«. Zur Bezeichnung des Pleroma als ›Brautgemach‹ vgl. Clem. Al., Exc.ex Theod. 65,1 f., sowie V. MacDermot, The Concept of Pleroma in Gnosticism, S. 80, Anm. 27. 154 R.A. Marcus, Pleroma and Fulfilment, S. 221. Vgl. auch F.-M. Sagnard, La Gnose valentinienne, S. 259–333, sowie V. MacDermot, The Concept of Pleroma in Gnosticism, S. 79 ff. 155 So R.A. Markus, Pleroma and Fulfilment, S. 198: »The drama of the Pleroma concludes with e last act, the restoration of the lost integrity«. 156 H. Köster, Dialog und Spruchüberlieferung in den gnostischen Texten von Nag Hammadi, S. 544 ff.: »Dialog als Spruchauslegung«; ders., Gnostic Writings as Witnesses for the Development of the Saying Tradition, hier S. 238–244 speziell zu den »Sayings about Seeking and Finding«. 157 K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 211.

4.2 »Suchet – so werdet ihr finden« als Programm gnostischer Schriftauslegung

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frühchristlichen Gnosis unter der Voraussetzung eines im Grunde bzw. im Ansatz nicht-christlichen Grundverständnisses von ›Welt‹ und ›Mensch‹, von ›Heil‹ und ›Unheil‹. Um es mit Irenäus als dem ersten großen ›Ketzerbestreiter‹ der frühkatholischen Kirche des 2. Jahrhunderts zu formulieren: Die ›Ketzerei‹ der frühchristlichen Gnostiker besteht letztlich darin, die Hl. Schrift der Christen an ihr eigenes gnostisches, also gleichsam ›von außen her‹ an die Schrift herangetragene argumentum ›anzupassen‹ – ›Anpassung‹ also des »in der Schrift [ursprünglich] gut gesagten« an ihre, der Gnostiker, »schlechten Erfindungen«158. In der Konkurrenz-Situation zwischen ›kirchlichem‹ Christentum einerseits und ›Gnosis‹ andererseits am Ausgang des 2. Jh.s hat eine solche jeweils vom Ansatz her unterschiedliche Grundposition zwangsläufig zur Folge, dass beide Seiten die ›wahre Schriftauslegung‹ jeweils für sich reklamieren – auch wenn bei alldem von vornherein außer Frage steht, dass der genuin christliche Ansatz weit eher bei den frühchristlichen Ketzerbestreitern festgehalten wird als bei ihren gnostischen Kontrahenten. Die ›Streitgespräche‹, die in dieser Hinsicht, was das ›wahre‹ oder das ›falsche‹ Schriftverständnis betrifft, zwischen beiden Kontrahenten geführt worden sind, belegen dies im Einzelnen zur Genüge: Eine lediglich ›formale‹ Berufung auf ›die Schrift‹ genügte hier offensichtlich nicht, um wirklich sachgemäß zwischen ›wahrer‹ und ›falscher‹ Schriftauslegung zu unterscheiden. Denn gerade die Gnostiker rühmen sich nach dem Bericht des Irenäus, die ›Lehrmeinungen‹ der Propheten, des Herrn und der Apostel »besser zu verstehen … als alle anderen«159; und dem entspricht es auch, dass nach Origenes aus jener unterschiedlichen Auslegung der beiderseits als ›göttlich‹ anerkannten Schriften überhaupt erst die Häresien entstanden sind160. Am Ende geht es also gar nicht mehr um die je unterschiedliche Berufung auf die ›Heilige Schrift‹ als solche, sondern um die Frage einer angemessenen Auslegung der Schrift. Über ›wahr‹ und ›falsch‹, ›rechtgläubig‹ und ›häretisch‹ entscheidet am Ende der konkrete Vollzug, die Praxis der kirchlichen Schriftauslegung einerseits und der häretisch-gnostischen Schriftauslegung andererseits.

158 Irenäus, Adv. Haer. I 3,6. – Von hier aus wäre im Übrigen zu fragen, ob für die frühchristliche Gnosis, wie K. Koschorke (a.a.O., S.211) meint, tatsächlich die (mit dem Gemeindechristentum gemeinsame!) christliche Tradition »der primäre Ansatzpunkt der christlichen Gnosis« gewesen ist? 159 Irenäus, Adv. Haer. I 8,1. Vgl. auch Tertullian, De paescr. haer. 18,3 sowie Test. Veritatis (NHC IX /3, p. 37,7 f.) und Petrus-Apk. (NHC VII /3, p. 77,33 f.). Dazu: K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 212 f. 160 So Origenes, c. Cels. III 12. Vgl. auch Origenes, De orat. 29,10, sowie wiederum Tertullian, De resurrectione 40,1; De praescr. haer. 40,1, und zu den genannten Stellen K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 213 f.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments 4.3.1 Grundsätzliches Der Streit um das ›wahre‹ oder das ›falsche‹ Verständnis der Schrift ist nach dem Zeugnis der frühchristlichen Häresiologen des 2. Jh.s, insbesondere nach dem Zeugnis des Irenäus und des Tertullian, in der Auseinandersetzung zwischen frühkatholischer Kirche und frühchristlicher Gnosis in der zweiten Hälfte des 2. Jh.s offensichtlich von zentraler Bedeutung gewesen. Begründet ist dies im zentralen Interesse auch der frühchristlichen Gnostiker an der christlichen Bibel, insbesondere am Neuen Testament. Gleichviel, ob es tatsächlich Gnostiker gewesen sind, die als erste – noch vor den Repräsentanten der frühkatholischen Kirche – ›Kommentare‹ zu bestimmten biblischen Büchern verfasst haben161 – außer Frage steht jedenfalls, dass die Gnostiker mit ihrer Theorie und Praxis der Rezeption des Neuen Testaments eine wesentliche, ja geradezu provozierende Rolle bei der Herausbildung einer kirchlich-rechtgläubigen ›biblischen Hermeneutik‹ gespielt haben. In diesem Sinne ist das Übergewicht des Neuen Testaments gegenüber dem Alten Testament in des Irenäus antignostischem Hauptwerk ›Adversus Haereses‹ auf weiten Strecken eine Reaktion auf die Inanspruchnahme der Schriften des Neuen Testaments durch die von ihm bekämpften Gnostiker162. Entsprechendes gilt ebenso für Tertullian wie auch für Clemens Alexandrinus und Origenes – mit anderen Worten: Nimmt der Streit um das ›rechte‹ Schriftverständnis in der Auseinandersetzung zwischen ›Kirche‹ und ›Gnosis‹ in der frühen Kirche einen so breiten Raum ein, so ist dies ohne Frage ein Symptom dafür, dass die Schriftauslegung der frühchristlichen Gnosis eine wesentliche Herausforderung der frühen Kirche darstellte: Hier ging es offensichtlich immer zugleich um die Unterscheidung zwischen ›wahrem‹ und ›falschem‹ Glauben. Hier, in der Schriftauslegung seitens der Gnostiker, wurden offensichtlich hermeneutische Grundfragen an die ›kirchliche‹ Schriftauslegung gestellt, die sich nicht einfach mit der Feststellung beantworten ließen, dass die Gnostiker, wie es z.B. Clemens Alexandinus formuliert hat163, die Schrift bereits durch die Art und Weise des Vortrags »nach ihren eigenen Begierden verdrehen«. Mag der hier angesprochene ›subjektive‹ Faktor durchaus auch eine gewisse Rolle gespielt haben, so ist er im Grunde doch lediglich Ausdruck eines bestimmten Vor161

S. dazu oben S. 236 f. Vgl. auch H. Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung I, S. 154 f., zu Irenäus: »Zu dieser Haltung, die man heute fundamentalistisch nennen müsste, wurde er aber offensichtlich … durch die Häretiker gedrängt«. 163 Clemens Alexandrinus, Strom. III 39,2. Vgl. auch Irenäus, Adv. Haer. III 12,12, sowie Tertullian, De praesc.haer. 38. 162

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Verständnisses im Blick auf die Schrift, eines Vorverständnisses nämlich in dem Sinne, dass die Schriftauslegung seitens der Gnostiker die Schrift in einer anderen Perspektive wahrnimmt, welche sich von der Perspektive der ›rechtgläubigen‹ Christen im Wesen unterscheidet164. Diesem Sachverhalt entspricht es, wenn Irenäus die Vielfalt, Uneinheitlichkeit, ja die heillose Zersplitterung der exegetischen Bemühungen seiner Kontrahenten beklagt: Tantae sunt de uno inter eos diversitates, de eisdem scripturis varias habentes sententias165 – dies jedenfalls ein Sachverhalt, der für diejenigen, die sich auf eine Disputation mit den Gnostikern einlassen, eine unmittelbare Gefährdung der eigenen kirchlichen Position zur Folge hat: Wer sich mit den Gnostikern auf eine Disputation einlässt, wird am Ende in noch größerer Ungewissheit nach Hause gehen, ob er sich nun der ›Wahrheit‹ oder nicht vielmehr den Häretikern zuwenden soll – so jedenfalls die Warnung des Tertullian vor derartigen Disputationen mit den Gnostikern. Irenäus seinerseits dürfte bei alledem aus eigener Kenntnis der Position seiner Kontrahenten sprechen, als Zeuge gleichsam für eine unmittelbare Begegnung bzw. für Streitgespräche mit den Gnostikern, bei denen die letzteren offensichtlich das ›bessere‹ Schriftverständnis für sich in Anspruch nahmen166. So rühmen sich z.B. die Valentinianer, die Lehrmeinungen der »Propheten, des Herrn und der Apostel besser zu verstehen als alle anderen« (Irenäus, Adv. Haer. I 8,1). In dieselbe Richtung weist auch ein von Clemens Alexandrinus (Strom. VII 96,5) mitgeteiltes Zeugnis der Gnostiker selbst, demzufolge die ›Kirchenchristen‹, sie gleichsam als die ›Psychiker‹, gar nicht imstande sind, den ›eigentlichen‹ Sinn der Schrift zu erfassen. Und schließlich geht auch die Polemik gegen ein ›kirchliches‹ Christentum in einigen der Schriften von Nag Hammadi in dieselbe Richtung, so z.B. im ›Testimonium Veritatis‹ (NHC IX /3, p. 37,7 f.): »sie [die ›Kirchenchristen‹] verstehen nicht die Schriften«, oder auch in der ›Petrusapokalypse‹ von Nag Hammadi (NHC VII /3, p. 77,33 f.)167. Der Vorwurf einer ›Verfälschung‹ der Schrift infolge unangemessener Auslegung ist also durchaus beiderseits der Kontrahenten erhoben worden. Ganz in diesem Sinne gibt Tertullian in den Kapiteln 18 und 19 von De praescr. haer. Einen Einblick in das Grundproblem dieses ›Streites um die Bibel‹ (19,1: conlatio scripturarum), der sich, wie Tertullian meint, gar nicht allein von der jeweils in Frage stehenden Schrift selbst her entscheiden lässt: Denjenigen, der zweifelt, ob er sich nun auf Grund der Schrift »der Wahrheit [der Kirche] oder doch nicht eher den Häretikern zuneigen soll« (… ad veritatem, an magis ad haereses deverget), macht 164 Zum Grundproblem in dieser Hinsicht vgl. bes. P. C. Miller, »Words with an Alien Voice«. Gnostics, Scripture, Canon, S. 478: »For Irenaeus, meaning must always come to closure in and by means of a ›Rule of Faith‹. And although he put his finger on some of the effects of Gnostic textuality … he has no understood the perspective from which the Valentinians approached interpretation«. 165 Irenäus, Adv. Haer. IV 35,4. Vgl. auch Tertullian, De praesc.haer. 17 und 38. 166 Hauptbeleg dafür ist Adv. Haer. I, praefatio 2. Vgl. aber auch ebd. I 20,1. 167 Vgl. dazu K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 212.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

er, Tertullian, darauf aufmerksam, dass man sich in einem solchen Streit eben nicht allein auf die Schrift (als solche!) berufen kann; vielmehr ist die Frage zu beantworten, quibus competat fides ipsa, cuius sint scripturae, a quo, et per quos, et quando, et quibus est tradita disciplina, qua fiunt Christiani‹ (c. 19,1 f.). Die Schlussforderung aus alledem lautet (ebd. c. 19,3): Ubi enim apparuerit esse veritatem disciplinae et fidei Christianae, illic erit et veritas scripturarum, et expositionem, et omnium traditionum Christianorum, und ebd., c. 14,3 f.: Fides … tua te salvum fecit, non exercitatio scripturarum. Fides in regula posita est … – mit der Schlussfolgerung in c. 14,5: adversus regulam … nihil scire omnia scire est. Bemerkenswert ist bei alledem, dass Tertullian seinen Kontrahenten immerhin zugesteht, dass auch sie, die Häretiker, den Vorwurf falschen Schriftverständnisses auf ›uns‹, die Kirchenchristen, ›zurückwerfen‹ können, indem auch sie notwendigerweise behaupten müssen, dass sie es ihrerseits sind, »die Verfälschungen der Schriften begehen und unwahre Deutungen hervorbringen, da sie ja gerade so die Wahrheit für sich in Anspruch nehmen«.

Wenn nun wiederum Irenäus angesichts der diversitates der exegetischen Auffassungen seiner Kontrahenten für die ›rechtgläubige‹ Seite des Streites um die Bibel geltend macht: Nos autem unum et solum verum dominum doctorem sequentes et regulam veritatis habentes eius sermones, de eisdem semper ad eadem dicimus omnes, unum Deum scientes … (Adv. Haer. IV 35,4), so kritisiert er damit zunächst nichts anderes als die Maßlosigkeit ihrer Schriftauslegung, und zwar zunächst durchaus i.S. der Mahnung des Paulus in Röm 12,3: Quapropter et apostolus ait: »Non plus sapere quam oportet sapere, sed sapere ad prudentiam«, ut non illorum manducantes agnitionem, eam quae plus quam oportet sapit (Adv. Haer. V 20,2); darüber hinaus geht es hier jedoch zugleich um eine grundsätzliche Kritik an jener ›Maßlosigkeit‹ der Schriftexegese seiner Kontrahenten – ›maßlos‹ deshalb, weil sie eben keine regula veritatis als ›Maß‹ bzw. ›Kanon‹ ihrer Schriftauslegung gelten lassen: apud neminem erit regula veritatis168. Gegenüber zur ausufernden, letztlich doch nur ihre Überheblickeit dokumentierenden Schriftauslegung macht Irenäus also den gleichsam ›objektiven‹ Kanon der regula veritatis (Adv. Haer. III 2,1; 12,6) und der kirchlichen Tradition geltend (Adv. Haer. III , Praef.; 1,1; 3,1–2)169. Darüber hinaus versäumt Irenäus angesichts der ›maßlosen‹(!) Schriftauslegung seiner Kontrahenten in diesem Zusammenhang nicht die dringliche Mahnung zu dem, was N. Brox die »hermeneutische Bescheidenheit« genannt hat170, konkret also den 168 Av. Haer. III 2,6; vgl. auch III 2,1, sowie D. B. Reynders, La polémique de S. Irénée, S. 17: »L’écriture s’interprète donc à la lumiére de la tradition. C’est la norme essentielle de tout exégèse«. 169 Dazu vgl. im Einzelnen H.-J. Jaschke, Art. Irenäus von Lyon, in: TRE 16, S. 260, Z. 20 ff., hier Z. 45 f.: »So wird die Tradition zum hermeneutischen Kontext, innerhalb dessen die Wahrheit der Schrift aufgeht …«. 170 N. Brox, Art. Irenäus von Lyon, in: RAC 18, Sp. 846; ders., Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 33 f. Zur Sache vgl. auch H. Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung I, S. 166 f.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Appell an den »gesunden Menschenverstand« (sensus sanus), der nur das untersucht, »was Gott in die Macht des Menschen gegeben hat«, und was so auch der ›Erkenntnis‹ des Menschen zugänglich ist (Adv. Haer. II 27,1). Also, so die Argumentation des Irenäus, kann man einen Teil der jeweils anstehenden Fragen auch getrost Gott selbst überlassen (Adv. Haer. II 28,2–4), zumal Gott allein die ›vollkommene Erkenntnis‹ hat (Adv. Haer. II 28,8) – mit einem Wort also: Si autem omnium quae in scripturis requiruntur absolutiones non possumus invenire, alterum tamen deum praeter eum qui est non re-quiramus: impietas enim haec maxima est. Cedere autem haec talia debemus Deo qui et nos fecit … (Adv. Haer. II 28,2). Solche Mahnung zu einer dem Menschen angemessenen ›Bescheidenheit‹ gilt konkret vor allem angesichts der von Irenäus mehrfach vermerkten Vorliebe der Gnostiker für die Gleichnis- bzw. Parabelrede der Schrift. Sie vor allem ist ja »le terrain favori des spéculations gnostiques«171. Dies ist keineswegs erstaunlich: In einem Zeitalter, in dem die Allegorese zu den seit langem geübten Methoden einer Aktualisierung literarischer Überlieferungen gehört, ist es nur zu verständlich, dass man jede ›Parabel-‹ bzw. ›Gleichnisrede‹ als eine Redeweise verstand, in der der jeweils gemeinte Sachverhalt nicht offen und unverstellt zur Sprache gebracht wird, sondern – wie nun auch bei den Kontrahenten des Irenäus – »auf geheimnisvolle Weise«172. Und das heißt i.S. der gnostischen Schriftausleger zugleich: Die eigentliche Lehre dieser Parabeln ist eine ›geheime‹ Lehre, die als solche nur den ›Eingeweihten‹ zugänglich ist, denjenigen also, die auf Grund der nur ihnen eigenen hermeneutischen Voraussetzungen einer besonderen ›Erkenntnis‹ fähig sind (Adv. Haer. I 25,5). Die Gleichnis- bzw. Parabelrede ist im Grunde eine verschlüsselte Botschaft für geheime Überlieferungen, Rätselrede also für die Nichteingeweihten, die als solche der Entschlüsselung durch diejenigen bedarf, die die entsprechende ›Erkenntnis‹ besitzen. Und dies hat, nach der Auffassung des Irenäus, zur Folge, dass der nicht nach dieser Auffassung handelnde Mensch »immer suchen, niemals jedoch finden wird, weil er die dem ›Finden‹ gemäße ›Disziplin‹ verworfen hat«173. Grundsätzlich, d.h. von der Polemik in diesem Zusammenhang einmal abgesehen, hat solche Position der Gnostiker zur Folge, dass der eigentliche Sinn dieser Art von Rede in der Hl. Schrift sich nur demjenigen erschließt, der auf Grund seines VorVerständnisses immer schon um die ›eigentliche‹ Wahrheit jener biblischen 171 A. LeBoulluec, La Bible chez les marginaux de l’orthodoxie, S. 153.170. Zitat: S. 165. Vgl. auch S. 164, mit Hinweis auf Clem. Al., Exc. ex Theod. 66: »Der Heiland lehrte die Apostel zuerst auf ›typische‹ und ›mystische‹ Weise, sodann auf gleichnis- und rätselhafte Weise, drittens [endlich] aber im besonderen ›offen‹ und ›unverstellt‹«. Dazu: N. Brox, Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 30–33. 172 Irenäus, Adv. Haer. I 3,1. 173 Irenäus, Adv. Haer. II 27,2: Itaque secundem hanc rationem homo quidem semper inquiret, numquam autem inveniet, eo quod ipsam inventionis abiecerit disciplinam. Vgl. auch ebd., III 5,1.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Texte weiß – genauer noch: der diese Texte in einer spezifisch gnostischen Perspektive zu lesen bzw. zu entschlüsseln imstande ist – als Texte nämlich, die ein spezifisch gnostisches Potential in sich bergen, das erst durch die entsprechende Entschlüsselung aktualisiert wird. Eben an dieser Stelle hat auch in der gnostischen Schriftauslegung die exegetische Methode der Allegorese ihren Ort. Sie ist gewiss nicht die ›Erfindung‹ der Gnostiker gewesen. Vielmehr stehen sie mit der Anwendung dieser exegetischen Methode ihrerseits bereits in der Kontinuität der griechischen und hellenistisch-jüdischen wie auch der frühchristlichen Tradition174. Grundlegend für die Anwendung dieser Methode ist – in jedem Falle! – die hermeneutische Voraussetzung und Zielrichtung, von der der jeweilige Ausleger ausgeht. Dies gilt auch schon für die vor-gnostischen Theoretiker und Praktiker der Allegorese, so z.B. für Philon Alexandrinus175. Was die (christlich-)gnostischen Schriftausleger des 2. nachchristlichen Jahrhunderts von ihren Vorgängern in dieser Hinsicht unterscheidet, ist einmal die nunmehr gnostische Perspektive, in der sie die Schriften des Alten und des Neuen Testaments lesen, zum anderen aber auch der extensive Gebrauch, den sie von dieser Methode machen: Nicht nur die Gleichnisrede der Schrift im engeren Sinne ist für sie der Anwendungsbereich der Allegorese, vielmehr läuft ihre Rezeption der Schrift des (Alten und des) Neuen Testaments auf eine Allegorisierung der Schrift insgesamt hinaus. Und eben dies nun ist der Sachverhalt, dem die altkirchlichen Häresiologen – bei aller ihrer Hochschätzung der Allegorese – nicht folgen können. Die entsprechenden Vorbehalte etwa des Irenäus angesichts des extensiven Gebrauchs der Allegorese bei seinen gnostischen Kontrahenten sind ebenso zahlreich wie auch deutlich, zumal Irenäus erkannt hat, dass der gnostische Schriftausleger bei seiner Praktizierung der Allegorese »inhaltlich … ganz auf seine Gnosis als Interpretationsprinzip festgelegt ist«176, d.h. auf diese Weise gar nicht mehr das Grundprinzip aller Schriftauslegung – obscuria per clariora – zu befolgen vermag177. Ebenso deutlich bezieht auch Tertullian in seiner (für seinen eigenen exegetischen Ansatz wichtigen) Schrift ›Scorpiace‹ Stellung gegen 174 Dazu im Einzelnen: J. Cloosen /J. Waszink, Art. Allegorese, in: RAC 1, Sp. 283–293; Sp. 292 f.: Lit. Vgl. auch H. Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung I, S. 39 ff., sowie D. Dawson, Allegorical Readers and Cultural Revision in Ancient Alexandria, S. 1–12 und S. 129–145. 175 Dazu vgl. J. Coosen/J. Waszink, a.a. O., Sp. 287, sowie H. Graf Reventlow, a.a.O., S. 48 f. 176 So N. Brox, Offenbarung, Gnosis und Mythos bei Irenäus von Lyon, S. 59. 177 Zu diesem Prinzip vgl. Irenäus, Adv. Haer. II 28,3: … et omnis scriptura a Deo nobis data consonans nobis invenietur, et parabolae his quae manifeste dicts sunt consonabunt, et manifeste dicta absolvent parabolas. Vgl. auch II 27,1, sowie bes. Tertullian, De pudicitia 17,18: Concede iam tot ac talibus senentiis unum illud quod tenes. Pauca multis, dubia certis, obscura manifestis adumbrantur. Nach R. D. Sider, Ancient Rhetoric and the Art of Tertullian, Oxford 1971, S. 50, geht dieses exegetische Prinzip auf den Rhetor Quintilian, Inst. Or. V 10,8, zurück: Per ea, quae certa sunt, fidem dubiis adferens.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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eine Schriftauslegung, die nicht mehr imstande ist, zunächst dem ›Wortsinn‹ zu folgen, sondern von vornherein alles auf die allegoriae, parabolae und aenigmata abstellt178. Bereits von daher gesehen ist für die gnostische Schriftauslegung ein bestimmter Eklektizismus charakteristisch, der nun freilich weniger die These rechtfertigt, dass die Gnosis als solche überhaupt erst aus dem Bestreben entstanden ist, »zweifelhafte Schriftstellen zu erklären«179, als vielmehr durch das grundlegende hermeneutische Auswahlprinzip der Gnostiker bedingt ist. In seiner polemischen Spiegelung bei Tertullian hat dieses Prinzip der Gnostiker faktisch nicht nur zu einer Umgestaltung der biblischen Bücher durch Weglassungen und Zusätze (adiectionibus et detractionibus) in Entsprechung zu den eigenen Anforderungen des jeweiligen gnostischen Systems geführt, sondern damit auch zu einer Verfälschung der Schriften selbst wie auch ihrer Deutung (et scripturarum et expositionum adulteratio)180. Positiv gesagt: Die Grundrichtung einer solchen gnostischen Lesart der Schrift geht in jedem Falle in die Richtung einer ›Anpassung‹ der Schrift an die eigene genuin-gnostische Perspektive.181 Was nach K. Rudolph bereits für das »Verständnis jüdisch-biblischer Texte in der gnostischen Literatur, vornehmlich aus Nag Hammadi« galt, zunächst vor allem im Blick auf die Rezeption des Alten Testaments in der Gnosis und hier wiederum vor allem im Blick auf die großen Ursprungserzählungen der Genesis, das gilt ebenso auch im Blick auf die gnostische Rezeption der Schriften des Neuen Testaments: ein selektiver Gebrauch der Bibel nämlich, »der sich daran orientiert, welche Stellen für das gnostische Grundanliegen zu adaptieren waren«182. Konkret stellt sich solcher Gebrauch der biblischen Überlieferung, wie ihn im Übrigen bereits Irenäus kritisch vermerkt hat: et quanta ex scripturis eligentes adaptare conantur fictioni suae183, in der Bevorzugung jener Schriften (oder auch bestimmter 178 Tertullian, Scorpiace 11,4. Dazu vgl. R. C. P. Hanson, Biblical Exegesis in the Early Church, S. 416 f. Zu Tertullians Hermeneutik in dieser Hinsicht vgl. auch M. Simonetti, Biblical Interpretation in the Early Church, S. 26: ›The need to oppose the exaggerated allegorisation of the Gnostics encouraged a literal interpretation of the Biblical text‹. Vgl. auch ebd., S. 37: ›the excess of Gnostic allegories …‹. 179 So G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die Heilige Schrift, S. 185, hier mit Verweis auf Irenäus, Adv. Haer. III , 10,1: ambiguas exsolvere scripturas. 180 Tertullian, De Praescr. Haer., cc. 17 und 38. 181 Dazu A. LeBoulluec, Le Bible chez les marginaux d’orthodoxie, S. 163: ›Les hérésiologues n’accusent pas tant les gnostiques de falsifier les textes des Évangiles ou de l’Apòtres que d’altérer leur sens pour adapter à leur doctrine‹. 182 So K. Rudolph, Bibel und Gnosis, S. 145. Vgl. auch R. McL. Wilson, The Gnostic and the Old Testament, S. 167: ›The evidence seems rather to suggest a selective use: they close those parts which would be adapted to their purpose and gave them a new interpretation‹. 183 Adv. Haer. II , Praefatio 1. Vgl. auch I 19,1; 26,2; III 11,9, sowie Tertullian, De Praescr. Haer. 17,1: Ista haeresis non recipit quasdam scripturas; et si quas recipit, adiectionibus et detractionibus ad dispositionem instituti sui intervertit. Ebd., c. 38,1, spricht Tertullian von einer ›Verfälschung‹ der Schrift, hier im übrigen (c. 38,7 ff.) mit ausdrücklicher Unterscheidung zwischen Marcion und Valentinus.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Teile von Schriften) des Neuen Testaments dar, die – nach dem von Clemens Alexandrinus in den Excerpta ex Theodoto überlieferten Grundsatz einer dreistufigen Lehrweise Jesu gegenüber den Aposteln – der eigenen Hermeneutik der Gnostiker entsprachen oder doch jedenfalls geeignete Anknüpfungsmöglichkeiten für eine gnostische Rezeption der biblischen Überlieferung darboten. Konkret gilt dies zunächst in besonderer Weise für die von den Gnostikern so verstandene ›geheimnisvolle‹ Redeweise der neutestamentlichen Gleichnisse und Parabeln in den ersten drei Evangelien, darüber hinaus aber auch für bestimmte in den Evangelien überlieferte Ereignisse aus der Geschichte Jesu. Darüber hinaus gilt dies aber auch im Blick auf die unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefe sowie – nicht zuletzt – für das Johannesevangelium184. G. Heinrici hat bereits in seiner Schrift »Die Valentinianische Gnosis und die Heilige Schrift« vom Jahre 1871 auf die entsprechende ›Auswahl‹ der Gnostiker hingewiesen: »Die Autorität der heiligen Schrift wird von der Gnosis schweigend anerkannt«(S. 182) und in diesem Zusammenhang die entscheidende Frage gestellt: »Doch waren wirklich jene Anknüpfungspunkte, welche die Gnosis in der Schrift fand, rein äußerlich? Fehlt der Gnosis jene innere Berührung mit dem Geist, der die Schrift beseelt? Schon die Energie, mit der sie sich an die Urkunden des neuen Testaments drängt, jene Vorliebe, man möchte sagen jener wahlverwandte Zug, der sie vorwiegend zu bestimmten Schriften desselben führt, gebietet Vorsicht im Urteil …«185. Wie immer man speziell in dieser Hinsicht entscheiden mag – wirklich eindeutig ist zunächst nur, dass für die Gnostiker die ihnen eigene Lesart der Bibel untrennbar mit der Allegorese verbunden war, mit einer Verstehensweise der biblischen Texte also, die davon ausging, dass sich hinter dem vordergründigen Wortsinn dieser Texte ihr ›eigentlicher Sinn‹ verbirgt, dass diese Texte über ihre (formale) Wortgestalt hinaus etwas ›anderes‹ bedeuten wollen als sie – vordergründig betrachtet – zur Aussage bringen. Eben diese Lesart und Verstehensweise ist grundlegend für jene spezifisch gnostische Rezeption der biblisch-neutestamentlichen Überlieferung – wenn anders es denn gelingen sollte, die ursprüngliche Botschaft jener von den Gnostikern bevorzugten Schriften und Texte des Neuen Testaments an ihre, der Gnostiker, Vorstellungen zu ›adaptieren‹. 184 Vgl. A. LeBoulluec, Le bible chez les marginaux de l’orthodoxie, S. 163: »qui (sc.: Paulus und Joh-Ev) exercée un influence très forte sur leur théologie«. Hier auch mit Hinweis darauf, dass speziell Röm 2,28 von den Gnostikern »comme le incitation à la lecture symbolique et ésoterique« angesehen worden ist. 185 Diese letzte Bemerkung offensichtlich im Blick auf die in der Folgezeit vieldiskutierte Frage, ob und inwieweit »Einflüsse der häretischen Gnosis auf die Schrift anzunehmen« seien? – mit der Schlussfolgerung (S. 187 f.), dass insbesondere gewisse Formulierungen in der Christologie des Kolosser- und des Epheserbriefes sowie im vierten Evangelium (Joh 8,44!) »in eine dem Gnostizismus verwandte Sphäre zu weisen« scheinen.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Was die kritische Beurteilung dieses ›Schriftprinzips‹ der Gnostiker durch die frühkirchlichen Häresiologen betrifft, so ist auch hier wieder zuerst Irenäus zu nennen, der seine gesamte Auseinandersetzung mit den Gnostikern um das Thema einer dem christlichen Glauben angemessenen Hermeneutik der Hl. Schrift unter den Aspekt der adaptatio, d.h. der sekundären ›Anpassung‹ der biblischen Überlieferung an ihre, der Gnostiker, Vorstellungen bzw. hermeneutische Voraussetzungen gestellt hat186. Neben ihm sollte auch Tertullian wiederum genannt werden, dessen Argumentation in dieser Hinsicht durch besondere Klarheit und Stringenz ausgezeichnet ist: Ausdrückliche Vorbehalte gegen eine ausufernde, alle Grenzen überschreitende Allegorese seiner gnostischen Gegner äußert er mehrfach in seinen Schriften. Auf grundsätzliche Weise geschieht dies insbesondere in seiner Schrift De anima (2,7): Christiano autem paucis ad scientiam huius rei opus est; nam et certa in paucis, et amplius illi quaerere non licet, quam quod inveniri licet; infinitas enim quaestiones apostolus prohibet [1 Tim 1,4]. Porro non amplius inveniri licet, quam quod a Deo discitur; quod autem a Deo discitur, totum est187. Auch sein Plädoyer für jene Schriften der Bibel, quae non in allegoriis, sed in definitionibus certis et simplicibus habent sensum (Adv. Praxem 13,4), spricht da eine deutliche Sprache, Nicht zuletzt in diesem Zusammenhang ist aber auch noch auf die ausführliche Erörterung zur sachgemäßen Interpretation der Gleichnisse des Neuen Testaments – exemplifiziert an den beiden Gleichnissen vom ›verlorenen Schaf‹ und von der ›verlorenen Drachme‹ aus dem Lk-Ev (15,4–7 und 8–10) – einzugehen, wie sie in der (bereits der montanistischen Zeit des Tertullian zugehörigen) Schrift De pudicitia, hier speziell in den Kapiteln 7–9, vorliegt: An diesen beiden Gleichnissen wird in diesen Kapiteln die Frage einer dem christlichen Glauben (und damit auch der regula veritatis) angemessenen Interpretation der Gleichnisse erörtert. Tertullian gibt dabei von vornherein zu erkennen, welche hermeneutischen Prinzipien für seine Auslegung dieser Gleichnisse bestimmend sind: Praescribimus enim ex naturae disciplina, ex lege auris et linguae, ex mentis sanitate ea semper responderi quae provocantur (De pud. 7,2). Demgegenüber sind die hier apostrophierten Gegner i.S. des Tertullian den pericula interpretationum erlegen (ebd., 8,10): Sic et haeretici easdem parabolas quo volunt tribuunt, non quo debent. Aptissime excludunt. Quare aptissime? Quoniam a primordio secundum occasiones parabolarum ipsas materias confixerunt doctrinarum (8,12). Dies hat am Ende darin seine Ursache, dass die hier apostrophierten Häretiker sich von der regula veritatis entfernt haben: Vacuit scilicet et illis solutis a regula veritatis ea conquirere atque componere parabolae videntur (ebd.) Konkret heißt dies, dass für die 186 S. dazu oben S. 240, sowie M. Simonetti, Biblical Interpretation in the Early Church, S. 23 f., hier zugleich mit scharfer Kritik an antignostischer Polemik des Irenäus: Irenäus habe im Grunde gar kein klares eigenes hermeneutisches Prinzip; er kritisiere die Schriftauslegung seiner Kontrahenten »at the level of content rather than at the level of exegetical theory« – mit Verweis insbesondere auf Adv. Haer. II 20–25. 187 Vgl. auch De Anima 35,2 (zu Karpokrates) sowie De carnis resurrectione 19,2.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Kontrahenten des Tertullian der hermeneutische Horizont ihrer Gleichnisauslegung ein anderer ist als der ›kirchliche‹, der sich an der regula veritatis orientiert188. Im Kapitel 9,1 wird dementsprechend der Grund-Gegensatz einer sachgemäßen und einer unsachgemäßen, einer ›kirchlichen‹ und einer ›häretischen‹ Gleichnisinterpretation formuliert: Nos autem quia non ex pa-rabolis materias commentamur, sed ex materiis parabolas interpretamur, nec valde laboramus omnia in expositione torquere, dum contraria quaeque caveamus189. Jenes zu Beginn dieses Zitats hervorgehobene ›Wir aber‹ soll hier keineswegs den Stolz oder gar Hochmut der ›Rechtgläubigen‹ gegenüber den ›Ketzern‹ betonen, sondern zunächst nur die entscheidende Differenz in der Gleichnisauslegung. Immerhin teilt auch Tertullian jene ›hermeneutische Bescheidenheit‹, wie sie auch für Irenäus charakteristisch ist: Sed malumus in scripturis minus, si forte, sapere quam contra …190. Hier äußert sich bei Tertullian am Ende eine eher schlichte Frömmigkeit, die bei der Auslegung der Hl. Schrift den infinitae quaestiones aus dem Wege geht, und dies zumal ›der Apostel selbst‹ (1 Tim 1,4) solcherlei Fragen ausdrücklich verboten hat191.

Dies ist – aufs Ganze gesehen – eine durchaus ausgewogene Darstellung der Problematik einer keineswegs ›voraussetzungslosen‹ und höchst artifiziellen Auslegung der Gleichnisse der Evangelien in der frühchristlichen Gnosis des 2. Jh.s. Angesichts dessen, dass es bei der Frage nach der ›rechten‹, d.h. sachgemäßen Auslegung der biblischen Überlieferung – i.S. der frühkatholischen Häresiologen – stets um die Grundfrage nach dem ›rechten Glauben‹ geht, mag jenes Votum multo enim melius est non sapere quam male sapere im Munde gerade des Origenes zunächst befremdlich erscheinen; im Kontext jedoch der Auseinandersetzung der frühen Kirche mit ihren gnostischen Kritikern und Kontrahenten muss es zumindest als verständlich gelten. Der ›Erkenntnis‹-Drang der frühchristlichen Gnostiker war ja offensichtlich und – verstärkt noch durch das exegetische Instrumentarium der Allegorese – nahezu grenzenlos. So gesehen versteht es sich von selbst, dass die Grundfrage für die ›rechtgläubige‹ Kirche die Frage nach dem Maßstab, dem ›Kanon‹ einer den überlieferten biblischen Schriften angemessenen Auslegung war. Die früh188 In diesem Sinne bes. Irenäus, Adv. Haer. I 27,1: sic enim apud nullum erit regula veritatis. 189 Vgl. entsprechend De praescr. haer. 38,10: Valentinus autm pepercit, quoniam non ad materias scripturas, sed materiam ad scripturas excogitavit. Zur Formulierung in De pudicitia 9,1: nec valde laboramus omnia in expositione torquere vgl. Irenäus, Adv. Haer. II 24,3. 190 Vgl. in diesem Sinne auch Tertullian, De praescr. haer. 14,2: novissime ignorare melius est, ne quod non debeas noris, quam quod debeas non nosti – mit der Konsequenz schließlich: Der Glaube, der in der regula veritatis seine Position hat, ist es, der das Heil schafft – non exercitatio scripturarum, denn, so die Begründung, die letztere in curiositate consistit, habens gloriam solam de peritiae studio. Bei Origenes hat eine solche Einstellung zur Folge: multo enim melius est non sapere quam male sapere! So Origenes, Comm. In Ep.ad Rom., lib. VIII (MPG 14, 1181B), hier mit Verweis auf Marcion, Basilides und Valentinus. 191 So wiederum Tertullian, De anima 2,7: Christiano autem paucis ad scientiam huius rei opus est; nam et certa semper in paucis, et amplius illi quaerere non licet, quam quod inveniri licet; infinitas enim quaestiones apostolus prohibet. Vgl. auch Adv. Marcionem 1,9: et ibitur in illas iam indeterminabiles quaestiones, quas apostolus non amat.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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katholischen Kirchenväter, insbesondere Irenäus und Tertullian, haben diese Grundfrage eindeutig beantwortet, mit dem Verweis nämlich auf die kirchliche regula veritatis. Damit ist im Grunde vorausgesetzt, dass die gnostischen Rezipienten der biblischen Überlieferung ihrerseits von einer anderen, eben spezifisch gnostischen regula ausgingen, an die sie nunmehr, so jedenfalls die Kritik der Kirchenväter (und insbesondere des Irenäus), die biblische Überlieferung – soweit sie für sie von Interesse war – ›anpassten‹. Schon von daher gesehen ist offenkundig, dass es in diesem Streit um die ›rechte‹ und sachgemäße Schriftauslegung, vor allem praktischen Vollzug, zunächst um die Frage nach dem Kriterium einer ›rechten‹ und einer ›falschen‹ Schriftauslegung ging. Das entscheidende Stichwort dabei aufseiten der ›rechtgläubigen‹ Kirche und – insbesondere – des Irenäus ist in diesem Zusammenhang der Vorwurf einer ›Anpassung‹ der biblischen Überlieferung an eine ihr vom ihrem Ansatz her fremde – was zugleich heißt: nicht-christlichen! – ›Hypothese‹ – konkret also: Anpassung an ein genuin gnostisches (und als solches: nicht-christliches) Rahmenkonzept, das notwendig eine Missdeutung der genuin ›christlichen‹ Überlieferung zur Folge hatte. Die konkrete Gestalt der Praxis gnostischer Schriftauslegung zeigt dies im Einzelnen aufs deutlichste:

4.3.2 Die Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments 4.3.2.1 Zur gnostischen Rezeption der drei ersten Evangelien Der Schwerpunkt in dieser Hinsicht liegt – verständlicherweise – zunächst auf der Rezeption der Überlieferung von den Gleichnissen bzw. Parabeln der Evangelien. Gerade dieser Teil der synoptischen Überlieferung ist infolge der ihm eigenen, einer bestimmten Deutung offenen Redeweise den eigenen Kriterien gnostischer Schriftauslegung in besonderer Weise gleichsam ›entgegengekommen‹ und hat – von daher gesehen – geradezu paradigmatische Bedeutung für die spezifisch gnostische Schriftauslegung insgesamt: Die Rede Jesu bzw. der Schrift überhaupt »in Gleichnissen und Parabeln« ist nach der Auffassung der gnostischen Exegeten grundsätzlich durch jene ›Gleichnistheorie‹ bestimmt, wie sie Clemens Alexandrinus in seinen Excerpta ex Theodoto, hier im § 66, überliefert hat: »Der Heiland lehrte die Apostel, zuerst (nämlich) auf ›typische‹ und ›mystische‹ Weise, danach aber auf ›gleichnishafte‹ ( ) und ›rätselhafte‹ Weise, drittens aber ›offen und unverhüllt‹, wenn er mit ihnen allein war«, i.S. also einer gleichsam ›esoterischen‹ Belehrung. Die Rede Jesu »in Gleichnissen« wird hier – zunächst jedenfalls – als eine ›Rätselrede‹ verstanden, die als ›geheime Lehre‹ Jesu zunächst nur für einen exklusiven Adressatenkreis bestimmt ist und somit der entsprechenden ›Auflösung‹ bedarf – ganz so also, wie es denn auch nach Irenäus die Auffassung der von ihm bekämpften Gnostiker

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

gewesen ist: … Iesum dicentes in mysterio discipulis suis et apostolis seorsum locutum et illos expostulasse, ut dignis et adsentientibus seorsum haec traderent (Adv. Haer. I 25,5). Dies ist – nach dem Urteil des Irenäus – ohne Frage ein Missbrauch der Schrift, der als solcher die Frage nach dem (hermeneutischen) Kriterium für den sachgemäßen Umgang mit der Schrift aufwirft, eine Frage, die Irenäus seinerseits eindeutig mit dem Verweis auf die (kirchliche) regula veritatis beantwortet192. Immerhin: Auch Irenäus selbst weiß um die Problematik einer ›sachgemäßen‹ Auslegung der Gleichnisrede Jesu, wenn er immerhin zugesteht, dass die Gleichnisrede der Evangelien »nach ihrem Inhalt wiederholt bedacht werden muss, um sie [auf diese Weise] in den Grundgedanken der [kirchlichen] Wahrheit einzuordnen ( )« und sie in diesem Sinne als eine ›Heilsanordnung Gottes‹ ( ) für die Menschen zu verstehen (Adv. Haer. I 10,3). Von dieser Grundposition her gesehen hat Irenäus beträchtliche Vorbehalte nicht nur angesichts der tatsächlichen Praxis der allegorischen Auslegung der Gleichnisse durch seine gnostischen Kontrahenten, sondern auch schon angesichts dessen, dass man – wie es Irenäus (Adv. Haer. I 3,6) recht drastisch ausdrückt – die Gleichnisse ja in der Tat »in vielerlei Richtungen zerren kann«. Darüber hinaus richten sich seine Vorbehalte in diesem Zusammenhang grundsätzlich gegen die von seinen Kontrahenten offensichtlich bevorzugte Methode der Gleichnisauslegung, also gegen die Allegorese als solche: Et nihil allegorizare potest, d.h.: »Nichts(!) aber darf man allegorisch deuten« (Adv. Haer. I 35,2), weil diese Art von Schriftauslegung vom eigentlichen Sinn des jeweiligen Textes in den Raum der Spekulation und damit auch des Irrtums abweicht.

Die Problematik eines sachgemäßen Umgangs mit den biblisch-neutestamentlichen ›Gleichnissen und Parabeln‹ ist dem Irenäus angesichts der entsprechenden Praxis seiner Kontrahenten durchaus bewusst. Wie aber ist dieser ›sachgemäße‹ Umgang als solcher zu formulieren? – nun, zunächst ist hinsichtlich der auch von Irenäus selbst ausdrücklich vermerkten Mehrdeutigkeit der Gleichnisse, wie Irenäus ganz pragmatisch vermerkt, von dem auszugehen, was ›vor Augen liegt‹, was für Irenäus freilich zugleich heißt: man muss die Gleichnisse ›auflösen‹ nach dem, was unzweideutig ist193. Wer freilich, wie die Gnostiker, bei der Auslegung der Schrift eben jene ›Parabeln und Gleichnisse‹ zum Ausgangspunkt nimmt, der wird, zwangsläufig, »immer auf der Suche sein und [am Ende] niemals finden«, und zwar deshalb, weil er die disciplina verworfen hat, jenes Kriterium nämlich, das es ihm ermöglicht hätte, »etwas zu finden« (Adv. Haer. II 27,2). Konkret heißt dies, dass derjenige, der – wie eben die Gnostiker – »alles, was von den Aposteln über Gott gesagt worden ist, allegorisch verstehen zu müssen meint«, 192 Zum Folgenden vgl. bes. N. Brox, Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 30–33; ders., Art. Irenäus von Lyon, in: RAC 18, Sp. 843–846. 193 Irenäus, Adv. Haer. II 27,1; vgl. ebd. II 28,2: Die Parabeln stimmen mit dem, was ausdrücklich gesagt ist, überein, was zugleich heißt: »das deutlich gesagte (manifeste dicta) löst die Parabeln auf«.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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nun in der Tat jenen »krankhaften Grübeleien« erlegen ist, vor denen doch bereits der Apostel Paulus in 1 Tim 1,4 gewarnt hat (Adv. Haer. III 12,11). Eine solche entschiedene Absage an den Gebrauch bzw. Missbrauch einer allegorischen Gleichnisauslegung hat freilich keineswegs zur Folge, dass nun auch Irenäus selbst für seine Schriftauslegung von der Allegorese keinen Gebrauch mehr macht. Angesichts dessen jedenfalls, dass ja bereits die Propheten des Alten Testaments »zumeist in Parabeln und Allegorien gesprochen haben und nicht nach dem Wortlaut« (Adv. Haer. II 22,1), macht er selbst für sein Schriftverständnis durchaus von der allegorischen Methode Gebrauch194 – womit am Ende wiederum offenkundig ist, dass es gar nicht die Allegorese als solche ist, die in die Häresie hineinführt, sondern (erst) deren Gebrauch entsprechend dem jeweiligen hermeneutischen Kriterium. Und dieses Kriterium ist für Irenäus – selbstverständlich – in der eigenen kirchlichen Tradition, konkret also in der kirchlichen regula veritatis gegeben. Wenn nun die Gnostiker bei ihrer Art von Schriftauslegung von jenen Parabeln selbst ausgehen, bei denen sich doch stets, wie Irenäus vermerkt, »die Frage stellt, was [eigentlich] in ihnen gemeint ist«, so besteht nun in der Tat die Gefahr einer »Anpassung an das, was«, so Irenäus, »ihre eigene Erfindung« ist195; für Irenäus hat ein solches Verfahren seiner Kontrahenten zur Folge: sic enim apud nullum erit regula veritatis (Adv. Haer. II 27,1). Für ihn macht es also sehr wohl einen Unterschied, wer und unter welchen Voraussetzungen er jeweils die Gleichnisse und Parabeln des Neuen Testaments auslegt. Nicht also die Textsorte ›Gleichnis‹ bzw. ›Parabel‹ als solche ist es, die hier in Frage oder auch in Verdacht steht, sondern jeweils die Art und Weise ihrer Interpretation und Rezeption, und zwar je nach der hermeneutischen Voraussetzung, unter der sie, diese ›Gleichnisse und Parabeln‹ auslegen. Und das heißt (ganz i.S. des Irenäus): »Tun es die Gnostiker, so tun sie Verbotenes. Tut es Irenäus, so legt er die Bibel [sachgemäß] aus«196. Bedingung eines rechten Verständnisses der Gleichnis- und Parabelrede des Neuen Testaments ist also gewiss auch eine auch von Irenäus selbst mehrfach empfohlene »hermeneutische Bescheidenheit«, die auch ohne immer weitergehendes Fragen und Suchen ein angemessenes Verständnis der biblischen Texte gelingen lässt – vorausgesetzt jedenfalls i.S. des Irenäus, dass 194 Für das Alte Testament vgl. z.B. Adv. Haer. V 8,3; für das Neue Testament z.B. die allegorische Auslegung der Gleichnisse vom »Schatz im Acker« (IV 26,1) und von den »Arbeitern im Weinberg« (IV 36,7) und dazu N. Brox, Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 31 f. 195 Adv. Haer. II 10,1–2 – mit der Konsequenz, dass die Gnostiker sich auf diese Weise »einen anderen Gott gemacht haben«: alterum deum fabricaverunt! Vgl. auch Adv. Haer. II 27,1–2 sowie zur Frage der ›Anpassung‹ (an die eigene gnostische ›Hypothese‹): Adv. Haer. I 3,6. 196 So N. Brox, Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 32. Zu den Konsequenzen einer Schriftauslegung abseits der regula veritatis vgl. z.B. Adv. Haer. II 27,1: … sic enim apud nullum erit regula veritatis, sed quanti fuerint qui absolvent parabolas, tantae videbuntur veritetates pugnantes semet invicem et contraria sibimet dogmata statuentes, sicut et gentilium philosopharum quaestiones.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

jener kirchliche Kontext der Schriftauslegung gewahrt bleibt: Nur derjenige, der am »Kanon der Wahrheit«, an der regula veritatis festhält bzw. sie überhaupt erst ergreift, wird zu einem angemessenen Verständnis der Bibel gelangen (Adv. Haer. I 3,6) – denn: Hier allein, in der Ausrichtung an diesem Kanon, ist ›die wahre Gnosis‹ gegeben197. – Im Übrigen geht Tertullian, was seine Sichtweise der durch das gnostische Schriftverständnis aufgeworfenen Probleme betrifft, noch über seinen Vorgänger Irenäus hinaus. Dies gilt – von hier aus gesehen – durchaus folgerichtig aber auch für seine Vorbehalte, ja geradezu Skepsis gegenüber dem Nutzen der Erforschung der Schrift und in diesem Zusammenhang auch im Blick auf die Allegorese als Methode der Schriftauslegung: In diesem Sinne ist für ihn geradezu paradigmatisch die Darstellung und Kritik eines offenbar aktuellen Streites um die Schrift in den Kapiteln 12–14 von De praescriptione haereticorum, in denen die genannten Grundfragen einer sachgemäßen Schriftauslegung im Kontext der durch die Rezeption der Schrift aufgeworfenen Fragen erörtert werden. So wird in c. 12,5 (als Schlußfolgerung aus den zuvor erörterten Problemen der gnostischen Schriftforschung) die i.S. des Tertullian einzig legitime Schriftforschung auf den für sie maßgeblichen Kanon der regula fidei verpflichtet: Quaeremus ergo in nostro, et a nostris, et de nostro: idque dumtaxat, quod salva regua fidei potest in quaestionem devenire (c. 12,5). Eine solche Einstellung zu den Kriterien (und Grenzen!) der Schriftforschung hat – wohl nahezu notwendig! – eine skeptische Einstellung zur Schriftauslegung als solcher zur Folge: novissime ignorare melius est, ne quod non debeas nostris, quam quod debeas non nostris (c. 14,2). Hier, im c. 14, äußert sich eine Grundposition, die sich dessen bewusst ist, dass es »allein der / dein Glaube ist, der dir das Heil verschafft« – nicht also die exercitatio scripturarum (c. 14,3). Und von diesem ›Glauben‹ heißt es dann sogleich in c. 14,4: Fides … in regula posita est, was zugleich bedeutet: habet legem, et salutem de observatione legis: exercitatio autem [scripturarum] in curiositate consistit, habens gloriam solam de peritiae studio – und aus alledem folgt: Cedat curiositas fidei, cedat gloria saluti; certe aut non obstrepant, aut quiescant – adversus regulam nihil scire omnia scire est (c. 14,5). Vom historischen Hintergrund solcher kritischen Einstellung zur Schriftforschung her gesehen, wie Tertullian ihn im c. 17 auf Grund seiner Auseinandersetzung mit der gnostisch-häretischen Schriftforschung darstellt198, ist es durchaus verständlich, wenn Tertullian als Schlussfolgerung aus dem hier vorauszusetzenden »Streit um die Bibel« formuliert: Ergo non ad scripturas provocandum est; nec in his constituendam certamen, in quibus aut nulla, aut incerta victoria est, aut parum certa (c. 19,1 f.). Vorrangig demgegenüber ist für Tertullian vielmehr die Frage: quibus competat fides ipsa, cuius sint scripturae – von daher gesehen – scripturae, a quo, et per quos, et quando, et quibus est tradita disciplina, qua fiunt Christiani … 197

Dazu vgl. N. Brox, Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 37 ff. Vgl. bes. De praescr.haer. 17,1 ff.: Ista haeresis non recipit quasdam scripturas, et si quas recipit, non recipit integras, sed adiectionibus et detractionibus ad dispositionem instituti sui intervertit, et si aliquatenus integras praestat, nihilominus diversas expositiones commentata convertitet. 198

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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(c. 19,1 f.). Und die Antwort auf diese für Tertullian grundlegende Frage kann dann nur noch lauten: Ubi enim apparuerit esse veritatem disciplinae et fidei Christianae, illic erit et veritas scriptuarum, et expositionem, et omnium traditionum Christianorum (c. 19,3)199. – Es versteht sich von selbst, dass aus einer solchen Position heraus der Praxis der gnostisch-häretischen Schriftauslegung, insbesondere der allegorischen Schriftauslegung mit besonderer Skepsis begegnet wird. Und es ist auch nur konsequent, dass Tertullian auf Grund eigener Erfahrungen mit Theorie und Praxis der Schriftauslegung seiner Kontrahenten unverhohlen für jene Texte und Schriften der biblischen Überlieferung plädiert, quae non in allegoriis et parabolis, sed in definitio nibus certis et simplicibus habent sensum200 – oder kurz und bündig: quod enim scriptum est, hoc evenire oportebit, was zugleich heißt: eine Schriftauslegung, die nach dem hermeneutischen Grundsatz verfährt: aliud in vocibus …, aliud in sensibus …, soll nach Möglichkeit nicht – oder doch wenigstens nicht in jedem Falle angewendet werden201.

Dies ist nun eine gänzlich andere Weise des methodisch-hermeneutischen Umgangs mit der Schrift als die der Gnostiker. Diese verfahren ja ganz offensichtlich nach dem Prinzip, eben vermittels der Allegorese die – nach ihrer Auffassung – verschlüsselten Geheimnisse der Schrift für ihre Rezipienten zu entschlüsseln und auf diese Weise doch nur – so wiederum der Vorwurf des Tertullian in seiner Streitschrift (c. 17,1) – die ›Schriften‹ durch ›Hinzufügungen und Auslassungen‹ (adiectionibus et detractionibus) ad dispositionem instituti sui umgestalten. Vom Zeugnis des Irenäus wie auch des Tertullian her gesehen ist der Gesamtbefund bzw. die Schlussfolgerung eindeutig: Die allegorische Auslegung der Schrift ist für die Gnostiker nicht nur eine unter anderen, also eine auswechselbare Methode der Schriftauslegung, sondern ein gleichsam grundsätzliches hermeneutisch-exegetisches Prinzip. Clemens Alexandrinus hat dies wohl richtig gesehen, wenn er feststellt, dass für seine gnostischen Kontrahenten das Prinzip bzw. das Kriterium ihrer ›Auswahl‹ aus der Schrift dasjenige gewesen ist, was ›zweideutig gesagt war‹ – und somit geeignet erschien, es ›in ihre eigenen Meinungen zu überführen‹, was zugleich heißt: »an ihre eigenen Vorstellungen anzupassen«202. Geht man auch hier noch einmal von jenem Grundsatz aus den Excerpta ex Theodoto (§ 66) aus, dass die Lehre Jesu eine geheime Lehre ist, die Jesus selbst seinen Jüngern aufgelöst hat, oder auch – wie Irenäus es (Adv. Haer. I 25,5) formuliert hat – Jesus seine Jünger »im Geheimen« belehrt und sie zugleich aufgefordert hat, diese Lehre nur »den Würdigen und den Gehorsamen« weiterzugeben203, so ist diese allegorische Auslegung der Schrift für die Gnostiker 199

Vgl. in diesem Sinne auch ebd., c. 37,1 ff. Adv. Praxeam 13,4. 201 Scorpiace 11. Vgl. De carnis resurrectione 19 sowie De anima 35,2, hier im Besonderen gegen die Auslegung der biblischen Gleichnisse durch Karpokrates. 202 Clemens Alexandrinus, Strom. VII 96,2. 203 Vgl. in diesem Sinne auch den Bericht des Irenäus, Adv. Haer. I 3,1. 200

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

in der Tat das ihnen eigene exegetisch-methodische Prinzip, die Schrift in Entsprechung zu ihren eigenen Vorstellungen und Meinungen zu rezipieren, und das heißt an die ihnen eigenen Vorstellungen zu adaptieren. War für Irenäus wie auch für Tertullian das kritisch hermeneutische Prinzip der Schriftauslegung in der regula veritatis bzw. in der regula fidei gegeben: Habentes itaque regulam ipsam veritatem et in aperto positum de Deo tertimonium, non debemus in alias atque alias quaestionum declinantes absolutiones … (Adv. Haer. II 28,2), so folgt die Schriftauslegung der Gnostiker einem anderen, einem spezifisch gnostischen hermeneutischen Kriterium, das letztlich ›von außen‹ her an die Schriften des Neuen Testaments herangetragen wird und die diesem Kriterium entsprechende ›Auswahl‹ wie auch Auslegung zur Folge hat. Was den Umfang dieser ›Auswahl‹ betrifft, so gilt sie, nach dem Zeugnis des Irenäus jedenfalls, ganz generell, also für »(alles) das, was von den Aposteln über Gott gesagt worden ist«204, insbesondere jedoch – wiederum nach dem Zeugnis des Irenäus (Adv. Haer. I 3,1 und III 5,1) – für die Lehre Jesu per parabolas et aenigmata. Irenäus hat in Adv. Haer. II 27,1–3 eine umfassende Mahnung vorgetragen, die davon ausgeht, dass man die Gleichnisse und Parabeln nach Maßgabe dessen, was ›unzweideutig‹ ist, erklären soll (II 27,1: Et ideo parabolae debent non ambiguis adaptari!). Irenäus geht in diesem Zusammenhang zwar so weit, den ›gesunden Menschenverstand‹ (II 27,2: sensum sanus) zu bemühen; angesichts dessen jedoch, dass dieser zugleich ein sensus religiosus und – als solcher – zugleich ›wahrheitsliebend‹ (amans verum) ist, gelangt er auf diesem Wege alsbald (II 27,2 Ende) wiederum zur regula veritatis als dem für ihn bzw. für die ›rechtgläubige‹ Kirche insgesamt allein maßgeblichen Kriterium der rechten Schriftauslegung. Solche Mahnung zur – allein! – rechten Schriftauslegung vermag bei seinen gnostischen Kontrahenten von vornherein keinen Widerhall zu finden: ›von vornherein‹ nicht, weil sie ihrerseits ja von einer gänzlich andersartigen hermeneutischen Voraussetzung ihres Schriftverständnisses ausgehen. Und dies gilt nun im Einzelnen insbesondere für die gnostische Praxis der Auslegung der ›Gleichnisse und Parabeln‹ des Neuen Testaments: Die ›Früchte‹ einer solchen spezifisch gnostischen Gleichnis-Auslegung sind anhand der bei Irenäus, aber auch bei Hippolyt überlieferten Paradigma leicht nachzuweisen. So zeigt sich das Ausmaß einer nach den Kriterien gnostischer Schriftauslegung verfahrenden allegorischen Gleichnisauslegung nach dem Referat des Irenäus (Adv. Haer. I 3,1) besonders deutlich in der Auslegung des Gleichnisses von den »Arbeitern im Weinberg« (Mt 20,1–16): Die im MtEvgl. ursprünglich zunächst noch ganz auf einer gleichsam irdischen Ebene erzählte Geschichte wird hier vermittels einer Zahlenspekulation auf eine ›höhere‹ Ebene transponiert, in 204 Adv. Haer. III 12,11, hier im Rückbezug auf 1 Tim 6,4: Si quis autem ›aegrotans circa quaestiones‹ ea quae ab apostolis de Deo dicta sunt allegorizanda existimat.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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die Sphäre nämlich einer Pleroma- und Äonen-Spekulation205. Dabei ist offensichtlich, dass die letztere nunmehr das ›Muster‹ darstellt, an dem sich diese Auslegung orientiert, mit der Konsequenz zugleich, dass das ursprünglich für dieses Gleichnis konstitutive faktisch keine Rolle mehr spielt, sondern nur noch die Angaben über die ›Stunden‹ in diesem Gleichnis, nämlich die erste, dritte, sechste, neunte und elfte Stunde, Zahlenangaben also, die insgesamt eine Summe von 30 ergeben – und damit zugleich, so jedenfalls die Argumentation der gnostischen Kontrahenten des Irenäus, die 30 Äonen, die nach gnostischer Auffassung das Pleroma ausmachen. Für Irenäus ist ein solches ›exegetisches Verfahren‹ ein eindeutiger Beweis dafür, in welchem Maße die Aussage der Schrift angepasst wird (Adv. Haer. I 3,1). Um solches Verfahren seinen Lesern verständlich zu machen, sieht Irenäus sich veranlasst, in Adv. Haer. I 1,1–2 zunächst einen Überblick über das gnostische (ptolemäische) Lehrsystem zu geben. Dass für diese Art von ›Schriftbeweis‹ für die genuin gnostische Pleroma- und Äonenspekulation, wie sie ganz analog auch Adv. Haer. I 3,1 ff. referiert wird, von den hier apostrophierten Gnostikern auch die Überlieferung von Lk 3,23 – Jesus war bei seinem ersten öffentlichen Auftreten ›etwa dreißig Jahre alt‹ – herangezogen wird, darüber hinaus aber auch Aussagen des Paulus über die ›Geschlechter der Äonen der Äonen‹ (Eph 3,21), versteht sich aus der Sicht der Gnostiker von selbst206. So gesehen ist es, nach der Darstellung des Irenäus, Adv. Haer. I 16,1 (entsprechend Hippolyt, Ref. VI 52,2 ff.), für die gnostischen Exegeten offensichtlich kein weiter Schritt mehr, auch die beiden Gleichnisse vom ›verlorenen Schaf‹ und von der ›verlorenen Drachme‹ aus dem Mt- und dem Lk-Evangelium (Mt 18,12–14 par Lk 15,3–10) in ihre Zahlen- bzw. Äonenspekulationen einzubeziehen, und zwar unter der Voraussetzung, dass die ›Entstehung der Äonen‹ und die Erzählung vom ›verlorenen und wiedergefundenen Schaf‹ im Grunde auf denselben Vorgang zu beziehen sind. Nach der Darstellung des Irenäus ist dies freilich eine ›mystische‹ Erklärung, und zwar gemäß der von den Gnostikern bekannten Methode, »alles auf Zahlen zurückzuführen« – unter der Voraussetzung wiederum, dass »aus der Monade und der Dyade das All seinen Bestand hat«. – Eine weitere Auslegung der Gleichnisse vom ›Verlorenen‹ findet sich wiederum bei Irenäus, Adv. Haer. I 18,4, hier wiederum in einem Kontext, in dem von Irenäus der Missbrauch der Schrift durch die Gnostiker erörtert wird. Dies geschieht unter der Überschrift, dass die Gnostiker versuchen, »die Parabeln des Herrn, die Reden der Propheten oder [auch] die Worte der Apostel« ihren eigenen Worten und Lehren ›anzupassen‹ ( ). Dementsprechend ist es hier (Adv. Haer. I 8,4) die Achamoth, die gnostische Gestalt der ›Weisheit‹, die »außerhalb des Pleromas umherirrte« und am Ende doch noch vom Soter aufgesucht und gefunden wird, indem die Gnostiker 205 Zur Pleroma- und Äonenspekulation in der (valentinianischen) Gnosis im Einzelnen vgl. F.-M. Sagnard, La Gnose Valentinienne et le témoignage de Saint Irénée, S. 295–357, sowie bereits K. Müller, Beiträge zum Verständnis der valentinianischen Gnosis, S. 179–184 sowie S. 214 ff., hier bes. S. 217 f. die Skizze zum »Aufbau des Pleroma«. 206 Vgl. in diesem Zusammenhang weiter die Polemik des Irenäus, Adv. Haer. II 20–25, gegen die gnostischen Spekulationen mit den Zahlwerten von Buchstaben, Silben und Namen, so u.a. auch zum Namen Jesus. Zur Widerlegung von solcherlei Spekulationen im Einzelnen vgl. Adv. Haer. II 20–25, hier besonders II 24,6–25,1 mit der Schlussbemerkung: Non enim regula ex numeris, sed numeri ex regula, neque Deus ex factis, sed ea quae facta sunt ex Deo: omnia enim ex uno et eodem Deo.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

sagen, dass »er [sc.: der Soter] zu dem verlorenen Schaf gekommen sei« (Mt 18,12 f. par Lk 15,4), denn so heißt es »das verirrte Schaf deuten sie auf ihre Mutter … und das Verirrtsein auf ihren Aufenthalt außerhalb des Pleromas«. Ganz analog dazu wird an gleicher Stelle auch das Gleichnis von der »verlorenen Drachme« (Lk 15,8 f.) gedeutet: Von der Frau, die in ihrem Haus kehrte und die Drachme fand, heißt es hier, dass sie, die Frau, auf die ›obere Weisheit‹ zu deuten sei, die ihre verloren hat, sie aber später wiederfand, als nämlich durch die Parusie des Soter »alles gereinigt wurde«207.

Aufs Ganze gesehen sind dies offensichtlich recht komplizierte Überlegungen, die der gnostischen Rezeption der genannten Gleichnisse zugrunde liegen. Wirklich nachvollziehbar sind solche ›Exegesen‹ in der Tat nur für diejenigen, die bei der ›Auslegung‹ der Gleichnisse der Evangelien von vornherein von bestimmten hermeneutischen Voraussetzungen ausgehen – was zugleich heißt: Von der rechten ›Erkenntnis‹. In jedem der genannten Beispiele wird ein bestimmtes, eben genuin gnostisches Rahmenkonzept vorausgesetzt, das die ursprünglich schlichten Gleichnis-Erzählungen der Evangelien am Ende in Rätselreden verwandelt, in ›Redemysterien‹, die im Grunde nur noch der Kundige zu entschlüsseln vermag, derjenige also, der die rechte ›Erkenntnis‹ hat. In diese Richtung geht auch die Klage des Irenäus, dass seine Kontrahenten sich letztlich auf ein inenarrabile mysterium berufen, das Christus selbst ihnen per parabolas et aenigmata übergeben habe208. Demgegenüber erweckt die Version des Gleichnisses vom ›verlorenen Schaf‹ (Mt 18,12–25 par Lk 15,4–7), wie sie im Evangelium Veritatis (NHC I/3, p. 31,35 ff.) überliefert ist, zunächst den Anschein einer schlichten, der biblischen Erzählung folgenden Lesart: In ihrem ersten Teil (p. 31,35–32,4) jedenfalls ist sie noch nicht als eine ›Mysterienrede‹ zu erkennen. Gleichwohl: im Folgenden (p. 32,4 ff.) wird auch hier wieder ›eine Rechnung aufgemacht‹, die offensichtlich ihrerseits wiederum von bestimmten hermeneutisch-exegetischen Voraussetzungen ausgeht und im Grunde erst von daher verständlich wird: Zu diesen Voraussetzungen gehört zunächst – formal gesehen – eine bestimmte Art von Zählung in der Antike, nämlich von 1–99 mit bestimmten Fingerstellungen der linken, ab 100 dagegen mit der rechten Hand209. Diese Art von Zählung verbindet sich hier, im ›Evangelium Veritatis‹, zugleich mit einer bestimmten Wertung von ›Links‹ und ›Rechts‹, nämlich – mit den Worten von H.W. Attridge210 – mit »the polarity of the the left odd-imperfect and the right207 Vgl. in diesem Zusammenhang die Deutung der Helena-Ennoia in Adv. Haer. I 32,2 auf das »verlorene Schaf«: et hanc [sc.: die Helena-Ennoia] esse perditam ovem. Zur gnostischen Rezeption der beiden Gleichnisses von Lk 15 nach Irenäus, Adv. Haer. I 8,4 vgl. auch C. Barth, Die Interpretation des Neuen Testaments in der valentinianischen Gnosis, S. 60 f. Hippolyt, Ref. VI 12 sowie Epiphanius, Haer. XXXI 26,1 f., folgen in ihrer Darstellung der des Irenäus. 208 Irenäus, Adv. Haer. III 5,1. Vgl. auch II 27,2. 209 Zu dieser Zähltechnik vgl. K. Menninger, Zahlwort und Ziffer, Breslau 1934, S. 140–158. Speziell zum Evangelium veritatis vgl. H. J. Marrou, L’Évangile de Vérité et la diffusion du comput digitale dans l’Antiquité, S. 98–103. 210 H.W. Attridge, Nag Hammadi Codex I (The Jung Codex): Notes (NHS XXIII ), S. 92 zu p. 32,4 f. Vgl. auch J.-É. Ménard, L’Èvangile de Vérité, S. 149–151, hier S. 150: »Le comput

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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even-perfect«. Konkret heißt dies – geht man jedenfalls von der Zugehörigkeit des ›Evangelium Veritatis‹ zur valentinianischen Gnosis aus211 –, dass »the left-odd-imperfect« als ein ›Mangel‹ ( ) gilt212, der erst dann wiederum behoben sein wird, wenn das eine, eben jenes »verlorene Schaf«, zu den übrigen (im Stande des ›Mangels‹ befindlichen) 99 Schafen hinzugetan und auf diese Weise das ursprüngliche ›Ganze‹, das ›Pleroma‹ nämlich, wiederhergestellt ist. Die Zahl 100 steht hier, in der gnostischen Lesart des Gleichnisses, also für die ›Vollzahl‹ – sprich: Pleroma, 213. So zeigt sich, und zwar eben i.U. zum vorausgehenden bzw. dass nach gnostischer Auffassung ›hinter‹ der zunächst so schlichten Nacherzählung des biblischen Gleichnisses auch hier wiederum eben jene gnostische Zahlenspekulation steht, wie sie Irenäus in Adv. Haer. I 16,2 als Lehre der Valentinianer referiert hat: »Deswegen auch fliehen sie um der Erkenntnis willen den Ort der 99, d.h. den Mangel, den Typos der linken Hand(!), verfolgen aber ›das Eine‹, das sie [hinzugezählt nunmehr zu den 99] zur rechten Hand hinüberbringt«214.

Über all seiner Polemik gegen das Gleichnisverständnis seiner Kontrahenten hat Irenäus es offensichtlich versäumt, die ihm eigene Position hinsichtlich einer sachgemäßen Gleichnis-Interpretation zur Darstellung zu bringen. Am Ende weiß auch er keinen anderen Rat, als die ›Gleichnisse und Parabeln‹ der biblischen Überlieferung, da sie nach seiner Meinung zu den ambiguae scripturae, d.h. zu den ›zweideutigen‹ Schriftstellen, gehören und dementsprechend eine Vielzahl von ›Auflösungen‹ (absolutiones) hervorzubringen imstande sind, nach Maßgabe dessen auszulegen, was ›unzweideutig‹ ist: Et ideo parabolae debent non ambiguis adaptari (Adv. Haer. II 27,1–2). Letzlich bedeutet dies, dass eine rechte und sachgemäße Auslegung der Gleichnisse nur nach Maßgabe der regula veritatis zu gewinnen ist: Sie, diese ›Glaubensregel‹, ist die eigentliche ›Methode‹ (disciplina), die es überhaupt digital est pour notre auteur le symbole du retour de la déficience à la perfection, dont l’Unité est le signe« (mit Verweis auf p. 23,11–15); ebd., S. 151: »L’Unité-perfection tient une place primordiale dans le Valentinisme«. 211 Zum Problem in dieser Hinsicht vgl. bes. H.-M. Schenke, Die Herkunft des sogen. »Evangelium Veritatis«, S. 21 (mit Anm. 10), der die valentinianische Herkunft dieser Schrift entschieden bestreitet. Angesichts der auffälligen Entsprechungen in der Auslegung des Gleichnisses vom ›verlorenen Schaf‹ bei Irenäus, Adv. Haer. I 16,2 und II 26,4) ist dies jedoch nicht eben wahrscheinlich. Zur Kritik an der Position von H.-M. Schenke vgl. auch H. Strutwolf, Gnosis als System, S. 200 f. bzw. S. 201, Anm. 128 (mit Verweis auf Irenäus, Adv. Haer. II 24,6. 212 Vgl. hierzu das Stichwort sta bzw. saat im Koptischen, i.S. von »Mangel«, »Unvollkommenheit«. Dazu: W. E. Crum, Coptic Dictionary, Oxford 1939, S. 592 f. bzw. S. 593 f. 213 Zu dieser Gegenüberstellung vgl. Evangelium veritatis, p. 34,35 ff.; 35,1 ff.; 35,33–36,8, und dazu V. Macdermot, The Concept of Pleroma in Gnosticism, S. 79 (mit Bezug auf p. 34,35): »TheGospel of Truth is said to be the gospel of discovery of the pleroma for those who await salvation«. Vgl. ebd., S. 81 (mit Bezug auf p. 42,30 ff.): »the state of those who have been restored to pleroma is described in the Gospel of Truth«. Zum Thema ›Mangel – Pleroma‹ im Evangelium veritatis vgl. auch H. Strutwolf, Gnosis als System, S. 199 ff., speziell S. 200 f. Zur Deutung des Gleichnisses vom »verlorenen Schaf«. 214 Vgl. auch I 16,1 und Hippolyt, Ref. VI 52,11 sowie Irenäus, Adv. Haer. II 24,6: adhuc autem materialia sinistra vocantes, et ex necessitate quae sunt sinistrae in corruptionem cedere dicentes, et Salvtorem venisse ad ovem perditam, ut eam transferat ad dextram.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

erst ermöglicht, die rechte Auslegung zu finden (Adv. Haer. II 27,2), oder, wie Irenäus an anderer Stelle formuliert (Adv. Haer. I 10,3): »Was in den Gleichnissen gesagt worden ist, ist «215. Es ist angesichts dieses Befundes bei Irenäus bemerkenswert, dass Tertullian, seinerseits in seiner Streitschrift Adversus Valentinianos von Irenäus (Adv. Haer. I) abhängig, im Blick auf die in jener Zeit zwischen der frühkatholischen Kirche und der frühchristlichen Gnosis besonders umstrittene Frage der sachgemäßen Auslegung der neutestamentlichen Gleichnisse durchaus eigene Akzente gesetzt hat und damit deutlich einen Schritt über Irenäus hinaus gegangen ist. Zwar steht auch für Tertullian, wie vor allem aus seiner Schrift De praescriptione haereticorum hervorgeht216, außer Frage, dass am Ende allein die regula veritatis bzw. die regula fidei der ›Kanon‹ für eine sachgemäße Auslegung der Hl. Schrift insgesamt ist. Dies hindert ihn jedoch nicht daran, zugleich nach den Kriterien der biblischen Gleichnisse zu fragen: Charakteristisch in dieser Hinsicht ist bereits sein Votum: quod enim scriptum est – hoc evenire oportet217. Das heißt i.S. des Tertullian: Gegenüber allem Überschwang einer allegorischen Auslegung der Schrift und – insbesondere – der Gleichnisse bedarf es zunächst in jedem Falle der Berücksichtigung des wörtlichen Sinnes der Schrift. Und dies gilt nun auch insbesondere für die Auslegung der Gleichnisse vom ›verlorenen Schaf‹ und von der ›verlorenen Drachme‹, darüber hinaus auch für das Gleichnis vom ›verlorenen Sohn‹. Am deutlichsten tritt dies bei Tertullian in der bereits seiner montanistischen Zeit zugehörigen Schrift De pudicitia hervor, in der er, in den Kapiteln 7–9, so etwas wie eine eigene ›Gleichnistheorie‹ entfaltet: Charakteristisch für seine Position ist bereits der Anfang seiner Abhandlung über die Gleichnisse vom ›Verlorenen‹ in c. 7,1: A parabolis licebat incipias, ubi est ovis perdita a Domino requisita et humeris eius revecta … und weiter (ebd.): Preascribimus enim ex naturae disciplina, ex lege auris et linguae, ex mentis sanitate ea semper responderi quae provocantur – in der Tat: Wo wie hier sogleich zu Beginn einer Abhandlung zum Thema der Gleichnisse der ›gesunde Menschenverstand‹ bemüht wird, bleibt von vornherein kein Raum mehr für ein Verständnis jener Gleichnisse i.S. einer (vermittels der Allegorese auszulegenden) ›Mysterienrede‹. Und entsprechendes gilt dann auch im Blick auf die von Tertullian im c. 7,6 ff. formulierte, selbstverständlich mit ›Ja‹ zu beantwortende rhetorische Frage: Dic mihi, nonne omne hominum genus unus Dei grex est? Nonne universarum gentium idem Deus et Dominus et pastor est? Quis magis perit a Deo quam ethnicus, quamdiu errat? Quis magis requiritur a Deo quam ethnicus, quando revocatur a Christo? – Die Antwort auf diese Fragen lässt bereits zu Beginn dieser Abhandlung zur Frage eines 215 Zum Problem bei Irenäus in dieser Hinsicht vgl. bereits A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, 2. Aufl. Tübingen 1910, S. 211 f. 216 Vgl. hier besonders die Kapitel 12,14 und 19 sowie die bereits oben (S. 38 MS ) genannten Belege. Vgl. weiter Tertullian, de pudicitia 9,1 und dazu den Kommentar von Cl. Micaelli, in: SC 395, S. 360. 217 Scorpiace 11.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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sachgemäßen Verständnisses der Gleichnisse Jesu die Grundrichtung dieses Beitrags zum Thema erkennen – auch abgesehen von der Antwort, die schließlich Tertullian selbst in c. 7.7 gibt: (Denique antecedit hic ordo in ethnicis; siquidem non aliter Christiani ex ethnicis fiunt nisi orius perditi a Deo requisitiet a Christo reportati): Ita etiam hunc ordinem servari oportet, ut in eos tale aliquid interpremur, in quibus prius. – Bereits der Anfang dieser Abhandlung über die sachgemäße Auslegung der Gleichnisse bezeugt, was die Einstellung des Tertullian betrifft, nicht nur ein bemerkenswertes theologisches Grundverständnis der Gleichnisse, sondern auch eine bemerkenswerte Nüchternheit im Umgang mit der Gleichnisrede. Und dies gilt auch dann, wenn diese Schrift als solche zunächst gar keine anti-gnostische Schrift ist, sondern nur eine Art Rechtfertigung für Tertullians ›Übertritt‹ von der katholischen Mehrheitskirche zum Montanismus. Gleichwohl impliziert sie, was speziell die Gleichnisse vom ›Verlorenen‹ betrifft, ein aller Allegorese abholdes Grundverständnis der Gleichnisse, das im deutlichen Gegensatz zum Verständnis der Gleichnisrede Jesu in der frühchristlichen Gnosis steht. Hier ist jedenfalls kein Raum mehr für ›unaussprechliche Geheimnisse‹, wie sie nach dem Bericht des Irenäus die Gnostiker vermittels ihres allegorischen Grundverständnisses in den Gleichnissen der Evangelien entdecken zu können meinten. Solche nüchterne Grundeinstellung im Blick auf das Verständnis der neutestamentlichen Gleichnisse schließt im Übrigen nicht aus, dass Tertullian im 8. Kapitel seiner Schrift (c. 8,3 ff.) im Zusammenhang mit dem Gleichnis von den ›beiden Söhnen‹ (Lk 15,11–32) ›une véritable acrobatie exégétique‹ vorträgt218; gleichwohl ist die Grundtendenz der Auslegung des Gleichnisses klar und eindeutig: Im Gegenzug zu einer Auslegung der Gleichnisse, die sich primär an den in jenen Gleichnissen genannten Zahlen orientiert – De pud. 9,2: Quare centum oves? Et quid utique decem drachmae? –, im Gegenzug also zu einer Auslegung, die vermittels bestimmter Zahlenspekulationen dazu neigt, wie Tertullian drastisch formuliert, omnia in expositione torquere (d.h.: »alles bis ins Einzelne hinein zu drehen und zu wenden«)219 – im Gegensatz dazu ist ihm, dem Tertullian, zunächst an einer ›einfachen‹, gleichsam ›schlichten‹ Interpretation der Gleichnisse gelegen: simpliciter ist das entsprechende Stichwort, das Tertullian in diesem Zusammenhang gebraucht: Sunt autem, quae et simpliciter posita sunt ad struendam et disponendam et textenam parabolam … (De Pud. 9,3), »schlicht und einfach« also im Gegensatz zu einer allegorischen Interpretation220, simpliciter so wiederum nicht lediglich i.S. einer bloß ›formalen‹ Kategorie. Faktisch nämlich bedeutet jene allegorische Auslegung: 218 So Cl. Micaelli in seinem Kommentar zu De pud. 8,5 in: SC 395, S. 354. Vgl. ebd.: »T. a recours à l’un des arguments les pls communs de l’arsenal polémique de l’ anti-judaisme«; und ebd.: »T. entre en contradiction flagrante les plus comuns de l’anti-judaisme«; und ebd.: »T. entre en contradiction flagrante avec ce qu’il a lui-méme affirmé en Pud. 7,9 où il s’ètait efforcé de démontrer, non sana difficulté, que les quatre-vingt-dix-neuf justes de la parabole de la brebis perdue sont des Juifs.« 219 De pudicitia 9,1. Vgl. entsprechend die Polemik bei Irenäus. Adv.haer. II 24,3: Etenim ex lege, eligentes quaecumque concurrunt sectae eorum numero, temptant violenter probationes facere. 220 Vgl. auch Tertullian, Ad uxorem I 2,3: Sed licet figuraliter in synagoga ecclesia intercesserit, ut tamen simpliciter interpretamur …, und dazu die Übersetzung (in: SC 273, S. 96): »nous voulons toute fois donner un interprétation toute simple«, also eine »exégèse litterale« (SC 395, S. 360)

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Sic et haeretici easdem parabolas quo volunt tribuunt, non quo debent. Aptissime excludunt. Quare altissimo? Quoniam a primordio secundum occasiones parabolarum ipsas materias confixerunt doctrinarum (8,12). Von daher gesehen sind es also schon jene ipsae materiae der Häretiker, offensichtlich also die ihnen eigenen Vorstellungen, die sie bei der Auslegung der Gleichnisse leiten, ein Umstand, der den Tertullian – logischerweise – sogleich zu der Schlussfolgerung veranlasst: Vacuit scilicet illis solutis a regula veritatis ea conquirere atque componere, quorum parabolae videntur! Und im Gegenzug dazu nun wiederum Tertullian: Nos autem quia non ex parabolis materias commentamur, sed ex materiis parabolas interpretamur, nec valde laboramus omnia in expositione torquere, dum contraria quaeque caveamus (9,1). Zu Recht wird im Kommentar zu De Pudicitia in den ›Sources chrétiennes‹ in diesem Zusammenhang auf den von Tertullian in »De praescriptione haereticorum« (c. 38,10) geäußerten Grundsatz verwiesen: Hier bestätigt Tertullian zwar zunächst dem Valentinus, dass er – i.U. zu Marcion – mit den Schriften ›behutsam‹ verfährt, die Schriften also non ad materiam, sed materiam ad Scripturas excogitavit – aber: et tamen plus abstulit et plus adiecit, was am Ende wiederum auf die von Tertullian in derselben Streitschrift (c. 17,1) beschriebene Position hinausläuft: Ista haeresis non recipit quasdam scripturas; et si quas recipit, adiectionibus et detractionibus ad dispositionem instituti sui intervertit, was zugleich heißt: et si recipit, non recipit integras (ebd.). Die von Tertullian in diesem Streit um die richtige Interpretation der Gleichnisse bezogene theologische Position: Necesse erat, qui unius peccatoris salutem gratissimam Deo volebat exprimere, dies jedenfalls die schlüssige Antwort auf die Frage, warum eigentlich in den beiden Gleichnissen vom ›verlorenen Schaf‹ und von der ›verlorenen Drachme‹ die Zahlenangaben »100« und »10« notwendig waren. Nicht um geheimnisvolle Zahlenangaben geht es hier, sondern – ganz ›einfach‹, simpliciter, darum, dass Gott sich über einen ›Sünder‹ erbarmt … In der Tat: Das hier sich äußernde exegetische Prinzip des Tertullian, zuvor bereits in De pud. 7,6 ff. vorbereitet durch die Reihe rhetorischer Fragen (Dic mihi, nonne omne hominum genus Dei grex est? Nonne universarum gentium idem Deus et Dominus et pastor est …) ist, wie Cl. Micaelli in seinem Kommentar in den ›Sources Chrétiennes‹ speziell zu c. 7,7 vermerkt hat, »certainement raisonnable et valable«221. Und es liegt durchaus auf der Grundlinie einer universalen Geltung solcher Auslegung der genannten Gleichnisse, wenn im 4. Jh. Pacianus, Bischof von Barcelona, in seinem dritten Brief an den (von Pacianus als ›Bruder‹ gegrüßten!) Novatianer Sympronianus die Schlußfolgerung gezogen hat, dass jene Gleichnisse vom ›Verlorenen‹ keineswegs nur den ›öffentlichen Sündern‹ gelten, sondern gerade auch den Glaubenden in Gegenwart und Zukunft: … ubique et hoc principaliter ad priores esse consentio, sed in forma fidelium, sed in imagine futurorum, sicut Apostolus dicit … (im Folgenden mit Bezug auf 1 Kor 10,11 und Hebr 10,1)222.

Was die bisher erörterte Rezeption der neutestamentlichen Gleichnisse nach dem Zeugnis der Kirchenväter, insbesondere des Irenäus und des Tertullian, betrifft, so kann jetzt bereits festgestellt werden, dass eine »allegorische 221

So Cl. Micaelli in seinem Kommentar zu Tertullian, De pud. 7,7 (SC 395, S. 345). Sancti Paciani epistola III 13 (MPL 13, col. 1072). Zur Sache vgl. auch Cl. Micaelli, ebd., S. 345. 222

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Hermeneutik … überall da maßgebend [ist], wo Gleichniserzählungen [sekundär] einem außerhalb ihrer selbst liegenden Interesse dienstbar gemacht werden«223. In diesem konkreten Fall heißt das zugleich, dass neutestamentliche Gleichnisse, die ursprünglich nicht als ›Allegorien‹ konzipiert waren, vermittels der Allegorese sekundär an spezifisch gnostische Vorstellungen ›adaptiert‹ werden. Faktisch bedeutet dies, dass jene Gleichnisse sekundär in einen ihnen ursprünglich fremden hermeneutischen Bezugsrahmen einbezogen werden. Diese Gleichnisse des Neuen Testaments, besagen und bedeuten nun, in ihrem neuen gnostischen Kontext, etwas gänzlich anderes als das, was ihnen ursprünglich, und zwar sowohl im Kontext der Botschaft Jesu als auch im Kontext der Evangelien, eigen war. Grundsätzlich dasselbe gilt auch im Blick auf die im Folgenden noch zu nennenden Exempel einer gnostischen Rezeption der Gleichnisse des Neuen Testaments. In ihrer besonderen Art sind sie deutliche Beispiele dafür, dass die gnostischen Ausleger in diesen Gleichnissen – schon was ihre Auswahl(!) betrifft, bestimmte Anknüpfungsmöglichkeiten erblickten, auf diese Weise die den Gnostikern, eigene Botschaft und Lehre zur Geltung zu bringen. Das sich zunächst nur auf das ›Gesetz‹ beziehende Votum des Irenäus, Adv. Haer. II 24,3 gilt dementsprechend auch – und gerade im Blick auf die Rezeption der neutestamentlichen Gleichnisse durch die Gnostiker: Etenim ex lege, eligentes quaecumque concurrunt eorum numero, temptant violenter probationes facere. Im Einzelnen liegt bei solchem ›gewaltsamen‹ Verfahren der Gnostiker keineswegs überall eine extensive, alle Einzelzüge der jeweiligen Gleichniserzählung erfassende Allegorese vor; vielmehr sind es hier jeweils bestimmte Einzelzüge der ursprünglichen Gleichniserzählung, die das besondere Interesse jener gnostischen Rezipienten gefunden haben. In jedem Falle ist gleichwohl deutlich, dass es bei solcher Gleichnis-Rezeption seitens der frühchristlichen Gnosis am Ende wohl um die Frage einer Autorisierung der eigenen gnostischen Botschaft geht. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien dafür im Folgenden einige weitere charakteristische Beispiele der gnostischen Rezeption neutestamentlicher Gleichnisse genannt: An erster Stelle ist auf das Gleichnis vom ›Sämann‹ (Mk 4,3 ff. parr.) als ein charakteristisches Beispiel gnostischer Gleichnisauslegung hinzuweisen, charakteristisch insofern, als hier nicht nur die Betonung bestimmter einzelner Züge der Gleichniserzählung dem gnostischen Ausleger geeignet erschienen, sein spezielles Anliegen zum Ausdruck zu bringen, sondern darüber hinaus dem Ausleger auch ein bestimmter Eingriff in die ursprüngliche Gleichniserzählung ermöglichte, diesem Gleichnis zu einer eindeutig gnostischen Aussage zu verhelfen. Es handelt sich dabei um die von Hippolyt, Ref. V 8,29 f., im Zusammenhang seines Referats über die ›Naassener‹ überlieferte Deutung, in der – keineswegs von ungefähr – statt der ursprünglich im Gleichnis genannten vier nur drei Beispiele für den ›Samen‹ und 223 So E. Harnisch, Die Gleichniserzählung Jesu, S. 62, hier auch (S. 62 ff.) zu den Problemen einer sekundären allegorischen Hermeneutik.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

sein Geschick genannt werden. Die das Gleichnis in Mk 4,3 einleitende Aufforderung zum Hören, der am Ende, Mk 4,9, die Formel »Wer Ohren hat zu hören, der höre« entspricht, ist dabei von den gnostischen Rezipienten offensichtlich als Aufforderung verstanden worden, den gleichsam hintergründigen Sinn der Gleichniserzählung zu ›suchen‹ und nunmehr in einem spezifisch gnostischen Kontext auch zu ›finden‹224. Dieser ›hintergründige Sinn‹ besteht für die Gnostiker darin, dass sich im dreifachen Geschick des ›Samens‹ nichts anderes darstellt als die drei ›Menschenklassen‹ einer spezifisch gnostischen Anthropologie, konkret also die ›Hyliker‹ bzw. ›Choiker‹, die ›Psychiker‹ sowie die ›Pneumatiker‹, die nach gnostischer Vorstellung ihren Ursprung in der Urzeit der Menschheitsgeschichte haben, nämlich in den drei Söhnen Adams, Kain, Abel und Seth225. Konkret bedeutet dies im Blick auf die ursprüngliche Gleichniserzählung, dass allein der Same, der auf das fruchtbare Land fällt, auf die ›Pneumatiker‹ zu beziehen ist, von denen es denn auch heißt (Ref. V 8,29), dass »niemand [von diesen drei Menschenklassen]« zum Hörer geworden ist, denn »allein die vollkommenen Gnostiker«. Dies ist ein Aspekt, der mit dem das ›fruchtbare Land‹ noch näher charakterisierende Zitat von Dt 31,20 noch verstärkt wird: ›Milch und Honig‹ nämlich sind, wie Hippolyt in Ref. V 29,30 erläuternd hinzufügt, »dasjenige, durch dessen Genuss die ›Vollkommenen‹ am Ende ›königlos‹ werden und am Pleroma [als der ursprünglichen ›Fülle‹] teilhaben«. In der Tat: »Die hier vertretene Exegese benutzt … nur kleine Mittel. Es gelingt ihr aber auch so, dem Text einen evidenten gnostischen Sinn abzugewinnen«226, und zwar eben in dem Sinne, dass in der Tat »allein die vollkommenen Gnostiker« die Hörer jener ›Geheimnisse‹ sind, die sich hinter der an sich so schlichten Gleichniserzählung verbergen. Hier geht es, wie durch das in der sog. Naassenerschrift ständig wiederholte auch weiterhin unterstrichen wird (Ref. V 8,26.29.44; 9,6.21), um einen exklusiven Anspruch auf das Verstehen des ›eigentlichen‹ Sinnes jenes Gleichnisses, um einen ›elitären‹ Anspruch also, der alle jene, die die von den Gnostikern in Anspruch genommenen Verstehensvoraussetzungen nicht teilen, vom Heil ausschließt227, der jedoch gleichwohl – ›heilsökonomisch‹ gesehen – am Ende 224 Vgl. zu Mk 4,9 J. Frickel, Hellenistische Erlösung in christlicher Deutung, S. 123 f.: »Der Hinweis auf Mk 4,9 zeigt in diesem Zusammenhang, dass die Pneuma-Gnostiker dieses Logion auf das wahre Hören des Wortes Gottes bezogen und dieses Hören als eine pneumatische Fähigkeit allein für sich in Anspruch nahmen, den Nicht-Pneumatikern aber absprachen«. 225 Dazu vgl. die entsprechenden Aussagen bei Irenäus, Adv. Haer. I 1,14; 7,5; bei Tertullian, Adv. Valentinianus 29,1 sowie bei Clemens Alexandrinus, Exc. Ex Theodoto 54,1. Von daher gesehen handelt es sich bei der Beschränkung auf drei Beispiele vom Geschick des Samens bei Hippolyt, Ref. V 8,29 zweifellos um eine bewusste redaktionelle Bearbeitung des Gleichnisses. Vgl. dazu J. Bergman, Kleine Beiträge zum Naassenerbericht, S. 74–100, hier bes. S. 97–100 bzw. S. 99 f. 226 So J. Bergman, ebd., S. 100. Nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang auch auf die Wendung in der Wiedergabe des Gleichnisses in Ref. V 8,29 hinzuweisen: Nach gnostischen Verständnis sind es ja eben die ›Hyliker‹ (und die ›Psychiker‹), die der ›Tiefe‹ (sc.: der Gotteserkenntnis) ermangeln. Vgl. in diesem Zusammenhang auch 1 Kor 2,10 und Hippolyt, Ref. V 6,4. – Zur Deutung von Dt 31,20 bei den Vallentinianern vgl. auch Ref. VI 30,9. 227 Zu diesem exklusiven Anspruch vgl. auch Hippolyt, Ref. V 6,4 von den ›Naassenern‹, die sich selbst ›Gnostiker‹ nennen: »Sie meinen, dass sie allein die Tiefen der Gottheit erkennen«. Vgl. auch Irenäus, adv. Haer. II 22,3 sowie Hippolyt, Ref. V 8,11 f.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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wiederum eine Differenzierung bzw. Relativierung innerhalb jener drei ›Menschenklassen‹ nicht ausschließt228. Was in diesem ›Kontext‹ weiter das Gleichnis vom ›Sauerteig‹ (Mt 13,33 par Lk 13,20 f.) betrifft, so ist hier, ganz der Vorliebe der Gnostiker für bestimmte Zahlen entsprechend, bereits die Erwähnung der ›drei Maß Mehl‹ im Gleichnis Anlass für eine ihren Vorstellungen entsprechende Auslegung, Anlass also, in diesen ›drei Maß Mehl‹ einen verdeckten Hinweis auf jene drei ›Menschenklassen‹ zu entdecken (Irenäus, Adv. Haer. I 8,3), darüber hinaus in solche Deutung am Ende auch den ›Sauerteig‹ einzubeziehen, als ›Abbildung‹ nämlich des ›Soter‹, und die ›Frau‹ im Gleichnis als Abbildung der ›Sophia‹! Dies ist in der Tat eine bemerkenswerte Auslegung, als solche am Ende nur aus der Absicht zu erklären, dieses Gleichnis als eine geradezu vollständige Verschlüsselung eines Heilsprozesses zu verstehen, der nicht nur – wie am Ende auch der ›Schriftbeweis‹ mit Bezug auf die ›entsprechende‹ Terminologie des Paulus in 1 Kor 2, 14 f. und 15,48 zeigt229 – die Anthropologie im Blick hat, sondern auch die Soteriologie. Bemerkenswert für das Thema der Anthropologie ist im Übrigen, dass in der gnostischen Exegese der Gleichnisse der Evangelien nicht zuletzt auch die ›Zöllner‹ in die Spekulation über die drei ›Menschenklassen‹ einbezogen werden230, so jedenfalls bei den ›Naassenern‹ nach dem Referat des Hipolyt, Ref. V 8,28: Hier wird im Anschluss wiederum 1 Kor 2,13 f., zugleich aber auch mit Verweis auf Mt 21,31 – die »Zöllner und Dirnen« sind es, die »vor euch in das Himmelreich hineingehen werden« – eine höchst eigenartige Etymologie zum Stichwort ›Zöllner‹, griech.: , entwickelt: »Denn die Zöllner sind«, so heißt es hier im Wortspiel zu , »diejenigen, die das Letzte ( ) von allem empfangen«. Und im Folgenden heißt es sodann mit Zitat von 1 Kor 10,11: »Wir aber sind die , zu denen gelangt sind«. Zur Erläuterung wird schließlich noch hinzugefügt: »[das] Letzte ( ) nämlich sind die von dem Nichtbezeichenbaren [Gott] in die Welt zerstreuten Samen, durch die die ganze Welt zur Vollendung gelangt«. Von Mt 21,31 her gesehen sind also die ›Zöllner‹ (und ›Dirnen‹) gleichsam die Prototypen für die ›Pneumatiker‹, von denen Paulus 1 Kor 2,13 f. spricht231. Was hier die besondere Hervorhebung der ›Zöllner‹ betrifft, so entspricht dem in der Sache die Beurteilung der ›Zöllner‹ von Mt 21,31 und Lk 19,5 als Repräsentanten der ›Pneumatiker‹ bei Irenäus, Adv. Haer. I 8,3: im Anschluss an das Zitat von Lk 19,5 heißt es hier: »Diese nämlich sind (die Angehörigen) des pneumatischen Genus geworden«232. Auch in einem Kontext, in dem es dem Irenäus primär um den Einspruch gegen eine Zwei-Götter-Lehre der Gnostiker bzw. 228 Zur Problematik in dieser Hinsicht im Einzelnen vgl. J. Frickel, Hellenistische Erlösung in christlicher Deutung, S. 123 ff. Im Rahmen seiner Strukturanalyse der Naassenerschrift führt J. Frickel dieses dualistische Konzept auf die Überarbeitung einer ›Anthropos-Lehrschrift‹ durch den (von ihm so genannten) ›Pneuma-Gnostiker‹ zurück. Vgl. dazu ebd., S. 116–171. 229 Vgl. entsprechend auch Epiphanius, Haer. XXXI 25,9 f. Zur Bezugnahme auf die genannten Paulus-Texte vgl. auch J. Frickel, Naassener oder Valentinianer? S. 95–119, hier S. 98 f. sowie S. 107 f. zu Irenäus, Adv. Haer. I 8,3. 230 Dazu vgl. auch J. Frickel, Die Zöllner, Vorbild der Demut und wahrer Gottesverehrung, S. 369–380. 231 Zur Stelle vgl. J. Frickel, Naassener oder Valentinianer? S. 101; ders. Hellenistische Erlösung in christlicher Deutung, S. 197, hier mit Verweis auf die weiteren etymologischen Ableitungen bei Hippolyt, Ref. V 8,2; 8,20 und 8,41. 232 Vgl. auch Irenäus, Adv. Haer. IV 20,12, hier im Anschluss an Mt 21,31.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

des Marcion geht233, wird von Irenäus neben den Gleichnissen von den »beiden Söhnen« (Lk 15,1 ff.) und von den »Arbeitern im Weinberg« (Mt 20,1 ff.) auch das Gleichnis vom »Pharisäer und Zöllner« genannt, dieses freilich primär unter dem Aspekt der Einheit und Einzigkeit Gottes. So heißt es bei Irenäus, Adv. Haer. IV 36,8 zu Lk 18,9 ff.: Et publicamus autem, qui in oratione Pharisaeum superavit, non quoniam alterum patrem adorat testimonium acceit a domino quod est magis iustifi-catus, sed quoniam cum magna humilitate … exomolegesim eidem Deo faciebat. Von dieser besonderen Akzentsetzung her gesehen muss es fraglich bleiben, ob man aus der hier primär anti-dualistisch akzentuierten Deutung jener Gleichnisse speziell im Blick auf Lk 18,9 ff. die Schlussfolgerung ziehen kann, dass auch hier der Zöllner ebenso wie auch der Pharisäer als ›Typen‹ für die beiden Menschenklassen des ›Pneumatikers‹ einerseits und des ›Choikers‹ bzw. des ›Psychikers‹ andererseits stehen234. Eindeutiger in dieser Hinsicht verhält es sich demgegenüber, was die Rezeption bestimmter Gleichnisse unter dem Vorzeichen einer gnostischen Anthropologie betrifft, mit der gnostischen Deutung des Gleichnisses von den »klugen und den törichten Jungfrauen« Mt 25,1–13: Zwar kommt Irenäus auf dieses Gleichnis nur im Zusammenhang seiner Polemik gegen diejenigen zu sprechen, die »immer nur suchen, niemals aber finden«235; im Übrigen jedoch ist deutlich, dass gerade dieses Gleichnis mit seiner Unterscheidung zwischen den ›klugen‹ und den ›törichten Jungfrauen‹ einem gnostischen Ausleger besonders geeignet erscheinen musste, auch hier – ganz i.S. seines Vorverständnisses – eine Grundanschauung der gnostischen Anthropologie zu ›finden‹. So gesehen ist es kein Zufall, dass in den valentinianischen Excerpta ex Theodoto des Clemens Alexandrinus (86,3) ebenfalls auf die »klugen Jungfrauen« von Mt 25 Bezug genommen wird. Und in dieselbe Richtung weist nicht zuletzt auch die im Kommentar des Origenes zum JohEv (XIII 31 f.) überlieferte Auslegung von Joh 4 durch Herakleon: In dem hier vorliegenden, nur fragmentarisch überlieferten Vergleich des Verhaltens der Jünger Jesu in Joh 4 mit den »fünf törichten Jungfrauen« von Mt 25,1 ff. ist jedenfalls so viel deutlich, dass jene Jünger Jesu, die nach der Begegnung Jesu mit der »Samaritanerin am Brunnen« (Joh 4,1–7) zunächst die nächste Stadt aufsuchen, um dort (irdische!) Speise zu kaufen (Joh 4,8), und schließlich erst nach dem Gespräch Jesu mit der Samaritanerin (Joh 4,9–26) zurückkommen (Joh 4,27), das Entscheidende jener Begegnung Jesu mit der Samaritanerin versäumt haben: die Rede Jesu nämlich vom ›lebendigen Wasser‹ (Joh 4,13 ff.). Eben so sind die Jünger in ihrem auf irdische Nahrung ausgerichteten Begehren den »törichten Jungfrauen« von Mt 25 durchaus vergleichbar: 233 Vgl. entsprechend den dualistischen Kontext der antimarcionitischen Interpretation von Lk 18,9 ff. bei Tertullian, Adv. Marcionem 36,1 f., hier bes. die mit einem Zitat beginnende Argumentation: Sed quis optimus nisi unus, inquit, deus? Non quasi ex duobus diis unum optimum ostenderit, sed ›unum‹ esse obtimum deum solum, qui sic unus est optimus, qua solus deus. Et utique optimus qui pluit super iustos et iniustos et solem suum oriri facit super bonus et malos. 234 So J. Frickel, Naassener oder Valentinianer? S. 101 f. 235 Adv. Haer. II 27,2, hier im Zusammenhang der Polemik gegen die jenigen (Gnostiker), die immer nur ›suchen‹, niemals jedoch ›finden‹, was von Mt 25,1–12 her gesehen sogleich bedeutet: »Und wenn der Bräutigam kommt, … hat er seine Lampe nicht bereit …, und er wird vom Brautgemach ausgeschlossen (et excluditur a thalamo eius). Zur Sache vgl. R. Staats, Die törichten Jungfrauen von Mt 25 in gnostischer und antignostischer Literatur, S. 98–115.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Die entscheidende Chance haben sie jedenfalls versäumt236 – und in diesem Sinne sind sie ebenso wenig ›Pneumatiker‹ wie jene ›törichten Jungfrauen‹ von Mt 25, die am Ende vor verschlossenen Türen stehen.

Das wohl deutlichste Zeugnis für eine gnostische Exegese des Gleichnisses von Mt 25,1–12 liegt jedoch bei Tertullian vor, und zwar im 18. Kapitel seiner Abhandlung De anima, auch hier in der Gestalt, dass die valentinianische Lehre von den drei ›Menschenklassen‹ auf zwei reduziert erscheint: auf die ›klugen Jungfrauen‹ einerseits und die ›törichten Jungfrauen‹ andererseits. Die in dieser Unterscheidung sich darstellende Anthropologie hat ihrerseits die Unterscheidung zwischen den sensus corporales, die die ›törichten‹ Jungfrauen bestimmen, und den vires animae bzw. vires intellectuales, die die ›klugen‹ Jungfrauen bestimmen, zur Voraussetzung. Solche Unterscheidung veranlasst nun den Tertullian zu der (in seinem Sinn vom Leser eindeutig zu bejahenden) Frage: Relucetne iam haeretica semina Gnosticorum et Valentinianorum? (De anima 18,4), d.h.: »Werden [im Grunde] nicht hier schon«, bei Platon nämlich, »die häretischen Keime der Gnostiker und Valentinianer sichtbar?« – Platon gilt hier offensichtlich als eine Art Vorläufer der gnostischen Häresie, und zwar insofern, als er mit seiner strikten Unterscheidung zwischen den corporales sensus einerseits und den intellectuales vires andererseits eben diese Unterscheidung den Häretikern überhaupt erst ›annehmlich gemacht hat‹ (De anima 18,1: haereticis commendaverit). Platon nämlich, so heißt es bei Tertullian, De anima 18,1, ait in Phaedone: »Was also hat es [eigentlich] mit dem Besitz der Klugheit und des Nachdenkens auf sich?« – dazu kommt schließlich noch die Sentenz des Epimarchos Comicus kommt: animus cernit, animus audit – reliqua surda et caeca sunt – das heißt: »Der Geist sieht, der Geist hört – (alles) Übrige ist taub und blind«. Auf Platon letztlich geht also jene strikte Differenz zwischen den sensus corporales und den vires intellectuales zurück, von der es dann in De anima 18,4 im Blick auf die Gnostiker bzw. die Valentinianer heißt, dass sie eben von daher diese »Differenz zwischen den körperlichen Sinnen und den geistigen Kräften« – wie es hier drastisch heißt – »an sich gerissen haben«, um sie nun auch dem Gleichnis von den Zehn Jungfrauen »anzupassen«. Hier also wiederum, wie bereits bei Irenäus, das für das Verfahren der Gnostiker bei ihrer Art von Auslegung der Schrift charakteristische Stichwort der ›Anpassung‹. Konkret verfährt man dabei in der Weise, dass die sensus corporales die ›törichten Jungfrauen‹ abbilden (figuraverint), während sich die intellectuales vires in den ›klugen Jungfrauen‹ darstellen – woraus sich sodann zugleich ein Ausblick auf die für die valentinianische Gnosis charakteristische Vorstellung von den ›Äonen‹ sowie vom ›Pleroma‹ ergibt: Denn eben die ›klugen‹ Jungfrauen sind es ja, die allein imstande 236 Zum Sachzusammenhang an dieser Stelle vgl. W. Foerster, Von Valentin zu Herakleon, S. 24 f., hier bes. S. 25.

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sind, jene »geheime und himmlische und [als solche] im Pleroma [apud pleroma] konstituierte Wahrheit zu erfassen« – eine »Wahrheit«, die zugleich »das Geheimnis (sacramenta) der gnostischen Ideen« ausmacht: hoc enim sunt aeones et genealogiae illorum (De anima 18,4). J. Waszink vermerkt in seinem Kommentar zu »De anima« an dieser Stelle: »… it seems probable once more Tert. on his own account has identified the antithesis sensus … intellectus … with the distinction between and made by the Valeninians«237 In diesem Sinn liegt bei Tertullian De anima c. 18, in der Tat ein bemerkenswertes, i.S. der gnostischen Ausleger in sich stimmiges Zeugnis einer Exegese von Mt 25 vor, darüber hinaus jedoch – zugleich – das Zeugnis einer (bereits bei Irenäus bezeugten) ›Ableitung‹ der gnostischen Häresie aus der antiken, insbesondere der platonischen Philosophie. Dabei könnte im Übrigen, worauf J. Waszink mit Recht hingewiesen hat, insbesondere die Gegenüberstellung veritates – imagines am Ende von De anima (18,3) darauf hinweisen, dass Tertullian seinerseits hier unmittelbar auf Irenäus (Adv. Haer. II 14,3) zurückgreift238. Im Vergleich dazu liegt in dem Zeugnis einer Bezugnahme auf dasselbe Gleichnis im 125. Kapitel der gnostischen Spätschrift unter dem Titel Pistis Sophia im Grunde nur mehr eine eher ›formal‹ zu nennende Auslegung von Mt 25 vor: Das biblische Gleichnis liefert hier nur noch einige Bausteine für eine originär gnostische Anschauung, indem an dieser Stelle – im Rahmen einer weitschweifigen Ausführung des ›Soter‹ zur Frage des ›Eingangs der vollkommenen Seelen in das Lichtreich‹ am Ende nur noch davon die Rede ist, dass – sobald die Zahl jener ›vollkommenen Seelen‹ erreicht ist –, die ›Tore des Lichts‹ endgültig verschlossen werden: Und sie werden finden, dass ich die Tores des Lichts verschlossen habe, und es unmöglich ist, dass jemand hineingehe oder dass jemand hinausgehe von dieser Stunde an. Jene Seelen nun werden an die Tore des Lichts klopfen, indem sie sagen: »O Herr, öffne uns! [Mt 25,11] Ich [aber] werde ihnen antworten und sagen: ›Ich kenne euch nicht [Mt 25,12], woher ihr seid‹ … Und von jener Stunde an werden sie in die äußerste Finsternis gehen, dort[hin also], wo ›Heulen und Zähneklappen‹ [Mt 13,42] ist«, daran schließt sich noch die Mahnung an: »Deswegen nun verkündet der ganzen Welt und sagt ihnen: ›Ringt danach, der ganzen Welt und der ganzen in ihr befindlichen Materie zu entsagen, auf dass ihr die Mysterien des Lichts empfanget, bevor die Zahl der vollkommenen Seelen vollendet ist, damit man euch nicht vor der Tür des Lichttores stehen lässt und euch zu der äußeren Finsternis führt. 237 J. Waszink, Tertullian, De anima, mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar, Amsterdam 1933, S. 259, hier mit Hinweis auf weitere Belege aus der frühchristlichen Literatur. 238 Die Stellenangabe bei J. Waszink, ebd. S. 258 (Irenäus II 18,3!) Ist in diesem Sinne (II 14,3!) Zu korrigieren. – Zur Herleitung der Gnosis aus der Philosophie (und – damit zugleich – zur Abhängigkeit des Tertullian von Irenäus) vgl. auch De anima 3,1 und dazu J. Waszink, ebd. S. 114: »The philosophers as the ›patriarchs‹ of the heretics«. Vgl. auch De anima 23, hier bes. 23,5: Doleo bona fide, Platonem omnium haereticorum condimentarium factum … Dazu J. Waszink, ebd. S. 297: »With the exception of § 3, all acounts of the views of the heretics have borrowed from Irenaeus«.

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Jetzt [aber] nun gilt: Wer Ohren hat zu hören ›der höre‹«239. – Eine weitere Adaption des Gleichnisses von Mt 25 dürfte schließlich auch im Logion 75 des Thomasevangeliums (NHC II /2, p. 46,11–13) vorliegen, wenn es hier heißt: »Viele stehen an der Tür, und doch sind es nur die ›Einzelnen‹ ( ), die in das Brautgemach hineingehen werden«240.

Die im Folgenden noch zu nennenden Adaptionen biblischer Gleichnisse gehören thematisch, wie auch bereits die zuletzt besprochenen Gleichnisse, in den Umkreis einer spezifisch gnostischen Anthropologie: An erster Stelle ist in diesem Kontext die gnostische Adaption des Gleichnisses vom ›Senfkorn‹ von Mk 4,30–32 par zu nennen, ein Gleichnis, das bereits mit dem Stichwort (Mk 4,31) den gnostischen Auslegern in besonderer Weise die Möglichkeit der Anknüpfung für die eigene Anthropologie darbot, und zwar in dem Sinne, jenes ›Senfkorn‹ aus dem Gleichnis als eine Chiffre für das göttliche ›Selbst‹ im Menschen zu verstehen. Dies gilt bereits im Blick auf die valentinianischen Excerpta ex Theodoto, hier speziell auf Exc. 1,3, wo das ›Senfkorn‹ – zusammen im Übrigen mit dem ›Sauerteig‹ von Mt 13,33 – als eine Chiffre für den ›auserwählten‹ bzw. ›pneumatischen Samen‹ einer spezifisch gnostischen Anthropologie in Anspruch genommen wird: »Den auserwählten Samen nennen wir auch den vom Logos zum Leben gebrachten Funken wie auch die Pupille des Auges und Senfkorn und Sauerteig, der das, was geteilt zu sein schien, auf den Glauben hin vereinte«241. – Was hier, in den Exc. ex Theodoto, mit einigen Stichwörtern eher nur angedeutet als im Einzelnen ausgeführt wird, begegnet sodann im Naassenerbericht in Hippolyts Refutatio (V 8,7 f.) in breiter Ausführung, hier bemerkenswerter Weise im Zusammenhang mit dem ›Weinwunder von Kana‹ (Joh 2,1–11): Am Ende (Joh 2,11) heißt es hier nicht: »… und er offenbarte seine Herrlichkeit«, sondern: »und er offenbarte das ›Himmelreich‹«, was i.S. der Naassener heißt: »das ›Himmelreich‹ in euch« ( ), als solches, hier i.S. einer Anspielung auf das Gleichnis vom »Schatz im Acker« (Mt 13,44), »niedergelegt als ein Schatz«. »Das Weinwunder soll also«, so fügt J. Frickel

239 Übersetzung nach C. Schmidt, Koptisch-gnostische Schriften I 2. Aufl., bearb. W. Till, Berlin 1954, S. 205 f. 240 Zur Stelle vgl. M. Fieger, Das Thomasevangelium, S. 208 f. – Hinzuweisen ist auch auf die Rezeption der Parabel bei Cl. Alexandrinus, Strom. V [Kap. III ] 17,3 und VII [Kap. XII ] 72,5, wo die Parabel von Mt 25 mit den ›klugen Seelen‹ bzw. mit den ›Gnostikern‹ verbunden wird, sowie auf Eurigenes, comm. in Joh 13,34. Vgl. dazu J. Waszink, Tertullian De anima, S. 259: »… and Heracleon compared the disciples of Jesus, because they were or , to the foolish ones«. 241 Zum ›geistlichen Samen‹ vgl. auch Clemens Al., Exc. ex Theod 1,1 und 2,1–2, hier (2,2) die Rede vom »geistlichen Samen den der Soter in die Seele gelegt hat«. – Zum Bild vom ›Funken‹, den der Logos belebt, vgl. auch Exc. ex Theod. 3,1, sowie Hippolyt, Ref. VI 17,7, und dazu J. Frickel, Naassener oder Valentinianer? S. 109 mit Anm. 68. Zum Bild von der ›Puppille‹ in Exc. ex Theod. 3,1 vgl. Hippolyt, Ref. VII 10,4 (für die Doketen) sowie V 19,7 (für die Sethianer).

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dieser merkwürdigen Auslegung von Joh 2,1–11 hinzu242, »die erste Offenbarung des Himmelreiches sein«, wobei dann die »Anwendung dieser zwei Himmelreichsgleichnisse [Mt 13,33 und 44] … nur die konsequente Weiterführung der grundlegenden Vorstellung [ist], dass das Göttliche im Menschen das zu suchende Himmelreich ist«. Dies ist nun eine gänzlich »neue Interpretation der johanneischen Semeia«, als solche nachvollziehbar nur in einem spezifisch gnostischen Kontext der Auslegung von Joh 2. Entsprechendes gilt auch für die Deutung des Gleichnisses vom ›Senfkorn‹, wie sie Hippolyt im Rahmen seines Naassenerreferats überliefert, hier im Zusammenhang mit der (simonianischen) ›Großen Apophasis‹ in Ref. V 9,5 f.: Hier wird im Zusammenhang einer grundsätzlichen Reflexion über das ›Wort‹ bzw. das ›Reden Gottes‹ – als solches zugleich ein Wort der ›Offenbarung der großen Kraft‹ – eine Reflexion über die ›Wurzel von allem‹ vorgetragen, die zugleich die ›Wurzel aller Äonen, Kräfte und Gedanken‹ ist, ›Wurzel‹ zugleich auch »des Seienden und des Nichtseienden …«, »Wurzel des Alls« also in der Tat, »aus der alles entspringt« – und in diesem Sinne auch die »Wurzel« jenes »ungeteilten Punktes« ( ), »aus dem das allmähliche Wachstum des Kleinsten entspringt«. Im Rahmen eines solchen allumfassenden kosmischen Programms ist es nun eben jener »unteilbare Punkt«, der als solcher »gar nichts ist« bzw. »aus nichts besteht«, aus dem seine eigene »Erkenntnis« ( ) zu einer »unfassbaren Größe« heranwächst. Eben hier, wo nunmehr mit dem Stichwort die menschliche ›Erkenntnis‹ in den Blick kommt, ist nun zugleich auch der Ort erreicht, an dem auch vom biblischen Gleichnis vom »Senfkorn« zu reden ist – und d.h. nun am Ende: Eben dieser »unteilbare Punkt«, das ›Senfkorn‹ des Gleichnisses, ist das ›Himmelreich‹, von dem – wie es hier endlich heißt – »niemand etwas weiß, als der ›Pneumatiker‹ allein«. Das ›Senfkorn‹, ursprünglich bei Markus (4,30–32) ein sog. Kontrastgleichnis, als solches bezogen auf das Wachstum der ›Königsherrschaft Gottes‹ aus den kleinsten Anfängen, wird im Kontext einer spezifisch gnostischen Anthropologie, auf den pneumatischen ›Samen‹ bezogen, aus dem sich der ›Pneumatiker‹ entwickelt, der die in ihm gleichsam wie ein ›unteilbarer Punkt‹ verborgene Potenz zur Aktualität gebracht hat. Das ›Senfkorn‹ ist die göttliche Dynamis, die im Menschen als eine unbegrenzte Möglichkeit verborgen liegt243. 242 J. Frickel, Naassener oder Valentinianer? S. 106; vgl. ebd., S. 104 f., zur Frage einer ›radikalen Vergeistigung‹ von Lk 17,21: »Der pneumatische Samen ist das Himmelreich in euch«, ebd.: das im Menschen verborgene »Himmelreich« ist gleichsam der »innere Mensch«, also der »eigentliche Mensch im Menschen«. So Hippolyt, Ref. V 7,36; 8,7; vgl. auch (für die Valentinianer) Ref. VI 34,7 sowie V 7,20: Die göttliche ›Natur‹ als das im Menschen zu suchende ›Himmelreich‹. 243 Vgl. zu Hippolyt Ref. V 9,5 f. J. Frickel, Naassener oder Valentinianer? S. 110 f., hier mit der zusätzlichen Bemerkung: »Die Entsprechung zwischen dem ›Punkt‹ der Apophasis und dem synoptischen Himmelreichsgleichnis ist so gelungen, dass man sich unwillkürlich fragt, ob hier nicht der eigentliche Sitz im Leben für die gnostische Anwendung der Himmelreichgleich-

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Die vorliegende, gleichsam ›philosophische‹ Rezeption des Gleichnisses vom ›Senfkorn‹ ist im Übrigen nicht nur bei den Naassenern des Hippolyt anzutreffen, sondern hat auch bei Gnostikern anderer Schulen Nachfolger gefunden, so bei dem Gnostiker Markus Magus sowie bei Basilides. Für den ersteren ist auf das Zeugnis des Irenäus, Adv. Haer. I 13,2 hinzuweisen sowie – von Irenäus wohl abhängig – auf Hippolyt, Ref. VI 39,1 und 40,2244. So hat Markus Magus nach Hippolyt, Ref. VI 39,1 die Verkörperung der ›Größten Kraft‹ anlässlich einer Eucharistiefeier einer Frau den Becher, über den er zuvor die Epiklese gesprochen hatte, mit den Worten überreicht: »Die Charis, die vor allem war …, erfülle deinen inneren Menschen und vermehre in dir ihre Erkenntnis, indem sie das Senfkorn [Mk 4,31 par] in die gute Erde sät«. In diesem Sinne liegt hier auch eine unmittelbare Verbindung der Gleichnisse vom ›Senfkorn‹ und vom ›viererlei Acker‹ (Mk 4,13–20 par, speziell Mk 4,20. – Demgegenüber geht es nach dem Zeugnis des Hippolyt, Ref. VII 21,3, bei Basilides im Zusammenhang mit dem Gleichnis vom »Senfkorn« nicht um einen anthropologischen, sondern um einen kosmologischen bzw. kosmogonischen Sachverhalt, nämlich um den ›Samen der Welt‹, der ›alles in sich enthält‹ – eben so wie auch das ›Senfkorn‹ von Mk 4,31 »im kleinsten zusammengefasst [ist] und [doch zugleich] alles umfasst«, die »Wurzeln, den Stamm, die Zweige, die unzähligen Blätter wie auch den von der Pflanze hervor getriebenen Samen, so hat auch der nichtseiende Gott die Welt aus dem Nichtseienden geschaffen, indem er einen [einzelnen] Samen hervorbrachte, der den gesamten Samen ( ) in sich hatte« (Ref. VII 21,4)245. – Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch noch auf die deutliche Anspielung auf das Gleichnis vom ›Unkraut unter dem Weizen‹ von Mt 13,24 ff. in den valentinianischen Excerpta ex Theodoto (53,1): Dieses Gleichnis steht auch hier in einem spezifisch gnostischen Kontext, i.S. nämlich der Vermischung des ›guten Samens‹ mit dem ›Samen des Teufels‹ (als dem gleichsam ›hylischen Prinzip‹): »Dieses Unkraut … ist der Same des Teufels«. »Nichts anderes«, so hat bereits C. Barth zu diesem Text vermerkt246, »kann das sein als das , das die Sophia in die Seele senkte. Mit ihm zusammen entfaltet sich das , das hylische Prinzip«. Liegt hier noch ein deutlicher Hinweis auf eine spezifisch gnostische Adaption dieses Gleichnisses vor, die zugleich eine Mahnung an die Adressaten dieser Auslegung von Mt 13,24 ff. in sich schließt, so muss es demgegenüber fraglich bleiben, ob – wiederum bei den Naassenern des Hippolyt – das Gleichnis ›von der Perle‹ bzw. vom ›Perlenkaufmann‹ (Mt 13,45 f.) in einem spezifisch gnostischen Sinn gedeutet worden ist: Aus dem Referat des Hippolyt (Ref. V 8,32 f.) ist – auch wenn die Metapher von der ›Perle‹ in der Gnosis ansonsten relativ weit verbreitet ist – nicht zu entnehmen, dass »unser Naassener [dieses Gleichnis] folgerichtig ebenfalls auf die Pneumatiker anwendet«247. Tatsächnisse ist«. Vgl. aber auch Hippolyt, Ref. VI 14,4 ff., sowie J. Frickel, Hellenistische Erlösung in christlicher Deutung, S. 121 f. mit Anm. 605. 244 Vgl. auch, abhängig wiederum von Irenäus, Epiphanius, Haer. 34,2,2–4. 245 Vgl. entsprechend Hippolyt, Ref. X 14,1, wo – wiederum nach Basilides – das ›Senfkorn‹ ebenfalls mit dem ›Weltsamen‹ in Verbindung gebracht wird. 246 C. Barth, Die Interpretation des Neuen Testaments in der valentinianischen Gnosis, S. 62. 247 So J. Frickel, Naassener oder Valentinianer? S. 111 f., hier mit der Fortsetzung: »Diese [die Pneumatiker] sind nach ihm die einzig wahren Menschen, die von oben stammenden Perlen, die in das irdische Gebilde geworfenen Früchte«.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

lich wird Ref. V 8,32 f. lediglich auf Mt 7,6 Bezug genommen: »Werft das Heilige nicht den Hunden vor und ebenso wenig die Perlen den Schweinen«248.

Exkurs: Zur Rezeption der Gleichnisse im koptischen Thomasevangelium (NHC II/2) Im Vergleich mit den bisher genannten gnostischen Adaptionen neutestamentlicher Gleichnisse handelt es sich im Fall des Thomasevangeliums (ThEv) um ein spezielles Kapitel gnostischer Gleichnisrezeption. Dies gilt im Blick bereits auf die in der Forschungsgeschichte von Anfang an umstrittene Frage, in welchem Verhältnis die im ThEv überlieferten Logien Jesu zur Logienüberlieferung der synoptischen Evangelien stehen. Zwar könnte zunächst bereits das Logion 2 mit seinem ›Zitat‹ von Mt 7,7 f. par Lk 11,9 f. auf ein Abhängigkeitsverhältnis des ThEv.s zu den synoptischen Evangelien bzw. zur synoptischen Tradition hinweisen249; jedoch geht die neuere Forschungsgeschichte in dieser Hinsicht wohl mit Recht eher in die Richtung, dass in den Logien des ThEv.s ein eigener Strang der Überlieferung von den Logien Jesu bezeugt wird, der als solcher nicht unmittelbar auf die synoptische Tradition zurückgeführt werden kann250. Zeitlich gesehen handelt es sich dabei zwar eindeutig um eine ›Entwicklungslinie‹, die später anzusetzen ist als jene (synoptische) Logienüberlieferung; dies festzustellen schließt jedoch nicht aus, dass in dieser Entwicklungslinie der Überlieferung von den Logien Jesu bestimmte Akzentsetzungen ihren Niederschlag gefunden haben, die – zumindest zu einem beträchtlichen Teil – eindeutig als ›gnostisch‹ zu bezeichnen sind und auch nicht durch die – besonders von G. Quispel herausgestellten – judenchristlich-enkratitischen Elemente im ThEv relativiert werden251. So gesehen handelt es sich im ThEv um einen durchaus eigenständigen ›Zweig am Baum‹ der im Einzelnen vielschichtigen Überlieferung 248 Vgl. entsprechend Epiphanius, Haer. 24,5,2. – Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch noch einmal auf Hippolyt, Ref. V 8,7, wenn es hier (im Anschluss an den Hinweis auf den »Anfang der Zeichen Jesu« (Joh 2,1–11) als »Offenbarung der Himmelsherrschaft« heißt: »Dies ist die Himmelsherrschaft, die in uns gelegt ist«, und zwar »als ein Schatz« – offensichtlich eine Bezugnahme auf das Gleichnis vom »Schatz im Acker« (Mt 13,44) sowie auf das Gleichnis vom »Sauerteig« (Mt 13,33). 249 Vgl. in diesem Sinne H. K. McArthur, The Dependence of the Gospel of Thomas on the Synoptics, S. 286 f. – Zur Forschungsgeschichte in dieser Hinsicht: F.T. Fallon / R. Cameron, The Gospel of Thomas: A ›Forschungsbericht‹ and Analysis, in: ANRW II 25/6, S. 4213–4224; A. H. B. Logan, The Gnostic Gospels, S. 307 und S. 313 ff. (S. 313: ›Autonomie‹ des ThEv.s!) sowie J. Schröter/H.-G. Bethge, in: H.-M. Schenke, Nag Hammadi Deutsch I, S. 154 f. Und S. 158 ff. 250 In diesem Sinne bereits W. Schrage, Das Verhältnis des Thomas-Evangeliums zur synoptischen Tradition, der das ThEv als gnostische Deutung der koptischen(!) Version der synoptischen Evangelien versteht. Kritisch dazu J. Schröter, Erinnerung an Jesu Worte, S. 129 ff. 251 Vgl. dazu J. Schröter, ebd., S. 124 ff. bzw. S. 126 ff.: »Das EvThom als Zeugnis eines judenchristlichen Enkratismus: Der Entwurf von G. Quispel«.

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der Logien Jesu, welcher von J. Schröter durchaus mit Recht unter die Überschrift ›Jesusüberlieferung auf dem Wege zur Gnosis‹ gestellt worden ist252. Paradigmatisch stellt sich diese Grundrichtung in den im ThEv überlieferten Gleichnissen dar, die nun freilich – in der Gestalt jedenfalls, in der sie hier überliefert sind – im Rahmen der Rezeptionsgeschichte der Gleichnisse in der frühchristlichen Gnosis eine Sonderstellung einnehmen: Charakteristisch dafür ist, dass – ganz i.U. zu der durch die frühchristlichen Häresiologen bezeugten Auslegung der Gleichnisse seitens der Gnostiker – die spezifisch gnostische ›Exegese‹ bereits in jenen Gleichnissen selbst, genauer: in der Überlieferung jener Gleichnisse ihren Ort hat. Hier bedarf es erst gar nicht einer ›allegorischen‹ Auslegung, vielmehr sprechen die hier überlieferten Gleichnisse als solche, in der Art ihrer ›Erzählung‹, ihre eigene – eben gnostische – Sprache. Umso mehr und umso eher ist dann freilich der (gnostische) Leser des ThEv.s aufgefordert, die programmatisch bereits im Logion 1 ausgesprochene Aufforderung zu befolgen: »Wer die Deutung ( ) dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken …«. Was hier, im ThEv, zum Ausdruck gebracht wird, ist also wiederum jenes auch im Zeugnis der frühchristlichen Häresiologen bezeugte Grundprogramm des ›Suchen und Findens‹, hier nunmehr, im ThEv, in den Logien 1 und 2: »Wer sucht, soll nicht aufhören zu suchen, bis er findet, und wenn er findet …«! Denn es sind ja eben die ›apokryphen‹, d.h. die ›verborgenen, die geheimen‹ Worte Jesu, um die es hier geht253. Diese Grundthesen im Blick auf die Eigenart der im ThEv überlieferten Logien Jesu schließt nicht aus, dass die entsprechenden (spezifisch gnostischen) Akzentsetzungen hier nunmehr gleichsam in die jeweilige ›Erzählung‹ der Gleichnisse ›hineingenommen‹ sind, um auf diese Weise das Interesse der Leser bzw. Rezipienten von vornherein in die mit der Gleichniserzählung beabsichtigte Richtung zu lenken. Von daher gesehen versteht es sich auch, dass die Gleichnisse Jesu im ThEv – im Vergleich mit den entsprechenden Gleichnissen in den Evangelien des Neuen Testaments gesehen – in einer bemerkenswerten Verfremdung dargeboten werden, eine ›Verfremdung‹, die als solche bereits deutlich macht, dass diese Gleichnisse im ThEv »in den Dienst einer anderen Heilsbotschaft getreten sind«254. Die Intention dieser ›anderen Heilsbotschaft‹ geht im Wesentlichen dahin, die in ihren Adressaten gleichsam angelegten ›Erkenntnis‹-Möglich252 J. Schröter, ebd., S. 122 sowie S. 136 ff., hier bes. S. 139 f. Vgl. auch J. Schröter / H.-G. Bethge, in ihrer Einleitung zum ThEv in: H.-M. Schenke, Nag Hammadi Deutsch, S. 163: Es sei nicht zu bestreiten, »dass mit dem ThEv eine Schrift vorliegt, die die Jesusüberlieferung aus einer eigenen Perspektive interpretiert, welche derjenigen der synoptischen Evangelien nicht verpflichtet ist«. 253 Zur Programmatik des Incipit und des Logion 1 des ThEv.s vgl. wiederum J. Schröter/ H.-G. Bethge, in: Nag Hammadi Deutsch, S. 161 ff., hier bes. S. 162 f.: »Dieses Konzept einer Erlösung durch Erkenntnis der verborgenen Worte Jesu lässt sich nicht als Fortsetzung der in der synoptischen Überlieferung anzutreffenden Ansätze auffassen, sondern stellt eine eigene Linie innerhalb der Jesusüberlieferung dar«. 254 So E. Haenchen, Neutestamentliche und gnostische Evangelien, S. 38.

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keiten zu aktualisieren oder auch: deren ›Suchen‹ zu dem der Botschaft dieses Evangeliums entsprechenden ›Finden‹ zu führen. Dieser Grundtendenz des ThEv.s entspricht es durchaus, wenn hier, so in den Logien 21.24.63.65 und 96, die aus den synoptischen Evangelien bekannte ›Weckformel‹: »Wer Ohren hat zu hören, der höre« eine besondere Bedeutung gewinnt – eben als Aufforderung an die Rezipienten des ThEv.s, ihrerseits den ›geheimen‹ bzw. ›verborgenen‹ Sinn jener Worte Jesu zu ›suchen‹ und – gegebenenfalls auch – zu ›finden‹. Ohne dass an dieser Stelle nunmehr sämtliche im ThEv überlieferten Gleichnisse in diesem Sinn zu analysieren sind, soll der Sachverhalt als solcher doch wenigstens an einer Auswahl der im ThEv überlieferten Gleichnisse exemplifiziert werden, und zwar eben i.S. jener weitgehenden sekundären ›Gnostisierung‹ der Überlieferung von den Gleichnissen Jesu, wie sie hier, im ThEv vorliegt: Paradigmatisch in dieser Hinsicht ist bereits das erste der im ThEv überlieferten Gleichnisse, das Gleichnis vom ›weisen Fischer‹ im Logion 8: Die Differenzen gegenüber seiner ›Vorlage‹ im Mt-Evangelium (13,47–50) sind hier offensichtlich: Steht dort, im Mt-Evangelium, der Scheidungsprozess im Endgericht im Zentrum (Mt 13,49 f.), so ist es hier, im ThEv, das ›kluge‹ Verhalten jenes Fischers, der aus seinem wohlgefüllten Netz aus der Fülle der ›kleinen Fische‹ den einzigen ›großen‹ und wertvollen Fisch aussondert und eben auf diese Weise die ihm mit diesem Fang gebotene Chance ergreift. Angesichts dieses Fundes besteht der restliche Ertrag seines Fangs in der Tat nur aus ›kleinen Fischen‹. Unterstrichen wird diese Art von Rezeption auch noch dadurch, dass jener ›Fischer‹ des Gleichnisses von vornherein als ein ›kluger‹ Fischer bezeichnet wird, der als solcher das entsprechende Unterscheidungsvermögen besitzt, um die rechte Auswahl zu treffen. Dieser ›Bildhälfte‹ des Gleichnisses entspricht wiederum die am Ende vom Logion 21 begegnende Rede Jesu an die Adresse der Jünger: »Möge [auch] unter euch ein kundiger und verständiger Mensch sein«. Und nicht zuletzt weist in diese Richtung einer ›Anthropologisierung‹ dieses Gleichnisses auch schon die Einleitung des Gleichnisses im Logion 8: Hier ist gar nicht mehr (i.S. einerVariante zu Mt 13,47) vom ›Himmelreich‹ die Rede, sondern nur noch vom ›Menschen‹ (und seinem Urteilsvermögen!): »Der Mensch gleicht einem klugen Fischer …«255, und dies doch wohl unter der Voraussetzung wiederum, dass das ›Himmelreich‹, wie es im Logion 3 des ThEv.s heißt, »in euch [und zugleich]außerhalb von euch« ist. In der Tat: solche »application de la à l’homme est conséquente à l’idée gnostique que le Royaume se réalise dans le gnostique, l’homme ’ «256. – Im Übrigen bedarf es keiner Frage, dass das Gleichnis vom »Fischnetz« in der Version des 255 Zu solcher ›Anthropologisierung‹ des Eingangs des Gleichnisses vgl. auch Clem. Al., Strom. VI 95,3, und dazu J.-É. Ménard, L’Évangile selon Thomas, S. 89, hier mit der Schlussfolgerung: ›Cette parole reflète une tradition comune à Thomas et Clément d’Alexandrie‹ (?). 256 So J.-É. Ménard, ebd., S. 89.

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ThEv.s auf diese Weise dem Gleichnis vom »Perlenkaufmann« im Logion 76 des ThEv.s angenähert wird: Auch hier ist es i.U. zu Mt 13,45 f. eben ein ›kluger‹ und ›weiser‹ Händler, der eine Perle gefunden hat. Und als ›weise‹ gilt sein Verhalten insofern, als er seine ganze übrige Habe verkauft, um jene ›eine Perle‹ zu erwerben. Und diese ›eine Perle‹ entspricht dann wiederum jenem ›großen [und wertvollen] Fisch‹ vom Logion 8 des ThEv.s – eine Überlieferung, die im Übrigen offensichtlich auch Clemens Alexandrinus (Strom. I 16,2) gekannt hat. Angesichts dessen kann, was das ThEv betrifft, die aus diesem Gleichnis abzuleitende ›Anwendung‹ auf die Rezipienten des ThEv.s nur noch lauten: »Sucht also auch ihr nach dem Schatz, der nicht aufhört zu bestehen …«. ›Perle‹ und ›Schatz‹ stehen hier, im Kontext einer gnostischen Anthropologie, als Metapher für das (göttlich-jenseitige) ›Selbst‹ des Gnostikers, das es zu ›suchen‹ und zu ›finden‹ gilt257. Gleichviel wie man das Verhältnis des Logion 76 des ThEv.s zur Version des Gleichnisses im MtEvangelium (13,45 f.) bestimmen mag: auch i.S. des ThEv.s selbst ordnet sich diese Gestalt des Gleichnisses durchaus in die dem ThEv eigene Programmatik ein: »Wer die Deutung dieser Worte findet …« (Logion 1) und: »Wer sucht, der soll nicht aufhören zu suchen, bis er findet« (Logion 2). Entsprechendes gilt auch für die Version des ThEv.s vom Gleichnis vom »Hirten, der hundert Schafe hat« im Logion 107: Auch hier ist die Differenz zur entsprechenden synoptischen Überlieferung (Mt 18,12 f. par Lk 15,3–6) offensichtlich: Das ›eine und einzige‹ von den hundert Schafen, das sich verirrt hat, steht hier keineswegs mehr für den ›Sünder‹, dem der Hirt nachgeht, bis er es gefunden hat; vielmehr ist dieses eine Schaf nunmehr das ›große‹ und somit wohl das wertvollste Schaf – nur zu verständlich von daher, dass Jesus, nachdem er sich, wie es hier heißt, auf der Suche nach diesem Schaf ›abgemüht‹ und es auch gefunden hat, zu diesem Schaf spricht: »Dich liebe ich mehr als die [übrigen] neunundneunzig Schafe«! Aus dem verirrten und verlorenen Schaf ist im ThEv das ›größte‹ geworden, das einzige gleichsam, nach dem zu ›suchen‹ sich lohnt. Und in diesem Sinne entspricht dieses ›größte Schaf‹ vom Logion 107, was seinen Wert betrifft, der ›Perle‹ vom Logion 76 oder dem ›großen Fisch‹ vom Logion 8. Im Übrigen ist die Programmatik des ThEv.s vom ›Suchen und Finden‹ (Logien 1 und 2) auch hier wiederum durchgehalten, so dass man fragen darf, ob das Finden jenes ›einen Schafes‹ mit der spezifisch gnostischen Auffassung von der Restitution einer ursprünglichen Einheit (im Pleroma) zu tun hat, wie sie in der Deutung des Gleichnisses vom ›verlorenen Schaf‹ im ›Evangelium Veritatis‹ (NHC I/3, p. 31,25–32,16) überliefert ist258. Was im ThEv überliefert ist, ist somit eine Interpretation der Gleichnisse der Jesusüberlieferung ›aus einem ande257 Zur Metapher von der ›Perle‹ in der Gnosis (insbesondere im sog. Perlenlied von ActThom 109 ff.) vgl. H. Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, S. 158 ff.; V. ArnoldDöben, Die Bildersprache der Gnosis, S. 215 ff. 258 So J.-É. Ménard, L’Évangile selon Thomas, S. 46 und S. 205 f.

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ren Blickwinkel als dem der synoptischen Jesusüberlieferung‹259, genauer noch: Ein Paradigma für die Einbeziehung in einen spezifisch gnostischen Horizont. Hier bedarf es in der Tat, um das Logion 107 in diesem Sinn zu verstehen, jenes ›Weckrufes‹, wie er dem Logion 8 des ThEv.s beigefügt ist: »Wer Ohren hat zu hören, der höre«! Auf derselben Linie der Einbeziehung in einen gnostischen Kontext liegen auch die folgenden hier noch zu nennenden Gleichnisse des ThEv.s, insbesondere die Gleichnisse vom »Senfkorn« (Logion 20), vom »Sauerteig« (Logion 96) und vom »Schatz im Acker« (Logion 109) – mit dem Unterschied nur zu den bisher besprochenen Gleichnissen, dass hier jeweils zugleich – über die generell für die Logien des ThEv.s geltende Aufforderung zum ›Suchen und Finden‹ der rechten Deutung der Logien Jesu hinaus – eigens die entsprechende Bemühung der gnostischen Rezipienten des ThEv.s betont erscheint. Es ist also nicht, um mit J.-É. Ménard zu formulieren260 – »la semence elle mème, l’étincelle divine … qui garantit l’éclosion du fruit. L’origine divine du gnostique n’est donc pas une garantie, mais une obligation«! – mit anderen Worten: Allein durch »ihre Natur gerettet« ( ) sind die Gnostiker also durchaus nicht. Das entsprechende Diktum nennt allenfalls die in ihnen gleichsam angelegte Potenz, die es zu allererst noch zu aktualisieren gilt, und zwar eben vermittels der entsprechenden Bemühung der Gnostiker selbst261. Dementsprechend heißt es denn auch im Logion 20 des ThEv.s von jenem ›Senfkorn‹ (Mk 4,30–32), das ›kleiner ist als alle Samen‹, dass es erst dann einen ›großen Spross‹ hervorbringt (und damit seine eigentliche Bestimmung erfüllt), wenn es »auf die Erde fällt, die man bearbeitet«. Jenes ›Senfkorn‹ kommt also nur dann zu seiner eigentlichen Bestimmung, wenn es, eben durch jene ›Bearbeitung‹ aus seiner Potentialität in seine Aktualität hinaustritt. In diesem Sinne gibt es hier durchaus eine Entsprechung zur Deutung des ›Senfkorns‹ in der (simonianischen) »Großen Apophasis« bei Hippolyt Ref. V 9,5: »Dies ist«, sagt er, »das ›Königreich der Himmel‹, das ›Senfkorn‹, der ›unteilbare Punkt‹ im Körper, von dem niemand weiß außer den ›Pneumatikern‹«. Denn es ist ja gerade jener »unteilbare Punkt« ( ), »aus dem das Letzte entsteht …«.262 – Grundsätzlich das Gleiche gilt auch für die Version des Gleichnisses vom ›Sauerteig‹ (Mt 13,33 par Lk 13,20 f.) im Logion 96 des ThEv.s. Derjenige jedenfalls, der 259 So J. Schröter, Erinnerung an Jesu Worte, S. 136, Anm. 537. Zur Frage einer christologischen Implikation der Gleichniserzählung von Logion 107 vgl. A. Lindemann, Zur Gleichnisinterpretation im Thomas-Evangelium, S. 238 f.: Die Schlusswendung des Gleichnisses: »Ich liebe dich mehr …« und auch der unmittelbare Kontext »sprechen … eher für die Vermutung, dass der gnostische Erzähler im Hirten, der ›sich abmüht‹, um das Verlorene zu finden, den Offenbarer sieht«. 260 J.-É. Ménard, L’Évangile selon Thomas, S. 110 (zu Logion 20). 261 Vgl. wiederum J.-É. Ménard, ebd., S. 110, mit Bezug auf das Philippusevangelium (NHC II /3): Die Sentenzen 7 und 107 zeigen an, »que le gnostique doit semer, s’il veut ensuite récolter; son travail est nécessaire«. 262 Vgl. dazu S. 280 ff.

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›Ohren hat zu hören‹, wird aus der hier vorliegenden Fassung dieses Gleichnisses die ›Erkenntnis‹ gewinnen, dass nur derjenige das ›Reich des Vaters‹ erlangt, der eben wie jene Frau im Gleichnis verfährt, die »ein wenig Sauerteig genommen, ihn im Teig [verborgen] und ihn [auf diese Weise] zu großen Broten gemacht hat«. Erst so nämlich erlangt jener ›Sauerteig‹ – in den Exc. ex Theodoto (1,3) zusammen mit dem ›Senfkorn‹ Metapher für den ›auserwählten Samen‹ – seine eigentliche Bestimmung: »La femme serait alors le gnostique dont la substance pneumatique détermine toute l’existence. Le gnostique doit etre prudent«263 – ebenso ›klug‹ (prudent) jedenfalls wie jener Käufer im Gleichnis vom ›Schatz im Acker‹ (Mt 13,44) im Logion 109 des ThEv.s, der – i.U. zum ›Vater‹ und zum ›Sohn‹, die von jenem ›Schatz‹ in ihrem Acker nichts wussten – jenen Acker mit dem Pflug ›bearbeitete‹ und auf diese Weise den darin verborgenen ›Schatz‹ fand – so also die ›Moral von der Geschichte‹: Es kommt auf das entsprechende Wissen, auf die entsprechende ›Erkenntnis‹ an, ebenso aber auch auf das dieser Erkenntnis gemäße Handeln, bildlich gesprochen: Auf das ›Pflügen des Ackers‹, das am Ende zur Entdeckung jenes »Schatzes im Acker« führte, der in der Bildsprache der Gnosis als Metapher für »l’élément pneumatique caché dans l’homme ou son àme« steht264, ganz analog also etwa zu Clemens Alexandrinus, Paid. III 36,2: »Die Seele allein ist der ›Schatz‹ des Christen« oder auch i.S. der Naassener bei Hippolyt, Ref. V 8,8: »Das ›Himmelreich‹ ist in euch ( ) niedergelegt als ein Schatz«265. Fraglich demgegenüber muss bleiben, ob in jenen Gleichnissen des ThEv.s, in denen vom ›Samen‹ die Rede ist, so im Gleichnis vom »viererlei Samen« (Logion 9) sowie im Gleichnis vom »Unkraut unter dem Weizen« (Logion 57), der ›Same‹, wie mitunter vorausgesetzt266, tatsächlich als Metapher für das göttliche ›Selbst‹ des Gnostikers steht. Näher liegt es, die ›gute Erde‹, auf die nach Logion 57 der ›Same‹ fällt, auf diejenigen zu beziehen, die die angemessene Deutung des Logions finden267. – Als typisch gnostisch demgegenüber kann das Logion 75 gelten, eine Anspielung jedenfalls auf das aus dem Mt-Evangelium (25,1–13) bekannte Gleichnis von den ›Jungfrauen‹: »Viele stehen an der Tür« – und doch sind es nur die , d.h. die ›Einzigen‹, nach Logion 49 des ThEv.s als solche zugleich die ›Auserwählten‹ im Gegensatz zu jenen ›Vielen‹ von Logion 75, die nicht ›ins Brautgemach hineingehen werden‹. Es sind also ›die Auserwählten‹ in dem Sinne, dass sie »das Reich 263

So J. É. Ménard, L’Évangile selon Thomas, S. 197. So J. É. Ménard, ebd., S. 208. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Sentenz 22 aus dem Philippusevangelium (NHC II /3, p. 56,20–26): »Niemand wird eine … wertvolle Sache in einem wertvollen Gegenstand verbergen … Entsprechend verhält es sich mit der Seele. Sie ist eine wertvolle Sache und geriet in einen wertlosen Leib« (Übersetzung nach H.-M. Schenke, Nag Hammadi Deutsch, S. 194). 266 So z.B. P.v. Gemünden, Vegetationsmetaphorik, S. 390 f.; A. Lindemann, Zur Gleichnisinterpretation im ThEv, S. 241 f.; W. Schoedel, Gleichnisse im ThEv, S. 378 ff., der in diesem Zusammenhang auf Clem. Al., Exc. Ex Theodoto 53,1 verweist, wo das ›fleischliche Element‹ im Gegenüber zum ›guten Samen‹ als ›Unkraut‹ bezeichnet wird. 267 Vgl. in diesem Sinne zuletzt J. Schröter, Erinnerung an Jesu Worte, S. 318. 264 265

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finden werden«, weil sie, wie es in der Seligpreisung des Logion 49 heißt, »daraus sind und wieder dorthin gehen werden«. Mit einem mönchisch-monastischen Ideal hat dies im ThEv offensichtlich nichts zu tun, wohl aber mit einer (mit der Absonderung von der Welt verbundenen) Annäherung an einen Ur-Zustand ›des Menschen‹ i.S. einer ursprünglichen Einheit, von der es im Logion 106 heißt: »Wenn ihr die Zwei [zu] Eins macht, werdet ihr Söhne ›des Menschen‹ werden … – oder auch im Logion 22: »Wenn ihr die Zwei [zu] Eins macht, und wenn ihr das Innere wie das Äußere macht und das Äußere wie das Innere und das Obere wie das Untere, und wenn ihr das Männliche und das Weibliche zu einem Einzigen macht – dann werdet ihr [ins Himmelreich] eingehen«268. In diesem Sinne geht es hier offensichtlich – ganz i.S. einer spezifisch gnostischen ›Eschatologie‹ – um eine restitutio in integrum, um die Wiederherstellung eines durch Kosmogonie und Anthropogonie verlorengegangenen Urzustandes vermittels der Überwindung aller diese ›Weltzeit‹ bestimmenden Polaritäten. Und in diesem Zusammenhang nun auch jene Art der Formulierung: ›Wenn – dann‹, die anzeigt, dass (und zugleich: in welchem Maße) in dieser gnostischen Rezeption der Überlieferung von den Logien Jesu am Ende auch die eigenverantwortliche Bemühung und Entschlusskraft des Menschen über sein Heil oder Unheil entscheidet: Es liegt also durchaus an des Menschen eigener Aktivität, schließlich zu seiner in ihm gleichsam angelegten Bestimmung zu gelangen und damit – eben i.S. einer restitutio in integrum – den ursprünglichen Heilszustand wiederherzustellen. So gesehen ist es nur folgerichtig, dass in einigen der im ThEv überlieferten Gleichnisse ein warnender Grundton nicht zu überhören ist, so – z.B. – in Gleichnis vom »Gastmahl« im Logion 64, wo es am Ende heißt: »Die Käufer und die Händler [werden] nicht hineingehen zu den Orten meines Vaters«. Von diesem Abschluss her gesehen ist diese Version des auch in den synoptischen Evangelien überlieferten Gleichnisses vom ›Gastmahl‹ durchaus als eine »Warnung vor der Bindung an den Kosmos« zu verstehen, in der sich aus gnostischer Sicht die Selbstentfremdung menschlicher Existenz dokumentiert269.

Im Vergleich mit der entsprechenden Version des Gleichnisses in den synoptischen Evangelien (Mt 22,2–14 par Lk 14,16–24) gesehen hat in der Rezeption dieses Gleichnisses im ThEv in der Tat – wie es H. Weder zur Version des Gleichnisses vom »Sauerteig« im Logion 96 des ThEv.s formuliert hat – »ein Wechsel in der Anthropologie« stattgefunden: Ist es in der synoptischen Version (Lk 13,20 f.) der dem ›Sauerteig‹ innewohnenden Aktivität 268 Zu ThEv Logion 106 vgl. H.-Ch. Puech, En quète de la Gnose II ; S. 238.243. Zu der naheliegenden Frage, ob dieses Konzept des ›Einzelnen‹ im ThEv bestimmte Überlieferungen zum (mann-weiblichen) Urmenschen Adam im Judentum voraussetzt, vgl. A. F. J. Klijn, The ›Single One‹ in the Gospel of Thomas, S. 273 ff.: »Salvation as a Return to the Original State«, und S. 275 ff.: »The ›Oneness‹ as the Original State«. J.-É. Ménard, L’Évangile selon Thomas, S. 16, spricht in diesem Zusammenhang von einer »nostalgie d’un retour à l’androgynie, à l’unité, d’un paradis reconquis«. 269 Zur entsprechenden Analyse von Logion 64 in seinem Verhältnis zur synoptischen Überlieferung vgl. W. Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 230 ff.; speziell zu Logion 64: S. 237 ff.; Zitat: S. 240. – Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf das Logion 21: »Möge unter euch ein verständiger Mensch erstehen«, sowie auf die Warnung im Logion 40: »Ein Weinstock ist außerhalb des Vaters gepflanzt worden – und da er nicht gefestigt ist, wird er mit seinen Wurzeln ausgerissen werden [und so] zugrunde gehen«.

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zu verdanken, dass »eine riesige Menge Mehl durchsäuert wird«, so wird demgegenüber im ThEv das »Reich des Vaters« mit einer Frau verglichen, »deren [eigene] Aktivität zu den großen Broten führt«, und das heißt: »Die Wirkungsmacht des Sauerteigs, die in der synoptischen Tradition im Vordergrund stand, ist hier verschoben auf die Aktivität des menschlichen Subjekts, die zum großen Erfolg am Ende führt«270. Und wenn es – angesichts von Logion 21: »Möge [doch] unter euch ein verständiger Mensch erstehen!« – denn zutrifft, dass »eine an der Information, an der Mitteilung von Erkenntnis orientierte Theologie immer auf die Aktivität des Menschen zurückgreifen muss«271, so ist auch hier offenbar, dass der hier vorliegende »Wechsel in der Anthropologie« auf seine Weise wiederum in der für das ThEv charakteristischen Einbeziehung der Überlieferung von den Logien Jesu in einen genuin gnostischen Kontext begründet ist. Auch hier zeigt sich: Das hermeneutische ›Vorzeichen‹ für die Rezeption der Jesusüberlieferung in den Logien, speziell in den Gleichnissen Jesu, ist ein qualitativ anderes als das einer genuin christlichen Gleichnisrezeption. Der hermeneutische Schlüssel ist in der gnostischen Rezeption ein anderer und bedingt als solcher eine ›Verfremdung‹ des in den synoptischen Evangelien überlieferten Spruchgutes; und ›Verfremdung‹, d.h. hier zugleich: Dieses Spruchgut wird im ThEv nunmehr »Ausdruck eines völlig anderen Inhalts. Es tritt in den Dienst einer anderen Heilsbotschaft«272. Zunächst speziell vom ThEv her gesehen gilt dies auch im Blick auf die Rezeption der Logien Jesu in den weiteren Schriften der Bibliothek von Nag Hammadi. Der Einzelnachweis kann an dieser Stelle nicht angetreten werden273. Stattdessen sei exemplarisch an der Epistula Jacobi apocrypha (NHC I/2, p. 1,1–16,30) demonstriert, an einer Schrift, die offensichtlich ein zentrales Interesse an der Überlieferung und Deutung der Gleichnisse Jesu hat274: 270 So H. Weder, Die Energie des Evangeliums, S. 113 f.: »Erlösung geschieht hier … nicht durch die Wirksamkeit des Erlösers, sondern dadurch, dass der Mensch informiert wird über seine substantielle Einheit mit Gott«; S. 114: »Das gnostische Konzept dagegen erfordert die Aktivität des Menschen im Sinne der praktischen Verwirklichung seines wahren Wesens«. 271 So H. Weder, Zur Gleichnisinterpretation im Thomas-Evangelium, S. 113. 272 E. Haenchen, Neutestamentliche und gnostische Evangelien, S. 38. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die entsprechenden Beobachtungen von P.v. Gemünden, Vegetationsmetaphorik, S. 376 f.: »die Metaphern werden – ausgehend von der gnostischen Weltdeutung – neu gefüllt und bekommen auf der Bedeutungsebene einen neuen tieferen Sinn« – was zugleich heißt: »in der Gnosis [ist] die Kenntnis des gnostischen Weltdeutungssystems die Voraussetzung für das eigentlich gnostische Verständnis der Metaphern: Der Metaphergebrauch ist hier also tendenziell esoterisch«. 273 Vgl. dazu die entsprechenden Hinweise auf die Schriften von Nag Hammadi bei C.A. Evans, Nag Hammadi Texts and the Bible. A Synopsis and Index. 274 Zur Textsorte der Epist. Jacobi sowie zu den hier verarbeiteten Quellen und Traditionen vgl. J. Hartenstein / U.-K. Plisch, Nag Hammadi Deutsch I, S. 11 ff.; D. Roleau, Les paraboles du Royaume des cieux dans l’Épìtre apocryphe de Jacques, S. 181–189; Ch.W. Hedrick, Kingdom Sayings and Parables of Jesus in the Apocryphon of James: Tradition and Redaction, S. 1–24.

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Bezeichnend dafür ist bereits die p. 7,1 ff. überlieferte Rede Jesu: »Früher [d.h.: zu Lebzeiten Jesu] habe ich zu euch in Gleichnissen geredet, und ihr habt nicht verstanden. Jetzt wiederum [d.h.: nach der Auferstehung] rede ich offen mit euch – und doch versteht ihr [immer noch] nicht«. Im Folgenden (p. 8,1 ff.) heißt es dann: »Denn nach der [Trauer?] habt ihr mich genötigt, noch weitere achtzehn Tage bei euch zu bleiben wegen der Gleichnisse«, woran sich ein kleines Summarium von – auch aus den synoptischen Evangelien bekannten – Gleichnissen anschließt: »Es genügte für Menschen, die auf die Lehre hörten, dass sie ›die Hirten‹, das ›Säen‹, das ›Bauen‹, die ›Lampen der Jungfrauen‹, den ›Lohn der Arbeiter‹ und die ›Doppeldrachme‹ und die ›Frau‹ verstehen«275. Ein Hinweis darauf, wie nun ›eigentlich‹ diese aus der synoptischen Überlieferung bekannten Gleichnisse im Sinne der ›Epistula Jacobi‹ zu verstehen sind, wird hier offensichtlich vorausgesetzt. Abgeschlossen wird die Aufzählung lediglich durch die ganz allgemein gehaltene Aufforderung: »Seid bemüht um das Wort, seid eifrig in Bezug auf das Wort«, was im Kontext doch wohl bedeutet: »Seid bedacht auf das rechte Verstehen des Wortes« (sc.: jener Gleichnisse). Zu vermuten ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Auslegung, das Verständnis der hier nur kurz erwähnten Gleichnisse in eine entsprechende Richtung gehen soll wie in jenen Gleichnissen, die in der EpJac, als ›Sondergut‹ gleichsam, ausdrücklich bezeugt sind: »Denn das Wort«, so heißt es im Anschluss an die genannte Aufzählung (p. 8,16–25), »gleicht einem Weizenkorn, auf dessen Aussaat der Sämann seine Zuversicht setzt [und] dessen Wachstum – da nun viele Körner statt des einen sind – er in Liebe begegnet«. Und endlich: »und als er das Werk der Ernte vollbracht hatte, wurde er gerettet, weil er Speise daraus bereitete …«. Die Schlussfolgerung im Blick auf die Adressaten der EpJac lautet schließlich: »[Nur] so könnt (auch) ihr das Himmelreich empfangen« (p. 8,24 f.), was zugleich heißt: »Wenn ihr es [das Himmelreich] nicht empfangt durch die [entsprechende] Erkenntnis ( ), könnt ihr es nicht finden«. Die Botschaft dieser ›Gleichnistheorie‹ für die Adressaten dieses ›Jakobusbriefes‹ ist deutlich: der Appell nämlich an die je eigene ›Erkenntnis‹-Bemühung, ohne die es kein ›Finden‹ des ›Himmelreiches‹ gibt. – Durchaus auf dieser Linie liegt auch das in der EpJac p. 7,22–35, mitgeteilte Gleichnis vom »Schössling der Dattelpalme«, hier zudem noch unter der Überschrift: »Lasst es nicht zu, dass das ›Himmelreich‹ [in euch] verdorrt!«. Denn dieses »Himmelreich« ist dem »Schössling der Dattelpalme« gleich, »deren Früchte ringsum zu Boden gefallen sind und Blätter hervor sprießen ließen«. In diesem Falle kommt es darauf an, »die Frucht, die aus ein und derselben Wurzel entstanden ist« wiederum in den Boden zu stecken, »damit am Ende wiederum viele (neue) Früchte hervorgebracht werden«. Es kommt also darauf an, die Schösslinge der Palme wiederum »frisch zu machen«, nicht »verdorren« zu lassen – insgesamt also: eine Gleichnisrede für das Finden der »Herrlichkeit« des Himmelreiches – damit aber auch Verantwortung (für sich selbst!) zu übernehmen. Dazu ist nicht nur auf das – möglicherweise – von Mk 4,26–29 inspirierte Gleichnis von der »Ähre« (p. 12,22–31) hinzuweisen, die, wie es hier heißt, »auf einem Feld wuchs und die, als sie gereift war, ihre Frucht ausbreitete und das Feld mit Ähren für das nächste Jahr füllte«, ein Gleichnis also, das unmittelbar auf die Rezipienten der EpJac ausgerichtet ist, und zwar i.S. einer 275 Zu den genannten Gleichnissen vgl. Mt 18,12–14 par Lk 15,4–7; Mk 4,4–9 parr (oder Mk 4,26–29) Mt 7,24–27; 25,1–13; 20,1–16 sowie Lk 15,8–10.

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Mahnung bzw. Aufforderung, Entsprechendes nun auch in ihrer Bemühung um das ›Himmelreich‹ zu tun: »Ihr aber – beeilt euch, [auch für euch] eine lebendige Ähre zu ernten, damit ihr erfüllt werdet [vom ›Himmelreich‹]« (p. 12,29 f.). »Lasst also nicht«, heißt es wenig später (p. 13,17–20), »das Himmelreich wüst [d.h.: fruchtlos] werden in euch«, und hier nun überdies noch mit dem Zusatz: »Werdet nicht hochmütig wegen des [euch er-]leuchtenden Lichts«.

Offensichtlich noch deutlicher als in der Rezeption der Gleichnis-Überlieferung im ThEv artikuliert sich hier der Appell an die eigene Aktivität und – zugleich – der Appell an die je eigene Verantwortung der Adressaten der EpJac, die Potenz gleichsam des ihnen innewohnenden ›Himmelreichs‹ zu aktualisieren und so wirksam werden zu lassen. So gesehen gilt hier in der Tat: »la Royaum des Cieux n’est pas une réalité proclamée mais une affaire intérieure des auditeurs«276. Die These von H. Weder von einem »Wechsel in der Anthropologie« in der Adaption der Gleichnisüberlieferung im ThEv – »Das gnostische Konzept erfordert die Aktivität des Menschen im Sinne der praktischen Verwirklichung seines wahren Wesens«277 – findet hier, in der EpJac, seine eindeutige Bestätigung.

4.3.2.2 Zur Rezeption des Johannesevangeliums in der frühchristlichen Gnosis Die im Folgenden zu erörternde Fragestellung betrifft nur die Auslegungsund Wirkungsgeschichte des JohEv.s in den ersten drei Jahrhunderten. So geht es nicht – oder doch jedenfalls nicht primär – um die Frage nach dem ›Johannes Gnosticus‹ und damit um die Frage nach dem gnostischen Charakter des JohEv.s selbst278. In dieser Hinsicht gibt es in der gegenwärtigen Forschungslage einen weitreichenden Konsens, jene Frage nach einer ursprünglichen Affinität des JohEv.s zur frühchristlichen (oder gar vor-christlichen) Gnosis als ›überflüssig‹ zu beurteilen279. Dass beide Fragestellungen 276 So J.-M. Sevrin, Paroles et paraboles de Jésus dans lles écrits gnostiques coptes, S. 525. Vgl. auch W. R. Schoedel, Gleichnisse im Thomasevangelium, S. 374 f., zum Gleichnis vom »Dattelpalmzweig«: »Hier wie anderswo in gnostischer Umgebung hat das Symbol nichts mit dem Kommen des Gottesreiches zu tun, sondern vielmehr mit der Entfaltung des inneren Menschen; denn die Gnostiker hatten von Lukas gelernt, das Reich Gottes sei in ihnen (Lk 17,21); vgl. Thomasevangelium 3; Hippolyt, Ref. V 7,20)«. 277 H. Weder, Die Energie des Evangeliums, S. 114. Zur Sache vgl. auch P.v. Gemünden, Vegetationsmetaphorik, S. 407: »Ohne Analogie im NT ist die nachdrückliche Betonung der Mühe, die der Gnostiker auf die Ausbildung der Frucht verwenden muss (vgl. EpJac [NHC I,2] 7,22–35). Hier schlägt sich die Bedeutung, die der Arbeit in der gnostischen Soteriologie zukommt, nieder«. 278 Vgl. K. Rudolph, Der Streit um den Johannes gnosticus, hier S. 426 mit der These, dass »die heute im Corpus Johanneum versammelte und in den neutestamentlichen Kanon gelangte Literatur ein Stück Frühgeschichte der Begegnung christlicher Vorstellungswelt mit der Gnosis ist«. 279 So z.B. J.-M. Sevrin, Le quatrième Évangile et le Gnosticisme, S. 268: »L’hypothèse gnostique parait donc superflus dans l’interprétation du quatrième évangile«.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

gleichwohl nicht einfach voneinander zu trennen sind, zeigt die Sekundärliteratur zum Thema der Auslegungsgeschichte dieser Evangelienschrift in den ersten drei Jahrhunderten deutlich genug. Hier ist die Grundtendenz unverkennbar, die Rezeptionsgeschichte des JohEv.s unmittelbar mit der Frage nach dem gnostischen (oder doch jedenfalls ›gnostisierenden‹) Charakter dieses Evangeliums selbst zu verbinden. So z.B. besonders deutlich bereits W.v. Loewenich in seiner Untersuchung »Das Johannes-Verständnis im zweiten Jahrhundert«. Hier heißt es gleich zu Beginn des ›Gnosis‹-Kapitels: »Gnosis und johanneisches Christentum sind einander verwandt. Verwandtschaft beruht auf gemeinsamer Abstammung … Historisch ist das nur so zu erklären, dass das JohEv in der Umgebung einer gnostisch gearteten Frömmigkeit entstanden ist«280. Auch wenn man in der neueren Literatur zum Thema zurückhaltender urteilt281, wird das Grundproblem in dieser Hinsicht auch gegenwärtig noch deutlich genug ausgesprochen, so z.B.: »Wie immer man dabei die späte kirchliche Bezeugung [des JohEv.s] beurteilen mag, der gnostische Zuspruch wirft ein Licht auf Joh selbst. Es muss gnostische Affinität besessen haben«282. Von dieser besonderen Rezeptionsgeschichte des JohEv.s im zweiten nachchristlichen Jahrhundert her gesehen, ist zunächst deutlich: Das JohEv spiegelt in der Geschichte seiner Rezeption im 2. Jh. einen Interpretationskonflikt wider, der als solcher die Frage aufwirft, ob nicht bereits in diesem Evangelium selbst eine bestimmte ›Ambivalenz‹ festzustellen ist283, eine charakteristische ›Offenheit‹ gleichsam für seine spezifisch gnostische Rezeption und Interpretation? Das erste Zeugnis für einen solchen Interpretationskonflikt im Blick auf das JohEv ist bereits der 1. Johannesbrief, der auf seine (an der Bekenntnisfrage orientierte) Weise unübersehbar deutlich macht, dass bereits das JohEv selbst in seinem zeitgeschichtlichen Kontext mit seinen harten Gegenüber280 So W.v. Loewenich, Das Johannes-Verständnis im zweiten Jahrhundert, S. 60; vgl. auch S. 61. 281 Vgl. dazu die reiche Literatur von J. N. Sanders, The Fourth Gospel in the Early Church; M. F. Wiles The Spiritual Gospel, The Interpretation of the Fourth Gospel in the Early Church; F.-M. Braun, Jean le Théologien et son Évangile dans l’Église Ancienne, bis hin zu T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums im 2. Jahrhundert. Vgl. auch das Kapitel »Die gnostische Johannesauslegung« in: M. Hengel, Die johanneische Frage, S. 37–51. 282 So J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, S. 76; vgl. S. 75: »Ist das Joh also ein von Gnostikern geliebtes, von der Großkirche nur zögernd und spät anerkanntes Evangelium? Wer die Frage bejaht, kann weiter erörtern: Ist dann das Joh selbst gnostischen Ursprungs?«. 283 Zum Stichwort ›Interpretationskonflikt‹ vgl. bereits A. Le Boulluec, La Bible chez les marginaux de l’orthodoxie, S. 169: »le conflit des interprétations oppose principalement, autour de la Bible, le marcionisme et le gnosticisme aux représentants du christianisme ecclésiastique«. Vgl. auch J. Zumstein, Zur Geschichte des johanneischen Christentums, S. 4 f.: »Das Evangelium geht in vielgestaltigen Rezeptionen auf: Während es sich in der Großkirche relativ spät durchsetzt, wird es in gnostischen Kreisen hochgeschätzt. Es steht also im Zentrum eines Interpretationskonfliktes. Dies wirft die Frage auf, ob das Joh ein gnostisches Dokument ist oder eben die Gnosis widerlegt«; ders., Visages de la communauté Johannique, S. 92.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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stellungen von ›Licht und Finsternis‹, ›Leben und Tod‹, ›Wahrheit und Lüge‹ sowie, nicht zuletzt, mit seiner durchaus ›Welt‹-kritischen Einstellung eine offensichtlich nicht in jeder Hinsicht eindeutige Botschaft vermittelte. Hier gibt es, was jedenfalls seine Rezeption in seiner ursprünglichen Situation betrifft, offensichtlich eine gewisse Ambivalenz, die als solche die Gefahr in sich schloss, diese Evangelienschrift – je nach ihrem zeitgeschichtlichen Kontext – in durchaus unterschiedlicher Weise zu rezipieren bzw. zu aktualisieren. Von daher gesehen ist es auch zu verstehen, dass gerade dieses Evangelium im 2. Jh. alsbald »ins Zentrum eines Interpretationskonfliktes geraten ist«, und zwar eben deswegen, weil das hier, im JohEv, überlieferte ›Sinnpotential‹ die Möglichkeit in sich barg, dieses Potential auf eine spezifisch gnostische Weise zu rezipieren und zu aktualisieren284. Es ist kein Zufall, dass der 1. Johannesbrief unübersehbar die ›Bekenntnisfrage‹ als Frage nach dem ›rechten‹ Bekenntnis stellt. Und ebenso wenig ist es ein Zufall, dass es in den Kontroversen des 2. nachchristlichen Jahrhunderts vor allem wiederum Irenäus gewesen ist, der in seiner Auseinandersetzung mit der frühchristlichen Gnosis die Frage nach dem rechten Verständnis der Hl. Schrift alsbald mit der Frage nach dem rechten hermeneutischen Maßstab der Schriftauslegung verbunden hat, und zwar ganz i.S. der die ›rechte‹ Schriftauslegung normierenden regula veritatis285. Unter diesem Vorzeichen rezipiert Irenäus nun auch das JohEv, um es als Waffe gegen die Gnosis, d.h. »als ein Mittel ihrer Widerlegung einzusetzen«286, und dies unter der Voraussetzung, dass diese Evangelienschrift als solche bereits ›antignostisch‹ ausgerichtet sei. Und dies gegenüber seinen gnostischen Kontrahenten, die eben dieses Evangelium gleichsam als ›exegetische Grundlage‹ für die ihnen eigenen Spekulationen über das Pleroma, seine Syzygien und Äonen in Anspruch nehmen. Von solch unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Verstehensvoraussetzungen her muss es geradezu notwendig erscheinen, dass für Irenäus im JohEv »the perfect weapons against the Gnostics« gegeben waren287, während die frühchristlichen Gnostiker denselben Text nach den sie maßgebenden hermeneutischen Voraussetzungen aus284 Vgl. hierzu sowie zum Folgenden J. Zumstein, Zur Geschichte des joh. Christentums, S. 3 ff., hier bes. S. 6: »Das Joh … übermittelt also keine eindeutige Botschaft. Im Gegenteil: Zwei theologisch entgegen gesetzte Lager, die zum gleichen kirchlichen Milieu(!) gehören, können sich mit gutem Recht [?] auf dasselbe Evangelium berufen. Dieses hat sein Ziel, eine regulative Schrift zu sein, verfehlt und benötigt offenbar einen hermeneutischen Kanon, den festzulegen der I Joh beansprucht«, sowie S. 9: »Die gnostische Lektüre ist im Sinnpotential des Joh eingeschlossen, aber ihre Fragestellungen betreffen die Entstehung des Evangeliums nicht«. 285 Vgl. J. N. Sanders, The Fourth Gospel in the Early Church, S. 72: »Irenaeus in fact uses the Fourth Gospel as the regula veritatis, and build his theology upon it, as is shown by his statement of the teaching of the Fourth Gospel as regula veritatis in III 11,1 …«. vgl. ebd., S. 84: Das Joh-Evangelium »was in fact the corner-stone of orthodoxy«. 286 So J. Zumstein, Zur Geschichte des johanneischen Christentums, S. 3, mit Bezugnahme auf Irenäus, Adv. Haer. III 11,1. 287 So J. N. Sanders, The Fourth Gospel in the Early Church, S. 65.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

legten. Der beiderseits ›anerkannte‹ bzw. rezipierte Text gerät auf diese Weise zum »great battle-ground … between Gnosticism and Catholicism«288. Das Material für diesen Interpretationskonflikt ist in den antignostischen Schriften der frühchristlichen Häresiologen reichlich überliefert und keineswegs nur speziell auf die valentinianische Schule der frühchristlichen Gnosis begrenzt. Auch andere gnostische Schulen und Richtungen zeigen ein besonderes Interesse gerade an dieser Evangelienschrift, so z.B. die Naassener289; hinzu kommt darüber hinaus auch das Zeugnis bestimmter gnostischer Originalschriften aus dem Handschriftenfund von Nag Hammadi – insgesamt: Die besondere Affinität der frühchristlichen Gnosis zum JohEv ist eindrücklich bezeugt – umstritten bleibt dabei allenfalls noch, welche Schlussfolgerungen aus diesem Sachverhalt für das JohEv selbst zu ziehen sind … Nur am Rande in diesem Zusammenhang noch: In jedem Falle nicht diejenigen, die P. Hofrichter in seiner alle bisherigen Erkenntnisse in Frage stellenden Rekonstruktion des Verlaufs der urchristlichen Theologiegeschichte unter der Überschrift »Im Anfang war der Johannesprolog« gezogen hat: »Das urchristliche Logosbekenntnis – die Basis neutestamentlicher und gnostischer Theologie«290. Das im Blick auf das JohEv in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht bestehende Problem hat seinerzeit am deutlichsten wohl W. Bauer in seiner Monographie ›Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum‹ vom Jahr 1934 formuliert: Hat – möglicherweise – das JohEv »seine Laufbahn als Ketzerevangelium begonnen?«, und zwar ganz so wie »auch Paulus in hohem Maße die Gunst der Häretiker genossen hat?«291. Konkret schließt solche rezeptionsgeschichtliche Fragestellung zugleich die weitergehende Frage in sich, ob und inwieweit das in dieser Evangelienschrift überlieferte Sinnpotential als solches auch die Möglichkeit der Aktualisierung in einem spezifisch gnostischen Sinn in sich barg? Es bedurfte, so gesehen, also nur noch eines Anstoßes von außen her, um jenes im JohEv gleichsam ›angelegte‹ Sinnpotential nun eben auch auf eine spezifisch gnostische Weise zu aktualisieren … Von daher gesehen handelt es sich in der Rezeptionsgeschichte 288

So wiederum J. N. Sanders, ebd., Anm. 287. Dazu vgl. W.v. Loewenich, Das Johannes-Verständnis im zweiten Jahrhundert, S. 64–68; J. Frickel, Naassener oder Valentinianer? S. 95–119; ders., Hellenistische Erlösung in christlicher Deutung. 290 Besonders ist hier auf den ›Forschungsertrag‹ (S. 365–367) mit der Grundthese (S. 366) zu verweisen, derzufolge gnostische und neutestamentliche Theologie – bei aller späteren ›Auseinanderentwicklung‹ – einen ›gemeinsamen Ursprung‹ haben. Dies betrachtet der Verf. »als exemplarisch für jene Kirchenspaltung …, die aus dem Beharren eines Teils der Kirche auf ursprünglich orthodoxen, aber überholten theologischen Positionen erwuchs«. Die Schlussfolgerung dementsprechend (ebd.): »… entgegen der neutestamentlichen und frühkirchlichen Auffassung hatte die gnostische Christologie zwar nicht das spirituelle, wohl aber das historische und philologische Recht auf ihrer Seite. Der ökumenischen Theologie wird sich die Reintegration der Gnosis zur verlorenen Fülle des christlichen Glaubens als unverzichtbare letzte(!) Aufgabe stellen …« (usw.!). 291 W. Bauer, a.a.O., S. 227. 289

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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dieser Evangelienschrift in der frühchristlichen Gnosis nur um eine – zeitlich wie auch sachlich gesehen – sekundäre Adaption bestimmter religiöser Grundlinien an die eigenen Verstehensvoraussetzungen der Gnosis (und in diesem Sinn um ein grundlegendes Missverständnis des JohEv.s!), sondern auch um eine aktuelle Eröffnung jenes Sinnpotentials in den entsprechenden Schriften der frühchristlichen Gnosis. Die Beantwortung dieser für das JohEv entscheidenden Frage ist auch in der gegenwärtigen Forschungssituation nach wie vor umstritten, und zwar in dem Sinne, dass die Rezeptionsgeschichte des JohEv.s in den gnostischen Zeugnissen – unter der Voraussetzung, dass das hier anstehende Problem am Ende »nur wirkungsgeschichtlich bzw. rezeptionsgeschichtlich zu lösen« sei292 – ein bestimmtes Licht auf das JohEv selbst wirft, und zwar i.S. einer gewissen ›Offenheit‹ dieses Evangeliums für seine Rezeption in der frühchristlichen Gnosis. Nun ist in der Tat kaum zu bestreiten, dass ›die unterschiedlichsten Interpretationen des 2. Jahrhunderts … mit gutem Recht einzelne Elemente oder Stossrichtungen der Joh Tradition für ihre eigene Interpretation in Anspruch nehmen‹ können293 – jedoch: »inwiefern sind die [tatsächlichen] Folgen eines Textes diesem selbst zuzuschreiben? Wirkungsgeschichte kann nur unter größter Zurückhaltung dazu verwendet werden, Aussagen über den originalen Text zu machen«294. Insgesamt also: Eine zureichende Antwort auf solcherlei Fragestellungen kann gewiss nicht thetisch gegeben werden, sondern allein vermittels einer Analyse der für die Rezeptionsgeschichte des JohEv.s im 2. Jahrhundert überlieferten Quellen. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang wiederum Irenäus zu nennen, der im Rahmen seiner antignostischen Polemik – wohl nicht ohne entsprechenden Anlass – besonders ausführlich auf die valentinianische Gnosis eingeht – womit nun freilich zugleich ein spezielles Problem der neueren Forschungsgeschichte benannt ist: Bezieht Irenäus sich in seiner Polemik eigentlich primär auf den ›Gnostiker‹ Valentinus als den Begründer der Valentini schola, so jedenfalls in Adv. Haer. I 30,15, – oder nicht vielmehr auf die Hauptvertreter seiner ›Schule‹, nämlich die Valentinianer Ptolemaeus und Herakleon? – Wie immer man diese Frage beantworten mag: in jedem Falle gilt es hier, wie die neuere Forschungsgeschichte deutlich gemacht hat295 – zu differenzieren: 292

So F. Vouga, Jean et la Gnose, S. 110 f. So K. Haldimann/H. Weder, Aus der Literatur zum Johannesevangelium 1985–1994, S. 340 f. – Zum Problem in dieser Hinsicht vgl. auch die Überlegungen von J. Zumstein, Zur Geschichte des johanneischen Christentums, S. 9: »die ins Evangelium aufgenommene Tradition« enthält zwar Motive, »die für eine gnostisierende Interpretation geeignet waren, aber im Evangelium gerade nicht in gnostischer Weise verwendet werden …, Die gnostische Lektüre ist im Sinnpotential des Joh eingeschlossen, aber ihre Fragestellungen betreffen die Entstehung des Evangeliums nicht«. 294 So K. Haldimann/H. Weder, ebd., S. 341 f. 295 Repräsentiert wird die neuere und neueste Forschungsgeschichte zum Problem vor allem durch die Monographie von C. Markschies, Valentinus Gnosticus? Vgl. aber auch vom sel293

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Zwar gibt es bei Irenäus (Adv. Haer. I 11,1) ein Zeugnis dafür, dass jene gnostische ›Prinzipienlehre‹ (i.S. einer Spekulation über die ›Dyaden‹, ›Tetraden‹ und ›Ogdoaden‹ im Pleroma) auf Valentinus selbst zurückgeht: Als ›erster‹ der gnostischen Häresie habe er, Valentinus, deren ›Prinzipien‹ ( ) »dem Charakter seiner Lehre angepasst«. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung kann dieses Zeugnis jedoch schwerlich noch als Beweis für die ursprüngliche Lehre des Valentinus angesehen werden296. Vielmehr gilt im Blick auf das Referat des Irenäus über Valentinus nach wie vor das Urteil, wie es F. Chr. Baur in dem seinerzeit grundlegenden Werk »Die christliche Gnosis oder die christliche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Gestaltung« vom Jahr 1835 formuliert hat: »Das ursprüngliche System Valentins selbst kann umso weniger von den Modifikationen seiner Schüler geschieden werden, da Irenäus, ob er gleich Hauptschüler Valentins … besonders aufführt, doch in der Darstellung des valentinianischen Systems immer nur von den Valentinianern, nicht aber von Valentin selbst spricht«297. Angesichts dieses Urteils ist auch darauf hinzuweisen, dass im Referat des Irenäus über die ›Prinzipienlehre‹ des Valentinus (noch) keinerlei Bezug auf das JohEv vorliegt, ganz i.U. zur ›Prinzipienlehre‹ des Ptolemäus, des Schülers des Valentinus, in Irenäus, Adv. Haer. I 8,5. Letzteres gilt wohl auch im Blick auf die von Valentinus selbst bei den frühchristlichen Häresiologen, insbesondere bei Clemens Alexandrinus und Hippolyt überlieferten Originalfragmente298. Aufs Ganze gesehen geht aus diesen Fragmenten deutlich genug hervor, »dass sich eine kontinuierliche Weitergabe und Entwicklung eines einheitlichen ›valentinianischen‹ Lehrkonzepts, das im Kern auf Valentinus selbst zurückgeführt werden kann, an diesem Material nicht nachweisen lässt«299, ja mehr noch: Angesichts dieser Fragmente stellt sich die Frage, ob diese Originalzeugnisse der Lehre des Valentinus, überhaupt schon als spezifisch ›gnostisch‹ zu bezeichnen sind. Dass diese Frage am Ende zu verneinen ist, hat zuletzt vor allem C. Markschies in seinem Kommentar zu diesen Fragmenten im Einzelnen deutlich genug aufgezeigt300. Konkret heißt dies, dass jene Fragmente den Valentinus (noch) nicht als einen ›Gnostiker‹ im engeren Sinne des Wortes ausweisen. ben Verf.: Die Krise einer philosophischen Bibeltheologie in der Alten Kirche oder: Valentin und die valentinianische Gnosis zwischen philosophischer Bibelinterpretation und mythologischer Häresie, S. 1–37. 296 Zur Problematik des Valentinus-Referats bei Irenäus, Adv. Haer. I 11,1 vgl. C. Markschies, Valentinus Gnosticus?, S. 244 und S. 364–379; ders., Art. Valentinus, in: TRE 34, S. 496, Z. 31 ff.: »Das Valentin-Referat bei Irenäus I 11,1 ist eine verwickelte Kompilation verschiedenster valentinianischer Lehrdetails, die bereits rein sprachlich eine Fülle von Lehrsystemen – und damit auch die Situation des späteren 2. Jh. – voraussetzt«. 297 A.a.O., S. 122, Anm. 1. 298 Zum Vergleich zwischen Irenäus, Adv. Haer. I 11,1 und den Fragmenten des Valentinus vgl. C. Markschies, Valentinus Gnosticus, S. 376 ff.; zu den Fragmenten: ebd., S. 11 ff. 299 So C. Markschies, Art. Valentinus, in: TRE 34, S. 495, Z. 35 ff. 300 Valentinus Gnosticus, S. 11–292.

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Dies festzustellen schließt nicht aus, dass in einigen dieser Fragmente gewisse Ansätze – und damit zugleich eine gewisse ›Offenheit‹ des ursprünglichen Systems des Valentinus – für ein spezifisch gnostisches Denken gegeben sind. Und es sind am Ende eben solche ›gnostisierenden Ansätze‹, die bei den Schülern des Valentinus zu einer über den Lehrer hinausgehenden Entwicklung geführt haben und die auch die nunmehr eindeutig gnostische Lehre der Schüler nicht lediglich als ein bloßes Missverständnis der Lehre des Valentinus selbst erscheinen lassen, ein Missverständnis nämlich i.S. einer ›sekundären Mythisierung‹301. Was solche ›Ansätze‹ für ein spezifisch gnostisches Denken in den Fragmenten des Valentinus betrifft, so sind hier besonders die Fragmente 1,4,8 und 11 zu nennen, auch sie wiederum in gewissen Abstufungen: So kann man speziell im Blick auf das Fragment 1 (aus Clemens Alexandrinus, Strom. II 36,2–4) noch unterschiedlicher Meinung sein; wenn jedoch C. Markschies in seinem Kommentar darauf hinweist, dass sich auch immer schon »das gnostische Motiv an[deutet], dass das Nichtwissen der Engel für die Defizite der Schöpfung verantwortlich gemacht werden muss« und darüber hinaus noch hinzufügt, dass eben dieses Motiv nach Ausweis von Irenäus, Adv. Haer. I 21,4, die Lehre der Schüler des Valentinus bestimmt hat302, so sind hier bestimmte ›Übergänge‹ von der originären Lehre des Valentinus zur Lehre seiner Schüler offensichtlich. – Nicht erkennbar auf den ersten Blick sind auch gewisse gnostische Implikationen im Fragment 8, einem von Hippolyt (Ref. VI 37,7) überlieferten ›Psalm‹ des Valentinus. Von besonderem Interesse ist dabei die Überschrift des Fragments: ›Ernte‹ ( ) sowie die beiden abschließenden Zeilen: »aus der Tiefe ( ) [sehe ich] Früchte hervorkommen/aus dem Mutterschoß ein Kind«. Die von J. Holzhausen erwogene Möglichkeit, dass in diesem Psalm ein Bezug auf das im JohEv (4,35–38) im Rahmen einer ›präsentischen Eschatologie‹ stehende Bild von der ›Ernte‹ vorliegt303, mag hier dahingestellt bleiben. Besonders zu beachten ist hier jedoch die Rede des Psalms von den »Früchten«, die »aus der Tiefe ( ) hervorkommen«. Verbirgt sich in dem hier benutzten Bild, so möchte 301 Im übrigen ist die Position von C. Markschies in dieser Hinsicht keineswegs einheitlich: So heißt es in: »Die Krise einer philosophischen Bibeltheologie …«, S. 26 ff. bzw. S. 30: »Wieso kommt es bei den Schülern [des Valentinus] zu einer derartigen mythischen Aufladung der Theologie?« und in der Analyse »Alte und neue Texte und Forschungen zu Valentin …«, S. 107, findet sich sogar das Urteil, »dass der … so im Schatten der ›großen‹ Valentinianer Ptolemäus und Herakleon stehende Valentin diesen finsteren Ort wahrlich nicht verdient hat«. Andererseits jedoch wird zugestanden, dass sich »bisweilen« durchaus »eine terminologische Nähe [zwischen Valentinus selbst und seinen Schülern]erkennen lässt« (ebd., S. 104), hier freilich sogleich mit der Einschränkung: »Aber stets handelt es sich um rein begriffliche Parallelen oder motivische Ähnlichkeiten, die nicht überbewertet werden dürfen«. Dieselbe Problematik zeigt sich auch in »Valentinus Gnosticus«, wenn es hier einerseits heißt: »Wenn wir Valentin nur strikt nach seinen Fragmenten verstehen wollen, darf man ihn nicht einmal ›Prägnostiker‹ nennen« (S. 404 f.) – und andererseits (S. 405): »Valentins Stellung in der Geschichte der Gnosis bleibt in Wahrheit dunkel und rätselhaft und lässt sich kaum auf griffige Formeln bringen …«. 302 So C. Markschies, Valentinus Gnosticus?, S. 53 mit Anm. 260. 303 J. Holzhausen, Ein gnostischer Psalm, S. 80: »Die hier entwickelte Interpretation des Psalms stellt Valentin in die Tradition der valentinianischen Gnosis. Valentin ist dabei nicht von dieser späteren Tradition her zu interpretieren, sondern als ihr Urheber[!] zu begreifen«.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

man jedenfalls fragen, nicht eine bestimmte, geradezu als abgründig zu bezeichnende (räumliche) Gottesvorstellung?304 – Gott nämlich, der schlechthin jenseitige Gott, der als solcher seinen Ort in einer unauslotbaren ›Tiefe‹ hat und so auch selbst als ›Tiefe‹ ( / ) bezeichnet werden kann? – eine Gottesvorstellung also, die im Zeugnis der altkirchlichen Häresiologen, aber auch in den gnostischen Schriften von Nag Hammadi ein vielfaches Echo gefunden hat. So spricht z.B. Hippolyt im Rahmen seines Referats über die Schule des Valentinus ausdrücklich von der »Tiefe des Vaters« (Ref. VI 30,6) und bezeugt in diesem Zusammenhang (Ref. VI 30,7) zugleich, dass dieser ›ungezeugte Vater‹ in der valentinianischen Gnosis als »Anfang aller Dinge und Wurzel und Tiefe und Abgrund« genannt worden ist305. Dem entspricht es, wenn es, wiederum nach dem Zeugnis des Hippolyt (Ref. V 6,4), von den Naassenern heißt, dass sie sich deshalb ›Gnostiker‹ nennen, weil ›sie allein die Tiefen [der Gottheit] erkennen‹. Bestätigt wird dieses Zeugnis des Hippolyt nicht zuletzt auch durch die gnostischen Originalschriften von Nag Hammadi, so insbesondere durch das ›Evangelium Veritatis‹ (NHC I/3) wie auch durch den ›Tractatus Tripartitus‹ (NHC I/5), durch Schriften also, die beide der valentinianischen Schule nahestehen: Ganz i.S. der hier in Frage stehenden Gottesvorstellung ist so in der erstgenannten Schrift (p. 40,26 f.) von dem Gott die Rede, der »aus der Tiefe gekommen ist«306, und im »Tractatus Tripartitus« heißt es von Gott: »kein Verstand vermag ihn zu verstehen, kein Wort kann ihm je entsprechen, kein Auge kann ihn je sehen, kein Körper ihn je umfassen – auf Grund seiner unerreichbaren Größe, seiner unergründlichen Tiefe und seiner unfassbaren Ferne …«307. Von gnostischen Zeugnissen her ist es wohl durchaus i.S. einer antignostischen Polemik zu verstehen, wenn in der neutestamentlichen »Offenbarung des Johannes« im ›Sendschreiben‹ an die Gemeinde von Tyatira (2,24) gegen den Anspruch jener Gnostiker Stellung bezogen wird, die ›Tiefen‹ Gottes zu erkennen, indem hier statt dessen von der Erkenntnis der ›Tiefen des Satans‹ die Rede ist308. So bleibt am Ende nur die Frage, ob die in gnostischen Texten vielfach bezeugte Rede von der ›Tiefe‹ Gottes nun auch im Fragment 8 des Valentinus in einem spezifisch gnostischen Sinn zu verstehen ist, im Horizont also eines Gott-Welt-Dualismus als Bezeichnung des dieser Welt schlechthin transzendenten Gottes309 – oder i.S. des von C. Markschies bevorzugten Deutungsmusters i.S. eines Lobliedes auf den ›schlechthin transzendenten Gott‹, dessen Dichter mit dem hier vorliegenden Hymnus ›in der Tradition alttestamentlicher Schöpfungspsalmen‹ steht310. Wie immer man hinsichtlich dieser Fragestellung entscheiden mag: Angesichts der Rezeptionsgeschichte von 1 Kor 2,10 in der früh304 Zum räumlichen Verständnis der Wendung ›aus der Tiefe‹ vgl. B. Herzhoff, Zwei gnostische Psalmen, S. 57 ff. 305 Vgl. dazu B. Herzhoff, ebd., S. 59 f., sowie das entsprechende Zeugnis bei Irenäus, Adv. Haer. I, praefatio 2; I 1,1 (der »Bythos« als »Anfang aller Dinge«); I 12,1 (»die Tiefe des Bythos«) sowie II 4,1 (der »Bythos« als »Vater aller Dinge«). 306 Vgl. auch ebd., p. 22,25: »… wegen der Tiefe ( ) dessen, der jeden Raum umgibt, während es nichts gibt, was ihn umgibt«. 307 Tract. Tripart., p. 54,15 ff., hier nach der Übers. von P. Nagel, Der Tractatus Tripartitus aus N.H. Codex I (Codex Jung), S. 23. 308 In diesem Sinne bereits W. Bousset, Die Offenbarung Johannis, Göttingen 1966, S. 220. Vgl. auch J.M. Ford, Revelation, in: The Anchor Bible, Garden City / New York 1975, S. 403 f. 309 So J. Holzhausen, Ein gnostischer Psalm, S. 73 ff. 310 C. Markschies, Valentinus Gnosticus?, S. 258 f. (sowie insgesamt S. 245 ff.).

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christlichen Gnosis ist die ›Gnosisnähe‹ jener Formulierung im Fragment 8 wohl kaum zu bestreiten. – Mit dem Fragment 11 (aus Hippolyt, Ref. X 13,4) hat es in diesem Zusammenhang – wovon auch C. Markschies ausgeht311 – seine besondere Bewandtnis: Dies gilt bereits in dem Sinn, dass Hippolyt in seinem Referat an dieser Stelle keinen Unterschied zwischen Valentinus selbst und seinen Schülern macht. Die hier vorliegende Formulierung – »›das Fleisch aber soll [nach seinem Willen] nicht gerettet werden‹ – bietet ja durchaus die Möglichkeit ihres Verständnisse in einem spezifisch gnostischen Sinn; und eben deshalb sind auch, wie auch C. Markschies feststellt312, »fast alle Wendungen des Fragmentes 11 … bei den Schülern direkt oder indirekt belegt«. Am Ende ist es hier allein die Bezugnahme auf Eph 4,22 ( ) in diesem Fragment, die C. Markschies »ernsthaft erwägen« lässt, »ob auch hier ein authentisches Valentinzitat vorliegt« (ebd.).

Mag man im Blick auf die genannten Fragmente 1, 8 und 11 noch darüber streiten, ob hier jeweils Ansätze für eine spezifisch gnostische Rezeption der Lehre des Valentinus seitens seiner Schüler gegeben sind, stellt sich speziell im Blick auf das Fragment 4 (aus Clemmens Alexandrinus, Strom. IV 89,1–3) der Sachverhalt relativ eindeutig dar, und dies umso mehr, wenn man dieses Fragment (mit J. Holzhausen) in einen Zusammenhang mit dem Fragment 8 stellt313: Weil die ›Ernte‹ in diesem Fragment ›zum ewigen Leben‹ gereicht, gilt nun auch: »ihr seid Kinder des ewigen Lebens«. Ist dieses Fragment nicht bereits von daher gesehen ›gnostisch‹ zu nennen, so ist doch wenigstens nicht zu bestreiten, dass es mit seinen geradezu ›enthusiastischen‹ Aussagen – »Von Anfang an seid ihr unsterblich und Kinder des ewigen Lebens. Denn wenn ihr den Kosmos auflöst und [dabei] nicht selbst aufgelöst werdet, so seid ihr Herr über die Schöpfung und über alle Vergänglichkeit« – eindeutig in eine gnostische Richtung weist, und zwar als die Äußerung eines Überlegenheitsbewusstseins gegenüber der vergänglichen Welt, wie sie eben für den ›Gnostiker‹ charakteristisch ist. Insofern fällt dieses Fragment 4 in der Tat, wie auch C. Markschies zugesteht314, »aus dem üblichen theologischen Rahmen …, in den sich fast alle anderen Fragmente einordnen lassen«. Auch wenn von den übrigen Fragmenten her bestimmte Unterschiede zwischen der Lehre des Valentinus und der seiner Schüler bestanden haben; und auch wenn sich bestimmte Aussagen im Fragment 4 aus einer Rezeption bestimmter neutestamentlicher Aussagen ableiten lassen, so insbesondere aus der ›präsentischen‹ Eschatologie des JohEv.s oder auch aus der Tauftheologie 311 C. Markschies, ebd., S. 276 ff., speziell S. 276: ein »Text, bei dem ich trotz gewisser Bedenken doch nicht ausschließen möchte, dass eine Erinnerung an die originale Lehre Valentins vorliegt«. 312 C. Markschies, ebd., S. 280. 313 J. Holzhausen, Ein gnostischer Psalm, S. 78 f. 314 Valentinus Gnosticus?, S. 145, hier mit dem Zusatz: »Aber man weiß leider nach der Lektüre der Fragmente nicht, ob der Enthusiasmus die Grenze zu dem schon überschritten hat, was die Kirchenväter als ›gnostische Häresie‹ bezeichnen«.

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des Paulus im 6. Kapitel des Römerbriefes315, so hat sich doch – die Echtheit des Fragments 4 hier vorausgesetzt – der Übergang von derartigen Ansätzen bei Valentinus selbst zu jener bereits ausgebildeten Gestalt von ›Gnosis‹ bei seinen Schülern doch wohl fließender vollzogen, als dies C. Markschies zunächst angenommen hat. In jedem Fall hat es, wovon er auch ausgeht316 bereits in der Theologie des Valentinus selbst bestimmte ›Krisenpunkte‹ gegeben, die jene ›mythische Aufladung‹ seiner Lehre bei seinen Schülern als durchaus nachvollziehbar erscheinen lassen: ›Annehmbar‹ war dieses Fragment 4 für einen Gnostiker allemal. Gab es also in diesem Sinne schon bei Valentinus selbst ›eine frühe Form der Gnosis‹?317. Eben dies bescheinigt im Übrigen auch Clemens Alexandrinus, wenn er, der ›kirchliche Gnostiker‹, jenem ›von Anfang an‹ ( ) im Fragment 4 des Valentinus in seiner Deutung des Fragments (Strom. IV 89,4) nicht mehr nur eine zeitliche, sondern – damit zugleich – eine prinzipielle Bedeutung beimisst und damit die Schlussfolgerung zieht, dass die Gnostiker, von denen in jenem Fragment des Valentinus die Rede ist, ein eigenes ›Menschengeschlecht‹ sind, dem das Prädikat ›von Natur gerettet‹ zukommt, ›von Natur‹ eben weil ›von Anfang an‹, also ›prinzipiell‹.318 Die Frage, ob man so gesehen den Valentinus einen ›Sektenstifter‹ nennen kann319, ist wohl unangemessen, auch wenn Irenäus in diese Richtung argumentiert: Sed si quidem emissum est vacuum, vacuus et prolator est Valentinus, vacui et sectatores eius (Adv. Haer. II 1,4 sowie II 28,9 und III 2,1). Im Übrigen jedoch lässt gerade Irenäus keinen Zweifel daran, dass seine eigenen Kontrahenten auf gnostischer Seite jene sind, die sich von Valentinus als ihrem Lehrer ableiten. Das eigentliche ›Übel‹ ist aber auch für Irenäus die ›Schule des Valentinus‹, die sich – gleichsam wie die Lernaea hydra, wie ein Ungeheuer ›mit vielen Köpfen‹ (multiplex capitibus) ausgebreitet und verzweigt hat (Adv. Haer. I 30,15). 315 In diese Richtung geht die Argumentation von C. Markschies, ebd., S. 131 ff. und S. 141 ff., hier (S. 131 f.) zur Frage einer ›übertragenen‹ Bedeutung der Formulierung im Fragment 4: : »Es erscheint mir nämlich möglich, dass diese Zeilen in der Tradition des Johannesevangeliums und der paulinischen Theologie zu verstehen sind«. Vgl. auch S. 135: Die Frage, »ob Valentin ›Tod‹ im Sinne eines Johannes, Paulus … metaphorisch oder in einem naiven Sinn wörtlich verstanden hat, ist kaum eindeutig zu klären«, sowie S. 140 f. Zur Rede vom im Fragm. 4 (mit Verweis auf 1 Joh 3,8!) vgl. S. 143 f., hier wiederum mit der Einschränkung: »Die genaue Abgrenzung zwischen dem Werk Jesu und dem Werk des pneumatischen Gnostikers oszilliert an dieser Stelle merkwürdig«. 316 Zu diesen ›Krisenpunkten‹ vgl. C. Markschies, Die Krise einer philosophischen Bibeltheologie in der Alten Kirche, S. 26–29. Vgl. hier besonders den Hinweis auf »die Entwicklung von Valentin zu seinen Schülern« bereits bei Tertullian, Adv. Val. 4,2 (S. 27, Anm. 106). 317 So J. Holzhausen, Ein gnostischer Psalm, S. 79, Anm. 90: »Hier ist ein wichtiger Punkt, an dem ich M. [Markschies] zustimmen möchte«. 318 Zur Interpretation des in diesem Sinne vgl. C. Markschies, Valentinus Gnosticus, S. 127–130. – Zur Sache vgl. auch Clemens Alexandrinus, Strom. V 3,1 ff. (3,3!), sowie Exc. ex Theodoto 56,3, hier im Blick speziell auf die drei ›Menschenklassen‹ (Irenäus, Adv. Haer. I 6,4!). 319 So W. Foerster, Die Gnosis. Zeugnisse der Kirchenväter, S. 309 ff.

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Gegen sie, diese ›vielerlei Köpfe‹, gegen die weitverzweigte Schule des Valentinus also, richtet sich seine Polemik, und hier insbesondere gegen diejenigen, die sich für ihre ›Prinzipienlehre‹ (i.U. auch noch zur Polemik in Adv. Haer. I 11,1!) nun ausdrücklich auf das JohEv und hier vor allem auf den ›Prolog‹ des JohEv.s beziehen – Auseinandersetzung also mit denjenigen, die das rechte Verständnis dieses Evangeliums ausschließlich für sich beanspruchen, so dass derjenige, der die ›Valentinianer‹ wirksam bekämpfen will, ihnen zuvor diese Evangelienschrift gleichsam ›entreißen‹ muß – denn, so die Sichtweise des Irenäus (Adv. Haer. III 11,1): »Eben diesen Glauben«, von dem Adv. Haer. III 10 die Rede war, hat bereits Johannes, der »Schüler des Herrn«, verkündet, und das heißt i.S. des Irenäus zugleich: Schon seine, des ›Johannes‹, Absicht war es, vermittels der Verkündigung des Evangeliums jenen Irrtum zu beseitigen, der bereits von Kerinth unter die Menschen gebracht worden ist und ›längst vorher schon‹ von den Nikolaiten (Apk 2,6.15), qui sunt vulsio eius quae falso cognominatur scientiae, d.h.: einer der vielen Ableger der ›fälschlich sogenannten Gnosis‹ von 1 Tim 6,20. Nach einer knappen Darlegung der principia Evangelii anhand des JohEv.s (Adv. Haer. III 11,7) kommt Irenäus am Ende (ebd.) noch einmal auf die Valentinianer zu sprechen, die – wie er formuliert – das JohEv ›äußerst häufig benutzen‹ (plenissime utentes), um daraus ›Syzygien‹ (im Pleroma) zu begründen: … utentes ad ostensionem coniugationum suarum. Während also für Valentinus selbst nach dem Zeugnis der unter seinem Namen überlieferten Fragmente ein ausdrücklicher Bezug auf das JohEv noch nicht festzustellen war320, ist für seine Schüler die Rezeption dieses Evangeliums bereits zur Gewohnheit geworden. Und während für Irenäus – i.U. zur JohannesRezeption der Valentinianer – alles, was für eine sachgemäße Lektüre des JohEv.s grundlegend ist, unter der normativen Voraussetzung der regula veritatis steht321, legen nun auch die Häretiker, wie Irenäus meint, ein Zeugnis für das Evangelium ab, dies in der Weise, dass sie dieses Evangelium dazu benutzen – besser wohl: missbrauchen, die ihnen eigene Doktrin zu ›befestigen‹ (Adv. Haer. III 11,7: Suam confirmare doctrinam). Deutlicher als hier kann wohl kaum zum Ausdruck gebracht werden, dass alles, was Irenäus zur Inanspruchnahme des JohEv.s durch seine gnostischen Kontrahenten im Einzelnen zu sagen hat, unter dem Vorzeichen dessen steht, was er bereits in seiner Vorrede zum Buch I seiner Streitschrift formuliert hat: ›Leichtfertiger Umgang‹ mit der Schrift wird ihnen hier bescheinigt, ›schlechte Exegese des 320 S. dazu oben. Vgl. auch W.v. Loewenich, Johannes-Verständnis, S. 72 f., sowie M. Hengel, Die johanneische Frage, S. 41: »Möglicherweise haben so doch die Schüler [des Valentinus] die Vorliebe für das Johannesevangelium von ihrem Lehrer übernommen« – mit dem Zusatz: »Das 4. Evangelium kam ihrer ›spekulativen‹ Auslegung besonders entgegen, auch wenn es dabei selbst in seiner Intention verkehrt wurde«. 321 Adv. Haer. III 11,1. Vgl. hier auch die auf das vorausgehende Kapitel (III 10) und die dort entfaltete Lehre der übrigen Evangelien zurückweisende Formulierung: Hanc fidem …, d.h.: »Eben diesen Glauben verkündet/bezeugt auch Johannes …«.

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[ursprünglich] gut gesagten‹, mit der sie ›viele ins Verderben stürzen‹; sie pervertieren den ursprünglichen Sinn der Schrift (Adv. Haer. I 9,4), und dies alles mit der Konsequenz: »So forschten die Gnostiker in der Schrift – und fanden, was sie finden wollten …«322. Eben in solchem ›Kontext‹ hat die aktuelle Auseinandersetzung des Irenäus mit seinen Kontrahenten ihren Ort, konkret also seine Auseinandersetzung mit den Valentinianern und hier insbesondere mit der Schule des Ptolemäus, eines ›Ablegers‹ der Schule des Valentinus323: Für Ptolemäus selbst ist in diesem Zusammenhang zunächst auf die eigenartige Rezeption von Joh 1,3 hinzuweisen, wie sie in seinem von Epiphanius, Haer. 33,3–8, überlieferten ›Brief an Flora‹ vorliegt: Hier wird Joh 1,3 geradezu dazu zitiert, um die Trennung zwischen dem Weltschöpfer und einem ihm fremden Gott zurückzuweisen: »Außerdem sagt der Apostel, die Schöpfung der Welt sei seine [sc.: des Erlösers] eigene [Schöpfung] und somit gerade nicht die eines Verderben schaffenden, sondern eines gerechten und das Böse hassenden Gottes, [und zwar mit den Worten]: ›alles ist durch ihn geworden, und ohne ihn ist nichts geworden‹ – und so beraubt er [der Apostel Johannes] die unbeständige Weisheit der Falschredner«. Genauer heißt das: Die Bestreitung der Einheit des Weltschöpfers, des Demiurgen, und des Logos-Erlösers wird eindeutig den hier apostrophierten Gegnern zugewiesen, die ›auf lügnerische Weise von der unbeständigen Weisheit reden‹. Dem entspricht schließlich der Verweis auf jene ›unvernünftigen Menschen‹, die die »Ursache der Vorsehung ( ) des Demiurgen nicht zu erkennen imstande sind, weil sie sowohl an den ›Augen der Seele‹ wie auch an denen des Leibes geblendet sind«. Mit Recht vermerkt A. Wucherpfennig zu dieser Stelle: »Von dieser Auffassung des Ptolemäus ist Irenäus’ Interpretation nicht weit entfernt«324. Ganz anders demgegenüber verhält es sich mit dem Hauptbeleg für die Rezeption des JohEv.s in der valentinianischen Schule bzw. bei Ptolemäus, wie er bei Irenäus, Adv. Haer. I 8,5 in einer Art ›relecture‹ des Prologs zum JohEv vorliegt: Was hier im Einzelnen ausgeführt wird, ist die bis in die Einzelheiten der Textvorlage hinein folgende Art einer gnostischen ›Prinzipien322 So G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die Heilige Schrift, S. 60 f.; ebd., S. 62: »Der tiefere Grund dieser Praxis liegt in dem Bestreben, das System in die Schrift hineinzutragen«. 323 Zu solcher Konzentration auf den Valentin-Schüler Ptolemäus vgl. bereits Adv. Haer. I, Praefatio 2. Zur Frage der Schülerschaft des Valentinus generell vgl. C. Markschies, Valentinus Gnosticus, S. 392–402, hier unter der Überschrift: »Valentinus und seine Schule – ein problematisches Verhältnis«, problematisch »primär angesichts – so jedenfalls die Grundthese von C. Markschies – einer »mythischen Aufladung« der Lehre des Valentinus durch seine Schüler (ebd., S. 406 f.). 324 A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 121, hier mit Verweis auf Irenäus, Adv. Haer. III 11,1, wo das von Joh 1,3 auf die ›Menschenwelt‹ bezogen wird: In omnibus ergo est haec quae secundum nos est conditio, was im Gegensatz zu den gnostischen Kontrahenten zugleich heißt: non enim concedetur eis omnia dici ea quae sunt infra Pleroma ipsorum. – Zur Interpretation von Joh 1,3 im Brief des Ptolemäus an Flora vgl. ebd., S. 120 f., sowie zuletzt T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums im 2. Jahrhundert, S. 294–299.

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lehre‹, auf die Irenäus auch sonst in seinem antignostischen Werk zurückgreift, für Irenäus offensichtlich ein willkommener Anlass, angesichts der Unterschiedlichkeit jener ›Prinzipienlehre‹ auf das ›unbeständige Erkenntnisvermögen‹ und damit zugleich auf die ›irrige Meinung‹ seiner Kontrahenten aufmerksam zu machen: »Schauen wir uns jetzt [nur] die unbeständige Meinung dieser Leute an, von denen nicht einmal zwei oder drei [zur selben Sache] dasselbe sagen, sondern – was sowohl die Inhalte ( ) als auch die [entsprechenden] Benennungen ( ) betrifft – ganz gegensätzliches zum Ausdruck bringen« (I 11,1). In der Tat: Nimmt man auch nur die im Blick auf jene ›Prinzipienlehre‹ der gnostischen Kontrahenten des Irenäus wichtigsten Äußerungen zur Kenntnis, so ist dem Urteil des Irenäus nur zuzustimmen. Dies gilt insbesondere im Blick auf die von Irenäus, Adv. Haer. I 1–3 (und 8,5), unter dem Namen des Ptolemäus sowie die wiederum von Irenäus, Adv. Haer. I 11,1 unter dem Namen des Valentinus überlieferte Prinzipienlehre. So unterschiedlich diese Prinzipienlehren im Einzelnen auch gestaltet sind, so belegen sie doch jeweils auf ihre Weise das besondere, man darf wohl sagen: spekulative Interesse der Gnostiker an solcherlei Aufstellungen. Worum es hier jeweils in sachlicher Hinsicht geht, ist der ›Ursprung aller Dinge‹ (Adv. Haer. I 8,5), in diesem Sinne aber (noch) keineswegs um die Genesis der irdischen Welt, sondern zunächst um die (urbildliche) Welt des jenseitig-göttlichen Pleroma und seiner Äonen: »il s’agit des Éons du Pleròme«325. Hier, in dieser Art von ›Prinzipienlehre‹, geht es dementsprechend um die Darstellung einer gleichsam ›jenseitigen‹, göttlichen Welt als einer Welt der ›Fülle‹ und der Ganzheit ( ), und zwar i.U. bzw. im Gegensatz zur irdischen Welt als einer Welt des ›Mangels‹ und der ›Leere‹ ( ), einer Welt also des ›Entzogenseins‹ aus der göttlichen ›Fülle‹. In seinen ›Beiträgen zum Verständnis der valentinianischen Gnosis‹ hat seinerzeit bereits K. Müller dazu festgestellt: »Der ganze Oberbau, alles, was sich im Pleroma zuträgt, erscheint nur als ein Widerschein dessen, was sich am Gnostiker vollzieht, eine Projektion [also] aus der Welt der Menschen in die Äonen«326. Diese ›Welt der Äonen‹, die sich in mancherlei Variationen in Duaden, Tetraden, Ogdoaden, Dekaden (usw.) gliedert, im Einzelnen zu analysieren, ist hier nicht der Ort327. Ebensowenig ist an dieser Stelle auf die Prinzipienlehre in Adv. Haer. I 1,3 sowie auf die dem Valentinus selbst zugeschriebene Prin325

So A. Russeau/L. Doutreleau, in: SC 264, S. 215. K. Müller, Beiträge zum Verständnis der valentinianischen Gnosis, S. 179–241. Zitat: S. 220. Vgl. auch J.N. Sanders, The Fourth Gospel in the Early Church, S. 57–60. 327 Zum Pleroma und seinen Äonen im Einzelnen vgl. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 362 ff.; K. Rudolph, Die Gnosis, S. 345 ff.; R. Berthouzoz, Liberté et Grace, S. 68–86, sowie A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 119 f., hier (S. 120) die Definition: »Das Pleroma ist eine weitere Zwischen-Instanz, ein Bereich zwischen dem entzogenen Gott und der sichtbaren Welt, der in seiner Funktion dem des Platonismus vergleichbar, zwischen dem unsichtbaren Gott und der vergänglichen Welt vermittelt«. 326

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zipienlehre von Adv. Haer. I 11,1 einzugehen, zumal, was die letztere betrifft, ohnehin deutlich ist, dass sie in ihrer vorliegenden Gestalt jedenfalls nicht auf Valentinus zurückgeführt werden kann328. Anders demgegenüber verhält es sich mit der Darlegung der ›Prinzipienlehre‹ des Ptolemäus von Adv. Haer. I 8,5, die zugleich den Hauptbeleg für die Rezeption des Prologs zum JohEv in der Schule des Valentinus darstellt. Dem hier vorliegende ›Kommentar‹ zum Prolog des JohEv.s gebührt schon deshalb besonderes Interesse, weil er durch zwei formelhafte Bemerkungen gerahmt ist, die es wahrscheinlich machen, dass es sich hier, in Adv. Haer. I 8,5, um ein Zitat aus einem wohl doch auf Ptolemäus selbst zurückgehenden Textzusammenhang handelt, als solcher eingeleitet durch die Notiz ›im genauen Wortlaut‹329 und abgeschlossen mit der Wendung: Et Ptolemaeus quidem ita330. Vor allem jedoch: Im Vergleich mit den beiden anderen Fassungen der Prinzipienlehre der Valentinianer wird die Prinzipienlehre hier, Adv. Haer. I 8,5, in Gestalt eines im Wesentlichen dem Wortlaut seiner ›Vorlage‹ folgenden Kommentars zum johanneischen Prolog vorgetragen. Wenn es nun speziell zu Joh 1,3 heißt: »… in / mit allen Äonen, die mit ihm [waren]« (usw.), so wird hier der Unterschied zur Rezeption von Joh 1,3 in des Ptolemäus »Brief an Flora« besonders deutlich: Jenes von Joh 1,3 bezeichnet hier nun nicht (mehr) die sichtbare (Menschen-)Welt, sondern das ursprüngliche Pleroma samt seinen Äonen, während die ›sichtbare‹ Welt »nur noch in einer Nebenbemerkung erwähnt« wird: »Er [der Evangelist] redet nämlich vom Erlöser und erklärt, dass alles außerhalb durch ihn gebildet sei … er sagt, dass dieser die Frucht des gesamten Pleroma sei«. Die Schlussfolgerung aus solcher Art von Auslegung des Prologs: »Der Logos ist daher die Vermittlungsinstanz, aus der das Pleroma entsteht, der Erlöser hingegen bildet das, was außerhalb des Pleroma ist. Erst dieser ist die Vermittlungsinstanz zur sichtbaren Welt«331. In diesem Sinne handelt es sich in dem Kommentar zum Prolog des JohEv.s, wie Irenäus ihn Adv. Haer. I 8,5 überliefert hat, in der Tat um eine Prinzipienlehre: Johannes, der ›Schüler des Herrn‹, beabsichtigt hier, die ›Entstehung aller Dinge‹ zu entfalten, eine ›Entstehung‹ freilich der besonderen, eben gnostischen Art: eine »Entstehung« ( ) nämlich, »wonach der Vater alles [aus sich heraus] emanierte«. Es handelt sich also um eine ›Prinzipienlehre‹, die zunächst nur an einem gleichsam ›urbildlichen‹ himmlisch-jenseitigen Geschehen interessiert ist, demgegenüber die irdische Welt nur im abgeleiteten Sinn in den Blick kommt. Dem328

Für den Nachweis im Einzelnen vgl. C. Markschies, Valentinus Gnosticus, S. 364–374. Vgl. Polybios, VIII 11,5: . 330 Vgl. in diesem Sinne auch A. Rousseau /L. Doutreleau, in: SC 263, S. 218: »Ils [diese beiden Wendungen zu Beginn und am Ende von Adv. Haer. I 8,5] confirment que tout ce paragraphe est constitué oar une page de Ptolémée citée littéralement par Irénée«. In diesem Sinne aber auch schon W.v. Loewenich, Johannesverständnis, S. 76 mit Anm. 3: »Was jetzt folgt, sind verba ipsissima der Valentinianer«. 331 So A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 120. 329

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entsprechend kommt in diesem Interpretationsrahmen die für Irenäus wie auch für die frühe Kirche entscheidende Aussage von der ›Fleischwerdung‹ des Logos (Joh 1,14) nur noch als Anknüpfungsmöglichkeit für die beiden Äonen und in den Blick, also im Kontext einer Darstellung des Pleromas und seiner Äonen. Solcher Art von Auslegung des johanneischen Prologs entspricht auch die Formulierung am Ende: »So hat er [Johannes] auch genau die erste Tetras aufgezeigt, indem er vom ›Vater‹, von der ›Charis‹, vom und von der sprach. Und auf diese Weise hat Johannes auch von der ersten Ogdoas gesprochen, von der Mutter nämlich der Gesamtheit der Äonen …«332. Eine ›Exegese‹ des johanneischen Prologs ist dies alles wohl kaum zu nennen, eher schon eine gleichsam nach-trägliche ›Verifizierung‹ einer vorgefassten Grundkonzeption vom ›Ursprung aller Dinge‹. Das Unternehmen, aus diesem Text des JohEv.s zwei ›Tetraden‹ und am Ende eine ›Ogdoade von Äonen‹ zu gewinnen, verdankt sein Ergebnis nicht dem johanneischen Prolog als solchem – und damit auch nicht einer vermeintlich ursprünglichen Affinität dieses Textes des JohEv.s zur Gnosis. Voraussetzung für solche Art von Auslegung ist hier jenes vorgefasste Grundkonzept vom ›Ursprung aller Dinge‹ i.S. eines emanatorischen Äonenmodells333. Es ist durchaus unzutreffend, die von Irenäus festgestellte ›Vorliebe‹ der Valentinianer für das JohEv darin begründet zu sehen, dass dieses Evangelium als solches »lent itself well to a Gnostic interpretation«334. Gerade Irenäus wiederum hat das hier anstehende hermeneutische Grundproblem hinsichtlich einer dem JohEv angemessenen Interpretation in aller Eindeutigkeit zum Ausdruck gebracht: Zwar gesteht er seinen Kontrahenten durchaus zu, dass auch sie »die heiligen Schriften annehmen«, diese jedoch, was ihre Interpretation betrifft, in ihrem Sinn verkehren: Reliqui vero omnes falso scientiae nomine inflati scripturas quidem confitentur, interpretationes vero convertunt (Adv. Haer. III 12,12). Solche ›Pervertierung‹ geschieht, wie Irenäus im Einzelnen bereits zu Beginn seines antignostischen Hauptwerks (Adv. Haer. I 1,1 ff.) zeigt, dadurch, dass die Gnostiker die Schrift ›mythologisieren‹, indem sie sie in das 332 Zur Analyse des Kommentars zum Prolog des Joh-Evangeliums im Einzelnen vgl. jetzt besonders T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 281–294 (auf der Grundlage des von Epiphanius, Haer. 33,27,1–16 überlieferten griechischen Textes). 333 So T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 85. Ebd.: »Im Gesamtkontext geht es dem Ausleger darum, anhand von Joh 1,1–2 zu zeigen, dass der joh. Prolog tatsächlich auf die Äonenspekulation applizierbar ist«, sowie S. 292: »Der Ptolemäer im Bericht des Irenäus will exegetisch zeigen, dass wesentliche Systemkomponenten der ptolemäischen Äonenspekulation mit der apostolischen Lehre des Jesusschülers Johannes kompatibel sind«. Zur Polemik des Irenäus gegen solche Auslegung des Prologs zum Joh-Evangelium vgl. bereits W.v. Loewenich, Johannes-Verständnis, S. 120: »Der Gegensatz, der sich in der Prologexegese verrät, ist … der: geschichtliche gegen spekulative Deutung, Heilsgeschichte gegen freischwebende Spekulation«. 334 So M. Simonetti, Biblical Interpretation in the Early Church, S. 18: »The Valentinians valued the Fourth Gospel especially, for it lent itself to a Gnostic interpretation«.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Schema eines vorgegebenen »Mythos von der (Adv. Haer. I 8,5) bzw. von der ›Wurzel aller Dinge‹ einfügen«335. Grundsätzlich äußert Irenäus seine Kritik an jener gnostischen Kosmogonie vor allem Adv. Haer. I 9,1 ff., indem er seiner ›Beweisführung‹ ( ) eine erste , eine ›Widerlegung‹ seiner Kontrahenten folgen lässt336, eingeleitet mit der Schlussfolgerung: »Nun also ist die Fälschung ihrer Auslegung offenkundig«: Nicht nur dass sie, wie es gleich am Anfang (I 9,1) heißt, »die Schriften misshandeln« und versuchen, »ihre eigenen Erfindungen aus ihnen zu begründen« – generell gilt hier vielmehr auch: »sie reißen ein jedes Schriftwort«, auf das sie sich berufen, aus seinem wahren »d.h. ursprünglichen ›Zusammenhang‹ heraus« ( ), was zugleich heißt: »ils les ont transposès dans le sens de leur système«337. Das heißt auch hier wiederum: Die Schriftauslegung der Kontrahenten des Irenäus steht ihrerseits immer unter einem bestimmten ›Vorzeichen‹, eben jener gnostischen ›Hypothese‹ ( ), die – nach der Auffassung des Irenäus – am Ende geradezu zu einer ›Perversion‹ der Schrift führt: nicht ›naturgemäß‹ ( ), sondern ›widernatürlich‹ ( ) ist der Schriftgebrauch der Kontrahenten des Irenäus338. Konkret heißt dies: »Nachdem sie die ihnen eigene ›Hypothese‹ gebildet haben, sammeln sie Redeweisen und Namen, wie sie sporadisch in der Schrift vorkommen,339 und verkehren ihren ›naturgemäßen‹ Sinn in einen ihnen ursprünglich fremden Sinn – und all’ dies gilt nun im Blick auf ihre Rede über das Pleroma ebenso wie auch über ›alle ihre Erdichtungen‹, wobei sie »freilich gezwungenermaßen das [ursprünglich] gut Gesagte an das von ihnen schlecht Erdachte anpassen«340. Angesichts einer solchen exegetischen Praxis seiner Kontrahenten liegt dem Irenäus nunmehr alles daran, dass »ein jedes [Wort] des [in der Schrift Gesagten] in die ›ihm eigene Ordnung gestellt‹ und auf diese Weise dem ›Leib der Wahrheit‹ eingepasst wird (Adv. Haer. I 9,4), Einordnung also dessen, was die Schrift überliefert hat, in den durch sie selbst gesetzten Kanon – nicht also ›Anpassung‹ der Schrift an jenen ihr ursprünglich fremden Kanon, an dem sich die Schriftauslegung der Gnostiker ausrichtet. Ganz in diesem 335

Adv. Haer. I 2,3, hier konkret hinsichtlich des ›Leidens‹ der Sophia und ihrer ›Umkehr‹. Zu dieser Abfolge ›Beweisführung‹ – ›Widerlegung‹ vgl. C. Markschies, Valentinus Gnosticus, S. 365. 337 So die Übersetzung von A. Rousseau/L. Doutreleau, in: SC 264, S. 141. 338 Vgl. auch Adv. Haer. III 12,12: interpretationes vero convertunt, sowie die Gegenüberstellung der »falschen/lügnerischen Rede« der Häretiker (I 9,5) und des »apostolischen Glaubens« der Kirche (I 10,1–3). Vgl. z.St.C. Markschies, Valentinus Gnosticus, S. 365. 339 Griechisch hier möglicherweise im Sinne einer Redeweise, die der Erklärung bedarf. 340 Adv. Haer. I 3,6. Vgl. auch Adv. Haer. I 1,3 (Ende); I 8,1; 9,4 sowie Adv. Haer. II , Praefatio 1: eligentes adaptare conantur. Zur zentralen Rolle, die in der antignostischen Polemik des Irenäus dem Stichwort adaptatio (und seinen Synonyma) zukommt, vgl. A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 9 f. (und Register, S. 234, s.v.). 336

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Sinne schließt sich bei Irenäus unmittelbar an die Kennzeichnung der Position seiner Kontrahenten als ›falsche‹ bzw. ›lügnerische‹ Rede« ( ) (Adv. Haer. I 9,5) in Adv. Haer. I 10,1–3 eine Darlegung wahren ›apostolischen‹ Glaubens an, aus der man »auch ohne jeden Beweis aufs Deutlichste erkennen kann, dass die von der Kirche verkündete Wahrheit verlässlich« ist und i.U. dazu dasjenige, »was von jenen verfälscht worden ist, nichts anderes als falsiloquium«. Was in diesem Zusammenhang speziell das JohEv und seine Rezeption bei den Gnostikern betrifft, so vermerkt Irenäus zwar ausdrücklich, dass die Gnostiker gerade dieses Evangelium »in reichlichem Maß« gebrauchen (Adv. Haer. III 11,7: plenissime utentes), bei näherem Zusehen beschränkt sich dieser Gebrauch jedoch auf die Benutzung des Prologs zum JohEv ad ostensionem coniugationum suarum, konkret also auf den Nachweis der ›Syzygien‹ im Rahmen der gnostisch-valentinianischen Lehre vom Pleroma und dem damit verbundenen emanatorischen Äonenmodell. Dies ist zunächst ein deutlicher Hinweis auf den hohen Stellenwert, der im Rahmen gnostischer Denkweise dem Mythos vom ›Ursprung aller Dinge‹ ( ) zukommt, begründet jedoch keineswegs eine Sonderstellung des JohEv.s gegenüber den anderen Schriften des Neuen Testaments341. Jener Interpretationskonflikt betrifft nicht das JohEv allein, sondern auch alle übrigen Schriften des Neuen Testaments. In diesem Sinn weist der häufige Gebrauch des JohEv.s im überlieferten gnostischen Schrifttum als solcher noch keineswegs auf eine besondere gnostische Prädisposition des JohEv.s selbst hin, sondern, ebenso wie im Falle der synoptischen Evangelien, zunächst nur auf eine Lesart auch dieser Evangelienschrift unter einem gnostischen Vorzeichen. Weitere Beispiele dafür sind die Einbeziehung von Joh 1,34.39 und 3,18 in den Kontext der valentinianischen Pleroma- und Äonenspekulation, wie Irenäus (Adv. Haer. I 8,5) sie bezeugt, oder auch die entsprechende Auslegung von Joh 20,24: Die Bezugnahme darauf, dass der Apostel Thomas bei der Erscheinung des Auferstandenen nicht anwesend war und damit nur zehn Apostel Zeugen der Auferstehung Jesu waren, wird von den gnostischen Auslegern als ein Hinweis auf die Dekas gedeutet (Adv. Haer. I 18,3), hier (Adv. Haer. I 18,2–4) wiederum im Zusammenhang einer Zusammenstellung von entsprechenden dicta probantia der Schrift für die Tetras, die Ogdoas und die Dodekas. Anknüpfungspunkt für solche Art von Schriftauslegung ist hier jeweils allein das Zahlwort. Ein weiteres Beispiel für solches eher formale Verfahren: Die johanneische Dialektik des ›in der Welt‹– und des ›aus der Welt‹-Seins von Joh 17,11 und 17,14–16 bietet – zusammen mit dem ›Sein aus der Wahrheit‹ von Joh 18,37 – den gnostischen Auslegern von ihren eigenen Prämissen her die Möglichkeit, jenes johanneische ›Sein aus‹ nunmehr – nach dem Zeugnis des 341 Vgl. demgegenüber nur den Satz, mit dem W.v. Loewenich, Johannes-Verständnis, S. 60, das Kapitel ›Die Gnosis‹ beginnt: »Gnosis und johanneisches Christentum sind einander verwandt. Verwandtschaft beruht auf gemeinsamer Abstammung«.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Irenäus (Adv. Haer. I 6,4) jedenfalls – für ihre Lehre von den drei ›Menschenklassen‹ in Anspruch zu nehmen342.

Von solchen Beispielen für eine spezifisch gnostische Auslegung des JohEv.s her gesehen, verfahren die Gnostiker hier, im Blick speziell auf das JohEv grundsätzlich nicht anders als bei den drei ersten Evangelien, und d.h. mit den Worten des Irenäus: »Sie suchen ihren eigenen Aussagen die Parabeln des Herrn, die Sprüche der Propheten oder auch die Reden der Apostel anzupassen ( ), damit ihr eigenes Gebilde nicht ohne Zeugnis bleibe«. Ja, von daher gesehen kann Irenäus seinen Kontrahenten sogar zugestehen, dass auch sie »von den Evangelien ausgehen«343. Im Übrigen aber lässt er auch hier keinen Zweifel daran, dass die Gnostiker dies im Grunde nur aus gleichsam strategischen Motiven tun, um nämlich »ihre eigene Lehre zu befestigen« (suam confirmare doctrinam). Und dementsprechend geht er Adv. Haer. III 11,1 ff. davon aus, dass jener ›Glaube‹, wie er ihn zuvor (III 10) an den ersten drei Evangelien dargelegt hat, gerade auch durch das JohEv. bestätigt wird: Hanc fidem adnuntians Iohannes domini discipulus, und das heißt: Die Absicht des Johannes war es, jenen Irrtum zu beseitigen, der von Kerinth und zuvor schon von den Nikolaiten (Apk 2,6.15) »unter die Leute gebracht worden war, qui sunt vulsio eius quae falso cognominatur scientiae« (Adv Haer. III 11,1). Für Irenäus ist also die Rezeption des JohEv.s durch diejenigen, die sich in lügnerischer Weise ›Gnostiker‹ nennen, in jedem Falle – seien es nun die Anhänger des Kerinth, die Nikolaiten oder auch diejenigen, die sich für ihre Lehre auf Valentinus berufen – ein Missbrauch des JohEv.s gegen dessen ursprüngliche Intention, die doch – so die Argumentation des Irenäus – darin bestand, gegenüber dem Missbrauch durch die Gnostiker die kirchliche regula veritatis zur Geltung zu bringen. Und so macht es auch wenig Sinn, bereits von der durch Irenäus bezeugten ›kirchlichen‹ Rezeption des JohEv.s her auf den gnostischen (oder doch jedenfalls ›gnostisierenden‹) Charakter des JohEv.s selbst zu schließen344. Im Anschluss an Irenäus und den durch ihn bezeugten Interpretationskonflikt um das rechte Verständnis des JohEv.s sind an erster Stelle die von Cle342 Zur gnostischen Konzeption von den drei ›Menschenklassen‹ der ›Hyliker‹, der ›Psychiker‹ und der ›Pneumatiker‹ vgl. Irenäus, Adv. Haer. I 6,1 ff. sowie I 7,5, wo die drei jeweils von Kain, Abel und Seth abgeleitet werden. 343 Adv. Haer. III 11,7: Tanta est autem circa evangelia haec firmitas, ut ipsi haeretici teestimonium reddant eis et ex ipsis egrediens unusquisque eorum conetur suam confirmare doctrinam. Vgl. dazu die Anm. (46) von N. Brox in seiner Ausgabe von Adv. Haer. In ›Fontes Christiani‹ (S. 108): »ex ipsis egrediens etc. beschreibt exakt eine typische gnostische Attitüde aus irenäischer Perspektive: Die Gnostiker gehen so weit auf die wirklichen Fundorte der Wahrheit ein, als es für ihre Werbung von Vorteil ist, anerkennen aber die Autorität der Bibel nicht wirklich«. 344 Zur Fragestellung vgl. jetzt auch T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums im 2. Jahrhundert.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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mens Alexandrinus überlieferten, der ›anatolischen Schule‹ der Valentinianer zugehörigen Excerpta ex Theodoto zu nennen345. Mit Irenäus verbindet sie nicht nur in formaler Hinsicht die Redeweise von den Valentinianern als 346, sondern unter quellenkritischem Aspekt die bereits von O. Dibelius anhand einer Synopse der beiderseits übereinstimmenden Texte nachgewiesene Tatsache, »dass dem Clemens für die §§ 43–65 der Exzerpte dieselbe valentinianische Schrift vorgelegen hat, aus der [auch] Irenäus seine große Darstellung des valentinianischen Systems am Anfang seiner Schrift geschöpft hat«347. Dieser grundlegende Nachweis ist in der neueren Forschung in dem Sinne noch präzisiert worden, dass dem genannten Textzusammenhang in den Exc. ex Theodoto aufseiten des Irenäus die (von F. Sagnard so genannte) ›Grand Notice‹ bei Irenäus, Adv. Haer. I 4,5–7,5, entspricht348. Jeweils unterschiedliche Akzentsetzungen in beiden Textzusammenhängen sind dabei keineswegs ausgeschlossen: Zu diesen Unterschieden gehört speziell im Blick auf die Rezeption des JohEv.s, dass sich der Rekurs auf bestimmte Texte aus diesem Evangelium in den Exc. ex Theodoto sehr viel umfassender darstellt als bei Irenäus, so z.B. im Blick speziell auf die ›Ich bin‹-Worte des JohEv.s. Ob man angesichts dessen sogar, wie es in einer der jüngsten Publikationen heißt349 – von einer ›dominanten Rolle‹ des vierten Evangeliums in den Exc. ex Theodoto sprechen kann, ist jedoch fraglich: Die bloße Quantität an Zitaten oder auch deutlichen Bezügen auf das JohEv ist noch keineswegs ein Indiz für die tatsächliche Nach345 Vgl. die entsprechende Überschrift zu den Exc. ex Theod. bei Clemens Alexandrinus sowie die Unterscheidung zwischen der ›anatolischen‹ (orientalischen) und der ›italischen‹ Schule der Valentinianer bei Hippolyt, Ref. VI 35,5–7. Als Repräsentanten der letzteren nennt Hippolyt ausdrücklich Herakleon und Ptolemäus. Generell zur Unterscheidung beider Schulen: F.-M. Sagnard, La Gnose Valentinienne, S. 524 f., hier (S. 521–561) auch zur Analyse der Exc. ex Theod. Im Einzelnen. 346 So Exc. 2,1; 6,1; 16; 23,1; 25,1. Daneben auch: bzw. (Exc. 17,1; 37) sowie von Theodotua als Autor (Exc. 1,1; 22,1.7; 25,2; 26; 30,1 u.ö.). Vgl. auch Exc. 33: . Auffällig ist freilich, dass in dem großen mit Irenäus gemeinsamen Teil der Excerpta (43,2 bis 65) jeder Verweis auf den jeweiligen ›Verfasser‹ fehlt. Begründet ist dies offensichtlich in der hier gemeinsam mit Irenäus benutzten Quelle. 347 So O. Dibelius, Studien zur Geschichte der Valentinianer, S. 230: »Unseres Erachtens ist die wichtigste und für die quellenkritische Beurteilung der Exzerpte grundlegende Tatsache die, dass dem Clemens für die §§ 43–65 der Exzerpte dieselbe valentinianische Schrift vorgelegen hat, aus der Irenäus seine große Darstellung des valentinianischen Systems am Anfang seiner Schrift geschöpft hat«. Vgl. auch die Synopse der beiderseits relevanten Texte bei W. Völker, Quellen zur Geschichte der christlichen Gnosis, S. 104–120, sowie W. Foerster, Die Grundzüge der ptolemäischen Gnosis, S. 16: »Irenaeus hat in den ersten acht Kapiteln des ersten Buches seines Werkes … einen geschlossenen und abgerundeten Bericht von einem Zweig der valentinianischen Gnosis gegeben. Die gleiche Quelle, der er folgt, hat auch Clemens von Alexandrien in seinen Excerpta ex Theodoto Kap. 43–65 ausgezogen«. 348 F.-M. Sagnard (éd.), Extraits de Théodote (SC 23), S. 153, Anm. 1: »Les deux textes se complétent et séclairent mutuellement … La Grande Notice et les Extraits de Théodote viennent dun mème document«. Zur Relation Irenäus – Exc. ex Theod. In dieser Hinsicht vgl. im Übrigen auch H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 362 ff., speziell S. 366–371. 349 T. Nagel, Die Rezeption des Joh-Evangeliums, S. 357.

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wirkung dieses Evangeliums in einem gnostischen Text. W.v. Loewenich hat seinerzeit in dieser Hinsicht ganz anders geurteilt: »Das JohEvangelium ist in den Exc. ziemlich stark benutzt … Aber von einer Exegese kann man hier schlechterdings nicht mehr sprechen … Im Allgemeinen herrscht die wildeste Allegoristik«350, und die letztere offensichtlich als eines der Instrumente, um auch diese Evangelienschrift ganz in den eigenen, nämlich gnostischen hermeneutischen Horizont zu integrieren: Besonders deutlich zeigt sich dies im Einzelnen in jenem Teil der Exzerpte, die sich, ganz in Entsprechung zur Rezeption des JohEv.s seitens der Valentinianer nach dem Zeugnis des Irenäus, mit dem Prolog zum JohEv. befassen – und das heißt in gnostischer Lesart: Mit dem Pleroma und seinen Äonen. Die Rezeption des JohEv.s steht hier ganz im Kontext eines ›emanatorischen Äonenmodells‹351. Im Einzelnen gilt dies nicht erst für den der ›Großen Notiz‹ bei Irenäus entsprechenden Zusammenhang der Exzerpte 43–65, sondern auch schon für die Exzerpte 6 und 7: So geht es in Exc. 6,2 offensichtlich darum, die Begriffe ›Anfang‹, ›Eingeborener‹, ›Gott‹ vermittels einer spezifisch gnostischen Lesart als eine Reihe zusammengehöriger Äonenbezeichnungen zu erweisen. Damit entspricht die Auslegung von Joh 1,3 in Exc. 6,4 a »exakt der ptolemäischen Exegese dieses Abschnitts«, wie auch Irenäus sie bezeugt352. Ganz im Rahmen der ptolemäischen Auslegung des Prologs, wie Irenäus sie bezeugt (Adv. Haer. I 8,5), bleibt auch Exc. 7,3 a–b: »Was die ptolemäische Auslegung bei Irenäus … herausliest, nämlich dass dieser Vers die Reihenfolge der Emanationen, und in ExcTheod 7,3 a mit Joh 1,18 b illustriert«353. Dies gilt hier (Exc. 7,3) auch im Blick auf die Unterscheidung zwischen einem ›himmlischen‹ und einem ›irdischen Christus‹, mit dem Unterschied nur zur ptolemäischen Auslegung, dass Exc. 7 in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf Joh 1,18 Bezug genommen wird354. – Bemerkenswert ist auch die gnostische Rezeption des ›Ichbin‹-Wortes von Joh 10,7 in Exc. 26,2–3: »Daher, wenn er sagt, ›Ich bin die Tür‹, so sagt er dies: ›Bis zu der Grenze, wo ich bin, werdet ihr gehen, ihr, die ihr dem ausgesuchten Samen zugehört‹. Wenn aber auch er selbst hineingeht, dann wird auch der Same mit ihm hineingehen in das Pleroma, eingesammelt und eingeführt durch die Tür«355. Die ›Tür‹ bedeutet hier offensichtlich nichts anderes als die ›Grenze‹, die die irdische Welt des von der himmlischen Welt des trennt. Ob man darüber noch hinaus aus der Formulierung: »in das Pleroma hineingehen, 350

W.v. Loewenich, Das Joh-Verständnis im zweiten Jh., S. 101. So auch T. Nagel, Die Rezeption des Joh-Evangeliums, S. 344, zu Exc. 6,1–4. 352 T. Nagel, ebd., S. 346. Zur ptolemäischen Auslegung dieses Abschnitts aus dem Prolog (Irenäus, Adv. Haer. I 8,5) vgl. F.-M. Sagnard, SC 23, S. 65, n. 1, sowie T. Nagel, a.a.O., S. 286 f. Zur Sache vgl. bereits G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die Heilige Schrift, S. 89. 353 So T. Nagel, a.a.O., S. 347. 354 Vgl. T. Nagel, a.a.O., S. 347 f., hier (S. 348) auch zur Korrektur der These von F.-M. Sagnard, in: SC 23, S. 65, n. 1, dass es sich in den Exc. 6 und 7 um einen »commentaire identique de Ptolémée« handele. 355 Ob mit dem hier benutzten i.S. von Joh 4,36 f. Zugleich an das Einsammeln der Ernte gedacht ist, bleibt fraglich. Immerhin verweist T. Nagel, a.a.O., S. 349, auf eine valentinianische Auslegung von Joh 4,36 f. »Im Sinne der Seelenernte durch den Erlöser bei Herakleon« (Frgm. 35, zu Joh 4,36 f.). 351

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nämlich zum und zum « im Exc. 22,4 (wie auch für Exc. 26,3!) Auf eine Art gnostischer ›Kreuzestheologie‹ (in der Nachfolge Jesu) schließen kann356, bleibt zweifelhaft. – Eindeutig demgegenüber ist die Rezeption der drei ›Ich bin‹Worte von Joh 14,6; 11,25 und 10,30 in Exc. 61,1, hier offensichtlich i.S. einer Art ›Schriftbeweis‹ für die valentinianische Christologie. Vorausgesetzt ist dabei offensichtlich die Aussage von Exc. 60, in der die beiden Halbverse von Lk 1,35 »auf die pneumatische Herkunft des Leibes des Erlösers und auf die psychische Gestaltung dieses Leibes in der Jungfrau Maria durch den psychischen Demiurgen … gedeutet werden«357. Demgegenüber wird hier, Exc. 61,1, herausgestellt, dass der gnostische Christus, wie ja eben aus den ›Ich-bin-Worten‹ von Joh 14,6; 11,25 und 10,30 hervorgeht, von dem und dem , das er gleichsam ›angenommen‹ hat, unterschieden werden muss – was zugleich bedeutet: Die hier jeweils zitierten ›Ich bin‹-Worte kennzeichnen den Erlöser als eine Gestalt aus dem Pleroma, als ein ›pleromatisches Wesen‹358. – In denselben Sachzusammenhang gehört auch Exc. 61,3 mit seiner Rezeption von Joh 19,34: Hier wird das Hervortreten von ›Blut und Wasser‹ aus der Seite des Gekreuzigten auf die Affekte derjenigen gedeutet, die »den Affekten« [i.S. der ›psychischen‹ Elemente im Pneumatiker] unterworfen sind, was zugleich bedeutet: .– In denselben Sachzusammenhang eines ›psychischen‹ Christus, der als solcher ›zur Rechten des Demiurgen sitzt‹, gehört auch Exc. 62,2 mit einer in der Tat merkwürdigen Deutung von Joh 19,36 f.: ›Gestochen‹ habe die nämlich das ›Sichtbare‹, was ja nichts anderes ist als ›das Fleisch des Psychikers‹ – mit der Schlussfolgerung: 359 . , ’

Ganz im Zusammenhang mit einer gnostischen Pleroma-Spekulation wird das JohEv endlich auch im Rahmen einer gnostischen Eschatologie verstanden, i.S. nämlich einer endgültigen Rückführung in das uranfängliche Pleroma, i.S. also einer restitutio in integrum. Dies gilt vor allem im Blick auf die in den Exzerpta 63,2–65,2 mit dem Bild des ›Hochzeitsmahles der Erlösten‹ entworfene gnostische Eschatologie: Zwar wird hier das JohEv, wie bereits G. Heinrici festgestellt hat360, »nicht direkt als Beweismittel verwertet«, wohl aber werden die entsprechenden »Bilder und Typen der Dar356 So T. Nagel, a.a.O., S. 349: »Das Kreuz Christi ist der Horos, der die irdische von der pleromatischen Welt in soteriologischer Hinsicht trennt. Exc. Theod. 26,3 besagt dann, dass der Kreuzestod Christi den Pneumatikern den Weg ins Pleroma eröffnet«. Desgleichen verweist T. Nagel in diesem Zusammenhang auf die Rezeption von Joh 10,7 in der Naassenerpredigt bei Hippolyt, Ref. V 8,20 f. 357 So T. Nagel, a.a.O., S. 352. 358 Vgl. T. Nagel, a.a.O., S. 352, sowie bereits G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die Hl. Schrift, S. 118 f.: »Wenn derselbe sagt: ich bin das Leben, die Wahrheit, ich und der Vater sind eins (Joh 10,30), so bezeichnet er damit ein pleromatisches Wesen«. Vgl. auch F.-M. Sagnard, La Gnose Valentinienne, S. 533. Ob, was die johanneischen ›Ich-bin‹Worte betrifft, in Exc. 35,1 (und 41,2) neben Joh 1,4 auch ein Bezug auf Joh 8,12 vorliegt (so T. Nagel, a.a.O., S. 343), bleibt fraglich; wenn ja, dann ist auch dieser Text ganz in eine gnostische Pleroma-Spekulation hineingenommen. 359 Zur Problematik dieser Auslegung von Joh 19,36 f. vgl. F.-M. Sagnard, La Gnose Valentinienne, S. 533; ders., in: SC 23, S. 185, n. 1. 360 G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die Hl. Schrift, S. 119 f.

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stellung« dem JohEv entlehnt, ganz so wie dies auch schon bei Irenäus, Adv. Haer. I 7,1, unter der Überschrift »Wenn aber der Same zur Vollendung gekommen ist«, für die Valentinianer bezeugt hat. Konkret heißt dies, dass hier, wie auch sonst häufig in gnostischen Schriften – die eschatologische Vollendung mit dem Bild vom ›Hochzeitsmahl‹ der Pneumatiker illustriert wird, ganz so, wie dies auch Irenäus (Adv. Haer. I 7,1) bezeugt: »Und dies sind Bräutigam und Braut – Brautgemach [also] das ganze Pleroma« – kein Zufall also, dass auch in diesem Zusammenhang auf die ›Hochzeit von Kana‹ des JohEv.s Bezug genommen wird: Der ›Weinmeister‹ von Joh 2,9 ist hier nunmehr identisch mit dem ›Freund des Bräutigams‹ von Joh 3,29, der vor dem ›Brautgemach‹ steht und ›voller Freude‹ ist, denn – so Exc. 65,2 – ›dies ist die Erfüllung ( ) der Freude und der Ruhe ( )‹361. Die Frage, ob solche Aussagen in den Exc. ex Theodoto jeweils mit bestimmten liturgischen Riten oder gar mit einer ›sakramentalen‹ Handlung verbunden sind, muss für die Exc. ex Theodoto – im Unterschied zum ›Mysterium des Brautgemachs‹ im koptischen Philippusevangelium (NHC II /3) – offen bleiben362. Und dies gilt auch im Blick auf den in den Exc. ex Theodoto (32,1) in der Ausrichtung auf das Pleroma entfalteten ›eschatologischen‹ Einheitsgedanken. Bemerkenswert ist gleichwohl, dass im Exc. 36,2 in diesem Sachzusammenhang eine Bezugnahme auf die Taufe Jesu vorliegt: »Deswegen wurde Jesus getauft, weil wir geteilt waren: Das ungeteilte war geteilt bis er [Jesus] uns vereinte ins Pleroma hinein, damit wir«, wie es hier in der Rezeption des Einheitsgedankens des JohEv.s (17,11.21 f.) heißt, »die Vielen Eines werden«. Die Brücke zu einem gnostischen Taufritus wird in diesem Sachzusammenhang endlich durch Exc. 22,3 geschlagen, hier offensichtlich im Anschluss an 1 Kor 15,29: »So sind wir nunmehr auferweckt worden zur Einheit ( )«, was in der Sache wiederum der von Irenäus, Adv. Haer. I 21,3, überlieferten gnostischen Taufformel entspricht: Taufe nämlich »auf den Namen des Vaters aller Dinge, auf die als die Mutter von allem, auf Jesus, der herabgestiegen ist« – und in diesem Sinne zugleich Taufe »zur Einheit und zur Erlösung …«363. Von daher gesehen ist das Résumée hinsichtlich der Rezeption des JohEv.s in den Excerpta ex Theodoto wohl eindeutig: Die relativ zahlreichen Bezugnahmen oder auch Anspielungen auf das JohEv bezeugen einmal mehr, in welchem Sinn hier die ›entsprechenden‹ Texte des Neuen Testaments wahrgenommen und d.h. gnostisch interpretiert werden. J.-M. Poffet hat dies, 361

Zur Formulierung vgl. immerhin Joh 16,24: ! Zu Exc. 63,2–65,1 insgesamt vgl. auch F.-M. Sagnard, La Gnose Valentinienne, S. 536 f., und T. Nagel, a.a.O. S. 354 f. 362 Dazu vgl. R. M. Grant, The Mystery of Marriage in the Gospel of Philipp, S. 129–140; J.-M. Sevrin, Les noces spirituelles dans le Évangile selon Philippe, S. 143–193, sowie A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 76. 363 Dazu: F.-M. Sagnard, La Gnose Valentinienne, S. 416–425, zu Exc. 22,3; ders., in: SC 23, S. 100 f.

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speziell im Blick auf Exc. 26,2 f., auf die Formel gebracht: »Les paroles du Christ sont exactes, mais relues dans la perspective valentinienne: l’entrée des pneumatiques dans la Pléróme«364 – ›Relecture‹ also des Neuen Testaments – genauer: ausgewählter Texte des Neuen Testaments – in einem gnostisch dominierten Kontext. W.v. Loewenich hat in seiner Untersuchung zum »Johannes-Verständnis im zweiten Jahrhundert« seine Analyse der JohannesRezeption in den Exc. ex Theodoto mit dem Urteil geschlossen: »Aber von einer Exegese kann man hier schlechterdings nicht mehr sprechen … Im Allgemeinen herrscht hier die wildeste Allegoristik«365. Nun, letzteres trifft, sofern hier, in den Exc. ex Theodoto, bei aller ›Allegoristik‹ doch ein bestimmter hermeneutischer Schlüssel Anwendung findet, gewiss nicht zu. Gleichwohl ist W.v. Loewenich darin jedenfalls zuzustimmen, dass »von den Exc. aus … erst das rechte Licht auf die exegetische Leistung des Herakleon fällt«. Ein solcher in der Tat auffälliger Unterschied in der Art und Weise der Rezeption des JohEv.s zwischen den Exc. ex Theodoto einerseits und Herakleon andererseits ist zunächst in der unterschiedlichen literarischen Gattung beider Zeugen für die Johannes-Rezeption im 2. Jh. begründet: Hier, in den Exc. ex Theodoto, eine Auswahl bestimmter johanneischer Vorlagen, die dem Autor geeignet erschienen, sie in ein spezifisch gnostisches Rahmenkonzept einzubeziehen; dort dagegen, bei Herakleon, ein wirklicher, wenn auch nur fragmentarisch überlieferter Kommentar zum JohEv, der älteste in der frühen Kirche überhaupt. Schon von daher gesehen hat es mit der JohannesRezeption des Herakleon seine besondere Bewandtnis, und zwar nicht nur mit Blick auf die literarische Gattung des ›Kommentars‹, sondern auch in sachlicher Hinsicht: Kennzeichnend dafür ist nicht zuletzt der Umstand, dass die neueste Monographie zu Herakleon und seinem Kommentar nicht etwa unter dem Titel ›Herakleon Gnosticus‹ erschienen ist, sondern unter dem Titel ›Herakleon Philologus‹366 – und damit bereits eine deutliche Differenz zu jenen älteren Darstellungen anzeigt, die in erster Linie an der Anlyse des ›gnostischen Systems‹ des Herakleon interessiert waren367. Zunächst ist das altkirchliche Zeugnis über Herakleon insofern eindeutig, als auch Herakleon der Schule des Valentinus zugerechnet wird: Irenäus er364 J.-M. Poffet, Indices de Réception de le évangile de Jean aux deuxième siècle, avant Irénée; S. 314 f.: »On pourrait faire le méme observation à propos des autres passages où le auteur comme Jean: le Prologue (Extr. Theod. 6–7; 41,3–4; 45,3), les noces de Cana (Extr. Theod. 65), ou des paroles du Christ, comme dans le passage significatif …«. 365 W.v. Loewenich, a.a.O., S. 101. 366 A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus. – Grundlegend für die Analyse der Fragmente des Herakleon ist nach wie vor F.-M. Sagnard, La Gnose Valentinienne, S. 480–520. Vgl. weiter E. H. Pagels, The Johannine Gospel in Gnostic Exegesis: Heracleon’s Commentary on John, sowie neuerdings bes. T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums im zweiten Jh., S. 127–148. Speziell zu Joh 4 vgl. J.-M. Poffet, La Méthode exégétique d’Héracléon et d’Origène, Commentateurs de Jn 4. 367 Bezeichnend dafür ist der Versuch von W. Foerster, Von Valentin zu Herkleon, S. 3 ff.: »Das System des Herakleon, aus seinen Fragmenten rekonstruiert«.

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wähnt ihn jedoch nur an einer einzigen Stelle (Adv. Haer. II 4,1), und zwar neben Ptolemäus; ebenso Hippolyt, der den Herakleon neben Ptolemäus als einen Repräsentanten der ›italischen‹ Schule der Valentinianer ausweist368. Clemens Alexandrinus schließlich nennt ihn sogar den ›Berühmtesten aus der Schule des Valentinus‹ und überliefert in diesem Zusammenhang auch ein umfangreiches Zitat (Strom. IV 71,2–74,4). Demgegenüber lässt Origenes eine gewisse Zurückhaltung erkennen: »Nur mit Vorbehalt ( ) und ohne [weiteres] Zeugnis meine ich, dass Herakleon ein angesehener [Schüler] der Schule des Valentinus genannt werden kann«369. Zunächst ist deutlich, dass sich aus den von Origenes in seinem Kommentar zum JohEv erhaltenen Fragmenten des Kommentars des Herakleon kein vollständiges ›valentinianisches Lehrsystem‹ rekonstruieren lässt370. Entsprechendes gilt so auch für die Frage der ›Erzählung‹ eines in sich geschlossenen gnostischen Grund-Mythos, angefangen bei dem ur-anfänglichen Fall der Sophia / Achamoth aus dem ursprünglichen ›Pleroma‹ bis hin zu einer gleichsam endzeitlichen restitutio in integrum. Deutlich ist, dass mögliche Vorbehalte des Herakleon gegenüber einem solchen Grund-Mythos der valentinianischen Schule den Gebrauch bestimmter mythischer Elemente, so z.B. den Mythos vom ›Demiurgen‹, durchaus nicht ausschließen371, zumal dann, wenn man mit Herakleon davon ausgeht, dass der im JohEv vorliegende gleichsam vordergründige Text seinerseits auf eine ›hinter‹ ihm liegende Wirklichkeit verweist, die aufzudecken eben die Aufgabe des Auslegers ist372. Konkret – um hier zunächst nur ein Beispiel zu nennen – könnte dies für den ›Valentinianer‹ Herakleon bedeuten, dass für ihn, der zwar nicht eigens den gnostisch-valentinianischen Sophia-Mythos nacherzählt, zum Beispiel die Samaritanerin aus dem 4. Kapitel des JohEv.s ein ›Bild‹ für jene Sophia des 368 Hippolyt, Ref. VI 35,6: Zu denen, »die von Italien sind, gehören Herakleon und Ptolemaios«, sowie Ref. VI 29,1: »Valentinus also, und Herakleon und Ptolemäus und deren ganze Schule«. Zur Frage, ob und inwieweit Herakleon in der Kontinuität der valentinianischen Gnosis steht, vgl. auch J. Holzhausen, Die Seelenlehre des Gnostikers Herakleon, S. 293 mit Anm. 60, zu Fragment 8: »Auch hier folgt Herakleon seinem Lehrer«; s. Valentin fr. 4; vgl. auch ebd., S. 282 f., hier mit Verweis auf Fragment 22: »Dies entspricht vollkommen dem anthropologischen Entwurf, der in Valentins erstem Fragment deutlich wird«. 369 Origenes, In Jo II 14,100. Vgl. z.St.C. Markschies, Valeninus Gnosticus, S. 393 mit Anm. 37. 370 C. Bammel, Art. Herakleon, in: TRE 15, S. 54.47, hier S. 55. 371 Zur Fragestellung in dieser Hinsicht vgl. A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 395 ff., zur »Verbindung des joh. Erzählstoffes mit mythischen Elementen«, hier bes. S. 395 f.: »Die Untersuchung der Herakleon-Fragmente hat gezeigt, dass sich ein Mythos, wie ihn Sagnard rekonstruiert hatte, dort nicht erkennen ließ. Vielmehr zeigt sich bei Herakleon in verschiedenen Punkten eine Distanz zu diesem vermeintlich valentinianischen Mythos … Dass Herakleon an einem gemeinsamen Mythos partizipierte, lässt sich deswegen für seine Johannesauslegung nicht postulieren« – hier freilich sogleich der Zusatz (S. 396): »Allerdings zeigt sich in seinen Fragmenten die Verbindung johanneischer Erzählstoffe mit Elementen, die den Charakter philosophischer Mythen tragen …«. 372 Zur Fragestellung in dieser Hinsicht vgl. vor allem die Untersuchung von E. H. Pagels, The Johannine Gospel and the Gnostic Exegesis, S. 13 ff. und S. 16 ff.

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valentinianischen Mythos darstellt373, und damit im Kommentar des Herakleon nunmehr eine (esoterische) Lehre an den (verständigen) Leser übermittelt wird, »which include the pleromatic and kenomic mythology«374 – und damit am Ende auch der Ausblick auf eine gleichsam eschatologische restitutio in integrum. Mag solche gleichsam ›pneumatische‹ Interpretation über die von Herakleon in dieser Hinsicht gegebenen Signale hinausgehen – zu den von Herakleon aus dem traditionellen valentinianischen Mythos entlehnten Themen gehört in jedem Falle jene Lehre von den ›drei Naturen‹ bzw. ›drei Menschenklassen‹. Was jedenfalls das Verhältnis des Herakleon zur valentinianischen Schule betrifft, so gibt es hier zunächst gewisse Gemeinsamkeiten, zugleich aber auch bemerkenswerte Unterschiede, wobei die letzteren wohl nicht nur darauf zurückzuführen sind, dass Herakleon nur einen – dazu nur fragmentarisch überlieferten! – ›Kommentar‹ zum JohEv verfasst hat, während für die übrigen Zeugnisse der valeninianischen Schule das Anliegen bestimmend war, so etwas wie eine ›Gesamtdarstellung‹ des valentinianischen Systems zu vermitteln. Der ›besondere‹ Charakter dieses Kommentars ist somit offensichtlich, und dies gilt auch im Blick auf die geradezu ›philologisch‹ zu nennende Sorgfalt im Umgang des Herakleon mit dem ihm vorgegebenen Text des JohEv.s. Handelt es sich also vielleicht doch um »the first ›scholarly‹ commentary on the Gospel of John«?375, ›scholarly‹ jedenfalls in dem Sinne, dass Herakleon sich mit seiner Art von Auslegung des JohEv.s durchaus auf der Höhe der zeitgenössischen (philologischen) Exegese befindet. So ist es ohne Frage angemessen, wenn A. Wucherpfennig seine grundlegende Monographie zum Thema mit dem Titel ›Herakleon Philologus‹ überschrieben hat, womit von vornherein betont wird, dass Herakleons Kommentar »in der Tradition hellenistischer Philologie« steht376. Von daher gesehen ist es verständlich, dass auch Origenes im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Herakleons Kommentar seinem Kontrahenten zuzugestehen vermag: , d.h.: »nicht ohne Überzeugung[skraft] sagt er …«377. 373

So F.-M. Sagnard, La Gnose Valentinienne, S. 501 f. So E. H. Pagels, The Johannine Gospel and the Gnostic Exegesis, S. 19. Die deutlichste Bezugnahme auf den valentinianischen Mythos findet sich im Frgm. 18 (zu Joh 4,16 ff.), wo der vom Soter genannte Mann der Samaritanerin von Herakleon offensichtlich auf ihren »Paargenossen vom Pleroma her« bezogen wird. Vgl. z.St.J.-M. Poffet, La méthode exégétique d’Héracléon, sowie bereits W. Foerster, Von Valentin zu Herakleon, S. 16 f. – Des weiteren ist zum Stichwort ›Pleroma‹ bei Herakleon auch auf die Fragmente 13 (zu Joh 2,13) und 22 (zu Joh 4,22) zu verweisen. 375 So C. Markschies, Valeninian Gnosticism: Towards the Anatomy of a School, S. 430. 376 A. Wucherpfennig, Herakleon Philologus S. 372 ff.; vgl. auch C. Markschies, Valentinian Gnosticism, S. 430 f. 377 Origenes, Comm. in Jo VI 23.126. Vgl. auch ebd., VI 39.197 sowie XIII 10.62; XXXII 309. Dazu: C. Markschies, Valentinian Gnosticism, S. 430 f., sowie bereits G. Heinrici, Die Valentinianische Gnosis und die Heilige Schrift, S. 127. 374

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Da es im Folgenden primär um das Thema der Rezeption des JohEv.s im Kommentar des Herakleon geht, ist von vornherein ein paradigmatisches Vorgehen angemessen, und zwar anhand einer der hier besonders deutlich hervortretenden Grundtendenzen seines Verständnisses des JohEv.s. Konkret heißt dies, dass nicht in erster Linie die bei Herakleon erkennbaren Referenzen auf einen gnostischen ›Grundmythos‹ zu berücksichtigen sind, sondern die in seinem Kommentar zum 4. und zum 8. Kapitel des JohEv.s ausgeführte Lehre von den ›drei Naturen‹ bzw. ›drei Menschenklassen‹. Wenn überhaupt, so lassen sich hier wohl am deutlichsten die Übereinstimmungen mit – wie auch die Unterschiede gegenüber – der traditionellen valentinianischen Anthropologie deutlich machen378: Charakteristisch für die Auslegung des JohEv.s durch Herakleon ist, soweit die Fragmente dies noch erkennen lassen, die Konzentration auf das Thema der Anthropologie. Irenäus nennt ihn (neben Ptolemäus) einen Repräsentanten der valentinianischen Äonenlehre (Adv. Haer. II 4,1), das ansonsten bei den Valentinianern hervortretende ›Interesse an den Spekulationen über die Äonenlehre‹ tritt jedoch bei Herakleon, wie bereits G. Heinrici festgestellt hat379, »vor der Erörterung der Kosmologie und Anthropologie« zurück. Und es ist kein Zufall, dass J.-D. Kaestli in seiner Studie »L’exégèse valentinienne du quatrième Évangile« die Frage stellte, ob Herakleon nicht viel eher »un type de gnose sans mythologie« repräsentiere, »ou du moins très sobre dans le récours au mythe?« – mit dem Zusatz am Ende: »Son exegese se situe ainsi clairement dans une perspective anthropologique«380. Die Frage, ob und inwieweit dieses besondere Interesse an der Anthropologie wiederum auf ein besonderes ›ethisches‹ Interesse – und damit zugleich auch auf ein Interesse des Herakleon am ›Seelenheil‹ des Menschen hinweist381 – 378 Zur Fragestellung vgl. bereits G. Heinrici, ebd., S. 133 ff.; F.-M. Sagnard, La Gnose Valentinienne, S. 480–520, sowie neuerdings R. Berthouzoz, Liberté et Gràce, S. 87–140; H. Strutwolf, Gnosis als System, S. 114 ff. 126 ff. 259 ff., sowie zuletzt bes. A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 333 ff. 379 Die Valentinianische Gnosis und die Heilige Schrift, S. 143 f., hier mit dem Zusatz: »Die Grundzüge der gnostischen Psychologie, welche die Ethik in Physik auflöst, treten hier am klarsten hervor«. 380 J.-D. Kaestli, L’exégèse valentinienne du quatrième Évangile, S. 349 und S. 350. Vgl. D. Devoti, Remarques sur l’anthropologie d’Héracléon, S. 143: »on est frappé par l’absence d’une charactéristiques principales de la pensée gnostiques: la dimension mythique; et par contre, par l’absolute priorité que cet auteur donne aux problèmes plus directement anthropoliques«. 381 So K. Rudolph, Die Gnosis, S. 349. Solches Defizit bei Herakleon kann sehr unterschiedlich Ursachen haben: E. H. Pagels, The Johannine Gospel in Gnostic Exegesis, S. 17 ff., verweist auf den entsprechenden Sachverhalt in den Fragmenten des Valentinus, im Brief des Ptolemäus an Flora sowie auf das Evangelium Veritatis von Nag Hammadi und vermutet ihrerseits, dass das mangelnde Interesse des Herakleon an der Entfaltung eines Pleroma- und Äonenmythos darin begründet ist, dass Herakleon entweder für nicht-initiierte Gnostiker schreibt oder – wohl wahrscheinlicher –, dass jener valentinianische ›präkosmische‹ Mythos zu den in seinem Kommentar nicht mehr eigens erwähnten Voraussetzungen seiner Auslegung des Joh-Evangeliums gehört: ebd., S. 18 f.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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oder sich nicht vielmehr einem eher ›spekulativ‹ zu nennenden Interesse verdankt, bleibt gewiss noch zu fragen – in jedem Falle aber: Was die valentinianische Grundlehre von den ›drei Naturen‹ bzw. den ›drei Menschenklassen‹ betrifft, so ist bei Herakleon in der Tat ein bemerkenswerter Unterschied zu den entsprechenden Ausführungen im Referat des Irenäus über die valentinianische Anthropologie sowie in den Excerpta ex Theodoto festzustellen: Während bei Irenäus wie auch in den Exc. ex Theodoto diese Lehre geradezu stereotyp dargelegt wird, und zwar nicht zuletzt auch im Blick auf ihre Begründung in der biblischen Urgeschichte, konkret also in der Rückführung der drei ›Menschenklassen‹ auf Adam (Exc. 54,1)bzw. auf die drei ›Typen‹ der Söhne Adams, Abel, Kain und Seth (Gen 4,17.25)382, stellt sich der entsprechende Sachverhalt bei Herakleon insbesondere im Blick auf die ›Psychiker‹ sehr viel differenzierter dar383. H. Langerbeck hat diese Lehre des Herakleon als »eine Darstellung der valentinianischen Lehre von den drei von ungleich höherem Niveau« charakterisiert, unter der Voraussetzung jedenfalls, dass Herakleon diese Lehre in einem geradezu ›philosophisch‹ zu nennenden Begründungszusammenhang entfaltet384. Solches philosophische Interesse des Herakleon schließt im Übrigen keineswegs aus, dass im Fragment 20 seines Kommentars (zu Joh 4,21) die ›Pneumatiker‹ unmittelbar angesprochen werden, so als seien sie die eigentlichen Adressaten seines Kommentars385. Im Einzelnen ausgeführt wird diese Lehre von den ›drei Menschenklassen‹ bereits in den Fragmenten zum 2. Kapitel des JohEv.s (Fragmente 11 ff.), vor allem aber in den Fragmenten 17–40 zum 4. Kapitel des JohEv.s, hier im Rahmen der Begegnung Jesu mit der Samaritanerin (Joh 4,4 ff.) und der Heilung des Sohnes des Basilikos (Joh 4,46 ff.) sowie in den Fragmenten 41–50 zum 8. Kapitel, im Rahmen der Auseinandersetzung des johanneischen Jesus mit ›den Juden‹. Solche Konzentration der Anthropologie des Herakleon vor allem auf diese beiden Kapitel des JohEv.s schließt jedoch nicht aus, dass bereits im Fragment 2, im Kommentar zu Joh 1,4, das Thema der Anthropologie angesprochen wird, in einem Text- und Sachzusammenhang also, der ansonsten in der valentinianischen Gnosis speziell im Rahmen der Pleromaund Äonenspekulation seinen Ort hat. Im Sinn des Herakleon hat dies programmatische Bedeutung für die Auslegung des JohEv.s unter dem Aspekt der Anthropologie, auch wenn Origenes seinerseits dazu sehr deutlich seiner Kritik am exegetischen Verfahren des Herakleon Ausdruck gibt: , ›recht gewaltsam‹ also verfahre Herakleon auf solche Weise … Was 382 Für Irenäus vgl. Adv. Haer. I 6,1.4; 7,5; 8,3; für Hippolyt vgl. Ref. VI 34,4–8; X 9; für die Exc. ex Theodoto die Exzerpte 54–57. 383 Dazu vgl. die oben (Anm. 378) genannten Arbeiten sowie E. Mühlenberg, Wie viel Erlösungen kennt der Gnostiker Herakleon?; B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre. 384 H. Langerbeck, Die Anthropologie der alexandrinischen Gnosis, S. 67 ff. 385 Vgl. z.St. T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums im 2. Jh., S. 323 f.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

jedoch für Origenes ein exegetischer ›Gewaltakt‹ ist, versteht sich für Herakleon unter der Voraussetzung, dass es sich in den Darlegungen des JohEv.s um die Darstellung eines ›abbildhaften‹ Geschehens handelt, zugleich aber auch unter der hermeneutischen Voraussetzung seines primär anthropologischen Interesses offensichtlich von selbst: Dass bereits hier, im ›Prolog‹ zum JohEv, von ›Pneumatikern‹ die Rede ist, hat i.S. des Herakleon geradezu programmatische Bedeutung für sein Verständnis des JohEv.s insgesamt: Bereits hier wird für die gnostischen Rezipienten seines Kommentars ein deutliches Signal gesetzt, das nun auch im Folgenden ihre Lektüre bzw. ihr Verständnis des gesamten JohEv.s in die entsprechende Richtung lenken soll: »Pneumatiker haben [als solche] Bezug zu jener wahren Quelle des Seins. Sie sind Pneumatiker, insofern sie aus der allein wirklichen leben«386. Was nun solche Exegese des Herakleon im Blick auf Joh 1,4 im Fragment 2 im Einzelnen betrifft, so versteht Herakleon die Wendung »was geworden ist: in ihm war (es) Leben« von Joh 1,4 gegen die hier ursprünglich vorliegende christologische Aussage im anthropologischen Sinn, bezieht also jenes ›in ihm‹ auf den pneumatischen Menschen, der als solcher in der Einheit mit dem Logos sein Leben hat. Die Logik des Herakleon geht dabei offensichtlich dahin, dass das, was ›im Logos‹ ( ) wurde, ein anderes ist als dasjenige, was ›durch ihn‹ ( ) geworden ist. Die naheliegende Frage, ob Herakleon an dieser Stelle seiner Auslegung auf eine in der spätantiken Philosophiegeschichte weitverbreitete ›Metaphysik der Präpositionen‹ zurückgreift, sei hier dahingestellt387; in jedem Fall wird aber mit solcher anthropologischen Deutung von Joh 1,4 von vornherein eine enge Beziehung zwischen dem Logos des Joh-Prologs und dem Menschen, genauer: dem ›pneumatischen‹ Menschen hergestellt, wobei eine gewisse Distanz zwischen dem Logos einerseits und dem ›Pneumatiker‹ andererseits durchaus gewahrt bleibt. Letzteres zeigt sich besonders deutlich dort, wo es im selben Fragment weiter heißt: »Er (d.h. der Logos) gewährte ihnen«, d.h. den Menschen bzw. den Pneumatikern, die »erste Gestaltung [des Werdens] gemäß der Erkenntnis, indem er das, was von einem anderen [von Gott nämlich] gesät worden war, zur Gestalt, zur Erleuchtung und zur eigenen Umgrenzung führte«. Die oft erörterte Frage, ob und inwieweit sich hier eine direkte Beziehung zum valentinianischen Mythus zeigt, demzufolge bei der Erschaffung des Menschen »dem psychischen Gebilde des Demiurgen ohne dessen Wissen ein pneumatischer Same eingesät« wurde388, mag hier auf sich beruhen – in jedem Falle aber wird hier keine substanzhafte Verbindung von Logos und pneumatischem Menschen ausgesagt – denn: »gesät hat ja ein anderer«389. Entscheidend 386

So B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre, S. 153. Zur Terminologie »Metaphysik der Präpositionen« vgl. W. Theiler, Die Vorbereitung des Neuplatonismus; H. Dörrie, Präpositionen und Metaphysik, S. 124–136, sowie A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 141 ff. 388 So B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre, S. 154, hier mit Verweis auf Irenäus Adv. Haer. I 5,6 und Exc. ex Theod. 53,2. Vgl. bereits F.-M. Sagnard, La Gnose Valentinienne, S. 485: »ce sont les termes mèmes de Ptolémée dans son Commentaire (Adv. Haer. I 8,5 h)«. 389 So mit Recht T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 324, hier mit der Fortsetzung: »Herakleon vertritt keinen ontologischen Heilsautomatismus, bei dem eine sub387

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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ist in jedem Falle eben jene ›Gestaltwerdung‹ ( ), die – wie die weiteren Fragmente des Herakleon insbesondere zum 4. Kapitel des JohEv.s am Beispiel der Samaritanerin zeigen – ganz konkret in der Begegnung mit dem johanneischen Jesus geschieht. So gesehen vertritt Herakleon in der Tat »keinen ontologischen Heilsautomatismus, bei dem eine substantielle Identität von Erlöser und Erlösten vorausgesetzt ist«390, sondern eher eine Theologie bzw. Christologie der »reine[n] Gabe und Gnade«391. In diesem Sinne werden von Herakleon bereits in seinem Kommentar zum Prolog des JohEv.s die entscheidenden theologischen Akzente gesetzt, die sich von der traditionellen gnostischen Anthropologie i.S. einer ›Lehre von den drei Naturen‹ grundsätzlich unterscheiden, indem sie ein ›naturhaftes‹ Verständnis jener Lehre (i.S.des Referats des Irenäus über die Anthropologie der Valentinianer oder auch i.S. der Exc. ex Theodoto) relativieren. Dies geschieht im Kommentar des Herakleon auch im Folgenden, so etwa im Fragment 13 (zu Joh 2,13–16), nach B. Aland geradezu »Ein Hauptbeleg für die Naturenlehre Herakleons«392, oder auch im Fragment 15, wo das Wort Jesu von der »Aufrichtung des Tempels in drei Tagen« (Joh 2,19) zunächst ganz i.S. der traditionellen ›Drei-Naturen-Lehre‹ auf den ›choischen‹, ›psychischen‹ und auf den ›pneumatischen Tag‹ bezogen wird.

Solcher Art einer anthropologischen Trichotomie von ›Geist‹, ›Seele‹ und ›Materie‹, der die Dreiheit von Logos, Demiurg und Teufel korrespondiert, entspricht im Kommentar des Herakleon zum 4. Kapitel des JohEv.s die Samaritanerin als Urbild der ›Pneumatiker‹, sodann, was die ›Psychiker‹ betrifft, im selben Kapitel (Joh 4,46 ff.) der Sohn des und, was endlich die ›Hyliker‹ bzw. ›Choiker‹ betrifft, im 8. Kapitel des JohEv.s die Gesamtheit der ›Juden‹. In der Art und Weise, in der diese drei Prototypen im Kommentar des Herakleon jeweils dargestellt werden, geht es immer zugleich um die Demonstration der unterschiedlichen Möglichkeiten des Menschseins angesichts der Sendung des Soter in die Welt, genauer noch angesichts des Menschseins in der Begegnung mit Jesus als dem Soter. Gewiss handelt es sich bei den (von E.H. Pagels so genannten) ›anthropological levels‹ der ›Pneumatiker‹, der ›Psychiker‹ und der ›Choiker‹ auch bei Herakleon um ›ontological levels‹, die jedoch i.S. des Herakleon nicht – oder stantielle Identität von Erlöser und Erlöstem vorausgesetzt ist«. Anders freilich E.H. Pagels, The Johannine Gospel in Gnostic Exegesis, S. 34: »Heracleon assums that the savior and those human beings who are ›pneumatics‹ are essentially identical«. 390 So T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 324, hier mit der Fortsetzung: »Allerdings macht er damit eine prädestinatorische Aussage in Hinsicht auf die Menschen, die er als Pneumatiker bezeichnet«. 391 So B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre, S. 154: »Unbezweifelbar ist jedenfalls, dass diese Gestaltwerdung, wann immer sie anzusetzen sei, reine Gabe und Gnade ist. Damit befindet sich Herakleon im Gegensatz zu Origenes«. Den ›Gnaden‹-Charakter der valentinianischen Anthropologie hat im übrigen bereits G. Quispel, La conception de l’homme dans la Gnose Valentinienne, S. 43, betont: »… la gnose valentinienne est une mystique qui met l’accent sur la gràce et l’election«. Vgl. Ebd., S. 57, sowie L. Schottroff, Animae naturaliter salvandae, S. 85 f.: Die ›naturhafte‹ Rettung des Pneumatikers ist »reine Gnadengabe der Gottheit«. 392 B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre, S. 161 f.

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doch nicht in jedem Fall – auf einen gleichsam ›naturhaften‹ Determinismus reduziert werden können393. Konkret gilt dies zunächst insbesondere im Blick auf die Samaritanerin aus dem 4. Kapitel des JohEv.s: Wenn ihr bzw. ihrer ›Geschichte‹ die Fragmente 17–34 aus dem Kommentar des Herakleon gewidmet sind, so lässt sich bereits daraus entnehmen, dass dieser Samaritanerin, eben als der Repräsentantin der Pneumatiker, das besondere Interesse des Herakleon gilt. Und von daher gesehen ist auch deutlich, dass sich die Anthropologie des Herakleon von der valentinianischen Anthropologie, wie sie Irenäus für Ptolemäus und Clemens Alexandrinus in seinen Excerpta ex Theodoto für die ›italische Schule‹ der Valentinianer bezeugen, in einem erheblichen Maß unterscheidet – auch wenn Herakleon z.B. in den Fragmenten 13 oder 15 bestimmte Voraussetzungen dieser Art von Anthropologie durchaus teilt. Die eigene Art der Anthropologie des Herakleon zeigt sich vor allem in dem in den Fragmenten 17–27 vorliegenden Kommentar zu Joh 4,14 ff. zur ›Geschichte‹ der Samaritanerin, in deren Verlauf sich die – von ihrer Vergangenheit (Fragment 18!) eher der ›hylischen‹ Natur zugehörige – Samaritanerin bei ihrer Begegnung mit dem Soter geradezu zum Prototyp des ›pneumatischen‹ Menschen wandelt. In dieser Geschichte geht es in diesem Sinne um einen Erkenntnisprozess, der sich nicht (deterministisch!) auf eine gleichsam ein für allemal fixierte ›Natur‹ des Menschen reduzieren lässt. Hier wird vielmehr an der Begegnung der Samaritanerin mit dem Soter gleichsam paradigmatisch an dieser Gestalt die Geschichte einer Verwandlung zum ›pneumatischen‹ Menschen demonstriert. Und es ist wohl auch kein Zufall, dass zum Fragment 23 (zu Joh 4,23) Origenes die programmatische Aussage Jesu von Lk 19,10 einbringt, das Wort Jesu vom ›Suchen nach dem Verlorenen‹394. Die Begegnung Jesu, des Soter, mit der Samaritanerin, wie Herakleon sie in den Fragmenten 17–39 auf Grund von Joh 4,4–42 darstellt, ist darin zunächst eindeutig, dass die Samaritanerin am Ende den Prototyp des ›Pneumatikers‹ verkörpert: Die Samaritanerin, gehört zu denen, die Gott ›im Geist und in der Wahrheit anbeten‹ (Joh 4,24). ›Pneumatikerin‹ ist sie jedoch keineswegs von vornherein. Hier ist insbesondere auch das Fragment 18 (zu Joh 4,16 ff.) zu nennen: Im Verlauf des Gesprächs Jesu mit der Samaritanerin, konkret angesichts der Frage Jesu nach dem Ehemann der Samaritanerin (Joh 4,16–18), offenbart sich die ganze – und damit auch ihre Zugehörigkeit zur ›Klasse der Hyliker‹. Der weitere Verlauf des Gesprächs zeigt nun freilich, dass die Samaritanerin, mit ihrem ›hylischen‹ 393 Zum Problem in dieser Hinsicht E. H. Pagels, The Johannine Gospel in Gnostic Exegesis, S. 52 ff. 86 ff. und 98 ff., hier auch zu einer »theology of election« i.U. zu einer »theology of identification« (S. 91). B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre, S. 153. 166, spricht in diesem Zusammenhang von einer »Beziehungssituation«. 394 So im Anschluss an die Aussage des Herakleon: »Verlorengegangen ist – wie Herakleon sagt – in der tiefen Materie, was dem Vater verwandt ist, was gesucht wird, damit der Vater von denen, die ihm verwandt sind, angebetet wird …«. Zur Auslegung von Joh 4 im Kommentar des Herakleon (Fragmente 17–39) vgl. J.-M. Poffet, La méthode exégétique d’Heracleon et d’Origène, S. 20–112.

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Stand keineswegs ein für allemal determiniert ist, sondern, so jedenfalls nach Fragment 20, ›gleichsam‹ zu den Pneumatikern gezählt wird, die, so nach Fragment 24, auf pneumatische Weise anbeten, denn die Pneumatiker sind es ja, die »weder die Schöpfung noch den Demiurgen, sondern den Vater der Wahrheit« anbeten. Dementsprechend sind sie es auch, die – so wiederum nach Fragment 24 – i.S. von Röm 12,1 die ›vernünftige‹, dem Logos entsprechende Art der Anbetung Gottes vollziehen. So gesehen steht die Samaritanerin – nach dem Zeugnis von Fragment 37 – nach ihrer Begegnung mit Jesus zugleich prototypisch für die ›pneumatische Kirche‹, für jene Kirche also, die Gott »im Geist und in der Wahrheit« anbetet.

Gilt dies nun aber, was jedenfalls Gestalt und Geschichte der Samaritanerin betrifft, auch schon, wiederum prototypisch, im Blick auf eine Wandlung der Psychiker? – solche Frage ist durchaus berechtigt, zumal nicht zu übersehen ist, dass in der Darstellung des Herakleon der ›hylische‹ Zustand der Samaritanerin vor ihrer Begegnung mit dem Soter und hier insbesondere ihre ›Unkenntnis Gottes‹ als Ursache für ihren heillosen Zustand ganz analog zu ›den Juden‹ von Joh 8 im Fragment 47 (zu Joh 8,44) beschrieben wird: Seine, des ›Juden‹, Natur ist ja, wie es hier heißt, »nicht aus der Wahrheit, sondern (vielmehr) aus dem Gegensatz der Wahrheit«, nämlich »Verirrung und Unkenntnis«. Dieser Kennzeichnung ›der Juden‹ wiederum entspricht auch im Fragment 40 (zu Joh 4,46 ff.) die Kennzeichnung des Sohnes des ›Basilikos‹ als Prototyp der ›Psychiker‹: »in Unwissenheit und in Sünden« befand sich dieser395. Was also das Stichwort der betrifft, so gibt es hier durchaus einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen ›Klassen‹ der ›Pneumatiker‹, der ›Psychiker‹ wie auch(!) der Hyliker. Sollte es i.S. des Herakleon nicht auch für die ›Psychiker‹ in der Begegnung mit dem Soter die Möglichkeit einer Wandlung geben? Was aber zunächst wiederum die Samaritanerin von Joh betrifft, so ist sie nach Herakleon offensichtlich in der Tat »a symbol for the pneumatics«, genauer noch »an image of peumatic redemption«396, dies jedoch nicht i.S. einer gleichsam durch ihre ›Natur‹ Geretteten, sondern auf Grund bzw. infolge ihrer Begegnung mit dem Soter, i.S. also einer dynamischen, um nicht gleich zu sagen: soteriologischen Kategorie397. Hier ist offensichtlich von vornherein jeder ›von Natur her‹ bestehende Status, damit aber auch jeder anthropologische Determinismus ausgeschlossen, denn der Logos (des 395

Zu diesem Zusammenhang zwischen den Fragmenten 19,47 und 40 zum Stichwort vgl. A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 281. So E. H. Pagels, The Johannine Gospel in Gnostic Exegesis, S. 68 und S. 86 ff. 397 Dazu vgl. T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 330–332, hier S. 332: »Das Äquivalent zum joh. Glaubensbegriff bildet dann die Erkenntnis des Vaters, die für den Pneumatiker einhergeht mit der Erkenntnis der eigenen Verwandtschaft mit dem Vater. Diese ist eindeutig vorgeordnet, aber zu ihrer Erkenntnis bedarf es der Begegnung mit dem Soter, der vom Vater in die Welt gesandt wurde«. Vgl. auch B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre, S. 153: »Es wird lediglich das Beziehungsverhältnis deutlich gemacht: Pneumatiker haben Bezug zu jenem wahren Quell des Seins. Sie sind Pneumatiker, insofern sie aus der allein wirklichen leben«. 396

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Prologs zum JohEv) ist es ja, der – wie es im Fragment 2 des Herakleon heißt – den Pneumatikern »die erste Gestaltung ( ) des Werdens« gewährt398. Mit Recht stellt J. Holzhausen in seiner Untersuchung zur »Seelenlehre des Gnostikers Herakleon« in diesem Zusammenhang die Frage nach einer zweiten ›Gestaltung‹. Zwar besitzt der Pneumatiker ›von Natur aus‹ einen Samen, der aber offensichtlich durch eine zweite ›Gestaltung‹ gleichsam noch ergänzt werden muss. In diesem Sinne wäre zumindest zu fragen, ob nicht im selben Fragment 2 ein Hinweis darauf gegeben ist, dass eben jener Logos nun auch das »Gesäte zur Gestalt(ung) und zur Erleuchtung« führt – und diese zweite »Gestaltung ereignete sich in diesem Sinne in der Begegnung mit Christus, denn: ›Erkenntnis ist nur möglich durch den Abstieg des Erlösers; natürliche Erkenntnis [aber] kann sich nur auf das Geschöpfliche beziehen. Erst in der Begegnung mit dem Heiland kann ein Mensch seine geistige Bestimmung verwirklichen«399. Und in diesem Zusammenhang hat dann schließlich auch jene valentinianische Metapher von der Vereinigung der Seele mit ihrem himmlischen ›Paargenossen‹ ( ) ihren Ort, wie sie Herakleon an der Begegnung des Soters mit der Samaritanerin am Jakobsbrunnen von Joh 4 demonstriert.

Eine solche in naturhaften Kategorien nicht zu erfassende paradigmatische Begegnung der Samaritanerin mit dem Soter bleibt jedoch nicht bei der bloßen Feststellung der Zugehörigkeit der Samaritanerin zu jenen stehen, die »Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten«, sondern setzt sich gleichsam fort in der Begegnung der Samaritanerin mit den Psychikern, konkret also in einer gleichsam missionarischen Aufgabe der Samaritanerin: Nachdem sie selbst – so nach Fragment 27 – den Soter erkannt hat, kehrt sie in die Welt zurück, um der ›Berufung‹ ( ) die ›Parusie Christi‹ zu verkünden, denn: »durch den Geist und von dem Geist wird die Seele zum Soter geführt«400. Auch wenn also von Herakleon zunächst zwischen den ›Pneumatikern‹ einerseits und den ›Psychikern‹ andererseits unterschieden wird und im Verständnis von Joh 4,7–42 einerseits und Joh 4,46–54 andererseits ›two types of conversion‹ unterschieden werden, so gibt es doch hier i.S. des Herakleon offensichtlich so etwas wie einen »transition«, einen ›Übergang‹ also »from the psychic to the pneumatic topos«401.

398 Kritisch dazu neuerdings A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 336–342: »Die Samaritanerin als Pneumatikerin?« – mit dem Argument, dass nur Origenes(!) die Samaritanerin eine ›Pneumatikerin‹ nennt. Vgl. auch ebd., S. 341, Anm. 43 (gegen T. Nagel) und S. 342. S. 341: »Fragment 31 verdeutlicht, dass darin kein exklusives Verständnis einer Klasse von Erwählten impliziert ist, der allein die Erlösung vorbehalten ist«. 399 So J. Holzhausen, Die Seelenlehre des Gnostikers Herakleon, S. 286. 400 Vgl. z.St.B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre, S. 169, hier mit dem Zusatz: »Es wird exegetisch kaum zu bezweifeln sein, dass hier ›die Seele‹ ein Synonym für die im vorhergehenden Satz erwähnte ›Berufung‹, d.h. die Psychiker, ist«. 401 So E.H. Pagels, The Johannine Gospel in Gnostic Exegesis, S. 83–97, hier speziell S. 96 f.

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Dies gilt umso mehr für die ›Psychiker‹, deren Urbild nach Fragment 40 der Sohn des ›kleinen Königs‹, also des Demiurgen von Joh 4,46 ff. darstellt, und zwar als der in der Begegnung mit Jesus Geheilte: Seine ›Krankheit‹, das war i.S. des Herakleon im Grunde nichts anderes als sein einstiger Zustand »in Unkenntnis und in Sünden«, aus dem ihn der Soter befreit hat. Besteht damit nun auch für ihn, den ›Psychiker‹, die Möglichkeit, nun auch seinerseits in den Stand des ›Pneumatikers‹ zu gelangen? Charakteristisch in dieser Hinsicht ist ja bereits die eigenartige, offensichtlich symbolische Ortsbezeichnung im Rahmen der Erzählung von der Heilung des Sohnes des : Er, der vom Soter zu Heilende, befand sich in Kapernaum, was zugleich heißt: ›im untersten Teil der Mitte‹. Der Ort Kapernaum steht hier – eben i.S. einer ›symbolischen Topographie‹ – für das ›Äußerste der Welt‹, d.h. für den ›hylischen Ort, in den er hinabgestiegen ist‹ – unverschlüsselt gesagt: Der Sohn jenes Beamten befand sich an seinem [des ›Psychischen‹] ›untersten Teil, der an die Materie grenzt. Er hat sich dem Materiellen zugewandt und befindet sich deshalb nicht im Einklang mit seiner [ursprünglichen] Natur … Aber in der Begegnung mit Christus erfährt der Psychiker Heilung, indem ihm seine Sünden vergeben werden‹.402 Von solchen Zeugnissen her gesehen hat es offensichtlich mit den Psychikern, die nach Herakleon den größten Teil der Menschheit ausmachen403, eine besondere Bewandtnis, indem sie nämlich eine Art Zwischenstellung zwischen den ›Pneumatikern‹ einerseits und den ›Hylikern‹ andererseits einnehmen. Es ist ein gleichsam ambivalenter Ort, an dem sie sich befinden, ein Ort nämlich, an dem die Entscheidung über die jeweilige Richtung bzw. ›Hinneigung‹ ( ) zuallererst noch zu treffen ist. Denn die vom ›Demiurgen‹, dem von Joh 4,46 ff., stammende ›Seele‹ ist – nach Fragment 40 – keineswegs ›unsterblich‹, sondern allenfalls »fähig ( ) zur Rettung«. Und von einer ›Errettung‹ oder auch ›Erlösung‹ dieser Seele kann (nach Fragment 40) erst dann die Rede sein, wenn »das Vergängliche umkleidet wird mit Unvergänglichkeit und das Sterbliche mit Unsterblichkeit« (1 Kor 15, 54). Die Frage, ob es sich bei solcher Konzeption von 1 Kor 15,54 bei Herakleon um eine Art ›eschatologischen Ausblicks‹ (i.S. einer futurischen Eschatologie) handelt, sei hier dahingestellt; eindeutig ist jedenfalls, dass mit jenem ›fähig zur Rettung‹ ( ) vom Fragment 40 eine Möglichkeit der Soteria angedeutet wird, dasjenige also, 402 So J. Holzhausen, Die Seelenlehre des Gnostikers Herakleon, S. 292. – Zur symbolischen Topographie im Frgmt. 40 vgl. E. H. Pagels, a.a.O., S. 52.85. Zur Interpretation von Frgmt. 40 insgesamt vgl. B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre, S. 161 ff. 171 ff., sowie A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 247–331 sowie S. 350–353. 403 Vgl. Frgmt. 37 (zu Joh 4,39), wo die ›Vielen‹, von denen Joh 4,39 die Rede ist, auf die ›Psychiker‹ gedeutet werden. Demgegenüber vgl. Exc. ex Theodoto 56,2: »Viele zwar sind die Hyliker, nicht viele dagegen die Psychiker«. Speziell zu den letzteren vgl. D. Devoti, Rémarques sur l’anthropologie d’Héracléon: les psychiques, S. 143–151.

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was E.H. Pagels »a capacity for attaining salvation« genannt hat404, eine Möglichkeit oder auch ›Aufnahmefähigkeit‹, deren Aktualisierung freilich nicht einfach in der ›Natur‹ des Psychikers liegt; und dies zumal dann, wenn es vom Psychiker im selben Fragment heißt, dass eben ihm jenes Wort des Soter von Joh 4,48 gilt: »Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht« und wenn dabei zugleich die Psychiker getadelt werden, weil sie »nicht dem Wort [des Soter] glauben«, sondern erst »durch sinnliche Wahrnehmung« ( ’ ) zum Glauben gelangen405. Bei alledem wird man aus dem Fragment 46 (zu Joh 8,44) – »Dies ist nicht gesagt zu denen, die ›von Natur Söhne des Teufels‹ sind, nämlich zu den Choikern, sondern zu den Psychikern, die , d.h. durch eigene ›Setzung‹, Söhne des Teufels geworden sind, von denen einige ihrer Natur wegen ›Söhne Gottes‹ genannt werden können« – durchaus die Schlussfolgerung ziehen können, dass hier am Ende doch so etwas wie eine Willensentscheidung der Psychiker wirksam zu werden vermag: also im Unterschied zu , was dann hieße: »durch eigene Setzung« oder auch »durch den eigenen Entschluss«406, nicht also ›durch Adoption‹ (A. Wucherpfennig), im Gegensatz zu i.S. einer gleichsam natürlichen Kindschaft. Sehr viel deutlicher wird solche Stellung der Psychiker zwischen den Hylikern einerseits und den Pneumatikern andererseits im Übrigen bereits von Irenäus zur Aussage gebracht, wenn es Adv. Haer. I 6,1 bei ihm heißt, dass der Psychiker in seiner Zwischenstellung durchaus die Möglichkeit einer , d.h. der ›Hinneigung‹ in die eine oder in die andere Richtung, zum Hyliker also ebenso wie zum Pneumatiker. In diesem Sinne ist es auch durchaus naheliegend, von einer des Psychikers zu sprechen, und zwar i.S. einer ›Hinneigung‹ des ›Psychischen‹ zum ›Pneumatischen‹: Annäherung also des ›Psychischen‹ an das ›Pneumatische‹, und zwar i.S. einer gleichsam ›gemeinsamen Erziehung‹407 – insgesamt also ein Prozeß, der – im Übrigen – die Feststellung des Herakleon im Fragment 27 nicht ausschließt, dass »durch den Geist und von dem Geist die Seele dem Soter zugeführt wird«. 404

E. H. Pagels, The Johannine Gospel in Gnostic Exegesis, S. 113. Zum Stichwort ›Fähigkeit, Potenz‹ vgl. auch Exc.ex Theodoto 56,3: »Das »psychische Geschlecht« hat die ›Fähigkeit‹ zum Glauben – und damit auch zur . Zur Sache vgl. auch Exc. ex Theod. 57,1. 405 T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 334, vermutet hier eine gleichsam »zweigliedrige soteriologische Konzeption« des Herakleon. 406 Vgl. auch T. Nagels Übersetzung (ebd., S. 328): »Das ist nicht gesagt zu denen, die von Natur aus … Söhne des Teufels sind, den Choikern, sondern zu den Psychikern, die willentlich ( ) Söhne des Teufels geworden sind, von denen einige auch wegen ihrer Natur Söhne Gottes aus Vorsatz ( ) genannt werden können«. Ebd.: »Die ambivalente Natur des Psychikers … ist wesentlich durch die Möglichkeit zum Willensentscheid für oder gegen das Heil gekennzeichnet«. 407 Zum Stichwort vgl. auch Exc. ex Theodoto 56,3: »Selbstbestimmung der Seele« i.S. der Unterscheidung zwischen Heil oder Unheil, positiv also i.S. einer »Versetzung ( ) aus der Sklaverei in die Freiheit«.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Die traditionelle, durch Irenäus und die Excerpta ex Theodoto bezeugte valentinianische Lehre von den ›drei Menschenklassen‹ liegt also bei Herakleon in einer ganz eigenen Prägung vor. In negativer Hinsicht heißt dies zunächst, dass es unangemessen ist, diese Lehre i.S. der Alternative eines (durch die jeweilige Physis bedingten) Determinismus einerseits und einer freien Entscheidung des Menschen i.S. jener des Irenäus andererseits zu deuten. Von den von Herakleon im Einzelnen ausgeführten konkreten Beispielen her gesehen geschieht die entscheidende Veränderung nicht gleichsam ›automatisch‹, bedingt also durch die jeweilige ›Natur‹, sondern erst in der jeweils konkreten Begegnung mit dem Soter. Und die Voraussetzung dafür ist der »Wille des Vaters, dass die Menschen den Vater erkennen und [so] gerettet werden« oder auch »das ist zugleich das Werk des Erlösers, um dessen willen er nach Samaria, d.h. in die Welt gesandt worden ist« (Fragment 31). So gesehen steht die Soteriologie, die hier, in den Fragmenten des Herakleon, entfaltet wird, nicht oder jedenfalls nicht von vornherein unter dem Vorzeichen eines (anthropologischen) Determinismus, sondern unter dem Vorzeichen der Theologie und der Christologie. Es ist gewiss kein Zufall, dass T. Nagel zum Fragment 31 des Herakleon bemerkt hat: »Diese Aussage hat fast den Charakter einer Zusammenfassung im johanneischen Sinne«408. Hier gibt es am Ende offensichtlich gar keinen Unterschied mehr zwischen den Pneumatikern und den Psychikern: Vor ihrer Begegnung mit dem Soter galt ja für beide das »Verlorensein in der tiefen Materie des Irrtums« Fragment 23) – aber: Das ›Verlorene‹ wird eben ›gesucht‹ – und gelangt auf diese Weise zu seiner eigentlichen, gleichsam ›natürlichen‹ Bestimmung, zur Anbetung nämlich des Vaters »im Geist und in der Wahrheit«. Dies ist in der Tat eine gänzlich eigenständige Art von Rezeption der valentinianischen Lehre von den drei ›Menschenklassen‹, und man kann am Ende sogar fragen, ob die hier, bei Herakleon (nur fragmentarisch!) vorliegende Lehre als solche nicht auch in einem Zusammenhang mit der ›Gnadenlehre‹ des Paulus steht409. – Festzuhalten bleibt bei alledem aber auch, dass es bei Herakleon, was jene ›Zwischenstellung‹ der Psychiker betrifft, nun eben auch andere Möglichkeiten gibt, nämlich – um hier noch einmal die Terminologie des Irenäus aufzunehmen – ›Hinneigung‹ ( ) der Psychiker zu den ›Hylikern‹ bzw. – wie Herakleon sie nennt – zu den ›Choikern‹ ( ). In dieser Hinsicht ist die Terminologie in den gnostischen Quellen durchaus variabel: Der Terminus , den Herakleon nur einmal (im Fragment 46) benutzt, 408 T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 329. Vgl. ebd., S. 324 (zu Fragment 24): »Die Anlage des Pneumatikers beinhaltet die Fähigkeit zum Glauben, die sich aber erst in der Begegnung mit dem Soter zeigt. Dabei [erst] wird seine wahre Natur offenbar«. 409 So J. Holzhausen, Die Seelenlehre des Gnostikers Herakleon, S. 294 ff., hier S. 296: »Diese Prädestinationslehre hat ihren Ursprung in der paulinischen Gnadenlehre. Die pneumatische Anlage ist Geschenk, kein Verdienst«.

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und zwar i.S. derjenigen, die ›von Natur Söhne des Teufels‹ sind (i.U. zu den ›Psychikern‹, die erst ›Söhne des Teufels‹ geworden sind, geht auf die entsprechende biblische Vorlage zurück, nämlich auf den von Gott geschaffenen ›irdischen‹ Menschen von Gen 2,7 (LXX ), der als solcher nichts anderes als ›irdisch‹ ist, d.h. von Erde und Staub genommen410. Der Unterschied der Aussage zu Gen 1,27 ist deutlich und hat im Übrigen bereits Philon Anlass zum Entwurf einer Lehre von drei Arten von Menschen gegeben, einschließlich einer Zwischenstellung der ›Seele‹ und ihrer Potenz zum Guten wie auch zum Bösen411. Was nun die Lehre der Valentinianer von den drei ›Menschenklassen‹ betrifft, so ist auch hier wieder, was die Austauschbarkeit von und betrifft, an erster Stelle Irenäus zu nennen: in Adv. Haer. I 6,1 entspricht in I 6,2 . I 7,5 wird als letztes Glied in der Reihe der Menschenklassen das genannt, dazu entsprechend I 8,3 wiederum das . Ganz analog unterscheiden auch die Excerpta ex Theodoto (54,2) sowie Tertullian, Adv. Valentinianos 29: choicum (salute degeneratum) – animale (mediae spei deliberatum) – spirituale (certae salute praeiudicatum). Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch noch auf Hippolyt zu verweisen, der im Rahmen einer Auslegung von Eph 2,17 bzw. Jes 57,19 in seinem Referat über die Naassener in Ref. V 8,22 und X 9,1 f. sowie in seinem Referat zur Anthropologie der Gnostiker Justin und Baruch ganz analog verfährt. Und nicht zuletzt ist auch noch das Fragment 15 des Herakleon zu nennen, in dem die ›drei Tage‹ von Joh 2,19 als , als und als bezeichnet werden412.

Kommt man von diesen terminologischen Fragen zur Sache selbst, so erscheint das Urteil, das Herakleon in den Fragmenten 44–47 auf Grund von Joh 8,44 über ›die Juden‹ als die ›Choiker‹ schlechthin fällt, eindeutig: Die ›Choiker‹ können das Wort Jesu gar nicht hören (und verstehen), weil sie ihren Ursprung – und damit auch ihr Wesen – ›vom Teufel her‹ haben. Die Schlussfolgerung aus einer solchen ›Genealogie‹ scheint somit eindeutig zu sein: Spätestens hier in den Fragmenten des Herakleon handelt es sich nun in der Tat um ein deterministisches Verständnis der sog. Choiker, im Unterschied also zu den ›Pneumatikern‹ wie auch zu den ›Psychikern‹. Gibt es bei den letztgenannten in der valentinianischen Gnosis wie auch bei Herakleon selbst durchaus noch gewisse ›Übergänge‹ von der einen ›Menschenklasse‹ in die andere413, so liegen nunmehr die Dinge bei jener dritten Klasse der 410 Der Terminus findet sich bei Herakleon – abgesehen vom Frgmt. 46 – noch einmal im Frgmt. 15 (zu Joh 2,19) speziell zu den hier genannten ›drei Tagen‹, wobei der erste Tag als der ›irdische‹ Tag gedeutet wird, der zweite entsprechend als der ›psychische‹ Tag und endlich der dritte als der ›geistliche‹ Tag. Zum Ganzen vgl. A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 77 ff. 411 Dazu im Einzelnen: E. Schweizer, Art. , in: ThWNT IX , S. 465,7 ff. und S. 463,11 ff., sowie die Kommentare zum 1 Korintherbrief, hier bes. H. Conzelmann, S. 351 f. 412 Nach A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 77 ff., handelt es sich dabei freilich um eine Auslegung von Joh 2,19 durch Origenes. 413 Vgl. B. Aland, Seele, Zeit, Eschaton bei einem frühchristlichen Theologen. Basilides zwischen Paulus und Platon, S. 255: »die gnostischen Texte selbst« unterscheiden »durchaus nicht so streng [wie die Referate der Kirchenväter] zwischen den Erlösungskonzeptionen für die sog. Pneumatiker und Psychiker« (ebd, Anm. 4, mit Hinweis auf Exc. ex Theodoto 56,4–57) – mit

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›Hyliker‹ bzw. der ›Choiker‹ durchaus anders: Sie erscheinen nun in der Tat als solche, die gleichsam ›ein für allemal‹ auf ihren Ursprung bzw. ihre ursprüngliche ›Natur‹ fixiert sind. Die Probleme hinsichtlich der Argumentationsrichtung Herakleons in seinem Kommentar zum 8. Kapitel des JohEv.s, insbesondere in den Fragmenten 43–47 (zu Joh 8,37 ff.), sind offensichtlich und werden als solche auch in der neuesten Analyse des Textzusammenhangs durch A. Wucherpfennig bestätigt414. Begründet sind diese Schwierigkeiten zunächst im fragmentarischen Charakter der Textüberlieferung im Kommentar des Origenes zum JohEv – einer Überlieferung, bei der nicht immer klar zwischen dem ›Originaltext‹ des Herakleon und den (polemisch bedingten) Ein- und Auslassungen des Origenes zu unterscheiden ist. Erschwerend kommt hinzu, dass die Fragmente des Herakleon sich durch eine merkwürdig ›inkonsistente‹ Terminologie auszeichnen, die die zunächst eindeutig erscheinende Terminologie eines ›naturhaften Determinismus‹ relativieren – zugleich aber bzw. andererseits: Könnte nicht eben jene ›inkonsistente‹ Terminologie als solche schon ein Hinweis darauf sein, dass in den Fragmenten seines Kommentars von Herakleon ein Thema erörtert wird, das sich eben nicht, gleichsam eindimensional, auf einen durch die Formel ›von Natur‹ ( ) angezeigten Determinismus reduzieren lässt. Und eben diese ›Unklarheit‹ dürfte doch wohl auch darin begründet sein, dass sich die Ausführungen des Herakleon nicht (nur!) auf gleichsam ›grundsätzliche‹ Fragestellungen reduzieren lassen, sondern (auch!) einen konkreten ›Sitz im Leben‹ haben. Und das heißt: Im Kommentar des Herakleon sind auch bestimmte Rezipienten im Blick, die durch die ›klassisch‹-valentinianische Lehre von den ›drei Menschenklassen‹ und den für sie charakteristischen ›Determinismus‹ betroffen bzw. in ihrem Selbstverständnis verunsichert sind. Ein solches ›konkretes‹ Verständnis des Kommentars des Herakleon und seines ›Sitzes im Leben‹ ist zunächst nicht mehr als eine Hypothese, die jedoch angesichts einer auffällig differenzierenden Darstellungsweise des Herakleon in dieser Hinsicht ein gewisses Maß an Wahrscheinlichkeit gewinnt. Hier gibt es offensichtlich nicht nur Ab- und Ausgrenzung, sondern auch ›Übergänge‹ im Verhältnis jener ›Klassen‹ zueinander: Indizien in dieser Richtung gibt es in den überlieferten Fragmenten des Kommentars des Herakleon zur Genüge. Und im Übrigen sollte vor einem allzu vordergründigen streng deterministischen Verständnis des 8. Kapitels des JohEv.s durch Herakleon schon die Überlegung von B. Aland zur Vorsicht mahnen, wenn sie – einerseits – betont, dass Herakleon zunächst ›eindeutig eine naturhaft bedingte, d.h. determinierte und unabänderliche Zugehörigkeit zum Teufel auszusagen [scheint], weswegen sie [die Choiker] Jesu Wort nicht hören können‹, dass jedoch – andererseits – eine gleichsam der Konsequenz: »Das psychische Element ist also Teil des Pneumatikers und wird als solches errettet (exc. Thdt. 63,2)«. 414 A. Wucherpfennig, Heracleon Philologues, S. 342–350.

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›natürliche Teufelskindschaft … per definitionem nicht möglich‹ ist, da ja der Teufel, wie Herakleon selbst im Fragment 46 formuliert, »nicht zeugen, sondern nur zerstören kann«415. Auf dieser Linie liegt es dann auch, wenn im selben Fragment am Ende unter dem Stichwort , d.h. »dem Wert bzw. der Würdigkeit entsprechend«, die Schlussfolgerung gezogen wird: Dies geschieht aus keinem anderen Grund, als dass »sie die Werke des Teufels tun und [auf diese Weise] ihm gleichgeworden sind«. Dies bedeutet, dass nach Herakleon eine ›Teufelskindschaft‹ nicht ›von Natur‹ bedingt ist, dass vielmehr der Mensch mit seinem eigenen (und eigenverantwortlichen) Tun sich dem Teufel zuordnet. Es ist also nicht eine bestimmte ›Natur‹, die den Menschen bestimmt, sondern des Menschen eigenes selbstverantwortliches Tun und Lassen. Das durch das 8. Kapitel des JohEv.s aufgeworfene Thema der ›Teufelskindschaft‹ wird hier, im Fragment 46, eindeutig von der Ebene eines gleichsam naturhaften Zwanges oder auch Verhängnisses auf die Ebene des eigenverantwortlichen Tuns und Verhaltens des Menschen verlagert. Dies gilt auch im Blick auf die entsprechenden Differenzierungen in den weiteren Fragmenten des Herakleon: Kennzeichnend dafür ist bereits das Fragment 43 (zu Joh 8,37), wenn Herakleon hier die Auffassung erkennen lässt, dass das Wort des johanneischen Jesus seine jüdischen Gesprächspartner deshalb nicht erreicht, genauer noch: nicht erreichen kann, weil sie – nach Maßgabe ihrer konkreten Seinsweise ( ’ ), d.h. »nach Maßgabe ihrer faktischen Existenz«416 – ›unfähig‹ sind, Jesu Wort zu hören und zu verstehen, und zwar eben , d.h. nach Maßgabe ihres Vorsatzes bzw. Urteils. Solcher differenzierenden Betrachtungsweise entspricht im Fragment 44 die Unterscheidung zwischen und sowie im Fragment 46 die Unterscheidung zwischen und und im selben Fragment die weitere Differenzierung: »Erstens von Natur, zweitens nach Willen und Vorsatz, drittens nach Wert bzw. Würdigkeit«417. Wie immer man angesichts dieser formelhaften Formulierungen im Einzelnen unterscheiden mag – deutlich ist in jedem Fall, dass diese Differenzierungen in einen zunächst durch die Formel dominierten Zusammenhang einen gleichsam dynamischen Impuls einbringen, dem bei einer angemessenen Interpretation der Fragmente des Herakleon besondere Bedeutung zukommt.

Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang zweifellos die Unterscheidung zwischen und , also zunächst ›von Natur aus‹ bzw. ›durch Natur bedingt‹, während die zweite Formel demgegenüber die (eigenverantwortliche!) ›Setzung‹, also den je eigenen Willensentscheid be415 B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre, S. 176. Vgl. auch A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 346: »Das natürliche Kindschaftsverhältnis ist für den Teufel ausgeschlossen, da dieser von seiner Disposition ( ) her nur Verderben und Vergänglichkeit bewirkt und zeugungsunfähig ist«. 416 Zu bzw. in diesem Zusammenhang vgl. A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus S. 345. 417 Dazu im Einzelnen: B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre, S. 179 f., sowie H. Strutwolf, Gnosis als System, S. 123 f.

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zeichnet. Vor allem mit dieser Unterscheidung wird ohne Zweifel »une catégorie d’etres mobiles et dynamiques« bzw. »une conception dynamique et historique de l’homme« in den Kontext der Fragmente des Herakleon eingebracht418. Und dass gerade in diesem Zusammenhang konkret von den ›Psychikern‹ die Rede ist, ist kein Zufall, ebenso wenig wie es ein Zufall ist, dass B. Aland in ihrem Résumée zur Frage der ›Kindschaft‹ in den Fragmenten des Herakleon wiederum die Kategorie der ›Begegnung‹ einbringt: »Die jeweils besondere Art der Kindschaft wird in allen Fällen erst in der Begegnung mit dem Soter sichtbar«, hier zugleich mit der weiteren Frage: »Darf man folgern, dass sie auch erst im Augenblick der Begegnung konstituiert wird?«419. Grundlegend für solche Sichtweise ist vor allem das Fragment 46, wenn es hier heißt, dass das Wort Jesu von Joh 8,44 »nicht zu denen gesagt worden ist, die ›von Natur Söhne des Teufels‹ sind«, also zu den Choikern, sondern zu den Psychikern, die lediglich ›durch eigenen Vorsatz Söhne des Teufels‹ geworden sind, von denen gleichwohl ›einige‹ ( ) »durch eigenen Vorsatz«, »Söhne Gottes« genannt werden können. Spätestens hier gibt es offensichtliche bei Herakleon eine gewisse Bewegung in der bei Irenäus noch so festgefügten Phalanx der ›Menschenklassen‹, und zwar eine Bewegung speziell im Blick auf die Psychiker. Sind sie also, die ›Psychiker‹, und zwar eben in ihrer (labilen) Stellung zwischen Hylikern bzw. Choikern einerseits und den Pneumatikern andererseits, am Ende die eigentlichen ›Adressaten‹ des Kommentars des Herakleon? – ›Adressaten‹ nämlich im Blick auf die Hoffnung, dass die hier angesprochenen, gleichsam ›gefallenen‹ Psychiker am Ende ›durch eigenen Vorsatz‹ ( ) wiederum ›Söhne Gottes‹ werden können? Dem entspricht jedenfalls die Grundfrage des Herakleon in seinem Kommentar zum JohEv: »How then can the psycics saved?«420 Jenen ›Psychikern‹ gilt offensichtlich das eigentliche Interesse des Herakleon, nicht jedenfalls den ›Choikern‹, über die er, abgesehen von ihrer einmaligen Erwähnung im Fragment 46, kein weiteres Wort verliert. Im Gegensatz zu ihnen sind es die ›Psychiker‹, denen – wie es im Fragment 27 (zu Joh 4,28) heißt – die , die ›Berufung‹ gilt – und so ist es auch die Aufgabe der Samaritanerin, von der es hier heißt, dass sie »in die Welt zurückkehrt, um der Berufung die Parusie Christi zu verkünden« – denn: »durch den Geist und vom Geist wird die ›Seele‹ dem Soter zugeführt«, jene ›Seele‹ der Psychiker, von der es dann im Fragment 40 (zu Joh 4,46 ff.) unter ausdrücklicher Berufung auf 1 Kor 15,53 ff. heißt, dass sie zwar nicht ›unsterblich‹, 418

So D. Devoti, Remarques sur l’anthropologie d’Héracléon, S. 144, Anm. 5, und S. 145. B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre, S. 176 ff., hier (S. 181) mit der Fortsetzung: »Mir scheint, das ist die einzig mögliche Konsequenz«. 420 So E. H. Pagels, The Johannine Gospel in Gnostic Exegesis, S. 93. Vgl. ebd., S. 83 ff. und S. 114 ff. 419

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wohl aber ›fähig zur Rettung‹ ist421. Jene ›Natur‹ des Teufels, im Fragment 47 (zu Joh 8,44) als ›Irrtum‹ und ›Unkenntnis‹ beschrieben, ist somit, was jedenfalls die ›Psychiker‹ betrifft, keineswegs irreversibel; vielmehr ist ihnen, den Psychikern, bei all’ ihrer Verstrickung in Irrtum und Unkenntnis, so nach Fragment 46, durchaus die ›Fähigkeit zur Rettung‹ eigen. In diesem Sinne ist für die Auslegung des JohEv.s durch Herakleon, soweit dies jedenfalls aus den Fragmenten seines Kommentars zum JohEv hervorgeht, eine Relativierung der ›klassisch‹-valentinianischen Position der drei ›Menschenklassen‹ charakteristisch. Die von der Anthropologie ausgehende Soteriologie des Herakleon ist jedenfalls nicht mehr einem gleichsam ›naturalistischen‹ Verständnis jener Position verpflichtet422, sondern einem Grundverständnis von , das durchaus einen Raum für die eigene Entscheidung des Menschen lässt, so besonders deutlich wiederum im Fragment 46, wenn es hier von den Psychikern heißt, dass sie einerseits zwar ›Söhne des Teufels‹ geworden sind, andererseits jedoch zugleich – wiederum – auch ›Söhne Gottes‹ heißen können. Im Übrigen setzt sich bei Herakleon ein Verständnis der valentinianischen Auffassung von den drei Menschenklassen fort, das – in Ansätzen jedenfalls – bereits bei Irenäus erkennbar ist, besonders deutlich dort, wo Adv. Haer. I 6,1 und 7,5 nicht im gleichsam personalen Sinn von den Hylikern, Psychikern und Pneumatikern die Rede ist, sondern lediglich vom (usw.). Offensichtlich ist also auch schon hier gar nicht mehr von bestimmten, auf ihre ›Natur‹ ein für allemal festgelegten ›Menschenklassen‹ die Rede, sondern nur von einem bestimmten ›Element‹ im Menschen, das jeweils sein Tun und Verhalten bestimmt: ›jeweils‹, also nicht: ›ein für allemal‹ i.S. einer gleichsam ›naturhaft‹ bedingten Anlage423.

Und nicht zuletzt in diesem Zusammenhang: Es ist offensichtlich auch bei Herakleon – wie bereits bei Irenäus (Adv. Haer. I 7,5) – jene Stellung der Psychiker ›inmitten‹ ( ) der Pneumatiker einerseits und der Hyliker / Choiker andererseits, die den Psychikern, wie Irenäus (I 7,5) formuliert, je nach ›Hinneigung‹ ( ) ihre in der Tat ›ambivalente‹ Stellung verleiht, sich kraft eigener Entscheidung, also, der einen oder der anderen Seite ›zuzuneigen‹ – dies ein Sachverhalt, der nunmehr auch durch den nicht zufällig dem Herakleon zugeschriebenen Tractatus tripartitus von Nag

421 Dies im Übrigen im Unterschied zu Valentinus. Dazu: C. Markschies, Valentinus Gnosticus, S. 129, Anm. 84. – H. Strutwolf, Gnosis als System, S. 117, spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer »missionarischen Rolle der Pneumatiker an den Psychikern«. 422 Dazu jetzt besonders A. Wucherpfennig, Hercleon Philologus, S. 333 ff., hier bes. S. 356 f. – In diesem Sinne aber auch schon B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre, S. 181. 423 Dazu vgl. A. Wucherpfennig, a.a.O., S. 356 f.: »Auch hier bezeichnet Physis strenggenommen noch ein bestimmtes Element im Menschen; das pneumatische, psychische oder materielle, nicht eine Menschenklasse«. Vgl. auch H. Strutwolf, Gnosis als System, S. 125: Herakleon als Repräsentant einer »dem ptolemäischen analoge[n] Naturlehre«.

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Hammadi (NHC I/5) bezeugt bzw. bestätigt wird424. Hier gibt es offensichtlich keinen Unterschied zu der von Herakleon bezeichneten Position der Valentinianer, wenn p. 119,21 ff. das ›psychische Genus‹ als eine Gattung gekennzeichnet wird, die »auf Grund ihrer Hervorbringung wie auch ihrer Einsetzung in der Mitte steht« und »die ihrer Bestimmung nach ambivalent (ist) hinsichtlich des Guten und des Bösen. Sie ergreift die [Gelegenheit zur) Rettung, die sich plötzlich darbietet, und [damit] gewiss auch die Flucht hin zu den guten [Dingen]«425. Von einem ›Automatismus‹ des Heils oder Unheils kann hier, im ›Tractatus tripartitus‹ von Nag Hammadi wie auch bei Herakleon nicht mehr die Rede sein, ebensowenig von einer Statik im Verständnis der menschlichen Natur, und dies umso weniger, als, was jedenfalls die Soteriologie des Herakleon betrifft, nach dem Zeugnis der überlieferten Fragmente für den ›Psychiker‹ nicht die ihm eigene ›Natur‹ entscheidend ist, sondern vielmehr – durchaus dynamisch, i.S. einer ›Bewegung‹ – die Begegnung mit dem Soter. Paradigmatisch dafür steht – nicht zuletzt – die für den Kommentar des Herakleon insgesamt charakteristische symbolische Topographie, wie sie im Fragment 40 an der Heilung des Sohnes des Basilikos von Joh 4,46 ff. dargelegt wird426: Herakleon verändert hier die Herkunftsangabe von Joh 4,47 ›aus Judäa nach Galiläa‹, indem er kommentierend hinzufügt: . Nach seinem Verständnis ist es ja der Soter, der ›aus Judäa‹ nach dem galiläischen Kapernaum kommt, und ›von oben‹ ( ) bezeichnet für ihn nicht lediglich die geographische Herkunft Jesu aus dem nördlich gelegenen Judäa, sondern im übertragenen Sinn seine Herkunft als eine Herkunft ›von oben her‹. Entsprechendes gilt dann auch für den Ort, an den der Soter ›hinabsteigt‹, für das am galiläischen Meer liegende Kapernaum. Beide Orte, der Herkunftsort des Soter wie auch der Ort des Kranken, sind mit einer bestimmten Symbolik verbunden, kennzeichnen also den Abstieg des Soter als einen Abstieg aus dem Raum bzw. Bereich des ›Geistes‹ in 424 Zur Frage der Verfasserschaft vgl. C. Colpe, in: JAC 22 (1979), S. 105: »Die Johanneserklärung des Herakleon enthält Parallelen zum TractTrip, die klärender sind als alles andere«. Vgl. auch H.W. Attridge/E. H. Pagels (ed.s), The Tripartite Tractat (NHC I/5), in: CGL I, S. 169 ff., hier S. 178: »The Tri. Tract. Is clearly the work of a single author, probably within the western Valentinian tradition. The text has certain affinities in particular with the theology of Heracleon, but the suggestion … that Heracleon himself was the author of the text is at least improvable and at most inlikely«. Vgl. zuletz auch A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 383 ff. 425 Übersetzung nach P. Nagel, Der Tractatus Tripartitus aus N.H. Codex I (Codex Jung), S. 75; hier auch (S. 74 f.) Der ganze Text- und Sachzusammenhang (p. 118, 15 ff.) unter der Überschrift: »Die Menschheit ist ihrer Seinsweise nach in drei Arten geteilt: die pneumatische, die psychische und die hylische …« Vgl. im Übrigen auch die »Schrift vom Ursprung der Welt« (NHC II /5, p. 122,6–9) sowie die »Lehren des Silvanus« (NHC VII /4, p. 93,13–25). 426 Zur ›symbolischen Topographie‹ im Kommentar des Herakleon speziell im Blick auf Joh 4,46 ff. vgl. E.H. Pagels, The Johannine Gospel in Gnostic Exegesis, S. 83 ff.: »The centurion’s son: an image of psychic salvation«, sowie S. 93: Die Hauptfrage in den Fragmenten des Herakleon sei: »How can the psychics saved?«.

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die Tiefe der ›Materie‹, um dem an ›Unkenntnis‹ und [demzufolge auch] an ›Sünden‹ leidenden Kranken Heilung, und d.h. ›Erlösung‹, zuteil werden zu lassen. Die Zuwendung des Soter zum Kranken ist hier nicht mehr wie noch in Joh 4,47 eine ›Fernheilung‹: »Das Wort des johanneischen Jesus wirkt aus der Ferne, Herakleons Erlöser steigt [selbst] hinab« – i.S. des Herakleon also Bild und Symbol zugleich für den »mythologischen Abstieg des Erlösers aus einer himmlischen Sphäre in das irdische Geschehen«427. Die irdischen Lokalitäten der Wirksamkeit des Soter stehen im Kommentar des Herakleon offensichtlich durchweg für eine bestimmte Sache, d.h. für eine im irdischen Geschehen sich abbildende ›himmlische‹ Symbolik. In dieser Hinsicht befindet sich Herakleon zunächst durchaus in Übereinstimmung mit Origenes, der im 10. Buch seines Kommentars zum JohEv ausdrücklich vermerkt: »Denn es ist keineswegs anzunehmen, dass die historischen Dinge lediglich Abbilder ( ) von historischen Sachverhalten und die leiblichen Dinge [Abbilder] von leiblichen Sachverhalten sind; vielmehr stehen die leiblichen Dinge für geistliche Sachverhalte und die historischen Tatsachen für geistig wahrzunehmende Sachverhalte«428. Der Unterschied zu Herakleon besteht hier lediglich darin, dass dieser die ›historischen‹ wie auch die ›leiblichen‹ Dinge aus dem JohEv nun wiederum in den ihm, Herakleon, eigenen gnostischen Deutungsrahmen einbezieht. Während Origenes also an den geographischen Daten des JohEv.s interessiert ist429, ist Herakleon, wie sich im Übrigen auch im Fragment 22 (zu Joh 4,22) zeigt, von vornherein darauf aus, die im JohEv vorliegenden ›leiblichen‹ Sachverhalte ›auf das (damit) Gedachte hin‹ ( ) zu interpretieren: Konkret zeigt sich solche Art von Hermeneutik im Zusammenhang mit dem ›Abstieg‹ des ›von oben her‹ kommenden Soter nach Kapernaum im Fragment 11 (zu Joh 2,12): ›nicht ohne Absicht‹ sei hier die Rede davon, dass der Soter nach Kapernaum ›hinabstieg‹ – denn: ›Kapernaum‹ steht im Rahmen einer symbolischen Topographie für ein Grenzgebiet ( ) der kosmischen Ordnung: »in die [gleichsam] ›hylischen‹ Gebiete stieg er hinab« oder, wie es wiederum im Fragment 40 heißt: An den Ort »im unteren Teil der Mitte, die am Meer liegt«. Und das bedeutet für den dort befindlichen kranken Menschen: »Am Ufer des Meeres, hart am Rande der , befindet sich der psychische Mensch«430. Steht in diesem Sinn ›Kapernaum am Meer‹ für die Gefährdung der psychischen Natur 427 So A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 307; hier auch zur symbolischen Topographie im Frgmt. 40 (S. 272 ff.). 428 Origenes, Joh-Kommentar X 18. Zur Sache vgl. E. H. Pagels, The Johannine Gospel in Gnostic Exegesis, S. 66: »Heracleon and Origenes agree that the practice ›spiritual exegesis‹ is to interpret the places, objects, and events described in the text as symbols of spiritual reality«; vgl. auch ebd., S. 52 ff. 429 Vgl. z.B. seine Überlegungen zu Joh 1,28: »Dies geschah in Bethanien« im 6. Buch seines Kommentars (VI 40). 430 So C. Barth, Die Interpretation des Neuen Testaments in der valentinianischen Gnosis, S. 80 f.; vgl. auch E. H. Pagels, The Johannine Gospel in Gnostic Exegesis, S. 67 f.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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durch die ›Materie‹, so steht ›Jerusalem‹ für die psychische Natur selbst, so jedenfalls nach dem Fragment 13 (zu Joh 2,13–15): Dem ›Abstieg‹ des Soter nach Kapernaum korrespondiert hier sein ›Aufstieg‹, der ›Weg nach oben‹ nach Jerusalem, und zwar als ein Weg ›von den hylischen Dingen hin zu dem psychischen Ort‹, als solcher zugleich ein Ort ›außerhalb des Geistes‹. Eben hier differenziert Herakleon wiederum: Lediglich der Vorhof des Tempels, zu dem die Leviten Zutritt haben, steht für die ›Psychiker‹, während das ›Allerheiligste‹ des Tempels den Zugang für die ›Pneumatiker‹ gewährt, also gleichsam den ›pneumatischen‹ Ort darstellt431. Stellt man – abschließend – noch einmal in Rechung, dass Herakleon bei seiner Rezeption des JohEv.s von der Anthropologie der traditionell-valentinianischen ›Menschenklassen‹-Lehre ausgeht, so zeigt sich in deren eigener Rezeption ein hohes Maß an Differenzierung und Relativierung: Im Sinne des Herakleon ist es nicht mehr die ›Natur‹ des Menschen, der als solcher eine soteriologische Relevanz (i.S. eines ›von Natur gerettet‹) zukommt. Soteriologische Relevanz hat i.S. des Herakleon vielmehr erst die Begegnung des gleichsam ›natürlichen‹ Menschen mit dem Soter. Paradigmatisch dafür steht hier die ›Geschichte‹ der Samaritanerin von Joh 4: Sie, die, wie es im Fragment 18 hieß, der verhaftet war, wird aus ihrer Verstrickung erst durch die Begegnung mit dem Soter herausgeführt, was zugleich heißt, dass die ›jeweils besondere Art der Kindschaft … erst in der Begegnung mit dem Soter sichtbar‹ wird432. Diese Kategorie der ›Begegnung‹ hat es aber primär mit der ›Geschichte‹ eines Menschen zu tun, nicht mit seiner ›Natur‹. Und legt man angesichts dessen an die Rezeption des JohEv.s durch Herakleon den Maßstab der Fragestellung an, wie sie R. Bultmann in seiner »Theologie des Neuen Testaments« unter der Überschrift ›Gnostische Motive‹ formuliert hat: »Wird die menschliche Geschichte als Naturgeschehen oder als echtes geschichtliches Geschehen verstanden werden?«433, so steht Herakleon, was sein Verständnis von ›Natur‹ betrifft, ohne Frage beim zweiten Teil dieser Fragestellung: Nicht die ›Natur‹ als solche ist es, die zum Heil führt, sondern die Begegnung mit dem Soter in der Geschichte des jeweiligen Menschen. Und so wäre dann mit B. Aland zumindest zu fragen, »ob nicht unsere bisherige Definition der christlichen Gnosis einer Erweiterung oder Umgestaltung bedarf«?434. 431 Zur symbolischen Topographie des Tempels in Jerusalem im Einzelnen vgl. A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 64 ff. 432 B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre, S. 181, hier mit dem Zusatz: »Darf man folgern, dass sie auch erst im Augenblick der Begegnung konstituiert wird?«. Zur Kategorie der ›Begegnung‹ bei Herakleon vgl. ebd., S. 164 ff. (zu den Fragmenten 17–39); S. 168 f. (zu den Fragmenten 19.23.24) sowie T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 327: »Die Anlage des Pneumatikers beinhaltet die Fähigkeit zum Glauben, die sich aber erst in der Begegnung mit dem Soter zeigt. Dabei [erst] wird seine wahre Natur offenbar«. 433 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, S. 185. 434 B. Aland, Erwählungstheologie und Menschenklassenlehre, S. 181.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Beim gegenwärtigen Stand der Forschung zur Frage der Rezeption des JohEv.s bei Herakleon wird man also nicht mehr davon ausgehen können, dass es dessen Grundanliegen war, im JohEv selbst, wie seinerzeit noch G. Heinrici meinte435, »sein System … wiederzufinden«. Ebenso wenig wird man künftig die Rezeption des JohEv.s durch Herakleon als ein Beispiel dafür nennen können, »wie gewaltsam hier der Johannestext unter Auflösung seiner narrativen Struktur einem ihm fremden Denken unterworfen wird«436. Ein Beispiel für die simple Transformation des JohEv.s in ein genuin gnostisches Denken liegt bei Herakleon jedenfalls nicht vor. Eher wäre die Frage zu stellen, ob und inwieweit Herakleon bei seiner Art von Rezeption des JohEv.s bestimmte Ansätze aufgenommen und weitergeführt hat, die dem JohEv selbst bereits eigen gewesen sind und insofern nicht sogleich als eine ›gnostische Verfälschung‹ der Eigenaussage des JohEv.s zu betrachten sind. So wäre dann für Herakleon im Rahmen seiner Re-Lektüre des JohEv.s in diesem Evangelium selbst bereits eine ›Potenz‹ vorgegeben, die es für eine eigene Anthropologie und Soteriologie nur noch zu aktualisieren galt – vorausgesetzt jedenfalls, dass im JohEv selbst bereits ein ›Ansatz‹ gegeben war, die existentielle Frage nach den ›Bedingungen‹ des ›Glaubens‹ – oder eben auch des ›Unglaubens‹ – vermittels bestimmter »Hinweise auf eine ›Vorherbestimmung‹ des Menschen zu beantworten«437 bzw. solche ›Ansätze‹ nun auch auf eine spezifisch ›gnostische‹ Weise auszuführen und damit schließlich für die eigene gnostische Grundposition in Anspruch zu nehmen438. Von daher gesehen ist für den ›Valentinianer‹ Herakleon und seine Rezeption des JohEv.s in der Tat eine gewisse Ambivalenz festzustellen: Einerseits folgt er einem ursprünglich valentinianischen Ansatz, wenn er in seinem Kommentar die ursprünglich valentinianische Lehre von den drei ›Menschenklassen‹ voraussetzt, sie aber zugleich, was vor allem die Grenzen zwischen den ›Psychikern‹ und den ›Pneumatikern‹ betrifft, relativiert – und sich auf diese Weise am Ende dem früh-kirchlichen Standpunkt annähert439. Auf diese Weise hat er ›une conception dynamique‹ in einen ursprünglichen 435 G. Heinrici, Die Valentinianische Gnosis und die Heilige Schrist, S. 128; vgl. ebd., S. 143: »Die Grundzüge der gnostischen Psychologie, welche die Ethik in Physik auflöst, treten hier am klarsten hervor«. 436 So noch H. Thyen, Art. Johannesevangelium, in: TRE 17, S. 220. Vgl. demgegenüber die differenzierende Darstellung der Position des Herakleon bei T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 338–340, hier bes. S. 340: »Gerade das Bedenken wichtiger joh. Begriffe durch Herakleon weist auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Joh-Ev und nicht auf dessen ausschließliche Verwendung als Steinbruch …«. 437 So T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 328 f. 438 Vgl. T. Nagel, ebd., S. 328 f.: »Dieser Struktur folgt auch Herakleon. Er kann sie aber konsequenter durchführen, indem er mit Hilfe der Naturenvorstellung den jeweiligen Grund der Bestimmung des Menschen angibt. Damit sprengt er den Rahmen der anthropologischen Reflexion im Joh-Ev, insofern dort allein der Wille Gottes den Menschen vorherbestimmt und keine naturhafte Anlage …«. 439 Zur Fragestellung vgl. bereits W.v. Loewenich, Johannesverständnis im 2. Jh., S. 92–95, sowie D. Devoti, Remarques sur l’anthropologie d’Héracléon, S. 151: »La pensee d’Héracléon

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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›déterminisme rigide‹ eingebracht440, die Raum lässt für grundlegende, ein ›neues Sein‹ stiftende Veränderungen im Leben des Menschen in seinem geschichtlichen Wandel und auf diese Weise zugleich die Grenzen zwischen ›Ketzerei‹ und ›Rechtgläubigkeit‹ in der Frühgeschichte des Christentums relativiert. In diesem Sinne gebührt dem Herakleon ohne Frage eine Sonderstellung unter den ›Gnostikern‹ des frühen Christentums – ohne dass damit bereits der mit allen ›philologischen‹ Mitteln seiner Zeit argumentierende Herkleon, der ›Heracleon Philologus‹, als eine Alternative zum ›Heracleon Gnosticus‹ gelten könnte. Der spezifisch gnostische Ansatz seiner Art von Rezeption des JohEv.s ist jedenfalls nicht zu bestreiten – umso bemerkenswerter aber seine Differenzierung und Relativierung der ›klassisch‹-valentinianischen Lehre von den drei ›Menschenklassen‹ und den durch sie gezogenen Grenzen. Von daher gesehen ist es wohl kaum zu bestreiten, dass gerade auch dem ›Heracleon Philologus‹ in seinem Kommentar zum JohEv daran gelegen war, dem konkreten Menschen seiner Zeit Perspektiven für ein theologisch angemessenes Menschsein aufzuweisen. Die Entscheidung darüber, ob der Kommentar des Herakleon ›wohl eher als gnostisierende denn als gnostische Schrift zu beurteilen sei‹441, muss angesichts dessen als überflüssig, wenn nicht gar als unangemessen erscheinen. Kann Herakleon in diesem Sinne durchaus als ein Höhepunkt in der Geschichte der Rezeption des JohEv.s in der frühchristlichen Gnosis gelten, so gilt dies offensichtlich nicht mehr in diesem Maße für die weiteren Schulen der frühchristlichen Gnosis: Von ihnen ist hier zunächst vor allem auf die von Hippolyt in seiner Refutatio omnium haeresium (V 6,1 ff.) referierten Naassener einzugehen, so benannt nach der in ihrem System eine herausragende Rolle einnehmenden ›Schlange‹, griechisch: (als Umschrift des hebr. nahas: Ref. V 6,3). Nach dem Zeugnis des Hippolyt, Ref. V 2, haben sie sich ausdrücklich ›Gnostiker‹ genannt, und zwar im exklusiven Sinn, weil sie allein imstande seien, ›die Tiefen [der Gottheit] zu erkennen‹ (Ref. V 6,4). Unklar oder doch nicht eindeutig bestimmbar ist jedoch ihr Verhältnis zu den auch von Irenäus (Adv. Haer. I 30,1–15) genannten Ophiten, im weiteren Umfeld der Naassener auch ihr Verhältnis zu den von Hippolyt, Ref. V 12–22, im Anschluss an sie referierten Systemen der Peraten und der Sethianer, in denen die Schlange gleichfalls eine Rolle spielt442. Zusammen mit diesen werden die Naassener darüber hinaus zu den sog. ›Drei-Prinzipien‹-

se présente ainsi comme la tentative la plus poussée de se délivrer de la structure mythique et de se rapprocher du christianisme«. 440 So A. LeBoulluec, La notion d’hérésie, S. 518, hier freilich auf Origenes bezogen. 441 So A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 402. 442 Für die Peraten vgl. Hippolyt, Ref. V 16,6 ff.; 17,8; 19,8 ff.; für die Sethianer Ref. V 19–22.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Systemen gerechnet443. Auch wenn sie bereits von Theodoret von Kyros mit den ›Ophiten‹ des Irenäus gleichgesetzt worden sind444, hat R. McL. Wilson mit Recht darauf hingewiesen, dass ›das Verhältnis dieser Gruppen zueinander … keineswegs eindeutig‹ ist, weil nach wie vor nicht geklärt sei, »ob es sich hier um selbständige, voneinander unabhängige Gruppen oder einfach um Varianten einer einzigen Form von Gnostizismus handelt«445. Bemerkenswert ist im Übrigen, dass diese Gruppe bzw. Schule der frühchristlichen Gnosis sich selbst ganz im Rahmen des frühen Christentums verstand, wenn sie ihre Lehrtradition nach dem Zeugnis des Hippolyt, Ref. V 7,1, über die Mariamme bis auf den ›Herrenbruder‹ Jakobus zurückführte, offensichtlich ein Versuch der Naassener, ihre Lehre in der Auseinandersetzung mit dem ›rechtgläubigen‹ Christentum bis in die Urzeit der Kirche zurückzuführen446. Setzt man nun, was den Naassenerbericht des Hippolyt betrifft, als Arbeitshypothese die von J. Frickel vorgelegte Schichtenanalyse voraus, demzufolge ein sog. ›Anthropos-Gnostiker‹ eine Lehrschrift über die ›Erkenntnis‹ auf der Grundlage eines alten Kommentars zum ›Attislied‹ verfasst hat, die auf einer zweiten Stufe von einem sog. ›Pneuma-Gnostiker‹ überarbeitet worden ist, so ist die Annahme nur folgerichtig, dass die Bezugnahmen auf die biblische Überlieferung, genauer: ihre Einfügung in die vorgegebene Lehrschrift, eben auf jenen ›Pneuma-Gnostiker‹ zurückgehen. Dieser versteht seine eigene (in jene Lehrschrift sekundär eingetragene) Lehre als eine Art ›pneumatischer Exegese‹ der biblischen Überlieferung, und zwar insbesondere des JohEv.s wie auch der Paulusbriefe447, die ihrerseits auf bestimmte Möglichkeiten der Anknüpfung für eine ›christliche‹ Interpretation der ursprünglichen ›Anthropos-Lehrschrift‹ zurückgreift. Von einer solchen zweifachen Überarbeitung jener ›Lehrschrift‹ her wäre es auch zu verstehen, dass hier in ein ursprüngliches literarisches Produkt 443 So W. Foerster, Die Gnosis: Zeugnisse der Kirchenväter, S. 336 ff.; vgl. auch H. Leisegang, Die Gnosis, S. 142 ff. 444 Theodoret von Kyros, Quaestiones in IV . Reg., Interpretatio XLIX (Migne, PG 80, p. 783–784), hier in gestalt einer Notiz zu 4 Reg 18,4: Der Name wird hier mit gleichgesetzt, woran sich die kommentierende Bemerkung anschließt: »Von daher bin ich der Meinung, dass auch die Häresie der Ophiten mit der höchst verwerflichen Häresie der Naasssener gleichzusetzen ist«. 445 R. McL. Wilson, Art. Gnosis/Gnostizismus II , in: TRE 13, S. 544, Z. 25 ff. – Zum Problem in dieser Hinsicht vgl. bereits R. P. Casey, Naassenes and Ophites, S. 374–387; ders., Die Erforschung des Gnostizismus, S. 356 f. 446 Vgl. auch Hippolyt, Ref. X 9,3. Zur Sache vgl. auch Kelsos bei Origenes, c. Cels. V 62, sowie H. Leisegang, Die Gnosis, S. 113 f.: »Solche Herleitung ihrer [der Naassener] Weisheit deutet darauf hin, dass hier die christliche Einkleidung eines vorchristlichen Motivs vorliegt«. 447 So J. Frickel, Hellenistische Erlösung in christlicher Deutung, S. 173 sowie S. 131. In diesem Sinn beschreibt neuerdings auch T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 300 f., den Ausgangspunkt für die Rezeption des Joh-Evangeliums im Naassenerbericht des Hippolyt.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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der Schule der Naassener mancherlei sekundär eingetragen worden ist, was ursprünglich gar nicht dieser Schule, sondern wiederum den Valentinianern zuzuschreiben ist448. In diesem Sinne wäre dann die sog. Naassenerschrift das Dokument einer ›pneumatischen Exegese‹ des JohEv.s (wie im Übrigen auch der Paulusbriefe)449, und zwar in dem Sinne, dass die Rezeption des JohEv.s bei den Naassenern immer schon unter dem Vorzeichen einer bestimmten gnostischen Grundposition steht. Die Verweise – besser noch Rückverweise auf das Neue Testament vermittelts der Formel ›dies ist / bedeutet‹ ( ) sind in diesem Sinne nichts anderes als Ausdruck der nachträglichen Bestätigung einer immer schon vorgefassten gnostischen Grundposition450. Mit den Worten des Hippolyt (Ref. V 8,1): Hier werden die ›unheiligen‹ Meinungen der Gnostiker bzw. ihrer ›unheiligen Schriften‹ mit den Hl. Schriften der Christen harmonisiert. Das ›spezifisch Christliche‹ ist, wie bereits H. Leisegang festgestellt hat451, »nur noch äußerlich aufgesetztes Element«, nachträgliche ›Bestätigung‹ also für eine vorgefasste gnostische Wahrheit. Was die Praxis einer solchen Rezeption des JohEv.s betrifft452, so ist auch hier, wie bereits bei Herakleon, zunächst auf die Rezeption des johanneischen Prologs einzugehen, wie Hippolyt sie im fünften Buch seiner ›Refutatio‹ bezeugt (Ref. V 8,5): In einem Kontext, in dem es primär um den androgynen Urmenschen geht, wird Joh 1,3–4 zwar ausdrücklich zitiert, dies jedoch zu keinem anderen Zweck, als alsbald in einen spezifisch gnostischen Kontext einbezogen zu werden: Das ›Leben‹, von dem an dieser Stelle im JohEv die Rede ist, wird also auf das »unaussprechliche Geschlecht der vollkommenen Menschen« bezogen, das, wie es hier in Anspielung auf Eph 3,5 heißt, »den früheren Geschlechtern unbekannt war«, das ›Nichts‹, das »ohne ihn geworden ist«, dagegen auf den Kosmos, der als solcher eben nicht ›durch ihn‹, sondern von einem »dritten oder vierten Gott«, vom »Demiurgen geworden ist«453 – insgesamt also eine ›Exegese‹ des johanneischen Prologs, die als solche nur unter der Voraussetzung eines spezifisch gnostischen Welt- und Menschenverständnisses nachvoll448 Vgl. J. Frickel, Naassener oder Valentinianer, S. 117 ff.: Zwischen beiden gnostischen Schulen besteht kein Abhängigkeitsverhältnis, sondern die Benutzung einer gemeinsamen Tradition. 449 J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 173. 450 Vgl. z.B. Ref. V 7,40; 8,4 f. 7 f. 11 f.; 9,3 f. – Dem entspricht die Formulierung: »Deswegen … sagt Jesus«: Ref. V 8,21. – Für die Peraten vgl. entsprechend Ref. V 12,5–7 sowie 17,9. 451 H. Leiegang, Die Gnosis, S. 113. 452 Vgl. dazu im Einzelnen: W.v. Loewenich, Das Johannes-Verständnis im zweiten Jahrhundert, S. 65 f.; J. Frickel, Naassener oder Valentinianer?; ders., Hellenistische Erlösung in christlicher Deutung, sowie zuletzt T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums im 2. Jh., S. 299–315. 453 Nach Ref. V 7,30 ist der Demiurg »der vierte Gott der Zahl nach«, und »diesen nennen sie«, wie es Ref. V 7,31 heißt, »den Demiurgen und Vater der Welt«.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

ziehbar ist. Grundlegend dafür ist offensichtlich auch hier wiederum ein primär anthropologischer Aspekt: In der gnostischen Rezeption des johanneischen Prologs, geht es primär um den ›Urmenschen‹ und mit ihm um jenes ›unaussprechliche Geschlecht der vollkommenen Menschen, das den früheren [der Menschen] unbekannt war‹, wobei im Übrigen eine gewisse Entsprechung zur Auslegung von Joh 1,3 f. durch Herakleon nicht zu übersehen ist: Bei Herakleon, heißt es im Fragment 2 (zu Joh 1,4): »Was in ihm geworden ist, war Leben«, wobei jenes ›in ihm‹ bereits bei Herakleon auf den ›pneumatischen Menschen‹ gedeutet wird – »gleich als ob der Logos und der Pneumatiker dasselbe seien«454. Auf derselben Linie einer anthropologischen Deutung von Joh 1,3 f. durch Hippolyt, Ref. V 8,5, liegt auch die Bezugnahme auf Joh 1,3 in Ref. V 9,2: Der ›Urmensch‹, von dem auch hier die Rede ist, wird hier ebenfalls zum Subjekt von Joh 1,3: ›So nennen … die Phryger den Vater Amygdales [Mandelbaum], weil aus ihm der Unsichtbare [d.h. der ›Urmensch‹] hervorging und entstand, ›durch den‹, wie es hier wiederum mit Bezug auf Joh 1,3 heißt, »alles geworden ist, und ohne den nichts geworden ist«455. Es entspricht ganz der Rezeption des JohEv.s unter dem für die gnostische Soteriologie grundlegenden anthropologischen Aspekt, wenn dann bei den Naassenern auch die Erzählung vom ›Weinwunder von Kana‹ aus dem 2. Kapitel des JohEv.s in einen anthropologischen Kontext einbezogen wird, so nach dem Zeugnis des Hippolyt, Ref. V 8,7, und hier, merkwürdigerweise, im Zusammenhang mit der Auslegung eines Verses des griechischen Lyrikers Anakreon: »Bring Wasser, bring Wein, o Knabe, berausche mich, betäube mich. Mein Becher mir sagt, wer ich soll werden – in stummem Schweigen beredt«456: In der Auslegung dieses Verses ist jener ›Becher‹, als solcher ›in stummem Schweigen beredt‹, der primäre Bezugspunkt, und zwar i.S des »unausgesprochenen Wortes«, »auf welche Weise ( ) es geschieht«, was i.S. der Naassener bedeutet: »das Geistliche nämlich, nicht das Fleischliche – sofern man [nämlich] das verborgene Geheimnis schweigend hört«. Die anthropologische Zielaussage ist hier bereits gewonnen, so dass die Eigenaussage von Joh 2,1–11 hier gar nicht mehr zum Tragen kommt, auch nicht, wie man vermutet hat457, i.S. einer (möglicherweise sogar ›sakramental‹ zu verstehenden) ›Heiligen Hochzeit‹. Die im Textzusammenhang bei Hippolyt folgende Hinzufügung von Joh 2,11: »Dies ist der große und wahrhaftige Anfang der Zeichen«, den »Jesus im galiläischen Kana tat«, leitet in dieser ›Auslegung‹ zu einem neuen Thema über: Jesus offenbarte in 454 So J. Frickel, Naassener oder Valentinianer? S. 112, und S. 112–115 zur Rezeption von Joh 1,3 f. bei den Valentinianern (Irenäus, Adv. Haer. I 8,5 usw.) und bei den Peraten (Ref. V 16,2). Zur Auslegung von Joh 1,3 f. bei den Naassenern vgl. auch J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 129 f. 455 Vgl. z.St.T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 304. 456 Übersetzung nach K. Preysing, Des Heiligen Hippolytus von Rom Widerlegung aller Häresien (Bibliothek der Kirchenväter 40), S. 99. 457 W.v. Loewenich, Das Johannes-Verständnis im zweiten Jahrhundert, S. 66: »… offenkundig war für die Naassener Joh 2,1–11 ein Spielfeld gewagtester Allegorien … Es darf die Vermutung ausgesprochen werden, dass Joh 2,1–11 von den Naassenern sakramental verstanden wurde«.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Kana nicht seine ›Herrlichkeit‹, sondern die ›Königsherrschaft der Himmel‹, was für die Naassenerschrift zugleich Anlass ist, mit Bezugnahme auf Lk 17,21(!) das Wesen jener Basileia anhand von Gleichnissen aus den synoptischen Evangelien zu erläutern458.

Auch die im Folgenden noch zu nennenden Auslegungen einzelner ausgewählter Aussagen des JohEv.s sind ihrerseits wiederum bestimmten Themen einer spezifisch gnostischen Anthropologie und Soteriologie zugeordnet, so besonders deutlich in Ref. V 8,9 ff.: In einem Kontext, der zunächst durch den Verweis auf ›das große und unaussprechliche Geheimnis der Samothraker‹ bestimmt ist, ein ›Geheimnis‹, das – als solches – ›allein den Vollkommenen, uns nämlich, zu wissen erlaubt ist‹. Vorausgesetzt ist hier die Identität des Adam mit dem ›Urmenschen‹ – und ganz in diesem Sinne werden nun die Statuen von zwei Männern im Heiligtum der Samothraker gedeutet: Als ›Abbilder‹ des ›Urmenschen‹ und des ›wiedergeborenen Pneumatikers‹, der, wie es hier heißt, »in jeder Hinsicht jenem [Ur-]Menschen wesensgleich ( )« ist. Auf diesen Sachverhalt wird nachträglich mit der Formel »dies ist / bedeutet das, was vom Soter gesagt worden ist«, auf Joh 6,53 (und ein Mischzitat aus Joh 8,21 und Mk 10,38) hingewiesen, beide Zitate mit dem Zusatz (Ref. V 8,12): »Denn er [der Soter] wusste, aus welcher Natur jeder seiner Jünger stammte und dass ein jeder von ihnen zu der ihm eigenen Natur eingehen müsse«. So merkwürdig ein solches exegetisches Verfahren auch erscheinen mag – eindeutig ist in jedem Falle, dass hier bestimmte ausgewählte Aussagen und Sachverhalte des JohEv.s unter der Voraussetzung der Grundposition der Naassener instrumentalisiert werden – zur Aussage nämlich einer »Wesensgleichheit zwischen dem Erlöser, dem Urmenschen, und den zu Erlösenden, den Pneumatikern«, die »die anthropologische Grundlage der Soteriologie bildet«459. Entsprechendes gilt auch für die im Folgenden noch zu nennenden Beispiele für die Rezeption des JohEv.s durch die Naassener, Beispiele, die – was das Thema der Anthropologie betrifft – jeweils an analoge(!) Unterscheidungen des JohEv.s selbst anknüpfen: Paradigmatisch dafür ist die Rezeption von Joh 3,5 f. in Hippolyts Refutatio V 7,40: Ausgangspunkt der Rezeption ist hier wiederum die Position 458 Zur gnostischen Rezeption der hier genannten Gleichnisse aus dem Mt-Evangelium s.o. S. 261 ff. J. Frickel, Naassener oder Valentinianer? S. 106 f., schließt aus der offenbar bewussten Änderung des ursprünglichen Wortlautes von Joh 2,11 durch die Naassener auf die Möglichkeit, dass die Naassener »auch die anderen Zeichen … so erkannt haben: als Offenbarung des im Menschen verborgenen Himmelreichs. Diese Theologie der Semeia hat er im vorgegebenen Rahmen des Attiskommentars nicht durchführen können, sie ist aber notwendig vorausgesetzt«. Zur »Semeia-Theologie des Naasseners« vgl. auch ebd., S. 107, Anm. 58. 459 So T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 306. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den kategorischen Abschluss des ganzen Zusammenhangs mit der Formulierung: »was nicht ihrer Natur gemäß ist, ist wider [ihre] Natur« (Ref. V 8,12). Vgl. auch die folgende Kennzeichnung des ›Urmenschen‹ in Ref. V 8,13, in der ein Schriftwort genannt wird, das zumindest eine Ähnlichkeit mit Joh 5,37 aufweist. Dazu im Einzelnen T. Nagel, a.a.O., S. 307 f.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

der Naassener: »Sterblich nämlich, meint er [der Naassener], ist jede Geburt, die ›von unten‹ her ( ) geschieht, unsterblich dagegen jene Geburt, die ›von oben her‹ ( ) geschieht«. Dies gilt für die Naassener – ebenso wie bereits im JohEv (3,3!) – i.S. einer Alternative. Dem entspricht die Defintion jener ›Geburt von oben her‹ im unmittelbaren Anschluß an Joh 3,5: »Was nämlich aus Wasser allein und Geist entsteht, das ist ›pneumatisch‹, nicht ›fleischlich‹«, und daran mit der Formel: »Dies ist …, was geschrieben steht« angeschlossen das Zitat von Joh 3,6 mit der Schlussfolgerung: »Und dies ist die ›geistliche‹ Geburt«, i.S. der Naassener also die pneumatische Geburt des Gnostikers460. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist schließlich auch das Referat über die Naassener bei Hippolyt, Ref. V 8,36–38, in dem Joh 3,5 gänzlich in den Kontext eines gnostischen Dualismus integriert wird und damit selbst zum Zeugnis einer dualistischen Anthropologie gerät. Solche Lesart der biblischen Überlieferung geht am Ende auch nicht am Alten Testament vorbei, wenn z.B. im Jeremiabuch (31,15) die Trauer der Rahel über ihre Kinder, aber auch die Trauer des Propheten selbst als eine Trauer über das ›untere Jerusalem‹ gedeutet wird und wenn schließlich Jer 17,19 (LXX ) unter der Überschrift: »Ein Mensch ist er – und wer wird ihn erkennen?« in dem Sinne gnostisch instrumentalisiert wird, dass ja bereits die »Erkenntnis des ›vollkommenen Menschen‹ schwer und unbegreiflich« ist, obwohl sie erst der »Anfang der Vollendung« ist, und demgegenüber erst die »Erkenntnis Gottes« die »vollendete Erkenntnis«. – Nicht grundsätzlich anders verhält es sich mit den weiteren Zeugnissen der Naassenerschrift für die im Wesentlichen auf das Thema der Anthropologie konzentrierte Rezeption des JohEv.s. Dies gilt insbesondere auch mit Blick auf die Deutung des 4. Kapitels des JohEv.s, wie Hippolyt sie in Ref. V 9,18 f. referiert, bemerkenswerterweise im Zusammenhang mit einer ›symbolischen‹ Deutung von Gen 1,7: Das ›Wasser über der Feste‹ wird hier nunmehr in eine Beziehung zum dem ›lebendigen Wasser‹ von Joh 4,10.14 gesetzt: ›zu diesem Wasser, meint er [der Naassener], geht jede Natur ein, und erwählt sich das ihr eigene Wesen ( ), und zu jeder Natur kommt von diesem Wasser das ihr jeweils eigene ( ) hinzu‹ – mit anderen Worten: Dem »lebendigen und sprudelnden Wasser« wird hier, wie dies T. Nagel formuliert hat461 »eine Indikatorfunktion zugewiesen: Es macht sichtbar, was der Natur eines Menschen ›Eigenes‹ ist, das heißt, wie der Mensch von seiner Natur her determiniert ist«. Und die Samaritanerin, die zum Ort des Wassers kommt, wäre dann als Bild des Pneumatikers verstanden, der seine ›pneumatische Natur‹ eben von diesem Wasser empfängt«462. – Im Übrigen liegt es, was speziell die gnostische Auslegung von Joh 4,10 und 14 betrifft, durchaus nahe, an dieser Stelle den weiteren Auslegungen von Joh 4 auch im Baruchbuch des Gnostikers Justin (Hippolyt, Ref. V 27,2 f.) sowie bei Herakleon (Fragment 17 zu 460 J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 121 ff., führt das dualistische Konzept der Gegenüberstellung von ›Pneumatikern‹ einerseits, ›Sarkikern‹ andererseits, wie es Ref. V 8 entfaltet wird, auf (sekundäre) Redaktion der ursprünglichen Naassenerschrift durch den sog. PneumaGnostiker zurück, der somit auch für die exklusiven Aussagen in diesem Zusammenhang verantwortlich ist. Charakteristisch dafür ist vor allem das häufige in diesem Zusammenhang: Ref. V 8,26.29.44; 9,6.21. Speziell zu Ref. V 7,40 vgl. J. Frickel, a.a.O., S. 126 ff. und S. 129. 461 T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 313. 462 So T. Nagel, ebd., S. 313, hier mit dem Zusatz: »Zu denken ist dabei an die Taufe, die nach Ref. V 7,19 … geschieht«.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Joh 4,12–14) nachzugehen. So vermutet J. Frickel wohl mit Recht, dass in der Auslegung des Naasseners von Joh 4,10 und 14 bereits »drei verschiedene Deutungen verschmolzen [sind], was immer anzeigt, dass eine ältere Allegorie weiterentwickelt wird«463. – Dass schließlich auch die Kontroverse des johanneischen Jesus mit der Samaritanerin von Joh 4,19 ff. über den rechten Ort der Anbetung Gottes in einen gnostischen Kontext einbezogen wurde, versteht sich für die in der Naassenerschrift vorliegende Lesart des JohEv.s von selbst. So jedenfalls nach dem Zeugnis von Hippolyt, Ref. V 9,3 f., hier zunächst im Rahmen einer anthropologischen Deutung des , des ›Flötenspielers‹ der Phryger, der in der hier vorliegenden Deutung für das Woher des ›Geborenseins‹ steht, weil das von ihm Geborene ein ›harmonischer Hauch‹ ist. ›Geist‹ aber ist allein von Gott, weswegen, wie es im Folgenden mit Bezug auf Joh 4,21 ff. heißt, ›die wahren Anbeter [Gottes] weder auf diesem Berge noch in Jerusalem anbeten, sondern ›im Geiste‹, denn: ›Geistlicher Art ist die Anbetung der Vollkommenen, nicht auf fleischliche Weise‹. Für die gnostischen Rezipienten von Joh 4, für die ›Vollkommenen‹, die hier zu Worte kommen, ist also ›die Stunde‹, von der Joh 4,23 spricht, bereits gekommen, ja: ›und jetzt ist sie‹. Die wahren Anbeter das sind ›allein die Vollkommenen‹464. J. Frickel hat mit Recht in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass das sich hier äußernde Kultverständnis »sowohl das synkretistische als auch das universalistische Verständnis der traditionellen Kulte« aufhebt …, indem es jede an irgendeinen Tempel oder Ort gebundene Gottesverehrung für irdisch und nichtig, das heißt für ›fleischlich‹ erklärt. Es gibt nur eine wahre Gottesverehrung: Im Geiste«465.

Hier offenbart sich im Rahmen einer primär anthropologisch akzentuierten Rezeption der Relation von ›Fleisch‹ und ›Geist‹ des JohEv.s – genauer noch: im Zusammenhang der Redaktion der ursprünglichen Naassenerschrift durch den (von J. Frickel so genannten) ›Pneuma-Gnostiker‹ – in der Tat ein Antagonismus von zwei von ihrem Ursprung her gegensätzlichen Seinsweisen, ein Antagonismus, der Gegensatz des ›Fleisches‹ und des ›Geistes‹ und der, was das JohEv selbst betrifft, in der apodiktischen Gegenüberstellung von ›Fleisch‹ und ›Geist‹ zumindest einen Ansatz hat: »Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch« – und demgegenüber: »Was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist«466. Wird solche Gegenüberstellung in der frühchristlichen Gnosis unter dem Vorzeichen einer vom Ansatz her dualistischen Anthropologie rezipiert, dann ist es von hier aus, wie die sog. Naassenerschrift durchgängig zeigt, offensichtlich kein weiter Schritt mehr zu dem hier sich 463 J. Frickel, Naassener oder Valentinianer? S. 115 f. Konkret heißt dies zugleich, dass »keine direkte Verbindung zwischen der Johannesexegese des Naasseners und der Herakleons bestand, sondern beide darin in verschiedenen älteren Traditionen standen« (S. 116). Dies wird im Folgenden (S. 117–119) erneut an der Rezeption von Joh 4,23 bei den Naassenern (Ref. V 9,3 f.) sowie bei Herakleon (Fragmente 20 f.) nachgewiesen. 464 So W.v. Loewenich, Johannes-Verständnis im 2. Jh., S. 66. – Zur Interpretation von Ref. V 9,3 f. im Einzelnen vgl. T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 310 f. 465 J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 117; vgl. auch ebd., S. 118 und S. 121 ff. 466 Vgl. J. Frickel, ebd., S. 129: »Diesem anthropologisch-soteriologischem Dualismus hat der PG [›Pneuma-Gnostiker‹] (wenigstens direkt) nicht Paulus entnommen, sondern dem Johannesevangelium, das diesen Gegensatz scharf hervorhebt« (mit Bezug auf Joh 3,6).

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äußernden Selbstverständnis und Selbstbewusstsein jener Gnostiker als der ›Vollkommenen‹, die alle in der Vorläufigkeit dieser Welt geltenden ›Relativierungen‹ bereits hinter sich gelassen haben: Insgesamt: ein exklusiver Anspruch, der sich folgerichtig in der Naassenerschrift in einem auffälligen ›Wir / Wir allein‹ äußert, so besonders deutlich, hier mit Bezug auf Joh 10,9, in Hippolyts Refutatio 9,21: »Wir aber, die Pneumatiker, die sich vom lebendigen Wasser … das [uns] Gemäße auswählen, indem wir durch das wahre Tor unseren Weg nehmen, welches der selige ( ) Jesus ist. Und wir sind von allen Menschen allein die Christen ( )«,467 insgesamt also ein Selbstverständnis und Selbstbewusstsein, das die Anthropologie der Naassener, bei all ihrer Nähe zur Position der Valentinianer, von der gemäßigten Position des Herakleon deutlich unterscheidet.468 Im Übrigen ist es kein Zufall, dass bei den Naassenern – wie auch bei den Valentinianern sowie bei Herakleon – im dualistischen Gegenüber der ›Sarkiker‹ und der ›Pneumatiker‹ gelegentlich zwar die ersteren ausdrücklich als ›Hyliker‹ bzw. als ›Choiker‹ bezeichnet werden können469, aber die für die valentinianische Gnosis und insbesondere für Herakleon charakteristische ›Mittelklasse‹ der ›Psychiker‹ in ihrer Ambivalenz, ›in der Mitte‹ nämlich zwischen den ›Sarkikern‹ bzw. ›Hylikern‹ einerseits und den ›Pneumatikern‹ andererseits, nur einmal genannt wird, und zwar von Hippolyt, Ref. V 8,4, auch hier in negativer Hinsicht: In das ›Haus Gottes‹ (Gen 28,17), in dem ›der gute Gott allein wohnt‹, geht kein ›Unreiner‹ hinein, und schon gar nicht ein ›Sarkiker‹ – denn: Der Zugang zu diesem ›Haus‹ ist ›allein den Pneumatikern vorbehalten‹. Das Gesamtbild, das sich aus dem 5. Buch der Refutatio des Hippolyt im Blick auf die Naassener ergibt, ist somit eindeutig – und zugleich exemplarisch dafür, in welchem Maße hier bestimmte ausgewählte Texte des JohEv.s in einen genuin gnostischen Kontext integriert – und in diesem Sinne zugunsten bestimmter Grundaussagen einer genuin gnostischen Anthropologie instrumentalisiert werden. Für die Naassenerschrift in ihrer vorliegenden, wohl auf die Redaktion des sog. Pneuma-Gnostikers zurückgehenden Gestalt ist auch der im Einzelnen vielfältige Rückbezug auf die unterschiedlichsten Spielarten der spätantiken Philosophie- und Religionsgeschichte charakteristisch, die ihrerseits wiederum einer Interpretatio Gnostica unterzogen werden: Angefangen bei Homer (Ref. V 7,30) und Heraklit (Ref. V 8,42.44) mit vielfältigen Anleihen aus der griechisch-hellenistischen Philosophie- und Religionsgeschichte: Auf die Philosophen Empedokles (Ref. V 467 Vgl. auch Ref. V 8,26.29.44; 9,6. Zur Sache vgl. J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 123.128 f. 468 Für Herakleon vgl. besonders die Fragmente 20 und 21 sowie J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 117 sowie S. 165 ff. 469 Ref. V 8,22, hier im Anschluss an Eph 2,17, d.h. im Rahmen der Zuordnung zu den ›Fernen‹.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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7,30) und Heraklit (Ref. V 8,42.44) wird hier ebenso Bezug genommen wie auf die Mysterien von Samothrake (Ref. V 8,9), auf die Eleusinischen Mysterien (Ref. V 9,1) ebenso wie auf den Ref. V 9,9 zitierten Atthishymnus … So gesehen ist die Naassenerschrift, vordergründig gesehen, ein typisches Dokument eines philosophisch-religiösen Synkretismus, der seinerseits wiederum auf die gnostische ›Grundidee‹ der Naassener ausgerichtet ist; letztere eindrücklich ›in Szene gesetzt‹ in dem die Naassenerschrift abschließenden Naassenerhymnus (Ref. V 10,2): Die gesamte griechisch-hellenistische Philosophie- und Religionsgeschichte wird hier zum Zeugnis aufgerufen für die Wahrheit jener gnostischen Grundidee – oder, wie es am Ende jenes Naassenerhymnus im Munde Jesu heißt: »… alle Geheimnisse werde ich erschließen / die Gestalten der Götter will ich zeigen / und das Verborgene des heiligen Weges / Gnosis genannt, will ich vermitteln«. Hippolyt hat seinem Zitat des ›Naassenerhymnus‹ noch die kritische Bemerkung hinzugefügt (Ref. V 11): »So treiben es die Naassener, die sich selbst ›Gnostiker‹ nennen«, als solches gewiss eine polemische Bemerkung, die das ganze ›synkretistische‹ Verfahren der Naassener in Frage stellt, dabei jedoch verkennt, dass eben dieser in der ganzen Naassenerschrift sich breit entfaltende Synkretismus nichts anderes zum Ausdruck bringen will als die universale, alle Grenzen von Religionen überschreitende Geltung jener gnostischen ›Grundidee‹: im Sinne der Gnostiker jedenfalls die Summe aller bisherigen Philosophie- und Religionsgeschichte.

Exkurs: Zur Frage der Rezeption des Johannesevangeliums in den gnostischen Schriften von Nag Hammadi470 Im Rahmen der Frage nach der Rezeption des JohEv.s in der frühchristlichen Gnosis handelt es sich um ein besonderes Kapitel: Nicht nur dass es – formal wie auch sachlich gesehen – mit den Schriften von Nag Hammadi bereits in sprachlicher Hinsicht eine eigene Bewandtnis hat; vielmehr eröffnet sich mit diesen Schriften, gnostischen Originalquellen also, offensichtlich ein gleichsam unmittelbarer Zugang zur Sache der frühchristlichen Gnosis selbst – ohne den Umweg über die in jedem Falle polemischen Implikationen der entsprechenden Darlegungen der frühkirchlichen Häresiologen. Geht man bei dieser Fragestellung zunächst von dem Überlieferungsbefund aus, wie ihn C.A. Evans, R.L. Webb und R.A. Wiebe in ihrer Synopse bzw. in ihrem Index unter dem Titel »Nag Hammadi Texts and the Bible« vom

470 Dazu im Einzelnen: F.-M. Braun, Jean le Théologien et son Évangile dans l’eglise ancienne I, S. 113–133; W. G. Röhl, Die Rezeption des Johannesevangeliums in christlich-gnostischen Schriften aus Nag Hammadi, S. 88–130; T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums im 2. Jh., S. 369–379.

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Jahr 1993 im Einzelnen analysiert haben471, so verspricht die entsprechende Übersicht speziell zum JohEv – auf den ersten Blick jedenfalls – umfassendes ›Material‹ zur Analyse: Auf immerhin dreizehn Seiten werden hier die Zitate bzw. die Bezugnahmen auf das JohEv aufgelistet, letztere wohl doch in der Überzahl, denn wörtliche, als solche gekennzeichnete Zitate aus dem JohEv sind in den Schriften von Nag Hammadi eher die Ausnahme. Vielmehr bleibt im konkreten Fall ein Ermessensspielraum, ob es sich jeweils wirklich um ein Zitat oder nur um eine mehr oder weniger wörtliche Bezugnahme auf das JohEv handelt. Gleichwohl: auch dort, wo offensichtlich nur eine Bezugnahme oder auch Anspielung auf das JohEv vorliegt, ist dies keineswegs nur negativ zu vermerken: Vielmehr könnte solche eher nur andeutende als vielmehr ausgeführte Rezeption des JohEv.s im jeweiligen Falle auch das Symptom einer Integration des JohEv.s in seinen jeweiligen gnostischen Kontext sein, Symptom also einer besonders intensiven Art von Instrumentalisierung des JohEv.s in seinem neuen, nunmehr gnostischen Kontext472. Im Einzelnen ist dabei der entsprechende Befund in den Schriften der Bibliothek von Nag Hammadi durchaus unterschiedlich, was zugleich bedeutet, dass ein einheitliches Ergebnis der Fragestellung von vornherein nicht zu erwarten ist – und dem entspricht es auch, dass etwa T. Nagel seine Auswertung der hier in Betracht kommenden gnostischen Schriften ohne ein zusammenfassendes Ergebnis beschließt, während das abschließende Votum von W.G. Röhl zu dieser Fragestellung ohne jede Differenzierung im Blick auf die einzelnen hier in Betracht kommenden Schriften ganz generell negativ ausfällt473. Im Übrigen empfiehlt sich in diesem Zusammenhang – schon angesichts der Anzahl der hier in Betracht kommenden gnostischen Schriften – ein paradigmatisches Vorgehen. So wird im Folgenden nur eine Auswahl aus den (eindeutig als ›gnostisch‹ zu identifizierenden) Schriften von Nag Hammadi untersucht werden, in erster Linie also diejenigen Schriften, die sich mehr oder weniger deutlich auf das JohEv beziehen bzw. das JohEv in den Zusammenhang ihrer Argumentation einbeziehen. An erster Stelle soll dabei das sog. Evangelium Veritatis (NHC I/3) stehen, dem in der bisherigen Forschung eine besondere Nähe zum JohEv bescheinigt worden ist, damit zugleich aber auch, was das JohEv selbst betrifft, eine 471 C.A. Evans (etc.), Nag Hammadi and the Bible. A Synopsis and Index. Vgl. dazu U. Kaiser, Neuere Gnosisforschung, S. 49 f. 472 Zur Problematik der ›Zitate‹ in den Schriften von Nag Hammadi vgl. C.A. Evans, a.a.O., S. XVIII f. »The citation of biblical references only … suggests that there is only a possibility of some form of influence between the biblical text and the Nag Hammadi text. This possibility is established by a vague verbal and/or conceptual correspondence between a Nag Hammadi text and specific biblical texts« und weiter ebd.: »The forms of influence between the texts may be quite diverse«. 473 Vgl. das ›Ergebnis‹ seiner Untersuchung a.a.O., S. 206–210, hier freilich unter der Fragestellung, ob und inwieweit sich in der gnostischen Rezeption des Joh-Evangeliums der gnostische Charakter dieses Evangeliums selbst widerspiegelt! Zu dieser Fragestellung vgl. auch M. Hengel, Die johanneische Frage, S. 45 f.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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besondere Affinität dieses Evangeliums zur frühchristlichen Gnosis: »There is a certain affinity between the thought of the Gospel and that of Gnosticism, which lends some plausibility to a Gnostic interpretation of it«474. Für den Autor dieses ›Evangeliums‹ lag es also durchaus nahe, das JohEv oder doch jedenfalls bestimmte Aussagen dieses Evangeliums mehr oder weniger ausdrücklich aufzunehmen und in den Kontext seiner eigenen gnostischen Schrift zu integrieren. Jedoch: Ein ›Evangelium‹ von der Art des JohEv.s oder auch der synoptischen Evangelien des Neuen Testaments ist dieses nach seinem ›Incipit‹ benannte ›Evangelium Veritatis‹ gewiss nicht, auch wenn Irenäus (Adv. Haer. III 11,9) bereits ein von den Valentinianern verfasstes bzw. benutztes ›Evangelium der Wahrheit‹ gekannt hat und seinerseits nun darüber klagt, dass jene Valentinianer das spezifische ›Bild des Evangeliums‹ (speciem evangelii) nicht wahr sein lassen, sondern ihrerseits mehr oder weniger verschiedene Gestalten des ›Evangeliums‹ einführen als die von Irenäus zuvor besprochenen vier ›kanonischen‹ Evangelien: plura habere gloriantur quam sunt ipsa evangelia, und dies vor allem im Blick auf das von ihnen ›zusammengeschriebene‹ Buch, das sie veritatis evangelium nennen, obwohl dieses ›Evangelium‹ doch »in keiner Weise mit den Evangelien der Apostel übereinstimmt«. In diesem Sinn ist die Argumentation des Irenäus in sich durchaus schlüssig: Wenn allein das, was von den Aposteln überliefert ist, das wahre veritatis evangelium ist, kann es sich bei jenem ›Evangelium‹ der Valentinianer eben nicht um das bzw. ein ›Evangelium der Wahrheit‹ handeln, und dies umso weniger, als jenes valentinianische Evangelium »erst kürzlich zusammengeschrieben worden ist« und schon von daher gesehen nicht bis ins ›apostolische‹ Zeitalter zurückreicht. In der Forschungsgeschichte gibt es seit der Entdeckung des Evangelium veritatis eine Kontroverse darüber, ob dieses von Irenäus den Valentinianern zugeschriebene ›Evangelium‹ möglicherweise bereits dem Valentinus selbst zuzuschreiben sei. Ausgangspunkt dafür sind gewisse, im Einzelnen mehr oder weniger deutliche terminologische Übereinstimmungen zwischen dem ›Evangelium Veritatis‹ aus dem Kodex I von Nag Hammadi und dem Valentinianer-Referat der altkirchlichlichen Häresiologen, insbesondere des Irenäus. In der älteren Forschung haben solche (vermeintlich weitgehenden) Übereinstimmungen auch weitgehend zu einem Konsens hinsichtlich einer Verfasserschaft des Valentinus geführt475; inzwischen freilich überwiegt die Skepsis in dieser Hinsicht, zumal die ›Verfasserfrage‹ für die Sache dieses ›Evangeli474 So M. F. Wiles, The Spiritual Gospel, S. 97; vgl. auch S. 96. – Speziell zur Frage der Rezeption des Joh-Evangeliums im Johannesevangelium vgl. W. C. van Unnik, The »Gospel of Truth« and the New Testament, S. 244–272; C. K. Barrett, The Theological Vocabulary of the Fourth Gospel and the Gospel of Truth, S. 210–223; T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums im 2. Jahrhundert, S. 369–379. Zur Forschungsgeschichte: J. Helderman, Das Evangelium Veritatis in der neueren Forschung, S. 4054–4106. 475 Vgl. J. Helderman, Das Evangelium Veritatis in der neueren Forschung, S. 4101: »Aufgrund des Dargelegten schließen wir uns der wachsenden communis opinio an, wonach Valentinus selbst das Ev. Ver. in Rom geschrieben hat«.

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ums‹ kaum etwas beiträgt und zumal R. McL. Wilson bereits i.J. 1980 mit Recht darauf hingewiesen hat, dass terminologische Übereinstimmungen für die Sache dieses Evangeliums insofern irrelevant ist, als diese Terminologie als solche gar nicht spezifisch ›valentinianisch‹ ist, sondern auch bei anderen gnostischen Schulen, wie z.B. bei Basilides oder auch bei den Naassenern, vorliegt476.

Wie man also auch immer im Blick auf den konkreten Ort dieses ›Evangeliums‹ in der Geschichte der frühchristlichen Gnosis (und insbesondere in der Geschichte des Valentinianisnus) entscheiden mag – in jedem Fall handelt es sich bei dieser Schrift aus dem Kodex I von Nag Hammadi um eine Schrift gänzlich eigener Art. Und dies gilt nicht nur hinsichtlich ihrer literarischen ›Gattung‹, in der sich diese Schrift eindeutig von den ›Evangelien‹ des Neuen Testaments unterscheidet, sondern auch im Blick auf die in dieser Schrift erörterte Sache. Auch in dieser Hinsicht ist das ›Evangelium Veritatis‹ (EV ) von Nag Hammadi eine Schrift besonderer Art, als solche mit dem, was im Übrigen an Quellen für Valentinus oder auch für die Valentinianer überliefert ist, am Ende ›unvereinbar‹477. Von den in der Forschungsgeschichte bisher vorgeschlagenen Kennzeichnungen dieser Schrift kommt die (zuerst von H.-M. Schenke gewählte) Zuordnung zur Gattung der ›Homilie‹ ihrer Eigenart am nächsten, zumal diese Schrift für sich in Anspruch nimmt, das ›wahre Evangelium‹ zu sein und in diesem Sinn so etwas wie ein Medium für die ›Wahrheit‹ – und damit zugleich auch für die ›Freude für die, die die Gnade empfangen haben vom Vater der Wahrheit, um ihn zu erkennen‹ (p. 16,31–33). Letzteres heißt wohl, dass die ›Suchenden‹, von denen gleich zu Beginn der Schrift die Rede ist (p. 17,3 f.), vermittels einer meditativen und in diesem Sinn auch aneignenden Lektüre dieser Schrift zum ›Finden‹ gelangen478. Dieses ›Evangelium‹, das ist sein Anspruch, ist für die, die es recht zu lesen verstehen, gleichsam eine Offenbarung der Hoffnung auf das ›Finden zum Frieden‹ – und in diesem Sinne zugleich auch eine weitere Variante für jenes frühkirchliche, bereits durch Irenäus und Tertullian bezeugte exegetische Programm vom ›Suchen und Finden‹479, wie es auch im EV im Einzelnen (p. 18,11 f. 28 ff. und p. 31,14 ff. 28 ff.) ausgeführt wird 476 R. McL. Wilson, Valentinianism and the Gospel of Truth, S. 139 f. – Auch der Versuch, auf Grund bestimmter Beobachtungen diesem ›Evangelium‹ einen bestimmten Ort in der Geschichte des Valentinianismus zuzuweisen, führt hier, wie z.B. die Diskussion um den Beitrag von R. McL. Wilson (S. 141–145) zeigt, nicht weiter. 477 So H.-M. Schenke, Die Herkunft des sogenannten Evangelium Veritatis, S. 24; ders., in: H.-M. Schenke, Nag Hammadi Deutsch I, S. 28. Vgl. auch C. Markschies, Texte und Forschungen zu Valentinus, S. 55–57; ders., Valentinus Gnosticus, S. 339–356. 478 Zum Stichwort ›Homilie‹ zur Bezeichnung der literarischen Gattung des EV vgl. H.-M. Schenke, Herkunft, S. 13 f. und S. 20–22, sowie H.W. Attridge, in CGL I, S. 65–67. Zum Stichwort ›Meditation‹ vgl. bereits H.-M. Schenke, Herkunft, S. 11 f. Demgegenüber jedoch B. Standaert, L’Évangile de Vérité-Critique et Lecture, S. 255: »Quant au genre littéraire, négativement on doit dire que ni le terme d’homélie ’ni celui de ›méditation‹ n’en recurrent exactement la nature«. 479 S. dazu oben S. 215–251.

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und woran sich durchaus sachgemäß die gnostische Auslegung des Gleichnisses ›vom verlorenen Schaf‹ aus Mt 18,12–14 par Lk 15,4–7 anschließt480. In diesem Sinne ist die Botschaft des EV primär eine hermeneutische Botschaft: ›The Gospel of Truth can be read as a text whose primary message is a hermeneutical one‹ – denn: »The text defines itself as ›the gospel of the one who is searched for‹ (18,12)«481. Einer solchen hermeneutischen Perspektive des EV entspricht es, dass in dieser Schrift keine (ausdrücklich gekennzeichnete) Schriftzitate überliefert sind, sondern nur mehr oder weniger deutliche Bezugnahmen auf bestimmte Schriften des Neuen Testaments. Warum dies so ist, ist eindeutig: In einem ›Evangelium‹, das als solches, wie es p. 17,2–4 heißt, ›Offenbarung der Hoffnung‹ ist, und zwar für diejenigen, »die nach ihm, dem Vater, suchen«, zitiert man nicht in gleichsam ›schriftgelehrter‹ Weise: Der Leser dieses ›Evangeliums‹ soll ja selbst ›suchen‹ – und ›finden‹. Das eher ›exegetische‹ Verfahren, den jeweiligen Rückbezug auf die Hl. Schrift zu vermerken, entspricht nicht der ›exegetischen Strategie‹ dieses Textes. Hier bedarf es also auch nicht eines jeweils ausgeführten ›Schriftbeweises‹482. Und ganz in diesem Sinne wird, was wiederum das JohEv betrifft, das überlieferte Wort dieses Evangeliums gleichsam zum ›Material‹ für die neue ›gute Botschaft‹ dieses ›Evangeliums der Wahrheit‹. Das überlieferte Wort des JohEv.s wird in seinen neuen Kontext hineingenommen – und gewinnt auf diese Weise seine dem neuen Kontext gemäße Bedeutung für die ›Wahrheit‹, damit aber auch für die ›Freude‹ der dieses Evangelium ›suchenden‹ Rezipienten. Was seine praktische, auf die Veränderung des Seins und Verhaltens seiner Adressaten gerichtete Tendenz betrifft, so kann man das EV als eine Art ›Denkschrift gegen alle Unkenntnis‹ kennzeichnen, genauer also gegen das Vergessen des ›Woher‹ und damit auch des ›Wohin‹ seiner Adressaten. In diese Richtung weist bereits der Beginn der Schrift: ›Das Evangelium der Wahrheit ist / bedeutet [und bewirkt!] Freude für die, denen es vom Vater der Wahrheit gnädig geschenkt worden ist, ihn zu erkennen …‹ (p. 16,31–33). Und das Werk, das der Soter (Jesus) ausrichten soll, ist dementsprechend ein Werk ›zur Rettung derer, die im Stande der Unwissenheit über den Vater waren‹ (p. 16,38–17,1). In diesem Sinne handelt es sich in dieser Schrift in der Tat um eine ›gnostische‹, d.h. auf die ›Erkenntnis‹ ihrer Adressaten ausgerichtete Schrift, denn: ›Erkenntnis des Vaters‹, das ist zugleich ›Offenbarung der Hoffnung‹ und des ›Findens für die, die nach ihm [dem Vater] suchen‹ (p. 17,2–4). 480

Dazu s.o. S. 318. So P. C. Miller, »Words With an Alien Voice«, S. 465. 482 Zum Problem in dieser Hinsicht: P. C. Miller, a.a.O., S. 474 ff., hier bes. S. 475 und S. 476 f.: »While it is true that the Gospel of Truth does not explicitly from New Testament texts, this lack of verbatim citation need not to mean that those texts were not in some way authoritative. Allusions from one text can live on in another text as touchstones in the continuous desire for meaning that writings sets in motion …«. 481

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Diesem Grundthema sind im Folgenden alle Bezugnahmen bzw. Anspielungen auf das JohEv zugeordnet, so bereits p. 18,1 ff.: ›Was aber in ihm [dem Vater] entsteht, ist die Erkenntnis‹, eine ›Erkenntnis‹ nämlich, ›die sich mitteilte, damit das Vergessen aufgelöst und [so] der Vater erkannt werde‹. Jedoch nicht nur vom ›Vater‹ ist hier die Rede, sondern auch vom ›Evangelium‹, von dem es p. 18,11 ff. heißt: ›den Vollkommenen hat sich dieses Evangelium … durch die Barmherzigkeit des Vaters mitgeteilt‹, was in christologischer Hinsicht bedeutet: ›Durch dieses verborgene Geheimnis hat Jesus Christus diejenigen erleuchtet, die infolge ihres Vergessens in der Finsternis waren‹. Er, Jesus Christus also, hat sie ›erleuchtet‹ und ihnen ›einen Weg gezeigt‹, der – wie es nunmehr p. 18,19 f. In Anspielung offensichtlich auf Joh 8,12 bzw. 12,46 heißt – der Weg der ›Wahrheit‹ ist: ›Dieser Weg aber ist die Wahrheit, über die er [Jesus] sie belehrte‹. Die Reihe der Bezugnahmen auf das JohEv setzt sich p. 21,34 ff. fort, hier zunächst in der dem EV eigenen Bezeichnung der Opposition: ›Denn einer, der unwissend [d.h. ohne Erkenntnis] ist‹, ist ein ›Gebilde der Vergessenheit, und er wird mit ihr aufgelöst werden‹ – und im Gegensatz dazu: »Daher ist einer, wenn / sobald er erkennt, ein Wesen von oben«, und »er weiß [es] wie einer, der betrunken war und sich von der Trunkenheit abgewandt hat, der sich [also in diesem Sinne] sich selbst zugewandt hat«. Was an dieser Stelle zum Ausdruck gebracht wird, ist eine exemplarische Beschreibung der ›Umkehr‹ bzw. Rückkehr des Gnostikers zu seinem eigentlichen Wesen, eben zu jenem ›Wesen von oben‹, ein Mensch also, der, wie Irenäus es formuliert, ›von oben‹ (de super) kommt483. Hier gibt es nun in der Tat, und zwar ohne dass das JohEv hier eigens zitiert wird, eine Entsprechung zu Joh 3,7 f, zum Thema des ›Woher‹ und ›Wohin‹ ebenso wie auch zu der Joh 3,7 betonten Notwendigkeit eines ›Geborenwerdens von oben‹ – mit dem jedoch entscheidenden Unterschied nur, dass jenes ›von oben Geborenwerden‹ im JohEv nicht in die Verfügbarkeit des Menschen (als des potentiellen Gnostikers!) gestellt ist, sondern, wie Joh 3,8 b zeigt, ›vom Geist [Gottes]‹ gewirkt ist. Der Kontext also, in dem im JohEv dieses Thema entfaltet wird, ist also ein anderer als der im gnostischen ›Evangelium Veritatis‹. Hier wird am Ende ein genuin johanneisches Thema sekundär einer genuin gnostischen Anthropologie und Soteriologie zugeordnet484. Gleichwohl: Was jenen im EV zu Wort kommenden Gnostikern den Anlass zur Rezeption jener Gegenüberstellung von ›Geist‹ und ›Fleisch‹ in Joh 3,6 ff. sowie zur Gegenüberstellung von ›von oben‹ und ›von unten‹ in Joh 483 Irenäus, Adv. Haer. III 15,2: … hominem qui est desuper adveniens. Vgl. auch Epiphanius, Haer. 26.13.2: »Denn ich, sagt er, bin von oben«. 484 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Joh 8,23. – Zur Frage der Rezeption von Joh 3,8 in EV p. 22, 13–15 vgl. auch T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 373 f., hier bes. S. 372, Anm. 1214: »Insgesamt überwiegt der Eindruck, dass die Attribute, die im Joh-Ev vornehmlich Jesus zukommen, im Ev Ver auf die Gnostiker appliziert werden«.

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8,23 gegeben hat, ist offensichtlich jene nahezu ›dualistisch‹ anmutende Gegenüberstellung von zwei ›Prinzipien‹, wie sie auch in der gnostischen Schrift ›Vom Wesen der Archonten‹ (NHC II /4, p. 87,17–20), hier im Blick auf das Schicksal der ›Psychiker‹ und der ›Pneumatiker‹, entfaltet wird (p. 87,17–20): ›Die Psychiker können den Pneumatiker [bzw. ›das Pneumatische‹] nicht erlangen: sie nämlich stammen von unten, dieser aber stammt von oben‹485. In diesen Kontext einer ›Denkschrift gegen alle Unkenntnis‹ fügt sich auch die Beschreibung der Existenz des Gnostikers im Stande der Unwissenheit ein, wie sie im EV p. 28,24 ff. vorliegt: eine Existenz, die durch Furcht, Schwachheit, ja durch Albträume gekennzeichnet ist – bis zu dem Augenblick jedenfalls, da die so Gekennzeichneten aus ihrem ›Schlaf erwachen‹: ›So warfen sie die Unwissenheit wie den Schlaf von sich‹ (p. 29,34 f.). Die Zeit der ›Unwissenheit‹ ist also gleichsam die Zeit des Schlafs und der Albträume, eine Zeit, die nicht anders als durch das Wirken des ›Geistes‹ bzw. durch das Wirken des Erlösers ihr Ende finden kann: Seliggepriesen wird also derjenige, der, wie es im EV p. 30,14–16 offensichtlich mit Bezug auf Joh 11,37 heißt, ›die Augen der Blinden geöffnet hat‹486. Und eben auf dieser Grundlinie liegt dann auch die Aussage von p. 31,28 ff., wo es in Anspielung wohl auf Joh 14,6 heißt: ›Er [Jesus] ist für diejenigen, die irregeführt waren, ein Weg geworden und eine Erkenntnis für diejenigen, die unwissend waren, ein Finden [also] für die, die suchten‹ – insgesamt also eine Aussagenreihe, die ihrerseits wiederum jenem ›Preislied auf das Evangelium‹ entspricht, wie es im EV p. 18,11 ff. vorgetragen wird: ›Den Vollkommenen hat sich dieses Evangelium von dem, wonach sie suchten, durch die Barmherzigkeit des Vaters mitgeteilt. Durch das verborgene Geheimnis hat Jesus Christus diejenigen erleuchtet, die infolge des Vergessens in der Finsternis waren‹, und das heißt zugleich: ›Er erleuchtete sie und wies ihnen den Weg. Dieser Weg aber ist die Wahrheit, über die er sie belehrte‹. Ganz unabhängig davon, ob hier eine Bezugnahme auf Joh 14,6 vorliegt, die Sprache, die hier gesprochen wird, ist von der des JohEv.s gleichsam gesättigt. Und so versteht es sich auch für den Autor des EV von selbst, dass in den Kontext einer solchen Beschreibung des Gnostikers als 485 So die Übersetzung aus dem Koptischen von A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 273 f.; sprachlich genauer (im Kontext!) U. Kaiser, in: Nag Hammadi Deutsch I, S. 224: »Die Unvergänglichkeit blickte herab zu den Regionen der Wasser. Ihr Bild erschien in den Wassern, und die Mächte der Finsternis verliebten sich in sie. Aber sie waren nicht in der Lage, jenes Bild, das ihnen in den Wassern erschienen war, zu erreichen – wegen ihrer Schwäche. Denn die seelischen (Wesen) können die geistigen (Wesen) nicht erreichen: Sie sind von unten, es (sc.: das Bild der Unvergänglichkeit) aber ist von oben«. 486 Dies ist auch die einzige Stelle aus dem EV, die W. G. Röhl, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 119, angesichts ihrer sprachlichen Kongruenz mit Joh 11,37 als Zitat gelten lässt. Solches ›Zugeständnis‹ steht bei ihm seinerseits wiederum unter dem Vorbehalt (S. 112), »dass wir es hier mit verschiedenen Gedankenkreisen zu tun haben, für die eine gegenseitige Abhängigkeit [?] nicht angenommen werden muss«. Zur Rezeption von Joh 11,37 in EV p. 30,14–16 vgl. auch T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 371 f.

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desjenigen, der bereits ›gefunden‹ hat, am Ende auch die ›Immanenzformel‹ von Joh 10,38 einbezogen wird: Sie, die bereits ›gefunden‹ haben, ›ruhen in ihm, der [in ihnen] ruht … Und der Vater ist in ihnen, und sie sind im Vater, und zwar als solche, die vollkommen und ungeteilt in dem [einzig] wahrhaft Guten sind‹ (p. 42,21 ff.), insgesamt eine Formulierung, der auch p. 18, 29–31 zuzuordnen ist: »Er aber [sc.: der Vater] hatte sie in sich gefunden, und sie fanden ihn in sich …«487. Ob im EV darüber hinaus noch weitere Bezugnahmen auf das JohEv auszumachen sind, sei hier dahingestellt488; was die Rezeption des JohEv.s im EV betrifft, ist jedenfalls die Intensität bemerkenswert, in der hier das Leiden Jesu wie auch seine ›Inkarnation‹ den Adressaten dieses Evangeliums vermittelt werden, jene Themen also der Geschichte Jesu, die ansonsten eher für den anti-gnostischen Charakter des JohEv.s geltend gemacht werden489. Ganz i.U. etwa zur Lehre der Naassener, der zufolge der Erlöser ein nicht›fleischlicher vollkommener Mensch‹ ist490, heißt es im EV p. 31,4 f. dass der Erlöser ›in der Gestalt des Fleisches‹ gekommen ist. Das hier gebrauchte koptische Wort smat bzw. smot ist gewiss nicht i.S. einer ›doketischen‹ Christologie zu verstehen, sondern entspricht durchaus dem griechischen Terminus , wie er auch Phil 2,7 und Röm 8,3 benutzt wird, bezeichnet also die wirkliche leibliche Gestalt Jesu491. Dem entspricht es, dass im EV auch ausdrücklich das Leiden Jesu als des Gekreuzigten betont wird, so p. 18,21 ff., wo es (im Anschluss an die Kennzeichnung des Weges Jesu als eines ›Weges der Wahrheit‹) heißt: »Deswegen war die zornig über ihn: Sie nagelte ihn an ein Holz«492. Als Zeugnis einer Art gnostischer Inkarnations- und Kreuzestheologie im EV ist darüber hinaus auf die Aussage p. 23,30 f. hinzuweisen, auch wenn hier nicht i.S. von Joh 1,14 vom ›Fleisch‹ die Rede ist: Hier heißt es von der ›Liebe des Vaters‹, dass sie ›einen Leib auf ihn machte‹, und offensichtlich steht wiederum Joh 1,14 im Hintergrund er Formulierung p. 26,4 ff.: »Als das Wort in Erscheinung trat …, war es nicht 487 Zum Gebrauch der sog. Immanenzformel im EV vgl. T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 375: »Als Rezeptionsanlass genügt allein der Einheitsgedanke, der im Joh-Ev mit der Immanenzformel in ein einprägsames Bild gefasst ist«. 488 Vgl. dazu T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 369–379. 489 Zum Charakter der Aussage von Joh 1,14 als ›Skandalon‹ vgl. R. Bultmann, Das Evangelium nach Johannes, S. 39 ff.; demgegenüber aber auch die gänzlich andere Position von E. Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, S. 26 ff. 490 So nach dem Referat des Hippolyt, Ref. V 8,37. Vgl. dazu P. Pokorný, Das sogenannte Evangelium Veritatis und die Anfänge des christlichen Dogmas, S. 53. 491 Zum Thema vgl. P. Pokorný, Der irdische Jesus im Johannesevangelium, S. 220 f. – Zu EV, p. 31,4 f. vgl auch H.W. Attridge/G.W. MacRae, in: CGL I (NHS XXIII ), S. 88 f. 492 Zur Formulierung »man nagelte ihn an ein Holz« vgl. bereits Gal 3,13; Apg 5,30; 10,39, weiter die Epistula Petri (NHC VIII /2), p. 139,18–20, und Irenäus, Adv. Haer. I 14,6, hier im Bericht über die Markosier. Zur Vorstellung, dass es die war, die Jesus »an das Holz nagelte«, vgl. auch 1 Kor 2,8 f.: Hier sind es »die Archonten dieses Äons«, die »den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt haben«.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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nur eine Stimme, vielmehr wurde es zu einem Leib«493. Gewiss mag man hierzu fragen, ob an den genannten Stellen jeweils bewusst der Terminus vermieden worden ist494 – in jedem Fall aber kann man im Blick auf die genannten Zeugnisse durchaus von einer bestimmten Art von ›Inkarnationstheologie‹ im EV sprechen – mit dem Unterschied zum JohEv selbst nur, dass diese Art von ›Inkarnationstheologie‹ nicht als solche mit einer ›Kreuzestheologie‹ verbunden ist, sondern zunächst nichts anderes zum Ausdruck bringt als die Bedingung für die Möglichkeit der Mitteilung der ›Wahrheit‹ dieses Evangeliums, und das heißt: Der ›leibgewordene‹ Jesus, den die Menschen sahen und hörten, ja den sie ›anfassen‹ konnten, ›offenbarte sich‹, wie es p. 30,32 ff. heißt, »indem er sie [die Adressaten dieses Evangeliums] über den Vater, den Unbegreiflichen, belehrte« – und auf diese Weise endlich auch dieser ›Leibgewordene‹ Jesus »zum Weg [wurde] für die, die sich verirrt hatten, und zur Erkenntnis für die, die unwissend waren, zur Entdeckung [d.h.: ›zum Finden‹] für die, die ihn suchten«495. Aufs Ganze gesehen ist somit das ›Evangelium Veritatis‹ das Zeugnis einer bestimmten Art von ›Inkarnationstheologie‹, die offensichtlich bestimmte gängige (strikte!) Unterscheidungen zwischen einer ›spezifisch gnostischen‹ und einer ›spezifisch christlichen‹ Inkarnationstheologie relativiert, andererseits aber auch in einen spezifisch gnostischen Kontext hineingenommen ist: Die ›Inkarnation‹, die Leibwerdung des Erlösers, ist in diesem Sinn nichts anderes als die Bedingung für die Möglichkeit der Mitteilung des ›Evangeliums der Wahrheit‹. Die vierte Schrift aus dem Kodex I von Nag Hammadi, der sog. Rheginosbrief oder auch – nach der Subscriptio benannt, die Abhandlung über die Auferstehung gehört zunächst nicht zu den Schriften von Nag Hammadi, in denen vorzugsweise auf das JohEv Bezug genommen wird; statt dessen wäre hier viel eher der Apostel Paulus zu nennen, der zwar namentlich gar nicht genannt wird, auf den jedoch mit der Bezeichnung ›der Apostel‹ als Gewährsmann für die in dieser Schrift vertretenen Position ausdrücklich verwiesen wird: Paulus i.S. dieser Abhandlung also ›der Apostel der Auferstehung‹496. Gleichwohl finden sich in dieser Schrift auch gewisse, im Einzelnen mehr oder weniger deutliche Bezugnahmen auf das JohEv, und zwar i.S. einer offensichtlich gezielten Einbeziehung in den speziell in dieser 493 Zum Stichwort ›Stimme‹ vgl. auch die Selbstprädikation der ›Protennoia‹ in NHC XIII , p. 42,4, und dazu Y. Janssens, The Trimorphic Protennoia and the Fourth Gospel, S. 230 f. 494 Vgl. z.St. H.W. Attridge/G.W. MacRae, in: CGL I, S. 77: »The author may be alluding to such incarnational texts as John 1:14, although … the author avoids the term sarx, which is used in John«. Vgl. im Übrigen auch die Formulierung im »Evangelium veritatis«, p. 26,28: »Die Wahrheit trat in Erscheinung«. 495 Ev. Veritatis p. 31,28 ff. – Vgl. die sachlich entsprechende Aussage ebd., p. 18,16 ff. – Zu dem hier vorliegenden Verständnis von ›Inkarnation‹ als »Mittel zur Mitteilung der geistigen Wahrheit« vgl. P. Pokorný, Das sog. Evangelium Veritatis und die Anfänge des christlichen Dogmas, S. 220 f. bzw. S. 221: »Der Erlöser erlöst nicht die Sünder aus den Sünden …, sondern erweckt das göttliche Wissen aus der Vergessenheit in der Materie«. 496 So Clemens Alexandrinus, Exc. ex Theodoto 23,2.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Schrift sich abzeichnenden gnostischen Kontext497. Ganz offensichtlich ist es die für das JohEv charakteristische ›präsentische‹ Eschatologie, die nun auch diese Schrift für den Autor der ›Abhandlung‹ rezeptabel gemacht hat, weil sie auf diese Weise unmittelbare Anknüpfungsmöglichkeiten für die ihm eigene Auffassung von der ›Auferstehung‹ darbot. Dass dabei, was nun die Art und Weise der Rezeption der entsprechenden Aussagen im JohEv betrifft, die dem JohEv selbst innewohnende Spannung zwischen ›präsentisch-‹ und ›futurisch-eschatologischen‹ Aussagen nicht rezipiert wird, versteht sich für den Autor jenes ›Rheginosbriefes‹ von selbst498. Unter dieser Voraussetzung gibt es – geht man z.B. von Joh 5,24 aus – durchaus eine Entsprechung zur Eschatologie des Rheginosbriefs, und zwar nicht nur in formaler Hinsicht zu dem hier (p. 45,24 ff.) zitierten Spruch ›des Apostels‹ vom ›Leiden‹, vom ›Auferstehen‹ und von der ›Himmelfahrt mit ihm‹ (p. 45,25 ff.), sondern auch zu der Leitfrage dieser Schrift: ›Was also ist [eigentlich] die Auferstehung?‹ (p. 48,5) – auch zu der Antwort, die im Rheginusbrief (p. 49,9–16) auf diese Frage gegeben wird – hier dann i.S. einer spezifisch gnostischen Interpretation bzw. Rezeption der johanneischen (und der paulinischen) Eschatologie. Konkret heißt dies: Am Menschen, genauer am Gnostiker selbst liegt es, nicht mehr nur ›stückweise‹ zu denken und zu erkennen und in diesem Sinne auch nicht mehr ›nach Maßgabe des Fleisches‹ zu wandeln, sondern ›um der [ursprünglichen!] Einheit willen aus den Teilungen und Fesseln herauszutreten – und schon hast du die Auferstehung‹ (p. 49,15 f.)499. Am Ende kommt es also für den Gnostiker darauf an, sich selbst als denjenigen zu betrachten, der das Ziel seiner Existenz als ›Gnostiker‹, d.h. als ›Erkennender‹, bereits erreicht hat: »Weswegen also siehst du nicht, dass du selbst [im Grunde] schon auferstanden bist?« (p. 49,22–24). Die Differenz dieser gnostischen Deutung von ›Auferstehung‹ zu Joh 5,24 ist jedoch unübersehbar: Was hier, im JohEv, zuallererst christologisch begründet ist, konkret also durch das ›Bewahren der Werke‹ Jesu im Glauben an den, der Jesus gesandt hat, das kommt hier, im Rheginusbrief, gleichsam in einem gnostischen Gewand 497 Vgl. M. L. Peel, Gnosis und Auferstehung; ders., Kommentar zum Rheginusbrief, in: CGL I (NHS XXIII ), sowie T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 379–385, hier (S. 380) mit der Einschränkung: »Die in der Forschung teilweise anzutreffende Gewissheit, dass die EpRheg auf das Joh-Ev zurückgreift, hat bislang keine analytische Basis«. 498 Vgl. jedoch T. Nagel, a.a.O., S. 385: »Mit dem Joh-Ev ist die EpRheg jedoch in Hinsicht auf ihr Nebeneinander von präsentischer und futurischer Eschatologie verbunden«. Vgl. aber auch W. C. van Unnik, The Newly Discovered Gnostic Epistle to Rheginos on the Resurrection, S. 255: »Invarious places it uses phrases which we find in the N.T. and the second-century Christian writings. Nevertheless the context in which this doctrine functions is different from that of the New Testament and non-Gnostic books: it is, we may say, purely vertical instead of vertical and horizontal; it is, one may say, cosmological instead of theological«. 499 Vgl. zum Einzelnen den Kommentar von M. L. Peel, Gnosis und Auferstehung, S. 202 ff., hier auch zu den paulinischen Elementen in der Auferstehungslehre des Rheginosbriefes; speziell zur letztgenannten Aussage – »und schon hast du die Auferstehung« – vgl. ebd., S. 205 f.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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daher: Am Menschen, genauer: am ›Gnostiker‹, liegt es, nicht mehr lediglich ›stückweise‹ ( ) zu denken oder ›nach Maßgabe des Fleisches‹ zu wandeln; mehr noch: Sind seitens des Menschen bzw. des Gnostikers die Bedingungen seiner Existenz (als ›Gnostiker‹) erfüllt, dann gilt auch: ›und schon hast du die Auferstehung‹ (p. 49,15 f.). Hier, im Rheginosbrief, wird damit eine Grundposition sichtbar, die derjenigen der in den Pastoralbriefen des Neuen Testaments bekämpften gnostischen Irrlehre des Hymenaios und Philetos, ›die da meinen, dass die Auferstehung bereits geschehen sei‹, unmittelbar entspricht500. Die Wahrscheinlichkeit dass es sich bei dem soeben genannten Sachverhalt um eine gnostische Rezeption der ›präsentischen‹ Eschatologie des JohEv.s handelt, liegt umso näher, als im Rheginosbrief weitere, im Einzelnen mehr oder weniger deutliche Anzeichen in dieser Hinsicht gegeben sind, auch sie allesamt unter dem hier (p. 44,39–45,5) ausdrücklich genannten Vorbehalt: ›Ich weiß [wohl], dass ich die Lösung von schwierigen Dingen mitteile‹, mit der Einschränkung gleichwohl: »jedoch gibt es [eigentlich gar] nichts Schwieriges im Wort der Wahrheit«. Dies gilt auch für den Passus p. 44,14–17, hier vor allem die Bezugnahme auf das ›Sein des Herrn im Fleisch‹ bzw. auf seine ›im Fleisch‹ erfolgende ›Offenbarung als Gottessohn‹. Es liegt nahe, in diesem Zusammenhang die Formulierung p. 44,14 f.: »Er wurde [koptisch: efšoop] im Fleich« i.S. einer Bezugnahme auf die Rede von der ›Fleischwerdung‹ des Logos von Joh 1,14 zu verstehen, dies freilich in einem gnostischen Kontext nicht primät i.S. einer gleichsam ›vollständigen‹ Inkarnation501, sondern lediglich als ›Mittel zum Zweck‹, damit auf diese Weise durch den ›Gottessohn‹ im irdisch-weltlichen Raum der Tod zunichte gemacht werde und, damit zugleich, durch den ›Menschensohn‹ die Wiederherstellung ›in das Pleroma hinein geschehe‹ (p. 44,25 ff.). Was hier im Rheginosbrief vorliegt, ist also in der Tat eine gnostische Version bzw. Interpretation der ›Inkarnations‹- Aussage von Joh 1,14, in deren Zusammenhang die Hoheitsaussage ›als Same der Wahrheit stammte er zuerst von oben‹ wiederum dem von Joh 3,31; 6,38 und 8,23 entspricht. In gnostischen Texten ist es eben diese Bezeichnung der Herkunft, die ebenso wie für den ›Erlöser‹ auch für die ›Pneumatiker‹ gilt: Er, der ›Erlöser‹ zuerst, kommt ›von oben her‹502, und 500 Dazu vgl. M. L. Peel in seinem Kommentar: Gnosis und Auferstehung zu p. 49,15 ff., hier mit Verweis auf Tertullian, De praesc. haer. 33,7 sowie auf das Philippusevangelium (NHC II /3, p. 121,1 ff.), wo die Auferstehung mit der Taufe verbunden ist. Insgesamt gibt es hier eine Art Spiritualisierung einer ursprünglich ›apokalyptischen‹ Auferstehungshoffnung: »Erkenntnis der Wahrheit«, also: ›Gnosis‹, ist mit der ›Auferstehung von den Toten‹ identisch. Zur Sache vgl. bes. G. Sellin, »Die Auferstehung ist schon geschehen«. Zur Spiritualisierung apokalyptischer Terminologie im Neuen Testament, S. 233 f.: »Was die Falschlehrer [von 2 Tim 2,18] meinen, ist das, was der Verfasser des Kol in 2,12 f. formuliert hat (bezeichnenderweise im Anschluss an Römer 6)«. 501 Nach M. L. Peel, Gnosis und Auferstehung, S. 66, liefert die Rede von der Existenz »im Fleisch« (p. 44,14 f.) den Beweis dafür, »dass die Christologie der Gnostiker nicht einheitlich ›doketisch‹ war«. Demgegenüber sei freilich die Formulierung in EvVer p. 31,4 f.: nousarx nsmat, d.h.: ›in Fleischesähnlichkeit‹, doketisch zu verstehen. 502 Vgl. M. L. Peel, Kommentar in: CGL I (NHS XXIII ), S. 154, mit Hinweis auch auf Irenäus, Adv. Haer. I 6,4; Hippolyt, Ref. V 7,36; VIII 21,41; IX 6,16 ff.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

so ist dann auch seine Aufgabe als ›Menschensohn‹, die restitutio in integrum, die Wiederherstellung in das (ursprüngliche) Pleroma hinein zu bewirken (p. 44,24 ff.). Ob im Rheginosbrief auch p. 45,2 ff. ein Bezug auf Joh 1,14 (und 1,17?) vorliegt, sei hier dahingestellt503; bemerkenswert ist jedoch noch p. 45,36 f.: ›wir werden zum Himmel gezogen werden wie die Strahlen der Sonne‹. Möglicherweise handelt es sich auch hier um eine Bezugnahme auf das Verbum von Joh 12,32 bzw. 6,44, im Rheginosbrief wiederum in gnostischer Interpretation, i.S. nämlich einer Art Definition, was ›pneumatische Auferstehung‹ i.S. dieser gnostischen Schrift heißt: Eine ›Auferstehung‹ nämlich, die als solche zugleich die ›psychische‹ wie auch die ›sarkische‹ Auferstehung ›verschlingt‹504.

In der dritten Schrift aus dem Kodex II von Nag Hammadi, im Evangelium des Philippus, stellt sich der Sachverhalt einer gnostischen Rezeption des JohEv.s zunächst durchaus eindeutiger dar, auch wenn der literarische Charakter dieses ›Evangeliums‹ das Verständnis der einzelnen Sprucheinheiten (in ihrer Abfolge und in ihrem Sachzusammenhang) nicht in jedem Fall erleichtert. Immerhin gehört es zu den Vorzügen dieser Schrift, dass hier gelegentlich auch ausdrücklich zitiert wird, so z.B. im § 23 b (p. 56,23 ff.) mit der Einleitungsformel ›Er [Jesus] sagte‹ oder auch im § 123 d (p. 84,7 ff.) mit der Formel ›Der Logos sagte‹. Aufs Ganze gesehen ist diese wohl dem Valentinianismus zugehörige Schrift freilich ein ›Evangelium‹ von besonderer Art, in der losen Abfolge seiner Sprucheinheiten eher eine Art ›Anthologie‹ bzw. ›Florilegium‹ von höchst unterschiedlichen Stilarten505, zusammengehalten nur durch den Grundgedanken, dass sich die hier vorliegende ›Heilsbotschaft‹ in ihrer Lektüre als solche darstellt: »Die ›frohe Botschaft‹ ist der Text selbst, und seine Aneignung und sein Verständnis sind heilsrelevant«506. Insgesamt gilt, dass die im PhilEv vorliegenden Bezugnahmen auf das JohEv jeweils ganz in ihren Kontext innerhalb dieses ›Evangeliums‹ integriert sind, was zugleich heißt: Das JohEv wird auch hier insoweit rezipiert, als seine Rede der Intention der jeweiligen Aussage im PhilEv zugeordnet werden kann – was im Übrigen nicht ausschließt, dass in einzelnen Fällen diese gnostische Schrift der ursprünglichen Intention des JohEv.s selbst folgt, ja sie gelegentlich noch verstärkt. Unter diesem Aspekt ist im Folgenden auf einige ausgewählte Sprucheinheiten des PhilEv.s des Näheren einzugehen. Ausgangspunkt für solche Auswahl kann die Tatsache sein, dass die Reihenfolge der im Einzelnen recht unterschiedlichen Sprucheinheiten in ihrer Ab503

Vgl. zur Stelle T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 382 f. Vgl. z.St. M. L. Peel, Kommentar, in: CGL I, S. 165. Skeptisch in dieser Hinsicht T. Nagel, ebd., S. 384. 505 Zum literarischen Charakter dieses ›Evangeliums‹ i.S. einer ›Anthologie‹ bzw. eines ›Florilegiums‹ vgl. H.-M. Schenke, Das Philippus-Evangelium (Nag- Hammadi- Codex II ,3), sowie W.W. Isenberg, The Gospel of Philipp, in: CGL II (NHS XX ), S. 132 f.: »a collection of excerpts, a kind of florilegium«. – Zur Rezeption des Neuen Testaments bzw. speziell des JohEv.s vgl. die Arbeiten von T. Nagel und W. G. Röhl sowie R. McL. Wilson, The New Testament in the Gospel of Philip, und E. Segelberg, The Gospel of Philip and the New Testament. 506 So T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 395. 504

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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folge zwar zunächst einen eher zufälligen Eindruck erweckt, andererseits aber auch eine Reihe von solchen Sprucheinheiten in ihrer Abfolge einem je besonderen Thema zugeordnet erscheinen. Dies gilt vor allem für das bereits vom ›Rheginosbrief‹ her bekannte Thema der Auferstehung, das hier, im PhilEv offensichtlich eine zentrale Rolle spielt. Konkret zu nennen sind hier vor allem die Sprucheinheiten 21–23.63.67.90.92.95 und 101. Am historischen Ort dieser Schrift ist dieses Thema offensichtlich in besonderer Weise strittig gewesen, und zwar nicht nur in der Auseinandersetzung mit der frühkatholischen Kirche, sondern auch unter den verschiedenen Schulen der frühchristlichen Gnosis selbst507. Auch und gerade die unterschiedlichen, z.T. kaum miteinander zu vereinbarenden Stellungnahmen zum Thema im PhilEv sind offensichtlich Widerspiegelung eines Streits um das ›rechte‹ Verständnis dieses Grundthemas im frühen Christentum. Während im Rheginosbrief aus dem Kodex I von Nag Hammadi die Frage nach Art und Weise der ›Auferstehung‹ recht eindeutig beantwortet worden ist, stellt sich der entsprechende Sachverhalt im PhilEv eher mehr- bzw. sogar vieldeutig dar. Gewiss kann man zunächst formulieren, dass die »Auffassung des PhilEv von der Auferstehung … im Grunde die normale der christlichen Gnosis« sei, nämlich: »Auferstehung = Gnosis, wobei diese Auferstehung nur in besonderer Weise an das Mysterium der Salbung geknüpft erscheint«508; im Blick aber auf den § 23 des PhilEv.s (NHC II /3, p. 56,20–57,19) bleibt zunächst, auch bei mehrfacher Lektüre des Textzusammenhangs in der Abfolge § 23 a–23 b–23 c am Ende eine (auch von H.-M. Schenke selbst bestätigte) Ratlosigkeit509. Genau hier, im § 23 dieses Evangeliums, geht es nun freilich um die hier in Frage stehende Rezeption des JohEv.s in Gestalt von Joh 6,53 f., und zwar in der Verbindung mit 1 Kor 15,50, wobei beide Zitate offensichtlich ad vocem ›Fleisch und Blut‹ miteinander verbunden worden sind. Wie auch immer im Einzelnen man entscheiden mag: Zu verstehen bzw. nachzuvollziehen sind die hier vorliegenden Erwägungen und 507 Vgl. H.-M. Schenke, Das Pilippus-Evangelium, S. 225: »Die Auferstehung der Toten … ist ja einer der Topoi, an denen es immer zu Konflikten und deutlicher Scheidung zwischen Kirche und christlicher Gnosis kam«, hier mit Hinweis auch auf seine Miszelle »Auferstehungsglaube und Gnosis«. 508 So H.-M. Schenke, in: ZNW 59 (1968), S. 124, mit Verweis auf PhilEv § 92 und § 95. Daneben gilt für das PhilEv der Zusammenhang zwischen Taufe und Auferstehung: so § 76 b (p. 69,25–29); § 90 b (p. 73,5–8): »Ebenso sagen sie auch über die Taufe folgendes: Die Taufe ist groß; denn wenn sie sie empfangen, werden sie leben«. Im § 76 a wird die Taufe – ebenso wie im § 76 b – mit dem Mysterium des ›Brautgemachs‹ verbunden, und zwar im Rahmen einer Tempelsymbolik (p. 69,14–25): »Die Taufe ist das heilige Haus … Das Heilige des Heiligen ist das Brautgemach«. Zur Verbindung von Taufe und ›Brautgemach‹ vgl. auch den Tract.tripartitus (NHC I/5), p. 127,25 ff. und p. 128,34 ff. 509 H.-M. Schenke, in: ZNW 59 (1968), S. 124: »Ich habe immer wieder versucht, diese Ausführungen zu verstehen, bin aber schließlich zu dem Ergebnis gekommen: sie sind nicht zu verstehen …«. Die Lösung des Problems sieht Schenke schließlich darin, dass »zwei Exzerpte aus zwei ganz verschiedenen Schriften … hier ad vocem ›Auferstehung‹ nach der Methode sic et non einander gegenübergestellt worden sind.«

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Unterscheidungen offensichtlich nur unter der Voraussetzung, dass es sich hier um eine Streitfrage handelt, und zwar nicht nur zwischen der frühchristlichen Gnosis und der ›rechtgläubigen‹ Kirche, sondern auch zwischen verschiedenen Schulen in der frühchristlichen Gnosis selbst. Darauf weist bereits der Anfang des ganzen Zusammenhangs im § 23 a hin, wo davon die Rede ist, dass »gewisse Leute sich davor fürchten«, wie es hier in Anspielung auf 2 Kor 5,3 heißt, »nackt aufzuerstehen. Deswegen wollen sie im Fleisch auferstehen – und sie wissen doch nicht, dass [gerade] diejenigen, die das Fleisch [an sich] tragen, die Nackten sind«. Konkrete Polemik liegt auch im § 23 c (p. 57,9 ff.) vor: »Ich tadele [aber auch] die anderen, die da behaupten, dass es [das Fleisch] nicht auferstehen kann« – dies nun ein Tadel, der wohl nur unter der Voraussetzung der schriftgelehrten Argumentation von § 23 b auf Grund von 1 Kor 15,50 zu verstehen ist, als Antwort auf die Frage: »Welches aber ist das [Fleisch], das [i.U. nämlich zu dem 1 Kor 15,50 gemeinten ›Fleisch‹] erben kann?« Vorausgesetzt ist offensichtlich bei solcher Argumentation, dass hier unterschiedliche Arten von ›Fleisch‹ zur Debatte stehen, nämlich einerseits das ›Fleisch, das wir [Menschen] an uns tragen‹, und andererseits jenes ›Fleisch und Blut‹ Jesu, von dem Joh 6,53 f. die Rede ist. Die Frage, was dies alles nun eigentlich bedeutet, wird schließlich mit der Feststellung beantwortet: »Sein [Jesu] Fleisch ist das Wort, und sein Blut ist der Hl. Geist«, am Ende nun auch mit der Verheißung: »Wer dies empfangen hat, hat Nahrung, Trank und Kleidung« und muss also auch keine Furcht mehr haben, am Ende ›nackt‹ aufzuerstehen (§ 23 a). Die Frage, ob es für eine solche Deutung von Joh 5,53 f. Analogien in der altkirchlichen Literatur gibt, sei hier dahingestellt510; offensichtlich ist aber, dass im § 23 des PhilEv.s zunächst ganz i.S. von Joh 6 eine ›eucharistische‹ Interpretation von Joh 6,53 f. vorliegt511, mit dem Unterschied nur, dass im JohEv selbst in dem fraglichen Passus Joh 6,51 c–58, wie W.G. Röhl mit Recht betont hat512, die Frage nach dem ›ewigen Leben‹ im Zentrum steht, nicht also, wie im gnostischen PhilEv, die Frage nach einer ›fleischlichen‹ oder ›fleischlosen‹ Auferstehung. So gesehen ist die fragliche Stelle aus dem JohEv hier, im PhilEv, von der Fragestellung im § 23 a her gesehen, in einen neuen Kontext einbezogen worden, und zwar – im Zusammenhang mit 1 Kor 15,50 – in den Kontext eines offensichtlich aktuellen Diskurses von unterschiedlichen Auffassungen in der frühchristlichen Gnosis zum Thema der ›Auferstehung‹. Was in gnostischen Texten, wie im Übrigen auch im § 90 des PhilEv.s (p. 73,3 ff.), 510 H.-M. Schenke, Das Philippusevangelium, S. 234, Anm. 353, verweist in diesem Zusammenhang auf Ignatius, Trall 8 und Röm 7,3 – jedoch kaum überzeugend. 511 Zum Problem in dieser Hinsicht H.-M. Schenke, Das Philippusevangelium, S. 234, hier mit Hinweis darauf, dass im »PhilEv insgesamt … die Sakramente – mit Einschluss der Eucharistie – ein … wichtiges Thema« sind. Speziell zur ›Eucharistie‹ vgl. auch PhilEv § 100. 512 Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 151 f.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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mit der Taufe verbunden erscheint, wird hier mit der Eucharistie verbunden. Fraglich bleibt gleichwohl, ob man angesichts solcher Rezeption von (1 Kor 15,50 und) Joh 6,53 f. im PhilEv – trotz gewisser gnostischer Implikationen im § 23 c i.S. einer Rede vom ›Geist im Fleisch‹ bzw. vom ›Licht(funken) im Fleisch‹ – tatsächlich von einer ›spezifisch gnostischen‹ Adaption von Joh 6,53 f. (und 1. Kor 15,50) sprechen kann. Dies zumal dann, wenn es am Ende, im § 23 c des PhilEv.s heißt: »Es ist [also] notwendig, in diesem Fleisch aufzuerstehen, weil jedes Ding sich in ihm befindet«!? Welches ›Fleisch‹ eigentlich ist hier gemeint? – Die Antwort auf diese für das Verständnis des § 23 des PhilEv.s insgesamt entscheidende Frage ist vom § 23 c her zu geben, an dessen Ende es heißt: ›Es ist notwendig, in diesem Fleisch aufzuerstehen‹, wobei das Demonstrativpronomen im Kontext des § 23 auf die Rede vom ›Fleisch‹ Jesu in 23 b zurückverweist, auf jenes ›Fleisch‹ also, von dem es dort im Zusammenhang mit dem ›Blut‹ Jesu heißt: ›Wer dies empfangen hat, der hat Nahrung und Trank und Kleidung‹ – und ist auf diese Weise von allem entblößt bei der ›Auferstehung‹ bewahrt513. Konsequent zu Ende gedacht würde dies auch bedeuten, dass Joh 6,53 f. mit der Rede vom ›Fleisch und Blut‹ Jesu hier gar nicht, wie auch T. Nagel noch meinte514, ›zur Stützung‹ eines »gnostischen Selbstverständnisses adaptiert« wird, sondern eher wohl in einer konsequent christologischen Weise interpretiert wird: Es ist also notwendig, »in diesem Fleisch aufzuerstehen«, eben »weil jede Sache in ihm sich befindet«! Insofern handelt es sich hier, im § 23 des PhilEv.s, um eine bemerkenswerte Rezeption von Joh 6,53 f., weil an dieser Stelle jedenfalls das weithin gängige Urteil über die für die frühchristliche Gnosis charakteristische Auflösung der Christologie in die gnostische Anthropologie zumindest relativiert wird. Ein weiteres Beispiel für die Rezeption des JohEv.s im PhilEv liegt auch im § 110 a (p. 77,15–31) vor, bemerkenswert bereits angesichts der hier vorliegenden Kombination von Joh 8,32 und 34 mit den Worten des Apostel Paulus von 1 Kor 8,1. Ferner weil sich hier eine weitgehend der ursprünglichen Intention der genannten Schriftstellen folgende Rezeption mit bestimmtem spezifisch gnostischen Akzentsetzungen verbindet. Dabei handelt es sich offensichtlich nicht nur um einen Versuch, die Aussage ›Wer die Erkenntnis der Wahrheit hat, ist frei‹ von Joh 8,32 mit dem paulinischen Satz in 1 Kor 8,1 zu harmonisieren515, sondern um den Versuch, ein ursprünglich johanneisches Grundanliegen in Verbindung mit dem ursprünglich wohl gnosiskritischen Wort von 1 Kor 8,1 nun in den gnostischen Kontext des PhilEv.s hinein zu ›übersetzen‹, möglicherweise damit auch in den Kontext einer innergnostischen Auseinandersetzung um das rechte Verständnis von ›Erkenntnis‹ und ›Liebe‹ einzubringen – dies gilt auch dann, wenn 513

Zur Stelle vgl. H.-M. Schenke, Das Philippusevangelium, S. 237. T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 399. 515 So A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 385. 514

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

im Blick auf den § 110 a des PhilEv festgestellt worden ist, dass bei jenem ›Versuch‹ die ›christologische Ausrichtung des Abschnittes Joh 8,30–36 … vollständig ausgeblendet‹ erscheint516. Gleichwohl: erhalten geblieben ist dabei an dieser Stelle die »Entfaltung der Dialektik von Erkenntnis und Liebe, Freiheit und Dienst durch die Kombination johanneischer und paulinischer Gedanken«517: Der Anfang des § 110 a wirkt dabei wie eine Überschrift: »Wer die Erkenntnis der Wahrheit hat, der ist frei«. Dass es sich hier um ein Zitat von Joh 8,32 handelt, ergibt sich aus dem Kontext, aus dem alsbald folgenden Zitat von 1 Kor 8,1 b. Jener Grundsatz von Joh 8,32 bedarf der näheren Begründung. Ausgangspunkt dafür ist zunächst Joh 8,32, hier nun kurz zusammengefasst: »Wer die Erkenntnis der Wahrheit hat – der ist frei«, dies nun aber nicht in einem gleichsam absoluten Sinn, dass mit dieser ›Freiheit‹ jedenfalls nicht einem Libertinismus das Wort geredet wird, stellt sogleich der folgende Satz klar: »Der Freie aber sündigt nicht«, denn es heißt ja in der Schrift: »Wer die Sünde tut, der ist Sklave der Sünde« (Joh 8,34). Darauf folgt die gnostische Deutung des Zitats von Joh 8,32 am Anfang des § 110 a, derzufolge die ›Mutter‹ (des Freien) die ›Wahrheit‹ ist, dessen ›Vater‹ dagegen die ›Erkenntnis‹ (der Wahrheit). Unter den weltlichen Bedingungen stellt sich dieser Sachverhalt so dar: ›Diejenigen, denen es nicht erlaubt ist zu sündigen, sind es, die die Welt ›Sklaven‹ nennt‹ – und umgekehrt: ›Diejenigen, denen es … erlaubt ist, zu sündigen, sind [jene,] die die Welt ›Freie‹ [nennt]‹. Im Anschluss an diese grundsätzlichen Klarstellungen folgt der Rekurs auf 1 Kor 8,1: »Die Erkenntnis ›erhebt‹ sie«, d.h: »macht sie hochmütig/überheblich«. Dies ist eine Charakteristik, die in ihrer Wertung 1 Kor 8,1 entspricht und in diesem negativen Sinn schließlich auch der folgenden Erläuterung entspricht (p. 77,24 f.). In diesem Sinn heißt hier ›Erkenntnis der Wahrheit‹ und die damit gegebene ›Freiheit‹ konkret, dass sie, die Gnostiker, »sich über alles hinwegsetzen«518. Genau hier aber ist auch für das gnostische(!) PhilEv der angemessene Ort, im Gegenzug zu jener gleichsam ›antikosmischen‹ Position (seiner Gegner?) die Gegenthese in Gestalt von 1 Kor 8,1 einzubringen: »Die Liebe aber erbaut«. Das heißt, hier folgt der Autor des PhilEv.s in der Tat der ureigenen Intention der Aussage des Paulus in 1 Kor 8,1, wenn er formuliert: »Wer aber freigeworden ist durch die Erkenntnis, der ist um der Liebe willen ein Sklave für die, die die Freiheit der Erkenntnis [noch] nicht aufzunehmen in der Lage waren«. Und ganz im Sinn solcher ›Dialektik‹ von ›Erkenntnis‹ und ›Liebe‹ schließt endlich der § 110 a mit dem Satz: »Die Erkenntnis macht sie tauglich dazu, frei zu werden«, und d.h. in diesem Kontext: Die ›Freiheit‹, von der Joh 8,32 spricht, ist nicht anders als in der ›Liebe‹ wahrzunehmen – ›Freiheit‹ also als eine ›Freiheit zur Liebe‹. Angesichts dessen ist es kein Zufall, dass sich im Anschluss an jene Grund516 So T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 400; in diesem Sinne auch W. G. Röhl, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 158 f. 517 So H.-M. Schenke, Das Philippusevangelium, S. 476: »Die hiesige Entfaltung der Dialektik von Erkenntnis und Liebe … ist nun so schön und klar, dass sie im Prinzip keines Kommentars bedarf.«. 518 Zur Interpretation von kopt. pma terf i.S. von »à toute chose« (J.-M. Sevrin) vgl. H.-M. Schenke, Das Philippusevangelium, S. 478 mit Anm. 1315. Schenke verweist ebd., S. 478, in diesem Zusammenhang auch auf den § 123 c des PhilEv, wo kopt. mpma terf »durch das Gegenüber von im Sinne von ›vollständig‹ semantisch determiniert« ist.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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aussage von § 110 a in den folgenden §§ (p. 77,31 ff.) eine ganze Reihe von Sprucheinheiten anschließt, in denen – bis hin zum Zitat von 1 Petr 4,8: ›Die Liebe bedeckt eine Menge von Sünden‹ im § 111 b (p. 78,7 ff.) – eben dieses Thema der ›Liebe‹ im Mittelpunkt steht, so besonders deutlich – und zugleich: nahe bei dem ›Hohenlied der Liebe‹ von 1 Kor 13! – in der Sprucheinheit des § 110 b (p. 77,31–35): »Denn die Liebe [spricht von] nichts, dass es ihr [gehört, obwohl doch alles] ihr gehört. Sie [sagt] nicht: [›Jenes ist mein‹] oder: ›Dieses ist mein‹, [sondern] alles, was [mir] gehört, [gehört auch] dir«.

Liegt in diesem Sinne im § 110 a des Philev.s eine Rezeption von Joh 8,32 und 34 vor, die trotz gewisser spezifisch gnostischer Implikationen in der Sache nahe bei der ursprünglichen Intention des biblischen Basistextes bleibt, so stellen sich die Dinge in dieser Hinsicht im § 123 c / d des PhilEv.s erheblich anders dar: Hier wird nunmehr im § 123 c / d der johanneische Bezugstext Joh 8,32 ausdrücklich zitiert, zugleich jedoch in den durch die Gegenüberstellung von ›Erkenntnis‹ und ›Unwissenheit‹ dominierten gnostischen Kontext hineingenommen. Konkret bedeutet dies, dass die durch die ›Erkenntnis der Wahrheit‹ gewonnene ›Freiheit‹ ganz i.S. einer Befreiung aus der Sklaverei der ›Unwissenheit‹ interpretiert wird. So gesehen geht es in den §§ 123 c / d (p. 83,11 ff.) um das genuin gnostische Thema des Gegensatzes von ›Erkenntnis‹ und ›Unwissenheit‹, damit zugleich auch um das Grundanliegen aller ›Gnosis‹, die ›Unwissenheit‹, ›mit ihrer Wurzel aus den Herzen zu reißen‹, also nicht nur gleichsam ›abzuschneiden‹ – denn: ›Was [lediglich] abgeschnitten wird, das sprosst ja wieder‹ (p. 83,11 ff.). – Aufs Ganze gesehen handelt es sich hier, in den §§ 123 c / d, um eine durchaus schlüssige Argumentation im Dienste gnostischer ›Erkenntnis der Wahrheit‹. Ganz in diesem Sinne war ja bereits im § 123 b gleichnishaft vom ›Baum‹ und seiner ›Wurzel‹ die Rede: »Denn solange die Wurzel des Baumes verborgen ist, ist sie stark, wenn sie aber ›erkannt‹ wird, löst sie sich …[und] wenn sie sichtbar wird, geht sie zugrunde …«. Nichts liegt einem ›bibelkundlichen‹ Gnostiker an dieser Stelle näher, als nun auch, wie es zu Beginn von § 123 c geschieht, Wort Johannes’ des Täufers von Mt 3,10 – »Schon ist die Axt an die Wurzel gelegt« in den Kontext jenes Wandels von der ›Unkenntnis‹ zur ›Erkenntnis‹ einzubeziehen: Jesus(!) ist hier also derjenige, der »die Wurzel vollständig ausgerissen hat« – Jesus i.U. zu jenen ›anderen‹, denen dies nur ›teilweise‹, nicht ›radikal‹ genug gelungen ist. Und dementsprechend heißt es im Blick auf die Adressaten des PhilEv.s weiter: »Was uns aber [die Gnostiker] betrifft, so soll jeder von uns nach der Wurzel der Bosheit, die in ihm ist, graben und soll sie mit ihrer Wurzel aus seinem Herzen reißen«. Dies ist eine geradezu typisch gnostische Argumentation, sofern sich nämlich hier der Verweis auf das Tun Jesu unmittelbar mit einem Appell an das eigene Tun des Gnostikers verbindet: »Was uns aber betrifft …« Das ›Werkzeug‹ dafür ist jedem Gnostiker in die Hand gegeben: Sie, jene ›Wurzel‹, »wird herausgerissen werden, wenn wir sie erkennen. Wenn wir aber unwissend [d.h.:

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

›ohne Erkenntnis‹] sind in Bezug auf sie, dann schlägt sie Wurzel in uns … Sie beherrscht uns. Wir leisten ihr Sklavendienste. Sie nimmt uns gefangen, so dass wir tun, was wir [nicht] wollen, und was wir wollen, [nicht] tun«. In diesem ist eben jene ›Unwissenheit‹, wie es im Anschluss sogleich im § 123 d (p. 83,30 ff.) heißt, »die Mutter alles Bösen«, und dies mit der Konsequenz, dass sie, jene ›Unwissenheit‹, »im Tod enden wird«, denn für diejenigen, die »aus der Unwissenheit stammen«, gilt, dass sie im Grunde »weder waren noch sein werden … Denn mit der [Erkenntnis der] Wahrheit verhält es sich [umgekehrt] wie mit der Unwissenheit … Solange sie verborgen ist, ruht sie in sich, sobald sie aber ans Licht tritt und man sie erkennt, preist man sie, sofern sie ja mächtiger ist als die Unwissenheit und der Irrtum. Sie [die Wahrheit] schenkt ja die Freiheit, so wie das Wort [Jesu] sagt: ›Wenn ihr die Wahrheit erkennt, wird die Wahrheit euch freimachen‹« (Joh 8,32) – und dann noch einmal, um den Zielpunkt der Aussage im Zusammenhang umso deutlicher hervortreten zu lassen: Die ›Unwissenheit‹, die Nicht-Erkenntnis, »leistet Sklavendienste [wörtlich: ›das des Sklaven‹], die Erkenntnis aber ist Freiheit«, die – wie es im Folgenden noch heißt – »die Früchte der Wahrheit bringt« und so schließlich zur ›Vollendung‹, d.h. zum Pleroma führt. Insgesamt also: Indem hier im PhilEv Joh 8,32 in die gnostische, genauer wohl noch: in die valentinianische Pleroma-Spekulation eingebunden wird, liegt hier eine eindrückliche Formulierung des Hauptthemas der Gnosis vor: Des Wandels nämlich von der den ›natürlichen‹ Menschen versklavenden ›Unwissenheit‹ zur ›Erkenntnis der Wahrheit‹; oder kann man hier sogar noch einen Schritt weitergehen? Dass es sich nämlich im Grunde um eine Art ›Umkehrpredigt‹ an die Adresse der in der Welt verwurzelten gleichsam potentiellen Gnostiker handelt, die als solche noch nicht »zur Erkenntnis der Wahrheit« gelangt sind, eine Umkehrpredigt ganz i.S. des Ausgangspunktes vom § 123 b mit Zitat von Mt 3,10: »Schon ist die Axt an die Wurzel gelegt«?519 Ganz auf dieser im PhilEv sich abzeichnenden Linie liegt im Übrigen auch jener Passus im Tractatus Tripartitus (NHC I/5), p. 117,3 ff., in dem (unter der Überschrift von Röm 11,32!) einerseits das Entkommen aus der ›Gefangenschaft‹ und andererseits der Gewinn der ›Freiheit‹ (p. 117,20 ff.) gegenüber gestellt werden: Einerseits also die »Gefangenschaft derjenigen, die [noch] unter die Unwissenheit versklavt sind« und andererseits diejenigen, die die ›Freiheit‹ bereits gewonnen haben, jene Freiheit, die bereits bestand, »bevor die Unwissenheit entstanden ist« und eben vermittels der ›Erkenntnis der Wahrheit‹ [Joh 8,32?] gewonnen wird. ›Erlösung‹ (kopt.: psote) ist hier also Befreiung aus der Gefangenschaft der ›Unwissenheit‹ und damit 519 Vgl. in diesem Sachzusammenhang auch den Schlusspassus des § 123 b (p. 83,8 ff.): »Solange nämlich die ›Wurzel der Bosheit‹ verborgen ist, ist sie stark, wenn / sobald man sie aber erkannt hat, löst sie sich auf, [und] wenn sie offenbar wird, geht sie zugrunde«. – Zu weiteren möglichen oder wahrscheinlichen Bezugnahmen auf das JohEv vgl. T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 402–407.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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zugleich Rückführung in den Urzustand, genauer noch »Apokatastasis in das Pleroma [hinein]« (p. 123,20–23)520

Angesichts der besonderen Bedeutung, die – jedenfalls nach dem Referat des Irenäus521 – dem Prolog zum JohEv in der frühchristlichen Gnosis zukommt, ist von vornherein zu erwarten, dass dieses spezielle Thema gnostischer Rezeption des JohEv.s auch in den Zeugnissen einer frühchristlichen Gnosis aus den Schriften von Nag Hammadi einen entsprechenden Niederschlag gefunden hat. Abschließend ist deshalb noch auf einige dieser Schriften einzugehen, denen in der bisherigen Forschungsgeschichte eine besondere Nähe zum Prolog des JohEv.s attestiert worden. Was bereits im Blick auf die bisher genannten Schriften galt, gilt auch für diese spezielle Fragestellung: Ausdrücklich zitiert wird auch das JohEv an keiner Stelle. Wirkliche Bezugnahmen auf den Prolog sind also nur dort wahrscheinlich, wo in den hier in Betracht kommenden Schriften bestimmte Sachzusammenhänge in Entsprechung zum Prolog des JohEv.s wahrscheinlich zu machen sind. Dies gilt zweifellos vor allem für die sog. Epistula Petri ad Philippum (NHC VIII /2) sowie für die beiden Zeugnisse einer ›sethianischen‹ Gnosis, d.h. für den sog. Pronoia-Hymnus im Apokryphon des Johannes (NHC II /2) sowie, offensichtlich im Zusammenhang damit, für die Schrift unter dem Titel der Dreigestaltigen Protennoia (NHC XIII /1). Angesichts der neueren Forschungsgeschichte versteht es sich dabei von selbst, dass die Frage nach der Rezeption des JohEv.s in diesen Schriften durchaus kontrovers beantwortet wird. Dies gilt bereits für die Epistula Petri ad Philippum aus dem Kodex VIII von Nag Hammadi: So ist die schon i.J. 1979 von K. Koschorke vorgelegte Hypothese, dass in dieser Schrift, speziell p. 136,16–137,4, nichts anderes als eine »gnostische Paraphrase des Johanneischen Prologs« vorliege522, in der Folgezeit, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht aufgenommen worden. Dies ist zunächst wohl auch darin begründet, dass gerade in der Nag-Hammadi-Forschung nach wie vor die Tendenz wirksam ist, zumindest in einigen dieser Schriften Hinweise auf eine vor- oder doch jedenfalls nicht-christliche Gnosis zu vermuten523. So steht z.B. die Position von H.-G. Bethge speziell 520 Zur Gegenüberstellung von »Unwissenheit« und »Erkenntnis« vgl. auch Tract Tripart., p. 127,5 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang aber auch die Rede von der (Befreiung aus der) »Fessel der Erkenntnisunfähigkeit« im Evangelium der Maria (BG p. 16,16 ff.), hier speziell p. 17,3. Dem entspricht auch die Gegenüberstellung ›Vergessenheit‹ (sc.: der Wahrheit) – ›Erkenntnis‹ im Evangelium Veritatis (NHC I/3, p. 17,24–18,11). 521 Adv. Haer. I 8,5–9,3 sowie III 11,1.7. Dazu vgl. K. Koschorke, Eine gnostische Paraphrase des johanneischen Prologs, S. 388, mit Anm. 18 f. 522 K. Koschorke, a.a.O., S. 383–392. Zur Sache vgl. die Kommentare zur Ep. Petri ad Philippum: M.W. Meyer, The Letter of Peter to Philip; H.-H. Bethge, Der Brief des Petrus an Philippus. 523 H.-G. Bethge, a.a.O., S. 95 f. – Zu den ›Ausnahmen‹ in dieser Hinsicht gehört auch M. Hengel, Die johanneische Frage, S. 49: »Dass der Johannesprolog auch in polemischer Absicht aufgenommen werden konnte, zeigt möglicherweise eine abweisende Paraphrase

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im Blick auf p. 136,16–137,4 geradezu im Gegensatz zur Position von K. Koschorke, wenn er, H.-G. Bethge, zwar zugesteht, dass »es in der Tat auch eine terminologische Nähe zwischen EpPt und dem johanneischen Prolog« gibt, desgleichen aber auch »gewichtige und unübersehbare Differenzen«, um nun seinerseits daraus die Schlussfolgerung zu ziehen: »Es ist also nicht zwingend, diesen Abschnitt von EpPt ausschließlich … vom johanneischen Prolog her zu erklären«, vielmehr erscheint es ihm »näherliegend, eine gewisse Verwandtschaft unseres Abschnittes mit solchen gnostischen Zeugnissen anzunehmen, die ihrerseits als Hintergrund(!) des johanneischen Prologs gelten dürfen«524. Nun lässt sich in der EpPt in der Tat kein (wörtliches) Zitat aus dem JohEv nachweisen. Jedoch gilt dies ebenso für das gesamte (christlich-) gnostische Schrifttum von Nag Hammadi, schließt also keineswegs aus, dass das JohEv hier jeweils benutzt worden ist, sondern viel eher ein, da in diesen Schriften das JohEv in dem Sinne rezipiert worden ist, dass es jeweils zugleich in seinen neuen gnostischen Kontext integriert worden ist. Der Befund hinsichtlich der Frage, ob der Autor der EpPt das JohEv überhaupt gekannt hat, ist relativ eindeutig – angesichts dessen nämlich, dass in der EpPt »clear indications« dafür gegeben sind, »that the author has made use of the Gospel of Luke and the book of Acts«525. Ist dies zutreffend, dürfte für den Autor dieser Schrift wohl auch die Kenntnis des JohEv.s vorauszusetzen sein. Dazu würde stimmen, dass die in EpPt (p. 140,15–23) geschilderte Christophanie in ihren Einzelheiten deutlich an die Joh 20,19–23 geschilderte Szene erinnert526. Ist dies zutreffend, dann ist davon auszugehen, dass der Autor der EpPt auch den Prolog zum JohEv gekannt hat, auch ihn freilich nicht wörtlich zitiert hat, sondern auf ihn in Gestalt einer bestimmten, durch ein ›gnostisches Vorzeichen‹ bedingten ›Verfremdung‹ Bezug nimmt und ihn auf diese Weise für seine eigene Sache rezipiert527. Genau dieses Verfahren wäre dann auch maßgeblich dafür, dass – entgegen der urin der Epistula Petri ad Philippum, die K. Koschorke herausgearbeitet hat«. Vgl. aber auch P. Hofrichter, »Im Anfang war der Johannesprolog«, S. 225–228, hier freilich unter der Voraussetzung, dass das »urchristliche Logosbekenntnis … die Basis neutestamentlicher und(!) gnostischer Theologie« – so der Untertitel des Buches – sei. Zur Kritik an der Position von K. Koschorke vgl. W. G. Röhl, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 169–181; T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 428–434. 524 H.-G. Bethge, Der Brief des Petrus an Philippus, S. 95 f. Vgl. auch M.W. Meyer, The Letter of Peter to Philip, S. 133: Die EpPt »could reflect a non Christian redeemer myth, a myth with certain affinities to the logos hymn adopted and adapted by John«. 525 So G. P. Luttikhuizen, Johannine Vocabulary and the Thought Structure of Gnostic Mytheological Texts, S. 178; ders., The Letter of Peter to Philip and the New Testament, S. 96. 526 So H.-G. Bethge, Der Brief des Petrus an Philippus, S. 146. 527 In diesem Sinn spricht auch M. Hengel, Die johanneische Frage, S. 49, von der Aufnahme des Prologs zum Joh-Evangelium »in polemischer Absicht«. Vgl. auch A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus S. 399 f.: Hier handele es sich »um eine Aktualisierung des Geschehens, von dem der Prolog berichtet«; G. P. Luttikhuizen, Johannine Vocabulary …, S. 178: »The important thing, however, is that Johannine terminology has been given a typically Gnostic content and meaning. The vocabulary elements which may have been adopted from the Prologue are fully integrated into a developed Gnostic thought pattern«.

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sprünglichen Reihenfolge der Aussagen im Prolog – die Aussage von der ›Fleischwerdung‹ des Logos Joh 1,14 hier, in der EpPt voransteht, im Übrigen jedoch die Bezugnahmen auf den Prolog in der EpPt, p. 136,16–137,4, in der Sequenz Joh 1,10–11.12–16 der ursprünglichen Reihenfolge des Prologs folgen528.

Programmatisch für die Rezeption des johanneischen Prologs unter einem spezifisch gnostischen Vorzeichen ist dabei zunächst das entsprechende ›Vorzeichen‹ des fraglichen Textzusammenhangs p. 136,16–137,4: Formal wie auch inhaltlich ist er bestimmt durch die von p. 133,12 bis p. 138,9 reichende Jünger- bzw. Apostelbelehrung auf dem Ölberg. Hier gibt bereits der Beginn des Lehrgesprächs des erhöhten Christus mit den Aposteln (p. 134,20 ff.) die für p. 136,16 ff. maßgebliche spezifisch gnostische Fragestellung vor: »Herr, wir wollen den Mangel der Äonen und ihre Fülle ( ) erkennen«. Erweitert wird die Reihe der Fragestellungen mit der wiederum spezifisch gnostischen, an die entsprechende Formulierung der »Excerpta ex Theodoto« (78,2) erinnernde Frage der Apostel nach dem ›Woher‹ und dem ›Wohin‹ (p. 134,18 ff.), auf die die Antwort Jesu (p. 136,16) Bezug nimmt: »Was nun das Pleroma betrifft« [so gilt hier folgendes]. Konkret heißt das, dass er, Jesus selbst, in seiner Person die ›Fülle‹ darstellt. Damit ist deutlich, dass der nunmehr folgende, auf den Prolog des JohEv.s Bezug nehmende Textzusammenhang p. 136,16–137,4 mit seiner Reihe von ›Ich-bin‹-Aussagen Jesu von vornherein unter einem gnostischen Vorzeichen steht: Dies gilt bereits im Blick auf die zu Beginn stehende Aussage: »Und ich wurde in den Leib gesandt« (p. 136,16 f.). Ob in dieser Formulierung eine gezielte Polemik gegen die johanneische Inkarnationstheologie von Joh 1,14 vorliegt, mag man fragen – in jedem Falle ist jene ›Sendung in den Leib‹ und damit zugleich der Eingang in das (als ›totes Gebilde‹ gekennzeichnete) Herrschaftsgebiet der ›Archonten‹ doch wohl als eine spezifisch gnostische Umschreibung von Joh 1,14 zu betrachten. Ursprünglich johanneisches ›Material‹ wird hier aufgenommen, um dieses ›Material‹ in die für die Gnosis charakteristische ›Weltanschauung‹ zu übersetzen: Sendung Jesu also in die der jenseitig-göttlichen ›Fülle‹ entgegenstehende von den ›Archonten‹ beherrschte Welt, Sendung Jesu, die in diesem Sinne nicht etwa das ›Heil der Welt‹ zum Ziel hat, sondern am Ende allein um jenes ›pneumatischen Samens‹ willen geschieht, der in diese Welt ›gefallen‹, d.h. unter die Herrschaft der ›Archonten dieser Welt‹ geraten ist. Hier also, bereits zu Beginn dieser ›Paraphrase‹ des johanneischen Prologs, eine für die frühchristliche Gnosis charakteristische Aussage, die im Folgenden (p. 136,20 ff.) im Einzelnen entfaltet wird, und zwar in einer offensichtlich der Abfolge von Joh 1,10 ff. folgenden Sequenz: 528 K. Koschorke, Eine gnostische Paraphrase des johanneischen Prologs, S. 389, spricht hier von einem ›Bewegungsschema‹ des Prologs. Vgl. in diesem Sinn auch die schematische Darstellung: S. 385.

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So im Einzelnen bereits im Blick auf Joh 1,10: »Die Welt hat ihn nicht erkannt«. Diese Aussage wird hier gnostisch variiert, und d.h., dass es nunmehr die ›Archonten‹ sind, die den ›in den Leib gesandten‹ nicht erkannten (p. 136,20 f.), indem sie »dachten, dass er [nichts anderes als] ein toter«, d.h. ein sterblicher Mensch sei (p. 136,21 f.)529. Gleichviel, ob jene Menschwerdung Jesu hier i.S. einer Tarnung Jesu gegenüber jenen ›Archonten‹ zu verstehen ist – in jedem Falle gibt sie in dieser Paraphrase des Prologs dem ›in den Leib Gesandten‹ die Möglichkeit der ›Rede mit den Seinigen‹, wörtlich: »mit dem, was zu mir gehört«. In gnostischer Verfremdung sind dies die von Joh 1,11 f., diejenigen also, die im Grunde ja bereits von vornherein zu ihrem ›Erlöser‹ gehören, so jedenfalls die ausdrückliche Formulierung p. 136 23 sowie p. 137,5 f. Die Folge aus alledem wird p. 136,26–28 beschrieben, hier nunmehr offensichtlich im Anschluss an Joh 1,12: ›Und ich gab ihm die Vollmacht, dass er in das Erbe seiner Vaterschaft hineingehe‹. Die Schlussfolgerung aus alledem, mit der sich zugleich der Kreis der Argumentation von p. 136,16–137,4 schließt: ›Da [zuvor] ein Mangel war, deswegen wurde [nunmehr] eine Fülle ( )‹, an der, so ist hier hinzuzufügen, auch die Jünger Jesu, die ›Seinigen‹, teilhaben.

Hier schließt sich auch der Kreis zur Ausgangsfrage der Jünger Jesu hin (p. 134,20 ff.): Auch sie (als diejenigen, die zu Jesus gehören) werden, wie es p. 137,1 ff. heißt, »erfüllt … durch seine, Jesu, Erlösung«, so dass das, was für ihn, Jesus, gilt, nunmehr auch ihnen gilt: »Weil er [aber], ein Mangelhafter war, deswegen wurde er ein Pleroma«. Wenngleich in einer spezifisch gnostischen Interpretation, so entspricht dies in der Tendenz doch durchaus Joh 1,16: »Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen …«. Die ›Fülle‹, das Pleroma des jenseitigen Gottes, die Jesus darstellt, gilt nun auch für die ›Seinen‹ ( ), denn, wie es p. 137,5 f heißt, »ihr gehört ja zu mir / ihr seid ja die Meinigen«530, woraus sich am Ende der Jüngerbelehrung auch eine gleichsam missionarische Aufgabe ableitet: »Wenn ihr das ablegt, was dem Untergang geweiht ist, dann werdet ihr zu ›Lichtträgern‹ ( ) unter toten Menschen werden« (p. 134,8 f.)531. So eröffnet die Rezeption bestimmter Elemente des johanneischen Prologs in der EpPt eine Perspektive auf die (Menschen-)Welt, die noch nachdrücklich unterstrichen wird, wenn Jesus in derselben Schrift (p. 132,18 f.), möglicherweise im Anschluss an Joh 4,42, der ›Erlöser der ganzen Welt‹ genannt wird532. So ist im Blick speziell auf die Rezeption des JohEv.s bzw. des johanneischen Prologs in der EpPt am Ende einerseits festzustellen, dass die ge529 G.P. Luttikhuizen, Johannine Vocabulary …, S. 177, bemerkt zu EpPt p. 136, 20 f.: »Here similar terminology gives expression to a quite different mythical thought structure«. 530 Vgl. z.St. K. Koschorke, Eine gnostische Paraphrase, S. 388. 531 Vgl. z.St. H.-G. Bethge, Der Brief des Petrus an Philippus, S. 107: »Die so Bezeichneten können als Hoffnungszeichen bzw. Beispiel für andere Menschen fungieren. Wenn dies so ist, dann wären die Fronten nicht unabänderlich. Es gäbe noch Chancen für andere als die hier Angesprochenen«. 532 Zur Problematik einer Bezeichnung Jesu als »Erlöser der ganzen Welt« in einer gnostischen Schrift vgl. H.-G. Bethge, Der Brief des Petrus an Philippus, S. 59.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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nannten einzelnen Aussagen des Prologs in ihrer Sequenz in einer spezifisch gnostischen Weise rezipiert, also ›into a developed Gnostic thought pattern‹ integriert worden sind533; andererseits ist aber auch festzustellen, dass bei alledem, was speziell die Rezeption von Joh 1,16 betrifft, zumindest an der genannten Stelle einem von diesem Evangelium ausgehenden ›Bewegungsschema‹ folgt534. K. Koschorke hat in diesem Sinn wohl doch Recht, wenn er feststellt, dass die hier, in der EpPt, vorliegende ›Paraphrase‹ bestimmter Aussagen des johanneischen Prologs »das Bewegungsschema des ganzen Prologs wiedergibt«, und sich darin auch »von sonstigen uns bekannten gnostischen Prologauslegungen« unterscheidet, »die sich entweder – wie beispielsweise die allein an den Gestalten des Pleroma interessierte Exegese in Iren. Adv. Haer. I 8,5 f. – auf die Deutung einzelner Verse beschränken oder eben nur fragmentarisch erhalten sind«535. Die Kritik, die vor allem W.G. Röhl an Koschorkes Analyse von EpPt p. 136,16–137,4 vorgetragen hat, ist – von daher gesehen – nicht nachvollziehbar. Der für die Analyse der EpPt grundlegende Aspekt der Rezeption bleibt hier, was jedenfalls Wesen und Eigenart einer ›Rezeption‹ betrifft, gänzlich außer Betracht – und entlässt dann auch das entsprechende ›Ergebnis‹536. Was die Rezeption des Prologs zum JohEv in den Schriften von Nag Hammadi betrifft, so stellt die Art und Weise der Rezeption in der EpPt in ihrer Konkretion der entsprechenden Aussagen des JohEv.s gleichwohl eine Ausnahme dar – ganz im Unterschied zu jener eher spekulativen Weise, in der der johanneische Prolog in den beiden im Folgenden noch zu erörternden Schriften von Nag Hammadi rezipiert worden ist; einmal im sog. Apokryphon des Johannes und zum anderen, offensichtlich in einem gewissen Zusammenhang mit ihm, in der Schrift unter dem Titel der Dreigestaltigen Protennoia: Was zunächst das im Papyrus Berolinensis 8502, p. 19,6–77,7, sowie im Corpus der Schriften von Nag Hammadi mehrfach überlieferte Apokryphon Johannis betrifft537, so hat diese gnostische Schrift in der Geschichte der frühchristlichen Gnosis offensichtlich eine besondere Rolle gespielt. Zeuge 533 So G. P. Luttikhuizen, Johannine Vocabulary …, S. 178. Vgl. ebd., S. 178 f.: »This section of the Letter of Peter to Philip may rather be understood as thorough Gnostic correction of Johannine ideas and as such bears witness to a controversy in early Christianity about the true meaning of Jesus Christ and his redemptive activity«. 534 So K. Koschorke, Eine gnostische Paraphrase, S. 389. 535 So K. Koschorke, ebd. 536 Vgl. in diesem Sinne W. G. Röhl, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 186: »Insbesondere konnte gezeigt werden, dass die von Koschorke behauptete Paraphrase des joh. Prologs in EpPt 136,16–137,4 nicht vorliegt, dass es sich hierbei ganz im Gegenteil um ein charakteristisches Stück gnostischer Christologie handelt …« – als ob das Eine das Andere ausschlösse! – denn: eben jenes Stück ›gnostischer Christologie‹ wird ja hier, in der EpPt, in gestalt einer »Paraphrase des johanneischen Prologs« vorgetragen! 537 Zu den Textausgaben ist neben der Erstedition von W. C. Till, Die gnost. Schriften des koptischen Pap. Berol. 8502, besonders zu vergleichen: M. Krause, Die drei Versionen des Apokryphon des Johannes im Kopt. Museum zu Alt-Kairo, Wiesbaden 1962; M. Waldstein, The Apocryphon of John. Synopsis of N.H. Codices II 1; III 1; and IV 1, with

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dafür ist zunächst Irenäus, der im Rahmen seines Referats über die ›BarbeloGnosis‹ in Adv. Haer. I 29,1–4 diese Schrift, genauer: deren ersten, die Kosmogonie und die Anthropogonie betreffenden Teil benutzt hat. Wörtliche Übereinstimmungen seines Referats mit dem ›Apokryphon Johannis‹ (AJ ) in Gestalt der im Pap. Berol. 8502 überlieferten Version sind jedenfalls nicht zu übersehen538. Darüber hinaus könnte diese unter dem Namen des ›Johannes‹ überlieferte ›Geheimschrift‹ als solche bereits darauf hinweisen, dass in dieser Schrift nicht zuletzt auch ein besonderes Exemplar für die Rezeption des JohEv.s in der frühchristlichen Gnosis überliefert ist. Dieser Eindruck wird dadurch noch verstärkt, wenn in den Versionen derselben Schrift in NHC II /1 und IV /1 jeweils in der ›subscriptio‹ bzw. im Kolophon vom Apokryphon die Rede ist und auf diese Weise offensichtlich die Nähe dieses ›Apokryphon‹ zum ›Evangelium nach Johannes‹ hervorgehoben oder sogar »bewusst die Evangelienüberschrift imitiert« wird539. Auf solche Weise soll wohl das, was im AJ vorliegt, nicht nur als ein ›Apokryphon‹, als eine ›Geheimschrift‹ autorisiert, sondern zugleich – wie M. Hengel vor Jahrzehnten bereits betont hat540 – als eine Art ›Zusatzoffenbarung‹ zum JohEv ausgewiesen werden, und zwar eben i.S. einer ›geheimen Offenbarung‹. Dies geschieht hier offensichtlich unter der Voraussetzung, dass es sich im JohEv um eine ›message exotérique‹ handelt, in der ›Geheimschrift des Johannes‹ dagegen – nach Ausweis von NHC II /1, p. 31,27 ff. bzw. BG 8502, p. 76,5 ff. – um eine ›message esotérique‹ handelt541, die als solche nur den, wie es hier heißt, , d.h. den ›Gleichgesinnten‹, zu überliefern ist – denn: dieses ›Geheimnis‹ gehört ja allein dem »Geschlecht, das nicht wankt« und das als solches nicht mehr den Versuchungen dieser Welt ausgeliefert ist. Die naheliegende Frage sei hier dahingestellt, ob sich in solcher nachträglichen ›Ergänzung‹ des JohEv.s durch eine ›Zusatzoffenbarung‹ eine Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen ›johanneischer Christen‹ im 2. nachchristlichen Jahrhundert dokumentiert, und zwar in dem Sinne, dass »das ApocrJoh für bestimmte Kreise, die eventuell mit johanneischen ChrisBG 8502,2 (NHMS XXXIII ), Leiden 1995. Vgl. auch die (synoptische) Übersetzung durch M. Waldstein, in: H.-M. Schenke, Nag Hammadi Deutsch I, S. 95–150. 538 Vgl. Irenäus, Adv. Haer. I 29,1 mit AJ (BG 8502, p. 30,14–31,1) sowie I 29,4 mit AJ (BG8502, p. 44,11 ff. Dazu: H.-M. Schenke, Nag-Hammadi-Studien I, S. 57–63. – Irenäus hat offensichtlich nicht das ganze Apokr. Joh. gekannt, sondern nur den Teil, der die Theogonie und die Kosmogonie zum Gegenstand hat. Die Parallelen zum AJ hat M. Waldstein in seiner Synopse (s.o. Anm. 537) im Einzelnen aufgelistet. 539 So T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 393. 540 M. Hengel, Die johanneische Frage, S. 52. – Vgl. neuerdings T. Nagel, Zur Gnostisierung der johanneischen Tradition, mit dem Untertitel »Das geheime Evangelium nach Johannes« (Apokr. Johannis) als gnostische Zusatzoffenbarung zum vierten Evangelium, und zwar nicht nur i.S. einer »Anpassung an die eigene gnostische ›Hypothese‹«, sondern – damit zugleich – i.S. der Schaffung eines neuen literarischen Kontextes«. 541 So M. Tardieu, Écrites Gnostiques. Codex de Berlin, S. 345. Vgl. auch J.-D. Dubois, L’exégèse des Gnostiques et l’histoire du Canon des Ècritures, S. 94: »Les gnostiques ont pratiqué une exégèse ésoterique du quatrième évvangile«.

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ten Kontakt hatten, als Konkurrenztext zum vierten Evangelium gegolten hat« und dass, so wiederum T. Nagel, »der Überlieferung des ApocrJoh die Tendenz inhärent« sei, »Analogien zum JohEv zu schaffen«542. Möglich ist dies zwar durchaus, jedoch genügt es, in diesem Zusammenhang zunächst nur festzustellen, dass bestimmten gnostischen Kreisen gerade dieses Evangelium geeignet erschien, es von ihren eigenen hermeneutischen Voraussetzungen her durch eine ›Zusatzoffenbarung‹ in gestalt eben einer ›Geheimschrift‹ unter dem Namen des Johannes gleichsam zu vervollständigen. Angesichts dessen ist es umso auffälliger, dass wirklich eindeutig ›johanneisch geprägte‹ Formulierungen im AJ relativ selten anzutreffen sind, so z.B. in der Rahmenhandlung des AJ : »Weshalb wurde er [der Erlöser] in die Welt gesandt von seinem Vater, der ihn sandte« (BG 8502, p. 20,9–11 par NHC II /1, p. 1,22–24). Die Rede vom »Vater, der ihn gesandt hat« entspricht zwar der Rede des johanneischen Jesus vom »Vater, der mich gesandt hat«543; im Übrigen jedoch scheint, auf den ersten Blick jedenfalls, M. Waldstein Recht zu haben, wenn er feststellt: »Der Hauptteil des AJ gibt auf diese Frage [Weshalb wurde er in die Welt gesandt?] keine entsprechende johanneische Antwort«544. Genau dies wäre nun die Frage, ob in einer gnostischen Geheimschrift wie dem AJ eine solche ›johanneisch geprägte‹ Antwort überhaupt zu erwarten ist? – oder nicht vielmehr eine zwar an das JohEv anknüpfende, nichtsdestoweniger jedoch spezifisch gnostische Antwort, die – als solche – das JohEv (als eine nach ihrem Verständnis exoterische Schrift!) auf ihre eigene Weise, nach Maßgabe der für sie, diese ›Geheimschrift‹, geltenden gnostischen Verstehensvoraussetzungen rezipiert. Von daher gesehen wären dann also im AJ keine mehr oder weniger wörtlichen Zitate aus dem JohEv zu erwarten, sondern lediglich gewisse, im Einzelnen mehr oder weniger deutliche Bezugnahmen auf das JohEv, die allesamt die originären Überlieferungen dieses Evangeliums bereits in den Kontext der ›message esotérique‹ einer Geheimschrift einbezogen – und d.h. zugleich: Sie entsprechend den eigenen gnostischen Verstehensvoraussetzungen umgestaltet worden sind. Gerade hier, in einer ›Geheimschrift‹, gelten in der frühchristlichen Gnosis andere Verstehensmaßstäbe und Auslegungsmethoden als für die ›Kirchenchristen‹ – gleichwohl: Auch unter solchen ›besonderen‹ hermeneutischen Voraussetzungen sind in den überlieferten vier Versionen des AJ durchaus Hinweise auf eine Rezeption des JohEv.s bzw. des johanneischen Prologs gegeben. 542 T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 393 f.; ebd., S. 394: »… sollte die hier vorgeschlagene Interpretation zutreffen, dann ist wohl auch mit einer bewussten und bewusst kritischen Auseinandersetzung der Kreise, die hinter der vorliegenden Kurzfassung des ApocrJoh stehen, mit dem vierten Evangelium zu reden«, hier zugleich mit dem Zusatz: »Die Arbeit an der Langfassung des ApocrJoh lässt vermuten, dass die Verbindungen zum JohEv bewusst ausgestaltet sein könnten«. 543 Vgl. Joh 1,33; 5,30; 6,38 f. u.ö. 544 M. Waldstein, in: Nag Hammadi Deutsch I, S. 97.

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An erster Stelle ist dabei auf den Testzusammenhang BG 8502, p. 26,1 ff., hier insbesondere p. 26,11–14 und die Parallelen in NHC III /1, II /1 und IV /1 hinzuweisen: Wenn es hier jeweils im Rahmen einer mit BG 8502, p. 20,19 ff. einsetzenden Theophanie und der darauf folgenden Belehrung über das Wesen Gottes heißt: »Denn keiner von uns erkannte, wie es sich mit dem ›Unermesslichen‹ verhält – es sei denn derjenige, der in ihm gewohnt hat: Er hat uns das gesagt …«, so ist die Bezugnahme auf Joh 1,14 sowie auf Joh 1,18 unverkennbar545. Gleiches gilt auch im Blick auf BG 8502, p. 31,15–18 (und die entsprechenden Parallelen in NHC III /1, II /1 und IV /1), wenn es hier, ganz in Entsprechung zur Satzlogik von Joh 1,18546, heißt: ›Der Logos folgte dem Willen – denn durch den Logos hat Christus alle Dinge geschaffen‹. Damit liegt hier eine deutliche Bezugnahme auf Joh 1,3 vor (›alles ist durch ihn geworden‹), die T. Nagel mit Recht eine ›applikative Paraphrase‹ von Joh 1,3 genannt hat547. – Nicht ganz so eindeutig demgegenüber verhält es sich mit BG 8502, p. 30,4–8, d.h. mit der Frage, ob speziell in der Rede von Christus als – »Das ist der Einziggeborene, der dem Vater erschien, der Gottes, der erstgeborene Sohn des Alls« – eine Bezugnahme oder auch Anspielung auf die Rede vom ›eingeborenen Gott‹ von Joh 1,18 vorliegt, die an dieser Stelle darüber hinaus mit einer (möglichen) Bezugnahme auf Kol 1,15 verbunden ist. – Entsprechendes gilt auch für BG 8502, p. 33,10–12 (und die Parallelen in NHC III/ !, II /1 und IV /1, wo in der Rede von den drei ›Äonen‹ neben der die und die genannt werden – möglicherweise eine Bezugnahme auf Joh 1,16? Schließlich ist in diesem Zusammenhang, was die Möglichkeit einer Rezeption des johanneischen Prologs betrifft, noch auf BG 8502, p. 59,9–12 (und die entsprechenden Parallelen in NHC II /1, III /1 und IV /1) hinzuweisen: »Sie aber, die des Lichts, da sie unerreichbar war, obwohl die Finsternis sie verfolgte, konnte sie [die Finsternis] sie nicht erreichen«, was hier entsprechend dem koptischen tahe im negativen Sinne von ›überwältigen‹ steht, ganz also i.S. von Joh 1,15. Die Tatsache, dass das AJ in seinen vier überlieferten Versionen das JohEv gekannt und benutzt hat, steht damit außer Frage. Nach wie vor ist jedoh fraglich, ob man aus diesem Befund mit M. Tardieu die Schlussfolgerung ziehen kann: »L’Évangile selon Jean constitue l’arrière-plan obligé de l’ar-

545 Zur näheren Analyse von BG 8502, p. 26,11–14 (und den Parallelen in den Schriften von Nag Hammadi) vgl. T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 390–392, hier S. 392: »eine Paraphrase des joh. Verses«. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch die wenige Zeilen zuvor in BG 8502, p. 26,8–10, vorliegende Gottesbezeichnung: »Er existiert vor dem All. Er ist das Haupt aller Äonen«. Liegt hier eine Bezugnahme auf Kol 1,18.20 vor? 546 Vgl. T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 390: »Die Annahme eines Bezuges auf Joh 1,1–3 ist nicht beweisbar, stellt aber eine sinnvolle Möglichkeit zur Erklärung der sprachlichen Übereinstimmungen dar«. 547 T. Nagel, a.a.O., S. 391.

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gumentation théologique d’AJn«548. Und dies gilt nicht zuletzt für den in den beiden ›Langfassungen‹ des AJ in NHC III /1, p. 30,11–32,32 und NHC IV /1, p. 46,23–49,13 überlieferten, die Darstellung der ›Geheimlehre des Johannes‹ abschließenden sog. Pronoia-Hymnus, auch ›Monolog der Vorsehung‹ genannten Textzusammenhang549: Die Stellung des Hymnus am Ende der Jüngerbelehrung durch Jesus(!) erscheint auf den ersten Blick seltsam genug: »Ich aber, die vollkommene Pronoia des Alls«! In welchem Verhältnis eigentlich steht solche Selbstvorstellung der Pronoia mit ihren ›Ich-bin‹-Aussagen zur bisherigen Jüngerbelehrung durch Jesus wie auch zu dem unmittelbar daran anschließenden Schlussteil der Rahmenhandlung des AJ ? Zumal ja keineswegs sicher ist, ob jenes ›ich ging zuerst‹ am Ende jenes Hymnus überhaupt noch zum ursprünglichen Schluss des Hymnus selbst gehört oder nicht vielmehr bereits zur abschließenden Rede Jesu vor seiner ›Erhöhung‹? Gänzlich unvorbereitet kommt der Hymnus am Ende der beiden Langfassungen des AJ nicht, sofern ja bereits in den beiden Kurzfassungen bestimmte Ansätze dazu gegeben waren550. In jedem Fall jedoch ist dieser Hymnus in beiden Langfassungen Abschluss- und zugleich Höhepunkt der geheimen Jüngerbelehrung durch Jesus. Wie also das JohEv mit einem ›Prolog‹ in gestalt eines ›Logos-Hymnus‹ beginnt, so schließt das AJ mit einem Epilog in gestalt jenes Pronoia-Hymnus: Abschluss und Höhepunkt einer Vermittlung der ›Geheimlehre‹ des Johannes551. Stellt damit der PronoiaHymnus eine Art Pendant zum Prolog des JohEv.s dar? Möglicherweise sogar eine Überbietung des Prologs? Oder als Quintessenz gleichsam der geheimen Jüngerbelehrung vielleicht sogar einen programmatischen Gegenentwurf zum johanneischen Prolog, der – unter der Überschrift: »Dies ist das Mysterium für das Geschlecht, das nicht wankt«552 – allein den Gnostikern gilt? Was mit diesen Fragestellungen zur Diskussion steht, ist nichts anderes als die Frage nach dem literarischen und sachlichen Verhältnis des PronoiaHymnus der ›Geheimschrift nach Johannes‹ zum Prolog des JohEv.s und insofern auch die Frage, ob und inwieweit der Pronoia-Hymnus der Lang548

M. Tardieu, Écrites Gnostiques, S. 39. So M. Waldstein, The Providence Monologue in the Apocryphon of John and the Johannine Prologue, S. 369–344; R.v. d. Broek, Von der jüdischen Weisheit zum gnostischen Erlöser. Zum Schlußhymnus des Apocryphon des Johannes, S. 86–116. 550 Besonders hinzuweisen ist darauf, dass eine der beiden Kurzfassungen des AJ die beiden ersten Zeilen des Pronoia-Hymnus in eigener Bearbeitung bewahrt hat: BG 8502, p. 75,5–7 und dazu NHC II /1, p. 30,11–13. Vgl. auch BG 8502, p. 75, 11 f.: »Zuerst ging ich hinauf zum vollkommenen Äon«, nach R.v.d. Broek (a.a.O., S. 89 f.) »Ein Satz, der ohne Kenntnis des Hymnus völlig unverständlich ist«. Vgl. auch BG 8502, p. 27,5 ff., die Rede von der »vollkommenen Pronoia des Alls«, die hier zugleich die »Erste En-noia« genannt wird. 551 Vgl. M. Waldstein, The Providence Monologue, S. 392 f. Zu beachten ist dabei, dass der Joh-Prolog in der dritten Person, der Pronoia-Hymnus dagegen in der ersten Peron formuliert ist. 552 NHC II /1, p. 31,13 f. = III /1, p. 49,12 f. – Entsprechend ist im BG 8502, p. 75,18 f. par. NHC III /1, p. 39, 4–11 von den »Gleichgeistern« ( ) die Rede. 549

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fassungen des AJ seinerseits wiederum auf das Konto einer gnostischen Rezeption des Prologs zum JohEv zu verbuchen ist? Dabei ist zunächst festzustellen, dass der Pronoia-Hymnus insgesamt wie im Einzelnen, was insbesondere seine Dreiteilung betrifft, offensichtlich ein typisch gnostisches Dokument ist, genauer – wie es R.v.d. Broek formuliert hat553 – eine ›Zusammenfassung des gnostischen Erlösungsmysteriums‹. Von drei Herabkünften der Pronoia aus der Welt des Lebens und des Lichtes in die Welt des Todes und der Finsternis ist die Rede, geschildert wird hier also gleichsam ein »Drama in drei Akten«: So wird in einem 1. Akt eine Art ›Höllen- bzw. Hadesfahrt‹ der Pronoia beschrieben: Die Welt ist hier zur ›Unterwelt‹ geworden, der ›Abstieg‹ der Pronoia in diesem Sinne eine Art descensus ad inferos.554 Die Pronoia, als solche zunächst die ›vollkommene Vorsehung des Alls‹, die in ihrer Person der ›Reichtums des Lichtes‹, die ›Erinnerung der Fülle‹ ist, steigt in den Herrschaftsbereich der Finsternis, ja in die ›Mitte des Gefängnisses‹ hinab. Da aber dort, wie es hier heißt, »die Grundfesten des Chaos erschüttert wurden«, verbarg sie sich vor den Mächten der Finsternis, so dass diese sie nicht erkannten. Auf diesen ersten, offenbar misslungenen Abstieg folgt ein zweiter: »Wiederum kehrte ich zurück, ein zweites Mal, denn ich kam von denen, die dem Licht zugehören, das ich [selbst] bin, die Erinnerung der Vorsehung. Ich trat in die Mitte der Finsternis und in das Innere der Unterwelt, um meinen Auftrag zu erfüllen«. Gleichwohl gelingt dies auch beim zweiten Mal nicht: »Da wurden die Grundfesten des Chaos erschüttert … und ich lief wieder hinauf zu meiner Lichtwurzel …«. Der dritte Abstieg der Pronoia endlich bringt den Höheund Zielpunkt des Dramas: »Ein drittes Mal wandelte ich – ich bin ja das Licht, das im Licht existiert, um einzutreten in die Macht der Finsternis und in das Innere der Unterwelt … Ich trat ein in die Mitte ihres Gefängnisses, welches das Gefängnis des Leibes ist« – und nun endlich der ›Weckruf‹ an die in dieser Unterwelt Eingeschlossenen und Schlafenden555: »Der Hörer möge erwachen vom tiefen Schlaf!« und die Reaktion derer, die diesen Weckruf gehört haben: »Wer ist es, der meinen Namen ruft? Und woher ist mir diese Hoffnung gekommen, während ich in den Ketten des Gefängnisses liege?« Darauf folgt die Antwort des Erlösers in Gestalt der Pronoia: »Richte dich auf und erinnere dich, dass du der bist, der gehört hat, und folge deiner Wurzel, die ich bin, die Erbarmungsvolle, und hüte dich vor … den Dämonen des Chaos und all’ denen, die dich fesseln, und schütze dich vor dem tiefen Schlaf und dem Umkreis des Inneren der Unterwelt«. Und ich, die Pronoia, richtete ihn auf und besiegelte ihn … mit fünf Siegeln, damit von diesem Tag an der Tod nicht mehr Macht über ihn habe«556. 553 R.v. d. Broek, Von der jüdischen Weisheit zum gnostischen Erlöser, S. 87. 106 f. 108, sowie M. Waldstein, The Providence Monologue, S. 382 ff. 554 Dazu im Einzelnen R.v. d. Broek, ebd., S. 102 ff. – Zu vergleichen sind hierzu auch »Die Lehren des Silvanus« (NHC VII /4, p. 103,28–104,25; dazu: R.v. d. Broek, ebd., S. 107 f. 555 Dazu besonders G.W. MacRae, Sleep and Awakening in Gnostic Texts, S. 497: »This is a classic example of the call of awakening«; ebd., S. 499, mit Hinweis auf NHC II /1, p. 23,26–31: »Ich erschien in gestalt eines Adlers vom Baum der Erkenntnis …, um sie zu belehren und sie aus der Tiefe des Schlafs zu erwecken«. 556 Die Übersetzung des Zusammenhangs nach M. Waldstein, in: Nag Hammadi Deutsch I, S. 148 f. Zum »Three-Step Rythm« des Ganzen: M. Waldstein, The Providence Mono-

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Angesichts dieser höchst mythologischen Beschreibung der Sendung der Pronoia in die Unterwelt nun die entscheidende Frage: Kann dieser ›PronoiaHymnus‹ wirklich als ein Pendant zum Prolog des JohEv.s gelten, mehr noch als ein weiteres Beispiel für die Rezeption des Prologs in der frühchristlichen Gnosis? – oder handelt es sich hier wiederum nur um eine weitere Variante eines gleichsam eigenständigen gnostischen ›Erlösungsmysteriums‹? In der Forschungsgeschichte stehen die Urteile in Hinsicht, wie insbesondere die Kontroverse zwischen M. Tardieu und J.-D. Kaestli zeigt, hart gegeneinander: So ist nach M. Tardieu dieser Hymnus in den beiden Langfassungen des AJ nichts anderes als ›un pastiche gnostique du prologue johannique‹, genauer noch: ›une autre interprétation du mème prologue dans un cadre dogmatique valentinien‹557. Demgegenüber J.-D. Kaestli: »l’hymne de la Pronoia ne peut pas être compris comme une relecture gnostique du Prologue de Jean« und dem entsprechend sein Urteil über die These von M. Tardieu: »La thèse de Michel Tardieu, qui y voit un ›pastiche‹ du Prologue émanant de cercles johanniques radicaux et violemment hostiles au judéo-christianisme, est irrecevable‹ – ist ›unannehmbar‹, »car celle manque de fondement textuel sérieux«558. Bei J.-D. Kaestli heißt dies zugleich: »Avec l’hymne de la Pronoia, nous sommes bel et bien en présence d’un texte gnostique ›pur‹, c’est-a-dire d’un texte qui aucune influence chrétienne, et qui témoigne ainsi l’existence d’une gnose indépendante du christianisme, à une époque très proche de la rédaction du quatrième èvangile«559. Dies ist zunächst ein eindeutig negatives Urteil über die These von M. Tardieu, das jedoch – »très proche de la rédaction du quatrième évangile«! – bestimmte Relationen zwischen dem Pronoia-Hymnus des AJ einerseits und dem Prolog zum JohEv andererseits keineswegs von vornherein ausschließt560. Grundlegend bei alledem ist für das Verständnis des Pronoia-Hymnus im Kontext des AJ und damit auch für die Frage nach seinem Verhältnis zum johanneischen Prolog zunächst der Rahmen, in dem der Pronoia-Hymnus der beiden Langfassungen im Zusammenhang des AJ überliefert ist. Zu Belogue, S. 374 ff. – Der Abstieg des Christus in die Unterwelt wird auch in den »Lehren des Silvanus« (NHC VII /4, p. 103,34–104,3) beschrieben, hier im Anklang an Phil 2,6 ff. bzw. 1 Petr 3,19: »Obwohl er Gott war, hat man ihn unter den Menschen als Mensch gefunden … Er ist hinabgestiegen in die Unterwelt (amente) und hat erlöst die Kinder des Todes«; vgl. auch ebd., p. 104,13 f. Zum Ganzen: R. v.d. Broek, Von der jüd. Weisheit zum gnostischen Erlöser, S. 107 f. 557 M. Tardieu, Écrites Gnostiques, S. 340, hier mit Hinweis auf Irenäus, Adv. Haer. I 8,5 f. bzw. Epiphanius, Haer. 31,1 f.; vgl. auch J.-D. Dubois, L’Exégèse des Gnostiques, S. 93 f. 558 J.-D. Kaestli, Remarques sur le rapport du quatrième Évangeile avec la Gnose et sa réception au II siècle, S. 351. 559 J.-D. Kaestli, ebd., S. 351 f. 560 Vgl. in diesem Zusammenhang M. Waldstein, The Providence Monologue, S. 371 f.: »The Providence Monologue … is a non-Christian text rooted in Hellenistic-Jewish wisdom speculations … It has no direct literary connections with the Johannine Prologue. Nevertheless it can contribute to the understanding of the Prologue. It can provide a benchmark«. Ebd., S. 398 ff.: »The Monologue and the Prologue«.

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ginn der entsprechenden Überlieferung im AJ ist der Sachverhalt in dieser Hinsicht eindeutig: Am Anfang steht hier die Grundfrage: »Warum ist er [Jesus] in die Welt gesandt worden von seinem Vater, der ihn gesandt hat?« (BG 8502, p. 20,9–11 par NHC II /1, p. 1,22–24 sowie die Parallelen in NHC III /1 und IV /1). Dies ist eindeutig eine ›johanneisch stilisierte‹ Frage, die als solche auch eine entsprechende Antwort erwarten lässt. M. Waldstein hat dazu mit Recht festgestellt: »With these Johannine echoes in mind the reader is likely to connect the Monologue with the Johannine Prologue, including John 1,14, And the Word became flesh«561. Auf der anderen Seite, im Anschluss an das Zitat des Pronoia-Hymnus, steht beim Übergang zur Rahmenhandlung des AJ die Ankündigung Jesu von seinem ›Aufstieg zu dem vollkommenen Äon‹ (BG 8502, p. 75,14 f.), parallel dazu auch in der Version der Langfassung (NHC II /1, p. 31,25–27): ›… und ich ging hinauf zu dem vollkommenen Äon‹, hier, in der Langfassung, offensichtlich das Ende des Pronoia-Hymnus, im Kontext des AJ jedoch bereits der Übergang zu der hier unmittelbar anschließenden Rahmenhandlung des AJ562. Daran schließt sogleich die Anweisung Jesu an Johannes an: »Ich sage dir diese [Worte], damit du sie aufschreibst und im Geheimen deinen ›Gleichgeistern‹ ( ) [weiter-]gibst, denn dieses Geheimnis gehört [allein] dem ›unerschütterlichen Geschlecht‹« (kopt.: tgenea ete maskim pe). Offensichtlich ist in diesem Rahmen – jedenfalls in den beiden Langfassungen – der Pronoia-Hymnus die Antwort Jesu auf jene Eingangsfrage von BG 8502, p. 20,9–11 bzw. NHC II /1, p. 1,22–24. Damit ist aber auch deutlich, dass die Pronoia des Hymnus mit ihrem Ab- und Aufstieg die Gestalt Jesu verkörpert. Die Pronoia steht also im AJ für die Erscheinung bzw. Offenbarung des jenseitigen Gottes in der Welt – ebenso wie der ›Logos‹ im Prolog zum JohEv. Sie, die Pronoia, ist, wie es BG 8502, p. 27,18 heißt, ›die erste Ennoia‹, also gleichsam Gottes eigenes ›Abbild‹, das sich in der ›Ersten Erkenntnis‹ offenbart (BG 8502, p. 28,7 ff.). Hier ist eine Entsprechung zum Prolog des JohEv.s nicht zu übersehen, ja, die Frage liegt hier nahe, ob nicht in jenem ›In-Erscheinung-Treten‹ bzw. ›Wirksamwerden‹ jener Pronoia am Ende auch eine Entsprechung zur Aussage von der ›Fleischwerdung‹ des Logos in Joh 1,14 anzunehmen ist?563Solche ›Entsprechung‹ liegt jedenfalls in NHC II /1, p. 30,11 ff. par NHC IV /1, p. 46,23 ff. vor, wenn es hier heißt: »Ich, die vollkommene Pronoia, veränderte mich in meinen Samen [d.h.: in meine Nachkommenschaft]« oder, wie es in der Kurzfassung des AJ (BG 8502, p. 75,12 f. par NHC III /1, p. 39,13 f.) heißt: »Sie, die Gepriesene, die 561

M. Waldstein, ebd., S. 378. In diesem Sinne auch M. Waldstein, ebd., S. 392 f., sowie R.v. d. Broek, Von der jüdischen Weisheit zum gnostischen Erlöser, S. 91. 563 M. Waldstein, ebd., S. 378, argumentiert hierzu freilich, dass angesichts der sekundären Einfügung des Pronoia-Hymnus in die kürzere Version des AJ »Johannine resonances of the frame-story« nicht allzu schnell in den Pronoia-Hymnus »importiert« werden sollten. 562

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Vatermutter, die erbarmungsreiche, nimmt Gestalt ( ) an in ihrer Nachkommenschaft« und bewirkt so am Ende, nach ihren drei Abstiegen in die (Unter-)Welt, das weltlose und weltferne Heil für ihre Nachkommenschaft. Dies ist nun, wie zuletzt auch M. Waldstein betont hat564, eine gänzlich andere Art von ›Menschwerdung‹ des Erlösers als die des JohEv.s, sofern nämlich mit jener ›Gestaltwerdung‹ der Pronoia in ihrer Nachkommenschaft nicht nur auf dem anthropologischen Aspekt dieser Menschwerdung der eigentliche Akzent liegt, sondern zugleich auch der soteriologische Aspekt der Menschwerdung jener ›Anverwandlung‹ zur Sprache kommt: Vom Stichwort der ›Gestaltwerdung‹ (kopt.: i morphe) ausgehend ist hier wohl auch an die Rede von der ›Gestaltwerdung Christi in euch‹ in Gal 4,19 zu denken, und dementsprechend würde jenes ›Gestaltwerden‹ konkret heißen: »I, therefore, the perfect Providence of the all, took form in my seed; I perfected and rectified it«565. Gibt es angesichts dieser eindeutig gnostischen Akzentsetzungen im Pronoia-Hymnus gleichwohl Entsprechungen zum Prolog des JohEv.s, die auf eine bewusste Rezeption des Prologs und – insbesondere – von Joh 1,14 hinweisen? – Letzteres offensichtlich nur in einer wiederum spezifisch gnostischen Version von Joh 1,14, konkret in dem Sinne, dass die Pronoia von sich selbst sagt: ›Ich trat in die Mitte des Gefängnisses‹, d.h. in das ›Gefängnis ihres Leibes‹: Solidarität also des gnostischen Erlösers mit den zu Erlösenden, keinesfalls jedoch ›Mensch‹– bzw. ›Fleichwerdung‹ des Erlösers i.S. des JohEv.s, ›Leibwerdung‹ vielmehr der Pronoia in jenem gleichsam negativen Sinn: Der gnostische Erlöser dringt gleichsam bis in die Mitte des ›Gefängnisses‹ der zu Erlösenden vor – in der Tat: »›The Monlogue itself, apart from its secondary context in the Apocryphon of John, does not suggest incarnation«566. Und im Übrigen zeigt sich gerade angesichts jenes Mythos vom dreimaligen Ab- und Aufstieg der Pronoia in diesem Hymnus, dass das Schema von ›Abstieg‹ und ›Aufstieg‹, wie es im JohEv vorliegt567, gänzlich ohne jenes mythologische Inventar auskommt, das im Pronoia-Hymnus so reichlich ausgebreitet in Erscheinung tritt. Schon angesichts dessen ist dem von M. Tardieu vorgelegten Versuch, in eben diesem Pronoia-Hymnus bis in seine Einzelheiten hinein Reminiszenzen an den Prolog zum JohEv aufzuweisen, mit Skepsis zu begegnen, so insbesondere seiner These,

564 M. Waldstein, ebd., S. 381 f., hier S. 382: »Providence’s opening statement need not to be understood as ›I changed myself into my seed‹, in the sense of ›I underwent an incarnation …«. 565 So M. Waldstein, ebd., S. 382. 566 M. Waldstein, ebd., S. 381. Vgl. hier insgesamt S. 377 ff. zum »Third trip« der Pronoia in die Unterwelt, hier bes. S. 380: Die Pronoia »visits a prison in which others are imprisond, not she herself«, was zugleich heißt: »her journey here resembles the ›proclamation to the spirits in prison‹ (1 Peter 3.19), rather than ›the Word became flesh‹ (John 1.14)«. 567 Vgl. Joh 3,13; 6,33 f. 41 f. 50 f. 58 sowie 20,17.

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dass der Pronoia-Hymnus imsgesamt ›dem johanneischen Schema‹ folge568. Und dies gilt umso mehr, als M. Tardieu in der Ausführung seiner These weitaus mehr auf die jüdische Weisheitsliteratur verweist als auf den Text des Pronoia-Hymnus. Dies gilt bereits hinsichtlich der Grundkonzeption des Pronoia-Hymnus vom dreimaligen Abstieg der Pronoia in die Welt: So verweist M. Tardieu in diesem Zusammenhang auf die Abfolge von Joh 1,9 f.–1,11–1,14, begründet diese Abfolge jedoch nicht primär aus dem gnostischen Pronoia-Hymnus, sondern aus der jüdischen Weisheitsliteratur: »Les éloges juifs distinguaient trois sorties successives de la Sagesse. Lors de la création du monde, puis pour les hommes en général, enfin pour Israel. Paraillement le logos johannique: pour le monde et les hommes comme formant un tout (Jn 1,9–10), puis à Israel (= chez lui: Jn 1,11), enfin ›parmi nous‹ (Jn 1,14), c’est – à-dire maintement«569. Im Grunde aber gibt es hier, was jene Abfolge von Joh 1,9 f.–1,11–1,14 betrifft, im Pronoia-Hymnus selbst nur eine einzige wirkliche Parallele zum Prolog des JohEv.s, nämlich zu Joh 1,10 f.: ›… und die Welt erkannte ihn nicht‹ bzw. ›und die Seinen nahmen ihn nicht auf‹, wenn es im Pronoia-Hymnus, hier allerdings in einem gänzlich anderen Sinn als im JohEv, am Ende der Schilderung des ersten Abstiegs der Pronoia heißt: ›Und ich verbarg mich vor ihnen [den Mächten der Unterwelt] wegen ihrer Bosheit, und sie erkannten mich nicht‹ (NHC II /1, p. 30, 20 f. par IV /1, p. 47,6–8)570.

So liegt die Schlußfolgerung nahe, dass der Pronoia-Hymnus in den beiden Langfassungen des AJ als solcher, d.h. als Zeugnis einer nicht-christlichen Gnosis, trotz einer im AJ ansonsten durchaus aufweisbarer Rezeption des JohEv.s bzw. des johanneischen Prologs nicht als das Zeugnis einer Johannes-Rezeption anzusehen ist. Die in mancherlei Hinsicht aufweisbaren Entsprechungen zwischen Pronoia-Hymnus und johanneischem Prolog sind vielmehr, wie bereits M. Tardieu festgestellt hat571, aus einer beiderseits, sowohl im Prolog zum JohEv als auch im Pronoia-Hymnus rezipierten Weisheitstradition zu erklären: »As the Gospel opens with a hymnic Prologue that applies a number of sapiental motifs to Jesus, so the more definitive revelation offerred in the Apocryphon ends with a hymnic Epilogue rooted in a similar sapiental milieu, a Providence aretalogy on the lips of Jesus«572. Was im Prolog zum JohEv einerseits wie auch im Pronoia-Hymnus 568 M. Tardieu, Écrites Gnostiques, S. 341: »L’hymne suit le schéma johannique«. Ebd., S. 342: »Deux conceptions du salut s’affrontent ici en Jn, une interprétation physique de la descente (incarnation); dans l’hymne cité par A Jn: une interprétation psychologique (gnose)«. 569 M. Tardieu, ebd., S. 341. Kritisch dazu M. Waldstein, The Providence Monologue, S. 399 ff. 570 Vgl. z.St. auch M. Waldstein, ebd., S. 402, hier mit der Schlussfolgerung: »Despite a striking overall similarity, there are, in fact, no literary contacts between the Prologue and the Monologue close enough to indicate literary dependence of the Monologue on the Prologue«. 571 M. Tardieu, Écrites Gnostiques, S. 340: »Tot le matériaux sémantique de § 77 a combine les données traditionelles. La providence est éternelle et préexistante, cf. Si 24,9; Pr 8,22–23; Jn 1,1. Elle possède tout, cf. Si 24,5–6; Jn 1,3 …«. 572 M. Waldstein, The Providence Monologue, S. 393, Zum Einzelnen in dieser Hinsicht ebd., S. 393 ff., hier unter der Überschrift »History of Religions Setting: Jewish Wisdom Traditions«; vgl. auch R.v. d. Broek, Von der jüdischen Weisheit zum gnostischen Erlöser, aber

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als Epilog zum AJ vorliegt, sind Zeugnisse einer unterschiedlichen Rezeption jüdischer Weisheitsüberlieferung, und zwar einmal in einem spezifisch christlichen, und zum anderen in einem spezifisch gnostischen Kontext. Die Analogien, die sich daraus für das JohEv wie auch für das AJ ergeben, sind also keineswegs in ›Genealogien‹ dieser beiden Schriften im Verhältnis zueinander zu verwandeln, zumal sie in einem jeweils anderen Kontext ihren Ort haben: im JohEv in einem spezifisch christlichen, im AJ in einem spezifisch gnostischen Kontext: Analogien also, die jeweils unterschiedlich ausgerichtet sind. Im Pronoia-Hymnus auf die Befreiung des Menschen bzw. des Gnostikers aus einer ihm feindlichen Welt; im JohEv demgegenüber auf jene Geschichte Gottes mit den Menschen, wie im JohEv im Einzelnen ausgeführt wird. Im Falle des Pronoia-Hymnus am Ende der ›Geheimschrift des Johannes‹ bedeutet dies freilich, dass hier das Zeugnis einer nicht-christlichen Gnosis vorliegt, das seinerseits die Tradition einer ›dualistischen Weisheit‹ voraussetzt und somit wohl auch eine »Tendenz der Weisheit zur Gnosis«573. Zum Zeugnis einer ›christlichen‹ Gnosis wird jener Pronoia-Hymnus in den beiden Langfassungen des AJ erst dadurch, dass er – ursprünglich das Zeugnis einer nicht-christlichen (weiblichen) Erlösergestalt – erst sekundär am Ende jener ›Geheimschrift des Johannes‹ eingefügt und auf diese Weise in ein Selbstzeugnis eines gnostischen Jesus verwandelt worden ist: An die Stelle des ›Ich’s‹ jener Pronoia tritt hier unvermittelt das ›Ich‹ Jesu: Jesus also nunmehr die gleichsam personifizierte Pronoia – und damit zugleich auch wiederum die personifizierte ›Weisheit‹. Der johanneische Rahmen bleibt am Ende formal nur noch dadurch gewahrt, dass es eben wiederum ›Johannes‹ ist, dem jener gnostische Jesus seine geheime Lehre mitgeteilt hat, damit er, wie es am Ende des AJ in allen Versionen übereinstimmend heißt, jene Worte Jesu aufschreibe, um sie ›im Geheimen‹ den ›Gleichgesinnten‹, den , zu überliefern, denn jenes von Jesus als der gleichsam personifizierten Pronoia mitgeteilte ›Geheimnis‹ gebührt ja allein den Gnostikern, jenem ›Geschlecht‹ also, ›das nicht wankt‹ (BG 8502, p. 75,11 ff. par NHC III /1, p. 39,14 ff. sowie NHC II /1, p. 31,25 ff. par IV /1, p. 49,6 ff.574. Im Zusammenhang des Themas der Rezeption des JohEv.s bzw. des johanneischen Prologs in der frühchristlichen Gnosis nimmt das AJ in diesem Sinne zweifellos eine Sonderstellung ein. Das soll und kann nicht heißen, auch bereits R. Bultmann, Der religionsgeschichtliche Hintergrund des Prologs zum Johannes-Evangelium, S. 13–21. 573 So H.-M. Schenke, Die Tendenz der Weisheit zur Gnosis, S. 354 f. – C.A. Evans, On the Prologue of John and the Trimorphic Protennoia, S. 399, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass »this wisdom tradition itself ha s gnosticising proclivity«. Zum Stichwort einer ›dualistischen Weisheit‹ in diesem Zusammenhang vgl. E. Brandenburger, Fleisch und Geist. Paulus und die dualistische Weisheit, S. 24 f., sowie K. Rudolph, Sophia und Gnosis. Bemerkungen zum Problem ›Gnosis und Frühjudentum‹, S. 170–189. 574 Zur Problematik in dieser Hinsicht vgl. R.v. d. Broek, Von der jüdischen Weisheit zum gnostischen Erlöser, S. 91 ff.

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dass es gleichsam als »a key to the riddle of the relationship of John and the Gnostics« zu betrachten ist575, wohl aber insofern eine Sonderstellung einnimmt, als sich in jener ›Geheimlehre des Johannes‹ die eindeutige Rezeption des JohEv.s in der Kurzfassung des BG 8502 (par NHC III /1) in den beiden Langfassungen (NHC II /1 und IV /1) mit der Rezeption eines ursprünglich nicht-christlichen gnostischen Hymnus verbindet, der seinerseits aus der sowohl für den Prolog des JohEv.s als auch für den Pronoia-Hymnus charakteristischen je unterschiedlichen Rezeption der jüdischen Weisheitstradition (einschließlich ihrer ›Tendenz zur Gnosis‹) zu verstehen ist. – Es ist nun aber auch eben jener Pronoia-Hymnus gewesen, der in einem weiteren Zeugnis aus den Schriften von Nag Hammadi seine gleichsam natürliche Fortschreibung gefunden hat. Es handelt sich dabei um die unter dem Titel der Dreigestaltigen Protennoia im Kodex XIII von Nag Hammadi überlieferte Schrift, die als solche wiederum ein geradezu typisches Produkt des für die frühchristliche Gnosis insgesamt charakteristischen ›Synkretismus‹ darstellt. M. Hengel hat dies sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, wenn er eben diese Schrift als ›eine einzigartige Mixtur aus einer fortgeschrittenen jüdisch-hellenistischen, stark dualistisch eingefärbten Weisheitsspekulation, einem popularphilosophischen, via negationis gewonnenen Gottesbegriff, aretalogischen Zügen der Isis Panthea, platonischer Weltseele und stoischem Monismus, jüdischalexandrinischer Spekulation über den Logos als Ebenbild Gottes, starken apokalyptischen Elementen und zahlreichen christlichen Motiven …‹ charakterisiert576. All’ dies schließt gleichwohl keineswegs aus, dass auch dieser Schrift eine bestimmte in sich konsistente Grundkonzeption zugrunde liegt, und zwar offensichtlich in einem Zusammenhang mit dem Pronoia-Hymnus des ›Apokryphon Johannis‹. In welchem Sinn auch diese Schrift wiederum in der Geschichte der frühchristlichen Gnosis steht, zeigt sich bereits an ihrem Titel577: Hier wird eine Offenbarungsgestalt weiblicher Natur genannt, die in ihrer Bezeichnung einen ›geistig-erkenntnismäßigen Aspekt‹ zum Ausdruck bringt, und zwar ebenso, wie dies auch für die Bezeichnungen , und gilt578. Schon hier also, im Blick auf den Titel dieser Schrift, zeigt sich ein Sachzusammenhang mit der Version des ›Apokryphon Johannis‹ im BG 8502, p. 27,5–8, wo neben der und der auch die Protennoia genannt wird, hier in der griechisch-koptischen Mischform tehwite nnennoia, ›der erste Gedanke‹579. Das ist eine Nomenklatur, die in der Ge575

So A. H. B. Logan, John and the Gnostics, S. 49. M. Hengel, Die johanneische Frage, S. 49. 577 Vollständig lautet der Titel (in der subscriptio): »Die Rede von der Epiphanie. Protennoia, dreigestaltig. Heilige Schrift vom Vater geschrieben in vollkommener Erkenntnis«. Dazu im Einzelnen J.D. Turner, Nag Hammadi Codex XIII (NHS 28), S. 367–369. 578 Dazu vgl. K. Rudolph, Sophia und Gnosis, S. 180. 579 Vgl. die ›rein‹ koptische Version in NHC II /1, p. 5,4 ff.: psrp mmeyye. 576

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schichte der frühchristlichen Gnosis fest verwurzelt ist, insbesondere in der Geschichte der simonianischen Gnosis, wenn die Helena als die bezeichnet wird, d.h. als »die weibliche Manifestation des ›ersten Gedankens‹ der Gottheit«580. Hier zeichnet sich bereits eine bestimmte Grundlinie ab, die über allen vordergründigen Synkretismus hinausführt bzw. den vielfältigen Einzelmotiven eine eigene Prägung verleiht. Dies gilt nun auch für die Frage des traditionsgeschichtlichen bzw. des literarischen Verhältnisses der ›Dreigestaltigen Protennoia‹ zu dem in den Langfassungen des ›Apokryphon Johannis‹ überlieferten Pronoia-Hymnus: Hier gibt es jedenfalls Parallelen bis in den Wortlaut hinein, die sich gar nicht anders erklären lassen als dadurch, dass zwischen beiden Schriften ein bestimmtes literarisches Verhältnis besteht, und zwar in dem Sinn, dass der Pronoia-Hymnus in der Langfassung des AJ (NHC II /1, p. 30,11–31,25) eine literarische Vorlage für die ›Dreigestaltige Protennoia‹ gewesen ist581: »It [sc.: der Pronoia-Hymnus des AJ ] appears to be the literary Vorlage on the basis of which the trimorphic Protennoia was written«582. Eine noch deutlichere Sprache in dieser Hinsicht spricht der Umstand, dass in der ›Dreigestaltigen Protennoia‹ ebenso wie im Pronoia-Hymnus des AJ ein Offenbarungsschema i.S. eines dreimaligen Abstiegs der Pronoia bzw. der Protennoia vorliegt, hier, in der ›Dreigestaltigen Protennoia‹ allerdings erheblich abgewandelt: War dort, im AJ , noch von drei gleichsam parallelen Abstiegen der Pronoia die Rede, von denen erst der letzte zum Ziel führte, so handelt es sich hier, in der ›Dreigestaltigen Protennoia‹, offensichtlich um eine Weiterentwicklung des Pronoia-Hymnus, und zwar in einer für diese Schrift spezifische Weise; ein Abstieg nämlich erstens als ›Gedanke‹ im Pleroma (p. 35,1 f.), zweitens als ›Stimme‹ bzw. als ›Ruf‹ für die Äonenwesen (p. 42,4.7, u.ö.) und schließlich drittens als ›Logos‹ für die Menschen (p. 46,5 f; 47,7–15). In diesem Sinn liegt in der ›Dreigestaltigen Protennoia‹ eine »expansion of the same scheme« wie bereits im Pronoia-Hymnus des AJ vor – mit dem Unterschied nur, »that here the three descents of the First Thought are interpreted by a threestage progressive revelation each stage of which is identified by an auditory metaphor …«583. 580 So Justin, Apol. I 26, hier i.U. zu Simon als dem »Ersten Gott«. Vgl. auch Irenäus, Adv. Haer. I 23,2: dicens hanc [Helena] esse prima mentis eius conceptionem, matrem omnium. Dazu J. Frickel, Die Gnosis und das frühe Christentum, S. 97 f. 581 G. Schenke, Die Dreigestaltige Protennoia, S. 20, verweist hierzu auf NHC XIII , p. 35,21 f.; 36,4; 40,29–34; 41,4–15; 43,9 f. Vgl. auch J. M. Robinson, Sethians and Johannine Thoughtt, S. 661 f. 582 So M. Waldstein, The Providence Monologue, S. 397 f., Zitat: S. 371. Vgl. auch J. D. Turner, The Gnostic Threefold Path of Enlightenment, S. 326 f. 331. 583 J. Turner, a.a.O., S. 331. Vgl. auch ebd., S. 328: »In TriProt, the Pronoia hymn provided a framework which was expanded in the form of lengthy aretalogies«. Ders., Nag Hammadi Cod. XIII (NHS 28), S. 385 f.: »Trimorphic Protennoia is an expansion based upon the source behind the hymnic Pronoia text now we founf in the longer ending of the Apocryphon of John«. Vgl. auch ebd., S. 387 ff., die synopsis of Trimorphic Protennoia, Iren. Haer. I 29,

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Bei alledem bedarf es keiner Frage, dass in der ›Dreigestaltigen Protennoia‹, ähnlich wie bereits im Pronoia-Hymnus des AJ , ein Offenbarungsgeschehen beschrieben wird, das gewisse Entsprechungen zum Prolog des JohEv.s aufweist. Fraglich ist dabei nur, wie jene Entsprechungen zu verstehen sind. Handelt es sich hier jeweils um je unterschiedliche Rezeptionen eines vorgegebenen Grundschemas, das, wie J.D. Turner deutlich gemacht hat584, auch in weiteren Schriften von Nag Hammadi vorliegt oder geht es um literarisch vermittelte Zusammenhänge, also um Abhängigkeiten der jeweils einen Schrift von der jeweils anderen? Die Forschungsgeschichte speziell zur ›Dreigestaltigen Protennoia‹ ist in dieser Hinsicht von Anfang an durch unterschiedliche, um nicht zu sagen: konträre Positionen bestimmt: Da gibt es einerseits die von G. Schenke/ Robinson vertretene Auffassung, dass der ›wissenschaftliche Wert der Protennoia … vielleicht vor allem in der offensichtlichen Parallelität weiter Partien insbesondere der dritten Rede zum Prolog des vierten Evangeliums‹ liegt – mit der Schlussfolgerung: »Die Verwandtschaft ist so außerordentlich eng, dass sich die Texte gegenseitig zu interpretieren scheinen. Während der Verfasser des vierten Evangeliums sich der gnostischen Erlöservorstellung bedient, um seine Christologie zu entfalten …, stehen die entsprechenden Parallelen in der Protennoia in ihrem natürlichen Kontext und werfen von daher eher ein Licht auf den Prolog, als es umgekehrt sein dürfte«. Die Schlussfolgerung kann, von daher gesehen, nur lauten: »So kann man die Substanz der dritten Rede [der Protennoia] wohl nur auf derselben Ebene liegend sehen, wie das [von R. Bultmann] als Vorlage des Johannes-Prologs erschlossene gnostische Logos-Lied585. Ganz im Gegensatz zu dieser Position steht jene andere Auffassung, derzufolge die ›Parallelen‹ zwischen dem johanneischen Prolog und der ›Dreigestaltigen Protennoia‹ aus eine Relektüre des Prologs unter einem spezifisch gnostischen Vorzeichen und der auf diese Weise vollzogenen Integration des Prologs in einen genuin gnostischen Kontext zu verstehen sind. Und schließlich, ganz analog zum Verständnis des Pronoia-Hymnus im ›Apokryphon Johannis‹, noch eine dritte, jenseits solcher Alternative liegende Möglichkeit: Beide, der Prolog zum JohEv wie auch die ›Dreigestaltige Protennoia‹, »have been inspired by an identical common source: Jewish Wisdom literature«586. Wofür also steht nun die and the Apocryphon of John (Codex II and BG 8502)«. Zur Sache vgl. auch R.v. d. Broek, Von der jüdischen Weisheit zum gnostischen Erlöser, S. 95 ff. 584 J. D. Turner, a.a.O., S. 324 ff., verweist hierzu auf den in der Spätantike weitverbreiteten Topos der »Dreiheit«: »threelevels of being, three periods of history, three stages of initiation into the mysteries …«, der sich auch in weiteren Schriften von Nag Hammadi (Allogenes, Zostrianus, Drei Stelen des Seth) findet. 585 So G. Schenke, Die dreigestaltige Protennoia, S. 23. Dies., The Trimorphic Protennoia and the Prologue of the Fourth Gospel, S. 45.; vgl. auch schon in: ThLZ 99 (1974), Sp. 733 f. – Kritisch dazu K. Rudolph, in: ThR 50 (1985), S. 20, sowie H. Thyen, Art. Johannesevangelium, in: TRE 17, S. 220, Z. 19 ff. 586 So Y. Janssens, The Trimorphic Protennoia and the Fourth Gospel, S. 235.

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›Dreigestaltige Protennoia‹? – »pour une source du prologue du quatrième évangile, ou l’inverse pour un exemple de relecture de l’Évangile de Jean? le debat n’est pas clos aujourd’hui«587. Ob diese Debatte allein durch den Aufweis der ›Parallelen‹ zwischen dem Joh-Prolog und der ›Dreigestaltigen Protennoia‹ eindeutig zu entscheiden ist, mag man angesichts der weitergehenden Diskussion in dieser Hinsicht bezweifeln588 – immerhin: in der Diskussion war ja bisher nicht nur von ›evident similarities‹ die Rede589, sondern auch, so jedenfalls C. Colpe, von ›stupenden Parallelen‹, er nun freilich sogleich mit der Einschränkung: ›Hoffentlich sagt jetzt niemand: »Also hat der Evangelist Johannes doch einen gnostischen Hymnus entmythologisiert, verchristlicht, vergeschichtlicht‹«, worauf dann sogleich wieder der relativierende Hinweis auf die auch hier noch deutlich erkennbare ›weisheitliche Grundspekulation‹ folgt, ›aus welcher‹ – so weiter C. Colpe – »gnostische Mythologie entwickelt werden konnte, und in welche die letztere auch wieder rückgebildet werden kann«590. Bei alledem ist im Übrigen zunächst eindeutig, dass die ›Dreigestaltige Protennoia‹ in ihrer im Codex XIII von Nag Hammadi überlieferten Gestalt das Zeugnis einer christlichen bzw. bereits christianisierten Gnosis ist: Dreimal wird der ›Christus‹-Titel genannt (p. 38,22; 39,6 f. und p. 49,8). ›Christus‹ steht dabei i.S. des ›vollkommenen Soter‹ bzw. geradezu i.S. von ›Gott‹. Nach Auffassung des ›Berliner Arbeitskreises für koptisch-gnostische Studien‹ handelt es sich bei diesem Titel um eine sekundäre Hinzufügung zu der ursprünglich ›rein gnostischen‹ Gestalt des ›Autogenes‹, mithin um das Zeugnis einer sekundären Christianisierung einer ursprünglich nicht-christlichen gnostischen Schrift591. Dasselbe gilt – nach der Meinung des ›Arbeitskreises‹ auch im Blick auf die Bezugnahme auf Jesus selbst (p. 50,10–12): »Ich [die Protennoia ingestalt des Logos] habe Jesus angezogen. Ich trug ihn weg vom 587

J.-D. Dubois, L’exégèse des Gnostiques et l’histoire du Canon des Écritures, S. 92. Dazu vgl. Y. Janssens, Une source gnostique du Prologue?, S. 355–358; dies., The Trimorphic Protennoia and the Fourth Gospel, S. 229–244; J. M. Robinson, Sethians and Johannine Thought, S. 643–662; C. E. Evans, On the Prologue of John and the Trimorphic Protennoia, S. 395–401, u.v.a. Zur Problematik der gegenwärtigen Forschungslage: A. H. B. Logan, John and the Gnostics, S. 46 ff. 589 So H. D. Turner, Nag Hammadi Codex XIII :1 (NHS 28), S. 375; vgl. ebd., S. 372. 395 f. 590 C. Colpe, in: JAC 17 (1974), S. 122 sowie S. 123 f., hier S. 124: »Auch die zum Johannes-Prolog herausgehobenen ›Parallelen‹ sind ein Beleg dafür, da sie isoliert, wie sie jetzt dastehen, sowohl in weisheitliche wie in gnostische Zusammenhänge eingefügt werden können«. 591 So in: K.-W. Tröger (ed.), Gnosis und Neues Testament, S. 75 f., hier S. 76: »Aber das ist wiederum offenkundig nur eine nachträgliche christliche Usurpation der (in der ganzen dritten Rede) vorhergehenden Ausführungen über die Erscheinung der Protennoia im Logos«. Zum Problem auch T. Nagel, Die Rezeption des Johannes-evangeliums, S. 448 ff., hier S. 451: »Eine intensive christliche Überarbeitung von Prot, die gleichzeitig der Endredaktion zugewiesen werden kann, ist nur in der dritten Rede der Protennoia festzustellen«. Zur Frage einer »sekundären Christianisierung« in NHC XIII vgl. bereits R. McL. Wilson, The Trimorphic Protennoia, S. 52 f. 588

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verfluchten Holz und versetzte ihn in die Wohnungen seines Vaters«592. Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang freilich: Wenn es sich in den eben genannten Fällen tatsächlich um Anzeichen einer sekundären Christianisierung einer ursprünglich nicht-christlichen Vorlage handelt, gilt dann das hier festzustellende Verfahren einer ›sekundären Christianisierung‹ auch für die gesamte dritte Rede der Protennoia von der ›Epiphanie des Logos‹ (p. 46,5–50,20), die als solche durch die ›Ich-bin‹-Aussagen der Protennoia gekennzeichnet ist und in der sie, die Protennoia, sich »als transzendentes Prinzip des Alls und zugleich als Prinzip der Erlösung ihrer verlorenen Glieder vorstellt«?593. Diese Frage ist nun freilich offensichtlich zu verneinen, denn in der dritten Rede der Protennoia, handelt es sich nicht mehr um Hinweise auf eine eher formale sekundäre Christianisierung, sondern um offensichtlich intensive, zum Teil wohl auch polemisch bedingte Aussagen, die ihrerseits nunmehr ganz in den gnostischen Kontext dieser Schrift integriert sind – konkret also: Um »a thorough Gnostic interpretation of Johannine ideas«594, die jene ›johanneischen Ideen‹ im Grunde gar nicht mehr als solche, geschweige denn als ›Zitate‹ aus dem Prolog des JohEv.s erkennen lässt. Mit den ›stupenden Parallelen‹, die C. Colpe auch außerhalb der dritten Rede der Protennoia aufgespürt hat, hat es also eine besondere Bewandtnis – es sei denn, man teilt hier von vornherein die Auffassung von P. Hofrichter, dass die »mythologischen Traktate von Nag Hammadi« allesamt als »Paraphrasen zum Logosbekenntnis« zu betrachten sind – denn, so die Begründung dieser These: »Am Anfang [der neutestamentlichen wie auch der gnostischen Theologie] war der Johannesprolog«595. Wer diese Voraussetzung freilich nicht teilt, wird umso aufmerksamer auf bestimmte Signale im Text insbesondere der dritten Rede der Protennoia achten, die zweifellos der »methodisch sicherste Ort [ist], um nach möglicher Rezeption des JohEv zu fragen.«596 Geht man dabei von der von C. Colpe vorgelegten Auflistung aus, die auch ›Parallelen‹ aus den vorangehenden Reden der Protennoia verzeichnet, so stellt sich der Sachverhalt im Blick auf diese ›Parallelen‹ keineswegs so eindeutig dar, wie es auf 592 Nach G. Schenke, Die Dreigestaltige Protennoia, S. 161 f., handelt es sich dabei um »eine gnostische Version der urchristlichen … Vorstellung der Himmelfahrt Jesu vom Kreuz«, die als solche an »einschlägige gnostisch-doketische Auffassungen« erinnert, »wie sie auch Irenäus, Adv. Haer. I 26,1 und 30,4 kennt«. 593 So der »Berliner Arbeitskreis für koptisch-gnostische Studien«, in: K.-W. Tröger (Hrsg.), Gnosis und Neues Testament, S. 75. 594 So G. Luttikhuizen, Johannine Vocabulary and the Thought Structure of Gnostic Mythological Texts, S. 178 f. 595 So der Titel der Untersuchung von P. Hofrichter, mit dem Untertitel: »Das urchristliche Logosbekenntnis – die Basis neutestamentlicher und gnostischer Theologie, S. 215: »Die Bezogenheit der ›Dreigestaltigen Protennoia‹ auf den Johannesprolog geht … weit über bloße Sachparallelen hinaus … Insgesamt ist die ›Dreigestaltige Protennoia‹ eine mythologische Meditation über das Logosbekenntnis auf der Grundlage der altgnostischen Auslegung«. 596 So T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 45.

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den ersten Blick erscheinen mag. Dies gilt schon die zu Joh 1,1 f. genannte Parallele aus NHC XIII , p. 35,1 ff.597: Das einleitende ›Ich bin‹-Wort der Protennoia: ›Ich bin die Bewegung, die im All existiert, ja, in der das All seinen Bestand hat‹, und weiter: »Ich bin das Ersterzeugnis von denen, die geworden sind; [ich bin] diejenige, die vor dem All existiert« bezeichnet gewiss in einem weiteren Sinn auch all’ das, was im Johannes-Prolog vom ›Logos‹ ausgesagt wird, ist aber – aufs Ganze gesehen – nicht mehr als eine weitere ›Parallele‹, die sich als solche auch aus der jüdischen Weisheitstradition erklären lässt, d.h. eine gezielte Bezugnahme auf Joh 1,1 f. liegt hier wohl nicht vor. Entsprechendes gilt auch für die weitere ›Ich bin‹-Aussage der Protennoia p. 38,12 f.: »Ich bin das Abbild des unsichtbaren Geistes, und das All wurde durch mich gebildet« als Entsprechung zur Aussage der Schöpfungsmittlerschaft des johanneischen Logos in Joh 1,3. – Demgegenüber ist freilich im Blick auf Joh 1,5 durchaus auf NHC XIII , p. 36,5 f. zu verweisen: »Ich kam herab in die Unterwelt. Ich ging leuchtend auf über die Finsternis«, wozu im Übrigen auch auf die in der Sache entsprechende Aussage in der 3. Rede der Protennoia (p. 46,30–33) hinzuweisen ist: »… und ein Logos durch die Stimme ist es, der ausgesandt wurde zu leuchten über diejenigen, die in der Finsternis sind«598.

In den bisher genannten Fällen (zu Joh 1,1 f. 3.5) ist es offensichtlich eine Ermessensfrage, einen Zusammenhang zwischen dem johanneischen Prolog und der ›Dreigestaltigen Protennoia‹ bestätigt zu sehen, eine ›Ermessensfrage‹, die immerhin dadurch noch ein bestimmtes Profil gewinnen könnte, wenn sich über jene eher formalen Parallelen hinaus ein Sachzusammenhang zwischen beiden Schriften erkennen oder doch jedenfalls wahrscheinlich machen ließe. In diesem Sinn haben die im Folgenden noch zu nennenden ›Parallelen‹ eine durchaus andere Qualität als jene eher als formal zu bezeichnenden bisher genannten Parallelen. Hier handelt es sich nämlich nicht nur um Spuren einer sekundären Christianisierung, sondern wohl tatsächlich um einen Sachzusammenhang zwischen dem Prolog zum JohEv und der dritten Rede der Protennoia: Auffällig in dieser Hinsicht ist jedenfalls, dass in NHC XIII zweimal von einem ›Nicht-erkennen‹ des Logos-Erlösers die Rede ist, ebenso wie im Joh-Prolog in den Versen 10 und 11. Hier heißt es in Joh 1,10: »und die Welt erkannte ihn nicht« und in Joh 1,11 entsprechend: »und die Seinen nahmen ihn nicht auf«. Dazu ist in der Rede der Protennoia bzw. des Logos p. 50,15 zu vergleichen: »Und nicht erkannten mich die, die da wachen über ihre Wohnungen«. Im Kontext gesehen heißt dies wohl, dass es die Archonten dieser Welt sind, die über (ihre) ›Wohnungen‹ (in der Welt) wachen und dementsprechend denjenigen (mitsamt seinem ›Samen‹) nicht zu erkennen vermögen, der für sie, die Archonten, ein ›Unangreifbarer‹ ist (p. 50,15–18). Diese Aussage vom ›Nicht-erkennen‹ des Logos-Erlösers begegnet dann ein weiteres Mal, 597

Vgl. dau C. Colpe, in: JAC 17 (1974), S. 123 f. Zu Recht verweist J. D. Turner in seinem Kommentar zu p. 35,4 f. (NHS 28, S. 435) auf Prov 8,22 ff. und Kol 1,15. Vgl. auch G. Schenke, Die dreigestaltige Protennoia, S. 89: »… die Protennoia, die doch eine modifizierte Form der jüdischen Sophia ist«. 598

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nämlich p. 47,13 ff., nunmehr in einem anderen Kontext: »Zum dritten Mal offenbarte ich mich in ihren Zelten, existierend als Logos. Und ich offenbarte mich in der Gleichheit ihres Bildes, und ich trug aller ihrer Kleidung«. Und weiter heißt es in diesem Zusammenhang (p. 47,22 ff.): »Und ich verbarg mich in ihnen, bis ich mich meinen Brüdern offenbare«. Konkret heißt dies, dass hier nicht mehr von jenen ›Archonten‹ der Welt die Rede ist wie zuvor (p. 50,15), sondern von denjenigen, die als ›Brüder‹ zum Logos-Erlöser selbst gehören – von denjenigen also, die Joh 1,11 die , d.h. die ihm, dem Logos-Erlöser ›eigenen‹ genannt werden, wenngleich auch von ihnen gilt: »Und keiner von ihnen erkannte mich, obwohl [doch] ich es bin, der in ihnen wirksam ist« (p. 47,24 f.)599. Unwissend, ohne Erkenntnis sind also auch sie, die weder »ihre Wurzel kennen« noch den »Ort, an dem sie aufgewachsen sind« (p. 47,27 f.) D.h.: Was im JohEv programmatisch bereits im Prolog im Blick auf das Wirken des Logos-Offenbarers in der Welt zur Sprache gebracht wird, erscheint in der dritten Rede der Protennoia in einen gnostischen Kontext integriert. In diesem Sinn kann dieser Text- und Sachzusammenhang in der ›Dreigestaltigen Protennoia‹ geradezu als ein Paradigma für eine gnostische Rezeption bestimmter ausgewählter Aussagen des Prologs zum JohEv gelten600. Dieser Eindruck wird dadurch noch vertieft, dass solche Rezeption hier in einem Kontext vorgetragen wird, der insgesamt vom Thema des Abstiegs der Protennoia in die (Menschen-)Welt und in diesem Sinn auch durch das Thema der ›Menschwerdung‹ des Logos bestimmt ist, dies nun freilich wiederum in einer spezifisch gnostischen Weise: Im Unterschied nämlich zu einer ganzen Reihe der Schriften von Nag Hammadi, die offensichtlich keine Vorbehalte haben, im Zusammenhang mit diesem Thema auch das für den Joh-Prolog in dieser Hinsicht entscheidende Stichwort ›Fleisch‹ ( ) zu gebrauchen601, geschieht dies in der »Dreigestaltigen Protennoia« in einer bemerkenswert zurückhaltenden, um nicht gleich zu sagen: ›doketischen‹ Weise. Nicht zufällig hat Ph. Perkins im Blick speziell auf die ›Dreigestaltige Protennoia‹ von einem ›docetic account‹ gesprochen, d.h. konkret: »All historicising references to John the Baptist, to Moses, and to the fleshly incar599 Zur Stelle vgl. T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 452 f., sowie G. Schenke, Die dreigestaltige Protennoia, S. 149. Vgl. demgegenüber NHC XIII , p. 36,15 f.: »Sie werden mich erkennen, … sofern ein Same in ihnen ist«. – Zum Thema »Licht in der Finsternis« (Joh 1,4 f. bzw. 1,9) vgl. auch p. 37, 14 f.: »Und denen, die in der Finsternis sind – ihnen offenbarte er sich«. – In gnostischer Version begegnet das Motiv des »Nicht-erkennens« bereits im Pronoia-Hymnus des Apokr. Joh. (NHC II /1, p. 30,20 f. bzw. IV /1, p. 47,6–8: »Und ich [sc.: die Protennoia] verbarg mich vor ihnen wegen ihrer Bosheit – und sie erkannten mich nicht«. 600 Von daher ist auch zu verstehen, dass der »historische Exkurs« über den Täufer für die gnostischen Rezipienten des johanneischen Prologs ohne Interesse ist. 601 Vgl. z.B. den Tract. Tripartitus (NHC I/5), p. 113,37.; 114,7–10; 133,16–21; das Test. Veritatis (NHC IX /3), p. 39,31; die Interpretation der Erkenntnis (NHC XI /1,) p. 12,28 sowie das Thomasevgl. (NHC II /2), p. 38,21 f. (Logion 28).

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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nation of Jesus are missing«602. Dem entspricht es, dass für die Rede von der ›Menschwerdung‹ des Logos bzw. der Protennoia in NHC XIII , p. 49,15 ff., ein ›als ob‹ (griechisch: ) gilt: »… unter den Engeln offenbarte ich mich in ihrer Gestalt; und den Kräften ( ), als ob ich eine von ihnen sei«; unter den ›Söhnen der Menschen‹ aber, als ob ich ein Sohn des Menschen sei – obgleich ich [doch] existiere als Vater von einem jeden …«: Menschwerdung also im Sinne des ›als ob‹603. Ganz auf dieser Grundlinie liegt nunmehr auch jener Passus aus der dritten Rede der Protennoia, in dem wohl der deutlichste Hinweis auf dieRezeption des Prologs zum JohEv und auf die Rezeption von Joh 1,14 überliefert ist. Hier (p. 47,13 ff.) heißt es: »Zum dritten Mal offenbarte ich mich in ihren ›Zelten‹ – existierend als Logos«, und das heißt: »ich offenbarte mich in der Gleichheit ihres Bildes, und ich trug das Gewand eines jeden von ihnen«604, »und ich verbarg mich selbst in ihnen, bis ich mich meinen Brüdern offenbare« – Dialektik also dieser Offenbarung, die als solche zur Folge hat: ›und niemand von ihnen erkannte mich‹ (p. 47,27), in jedem Falle: die ›Offenbarung‹ des Mensch-gewordenen Logos ist hier in einer spezifisch gnostischen Weise lediglich die Bedingung der Möglichkeit zur Vermittlung der ›Wahrheit‹ bzw. der ›Erkenntnis‹ an diejenigen, die ›unwissend‹ und ›ohne Erkenntnis‹ sind und deshalb ihre ›Wurzel‹ nicht kennen, also in Unkenntnis sind über ihre eigentliche Herkunft, über den »Ort, an dem sie aufgewachsen sind«605. ›Offenbarung‹ des Logos-Erlösers hier also jedenfalls nicht i.S. einer ›Inkarnation‹, die als solche zugleich die ›Weltwerdung‹ jenes Logos bedeuten würde, ›Menschwerdung‹ vielmehr, die lediglich auf die ›Brüder‹ jenes Logos-Erlösers ausgerichtet ist. Es ist offensichtlich, dass in diesem Rahmen endlich auch jene Aussage in der dritten Rede der Protennoia zu nennen ist, die den zuletzt genannten Aussagen offensichtlich programmatisch voransteht: »Zum dritten Mal of602 So Ph. Perkins, Gnosticism and the New Testament, S. 115 f.; ebd., S. 116: »The difference between the two works becomes evident when the sparse ›the Word became flesh und lived among us‹ (John 1: 14) is contrasted with the elaborate explanation of the revealer wearing the garments of all the powers in order to bring revelation to his fellows (47,14–27)«. 603 Vgl. z.St. (p. 49,11–20) auch J. D. Turner, NHS 28, S. 451 f.: »Here Logos/Protennoia only appears as if ( ) he were a Son of Man«, mit Hinweis auch auf p. 47,13–16 und den Kontrast zu Joh 1,14. 604 Vgl. auch Epist. Jacobi (NHC I/2), p. 12,12 f.: »Keiner von denen, die das Fleisch tragen, wird gerettet werden«. Es handelt sich dabei offensichtlich um eine Art ›commonplace‹ in der gnostischen Literatur: vgl. auch Apokr. Joh (NHC II /1, p. 25,34 f.); Philippusevgl. (NHC II /3, p. 56,29 f.); Dialog des Erlösers (NHC III /5, p. 132,10–12, sowie die Paraphrase des Sem (NHC VII /1, p. 34,25). 605 Zu solchem Verständnis von ›Inkarnation‹ vgl. P. Pokorný, Der irdische Jesus im Johannesevangelium, S. 220 f.: »die Inkarnation ist eigentlich nur ein Mittel zur Mitteilung der geistigen Wahrheit«, was konkret heißt: Der Erlöser »erweckt das göttliche Wissen aus der Vergessenheit in der Materie«, hier mit Hinweis auf NHC XIII , p. 47,14–18; Evangelium Veritatis (NHC I/3), p. 30,32 ff.: »Er offenbarte sich, indem er sie über den Vater, den Unbegreiflichen belehrte«; vgl. auch Phil-Evgl. (NHC II /3), p. 57,25–58,7.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

fenbarte ich mich ihnen ›in ihren Zelten‹, existierend als Logos«. In einem Kontext, der – offensichtlich in einem Zusammenhang mit Joh 10 und 11 – das Thema des ›Erkennens‹ bzw. ›Nicht-erkennens‹ zum Gegenstand hat, liegt es von vornherein nahe, in dieser Aussage nicht nur eine Bezugnahme auf die Rede vom ›Wohnen‹ bzw. ›Zelten‹ der jüdischen ›Weisheit‹ in Israel i.S. von Sir 24,8 zu sehen, sondern wiederum eine Bezugnahme auf den Prolog zum JohEv, konkret also auf Joh 1,14: ›Und das Wort wurde Fleisch und ›zeltete‹ unter uns‹. , ›zelten‹, wäre dann hier das entscheidende Gleichniswort für die Menschwerdung des Logos, nicht also jenes radikale Wort von der ›Fleischwerdung‹ des Logos. ›Zelten‹, vorüber gehend ›wohnen‹ wäre das entscheidende Gleichniswort für eine lediglich ›stationäre‹ Seinsweise des Logos im menschlichen Leib: ein kurzfristiger ›Auftritt‹ also des Logos auf der ›Bühne des Lebens‹ gleichsam?606. Nun, deutlich ist in jedem Fall: »Wir begegnen hier einem reinen Doketismus«607 – und damit einer Auffassung von der ›Menschwerdung‹ des Logos, die in der Auseinandersetzung der frühkatholischen Kirche mit der frühchristlichen Gnosis eine wesentliche Rolle gespielt hat.608 Was das Thema der Rezeption von Joh 1,14 in der frühchristlichen Gnosis und in den Schriften von Nag Hammadi bzw. in der ›Dreigestaltigen Protennoia‹ betrifft, so gehen die Auffassungen in der neueren Forschung offensichtlich immer noch weit auseinander: Nachdem R. McL. Wilson bereits i.J. 1977 die Vermutung geäußert hat: »a passage beginning at 47,13 looks like interpretation of John 1,14«609, sieht T. Nagel neuerdings hier ›die signifikanteste Berührung [der Dreigestaltigen Protennoia] mit der Sprache des Prologs‹: Diese ›Berührung‹ besteht nach seiner Aufassung im ›Wortfeld‹ – in 47,13–15. Die koptische Übersetzung hat hier skene ebenso wie logos als Lehnwort aus der Vorlage übernommen, so dass die lexikalische Übereinstimmung mit Jo 1,14 a … für die griechische Fassung von Prot gesichert sein dürfte«610. Dem stehen andererseits aber nach wie vor die in dieser Hinsicht negativen Positionen gegenüber, wie sie z.B. J.M. Robinson und J.D. Turner geäußert haben611.

Gerade aber in ihrer ›zwiespältigen‹ Beziehung zu Joh 1,14 lässt sich die Aussage von NHC XIII , p. 47,13–15, durchaus als Ausdruck einer gnosti606 Dazu vgl. J. Helderman, »In ihren Zelten«, S. 206: »›In ihren Zelten …‹ deutet also … die menschliche Wohnwelt an, die als Schauplatz für diese Manifestation dienen muss; kurz: Die notwendige Szenerie (abgeleitet von in der Bedeutung Bühne!), in der der Weckruf erklingt!« 607 So J. Helderman, ebd., S. 207. 608 Dazu vgl. M. Hengel, Die johanneische Frage, S. 49. 285 f. – Konkret wäre hier etwa an eine Auseinandersetzung zur Rolle der Christologie im Joh-Evangelium zu denken, wie sie auch in den Joh-Briefen zum Ausdruck kommt … In diesem Sinne: J. D. Turner, in: The Nag Hammadi Library in English, S. 512 f. 609 So R. McL. Wilson, The Trimorphic Protennoia, S. 53 f. 610 T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 455. 611 J. M. Robinson, Sethians and Johannine Thought, S. 659 f.; J.D. Turner, NHS 28, S. 395. 449. 452 (zu p. 49,11–20).

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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schen Re-Interpretation jener zentralen Aussage des johanneischen Prologs verstehen: ›Hier ist … die Pointe von Joh 1,14 absichtlich umgedeutet. In diesem Text wird ein reelles Wohnen der Person Jesu als langfristiges Bleiben unter / mit den Menschen angegeben, in jenem wird angedeutet, dass der Offenbarer (Barbelo / Protennoia) eben nicht selber unter / mit Menschen arteigen wohnt, sondern nur ihre Umwelt als Szenerie und ihre Körper als Umhüllung braucht, um nach Art einer Person sein Wort hören zu lassen, wenn auch in einer kurzfristigen Manifestation‹ – also: »Wir begegnen hier reinem Doketismus«612. So gesehen gibt es, was jene dritte Rede der ›Dreigestaltigen Protennoia‹ betrifft, in der Tat einen deutlichen Unterschied zum ›Pronoia‹-Hymnus in den beiden Langfassungen des ›Apokryphon des Johannes‹: Während im AJ eine Christianisierung des an sich nicht-christlichen Hymnus allein durch seine Einfügung als Rede Jesu in einen christlichen Rahmen erfolgt, repräsentiert jene dritte Rede der Protennoia eine weitergehende Redaktionsstufe. Hier lassen sich im überlieferten Text bereits deutliche Spuren einer gnostischen Rezeption des JohEv.s bzw. des johanneischen Prologs aufweisen. Dies bedeutet dann auch: »Als Quelle für den Prolog des Joh, wie es der Schenke-Kreis sehr kühn behauptet, kommt Protennoia keinesfalls in Betracht«613. Zugleich bestätigt die ›Dreigestaltige Protennoia‹ aus dem Kodex XIII von Nag Hammadi auf diese Weise einmal mehr das bisher im Rahmen der Frage nach der Rezeption des JohEv.s in der frühchristlichen Gnosis gewonnene Ergebnis.

Schlußfolgerungen zu 4.3.2.2 Ausgangspunkt, genauer noch historischer Hintergrund für die Frage nach der Rezeption des JohEv.s in der frühchristlichen Gnosis ist der Interpretationskonflikt, wie er für die Rezeption des JohEv.s im zweiten nachchristlichen Jahrhundert in der Auseinandersetzung zwischen der frühkatholischen Kirche einerseits und der frühchristlichen Gnosis andererseits bestimmend gewesen ist614. Bereits Irenäus hat diesen Konflikt vor Augen, wenn er Adv. 612 So J. Heldermann, »In ihren Zelten«, S. 206 f. Vgl. auch Y. Janssens, The Trimorphic Protennoia and the Fourth Gospel, S. 241. 613 So K. Rudolph, Die Nag-Hammadi-Texte in ihrer Bedeutung für die Gnosis-forschung, S. 20. – Vgl. in diesem Zusammenhang auch das von J.D. Turner (NHS 28, S. 396–401) vorgelegte 4-Stufen-Modell, d.h.: »1) the first stage is represented by the Grundform of the nonChristian Pronoia hymn found in the ending of the longer version of the Apocryphon of John, 2) long aretalogies of self-predication were added, 3) the expanded version was accomodated to the cosmogonical myth of the Sethians, 4) finally the polemical Christian Sethian material which draws on Johannine language was added«. 614 Dazu vgl. im Einzelnen die beiden i.J. 1990 erschienenen Sammelbände von J.-D. Kaestli/ J. M. Poffet/J. Zumstein, La communauté johannique et son historie, und A. Marchadour (ed.), Origine et postérité de l’évangile de Jean. Dazu K. Haldimann / H. Weder, in. ThR 67 (2002), S. 341–343 und S. 339–341.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Haer. III 11,1, ausdrücklich betont, dass »Johannes, der Schüler des Herrn«, »keinen anderen Glauben« bzw. eben »diesen Glauben« verkündet hat, wie er ihn selbst zuvor (Adv. Haer. III 10) anhand der Evangelien des Neuen Testaments dargelegt hat, und darüber hinaus hervorhebt, dass es bereits seine, des Johannes, Absicht gewesen sei, durch die Verkündigung des Evangeliums jenen »Irrtum« zu beseitigen, der von Kerinth wie auch von den Nikolaiten (Apk 2,6.15) »unter die Menschen gebracht worden war«, qui sunt vulsio eius quae falso cognominatur scientiae (1 Tim 6,20). Einerseits also, was die Meinung des Irenäus betrifft, war es die Absicht des »Johannes, des Schülers des Herrn«, die regula veritatis, den ›Kanon der Wahrheit‹, in der Kirche zu konstituieren (Adv. Haer. III 11,1), und andererseits sind es nun eben die Gnostiker, genauer: die Valentinianer, die, wie es Adv. Haer. III 11,7 heißt, ›äußerst häufig das Evangelium nach Johannes ad ostensionem coniugationum suarum‹ mißbrauchen. Was also im Blick auf die Rezeption des JohEv.s durch die frühchristliche Gnosis als Einbeziehung der biblisch-neutestamentlichen Überlieferung in ein genuin gnostisches Rahmenkonzept und, damit zugleich, als Inanspruchnahme dieser Überlieferung für die Legitimierung der eigenen ›gnostischen‹ Grundposition in Erscheinung tritt615, muß nach Maßgabe der Prinzipien der Schriftauslegung seitens der frühkatholischen Kirche notwendigerweise als eine Usurpation der Hl. Schrift seitens der häretischen Gnosis gelten. Die naheliegende Frage, ob und inwieweit eine solche Usurpation des JohEv.s durch die frühchristliche Gnosis seitens der rechtgläubigen Kirche zu einer gewissen, keineswegs also generellen Zurückhaltung gegenüber dem JohEv geführt hat, sei hier dahingestellt.616 Keineswegs geht es jedoch bei jener Inanspruchnahme dieses Evangelium durch die Gnostiker um eine, wie K. Rudolph in diesem Zusammenhang formuliert hat617, geradezu ›expansionistische‹ oder ›annexionistische‹ Auslegung, »indem die eigenen Lehren rücksichtslos aus den … biblischen Schriften bestätigt oder in sie hineingelesen werden«; vielmehr wird man davon ausgehen können, dass diese Instrumentalisierung des JohEv.s dort vor allem erfolgt ist, wo sich, 615 Im Einzelnen sind in dieser Hinsicht – selbstverständlich! – beträchtliche Unterschiede festzustellen. So vor allem im Blick auf die Auslegung des Joh-Evangeliums durch Herakleon: Vgl. hierzu besonders A. Wucherpfennig, Herakleon Philologus, S. 382 ff., mit der Fragestellung: »Heraklenons Kommentar als Beispiel gnostischer Johannesexegese?« – und mit der Antwort (ebd., S. 402): »Herakleons Johanneskommentar läßt sich … insgesamt wohl eher als gnostisierende denn als wirklich gnostische Schrift einstufen«, was zugleich heißt (ebd.): »Sein Johanneskommentar ist zuallererst die Transformation der christlichen Botschaft für gebildete Kreise in griechisch-römischen Städten …«. 616 Zur Fragestellung in dieser Hinsicht vgl. J. Zumstein, Visages de la communauté johannique, S. 91 f.: »… mais il est néanmois significatif d’une certaine réserve de la Grande Église vis-à-vis de l’oeuvre joh …«. 617 K. Rudolph, Bibel and Gnosis, S. 152; ebd.; »Es ist eine Art geistig-hermeneutischer ›Imperialismus‹, der hier greifbar wird und der Religionsgeschichte nicht fremd ist. Die ganze Verarbeitung der jüdischen Bibel durch das Christentum gehört dazu, die Gnostiker bilden nur einen Teil dieses Vorgangs«.

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nach der Meinung der gnostischen Rezipienten jedenfalls, bestimmte Anknüpfungsmöglichkeiten bzw. Ansätze für die eigene Rezeption in diesem Evangelium selbst darboten – mit anderen Worten: Hier geht es um einen »selektiven Gebrauch der Bibel, der sich daran orientiert, welche Stellen für die gnostischen Grundaussagen zu adaptieren waren«618. In diesem Sinn geht es bei dieser Art von Rezeption nicht nur um eine mehr oder weniger formale Weise der Rezeption, die nahezu willkürlich – wie dies z.B. in der gnostischen Naassenerschrift vermittels der formelhaften Wendung ›dies ist‹/ ›dies bedeutet‹ der Fall ist619 – bestimmte Aussagen des JohEv.s gleichsam ›nachträglich‹ zur Bestätigung der eigenen, vorgefaßten gnostischen Position benutzt. Hierauf würde denn auch das Urteil zutreffen, wie es bereits G. Heinrici in seiner Untersuchung über »Die valentinianische Gnosis und die Heilige Schrift« formuliert hat: »man erkennt durchweg das Bestreben, die Gnosis auf biblischen Boden zu verpflanzen, ohne dass dasselbe über eine veräußerlichte Verknüpfung von Schrift und Gnosis tatsächlich zu erheben vermag«620. Ganz anders stellt sich der Sachverhalt dar, wenn sich seitens jener gnostischen Exegeten mit ihrer Art von Rezeption des JohEv.s der Anspruch verbindet, vermittels ihrer Art von Schriftauslegung gleichsam das ›eigentliche‹ Sinnpotential des JohEvs zu erschließen und in diesem Sinne die im JohEv selbst gegebenen ›Ansätze‹ oder auch Implikationen ›aus-zulegen‹. Und hierzu bedarf es am Ende doch keiner Frage: Auch wenn es bei der Auslegung des JohEv.s um eine Instrumentalisierung und Funktionalisierung des JohEv.s i.S. der eigenen genuin gnostischen Interessen geht, so ist doch eine solche Instrumentalisierung und Funktionalisierung von bestimmten ›dualistischen‹ Aussageweisen des JohEv.s »im Ansatz ermöglicht«621. In der Tat. Wenn das JohEv aus einer Position heraus gelesen und rezipiert wird, die durch ein dualistisches Weltbild bestimmt ist, so ergibt sich am Ende ein Sachzusammenhang zwischen dem Text und seinen (gnostischen) Rezipienten; ein ›Sachzusammenhang‹, der nun seinerseits die Frage nach bestimmten Prädispositionen aufseiten dieses Evangeliums selbst stellen lässt622. Gibt es 618

So K. Rudolph, ebd., S. 145. Vgl. Hippolyt, Ref. V 8,5 (mit Bezug auf Joh 1,3 f.); V 8,7 (mit Bezug auf Joh 2,11) u.ö. Zur Sache im Einzelnen: T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 301 ff.J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 173, nennt in diesem Sinne die Naassenerschrift das »Dokument einer pneumatische Exegese«. 620 G. Heinrici, Die Valentinianische Gnosis und die Heilige Schrift, S. 46, hier mit dem Zusatz: Der Gnostiker »begnügt sich …, nachdem er seinen Lehrsatz ausgesprochen hat, mit einem apodictischen: oder einem «, mit der Schlußfolgerung (S. 47): »Wurde demnach nicht das System nach der Schrift, sondern die Schrift nach dem System normiert, so gab es ein doppeltes Mittel, die Schrift zu beugen, Isolierung und Umdeutung« (mit Verweis auf Irenäus, Adv. Haer. I 9,4 und 8,1). 621 So T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 339. 622 T. Nagel, ebd., S. 339 f., exemplifiziert diesen Sachverhalt insbesondere an der Johannes-Auslegung des Herakleon: »Auch wenn Herakleon diese joh. Gedanken und Begriffe zur Beschreibung seines eigenen theologischen Entwurfes heranzieht …, wird eine undifferenzierte 619

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

also hier, im JohEv selbst, am Ende doch – entgegen dem prinzipiell ›antignostischen‹ Ansatz von Joh 1,14! – eine gewisse ›Potentialität‹ dieses Evangeliums für jene gnostische Rezeption und in diesem Sinn dann auch eine gleichsam ursprüngliche Nähe dieser Evangelienschrift zur frühchristlichen Gnosis? Forschungsgeschichtlich gesehen hat diese Auffassung vom Verhältnis des JohEv.s zur frühchristlichen Gnosis eine bis ins 19. Jh. zurückreichende, aber auch gegenwärtig noch wirksame Vorgeschichte, die einen ansonsten der Rezeption des JohEv.s in den Schriften von Nag Hammadi durchaus kritisch gegenüberstehenden Autor wie W.G. Röhl nicht nur von einer ›gnostische(n) Entwicklungslinie der johanneischen Theologie‹ sprechen lässt, sondern sogar von einer ›Kongenialität‹ des JohEv.s »mit der Sprache und Vorstellungswelt der Gnosis«623. Was in diesem Zusammenhang die Stichworte gnostischer ›Ansätze‹ oder auch eine ursprüngliche ›Affinität‹ des JohEv.s zur früchristlichen Gnosis betrifft, so sind hier zunächst für das 19. Jh. vor allem A. Hilgenfeld und G. Heinrici zu nennen. So hat bereits A. Hilgenfeld in seiner Untersuchung »Das Evangelium und die Briefe Johannis, nach ihrem Lehrbegriff dargestellt« (Halle 1849) mit einer bemerkenswerten Konzentration auf das Thema der Anthropologie den Nachweis zu führen versucht, ›den johanneischen Lehrbegriff aus der von dem valentinianischen zum marcionitischen Standpunkt übergehenden Gnosis‹ zu erklären (S. 187 f.) Dieser Gesamtdarstellung schließt sich der Aufsatz »Der Gnosticismus und das Neue Testament« an624, in dem der Autor, wiederum speziell im Blick auf die im 8. Kapitel des JohEv.s entfaltete Anthropologie, formuliert: »Wenn irgend etwas in dem Johannes-Evangelium gnostisch ist, so ist es diese [in Joh 8,32 ff. vorliegende] Unterscheidung einer wesenhaften Gottes- und einer ebenso wesenhaften Teufelskindschaft«625. Ein wenig zurückhaltender demgegenüber formuliert G. Heinrici, wenn er feststellt, dass es nicht zu leugnen‹ sei, »dass kein anderes Evangelium der Gnosis so viele Anknüpfungspunkte bietet als das ›pneumatische‹. Licht, Leben, Liebe, Geist im Kampf mit der Finsternis, Tod, Welt und Fleisch, die Einigung des absoluten und menschlichen im Logos, alle diese Begriffe kehren in der Gnosis wieder« und von daher gesehen: »Es fragt sich …, ob auch die principiellen Anschauungen, aus denen sie entstammen, dieselben sind«626. Auf dieser Linie liegt auch das Votum, wie W.v. Loewenich es in seiner Untersuchung über »Das Johannesverständnis im zweiten Jahrhundert« vorgelegt hat: »Gnosis und johanneisches Christentum sind einander verwandt. Verwandtschaft beruht auf gemeinsamer Abstammung … Historisch ist das so zu erklären, dass das Johannes-Evangelium in der Umwelt einer gnostisch gearteten

Betrachtung seiner Johannes-Rezeption dem exegetischen Bemühen, das er auf den Text des JohEv verwendet, nicht gerecht« (S. 340). 623 W. G. Röhl, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 15. Vgl. auch ebd., S. 206, hier kritisch zum Stichwort der »Affinität zur gnostischen Gedankenwelt«. 624 A. Hilgenfeld, in: ZwTh 13 (1870), S. 233–275. 625 Ebd., S. 270, im Folgenden (S. 270 f.) mit der Einschränkung: »Dass das Johannes-Evangelium geradezu gnostisch sei, behaupte auch ich nicht … Aber dass das Joh-Evangelium dem Gnosticismus sehr nahe steht und aus der gnostischen Zeit zu begreifen ist, meine ich mit Fug und Recht immer noch behaupten zu müssen«. 626 G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die Hl. Schrift, S. 128 f.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Frömmigkeit entstanden ist«627. Auf derselben Linie bewegen sich auch die Voten in der englischsprachigen Forschung, für die hier nur auf die Untersuchung von R.M. Grant, Gnosticism and Early Christianity, hingewiesen sei628. Hier wird wiederum auf die Nähe des JohEv.s zu einer gnostischen Denkweise hingewiesen – »very close to Gnostic ways of thinking«, darüber hinaus insbesondere auch auf »John’s semi-Gnostic language«, zugleich mit der Einschränkung: »The Gospel thus belongs to the history of Gnosticism only in the sens that it was used by Gnostics, who read into it speculations from a thought-world not altogether alien to that of the Evangelist himself. He himself, however, was no Gnostic«629. – In der neueren deutschsprachigen Forschung sei in diesem Zusammenhang nur auf die These von P. Pokorný verwiesen, derzufolge die ›geistig-pneumatische Tendenz‹, wie sie für das vierte Evangelium charakteristisch sei, als solche bereits eine ›Anknüpfungsmöglichkeit für einen gnostischn Spiritualismus‹ darbot, der jene ›in allen Schichten des Johannesevangeliums präsente Tendenz‹ einseitig ›spiritualistisch‹ deutete630.

Wie auch immmer man hier im Einzelnen akzentuieren mag – in jedem Falle gibt es hier, was die Rezeption des JohEv.s in der frühchristlichen Gnosis betrifft, »a certain affinity between the thought of the Gospel and that of Gnosticism, which lends some plausibility to a Gnostic interpretation of it«631. Ob man daraus die Schlußfolgerung ziehen kann, »dass das Joh[-Evangelium] in der Mitte des 2. Jh. zum Bestandteil der gnostischen Schriften geworden ist«632, muß man gleichwohl bezweifeln. Sicherlich gab es hier, auch nach Irenäus, einen Interpretationskonflikt, der als solcher darauf hinweist, dass der Sache, um die es hier geht, gewiß nicht gedient ist, wenn man bemüht ist, vom JohEv selbst jeden ›Schatten‹ einer gnostischen Interpretationsmöglichkeit von vornherein fernzuhalten. Las und interpretierte man dieses Evangelium in jener Zeit unter einem ›gnostischen Vorzeichen‹, so bot gerade dieses Evangelium die Möglichkeit einer gnostischen Interpretation. Darüber, ob man deswegen dieses Evangelium selbst bereits als ›proto-gnostisch‹ bezeichnen kann, lässt sich gewiß streiten; nicht zu bestreiten ist gleichwohl, dass in diesem Evangelium eine gewisse Potentialität in Richtung auf eine gnostische bzw. gnostisierende Interpretation gegeben war, mag man diese ›Potentialität‹ auch – mit M. Hengel – darauf beschrän627 W.v. Loewenich, a.a.O., S. 60. Vgl. auch ebd., S. 61: »Erst wenn man sich klar macht, dass die Gnosis nicht ganz ohne inneres und äußeres Recht Joh für sich in Anspruch nehmen wollte, versteht man die Bedeutung, die dem Irenäus in der Geschichte des Joh-Verständnisses zukommt«. 628 A.a.O., S. 163 ff. Vgl. auch M. F. Wiles, The Spiritual Gospel, S. 96–111, sowie den forschungsgeschichtlichen Überblick bei T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 24 ff. sowie S. 31 ff. Dazu A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 406, mit der Schlußfolgerung: »Mit dem Ergebnis von Nagels Untersuchung ist sein [des Joh-Evangeliums] Charakter als Lieblingsevangelium gnostischer Randgruppen nicht mehr zu rechtfertigen«. 629 R. M. Grant, Gnosticism and Early Christianity, S. 175. Entsprechend M. F. Wiles, The Spiritual Gospel, S. 96 ff. 630 P. Pokorný, Der irdische Jesus im Johannesevangelium, S. 221 f. sowie S. 224. 631 So F. M. Wiles, The Spiritual Gospel, S. 97. 632 So J. Zumstein, Kreative Erinnerung, S. 4.

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ken, dass dieses Evangelium ›der spekulativen Auslegung [der Gnostiker] besonders entgegenkam‹, auch wenn es dabei ›selbst in seiner Intention verkehrt wurde‹633. Lediglich ›äußerlicher‹ oder ›formaler‹ Art sind jene Anknüpfungsmöglichkeiten, die die gnostischen Ausleger in dieser Schrift fanden, jedenfalls nicht gewesen634. Was vielmehr konkret die Möglichkeit einer spezifisch gnostischen Interpretation des JohEv.s begründete, ist der sog. johanneische Dualismus gewesen, d.h. jenes eigentümlich ›dualistische‹ Wirklichkeitsverständnis, das sich, gleichsam programmatisch, bereits im Prolog des JohEv.s äußert: ›Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht überwältigt‹, ein ›johanneischer Dualismus‹ also, der sich sodann im gesamten Evangelium in den Gegensatzpaaren von ›Licht und Finsternis‹, ›Leben und Tod‹, ›Wahrheit und Lüge‹, darüber hinaus nicht zuletzt auch in der Gegenüberstellung von ›Oben‹ und ›Unten‹ fortsetzt. Mag dieser ›johanneische Dualismus‹ auch als solcher ›aus der nachösterlichen Anamnese des Christusgeschehens‹ zu verstehen sein und, von daher gesehen, »die Entscheidung des Menschen gegenüber dem fleischgewordenen Logos in den Kategorien der Ablehnung und Annahme« bedenken635, so hat er doch nicht zuletzt auch seine Konsequenzen für die johanneische Anthropologie: Die Glaubenden sind hier, was ihre ›Herkunft‹ betrifft, ›aus Gott‹ (Joh 1,3; 8,47), ›aus der Wahrheit‹ (Joh 8,37); sie sind ›Kinder des Lichts‹ (Joh 12,36), während demgegenüber die Nichtglaubenden ihren Ursprung in der ›Welt‹ haben, also ›aus dieser Welt sind‹ (Joh 8,23) oder gar ›den Teufel zum Vater‹ haben (Joh 8,44). Gewiß äußert sich im JohEv auf diese Weise noch kein ›protologischer Dualismus‹ in dem Sinne, dass dieser Dualismus gleichsam ›von Anfang an‹ das Wesen der Welt ausmacht: Erst nach der Schöpfung tritt, wie Joh 1,5 bezeugt, die dualistische Antithese von ›Licht‹ und ›Finsternis‹ in Erscheinung636; gleichwohl ist bei alledem auch deutlich (und wohl auch nachvollziehbar!), dass ein seinerseits durch die frühchristliche Gnosis geprägter Rezipient aus seiner Sichtweise in alledem eine unmittelbare Anknüpfungsmöglichkeit für das ihm eigene dualistische Wirklichkeitsverständnis zu sehen vermochte. Hier, in diesem genuin johanneischen 633 M. Hengel, Die johanneische Frage, S. 41. Deutlicher noch ebd., S. 46 f.: »Durch seinen Dualismus und die ihm eigene Spiritualität, seine bewußte Hintergründigkeit, die zur symbolischen Deutung einlud, und durch das permanente Mißverständnis der Welt – inklusive der Jünger – konnte es natürlich(!) auch Gnostiker zu der ihnen gemäßen Umdeutung einladen«. In diesem Sinne spricht auch T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 407, von der »Brauchbarkeit« des Joh-Evangeliums und seiner Sprache für seine gnostischen Rezipienten«. Hier gab es offensichtlich in der Tat so etwas wie eine »Sinnpotentialität« des Joh-Evangeliums in Richtung auf seine Rezeption durch die Gnostiker . Zum Stichwort »Sinnpotentialität« in diesem Zusammenhang vgl. J. Zumstein, Kreative Erinnerung, S. 9. Dies bedeutet nicht, dass von einer »auslösenden Wirkung« des JohEv.s »für die gnostischen Systeme« zu reden ist! Vgl. die entsprechende Kontroverse zwischen M. Hengel, Der Sohn Gottes, S. 55, und W. Schmithals, Gnosis und Neues Testament, S. 20 ff. 634 So bereits G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die Hl. Schrift, S. 187. 635 So U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, S. 516. 636 U. Schnelle, ebd., S. 516.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Wirklichkeitsverständnis angesichts der Offenbarung Gottes in Gestalt und Geschichte Jesu, war jedenfalls die Möglichkeit, die Potenz einer sekundären ›Gnostisierung‹ bestimmter genuin johanneischer Begriffe und Vorstellungen gegeben, die als solche zunächst gewiß »nicht identisch [sind] mit ›Gnosis‹ im Johannesevangelium«637. Gleichwohl ist die ›Brauchbarkeit‹ solcher Redeweise für eine Rezeption unter einem gnostischen ›Vorzeichen‹ durchaus gegeben. Dementsprechend lässt sich dann in der Tat »gut verstehen, warum sich später Gnostiker am Joh[-Evangelium] delektieren konnten, wenn sie mit ihrem Vorverständnis das Joh[-Evangelium] lasen«638. Solche gnostische Lesart des JohEv.s erwächst also, grundsätzlich gesehen, ihrerseits erst aus den religiösen, theologischen und – damit auch – hermeneutischen Voraussetzungen, unter denen das JohEv in der frühchristlichen Gnosis rezipiert worden ist. Zugleich aber ist es auch keine Frage, dass eben dieses JohEv mit der ihm eigenen Sprache, genauer noch: mit dem ihm eigenen Welt- und Wirlichkeitsverständnis, einer spezifisch ›gnostischen‹ Rezeption und Interpretation gleichsam entgegenkam. So gesehen ist die religionsgeschichtliche Frage im Blick speziell auf das JohEv gewiß nicht nur eine ›historische Randfrage‹ – vielmehr: »Wer nach der religionsgeschichtlichen Dimension des johanneischen Christentums oder des Joh[-Evangeliums] fragt, behandelt einen Aspekt des Wesens joh[anneischer] Theologie«639. Ganz im Zeichen der sich bereits in der frühchristlichen Rezeptionsgeschichte des JohEv.s widerspiegelnden Ambivalenz der ›Nähe‹ bzw. der ›Affinität‹ dieses Evangeliums zur frühchristlichen Gnosis steht auch, worauf abschließend noch, gleichsam als ›Probe aufs Exempel‹ einzugehen ist, die in der Reihe der ›Hermeneutischen Untersuchungen zur Theologie‹ erschienene Monographie von J.S. Trumbower zur Anthropologie des JohEv.s unter dem Titel »Born from Above« vom Jahr 1992640. Dies geschieht hier einmal mit dem Anspruch, »to read the Gospel of John on its own terms, without a prior assumption of Paulin Anthropology«641, zum anderen aber auch mit der erneuten Aufnahme der entsprechenden altkirchlichen Kontroverse zwischen Herakleon und Origenes, einer Kontroverse, die von J.S. Trumbower (analog der Differenz zwischen A. Hilgenfeld und R. Bultmann!) am Ende zugunsten von Herakleon entschieden wird: »Heracleon’s exegesis on this

637

U. Schnelle, ebd., S. 514. So J. Becker, Johanneisches Christentum, S. 106 f.: Zitat S. 107, hier mit der Feststellung, dass dieses »dualistische Wirklichkeitsverständnis« des Joh-Evangeliums als solches »noch nicht gnostisch« ist: »Natürlich will das Joh nicht aktiv die Gnosis vorbereiten. Aber im Nachhinein der gnostischen Systeme, wie sie in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts aufkommen, wird man sagen dürfen, dass der joh Dualismus einen ungewollten Schritt in Richtung auf die Gnosis ging«. 639 J. Becker, Das Johannesevangelium im Streit der Methoden, S. 56. 640 J.A. Trumbower, Born from Above. 641 Ebd., S. 141. 638

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

issue more accurately conveyed the spirit of the original Gospel author«642. Konkret heißt dies i.S. des Autors dieser Studie: Ein anthropologischer Determinismus i.S. einer Lehre von den ›fixed origins‹ bzw. ›fixed natures of human being‹ liegt nicht erst, gleichsam sekundär, bei dem Gnostiker Herakleon vor, sondern bereits im JohEv: »The thesis may be stated as follows: when the principal gospel author is trying to understand and explain the phenomena of belief and unbelief, he does so in terms of what shall be called ›fixed origins of human being‹: ›origins‹, because so much of the gospel’s language has to do with human origins from above or from God or from Jesus’ sheep; ›fixed‹, because when the author uses such language, he is referring to categories which were already fixed before the coming of Jesus, and which cannot change«. Und diese These nun mit der Schlußfolgerung auf den ›proto-gnostischen‹ Charakter des JohEv.s: »The term ›protognostic‹ as a description of the gospel’s anthropology is apt, because the language used in John is characterized by a strong sense of the presalvation affinity between the believer and the divine realm«, was zugleich heißt: »This conception of human condition receives continuation and fuller expression from the Valentinian gnostics of the second century«643. So gesehen kann sich Herakleons Lehre von den ›Menschenklassen‹ zu Recht auf das ›protognostische‹ JohEv selbst berufen, und zwar einschließlich der Konsequenz jenes Determinismus i.S. eines »saved by nature«644. Was am Ende jene unterschiedlichen Lesarten des JohEv.s durch Herakleon einerseits und durch Origenes andererseits betrifft, so beschließt J.A. Trumbower seinen Aufsatz zu ›Origen’s Exegesis of John 8:19–53‹ mit der entsprechenden Feststellung: »… and each [Herakleon wie auch Origenes] attempted to read that text in the light of his own theological presuppositions«, hier dann auch mit der Aufforderung an die Adresse der gegenwärtigen Forschung: »The challenge remains for us to continue their inquiry while trying to bracket as best we can our own modern theological concerns«645. Liegt es also, so möchte man fragen, am Ende nur an der jeweiligen hermeneutischen Voraussetzung einer Rezeption des JohEv.s, die 642 Zur Kontroverse Herakleon – Origenes vgl. bereits das 1. Kapitel unter der Überschrift: »Heracleon and Origen, Hilgenfeld and Bultmann« (S. 3 ff.), sowie den Aufsatz desselben Verfassers: Origen’s Exegesis of John 8: 19–53: The Struggle with Heracleon over the Idea of Fixed Natures, S. 138–154. 643 J.A. Trumbower, Born from Above, S. 4. Vgl. auch ebd., S. 30: »We may see the work of the Fourth Gospel as an important step toward the later fixedness of the Valentinian speculation«. Zum Terminus ›proto-gnostic‹ (im Blick speziel auf die johanneische Anthropologie) vgl. ebd., S. 143. Vgl. auch M. F. Wiles, The Spiritual Gospel, S. 98 ff., hier zu den »four important respects« für die Gnostiker, das Joh-Ev nach der ihnen eigenen Lesart zu verstehen, nämlich zum johanneischen Determinismus (S. 107 ff.), zum joh. Dualismus (S. 101 ff.), zum johanneischen ›Doketismus‹ (S. 105 ff.) sowie ›zum protologischen‹ Charakter des johanneischen Prologs (S. 98 ff.). 644 J.A. Trumbower, Born from Above, S. 23 ff. 645 J.A. Trumbower, Origen’s Exegesis of John 8: 19–53, S. 151.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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›rechte‹ bzw. sachgemäße Lesart zu finden? – oder gibt es darüber hinaus auch im JohEv selbst Hinweise auf die allein angemessene Lesart dieses Evangeliums? – man vergleiche dazu die Kritik, wie sie (K. Haldimann und) H. Weder zu der soeben referierten Position von J.A. Trumbower formuliert haben: »T.s Auslegung ist u.E. eine Realisierung seiner petitio principii: Das Joh[-Evangelium] erscheint insofern als protognostisch, als es mit gnostischen Kategorien gelesen wird«646. Was also ist es nun um jene ›own theological presuppositions‹ des JohEv.s für eine ›gnostische‹ oder auch ›nicht-gnostische‹ Lesart, für eine Lesart also, die bei aller zugestandenen ›Affinität‹ des JohEv.s zur frühchristlichen Gnosis am Ende doch eher zugunsten der Überwindung jener Alternative ›protognostisch‹ – ›nicht-gnostisch‹ im Blick auf das JohEv spräche? Zunächst besteht kein Zweifel daran, dass das JohEv nicht eine Sprache spricht, die man als solche auf die Rezeption einer ursprünglich gnostischen Sprache zurückführen könnte: Ein in einem bestimmten Sinne ›dualistische Sprache‹ ist in der späthellenistischen Zeit noch keineswegs ›per se‹ spezifisch gnostische Sprache. Gleichwohl ist eine gewisse Nähe der johanneischen Sprache (mit ihren scharfen Entgegensetzungen von ›Licht‹ und ›Finsternis‹ usw.) zur Sprache der frühchristlichen Gnosis offensichtlich, so dass es keineswegs verwunderlich ist, dass die frühchristliche Gnosis vorzüglich diese Evangelienschrift für sich selbst in Anspruch nahm. Was speziell die Anthropologie betrifft, so gilt dies auch bezogen auf die für das JohEv charakteristischen ›Herkunfts‹-Bezeichnungen ›von oben / von unten her‹, wie sie z.B. im JohEv im 3. Kapitel (3,31) und im 8. Kapitel (8,23) gebraucht werden. Es ist ja eben genau dieses ›von oben her‹ im anthropologischen Sinn, wie es dann im sog. Evangelium Veritatis (NHC I/3) gebraucht wird, wenn es hier, p. 22,2 f., vom Gnostiker heißt: »Daher ist einer, wenn er erkennt, einer von oben her«647. Dem entspricht im Referat der altkirchlichen Häresiologen z.B. das von Epiphanius (Haer. 26.13.2) mitgeteilte Zitat aus einem (mit der gleichnamigen Schrift von Nag Hammadi nicht identischen) Philippusevangelium, offensichtlich eine Art ›Schutzformel‹, die die auf ihrer ›Himmelsreise‹ befindliche ›Seele‹ gegenüber den ihr feindlichen ›oberen Mächten‹ gebraucht: »Ich habe mich selbst erkannt … und ich habe mich selbst [aus einem Zustand der Zersplitterung in der Welt] gesammelt … und meine zerstreuten Glieder versammelt, und ich weiß, wer du bist – denn ich, die Seele, bin von oben her«. Auch die von Irenäus, Adv. Haer. I 21,5, überlieferte Schutzformel der Markosier: »Ich [die Seele] gehe wieder in das, was mein ist, zurück, woher ich gekommen bin (et eo rursus in mea unde veni)«, in der bei Epiphanius, Haer. 36,2 f., überlieferten griechischen Originalfassung, 646

So in: ThR 67 (2002), S. 344. Zur Stelle vgl. J.A. Trumbower, Born from Above, S. 19 ff. sowie S. 141 ff., hier mit Hinweis auf das »Evangelium Veritatis«, p. 21,11 f. 14 f. und p. 22,13–18: »Wer auf diese Weise Erkenntnis hat, der weiß, woher er gekommen ist und wohin er gehen wird …«. 647

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

, entspricht diesem Grundschema, das schließlich auch für die Begegnung der ›Seele‹ mit den ›Gefährten des Demiurgen‹ bei ihrer Rückkehr in ihren Ursprung gilt: Vas ego sum pretiosum, magis quam femina quae fecit vos. Si mater vestra ignorat suam radicem – ego autem novi meipsum et scio unde sum. Nicht zuletzt auch die Schriften von Nag Hammadi bestätigen auf ihre Weise diesen Sachverhalt, so wenn es in der (1.) ›Apokalypse des Jakobus‹ (NHC V/3, p. 32,28 ff.) im Blick auf die ›Himmelsreise der Seele‹ durch die Sphären der (hier als ›Zöllner‹ bezeichneten) kosmischen Mächte von der ›Seele‹ als Antwort auf die Frage jener ›Zöllner‹ bzw. Wächter heißt: »Ich bin ein Sohn, ich stamme vom Vater«, oder genauer noch: »Ich stamme vom präexistenten Vater, ein Sohn bin ich, der vom Präexistenten ist« (p. 33,15 ff.). Wer also als ›Gnostiker‹ um sein ›Woher‹ weiß, der weiß am Ende auch um sein ›Wohin‹. Wenn jene ›Zöllner‹ also schließlich fragen: ›Wohin wirst du gehen?‹ (p. 34,16 f.), so lautet die Antwort: ›Zu dem Ort, von dem ich gekommen bin – dorthin werde ich zurückkehren‹ (p. 34,17 f.). Der Unterschied im Gebrauch der Herkunftsbezeichnung – ›von oben her‹ in den genannten gnostischen Zeugnissen einerseits und im JohEv andererseits ist offenkundig: Während es in jenen stets um die ›Selbst‹-Erkenntnis der ›Seele‹ bzw. des gnostischen ›Selbst‹ im Blick auf ihre / seine jenseitig-himmlische Herkunft geht, so steht im JohEv jenes ›von oben her‹ im Zeichen eines dem Menschen zuallererst von Gott her widerfahrenden Geschehens: Seine Herkunft ›von oben her‹ verdankt der Menschen also nicht sich selbst (oder gar seinem eigenen ›Selbst‹), sondern seiner (Neu-)›Geburt von oben her‹: (Joh 3,3) – mit der entsprechenden Schlußfolgerung: »es ist [also] notwendig, dass ihr ›von oben her‹ geboren werdet« (Joh 3,7). Dieser grundsätzliche Unterschied schließt es jedoch nicht aus, dass es eben jenes ›von oben her‹ des JohEv.s ist, das, unter den Voraussetzungen einer gnostischen Anthropologie gelesen, nunmehr auch die Potenz in sich barg, in einem spezifisch gnostischen Sinn verstanden zu werden, dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass alle einer solchen Deutung entgegenstehenden Signale im JohEv selbst nicht zur Kenntnis genommen werden. So wird im JohEv bereits Joh 1,9 ff. ein bestimmter Akzent gesetzt: Selbstverantworteter Glaube des Menschen einerseits und ›Geburt aus Gott‹ andererseits sind keineswegs ein Widerspruch sondern jenes ›wahrhafte Licht‹, das ›jeden(!) Menschen in der Welt erleuchtet‹ schließt einen eigenverantwortetn Glauben nicht aus, i.S. nämlich jenes Geschehens, das, was jedenfalls das Selbstverständnis jenes Glaubens betrifft, sich nicht einer bestimmten, dem Menschen eigenen Qualität verdankt, vielmehr sind nach Joh 1,12, diejenigen, »die ihn angenommen haben«, als solche zugleich diejenigen, »denen die Exousia gegeben ist, Gottes Kinder zu werden«. Diejenigen, die »an seinen Namen glauben«, sind in diesem Sinne zugleich, diejenigen, von denen es Joh 1,13 heißt, dass sie ihren Ursprung in Gottes

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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eigenem Handeln haben. Nicht um ein ›naturhaftes‹ Geschehen geht es hier, sondern um eigenverantworteten Glauben des Menschen, der doch immer zugleich darum weiß, dass er, dieser Glaube, sich am Ende gar nicht seiner eigenen ›Entscheidung‹ verdankt, sondern eben jener ›Geburt aus Gott‹. Solche johanneische ›Dialektik‹ kann, geht der Rezipient des JohEv.s seinerseits von einer deterministischen Voraussetzung i.S. von gleichsam ›fixed natures‹ aus, so gar nicht mehr wahrgenommen werden. Unter der Voraussetzung von Joh 1,12 f. gilt jene Dialektik gewiß auch für das 3. Kapitel des JohEv.s, wenn im Gespräch des johanneischen Jesus mit Nikodemus die Notwendigkeit einer ›Geburt von oben her‹ – unter der Voraussetzung des Joh 3,6 formulierten ›Gesetzes‹: »Was aus Fleisch geboren ist, das ist Fleisch …« nahezu ›deterministisch‹ betont erscheint648, zugleich jedoch die Kategorie eines eigenverantworteten Glaubens zu ihrem Recht kommt: Joh 3,14 ff. – und mit ihr die Verantwortung des Menschen angesichts jener ›Krisis‹, die mit dem ›Erscheinen des Lichtes‹ in die Welt gekommen ist: ›und sie, die Menschen, liebten die Finsternis mehr als das Licht‹ – denn: »ihre Werke waren böse …«. Durchaus anders stellt sich der Sachverhalt dann freilich im 8. Kapitel des JohEv.s dar, wenn hier im Rahmen einer Reflexion angesichts des ›Unglaubens‹ des Judentums gegenüber der Sendung Jesu ›die Juden‹, wie es hier verallgemeinernd heißt, nunmehr schlicht als ›Teufelskinder‹ gelten, die als solche das Wort Jesu gar nicht mehr hören können (Joh 8,43 f.). Gilt hier nicht in der Tat jenes Prinzip der ›fixed natures‹ bzw. der ›fixed origins‹? – denn hier heißt es ja tatsächlich: »Wer aus Gott ist, der hört die Reden Gottes«, was dann zugleich bedeutet: »Deswegen [also] hört ihr nicht, weil ihr nicht ›aus Gott‹ seid (Joh 8,47). Dass der Valentinianer Herakleon eben von hier aus die Lehre von den ›drei Menschenklassen‹ begründen konnte, kann jedenfalls nicht mehr als abwegig erscheinen: Ein Sinnpotential in dieser Richtung ist in solcher Formulierung durchaus eingeschlossen – auch dann, wenn solche Schlußfolgerung der eigenen Intention des Evangelisten letztlich zuwiderläuft649. In diesem 8. Kapitel des JohEv.s ist jedenfalls im Blick auf ›die Juden‹ kein Raum mehr für eine »freie Entscheidung des Glaubens oder der Verweigerung des Glaubens«– und damit auch kein Raum mehr dafür, dass sich für einen Menschen, der ›nicht anders handeln [kann], als er ist‹, ›im Ruf des Offenbarers … die Möglichkeit [eröffnet wird], anders zu sein‹, was ja zugleich heißt: »Er kann sein Woher, seinen Ursprung, sein Wesen vertauschen, er kann ›wiedergeboren werden‹ (3,1 ff.) und so zu seinem ei-

648

In diesem Sinn wiederum J.A. Trumbower, ebd., S. 71 ff. Zu Joh 8,43–47 vgl.J.A. Trumbower, ebd., S. 89 ff., hier unter der Überschrift: »John 5–12: Schism Based on Fixed Origins« (S. 80 ff.), hier bes. S. 93: »As 8:47 makes clear, origin determines response. It is fixed and no hint is given anywhere that one’s origin could change«. 649

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

gentlichen Sein gelangen. [Denn:] In der Entscheidung des Glaubens oder des Unglaubens konstituiert sich definitiv das Sein des Menschen …«650. Mit Recht hat man in diesem Zusammenhang in der neueren Forschung auf einen inneren Widerspruch im JohEv hingewiesen, darauf nämlich, dass – sieht man von der besonderen Gestalt eines ›johanneischen Dualismus‹ in diesem 8. Kapitel ab – die Intention dieses Evangeliums nach Ausweis von Joh 20,31 doch gerade dahingeht, in einem umfassenden – um nicht gleich zu sagen: universalen – Sinn, zum ›Glauben‹ zu rufen651. Und so gesehen mag man dann auch fragen, ob dieser im 8. Kapitel des JohEv.s zum Ausdruck kommende ›Determinismus‹ im Blick auf ›die Juden‹ durch Joh 20,31 wiederum relativiert wird. Gleichwohl schließt dieser Hinweis auf die Makrostruktur des JohEv.s nicht aus, dass in der Rezeptionsgeschichte gerade dieses 8. Kapitel mit seiner Anthropologie der ›fixed origins‹ – mag man nun solche Anthropologie ›proto-gnostisch‹ nennen oder auch nicht652 – sich für spätere Gnostiker jedenfalls als offensichtlich leicht ›rezeptabel‹ erwies653, in dem Sinn nämlich, dass die hier zur Sprache kommende Anthropologie als solche in den Kontext einer genuin gnostischen Anthropologie integriert werden konnte: ›Die Juden‹ von Joh 8 repräsentieren dann für den Valentinianer Herakleon im Unterschied zu den ›Psychikern‹ die ganz und gar dieser irdischen Welt verfallenen ›Choiker‹. Solche gnostische Interpretation der johanneischen Anthropologie i.S. einer Lehre von den ›fixed origins‹ schließt indes nicht aus, sondern eher ein, dass Herakleon mit seiner Lehre von den ›Naturen‹ zunächst einer genuin johanneischen Fragestellung folgt, der Frage nämlich »nach dem Woher von Glauben und Unglauben in der Welt angesichts der Offenbarung«654. Ebenso wie bereits der Evangelist den Versuch unternommen hat, »die Frage nach dem Grund von Glauben 650 So R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, § 43: »Der johanneische Determinismus« (S. 373–378), Zitate: S. 377 f. Zur Kategorie der »Entscheidung« ebd., S. 374: Jesu Worte als »Einladung und Ruf zur Entscheidung«. Zur Sache vgl. auch U. Schnelle in seiner Rezension zu J.A. Trumbower in: ThLZ 121 (1996), Sp. 547: »Auch die Reden Jesu … sind von ihrer Argumentation her auf Zustimmung aus. Sie konstatieren nicht, sondern wollen eine Veränderung herbeiführen«, was zugleich heißt: »der menschlichen Entscheidung kommt eine grundlegende Bedeutung zu«. 651 So U. Schnelle, a.a.O., Sp. 457. Vgl. J. Becker, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1–10, S. 360: »Sein [des Evangelisten] Urteil [in Joh 8,42 ff.] steht im Widerspruch zu seiner sonstigen theologischen Absicht«. 652 J. Becker, a.a.O., S. 359 f., verortet den »prädestinatianischen Determinismus« von Joh 8,42 ff. mit seiner »ethischen« – nicht »physischen«! – Ausrichtung des Dualismus in einem »qumrannahen Dualismus«, während U. Schnelle in seinem Forschungsbericht zur »Neutestamentlichen Anthropologie«, S. 2705, darauf aufmerksam macht, dass »Johannes« mit dem »für das joh Denken konstitutiven Dualismus« nicht einen »protologischen Dualismus« [mit der Konsequenz eines anthropologischen Determinismus] vertritt: »der Übergang von dem Verhaftetsein an die Welt in den Bereich Gottes [vollzieht sich] durch den Glauben und somit geschichtlich«. 653 So U. Schnelle, in: ThLZ 121 (1996), Sp. 457, hier freilich mit dem Zusatz: »Von der joh Anthropologie hin zur gnostischen Menschenklassen-Lehre ist ein weiter Weg«. 654 So T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 328 f.

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und Unglauben durch Hinweise auf die Vorherbestimmung des Menschen zu beantworten«655, so folgt auch Herakleon, wie T. Nagel zurecht festgestellt hat, dieser Struktur – mit dem Unterschied freilich, dass er jene Frage konsequent zu beantworten vermag, »indem er«, so T. Nagel, »mit Hilfe der Naturenvorstellung den jeweiligen Grund der Bestimmung des Menschen angibt«, auf diese Weise dann allerdings auch »den Rahmen der anthropologischen Reflexion im JohEv« sprengt: Denn im JohEv ist ja von einer ›naturbedingten‹ Anlage des Menschen nicht die Rede. Hier wird vielmehr neben der »Determinationsvorstellung … auch die prinzipielle Entscheidungsfreiheit des Menschen mitgedacht«656. So gesehen kommt bei Herakleon lediglich die eine Seite der johanneischen Anthropologie zum Zuge, während die andere Seite, die für den johanneischen Dualismus charakteristische Kategorie der eigenverantwortlichen ›Entscheidung‹ des Glaubens, in der Johannes-Rezeption des Herakleon allenfalls noch für die ›Psychiker‹ in Betracht kommt. Was bei Herakleon vorliegt, ist also das Ergebnis einer Reflexion der johanneischen Anthropologie unter dem Vorzeichen eines hermeneutischen Ansatzes, der dem JohEv selbst nicht eigen ist657. Hier zeigt sich einmal mehr, dass das JohEv selbst sich keineswegs dadurch bereits als ein ›gnostisches‹ Evangelium erweist, dass es für die frühchristliche Gnosis gewisse Möglichkeiten der ›Anknüpfung‹ für die dieser Gnosis eigenen ›konsequent-gnostischen‹ Auffassungen darbot. Erst infolge der Einbeziehung in ein genuin gnostisches Rahmenkonzept gerät so das JohEv – entgegen seiner ihm ursprünglich eigenen Intention – am Ende zu einem Evangelium Gnosticorum658. Dementsprechend ist die Frage nach einer gnostischen Prägung der ursprünglich johanneischen Tradition die Schlüsselfrage der Interpretation dieses Evangeliums, eine Frage, die in methodischer Hinsicht weniger vermittels einer unmittelbaren Rückfrage nach Ursprung und Entstehungsbedingungen der johanneischen Tradition zu beantworten ist, als vielmehr unter dem Aspekt ihrer Wirkungs- und Rezepeptionsgeschichte. Nicht also der Rückgang auf Ursprung und Entwicklung des ›Johannismus‹ ist hier 655 Ebd., S. 328, hier Anm. 1036 mit Hinweis auf U. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie, S. 148–151, hier (S. 149) mit Hinweis darauf, dass »diese Sätze [wie Joh 6,44 a. 65; 3,27; 8,47 usw.] in Richtung Prädestination und Determinismus [weisen]«. 656 So T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums, S. 329. 657 Wenn U. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie, S. 149, Anm. 27, in der Abgrenzung gegen R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, S. 377 f., formuliert: »Nicht die Entscheidung des Glaubens, sondern Gottes Handeln bestimmt nach zahlreichen johanneischen Texten das Woher des Menschen«, so nähert er sich damit wiederum der Position eines Determinismus an. Vgl. jedoch ebd., S. 150, andererseits: Gottes Handeln »hebt die Entscheidungsfreiheit des Menschen nicht auf«; es ist vielmehr »eine Freiheit zur Entscheidung unter der Zusage Gottes«. In diesem Zusammenhang hat dann auch das Stichwort ›Entscheidungsdualismus‹ seinen Ort (S. 153). 658 Vgl. auch hier wiederum M. Hengel, Die johanneische Frage, S. 41 f.: »Das 4. Evangelium kam ihrer ›spekulativen‹ Auslegung besonders entgegen, auch wenn es dabei in seiner Intention verkehrt wurde«.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

grundlegend, sondern die von F. Vouga so genannte »perspective inverse, qui est celle de l’histoire de la réception«659. Und eben diese ›Rezeptionsgeschichte‹ des JohEv.s im 2. Jh. ist das eigentliche Problem. Hier gibt es einen Interpretationskonflikt, der als solcher bereits die Frage aufwirft, ob jene ›gnostische Aktualität‹, zu der dieses Evangelium im 2. Jh. gelangt ist, ihren Grund in der entsprechenden ›Potentialität‹ dieses Evangeliums selbst hat? – oder ob diesen Evangelium nicht vielmehr – gleichsam von vornherein – in einem grundlegenden Gegensatz zu jener Rezeption seitens der frühchristlichen Gnosis stand? Anders formuliert: Ist »die kontroverse Auslegung des Joh ein Merkmal [nur] seiner Rezeption im 2. Jh. oder ein festes Kennzeichen der joh Tradition? Provokativ formuliert: Ist das Joh selbst ambivalent?«660, sofern es nämlich als solches bereits gewisse Anknüpfungsmöglichkeiten für eine spezifisch gnostische Rezeption bot? – mit solcher Fragestellung ist nun freilich auch schon der Punkt erreicht, an dem nunmehr auch der 1. Johannesbrief in die Argumentation einzubeziehen ist, jener Brief also, der in seiner ganzen Argumentationsweise einen eher ›konservativen‹ Eindruck erweckt, ›konservativ‹ jedenfalls in dem Sinne, dass seine ursprünglichen Adressaten »in ihrer bereits vertrauten Identität bestärkt« werden sollen, indem sie in einer gegenüber dem JohEv veränderten Situation auf das verpflichtet werden sollen, was sie »von Anfang an gehört haben« (1 Joh 1,1), und was es nun, in einer Konfliktsituaion, zu bewahren gilt661. Angesichts also eines zur Zeit der Abfassung des 1 Joh aufgebrochenen Interpretationskonfliktes um das JohEv wäre es die Absicht dieses Briefes, in solcher Situation seinen Lesern zur rechten Lesart des JohEv.s zu verhelfen. Konkret ginge es dabei darum, das im JohEv vorliegende ›gnosisnahe‹ Sinnpotential gleichsam zu entschärfen bzw. eine gewisse Ambivalenz des JohEv.s in dieser Hinsicht zu neutralisieren662. Ob man, so gesehen, den 1. Johannesbrief mit R. E. Brown als einen ›orthodoxen Kommentar‹ zum JohEv bezeichnen soll663, sei hier dahingestellt; keineswegs abwegig ist es jedoch, den 1. (und den 2.) JohBrief in Analogie zu den unter dem Namen des Paulus überlieferten ›Pas659 F. Vouga, Jean et la Gnose, S. 110, hier mit dem Zusatz: »L’aspect historique de la question ainsi posée est le suivant: comment les écrits johanniques ont-ils été recus dans la littérature chrétienne postérieure, et aux prix de quelles réinterprétations?«. Seinerseits führt F. Vouga dieses Programm an der Rezeption der joh. Theologie im 1. Joh-Brief aus: a.a.O., S. 111: »d’une point de vue historique, qui, des écrivains patristiques et gnostiques, s’est mépris sur le christianisme élaboré par l’école johannique et défendu par la prémière épitre?«. 660 So J. Zumstein, Zur Geschichte des johanneischen Christentums, S. 4 f. 661 Vgl. J. Zumstein, ebd., S. 6: »zur Debatte steht der ursprüngliche Sinn der joh Glaubenstradition«. 662 In diesem Sinne auch J. Zumstein, ebd., S. 6. Zur ›Relecture‹ des Joh-Evangeliums im 1. Joh-Brief vgl. auch J. Zumstein, Der Prozeß der Relecture in der johanneischen Literatur, S. 18 ff.: Der 1. Joh-Brief als »Lektüreanweisung …, die das richtige Verstehen der überlieferten Tradition ermöglichen soll«. Zur Charakteristik der (gnostischen?) Gegner im 1. und 2. JohBrief vgl. im übrigen bereits W. Schmithals, Neues Testament und Gnosis, S. 106–110. 663 R. E. Brown, The Epistles of John (AncB 30), New York 1982, S. 90–92.

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toralbriefen‹ als einen ›johanneischen Pastoralbrief‹ zu charakterisieren664, der als solcher darauf ausgerichtet ist, die mit dem JohEv – als der ›Grundschrift‹ gleichsam der johanneischen Schule – begonnene ›johanneische Entwicklungslinie‹ vor gewissen Verfälschungen durch eine ›Re-lektüre‹ unter anderen Bedingungen bzw. neuen Fragestellungen, wie u.a. auch seitens der frühchristlichen Gnosis, zu bewahren. Was die Zielstellung des 1. Johannesbriefes in seinem Verhältnis zum JohEv betrifft, so gibt es hier eine gewisse Konvergenz mit dem Verhältnis der sog. Pastoralbriefe zu den übrigen unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefen. Und es sind eben diese Pastoralbriefe aus dem Corpus Paulinum, die darauf hinweisen, dass es in der Rezeptionsgeschichte der Schriften des Neuen Testaments im 2. nachchristlichen Jh. nicht nur das JohEv gewesen ist, das bei den frühchristlichen Gnostikern in hohem Ansehen gestanden hat, sondern dass Entsprechendes vielmehr auch für die unter dem Namen des Apostels Paulus überlieferten Briefe gegolten hat665.

4.3.2.3 Zur Rezeptionsgeschichte der Briefe des Paulus in der früchristlichen Gnosis Vorbemerkung zum gegenwärtigen Stand der Forschung666 In der Forschungsgeschichte zum Thema hat sich gegenwärtig gegenüber dem älteren, vor allem durch W. Bauer repräsentierten Stand ein bemerkenswerter Wandel vollzogen: Wie »das Johannesevangelium seine Laufbahn als Ketzterevangelium begonnen« hat, »so [hat] auch Paulus in hohem Maße die Gunst der Gnostiker genossen«, so formulierte seinerzeit W. Bauer programmatisch in seinem i.J. 1934 erschienenen Buch »Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältestenChristentum«667. Er hat damit für die Geschichte des frühen Christentums eine Perspektive eröffnet, die bereits vor ihm in der Paulusforschung ein gewisse Rolle gespielt hat: Bereits Th. Zahn ist in seiner »Geschichte des neutestamentlichen Kanons« vom Jahr 664 So H. Conzelmann, »Was von Anfang war«, S. 201: »Die nächste Analogie bildet die Übertragung des paulinischen, eschatologischen Aspekts in der Denkweise kirchlicher Tradition durch die Pastoralbriefe; trotz aller Unterschiede ließe sich angesichts dieser Entsprechung der 1 Johannesbrief als ein ›johanneischer Pastoralbrief‹ bezeichnen«. 665 Zur Frage der Funktion der unter dem Namen des Paulus überlieferten ›Patoralbriefe‹ ist jetzt besonders auf die differenzierende Darstellung der anstehenden Probleme durch L. Oberlinner hinzuweisen: Die Pastoralbriefe. Erste Folge: Komm. zum ersten Timotheusbrief, Freiburg / Basel / Wien 1994, S. XLII –L. 666 Dazu vgl.: E. Aleith, Paulusverständnis in der Alten Kirche; W. Schneemelcher, Paulus in der griech. Kirche des zweite Jahrhunderts, S. 1–20; E. H. Pagels, The Gnostic Paul; E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch. Paulus in der frühchristlichen Literatur bis Irenäus; ders., Paulus in der Gnosis, in: JAC 22 (1979), S. 123–138; A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum; W. S. Babcock (ed.), Paul and the Legacies of Paul; R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpret. 667 A.a.O., S. 227.

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1888 zu dem Urteil gelangt: »Ohne die Briefe des Paulus ist Valentins Lehre ebenso undenkbar wie ohne den Prolog des 4. Ev; und Paulus ist nicht zufälliger Weise von allen Valentinianern als der am deutlichsten redende Prediger der verborgenen Weisheit bevorzugt worden«668. Und W. Bousset, seinerseits von gänzlich anderen theologischen Voraussetzungen ausgehend, hat festgestellt: »So hat die Gnosis den großen Apostel sich als Lehrmeister erkoren«; man »las, sammelte, kommentierte … seine Briefe und stellte sich auf die Autorität des Apostels«, und weiter: »Es ist wahr, die Gnosis hat den Paulus gewaltsam umbiegen müssen, um ihn ihren Zwecken dienstbar zu machen. Und doch hat sie wieder nicht ganz Unrecht gehabt, wenn sie sich auf ihn berief. Es laufen die Fäden hinüber und herüber«669. – Nun hat in derselben Reihe der »Beiträge zur historischen Theologie«, in der einst das Buch von W. Bauer erschienen ist, A. Lindemann i.J. 1979 in seiner Monographie »Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur« unter der Überschrift: »Die Aufnahme paulinischer Theologie in der christlichen Gnosis des zweiten Jahrhunderts« zu einem gänzlich anderen Urteil als seine Vorgänger gelangt670: »Eine explizite Auseinandersetzung mit paulinischer Theologie und Tradition« sei, so sein Urteil, »bei den Gnostikern äußerst selten zu erkennen; für sie war Paulus … nicht mehr als eine der Quellen, in denen sie das wiederzufinden glaubten, was sie suchten und dabei ja längst gefunden hatten«. Und weiter: »Für ein Interesse der Gnostiker speziell an paulinischen Texten gibt es im Grunde kein Indiz«; und schließlich: »Die Gnostiker sahen offenbar überhaupt keine spezifische Affinität zwischen ihrem eigenen Denken und der Theologie des Paulus«. In diesem Sinne ist, so wiederum A. Lindemann, eher sogar von einer »Zurückhaltung der Gnostiker Paulus gegenüber« zu sprechen, die ihrerseits darin begründet ist, »dass sich die paulinische Theologie in ihrem eigentlichen Kern(!) einer gnostischen Interpretation entzog«671. Das ist nun in der Tat ein ernüchterndes Ergebnis – zu fragen bleibt gleichwohl, ob sich ein solches Urteil angesichts der in dieser Hinsicht sowohl bei den frühchristlichen Häresiologen als auch in den gnostischen Originalschriften von Nag Hammadi zur Verfügung stehenden Quellen in dieser Schärfe überhaupt halten lässt! Kritische Fragen in dieser Hinsicht erweckt immerhin bereits A. Lindemanns eigene Feststellung: »Schon aufgrund ihrer Nähe zum Judentum wird die Gnosis sehr bald eine Affinität zum Urchristentum entwickelt haben; Kol und vor allem Eph sind 668

Th. Zahn, Geschichte des neutestamentlichen Kanons I, Erlangen 1888, S. 758. W. Bousset, Kyrios Christos, S. 192. 670 A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, 297–343. Ebd., S. 97–101: »Die Erwähnung des Paulus in der christlichen Gnosis des zweiten Jahrhunderts«, sowie E. Dassmann, Der Stachel im Fleich, S. 174 ff. 671 A. Lindemann, a.a.O., S. 311 und S. 342. 669

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Zeugnisse der ersten Begegnung«672. ›Begegnung‹ aber ist immer eine Kategorie ›auf Gegenseitigkeit‹, und d.h.: Sollte also nicht auch die frühchristliche Gnosis ihrerseits, eben weil die »gnostische Hermeneutik … der gnostischen Paulusrezeption in jeder Hinsicht voraus[geht]«673, bei der ihr eigenen Lesart der Paulusbriefe auch eine Affinität des Apostels selbst zu jener ihr, der Gnosis, eigentümlichen Lesart entdeckt haben? – und dies umso eher, als ja auch nach der Meinung von A. Lindemann das Interesse der Gnostiker »in erster Linie darin [bestand], solche christlichen Traditionen in das gnostische Denken zu integrieren, die geeignet waren, den eigenen Ansatz weiter zu verdeutlichen und auszubauen«674. Von hier aus ist es in der Tat kein weiter Schritt mehr, den von den Häretikern für ihre Lehren in Anspruch genommenen Apostel kirchlicherseits den haereticorum apostolus zu nennen.

Der Apostel Paulus: der »Apostel der Häretiker«? Irenäus bereits hat in seinem antignostischen Hauptwerk, Adv. Haer. III 13,1, von Häretikern berichtet, die der Meinung seien, solum Paulum veritatem cognovisse. Begründet wird solche besondere Hervorhebung des Paulus durch eine Bezugnahme auf den Epheserbrief, wo es im 3. Kapitel heißt: cui per revelationem manifestatum est mysterium (Eph 3,3). Darf man daraus die Schlußfolgerung ziehen, dass im 2. Jh. n.Chr. die Rezeption der unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefe vorzüglich die Domäne der frühchristlichen Gnostiker gewesen ist?675. Unter der Voraussetzung, dass tatsächlich »die Geschichte der Paulusexegese im 2. Jahrhundert ganz wesentlich Geschichte der gnostischen Exegese« gewesen ist676, ist dies nicht unwahrscheinlich. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass es bereits im 2. Jh. einen »Streit um die Schrift«, genauer: um das ›rechte‹ Verständnis des überlieferten ›apostolischen‹ Schrifttums gegeben hat kurz: einen ›Interpretationskonflikt‹677, den Tertullian, auf den auch die Bezeichnung des Apostels Paulus als haereticorum apostolus zurückgeht (Adv. Marc. III 5,4), einen congressus scripturarum genannt hat (De praescr.haer. 18,1). Und Tertullian betrachtet diesen 672

A. Lindemann, a.a.O., S. 297. A. Lindemann, a.a.O., S. 311. 674 A. Lindemann, a.a.O., S. 342. Hier gibt es freilich einen Widerspruch: »Die Gnostiker sahen offenbar überhaupt keine spezifische Affinität zwischen ihrem eigenen Denken und der Theologie des Paulus« – andererseits jedoch (auf derselben Seite!): »Das Interesse [der Gnostiker] bestand in erster Linie darin, solche christliche Traditionen in das gnostische Denken zu integrieren, die geeignet waren, den eigenen Ansatz weiter zu verdeutlichen und auszubauen«! 675 So A. LeBoulluec, La notion d’hérésie, S. 240 f.: »Les Valentinniens font des épìtres de Paul la source première de leur théologie, et Irénenée se plaint qu’ils tirent de lui des difficultés contre les chrétiens de l’Eglise …«. 676 So K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 214. Dieses Urteil hat A. LeBoulluec, La notion d’hérésie, S. 240, wörtlich übernommen: »L’histoire de l’exégèse de Saint Paul aux lie siècle est essentriellement l’histoire de l’exégèse gnostique«. 677 Dazu im Einzelnen A. LeBoulluec, La notion d’hérésie, S. 231–245: »Le conflit des interprétations«; Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 212 ff., sowie bereits A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 22–30. 673

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Streit als umso dringlicher, als es eben jene Häretiker sind, die behaupten, dass ›wir‹, die ›Kirchenchristen‹ es seien, die eine »Verfälschung der Schrift begehen und unwahre Dinge hervorbringen« (De praesc.haer. 18,3), während es andererseits, so Irenäus, Adv. Haer. I 8,1, eben die Valentinianer sind, die für sich in Anspruch nehmen, die Lehren der Propheten und der Apostel »besser zu verstehen als alle anderen«. In denselben Zusammenhang gehören offensichtlich auch jene ›Streitgespräche‹ zwischen den Gnostikern und den Repräsentanten der ›rechtgläubigen‹ Kirche, die Tertullian voraussetzt (De praescr.haer. 18), über die aber auch Irenäus berichtet (Adv. Haer. IV 35,4; III 2,1), Streitgespräche, die offensichtlich keineswegs stets zugunsten der Repräsentanten der ›Rechtgläubigen‹ ausgegangen sind, in jedem Fall jedoch deutlich machen, dass nicht die ›Schrift allein‹ und schon gar nicht die Schriftforschung als solche zum Heil führen: Ergo non ad scripturas provocandum est; nec in his constituendum certamen, in quibus aut nulla, aut incerta victoria est, aut parum certa – mit anderen Worten: Es ist nicht die Schriftforschung, die coexercitatio scripturarum, als solche, die zum rechten Verständnis der Schrift führt, sondern die rechte Voraussetzung für die Schriftforschung, nämlich ›der Glaube‹, auch hier wiederum, bei Tertullian, De praescr. haer. 14,3 f., der Glaube i.S. der fides quae creditur, d.h. der fides in regula posita. Die Wahrheit der Schrift erschließt sich allein unter dem Vorzeichen gleichsam des ›rechten‹ Glaubens – also: adversus regulam nihil scire omnia scire est (De praescr.haer. 14,5). Die Schlußfolgerung aus alledem: Jener ›Streit um die Schrift‹, den die frühkatholische Kirche in ihrer Auseinandersetzung mit der frühchristlichen Gnosis zu bestehen hatte, ist – auf beiden Seiten der Kontrahenten – bedingt durch die jeweils unterscheidlichen hermeneutischen Voraussetzungen, unter denen die Schrift, in diesem Falle speziell die Briefe des Apostels Paulus rezipiert werden. Und i.S. des Tertullian heißt dies zugleich: Allein dort, wo die veritas disciplinae et fidei Christianae die Voraussetzung für die Schriftauslegung darstellt, wird sich auch die veritas scripturarum eröffnen (De praescr. haer. 19,3) – und die Kehrseite dieser Position: Wo diese Voraussetzung nicht gegeben ist, kann es sich notwendigerweise nur um Mißbrauch und Verfälschung der Schrift handeln. Und im Übrigen gilt dies selbstverständlich auch für diejenigen gnostischen Häretiker, die aus apologetischen Motiven in Entsprechung zur successio apostolica der frühkatholischen Kirche eine eigene gnostische successio apostolica konstruieren: So nach dem Zeugnis des Clemens Alexandrinus (Strom. VI 61,3) die Basilidianer mit ihrer Lehrtradition Petrus – Glaukos – Basilides sowie die Valentinianer mit der Lehrtradition Paulus – Theudas – Valentinus, die dem besonderen Interesse der Valentinianer am Apostel Paulus entspricht678. Und nicht zuletzt in diesem Zusammenhang: 678 Vgl. auch Clemens Alexandrinus, Strom. VII 106,4, hier für Basilides die Sukzession Petrus – Glaukias – Basilides, sowie für Valentinus die Sukzession Paulus – Theodas – Valentinus. Anders die Sukzession für Basilides bei Hippolyt, Ref. VII 20,1: Jesus – Geheimüberlieferung

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Auf dieser Linie einer besonderen Hochschätzung des Paulus liegt auch das Zeugnis des sog. anatolischen Zweiges der valentinianischen Schule in den Excerpta ex Theodoto: Nicht nur, dass Paulus hier mehrfach als ›der Apostel‹ bezeichnet wird679; im Exc. 23,2 gilt er insbesondere als ›der Apostel der Auferstehung‹, und zwar »nach dem Vorbild des Parakleten«680. Es sind also offensichtlich gerade die Valentinianer gewesen, die in den Briefen des Paulus ein Sinnpotential entdeckten, das ihnen in besonderer Weise geeignet erschien, den eigenen gnostischen Ansatz vermittels ihrer Art von PaulusExegese auszubauen und zu bestätigen. So ist es denn auch durchaus nachvollziehbar, dass Tertullian in seiner Streitschrift gegen Marcion (Adv. Marcionem III 5,4), hier wohl nicht nur im Blick auf Marcion selbst, den Paulus einen haereticorum apostolus nennt. Im Übrigen bedeutet dies wohl keineswegs, dass – wie J. Leipoldt gemeint hat – Tertullian den Apostel auf diese Weise generell herabsetzen will681. Tertullian will auf diese Weise zunächst nur feststellen, dass die Häretiker ihn, den Apostel Paulus, für sich und ihre »Lehrposition« in Anspruch genommen haben, nicht jedoch, dass der Apostel selbst zu dieser seiner Wirkungsgeschichte einen Beitrag geleistet hat. Allenfalls in Adv. Marc. V 1,3 deutet sich bei Tertullian ein Vorbehalt gegenüber Paulus an, wenn er hier hervorhebt: Paulus ipse se inquit apostolus est professus, et quidem non ab hominibus nec per hominem, sed per Iesum Christum … und dieses Zitat (Gal 1,1) mit dem Zusatz versieht: Nemo sibi et professor et testis est. Solche verhaltene Kritik am Selbstzeugnis des Apostels gewinnt freilich besondere Bedeutung, wenn Tertullian in seiner antignostischen Schrift (De praescr. haer. 23) ausdrücklich vermerkt, dass es eben die Häretiker sind, die den Apostel Paulus gegen Petrus et qui cum eo, gegen den Kreis der ›Zwölf Apostel‹ also, ausspielen. Das ganze 23. Kapitel dieser Streitschrift ist dementsprechend darauf ausgerichtet, jene von den Häretikern ausdrücklich hervorgehobene Differenz zwischen Paulus und dem ›Zwölfer-Kreis‹ zu relativieren und so zugleich nachzuweisen, dass Petrus keineswegs von Paulus getadelt worden ist, was ja ein Beweis dafür wäre, dass Paulus eine andere Gestalt des Evangeliums ›hinzugefügt‹ habe, die verschieden war von derjenigen Gestalt des Evangeliums, von der, »die zuvor Petrus und die übrigen des Matthias – Basilides. – Zur Sache einer »apostolischen Sukzession« bei den Gnostikern vgl. H.v. Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht, S. 174: »Alle diese Konstruktionen zeigen die gleiche Methode und haben den gleichen Zweck: Sie rechtfertigen das Ungewohnte und Besondere, das eine Lehre als ›Neuerung‹ verdächtig machen könnte, indem sie sie auf eine bestimmte ›Überlieferung‹ zurückführen, und sichern diese Überlieferung selbst durch die namentliche Nennung von Zeugen und … Zeugenreihen«. 679 Exc. ex Theodoto 14,2; 22,1; 35,1; 48,2 u.ö. 680 Die Bezeichnung des Paulus als Apostel »nach dem Vorbild des Parakleten« Exc. ex Theod. 23,2 f. steht hier analog zur Bezeichnung Jesu als ›Paraklet‹ in Exc.ex Theod. 23,1. Der Apostel gilt hier offensichtlich als eine Art ›Stellvertreter‹ Jesu. Zur Sache vgl. F. Sagnard, in: SC 23, S. 104–111, sowie A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 97 f. 681 J. Leipoldt, Geschichte des neutestamentlichen Kanons, 1. Teil, S. 204. Kritisch dazu A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 393, hier (S. 293 f.) mit der Schlussfolgerung, dass eine solche verallgemeinernde Schlussfolgerung von Adv. Marcionem III 5,4 am Sinn des Textes »völlig vorbeigeht«.

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[Apostel] hatten ausgehen lassen«. So wird hier also durchaus eine ›Arbeitsteilung‹ im Blick auf die Verkündigung des Evangeliums für die ›Beschneidung‹ sowie für die ›Unbeschnittenen‹ zugestanden, in diesem Zusammenhang aber keinesfalls, was das Verhältnis Petrus – Paulus betrifft, eine sachliche Differenz zwischen Paulus einerseits und den ›Zwölf Aposteln‹ andererseits hinsichtlich der Verkündigung des Evangeliums.

Gegenüber der Position der Häretiker, für die – zumindest tendenziell – eine Berufung auf den Paulus solus bestimmend ist, wird vielmehr die Identität der Verkündigungs- und Lehrtradition sowohl der »Zwölf Apostel« als auch des Apostels Paulus geltend gemacht, und zwar unter ausdrücklicher Betonung des entsprechenden Selbstzeugnisses des Paulus: »Sei es nun ich oder seien es jene – so verkündigen wir [gemeinsam]« (1 Kor 15,11)682. So gesehen ist die Grundtendenz der Paulus-Rezeption in der Periode des Übergangs vom ›Ur-Christentum‹ zur ›frühkatholischen‹ Kirche eindeutig und bedeutet angesichts einer ursprünglichen Eigenständigkeit der paulinischen Theologie im frühen Christentum gewiß nicht eine Überfremdung der letzteren, sondern eher deren Bewahrung vor der Gefahr einer Inbesitznahme dieser durch die gnostischen Häretiker des 2. Jh.s; andererseits ist aber auch nicht zu übersehen, dass die Bedeutung des Apostels Paulus und seiner Missionsbotschaft für die frühchristliche Gnosis in der Folgezeit gleichsam neutralisiert wird, und zwar i.S. einer ›Schüler‹-schaft des Paulus in seinem Verhältnis zum Ur-Apostolat der ›Zwölf‹. Nicht nur, dass, ganz i.S. von 1 Kor 15,11, keine grundlegende Differenz zwischen Paulus und den »Zwölf Aposteln« besteht, vielmehr wird die spezifisch paulinische Lehr- und Verkündigungstradition nunmehr gezielt in die Lehr- und Verkündigungstradition und die Sukzession der ›Zwölf Apostel‹ einbezogen und auf diese Weise gleichsam neutralisiert. Die in zeitlicher Hinsicht primäre und damit auch grundlegende Lehrtradition sowie die ihr zugeordnete Sukzession der ›Zwölf Apostel‹ gerät nunmehr zum grundlegenden Datum der »ur«-christlichen Lehr- und Verkündigungsgeschichte. Die Konsequenz aus dieser Position: Der Sonderstatus des Apostolats des Paulus wird jener ›ursprünglich-christlichen‹ Tradition und Sukzession zugeordnet – und sei es am Ende i.S. einer ›Schülerschaft‹ des Apostels Paulus in seinem Verhältnis zu den ›Zwölf Aposteln‹. Zeugnis dieser Entwicklungsgeschichte des paulinischen Apostolats in jenem Interpretationskonflikt mit der frühchristlichen Gnosis ist die PaulusRezeption in den Acta Pauli sowie in der Epistula Apostolorum: Geradezu paradigmatisch dafür ist die ›Selbstdarstellung‹ des Apostels Paulus in dem in den Acta Pauli überlieferten (3.) Korintherbrief: Hier stellt ›Paulus‹ sich selbst in den primär durch die ›Zwölf‹ repräsentierten Traditionszusammenhang: Ego enim ab initio tradidi vobis, quae et accipi et tradita sunt mihi a domino et eis, 682 So bereits Irenäus, Adv. Haer. III 13,1 (mit Zitat von 1 Kor 15,11). Für Tertullian vgl. Adv. Marcionem I 20,4 sowie De pudicitia 19,3.

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qui ante me apostoli et fuerunt omni tempore cum Christo Jesu. Der Apostel Paulus ist hier nicht mehr als der Tradent der von Petrus bzw. von den ›Zwölf Aposteln‹ herkommenden Lehr- und Verkündigungstradition. Die Konsequenz: Jede Lehr- und Verkündigungstradition, die sich auf ein ›Paulus solus‹ gründet, ist von vornherein der Abweichung von der im eigentlichen Sinne grundlegenden Lehr- und Verkündigungstradition – und damit auch der Häresie verdächtig683. – Entsprechendes trifft auch auf das Paulusbild der Epistula Apostolorum zu, einem (nach Kap. 1[12]) von Christus selbst seinen Jüngern offenbarten »Brief des Kollegiums der Apostel«684, in dem es im Anschluß an einen an die Adresse der Zwöf Apostel gerichtenen Missionsbefehl (c. 30 [41]) im Kap. 32 [42] heißt: »Und siehe, ihr werdet einen Mann treffen, dessen Name Saul ist, das bedeutet: Paulus«. Er ist, wie es hier weiter heißt: »Der Letzte der Letzten wird Prediger für die Heiden werden«; und am Ende des Kapitels schließlich: »Lehrt und erinnert [ihn], was in den Schriften über euch gesagt und erfüllt worden ist; und dann(!) wird er den Heiden zum Heil sein«. Angesichts der hier zum Ausdruck kommenden Bei- bzw. Unterordnung des Paulus in seinem Verhältnis zu den ›Uraposteln‹ handelt es sich in dieser Schrift wohl um das Dokument eines Streites um den Apostel Paulus, möglicherweise wiederum i.S. einer Inanspruchnahme des Paulus durch häretische Kreise, die sich vor allem auf ihn, den »Apostel der Häretiker« berufen haben.

Die Art und Weise, in der hier der Apostel Paulus vermittels seiner Zuordnung zu den ›Zwölf Aposteln‹ gleichsam rehabilitiert wird, hat durchaus Parallelen in weiteren frühchristlichen Schriften, mit der Konsequenz mitunter: »Man berief sich auf seine Rechtgläubigkeit, preist Eifer und Erfolg seines missionarischen Wirkens – und vermeidet ein näheres Eingehen auf seine Theologie«685. Paradigmatisch dafür ist vor allem die Mahnung des Auferstandenen selbst an die Zwölf Apostel am Ende von Kap. 31 [42]: »Lehret und erinnert [ihn], was in den Schriften über mich gesagt und erfüllt worden ist, und dann wird er den Heiden zum Heil sein«. Bedingung dafür ist jedoch, dass der Apostel Paulus mit seiner Lehre und Verkündigung jener primär durch die »Ur-Apostel« repräsentierten Lehr- und Verkündigungstradition und (und Sukzession!) zugeordnet wird. Paulus ist hier nicht mehr – aber auch nicht weniger – als der gehorsame Schüler jener Urapostel: sie also gleichsam auch die Lehrer des Paulus686. Ob man angesichts dessen mit M. Hornschuh sogleich von einer ›Degradierung‹ des Paulus zum 683 Zur Sache vgl. W. Schneemelcher, Paulus in der griechischen Kirche des zweiten Jahrhunderts, S. 12 f. Vgl. auch G. Klein, Die zwölf Apostel, S. 215 f., der in diesem Zusammenhang von einer »Domestikation« des Paulus spricht, »durch die er der Kiche erhalten … blieb«, sowie W. Schmithals, Das kirchliche Apostelamt, S. 255 ff., hier unter der Überschrift: »Die Synthese von Paulus- und Zwölferapostolat«. 684 Zur Paulus-Rezeption in der Epistula Apostolorum vgl. M. Hornschuh, Studien zur Epistula Apostolorum; E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch, S. 261–266; A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 109–113. 685 So E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch, S. 256 f. 686 So M. Hornschuh, a.a.O., S. 87. Vgl. auch ebd., S. 82 f.: »Paulus wird in der Ep.Ap. ganz konsequent, konsequenter noch, als es in der Apostelgeschichte geschieht, zum Schüler der Urapostel herabgedrückt«.

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›gehorsamen Schüler der Urapostel‹ sprechen soll, sei hier dahingestellt; immerhin ist es angesichts solcher Einbeziehung des Apostels Paulus in die durch die ›Urapostel‹ repräsentierte ›Phalanx der Rechtgläubigkeit‹ durchaus wahrscheinlich, dass es sich bei dem hier vorliegenden Paulus-Bild um eine Reaktion auf die Inanspruchnahme des Apostels Paulus in bestimmten häretischen Kreisen handelt. Was hier, in der Epistula Apostolorum, vorliegt, ist also ein Versuch der ›Rehabilitierung‹ des Apostels Paulus angesichts des Mißbrauchs seiner Briefe in jenen häretischen Kreisen687. Die nicht zu bestreitende Tatsache, dass »die Bekehrung des Paulus und seine Mission … in der EpAp als fundamentales Faktum der Kirchengeschichte dargestellt« werden, ist jedenfalls kein Argument gegen die hier thematisierte »besondere Problematik des Verhältnisses zwischen den Jerusalemer Aposteln … und dem Heidenapostel«688, sondern lässt eher die Frage nach weiteren Zeugnissen für jene zwiespältige Beurteilung des Apostels Paulus im frühen Christentum stellen. Spätestens hier ist nun auch auf die Stellungnahme zu »unserem geliebten Bruder Paulus« im 2. Petrusbrief, Kapitel 3,15 f., einzugehen und dies unter der Voraussetzung, dass hier, in diesem Briefe insgesamt, das Dokument eines Konflikts um die rechte Schriftauslegung vorliegt, an dem – neben jenen ›übrigen Schriften‹ – eben auch die Briefe des Paulus teilhaben689. In diese Richtung weist bereits die im Kapitel 1,20 f. ausgesprochene Warnung vor jeder ›eigenen‹, d.h. ›eigenwilligen‹ oder auch ›eigenmächtigen‹ Deutung der ›Schriftweissagung‹ unter der Überschrift: »Dies zuerst sollt ihr erkennen, dass jede Art von ›Weissagung‹ in der Schrift der eigenen [d.h.: eigenmächtigen] Auflösung nicht bedarf«, weil sie letztlich »von Gott« ist, und sich zu Beginn des 2. Kapitels sogleich die Warnung vor »Irrlehrern« anschließt, die, wie es hier heißt, »verderbliche Häresien einschleppen werden und den, der sie losgekauft hat, den Herrn, verleugnen« – ein Thema, mit dem es der ganze »Brief« zu tun hat – und das am Ende auch den »geliebten Bruder Paulus« betrifft: »alle seine Briefe« sind in diesen Konflikt um die rechte Schriftauslegung einbezogen: »alle seine Briefe«, in denen, wie es hier heißt, »mancherlei schwer verständlich ist, was denn auch die [in der Schriftauslegung] nicht Gelehrten und [im Glauben] nicht Gefestigten … zu ihrem eigenen Verderben verdrehen«: Missbrauch also der (bereits zur ›Schrift‹ gewordenen) Briefe des Apostels Paulus. Konkrete Beispiele für solchen Mißbrauch der Paulusbriefe sind im Rahmen der hier vorliegenden verallgemeinernden Schlußmahnung des 2 Petr nicht zu erwarten, und dies gilt 687 Vgl. zum Ganzen M. Hornschuh, ebd., S. 90: »Da die Autorität der Apostel keine Konkurrenz verträgt, wird Paulus als folgsamer Schüler gezeichnet«. 688 So A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 112. 689 Speziell zu 2 Petr 3,15 f. Vgl. neben den Kommentaren: E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch, S. 118 bis 125; J. H. Neyrey, The Form and Background of the Polemic in 2 Peter, S. 407–431, sowie A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 91–97.

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selbstverständlich auch speziell hinsichtlich der Frage, ob es sich bei den hier apostrophierten Häretikern tatsächlich um ›Gnostiker‹ handelt. In jedem (möglichen) Fall: An einer wirklichen Auseinandersetzung mit ihnen ist der Autor dieses ›Briefes‹ im Rahmen seiner verallgemeinernden Schlußmahnungen auch gar nicht interessiert690. Wesentlich für ihn ist lediglich, dass, wie bereits O. Pfleiderer festgestellt hat, »die Überlieferung des kirchlichen Glaubens mit dem recht verstandenen Paulus« aufgezeigt wird691. Und in diesem Sinne ist der (wohl bereits in der ersten Hälfte des 2. Jh.s zu datierende 2. Petrusbrief zwar noch »kein Beleg für eine bereits erfolgte Kanonisierung der Paulusbriefe«, wohl aber »ein Indiz dafür, dass sich die Auslegung von christlichen Texten inzwischen als Kriterium für die Unterscheidung von Häresie und Rechtgläubigkeit herausgebildet hat«692. Dies gilt im Rahmen der verallgemeinernden Schlußmahnungen des 2 Petr nicht nur speziell im Blick auf das hier besonders hervorgehobene Thema der ›Eschatologie‹, sondern auch generell für die Polemik gegen jene ›Irrlehrer‹, die, »ungelehrt und ungefestigt« [im rechten Glauben], das, was in den Briefen des Paulus ohnehin »schwer verständlich« ist, »zu ihrem eigenen Verderben verdrehen«. Hier wirft jene Auseinandersetzung mit der »fälschlich so genannten Gnosis«, wie sie wenige Jahrzehnte später Irenäus geführt hat, bereits ihre Schatten voraus. Gewiß ist es zutreffend, dass das »positive Paulusbild … ein integrierender Faktor der kirchlichen Gegenwart des 2 Petr« ist693; jedoch setzt dieses Paulusbild, eben als »integrierender Faktor der kirchlichen Gegenwart des 2 Petr, seinerseits ein zur Zeit der Abfassung des 2 Petr umstrittenes Bild vom Apostel Paulus voraus, und zwar in dem Sinne, dass – wie im Übrigen auch A. Lindemann zugesteht694, »die ›Irrlehrer‹ sich [zur Rechtfertigung ihrer Lehren] der Paulusbriefe bedienten«. Jedenfalls indirekt ist der 2 Petr in diesem Sinn auch ein Zeugnis für die Rezeption der Paulusbriefe durch die frühchristliche Gnosis. Im Streit um den ›rechtgläubigen‹ Apostel Paulus wird eben dies in der Zeit des Übergangs zum sog. Nachapostolischen Zeitalter nicht zuletzt auch in den sog. Pastoralbriefen des Neuen Testaments vorausgesetzt, so jedenfalls in der Schlußmahnung des 1 Tim (6,20): »Oh Timotheus, bewahre das rechte Glaubensgut, indem du dich abkehrst von den gottlosen Redensarten 690 Zur Frage der Zuordnung der ›Irrlehrer‹ in 2 Petr 3,15 f. vgl. P. Müller, Der 2. Petrusbrief, in: ThR 66 (2001), S. 310–337, hier S. 327–329 i.S. der »Zuordnung zu einem wiederholt belegbaren Skeptizismus« als »Problem der zweiten (und dritten) christlichen Generation«. 691 O. Pfleiderer, Das Urchristenthum II , 2. Aufl. Berlin 1902, S. 515. Vgl. auch A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 97: »Das positive Paulusbild ist … ein integrierender Faktor der kirchlichen Gegenwart des 2 Petr«. 692 A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 94. – Zur Frage der Datierung des 2 Petr etwa in der Mitte des 2. Jh.s, in umittelbarer Nähe also zur Kontroverse zwischen Irenäus und den gnostischen Exegeten, vgl. A. Lindemann, ebd., S. 91, Anm. 2. 693 So A. Lindemann, a.a.O., S. 97. 694 Ebd., S. 97.

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und Antithesen der fälschlicherweise so genannten ›Gnosis‹«, eine Schlußmahnung, die auch hier offensichtlich unter der Voraussetzung der ›rechten‹ Lesart der Schrift steht. Denn dort, wo es in der Auseinandersetzung mit den ›Häretikern‹ (Tit 3,10) um die ›rechte‹ Auslegung der Schrift geht, gilt der Grund-Satz von 2 Tim 3,16: »Jede [heilige] Schrift ist von Gottes Geist eingegeben ( ) und [als solche] nützlich [und brauchbar] zur Lehre, zur Zurechtweisung, Bekehrung …«, vorausgesetzt jedenfalls, dass sie, jene »Schrift«, unter dem rechten Vorzeichen gelesen und verstanden wird … Angesichts dieses Befundes in den Pastoralbriefen als den ersten Zeugnissen für die Auseinandersetzung der frühen Kirche mit der ›Gnosis‹ ist es kein Zufall, dass die bereits in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts sich anbahnende Auseinandersetzung mit der frühchristlichen Gnosis vom ersten der großen altkirchlichen Häresiologen, von Irenäus, in seinem antignostischen Hauptwerk »Entlarvung und Widerlegung der fälschlich so genannten Gnosis« ganz in der Nachfolge der neutestamentlichen Pastoralbriefe geführt worden ist: So heißt es hier bereits in der Vorrede zum 1. Buch seines Werkes mit Bezug auf 1 Tim 1,4 von seinen gnostischen Kontrahenten, dass sie, »wie der Apostel sagt«, nichts anderes als »lügnerische Reden und endlose Genealogien« darbieten, die am Ende »nur Streitfragen mit sich bringen«. Von »listig-arger Überredungskunst« ( ) ist hier die Rede695, mit der sie »den Verstand der Unerfahrenen verführen« – dies alles aber offensichtlich auf eine Weise, die mit der Grundfrage einer rechten Schriftauslegung zu tun hat. Nicht nur, dass die hier apostrophierten Leute »leichtfertig mit den ›Worten des Herrn‹ umgehen« – überhaupt sind sie nichts anderes als »schlechte Exegeten dessen, was [ursprünglich doch] gut gesagt worden ist«696, so dass man, wie es dann am Ende des 1. Absatzes der Vorrede zu Adv. Haer. I heißt, gar nicht mehr in der Lage ist, das Falsche vom Wahren zu unterscheiden«. Bereits hier zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit der »fälschlich so genannten Gnosis« i.S. des Irenäus ganz im Zeichen der Hl. Schrift ausgetragen wird, in der Auseinandersetzung also um die ›rechte‹ Auslegung der Schrift, die von seinen Kontrahenten zu Unrecht für ihre eigenen Absichten in Anspruch genommen wird. Damit deutet sich bereits bei Irenäus das Hauptthema der Auseinandersetzung der frühen Kirche mit der frühchristlichen Gnosis an, wie es dann auch Origenes im 3. Buch seiner Streitschrift »gegen Kelsos«, hier in den Kapiteln 11 und 12 bestätigt, wenn er im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Thema der ›Häresie‹ die These vertritt, dass der Glaube an die in der Schrift niedergelegten ›göttlichen Worte‹ im Christentum wie auch bereits im Judentum unmittelbar 695 Zum Stichwort in diesem Zusammenhang vgl. A. LeBoulluec, La notion d’hérésie, S. 218 ff.: »La pithanologia hérétique«. 696 Adv. Haer. I 3,6: »So sind sie gezwungen, das, was gut gesagt ist, dem anzupassen, was von ihnen schlecht erdacht worden ist«.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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mit der Entstehung von ›Häresien‹ im Zusammenhang steht: »Infolge dessen wurden die Schriften, die von allen als göttlich anerkannt waren, verschieden ausgelegt – und so entstanden Häresien«697. Irenäus hat, lange vor Origenes, diesen Sachverhalt auf vielfältige Art und Weise zum Ausdruck gebracht, so z.B. in Adv. Haer. II 10,1, hier speziell im Blick auf ›mehrdeutige Schriften‹ (ambiguas scripturas): »Bei dem Versuch, mehrdeutige Schriftstellen zu erklären …, haben sie [am Ende] einen anderen Gott fabriziert« (alterum Deum fabricaverunt) – Schriftauslegung hier also als »Quelle der Häresie«698: Und dies betrifft nicht nur jene ›mehrdeutigen‹ Aussagen in der Schrift, sondern auch bereits jenes ›eklektizistische‹ Verfahren im Umgang mit der Schrift, das seinerseits wiederum durch ein bestimmtes ›Vorverständnis‹ bedingt ist und nicht zuletzt, wie Irenäus meint, mit jenen ›krankhaften Grübeleien‹ von 1 Tim 6,4 einhergeht, die alles, »was von den Aposteln über Gott gesagt worden ist, allegorisch verstehen zu müssen meinen«699. ›Auswahl‹, griechisch ›Häresie‹, also dessen aus der Schrift, was dem eigenen gnostischen Vor-Verständnis entspricht oder doch jedenfalls zu entsprechen scheint – dies eben ist genuines Kennzeichen aller Häresie, und das entsprechende Verfahren bei der Auslegung der Schrift geradezu die Quelle der Häresie, denn – so wiederum Irenäus, Adv. Haer. II 10,1: Dadurch, dass die Gnostiker jene dunklen oder mehrdeutigen Stellen aus der Schrift auf ihre Weise erklären, haben sie (sich) einen ›anderen Gott‹ gebildet. Die entscheidende Frage für die frühkirchlichen Ketzerbestreiter ist dementsprechend: Was ist einem solchen ›häretischen‹, d.h.: ›auswählenden‹ Verfahren wirksam entgegenzusetzen? Die Stellungnahme des Irenäus steht zunächst ganz im Zeichen einer gesamt-biblischen Theologie, die als solche nicht einzelne Schriftstellen ›auswählt‹, sondern den Gesamtduktus der Schrift (Alten und Neuen Testaments!) gegen das ›auswählende‹ und insofern von vornherein ›häretische‹ Verfahren der gnostischen Exegeten geltend macht700. Denn, so Irenäus, Adv. Haer. V 20,2: »von jedem Baum des Paradieses [gilt es zu] essen«, und das heißt: »von jeder Schrift des Herrn [soll man] sich ernähren«. Irenäus weiß freilich sehr wohl darum, dass ein solches Verfahren allein nicht zureichend ist, zumal ja die Bibel das Kriterium, den 697 Origenes, Contra Celsum III 12, nach der Übersetzung von K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 213. 698 Zum Stichwort ›Mehrdeutigkeit‹ vgl. A. LeBoulluec, La notion d’hérésie, S. 231 ff.: »Exégèse gnostique et ›ambiguité‹ des Écrites«. 699 Adv. Haer. III 12,11. Irenäus weist in diesem Zusammenhang auch auf die Vorliebe seiner Kontrahenten für Gleichnisse und Allegorien hin, die man, wie er sich ausdrückt, , d.h.: »in vielerlei Richtungen zerren kann«. 700 Zur ›biblischen Theologie‹ des Irenäus vgl. N. Brox, Art. Irenäus von Lyon, in: RAC 18, Sp. 843–846: IV . Bibel und biblische Hermeneutik; ders., Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 26–47; C. Andresen, Die biblische Theologie des Irenäus von Lyon, in: Ders., Handb. der Dogmen- und Theologiegeschichte I, S. 91–94, sowie H.v. Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel, S. 213–244.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

›Kanon‹ ihrer sachgemäßen Auslegung nicht gleichsam ›in sich selbst‹ trägt: Wenn nämlich die Valentinianer nach Irenäus (Adv. Haer. I 8,1) für sich in Anspruch nehmen, die Lehrmeinungen der Propheten, des Herrn und der Apostel »besser zu verstehen als alle anderen«701, und – dementsprechend – auch Tertullian Klage darüber führt, dass die Häretiker ihrerseits »behaupten, dass wir [die ›Kirchenchristen‹] es vielmehr seien, die Verfälschung der Schrift begehen und unrichtige Deutungen hervorbringen«702, so ist damit auch offensichtlich, dass jener ›Streit um die Schrift‹ mit den Gnostikern nicht allein auf dem Fundament der Schrift als solcher, nicht also i.S. des Formalprinzips eines ›sola scriptura‹ entschieden werden kann. Und dem entspricht nun auch die Schlussfolgerung – oder soll man sagen: das Zugeständnis? – des Tertullian: »Also nicht auf die Schrift [allein] hat man sich zu berufen und den Streit [um die rechte Schriftauslegung] nicht auf dieses Gebiet zu verlagern, wo entweder gar kein oder ein unentschiedener … Sieg zu erwarten ist« (De praescr. haer. 19,1). Auch und gerade Irenäus hat gewußt, dass es im konkreten Fall, beispielsweise angesichts eines bestimmten gnostischen Vorverständnisses von 1 Kor 2,6: »Weisheit aber reden wir unter den Vollkommenen …«, eines bestimmten ›Kanons‹ der Schriftauslegung bedarf, also dessen, was er die regula veritatis nennt703. Dies bedeutet für ihn in der Auseinandersetzung mit der frühchristlichen Gnosis, die sich ihrerseits auf ›apokryphe‹ Quellen beruft, dass dieser Kanon in der apostolischen Tradition und Sukzession gegeben ist: »Die ganze [und rechte] Lehre« wird, so Irenäus, für den Ausleger der Schrift »dann feststehen, wenn er die Schriften sorgfältig bei den Presbytern der Kirche liest, bei denen [allein] die apostolische Lehre ist«704. Damit ist nunmehr auch deutlich, dass es bei aller Schriftauslegung grundlegend auf das rechte, genauer noch: das ›rechtgläubige‹ Vorverständnis ankommt. Formal gesehen gilt entsprechendes auch für die Schriftauslegung der Gnostiker – nur dass für sie in dieser Hinsicht das eigene genuin nicht-christliche Gott-, Welt- und Menschenbild bestimmend ist, seinerseits autorisiert durch bestimmte ›geheime‹ bzw. ›apokryphe‹ Überlieferungen und Schriften705. Die Methode der Schriftauslegung ist dabei vorwiegend die ›Allegorese‹, der ›Kanon‹ der Schriftauslegung die 701 K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 213, verweist in diesem Zusammenhang auch auf Clemens Alexandrinus, Strom. VII 96,5, wonach die ›Psychiker‹ i.U. zu den ›Pneumatikern‹ nicht imstande sind, die Bedeutung der Schriften zu verstehen. 702 Tertullian, De praescr. haer. 18,3. Dazu K. Koschorke, a. a.O., S. 212. 703 Irenäus, Adv. Haer. III 2,1. – Zur Begriffsbildung ›Kanon der Wahrheit‹ vgl. N. Brox, Gegen die Häresien I, S. 284 f., Anm. 92. Zur Bedeutung der regula veritatis für die sachgemäße Schriftauslegung vgl. Irenäus, Adv. Haer. IV 35,4: nos autem unum et solum verum dominum doctorem sequentes et regulam veritatis habentes. 704 Adv. Haer. IV 32,1. Zur Sache vgl. N. Brox, Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 38 f.; H.-J. Jaschke, Art. Irenäus von Lyon, in: TRE 16, S. 260 f., hier S. 260, Z. 45 ff.: »So wird die Tradition zum hermeneutischen Kontext, innerhalb dessen die Wahrheit der Schrift aufgeht«. Vgl. für Irenäus weiter: Adv. Haer. III 2,2 und 3,1. 705 Vgl. Th. Zahn, Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I/2, S. 723 f.

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»Explikation der Gnosis in ihrem Mythos«, kurz gesagt: »Gnosis als Interpretationsprinzip«706, das sich konkret in der ›Anpassung‹ der Schrift an den gnostischen Mythos oder auch, wie es bei Irenäus des Öfteren heißt, in der Adaption an das »eigene [gnostische] Gebilde« zeigt707. ›Erkenntnis‹ – im gnostischen Sinne – wird somit nicht eigentlich aus der Schrift des Alten und Neuen Testaments gewonnen; vielmehr »dienen diese nur dazu, sich [selbst!] darin immer von neuem zu finden«708. Die Sentenz von Mt 7,7: »Suchet – so werdet ihr finden« bestimmt auch hier die exegetische Praxis der gnostischen Schriftausleger709. Und wenn die Valentinianer nach dem Zeugnis des Irenäus (Adv. Haer. I 8,1) für sich beanspruchen, »die Lehrmeinungen der Propheten, des Herrn und der Apostel besser zu verstehen als alle anderen«, so ist dieser Anspruch allein dadurch gedeckt, dass es eben ihre, der Valentinianer, besondere Art von ›Erkenntnis‹ ist, die zum ›wahrhaften‹ Verständnis der Schrift führt – mit anderen Worten: Der wahre und eigentliche Sinn der Schrift erschließt sich erst dort, wo die Schrift unter einem gnostischen Vorzeichen gleichsam gelesen und verstanden wird710. Ein konkretes Beispiel dafür hat Hippolyt in seinem Referat über die Naassener überliefert, nämlich die Schlussformel des Gleichnisses von Mk 4,3–9: »Wer Ohren hat zu hören, der höre«; dies bedeutet nunmehr, dass im Grunde niemand zu der im Gleichnis verschlossenen Wahrheit gelangen wird – »es sei denn allein die vollkommenen Gnostiker«711. Zwar gilt dies an dieser Stelle zunächst speziell im Blick auf die ›Parabeln‹, i.S. der frühchristlichen Gnostiker jedoch offensichtlich zugleich in einem grundsätzlichen Sinne, und zwar im Blick insbesondere auf ›die Apostel‹. So jedenfalls ist nicht zuletzt auch jener Grundsatz aus den Excerpta ex Theodoto (§ 66) zu verstehen, wo es im Anschluß an Mt 13,10–13 heißt: »Der Soter lehrte die Apostel, fürs erste nämlich auf ›typische‹ Weise ( ), sodann in Gleichnissen und Rätselreden, drittens aber offen und unverhüllt, und zwar dann, wenn er mit ihnen allein war«. Zum Kreis dieser ›Apostel‹ gehört nach dem Verständnis der frühchristlichen Gnosis nun gewiss auch der Apostel Paulus – und mit ihm die Paulus-Rezeption in der frühchristlichen Gnosis712, deren Gewicht im Rahmen der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments nicht zu unterschätzen ist. Zwar mag es angesichts des tatsächlichen Befundes in dieser Hinsicht 706

H. Schlier, Gnosis, in: K. Rudolph (ed.), Gnosis und Gnostizismus, S. 504. Vgl. Irenäus, Adv. Haer. I 1,3; 3,6; 8,1; 9,1 f. Eine besondere Rolle spielen bei diesem Verfahren wiederum die Gleichnisse bzw. Parabeln der Evangelien: vgl. z.B. Irenäus, Adv. Haer. II 10,1. 708 H. Schlier, Gnosis, S. 508.709) S. dazu oben Kapitel 4.2. 709 S. dazu oben Kapitel 4.2. 710 Zur Sache vgl. auch R.A. Norris, God and World in Early Christian Theology, hier bes. das 3. Kapitel »Irenaeus and the Gnostic Problem« (S. 71–98), hier S. 73 f. 711 Hippolyt, Ref. V 8,29. 712 Zur Paulus-Rezeption bei Irenäus bzw. in der frühchristlichen Gnosis vgl. die bereits Anm. 666 genannte Literatur. Darüber hinaus vgl. auch J. Fantino, La théologie d’Irénée. 707

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wohl ein wenig übertrieben erscheinen, mit H. Langerbeck die frühchristliche Gnosis des 2. Jh.s geradezu als eine »mächtige Erscheinung einer ersten christlich-paulinischen Theologie« zu bezeichnen, die, so weiter H. Langerbeck, »die gewaltigen Bilder der urchristlichen Eschatologie in ein philosophisch-mythisches Weltbild umsetzte und eben dadurch im Augenblick der Krise der ›naiven‹ eschatologischen Erwartung das eigentliche Anliegen dieser Eschatologie wachhielt und damit das Christentum davor bewahrte, zu einer bloß moralisch sozialen Institution herabzusinken«713; gleichwohl ist nicht zu bestreiten, dass die unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefe im Rahmen der Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis eine gewichtige Rolle gespielt haben. In der Tat: Wer wie der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther (1 Kor 2,6) von der ›Weisheit‹ spricht, von der »wir für die Vollkommenen reden«, der empfiehlt sich i.S. gnostischer Leser der Paulusbriefe von vornherein für eine spezifisch gnostische Rezeption einer solchen Rede. Zeuge dafür ist wiederum Irenäus, der es im 4. Buch seines antignostischen Hauptwerks (Adv. Haer. IV 41,4) als notwendig erachtet »nach den Reden des Herrn« auch noch die Lehre des Paulus zu erörtern, und zwar angesichts dessen, dass jene Häretiker ihn, den Apostel Paulus, für ihre eigenen Lehren in Anspruch genommen haben, obwohl sie doch »ganz und gar nichts (in totum) davon verstehen«, was er gesagt und geschrieben hat. Das Anliegen des Irenäus angesichts der PaulusRezeption seitens der Gnostiker ist es, den gänzlich ›ungnostischen‹ Charakter dieser Redeweise deutlich zu machen – obwohl eine gewisse Nähe dazu gerade hier nicht zu übersehen ist, zumal dann, wenn jene ›Weisheit‹ 1 Kor 2,7 zudem noch als ›verborgene Weisheit‹ gekennzeichnet wird. Man muß gewiß nicht sogleich der Meinung sein, dass Paulus selbst hier »in der Tat … ganz wie ein Gnostiker« redet714; gleichwohl gibt es hier, in der »Weisheitsrede« des Apostels von 1 Kor 2 für einen gnostischen Leser eine ganze Reihe von Ansatzpunkten für ein spezifisch ›gnostisches‹ Verständnis solcher Redeweise: Paulus also gleichsam ein Zeuge für jene ›apokryphe Weisheit‹, auf die sich ja auch und gerade die Gnostiker beriefen, und dies zumal angesichts dessen, dass – wie es auch bei Paulus selbst heißt – »keiner der Archonten dieses Äons sie erkannt hat« (1 Kor 2,8). Insgesamt also im Blick speziell auf die ›Weisheitsrede‹ des Apostels in 1 Kor 2: eine gewisse Nähe zu einer spezifisch gnostischen Sprache ist ihr zweifellos eigen, wenn – möglicherweise – auch nur i.S. einer Sprache, die als solche bereits den 713 H. Langerbeck, Aufsätze zur Gnosis, S. 81 f., sowie E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch, S. 219: »Ebenso unbestritten wie als Theologen gelten die christlichen Gnostiker des 2. Jahrhunderts als paulinische Theologen und Paulusschüler«. Vgl. aber auch schon Th. Zahn, Geschichte des neutestamentlichen Kanons I/2, S. 751, hier mit Verweis auf Irenäus, Adv. Haer. I 3,1: Die Valentinianer behaupteten, »dass Paulus in seinen Briefen für jeden, der lesen kann, deutlich genug die Grundbegriffe ihres Systems zur Anwendung gebracht habe«. 714 So U. Wilckens, Weisheit und Torheit, S. 60.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Weg von einer ›dualistischen Weisheit‹ zur ›Gnosis‹ erkennen lässt715. Und schließlich: So gesehen ist es dann auch nur noch ein kleiner Schritt, in den ›Vollkommenen‹, von denen der Apostel hier spricht (1 Kor 2,6), eben jene ›vollkommenen Gnostiker‹ wiederzuerkennen, von denen nach dem Bericht des Hippolyt (Ref. V 8,29) die Naassener gesprochen gesprochen haben. Von daher gesehen ist offensichtlich (oder doch jedenfalls wahrscheinlich), dass sich die frühe Kirche im Blick auf eine »kirchlich angemessene« Auslegung von 1 Kor 2,6 ff. gegenüber den gnostischen Rezipienten dieses Textzusammenhangs in einem gewissen Dilemma befunden hat: Am Ende bleibt auch für Irenäus nur noch die eher generelle Polemik, dass »ein jeder« von seinen gnostischen Kontrahenten »gänzlich in sich selbst verdreht ist« (perversus in semetipsum) – und auf diese Weise die regula veritatis der rechtgläubigen Kirche pervertiert (Adv. Haer. III 2,1). Nicht zuletzt von daher ist es dann auch zu verstehen, dass Irenäus sich in seinem antignostischen Hauptwerk bereits mit dessen Titel – »Aufweis und Widerlegung der fälschlicherweise so genannten Gnosis« – in jene anti-gnostische Front einfügt, wie sie in der Tradition des Paulus bereits in den sog. Pastoralbriefen des Neuen Testaments ihren literarischen Niederschlag gefunden hat: Hier in den Pastoralbriefen war ja bereits ein wirksames antidotum gegen jene gnostischen Irrlehrer vorgegeben. Sie, dieses Briefe, zeichnen ja »einen Paulus, wie man ihn im Kampf mit der Gnosis brauchte«. Ob man daraus freilich die Schlußfolgerung ziehen kann, dass nur »in der Verbindung mit diesen unechten Paulusbriefen … die echte Hinterlassenschaft des Apostels kirchlich erträglich und ›kanonisch‹ geworden« ist716, ist mit Recht wohl zu bezweifeln. Unverkennbar aber ist, dass Irenäus die anti-gnostische Tradition und Polemik dieser Briefe in seinem antignostischen Hauptwerk ungebrochen weiterführt – mit dem Unterschied nur, dass bei Irenäus an die Stelle der der Pastoralbriefe, hier i.S. des an die Person des Apostels gebundenen depositum fidei (2 Tim 1,12), die gesamt-apostolische Tradition (und Sukzession!) getreten ist, die es im Kampf gegen jene ›fälschlich so genannte Gnosis‹ zu bewahren gilt. Konkret heißt das für Irenäus (Adv. Haer. IV 41,4): »Aus demselben Paulus, aus dem sie uns mit ihren Fragen konfrontieren, beweisen wir, dass sie allesamt Lügner sind und dass der Apostel in Wahrheit der praedicator veritatis ist und alles, was er lehrte, in Übereinstimmung mit der Wahrheit steht«. Der Apostel Paulus wird so bei Irenäus von vornherein unter dem Vorzeichen seiner in den Pastoralbriefen dokumentierten antignostischen Frontstellug rezipiert. Was Irenäus

715 Dazu im Einzelnen: H.-M. Schenke, Die Tendenz der Weisheit zur Gnosis, S. 351–372; G.E. Sterling Wisdom among the Perfect, S. 367 ff. 716 So H.v. Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel, S. 213; vgl. auch E. H. Pagels, The Gnostic Paul, S. 4 f.

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in seinem Werk darlegt, ist im Grunde »die wahre Gnosis« – im Gegensatz zur nur »fälschlich so genannten Gnosis« seiner Kontrahenten717. Dass Irenäus, wie im Übrigen auch Tertullian718, sich selbst bewusst in die PaulusTradition der Pastoralbriefe stellt, zeigt bereits der Titel seines Hauptwerkes, der gezielt auf die entsprechende Formulierung von 1 Tim 6,20 Bezug nimmt und in diesem Sinne geradezu das Leitmotiv seines Werkes darstellt719. Desgleichen weist in diese Richtung die programmatische Berufung auf ›den Apostel‹ zu Beginn der Praefatio zum 1. Buch mit dem Zitat von 1 Tim 1,4, und zwar zur generellen Kennzeichnung seiner Gegner als derjenigen, die mit ihren »Reden nicht, wie es eigentlich sein sollte, die wahre ›Erbauung Gottes‹ befördern, die im rechten Glauben besteht«, sondern statt dessen »lügenhafte Reden einführen« und »endlose Genealogien, die [doch nur] Streitfragen mit sich bringen«. Die weiteren Zitate aus den Pastoralbriefen bestätigen den Sachverhalt720, dass der Paulus der Pastoralbriefe von Irenäus vom Beginn seines Werkes an als »Autorität gegen die irenäischen Gegner ins Feld geführt« wird721.

Theorie und Praxis der Paulus-Rezeption in der frühchristlichen Gnosis Die hermeneutischen Prinzipien der gnostischen Paulus-Rezeption sind dieselben wie bereits im Falle der gnostischen Rezeption der Evangelien des Neuen Testaments – ›Exegese‹ also der Paulusbriefe unter dem hermeneutischen Vorzeichen der eigenen gnostischen Grundposition und damit auch 717 Adv. Haer. II 28,1; IV 33,8: Agnitio vera est apostolorum doctrina, e t antiquus ecclesiae status in universo mundo, et character corporis Christi secundum successionis episcoporum quibus illi eam quae in unoquoque loco est ecclesiam tradiderunt. Dazu N. Brox, Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 38 (zur zitierten Stelle): »Verläßliche Bibelauslegung hat ihre Voraussetzungen in Kirche und Tradition«, was zugleich heißt: »Wer am kirchlichen Glauben unverrückbar festhält, legt die Bibel richtig aus« (ebd. mit Verweis auf Adv. Haer. I 3,6). 718 De praescr. haer. 4–5 sowie 7,7 und 33,8. – Vgl. E.H. Pagels, The Gnostic Paul, S. 4 f. – Offensichtlich gehören die Pastoralbriefe zum geläufigen polemischen Arsenal des Tertullian, wenn er in seinen Schriften, ohne ausdrücklich zu zitieren, von ihnen Gebrauch macht, so wenn er Adv. Marcionem I 9,7 aus 1 Tim 1,4 die Wendung von den indeterminabiles quaestiones, quas apostolus non amat aufnimmt. Auch in De anima spricht er in Anlehnung an 1 Tim 1,4 von den infinitas quaestiones, die »der Apostel verbietet«. 719 Vgl. die entsprechenden Vorreden zu den Büchern II , IV und V von Adv. Haer. sowie besonders IV 41,4. 720 Vgl. die Bezugnahme auf 1 Tim 6,20 in Adv. Haer. II 4,7; dazu R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpret, S. 73: »Aus dem 1 Tim rezipiert Irenäus nicht mehr als den polemischen Ausdruck; dies genügt ihm, um die Qualifizierung der gegnerischen Lehren als und damit die Bestreitung ihres Anspruchs, im Besitz wahrer Erkenntnis zu sein, mit der Autorität des Paulus zu versehen«. Vgl. aber auch die weiteren Bezugnahmen auf die Pastoralbriefe: Adv. Haer. I 10,2 (1 Tim 2,4); I 16,3 (1 Tim 4,7 und Tit 3,10 f.); II 20,3 (2 Tim 1,10); III 5,3 (Tit 2,14); III 18,7 (1 Tim 2,5); IV 16,3 (1 Tim 1,9); V 1,1 (1 Tim 2,6) und V 17,1 (1 Tim 2,5). 721 So R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpret, S. 74. Von daher gesehen ist das Urteil desselben Autors (ebd., S. 521 f.) kaum nachzuvollziehen: »Sie [die Pastoralbriefe] werden wenig zitiert, sind von geringem Einfluß auf die inhaltlichen Ausführungen des Irenäus und spielen in der Auseinandersetzung um das Paulus-Verständnis keine Rolle«.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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unter der Voraussetzung der Kompatibilität der entsprechenden Aussagen des Apostels mit der eigenen gnostischen Grundposition. An erster Stelle in sachlicher Hinsicht steht also jeweils die gnostische Grundposition, die gleichsam erst nachträglich durch ein ›entsprechendes‹ Zitat aus den Paulusbriefen ›belegt‹ bzw. bestätigt wird722. Th. Zahn hat ein solches methodisches Verfahren recht drastisch charakterisiert: »Wie von Johannes, so auch von Paulus haben sie nicht die leitenden Gedanken, die religiösen Anschauungen, so gut es eben ging, sich anzueignen bemüht, sondern Worte und Wortverbindungen haben sie den apostolischen Schrift entlehnt, um sie zum Aufputz und Aufbau ihrer mythologischen Spekulation zu verwenden«723. Dem entsprechen auch Strategie und Praxis ihrer Rezeption der unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefe. So gewiss also der Apostel Paulus den Gnostikern als eine ›Autorität‹ gilt, so doch nur unter der Voraussetzung: »Gnosis itself, and not Scripture, remains their primarly hermeneutical presupposition«724. Paulus-Exegese und Paulus-Rezeption unter solchem ›Vorzeichen‹ können freilich nur dann ›gelingen‹, wenn es nicht der ›ganze Paulus‹ ist, der hier rezipiert wird, sondern lediglich eine durch jene ›presupposition‹ bedingte Auswahl aus seinen Briefen. Konkret heißt dies, dass hier nunmehr nur dasjenige rezipiert wird, was eine Art Prädisposition bzw. Anknüpfungsmöglichkeit für die eigene gnostische Grundposition darbot. Was hier jeweils im Einzelnen rezipiert wird, ist also von vornherein nur eine ›Auswahl‹, eine ›Häresie‹ also, die als solche denn auch für die frühchristlichen Häresiologen zugleich den häretischen Charakter der Paulus-Rezeption in der frühchristlichen Gnosis demonstrierte. Es versteht sich angesichts dessen von selbst, dass von jener ›Auswahl‹ nach gnostischen Prämissen im negativen Sinn von vornherein (und im Einzelnen angesichts des Verdikts von 1 Tim 6,20!) die sog. Pastoralbriefe betroffen waren725. Aber auch im Übrigen ist offensichtlich, dass es seitens der Gnostiker im Blick auf das Corpus Paulinum bestimmte Praevalenzen 722 Am deutlichsten zeigt sich das am ›exegetischen‹ Verfahren bei Hippolyt: Hier wird jeweils zunächst die gnostische Position genannt, woran sich das ›entsprechende‹ Zitat aus der ›Schrift‹ mit der Formel »Dies ist/bedeutet, was in der Schrift geschrieben steht« anschließt. Nicht also »Normierung des Systems nach der Schrift, sondern gerade umgekehrt: Normierung der Schrift nach dem [gnostischen] System«! So bereits G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die Heilige Schrift, S. 46 f. 723 Th. Zahn, Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I/2, S. 755 f. 724 So E. H. Pagels, The Gnostic Paul, S. 3, mit Bezugnahme auf G. Heinrici (s.o. Anm. 722). 725 Eindeutiger Beleg dafür ist Clemens Alexandrinus, Strom. II 52,5 f. Ob demgegenüber bei Clemens Al., Strom. IV 71,2 wirklich ein Zitat von 2 Tim 2,13 vorliegt (so G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die Hl. Schrift, S. 146: »das einzige Zitat aus den Pastoralbriefen, das sich in gnostischen Quellen findet«), ist unwahrscheinlich. Zur Sache vgl. bereits Th. Zahn, Geschichte des neutestamentlichen Kanons I/2, S. 754: »Diese eine Stelle, welche überdies der deutlichen Citationsformel entbehrt, reicht nicht aus, um zu behaupten, dass die Valentinianer überhaupt die Pastoralbriefe in der paulinischen Sammlung hatten«. Zum Problem vgl. auch E.H. Pagels, The Gnostic Paul, S. 163 mit Anm. 41 und 42 (S. 166).

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

gab, und zwar unter dem Aspekt, inwieweit sich die Paulusbriefe jeweils dem eigenen gnostischen Grundanliegen zuordnen lassen. An erster Stelle ist in dieser Hinsicht der 1. Korintherbrief des Paulus zu nennen, darüber hinaus die beiden deuteropaulinischen Briefe an die Epheser und an die Kolosser, zunächst also Briefe, die i.S. ihrer gnostischen Rezipienten besonders günstige Prädispositionen für eine gnostische Rezeption darboten. Nicht zuletzt ist im Zusammenhang einer solchen durch die eigenen Interessen bedingten Auswahl auch der Römerbrief des Paulus zu nennen, dem in der valentinianischen Gnosis offensichtlich ein besonderes Interesse galt. Was dabei zunächst den 1. Korintherbrief betrifft, so steht hier das Thema seiner Rezeption in der frühchristlichen Gnosis, forschungsgeschichtlich gesehen, unter dem besonderen Vorzeichen der »Untersuchung zu den Korintherbriefen«, die W. Schmithals unter dem Titel »Die Gnosis in Korinth« vorgelegt hat726. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist bekannt: Die »häretischen Theologie in Korinth«, eine Irrlehre also, mit der sich bereits Paulus selbst auseinander gesetzt hat, ist ihrerseits nichts anderes als ›eine genuine Gnosis‹, genauer noch: ein »System jüdischer Christusgnosis«. Und das heißt zugleich, dass jene Auseinandersetzung in Korinth zur Zeit des Apostels Paulus »wie der Auftakt zu der großen Auseinandersetzung zwischen Kirche und Gnosis« anmutet, »die in der Mitte des zweiten Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte«727. Nun ist gewiß nicht rundweg zu bestreiten, dass bereits für die Kontrahenten des Paulus in den Korintherbriefen bestimmte ›gnostisierende‹ Tendenzen auszumachen sind, die dann auch im 2. Jh. n.Chr. eine wesentliche Rolle in der frühchristlichen Gnosis gespielt haben728; solche ›Tendenzen und Neigungen‹ jedoch bereits im 1. nachchristlichen Jahrhundert als ein – letztlich vor-christliches! – »System jüdischer Christusgnosis« oder auch, noch allgemeiner, im Sinne der bereits ausgestalteten Systeme der christlichen Gnosis des 2. Jh.s zu werten, übersieht offenbar jenen Entwicklungsgang, der, was die Genese und Ursprungsgeschichte der frühchristlichen Gnosis betrifft, ansatzweise erst in den Pastoralbriefen des Neuen Testaments seinen Niederschlag gefunden hat, um am Ende schließlich in die unterschiedlichen Systeme der frühchristlichen Gnosis des 2. Jh.s einzumünden. Und nicht zuletzt in diesem Zusammenhang: Wie eigentlich wäre unter der Voraussetzung der Hypothese von W. Schmithals vom Ursprung der Gnosis jener bemerkenswerte, ja geradezu auffällige ›Wechsel der Fronten‹ zu erklären, der sich im Übergang vom 1. zum 2. nachchristlichen Jahrhundert vollzogen hat? Während nämlich im 1. Korintherbrief der 726

W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth. Zitate aus: W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth, S. 277 und S. 285. – Zur Forschungsgeschichte in dieser Hinsicht vgl. W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (EKK VII /1), S. 38 ff., hier bes. S. 51 ff. 728 Vgl. auch W. Schrage, a.a.O., S. 51: »Bestimmte Züge der korinthischen Position lassen sich von dorther durchaus erklären, was durch manche überzogene Hypothesen und Exegesen zumal bei Schmithals nicht diskredidiert werden sollte«! 727

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Apostel Paulus nun gerade gegen jene »Gnosis in Korinth« Stellung bezogen hat – Paulus also der erste »Anti-Gnostiker«729, sind es in der Paulus-Rezeption eben jene »Gnostiker«, die nunmehr ihrerseits den Apostel, so wie er sich im 1. Korintherbrief darstellt, geradezu als eine »Primärquelle« für ihre eigene Position in Anspruch nehmen bzw. sich selbst in der Kontinuität jenes vermeintlich antignostischen Paulus verstehen. Nach Ausweis der entsprechenden Primär – und Sekundärquellen ist jedenfalls der Apostel Paulus im 2. Jahrhundert selbst zu einem Gewährsmann der frühchristlichen Gnosis geworden – und als solcher denn auch zum »Apostel der Häretiker«. Als Bestandteil einer offensichtlich auch von den Gnostikern grundsätzlich anerkannten »Heiligen Schrift« gewinnt nun auch das hier überlieferte Wort des Paulus ein bestätigendes Gewicht für die je eigene gnostische Position. Hippolyt hat dies in seiner »Refutatio« geradezu paradigmatisch zum Ausdruck gebracht, wenn er hier (Ref. VI 34,7) im Zusammenhang mit einer spezifisch gnostischen Position eine Art »Schriftbeweis« unter Verweis auf Eph 3,14 führt: »Dies ist geschrieben in der Schrift …«. Also: »Instead of repudiating Paul as their most obstinate opponent, the Naassenes and the Valentinians revers him as the one of the apostles, who, above all others, was himself a gnostic initiate«730. Die Grundfrage bei alledem ist deutlich: Selbst wenn das von Irenäus (Adv. Haer. III 13,1) so betont herausgestellte Paulus solus so gar nicht zutreffen sollte – wie eigentlich konnte der Apostel Paulus solches Gewicht für die frühchristliche Gnosis gewinnen? Ist dies tatsächlich nur in der Perspektive begründet, in der die frühchristlichen Gnostiker die als ›Schrift‹ überlieferten Briefe des Apostels wahrnahmen? – oder gab es da am Ende bereits bei Paulus selbst bzw. in den von ihm überlieferten Briefen gewisse ›Ansatzpunkte‹, an denen sich eine spezifisch gnostische Auslegung gleichsam ›festmachen‹ konnte? – Ansatzpunkte also, die für eine spezifisch gnostische Auslegung gleichsam ›offenstanden‹? Dies würde dann wiederum darauf hinweisen, dass die eine (gleichsam ›orthodoxe‹) wie auch die andere (gleichsam ›häretische‹) Rezeption von dem jeweiligen hermeneutischen ›Vorzeichen‹ abhängig war, von dem man – die ›Orthodoxen‹ ebenso wie ›Häretiker‹ – jeweils ausging. Geht man an dieser Stelle endlich von den eher theoretischen hermeneutischen Grundfragen zur Praxis gnostischer Paulus-Exegese über, so ist es gewiß kein Zufall, dass vor allem der 1. Korintherbrief des Paulus in 729 Zu einer anti-gnostischen Stellungnahme des Paulus in den Korintherbriefen vgl. bereits R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, S. 169.171; U. Wilckens, Weisheit und Torheit, S. 77–100, wobei im übrigen auch hier schon der Zusammenhang der spezifisch gnostischen Weisheitsspekulation mit einem »Weisheitsmythos im Judentum« hervorgehoben wird (so U. Wilckens, in: ThWNT VII , S. 508 ff.). 730 So E. H. Pagels, The Mystery of Resurrection, S. 276 f.; dies., The Gnostic Paul, S. 1 und S. 164. Zur Sache bei Hippolyt, Ref. VI 34,7 vgl. bereits Th. Zahn, Geschichte des neutestamentlichen Kanons I/2, S. 755 f., sowie E. H. Pagels, The Gnostic Paul, S. 165, Anm. 4.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

seiner gnostischen Rezeptionsgeschichte eine herausragende Rolle gespielt hat – obwohl, dies muß hier sogleich hinzugefügt werden, dieser selbe Brief andererseits auch als das Dokument einer anti-gnostischen Grundposition des Apostels in Anspruch genommen werden konnte … Spätestens an dieser Stelle liegt die Schlußfolgerung immerhin nahe, dass es im 1. Korintherbrief in der Rede- und Argumentationsweise des Paulus eine gewisse Ambivalenz gegeben hat, die – als solche – ebenso seine gnostische wie auch seine antignostische Rezeption ermöglichte? Oder ist auch dies schon wieder eine falsche Alternative? Gewiß, so E.H. Pagels, »even today the ›antignostic Paul‹ predominates in the contempory debate. Yet for the historian theologian an attempt to decide between gnostic and orthodox exegesis would be to accept a false alternative. Each of these opposing images of Paul (and each of the hermeneutical systems they imply) to some extent distorts the reading of debate« – und fügt diesem Votum sogleich hinzu. »On the other hand, whoever takes account of the total evidence may learn from the debate to approach Pauline exegesis with renewed openess to the texts«731. Paradigmatisch für solche Fragestellungen und Überlegungen steht vor allem jener Textzusammenhang von 1 Kor 2,6–16, der für die frühchristliche Gnosis des 2. Jh.s offensichtlich eine besondere Bedeutung gewonnen hat: Charakteristisch dafür ist das Votum von W. Schmithals: »Was in 2,6–3,1 ff. steht, könnte die präzise Darstellung eines Gnostikers sein«; und ganz ähnlich urteilt auch U. Wilckens: »Aber eben darin liegt nun auch das Problem, dass der Abschnitt 2,6 ff. der Exegese stellt: Aufgrund des bisher vorgelegten religionsgeschichtlichen Vergleichsmaterials ist schon deutlich geworden, dass Paulus hier in der Tat plötzlich ganz wie ein Gnostiker spricht«732. Lässt sich also, so ist man geneigt zu fragen, der Apostel an dieser Stelle vielleicht doch zu sehr auf die Position seiner Kontrahenten ein, um sie dann vielleicht umso wirksamer bekämpfen zu können?733 In 731

So E. H. Pagels, The Gnostic Paul, S. 164. W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth, S. 143; ders., Theologiegeschichte des Urchristentums, S. 137 f.; U. Wilckens, Weisheit und Torheit, S. 60: Paulus spricht hier »in der Tat plötzlich ganz wie ein Gnostiker« sowie ebd., S. 98: »Nirgendwo hat Paulus sonst seine Christologie in dieser restlosen(!) Akkommodation an den gnostischen Erlöser-Mythos entfaltet«. Sehr viel zurückhaltender urteilt Wilckens dann in seinem Beitrag »Zu 1 Kor 2,1–16« zur Festschrift für E. Dinkler, S. 537: »Man kann vielleicht sagen, dass die Gnosis die Ansätze jener von Paulus bekämpften protologischen Christologie und Anthropologie aufgenommen und ›gnostisch‹ umgedeutet habe. Aber weder die korinthische noch die paulinische Theologie sind gnostisch beeinflußt gewesen. Die Gnosis ist vielmehr überlieferungsge-schichtlich eine spätere Bewegung«. Zum Problem in dieser Hinsicht vgl. auch G. Theissen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, S. 341 ff., hier bes. S. 349 f. mit der Hypothese, dass 1 Kor 2,6–16 in eine »traditionsgeschichtliche Entwicklung« gehört, »die von der alttestamentlichen Weisheit hin zur gnostischen Sophia-Spekulation führt …«. 733 Zu dieser Position vgl. auch U. Wilckens, in: ThWNT VII , S. 520,20 ff.: »Dem dialogischen Charakter, der den theologischen Auseinandersetzungen des Paulus eigentümlich ist entspricht es …, dass er 1 Kor 2,6–16 Terminologie und Vorstellungen seiner Gegner selbst aufnimmt und die Gefahr nicht scheut, sie nach Möglichkeit … ins Positive zu wenden«. An732

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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jedem Falle: Auffällig ist das schon, dass der Apostel hier, in einem Kontext also, der nach Ausweis von 1 Kor 1,17 und 1,18 ff. in erster Linie durch das ›Wort vom Kreuz‹ bestimmt ist, geradezu unvermittelt zu einer ›Weisheitsrede an die Vollkommenen‹ übergeht. Hat der Apostel sich hier vielleicht doch in einen Widerspruch verstrickt? – oder soll man bzw. kann man das hier anstehende Problem dadurch lösen, dass das, was der Apostel in 1 Kor 2,6 ff. entfaltet, »für ihn letztlich nichts anderes ist als die Meta-Theorie« des »Wortes vom Kreuz«?734. Oder – am Ende also eine weitere Möglichkeit, den hier waltenden offensichtlichen Widerspruch zu lösen – soll man vielleicht sogar das hier vorliegende Problem dadurch lösen, dass man – mit M. Widmann735 – 1 Kor 2,6–16 als einen gezielten »Einspruch [der Gegner des Paulus in Korinth] gegen Paulus« betrachtet? – Dies ist am Ende doch wohl eine zu ›elegante‹ Lösung des Problems, auch wenn zuzugestehen ist, dass der Apostel sich an dieser Stelle der Redeweise (und damit auch der Position?) seiner Kontrahenten in bemerkenswerter Weise annähert: Paulus selbst also, zumindest hier, eine Art von ›Gnostiker‹ bzw. als Vertreter einer ›dualistischen Weisheit‹? Was das religionsgeschichtliche Problem im Blick auf die Gegner des Paulus in 1 Kor betrifft, so kann man beim gegenwärtigen Stand der Forschung davon ausgehen, dass im 1. nachchristlichen Jahrhundert wohl noch nicht von einer eigenständigen gnostischen Bewegung gesprochen werden kann, sondern allenfalls von bestimmten ›gnostisierenden‹ Tendenzen, die erst im Übergang vom 1. zum 2. Jh. in den verschiedenen (christlich-)gnostischen Schulen ihre Entfaltung und Ausprägung gefunden haben, hier als eine bestimmte Art von »Radikalisierung spätantiker Mystik und jüdisch-dualistischer Weisheit«736. In diesem Sinne stellt jene ›dualistische Weisheit‹, von der man gegenwärtig weithin ausgeht, keineswegs eine Alternative zur frühchristlichen Gnosis dar, sondern verdeutlicht angesichts der ihr inhärenten »Tendenz der Weisheit zur Gnosis« (H.-M. Schenke) jenen Entwicklungsgang, der vom historischen und religionsgeschichtlichen Ort des 1. Korintherbriefes zur späteren Rezeption der Paulusbriefe in der Gnosis geführt hat. In diesem Sinne ist auch gar nicht zu bestreiten, dass der Sprache des Paulus in 1 Kor 2,6 ff., wie M. Widmann mit Recht betont hat737, eine gewisse ›Offenheit‹ zur frühchristlichen Gnosis eigen ist – und damit zugleich auch für eine Rezeption ders wiederum K. Berger, Art. Gnosis/Gnostizismus I, in: TRE 13, S. 523,50 f.: »Paulus läßt sich ironisch auf die Sprache seiner Gegner ein«. 734 So die Formulierung von G. Sellin in seinem Aufsatz: Das Geheimnis der Weisheit und das Rätsel der »Christuspartei«, S. 76 f. 735 M. Widmann, 1 Kor 2,6–16: Ein Einspruch gegen Paulus, S. 53, und zwar in dem Sinne, dass die Kontrahenten des Apostels in Korinth »eine weisheitliche Theologie an der Schwelle zur Gnosis« vertreten. 736 So E. Brandenburger, Fleisch und Geist, S. 22 und S. 24. Zum Zusammenhang ›Dualistische Weisheit‹ – Gnosis speziell im Blick auf Paulus vgl. G. Sellin, Hauptprobleme des ersten Korintherbriefs, S. 3022: »Die weisheitliche Theologie ist noch nicht gnostisch, doch ist die spätere Gnosis eine Radikalisierung alexandrinisch-jüdischer Spekulation«. 737 M. Widmann, 1 Kor 2,6–16, S. 46–48, hier mit Hinweis auf die ›Mysteriensprache‹ dieses Textzusammenhangs.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

unter einem spezifisch gnostischen Vorzeichen: »weisheitliche Theologie … an der Schwelle zur Gnosis«738. Die »im Geheimnis verborgene Weisheit Gottes« (1 Kor 2,7), ist für die Gnostiker der Schlüssel zur Erkenntnis jener ›Weisheit‹, die als solche nur den ›Vollkommenen‹ (1 Kor 2,6) bzw. den ›Pneumatikern‹ zugänglich ist: Antithese also von ›Fleisch‹ und ›Geist‹, und dies zugleich unter dem gleichsam soziologischen Aspekt der Unterscheidung von zwei ›Menschenklassen‹, den ›Sarkikern‹ bzw. ›Psychikern‹ einerseits und den den ›Pneumatikern‹ bzw. den ›Vollkommenen‹ andererseits739.

Den angemessenen Zugang zur Rezeption von 1 Kor 2,6 ff. in der frühchristlichen Gnosis des zweiten Jahrhunderts gibt wiederum Irenäus mit seinen Bemerkungen zum exegetischen Verfahren seiner Kontrahenten in Adv. Haer. III 2,1: Die Argumentation aus Schrift und Tradition, wie Irenäus sie hier betreibt, läuft zwar bei seinen gnostischen Kontrahenten schon deshalb ins Leere, weil für ihn die ›Wahrheit‹ aus der Schrift sich nur unter der Voraussetzung der Kenntnis der ›Überlieferung‹ erschließt, d.h. unter dem Vorzeichen des kirchlichen Glaubens i.S. der regula veritatis. Für seine gnostischen Kontrahenten dagegen ist eine ›Überlieferung‹ bestimmend, die nicht etwa per litteras, sondern per vivam vocem weitergegeben wird: eine ›Weisheit‹ nämlich, die »nicht von dieser Welt ist« und dementsprechend nur unter den Vollkommenen gesprochen wird, i.S. des Irenäus nichts anderes als eine ›Fiktion‹, die sie »aus sich selbst heraus« bzw. »aus freien Stücken erfunden haben« und die – dementsprechend – bei den einzelnen Repräsentanten der frühchristlichen Gnosis, konkret bei Valentinus, Marcion, Kerinth wie auch bei Basilides gänzlich unterschiedlich aussieht. Von der ›apostolischen‹ Überlieferung halten sie alle nichts, sie distanzieren sich vielmehr von dieser – und beanspruchen doch für sich, ›weiser‹ zu sein als die ›Presbyter und Apostel‹, weil am Ende ja nur sie, die Gnostiker, »die reine Wahrheit gefunden haben« – in der Erkenntnis nämlich des absconditum mysterium740. Es sind also offensichtlich eben jene (wohl mündlich überlieferten) ›verborgenen Mysterien‹, die für die Gnostiker des 2. Jh.s den Zugang zum ›Mysterium Gottes‹ von 1 Kor 2,1 eröffnen, zu jener ›Weisheit Gottes‹ von 1 Kor 2,7, die »im Geheimnis verborgen« und als solche auch den »Archonten dieser Welt« fremd ist. Unter einem gnostischen Vorzeichen gelesen, fügen sich alle diese Einzelaussagen von 1 Kor 2,6 ff. zu einer spezifisch gnostischen Grundkonzeption i.S. eines Gott-Welt-Dualismus zusammen: Die Welt bzw., wie es hier in jüdischer Tradition heißt, »dieser Äon« mit seinen »Archonten« auf der einen Seite und der »diesem Äon« ferne und fremde Gott auf der

738

So H.-W. Kuhn, Jesus der Gekreuzigte in der frühchristlichen Verkündigung, S. 30. E. Brandenburger, Fleisch und Geist, S. 47. 740 Hier möglicherweise mit Bezugnahme auf Eph 3,9 bzw. Kol 1,26. Vgl. Irenäus, Adv. Haer. I 8,4 mit Bezug auf 1 Kor 2,6 und Eph 5,32 sowie die Rede vom »großen und verborgenen Mysterium« in I 2,4 und III 3. 739

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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anderen Seite, der allein Kraft seiner »Offenbarung« dem Menschen zugänglich ist (1 Kor 2,10). Die in diesem Zusammenhang naheliegende Frage, ob es sich bei den 1 Kor 2,6 ff. mehrfach genannten »Herrschern dieser Weltzeit«, die, wie es 1 Kor 2,8 heißt, »den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt haben«, um weltliche oder um nichtweltlich-dämonische Mächte handelt, kann wohl nicht i.S. einer Alternative beantwortet werden. Die Art und Weise jedenfalls, in der hier von diesen »Archonten« die Rede ist und in der sie im 1 Kor dem transzendenten Gott gegenübergestellt werden, erweist sie deutlich genug als die Repräsentanten gleichsam ›dieses Äons‹ und in diesem Sinn zugleich als den Menschen in der Welt versklavende Mächte. Dies entspricht durchaus der Rede des Paulus von einem »Gott dieses Äons« in 2 Kor 4,4, der »die Sinne der Ungläubigen verdunkelt hat«. Sind also jene »Archonten« von 1 Kor 2,6 ff. am Ende nichts anderes als »die Trabanten des Gottes dieses Äons«?741. Paulus spricht jedenfalls hier, 2 Kor 4,4, wie H. Windisch in seinem Kommentar z.St. vermerkt hat, »selbst ganz wie ein Gnostiker«. Und von daher ist es auch zu verstehen, dass diese Formulierung im 2 Korintherbrief eine entsprechende Resonanz in der frühchristlichen Gnosis gefunden hat: Vor allem Irenäus wiederum berichtet im 3. Buch seines antignostischen Werkes (Adv. Haer. III 11,7) von Gnostikern, die sich ausdrücklich auf 2 Kor 4,4 berufen haben, in dem Sinne nämlich, dass es in der Tat jenen deus saeculi huius gäbe, einen ›Gott‹ also, der nach gnostischer Auffassung von dem ›Gott‹ strikt zu unterscheiden ist, der, wie es hier (wohl mit Bezug auf Eph 1,21 bzw. Kol 1,16) heißt, super omnem principium et initium et potestatem ›erhaben‹ ist. Irenäus seinerseits hat das hier anstehende Grundproblem frühkatholischer Theologie einerseits und gnostischer Rede von ›Gott‹ andererseits auf seine Weise zu lösen versucht, und zwar vermittels der Annahme eines Hyperbaton (und einer Lesepause), so dass die fragliche Stelle 2 Kor 4,4 so zu lesen (und zu verstehen) ist: »Gott hat die Sinne der Ungläubigen dieser Welt verblendet«. Dies ist offensichtlich lediglich eine Verlegenheitslösung, die nichts an der Problematik der Aussage von 2 Kor 4,4 ändert, dass Paulus hier tatsächlich eine gegen-göttliche Macht den »Gott dieser Welt« nennt742.

Aufs Ganze gesehen lassen sich alle diese Teilaussagen des Paulus in 1 Kor 2,6 ff., unter einem bestimmten Vorverständnis betrachtet, durchaus zu einem in sich geschlossenen gnostischen Grundkonzept zusammenfügen, genauer noch: zu einer spezifisch gnostischen Anschauung eines Gott – WeltDualismus: Die ›Welt‹ oder, wie es hier in jüdischer Tradition heißt, ›dieser Äon‹, diese ›Weltzeit‹, auf der einen Seite, auf der anderen Seite diejenigen, denen der ›diesem Äon‹ jenseitige Gott den wahren Sachverhalt ›durch den Geist‹ (1 Kor 2,10) geoffenbart hat« – und eben dieser ›Geist‹ ist es nun, der, wie es nun hier heißt, ›alles erforscht‹, auch und sogar die allem weltlichen Wesen verborgenen ›Tiefen Gottes‹! Hier bedarf es kaum noch einer 741

So H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), S. 85. Zur Problematik von 2 Kor 4,4 im Einzelnen vgl. neben den Kommentaren z.St. N. Brox, Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 45 f., sowie R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpret, S. 121 f. Zur Frage der sachegmäßen Auslegung von 2 Kor 4,4 vgl. im übrigen auch die Argumentation des Tertullian, Adv. Marcionem V 11. 742

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Frage, dass der Apostel sich an dieser Stelle »an den Pforten der Gnosis« bewegt743, wenn die hier vorliegende ›Mysterienrede‹ bis in den ›Abgrund‹ Gottes gleichsam hineinreicht, und zwar gleichviel, ob solche Aussage ihrerseits auf eine ›dualistische Weisheit‹ oder auch auf ›jüdische Apokalyptik‹ zurückzuführen ist. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass diese Aussage von 1 Kor 2,10 in der frühchristlichen Gnosis eine weitreichende Resonanz gefunden hat und mit ihr auch der Anspruch des Gnostikers, ›alles‹ – und damit nun eben auch den ›Abgrund‹ Gottes zu erforschen …744. Nach dem Zeugnis der frühkirchlichen Häresiologen jedenfalls ist der Anspruch, die ›Tiefe‹, die profunda dei erforscht zu haben, geradezu ein Schlagwort gnostischer Weisheit und Erkenntnis, und dies wohl nicht zuletzt auch im Blick auf die von den ›Nikolatiten‹ der Johannes-Apokalypse (2,24) genannten »Tiefen des Satans«745. Gewiß ist die Rede des Paulus von jenen ›Tiefen Gottes‹ in 1 Kor 2,10 in einen Zusammenhang eingebunden, der primär durch die Kreuzestheologie des Apostels bestimmt ist; und für Paulus selbst dürfte es auch zutreffen, dass es sich hier, indem Gott ja nicht mit jener ›Tiefe‹ identifiziert wird, nicht wie in der Gnosis um eine ›ontologische‹ Gottesbezeichnung handelt. Darüber hinaus kann man, was die Besonderheit dieser Aussage von 1 Kor 2,10 in ihrem Kontext betrifft, auf den wiederum theologischen Gebrauch des fraglichen Terminus im Römerbrief des Paulus verweisen, wo Röm 11,33 ganz in Entsprechung zur Rede von der »Tiefe der Geheimnisse [Gottes]« in den Qumrantexten (1 QS XI ,17–19), zur Bezeichnung der Unerforschlichkeit der Ratschlüsse Gottes steht. Solches Verständnis von 1 Kor 2,10 liegt umso näher, als Röm 11,33 in 11,34 mit dem Zitat Jes 40,13 (LXX ) verbunden wird, das auch im Kontext von 1 Kor 2,10 in 1 Kor 2,16 gebraucht wird; gleichwohl ist die Problematik der Rezeption einer solchen Redeweise des Paulus offensichtlich, und dies zumal dort, wo solche Redeweise in einem gegenüber dem ursprünglichen ›Sitz im Leben‹ von 1 Kor 2,10 veränderten Kontext eine gänzlich andersartige Konnotation gewinnt – und genau dies ist der Fall, wenn die singuläre Rede des Paulus von den ›Tiefen Gottes‹ in 1 Kor 2,10 in der Rezeption der frühchristlichen Gnosis einen gleichsam abgründigen Sinn gewinnt, und zwar nicht nur in einer besonderen Zuspitzung bei den Apk 2,24 genannten ›Nikolaiten‹, hier i.S. der Erkenntnis der ›Tiefen des Satans‹, sondern auch dort, wo in den Schriften der Schulen der Naassener, der Valentinianer wie auch bei Basi743 So H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, S. 90, sowie W. Ullmann, Die Gottesvorstellung der Gnosis, S. 388: 1 Kor 2 ist »als wichtiges Zeugnis für das Entstehungsmilieu der Gnosis zu werten«. 744 Vgl. H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, S. 91: » eignet sich besonders gut zur Aufnahme durch die Gnosis«. 745 Oder handelt es sich bei den Apk 2,24 erwähnten »Tiefen des Satans« nur um einen ›Sarkasmus‹ für die ›Tiefen Gottes‹? Vgl. die Kommentare von W. Bousset, H. Kraft und J. M. Ford zur Stelle.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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lides die »Erkenntnis der Tiefen Gottes« zu einem exklusiven Privileg des ›Gnostikers‹ gerät: »Sie nennen sich selbst Gnostiker, weil sie der Meinung sind, dass sie allein die ›Tiefen Gottes‹ erkennen«746. Für Irenäus gehört zu jenen »tiefen Mysterien«, die »nicht alle zu fassen imstande sind«747, auch das Wissen um jene ›Tiefen‹ Gottes. Während die Gnostiker aber für sich in Anspruch nehmen, »die Tiefen Gottes erforscht zu haben«748, ist für Irenäus dem gegenüber die Einsicht bestimmend, dass »die vollkommene Erkenntnis« Gott selbst überlassen bleibt: perfectam scientiam et tales quaestiones concedamus Deo, damit wir nicht, solange wir noch in dieser Welt sind, Gefahr laufen, gar die Frage zu stellen, an super Deum alter est Deus749. Gerade das also, was nach des Irenäus Meinung Gott selbst überlassen sein sollte, gerät für die Gnostiker zum eigentlichen Thema ihrer Gnoseologie und damit auch zum Thema ihrer Soteriologie, wie Irenäus sie Adv. Haer. I 21,1 ff. referiert: Sie, die Gnostiker, »sind der Meinung, dass die Erlösung für alle, die [bereits] die ›vollkommene Erkenntnis‹ erlangt haben, damit sie in die ›Kraft, die über allen Kräften ist‹ wiedergeboren werden«: auf anderer Weise nämlich ist es »unmöglich in das Pleroma einzugehen«. Und die entscheidende Aussage in diesem Zusammenhang: Solche ›Erlösung‹ allein ist es, die hinabführt und so zur ›Vollendung‹ ( ) gelangen lässt. Die Besonderheit solcher Soteriologie: Die ›Tiefe‹ Gottes gerät hier geradezu zu einer Bezeichnung Gottes selbst: Gott selbst ist, wie dies auch Hippolyt in seinem Referat über Valentinus, Herakleon und Ptolemäus formuliert hat, »der ungezeugte Vater und das Prinzip aller 750. Dinge und die Wurzel« Nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang auch, was die gnostischen Originalschriften von Nag Hammadi betrifft, auf den theo-logischen Gebrauch des Terminus bzw. im sog. Evangelium veritatis (NHC I/3 bzw. XII /2) sowie im Tractatus tripartitus (NHC I/5) hinzuweisen. Angesichts dessen, dass Hippolyt den Gebrauch dieser Gottesbezeichnung auf Valentinus zurückführt751, könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass beide Schriften – trotz erheblicher Zweifel in dieser 746

So Hippolyt, Ref. V 6,4. Irenäus, Adv. Haer., Praefatio 1 zu Lib. II sowie I 4,3. Adv. Haer. II 28,7, die einzige Stelle im Übrigen, an der von Irenäus 1 Kor 2,10 wörtlich zitiert wird. Ansonsten referiert Irenäus nur die Meinung der Gnostiker in dieser Hinsicht: II 22,3; 28,9 sowie II 17,9; 22,3; IV 20,4 und 33,3. Zu den Vorbehalten des Irenäus gegenüber dem Verständnis von 1 Kor 2,10 bei seinen gnostischen Kontrahenten vgl. auch A. LeBoulluec, La notion d’hérésie, S. 139 f. unter der Überschrift: »Chercheurs ridicules«. 749 Adv. Haer. II 28,8. Vgl. aber auch bereits II 28,7: agnitionem hanc concedendm esse deo … Ex parte quidem cognoscimus et ex parte prophetamus [1 Kor 13,9]. Sicut igitur ex parte cognocimus, sic de universis quaestionibus concedere oportet ei qui ex parte nobis praestat gratiam. 750 Hippolyt, Ref. VI 30,7. Vgl. auch VI 34,7, hier mit Bezugnahme auf Eph 3,14 ff. und speziell im Anschluß an Eph 3,18: »… damit ihr zu erkennen befähigt werdet, was es um die Tiefe ( ) des Vaters aller Dinge ist«. 751 Ref. VI 29 ff., hier besonders 30,6 und 37,5. 747 748

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Hinsicht752 – ebenfalls auf Valentinus oder doch jedenfalls auf seine Schule zurückzuführen sind. Ein ausdrücklicher Bezug auf 1 Kor 2,10 liegt zwar nicht vor, jedoch erfährt die Rede von der ›Tiefe Gottes‹ bzw. von der ›Tiefe‹, die Gott selbst ist, eine nachdrückliche Bestätigung: So besonders deutlich im »Evangelium Veritatis«, wenn es hier (p. 22,25 ff.) heißt: »… wegen der Tiefe ( ) des Einen, der jeden Raum umfaßt, während es keinen [Raum] gibt, der ihn umfasst«; oder wenn p. 35,10 ff. von der Grenzenlosigkeit Gottes die Rede ist: »Aber die Tiefe des Vaters wurde umso größer, und der Gedanke der Verirrung war nicht bei ihm«, und wenn schließlich p. 40,26 f. Gott als derjenige bezeichnet wird, »der aus der Tiefe gekommen ist«. Ganz in diesem Sinne bezeugt endlich auch der Tractatus tripartitus (p. 55,26 ff.) die absolute Transzendenz Gottes: »Er übersteigt alle Weisheit, [und er ist] über aller Vernunft … und aller Größe und aller Tiefe und aller Höhe«, was zugleich heißt (p. 60,18 ff.), dass seine Gedanken »in der verborgenen Tiefe« sind.

Gleichviel, ob die genannten Schriften aus der Bibliothek von Nag Hammadi auf die Schule der Valentinianer zurückzuführen sind753, bleibt am Ende nur noch die Frage zu beantworten, ob solche Rede von der »Tiefe« Gottes als Ausdruck der absoluten Transzendenz Gottes auf Valentinus selbst zurückzuführen ist oder ob es sich hierbei nur um ein Mißverständnis seiner Schüler handelt? – mit dem Ergebnis: »Valentinus war noch kein Valentinianer«?754 Was dabei die von Valentinus selbst überlieferten Fragmente betrifft, so ist das Ergebnis der Analyse in dieser Hinsicht zunächst negativ755. Immerhin liegt ein Ansatz zu einer ursprünglich valentinianischen ›Theologie der Tiefe‹ im sog. Psalm des Valentinus vor, den Hippolyt, Ref. VI 37,7, überliefert hat: Am Ende dieses Psalms heißt es: eine Formulierung freilich, die in der Tat eher an ein »Erntelied« oder auch an einen »Psalm in der Tradition 752 Dies gilt vor allem im Blick auf die Frage nach der Identität des Evangelium veritatis von Nag Hammadi mit dem von Irenäus, Adv. Haer. III 11,9 erwähnten valentinianischen »Evangelium der Wahrheit«. 753 Die Urteile in dieser Hinsicht gehen nach wie vor auseinander: Während die Herausgeber des »Evangeliums der Wahrheit« im ersten Band der »Coptic Gnostic Library« (NHS XXII , Leiden 1985), H.W. Attridge und G.W. McRae noch urteilten, »that the two ›Gospels of truth‹ are identical remains a distinct possibility« (a.a.O., S. 65 f.), urteilt C. Markschies, Valentinus Gnosticus? S. 339–356, sehr entschieden: »Die genannten Unterschiede zwischen Valentins authentischen Texten und dem EV schließen eine Zuschreibung des Nag-HammadiTextes an Valentinus aus«. Demgegenüber gesteht H.-M. Schenke (in: Nag Hammadi Deutsch I, S. 31) dem Text wenigstens gewisse »Verbindungslinien« zu den eindeutig valentinianischen Texten bzw. Darstellungen valentinianischer Lehren zu. Am Ende urteilt freilich auch er: »Aber wissen und sehen können wir das nicht …«. Demgegenüber spricht J. Helderman (in: ANRW II 25.5, S. 4101) von einer »weitgehenden communis opinio … wonach Valentinus selbst das EV in Rom geschrieben hat …«. 754 So C. Markschies, Die Krise einer philosophischen Bibeltheologie, S. 5 sowie ebd., S. 26 ff.: »Valentins Schüler und ihr Missverständnis« – letzteres nämlich in dem Sinne, dass der Schritt von Valentinus selbst zu seinen Schülern zugleich der Schritt von einer »philosophischen Bibeltheologie zum häretischen Kunstmythos« gewesen sei. 755 C. Markschies, Valentinus Gnosticus? S. 11–290; ders., Die Krise einer philosophischen Bibeltheologie, S. 5: »Valentin war noch kein Valentinianer, Valentin war im herkömmlichen Sinne auch kein Gnostiker«.

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alttestamentlicher Schöpfungspsalmen« denken lässt756, als an eine Anspielung auf jene ›Tiefe‹ im abgründigen Sinne. Gleichwohl ist, was die Schüler des Valentinus betrifft, nicht auszuschließen, dass für sie der Terminus der ›Tiefe‹ eine theologische Konnotation in sich schloß757, Anlass also, die auf ihren Lehrer zurückgehende Metaphorik der ›Tiefe‹ nun ihrerseits in eine bis in die äußerste ›Tiefe‹ reichende ›Erkenntnistheorie‹ zu übersetzen und auf diese Weise ihrer Art der Rede von ›Gott‹ eine besondere geheimnisvolle Tiefendimension zu verleihen758.

Was in der biblisch-jüdischen Überlieferung die dem Menschen unzugängliche ›Tiefe‹ der verborgenen Ratschlüsse Gottes bezeichnet759, gewinnt also hier, in der frühchristlichen Gnosis, eine gleichsam ›abgründige‹ Dimension: Es ist nunmehr eine ›Tiefe‹, die allein der Erkenntnis des Gnostikers zugänglich ist – für Irenäus Anlaß genug, bereits in der Praefatio zu Beginn seines ersten Buches solche Art von Gnoseologie einen ›Abgrund von Unsinn‹ ( ) zu nennen – und damit zugleich als ›Gotteslästerung‹. Gleichwohl: eine gewisse Ambivalenz der Sprache des Paulus in 1 Kor 2,10 in Richtung auf die Rezeption der Gnostiker des zweiten Jahrhunderts ist nicht zu übersehen. Und es ist eben diese ›Ambivalenz‹, die es nachvollziehen lässt, wenn G. Theißen 1 Kor 2,6–16 in eine religions- und traditionsgeschichtliche »Entwicklungslinie« eingefügt hat, die »von der alttestamentlichen Weisheit bis hin zur gnostischen Sophia-Spekulation führt«760. Grundsätzlich entsprechendes gilt dann freilich auch im Blick auf die gnostische Rezeption des an 1 Kor 2,10 unmittelbar anschließenden Textund Sachzusammenhangs, der – nunmehr im Rahmen einer spezifisch gnostischen Anthropologie – eine wesentliche Rolle gespielt hat: Entsprechendes gilt auch im Kontext einer durch den jeweiligen ›Ursprung‹ determinierten Anthropologie – konkret also im Kontext der gnostischen Lehre von den drei ›Menschenklassen‹: Dies freilich nur ›um den Preis‹, dass die von Paulus selbst gerade in diesem Zusammenhang gesetzten theo-logischen Akzente letztlich außer Betracht bleiben; theologische Akzente nämlich in dem Sinne, 756 C. Markschies, Valentinus Gnosticus? S. 258 f. – Zum Fragment 8 insgesamt vgl. auch B. Herzhoff, Zwei gnostische Psalmen, S. 56 ff., sowie J. Holzhausen, Ein gnostischer Psalm? S. 67–80. 757 So J. Holzhausen, a.a.O., S. 74. Zur Formulierung »aus der Tiefe« vgl. auch Hippolyt, Ref. VI 30,7; 38,5; X 13,1. – Zur Frage einer Paulus-Rezeption im Fragment 4 vgl. C. Markschies, Valentinus Gnosticus? S. 132 ff. 758 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Rede des Clemens Alexandrinus, Strom. V 88,5, von den »Tiefen der Erkenntnis«. Die Ambivalenz des Terminus zeigt sich nicht zuletzt auch im analogen Gebrauch von und in Sap Sal 10,19 und Sir 24,5 (LXX ). 759 Vgl. z.B. TestHiob 37,6 f.; »Wer vermag jemals die ›Tiefen‹ des Herrn und seiner Weisheit zu erfassen?«; syrBar 14,8 f.; aethHen 63,2 f. sowie 1 QS XI 18 ff., hier jeweils von der »Tiefe der Geheimnisse Gottes«. 760 G. Theissen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, S. 349. Ebd., S. 350: »Paulus ist irgendwo zwischen traditioneller Weisheit und gnostischer Sophia einzuordnen, ja, er dürfte ein wichtiger Faktor in dieser Entwicklung gewesen sein«; zur Frage der Relation Paulus – Gnosis generell ebd., S. 388 f.: »In 1. Kor 2,6–16 spüren wir etwas von dieser ›gnostischen‹ Faszination. Jedoch ist Paulus kein Gnostiker …«.

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dass der »Besitz des Geistes«, der den ›Pneumatiker‹ ausmacht, sich allein der Gabe Gottes verdankt – so bereits 1 Kor 2,9: »… was Gott bereitet hat, denen die ihn lieben« sowie im Anschluß daran 1 Kor 2,10: »Uns aber hat Gott [es] offenbar gemacht durch den Geist«, eine Grundaussage, die schließlich in V. 12 einmündet: »Wir aber haben nicht den ›Geist der Welt‹ empfangen, sondern den Geist, der in Gott seinen Ursprung hat, damit wir erkennen, was uns von Gott geschenkt worden ist«. Insoweit ist dieser Passus zunächst durchaus in seinen genuin paulinischen Kontext integriert761. Gleichwohl ist in den folgenden im engeren Sinn ›anthropologischen‹ Ausführungen (1 Kor 2,13–15) eine gewisse Akzentverschiebung kaum zu übersehen: Mag die ›Logik‹ des Apostels zunächst »spezifisch ungnostisch« erscheinen762, so ist doch nicht auszuschließen, dass Paulus bei der hier vorliegenden Gegenüberstellung der ›Pneumatiker‹ einerseits und der ›Psychiker‹ andererseits – wozu 1 Kor 3,1 ff. noch eine Gegenüberstellung der ›Pneumatiker‹ einerseits und der ›Sarkiker‹ andererseits kommt(!) – bewußt die Terminologie seiner Kontrahenten in der korinthischen Gemeinde aufnimmt763, möglicherweise mit der Absicht, auf diese Weise gleichsam »von innen her«, durch die Einbeziehung solcher Terminologie in einen primär theo-logisch geprägten Kontext, deren Position zu relativieren. In der Tat fehlt hier, was jene gnostische Lehre von den drei ›Menschenklassen‹ betrifft, nur noch die Rede vom – ein ›Mangel‹ freilich, der sich für einen ›bibelfesten‹ gnostischen Exegeten mühelos durch den Bezug auf die entsprechende Terminologie des Paulus im selben 1. Korintherbrief (15,47 f.) gleichsam »ergänzen« lässt764. Auch wenn die Frage nach dem »religionsgeschichtlichen Hintergrund« der hier, in 1 Kor 2,13–15, von Paulus benutzten Terminologie beim gegenwärtigen Stand der Forschung gewiß nur mit Vorbehalt auf einem spezifisch gnostischen Hintergrund zu beantworten ist, so ist doch in jedem Falle offensichtlich, dass der Apostel eine ›Terminologie dualistischer Anthropologie‹ rezipiert765. Vorausgesetzt ist hier, und zwar für den betonten Gegensatz ›pneumatisch – psychisch‹, eindeutig bereits eine »Verschärfung der Offen761 Vgl. M. Winter, Pneumatiker und Psychiker in Korinth, S. 217, sowie R. Baumann, Mitte und Norm des Christlichen, S. 235. 762 So H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, S. 94: »Die Logik bei Paulus ist spezifisch ungnostisch: Die These wird nicht aus der Beschaffenheit des Menschen begründet, sondern aus der Begegnung mit der Offenbarung«. 763 So M. Winter, Pneumatiker und Psychiker in Korinth, S. 220.229 sowie S. 230 f., hier i.S. der »Abhängigkeit des Paulus von gnostischer Terminologie«. In diesem Sinne auch W. Schmithals, Die Gnosis in Korinth, S. 143: »Was in 2,6–3,1 ff. steht, könnte die präzise Darstellung eines Gnostikers sein«! 764 Zur Problematik der Terminologie in 1 Kor 15,44 ff. vgl. die Kommentare, besonders W. Schrage, EKK VII /4, S. 272 ff. und S. 306 ff. zu 1 Kor 15,46 f. 765 So W. Schrage, EKK VII /4, S. 264. Ebd., S. 263: »Bei scheint der Einfluss gnostischen Sprachgebrauchs mit Händen zu greifen. Nirgendwo sonst ist die Psyche derart disqualifiziert worden wie in der Gnosis«.

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barungsweisheit zum Weisheitsdualismus«766. Und konkret würde dies zunächst speziell im Blick auf den ›Psychiker‹ heißen, dass damit der gleichsam ›natürliche‹ Mensch bezeichnet wird. Wie aber steht es um das Verhältnis dieses ›Psychikers‹ zum ›Pneumatiker‹? Setzt eine solche Terminologie nicht am Ende doch ein gleichsam ›naturhaftes‹ Verständnis der Anthropologie voraus? – der ›Psychiker‹ also ebenso wie der ›Choiker‹ der Nicht-Gnostiker – und in diesem Sinn zugleich der ›heil-lose‹ Mensch? Und nicht zuletzt in solchem Kontext: Auch und gerade für diese anthropologische Differenzierungen in 1 Kor 2,13 ff. gilt doch auch jene ›Überschrift‹ von 1 Kor 2,6 f., nämlich: »Weisheit reden / verkünden wir für die ›Vollkommenen‹«, und das heißt doch: »Gottes [eigene] Weisheit«, die – als solche – »im Mysterium verborgen« am Ende eben Weisheitslehre allein für »die Vollkommenen« ist. Wie es im Einzelnen auch immer, was Paulus selbst betrifft, um diesen Textzusammenhang bestellt sein mag – keiner Frage bedarf es, dass dieser Textzusammenhang bereits auf Grund der ihm eigenen Terminologie die denkbar günstigsten Voraussetzungen für eine spezifisch gnostische Lesart bot, für eine Lesart also i.S. einer dichotomischen bzw. trichotomischen Anthropologie, wie sie schließlich in der valentinianischen Gnosis zutage getreten ist, hier nunmehr auf Grund eines ›naturhaften‹ Verständnisses der paulinischen Anthropologie i.S. einer Lehre von den drei ›Menschenklassen‹767. Die frühchristlichen Gnostiker jedenfalls haben sich bei ihrer Art von Schriftauslegung im Blick speziell auf das Thema der Anthropologie mit Vorliebe auf den Apostel Paulus berufen, auf den Apostel als den Träger und Vermittler göttlicher ›Geheimnisse‹. Das solus Paulus des Irenäus, Adv. Haer. III 13,1, hat hier offensichtlich durchaus seine Berechtigung, wenn diejenigen Gnostiker, die der Meinung sind, »dass Paulus allein die Wahrheit erkannt« hätte, ihre Hochschätzung des Apostels (mit Bezugnahme auf Eph 3,3) damit begründen, dass eben ihm, dem Paulus, per revelationem manifestatum est mysterium – Paulus in diesem Sinn zugleich der Typus des ›Pneumatikers‹. Bei ihm also vor allem ›fanden‹ sie, was sie in der Schrift ›suchten‹; die Offenbarung nämlich der ›Geheimnisse‹ von Wesen und Eigenart des Menschen … Im Urteil des Irenäus freilich ist dies alles, was seine gnostischen Kontrahenten in dieser Hinsicht lehrten, nur ein weiterer Beweis dafür, dass sie von dem, was Paulus selbst gesagt und geschrieben hat, »ganz und gar nichts verstehen«: in totum non intelligentibus, dass sie vielmehr 766 So G. Theissen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, S. 357. Zur Frage einer Ableitung dieser Terminologie aus der Gnosis ebd.: »Die gnostischen Parallelen sind jünger und setzen oft schon 1 Kor 2 voraus«. Demgegenüber wiederum A. Lindemann in seinem Kommentar (HNT 9/1), S. 72: »Der hier von Paulus festgestellte Gegensatz begegnet sonst nur in der Gnosis, so dass die Wahrscheinlichkeit der Herleitung aus dem Umfeld früher Gnosis am wahrscheinlichsten ist«! 767 Vgl. in diesem Sinne U. Wilckens, Weisheit und Torheit, S. 89 ff.; vgl. auch M. Winter, Pneumatiker und Psychiker in Korinth, S. 215.

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mit ihrer Art von Paulus-Verständnis am Ende nur ihre dementia insensationis unter Beweis stellen768. Trotz solcher scharfen Polemik lässt das »Referat« des Irenäus immer noch deutlich genug die Grundlinien der Paulus-Rezeption seiner Kontrahenten erkennen: Nach seinem Zeugnis in Adv. Haer. III 2,1 steht das, was im zweiten Kapitel des 1 Kor zum Thema der Anthropologie im Sinn seiner Kontrahenten ausgeführt wird, unter dem Vorzeichen von 1 Kor 2,6 und damit unter dem Vorzeichen einer »Weisheit für die Vollkommenen«. Irenäus nun fügt dem Zitat von 1 Kor 2,6 noch hinzu, dass man, auch i.S. seiner Kontrahenten, »die Wahrheit [aus der Schrift] nur finden kann, wenn man die Überlieferung kennt«: quia non possit ex his [scripturis] inveniri veritas ab his qui nesciant traditionem. Diese »Überlieferung« der Gnostiker ist nun nicht i.S. des Irenäus die regula veritatis, sondern eine geheime Überlieferung, die als solche nur per vivam vocem weitergegeben wird. Dies schließt im Übrigen nicht aus, dass Irenäus anderenorts (Adv. Haer. I 20,1) von einer »unzählbaren Menge von Apokryphen«, d.h. von »geheimen und gefälschten Schriften« spricht. Im Vordergrund steht hier jedoch das Thema einer mündlichen Geheimüberlieferung, weshalb denn auch, so die Argumentation des Irenäus, bereits der Apostel Paulus selbst gesagt hat: Sapientiam autem loquimur inter perfectos, sapientiam autem non mundi huius. Kritisch fügt Irenäus diesem Referat der Position seiner Gegner sogleich hinzu: Et hanc sapientiam unusquisque eorum esse dicit quam a semetipso adinvenerit, fictionem videlicet, eine ›Fiktion‹ nämlich, die in unterschiedlichen Variationen »bald bei Valentinus, bei Marcion, bei Kerinth wie auch bei Basilides« zu finden ist und angesichts solcher Variationen zugleich die ›Perversion‹ jener gnostischen Auffassung von der ›Wahrheit‹ bestätigt: Unusquisque enim ipsorum omnimodo perversus semetipsum, regulam veritatis depravans, praedicare non confunditur … (Adv. Haer. III 2,1). Paradigmatisch für solche Perversion der Schrift im Blich auf das Thema der Anthropologie steht vor allem das Zeugnis des Irenäus von der valentinianischen Lehre von den drei ›Menschenarten‹ in Adv. Haer. I 8,3, ein Zeugnis im Übrigen, dem »ein hohes Maß von paulinischer Exegese aus dem 1. Korintherbrief« bescheinigt worden ist769. Nachdem Irenäus an dieser Stelle diese besondere Art gnostischer Anthropologie anhand bestimmter Schriftstellen aus den Evangelien bis hin zum Gleichnis vom »Sauerteig« 768 Adv. Haer. IV 41,4. Vgl. auch III 14,1: »Die Häretiker brüsten sich damit, von Paulus die abscondita et inenarrabilia … sacramenta erlernt zu haben«. In diesem Zusammenhang ist auch die den Apostel als ›Pneumatiker‹, ja als Ekstatiker kennzeichnende Überlieferung von 2 Kor 12,2–4 zu nennen, die – gewiß nicht zufällig – mehrfach in gnostischen Schriften begegnet: Vgl. neben Irenäus, Adv. Haer. II 30,7 f. und Epiphanius, Haer. XXXVIII 2,4 besonders Hippolyt, Ref. V 8,24–26, wo zwischen den »unaussprechlichen Worten« von 2 Kor 12 und der »Mysterienrede« von 1 Kor 2,6 ff. ein direkter Zusammenhang hergestellt wird. 769 So J. Frickel, Naassener oder Valentinianer?, S. 99, Anm. 12.

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(Mt 13,33 par) dargelegt hat770, kommt er schließlich auch auf die entsprechende Paulus-Rezeption der Gnostiker zu sprechen, hier nunmehr mit ausdrücklichem Bezug auf 1 Kor 2,14 f. (und 15,48): Auch Paulus habe ja ausdrücklich von den ›Choikern‹, den ›Psychikern‹ und den ›Pneumatikern‹ gesprochen: Dementsprechend sei der ›choische‹ Mensch von 1 Kor 15,48 auf das Genus der ›Choiker‹ zu beziehen, der ›psychische‹ Mensch von 1 Kor 2,14 auf das Genus der ›Psychiker‹ und endlich die Rede von 1 Kor 2,15 – »ein Pneumatiker urteilt über alles« – auf das Genus der ›Pneumatiker‹. Diesem Grundschema der gnostischen Anthropologie wird schließlich auch des Apostels Rede von der ›Erstlingsgabe‹ und vom ›Teig‹ in Röm 11,16 zugeordnet: ›Erstlingsgabe‹ ( ) meint i.S. der gnostischen Ausleger ›das Geistliche‹, der ›Teig‹ dagegen die ›psychische Kirche‹, d.h. die durch Irenäus repräsentierte frühkatholische Kirche. Gleichwohl ist, was Irenäus hier (Adv. Haer. I 8,3) referiert, eine gleichsam konziliante Gestalt der valentinianischen Lehre von den drei ›Menschenklassen‹, die als solche der Stellung der ›Psychiker‹ in der Mitte ( ) zwischen den ›Pneumatikern‹ einerseits und den ›Choikern‹ andererseits eine gewisse Sonderstellung beimisst771. Konkret wird dies von Irenäus in Adv. Haer. I 6,1 ausgeführt: »Das ›Psychische‹, das sie auch das ›Rechte‹ nennen, weil es mitten zwischen dem ›Pneumatischen‹ (einerseits) und dem ›Materiellen‹ (andererseits) liegt«, hat dementsprechend auch die Möglichkeit bzw. die Freiheit, »sich dorthin zu begeben, wohin seine Neigung geht«. Diese Position setzt also, was speziell die ›Psychiker‹ betrifft, ein gewisses Maß von Entscheidungsfreiheit ( ) voraus, was freilich zugleich bedeutet, dass das Pneumatische Genus eine gleichsam ›pädagogische‹ Aufgabe am Psychischen Genus hat bzw. geradezu dazu »ausgesandt« ist, »in Verbindung mit dem ›Psychischen‹ und in gemeinsamer Erziehung mit ihm während des Aufenthaltes [in der Welt] eine ›Gestaltung‹ [des ›Psychischen‹] zu leisten. Und das ist nach ihnen das ›Salz‹ und das ›Licht der Welt‹«. Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Relativierung einer allzu starren, allein an der ›Natur‹ des jeweiligen Genus orientierten gnostischen Anthropologie, zumal jene Annäherung des ›Psychikers‹ an den ›Pneumatiker‹ nicht zuletzt am jeweiligen ›Wandel‹ des ›Psychikers‹ orientiert ist. Eine gewisse Analogie zur Auffassung des Irenäus selbst ist hier nicht zu übersehen, wenn Irenäus in Adv. Haer. V 9,1 auch seinerseits der ›Seele‹ eine Art Mittelstellung zwischen dem ›Geist‹ und dem ›Fleisch‹ zuweist: Sie, die ›Seele‹, hat die Möglichkeit, dem ›Geist‹ zu folgen oder ›dem Fleisch zuzustimmen‹ (consentire carni). Kritische Anfragen an jene Position der Gnostiker von einer ›Mittelstellung‹ der ›Psychiker‹ zwi770 Zur entsprechenden Auslegung bestimmter Gleichnisse der synoptischen Evangelien s.o. Kap. 4 (261 ff.). 771 M. Winter, Pneumatiker und Psychiker in Korinth, S. 196, spricht in diesem Sinn, was die Stellung der Psychiker »in der Mitte« betrifft, von den Valentinianern als »Vermittlungstheologen«.

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schen den ›Choikern‹ und den ›Pneumatikern‹ werden – nach Irenäus, Adv. Haer. III 15,2 – von den Gnostikern im Übrigen mit dem Hinweis beantwortet, dass der Fragesteller auf diese Weise selbst zu erkennen gibt, dass er lediglich jener ›mittleren‹ Region der ›Psychiker‹ zugehört. Solche Differenzierungen hinsichtlich der gnostischen Anthropologie, wie sie sich aus dem Referat des Irenäus erkennen lassen, ändern freilich nichts an seinem Urteil, dass es nach der Auffassung seiner gnostischen Kontrahenten am Ende doch nur die ›Pneumatiker‹ sind, die ›die vollkommene Erkenntnis‹ haben (Adv. Haer. I 6,1), während die ›Psychiker‹, wie es im Folgenden (Adv. Haer. I 6,2) heißt, lediglich in ›psychischen Dingen‹ unterwiesen worden sind – und d.h. zugleich: Die ›Psychiker‹, das sind jene Leute, die lediglich »durch Werke und durch den bloßen Glauben befestigt worden sind und [dementsprechend auch] nicht im Besitz der vollkommenen Erkenntnis sind«. Die hier immerhin naheliegende Frage, ob solche Auslegung, was jedenfalls Adv. Haer. I 8,3 betrifft, »auch nur entfernt« dem paulinischen Sinn der von Irenäus angeführten Belege entspricht, darf wohl nicht nur ›füglich‹ bezweifelt werden772. Hier handelt es sich vielmehr um ein Missverständnis der von Paulus in 1 Kor 2,6–16 entfalteten theologischen Anthropologie, das, wie bereits E. Dassmann mit Recht betont hat773, allein »durch die gnostische Exegese« zu erklären ist, durch die Auslegung also der in 1 Kor 2 entfalteten paulinischen Anthropologie unter einem gnostischen Vorzeichen. Entsprechendes gilt auch im Blick auf die Ausführungen des Irenäus, Adv. I 7,5, über die drei ›Arten‹ von Menschen, mit dem Unterschied nur, dass hier diese drei Menschenarten, was ihren jeweiligen Ursprung betrifft, mit der biblischen Überlieferung von Kain, Abel und Seth in Verbindung gebracht werden774, auch hier wiederum mit der Betonung einer ›Wahlfreiheit‹ der ›Psychiker‹ in ihrer Mittelstellung zwischen den ›Choikern‹ einerseits und den ›Pneumatikern‹ andererseits: Das ›Psychikon‹ wird, unter der Voraussetzung jedenfalls, dass es »das Bessere erwählt«, »am mittleren Ort zur Ruhe kommen«775. Während also die ›Pneumatiker‹ einerseits und die ›Choiker‹ andererseits jeweils durch ihr ›Wesen‹ ( ) determiniert sind, markiert der ›Psychiker‹ im Sinne gnostischer Paulus-Rezeption »das umstrittene Gelände« gnostischer Anthropologie776. Die Stellungnahme des Irenäus zu solcher Art von Paulus-Rezeption unter gnostischem Vorzeichen ist eindeutig: In all’ solchen Ableitungen aus den 772 So E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch, S. 214. Vgl. ebd., S. 216 f.: »Solche Auslegung erlaubt aber die Einfügung jeder Schriftstelle in das vorgegebene gnostische System«. 773 E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch, S. 215. 774 Vgl. in diesem Sinne auch Exc. ex Theod. 54, 1–3 sowie Tertullian, Adv. Valentinianos 29. 775 Zur Stellung der Psychiker »in der Mitte« zwischen den Choikern bzw. Hylikern einerseits und den Pneumatikern andererseits vgl. auch A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 254 f. (Anm. 32) sowie S. 334 und 351. 776 A. Dihle, Art. , in: ThWNT IX , S. 658, Z. 46 f.

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Briefen des Apostels kann Irenäus nichts anderes als einen Missbrauch der Schrift erkennen, der in seiner eigenen Art auch eindeutig definiert werden kann, unter der Voraussetzung nämlich der den Gnostikern ursprünglich eigenen ›Hypothese‹, die die ›Heiligen Schriften‹ der rechtgläubigen Kirche »versetzt und verformt« (Adv. Haer. I 8,1). Grundlegend für solchen Missbrauch der Schrift ist am Ende deren ›Anpassung‹ an die den Gnostikern eigenen Vorstellungen, damit, wie Irenäus formuliert, »ihr eigenes Gebilde ( ) nicht ohne jegliche Bezeugung in Erscheinung trete …«777. Grundsätzlich auf derselben Linie liegt auch die Paulus-Rezeption der Gnostiker nach dem Zeugnis des Hippolyt: »Man erkennt«, wie bereits G. Heinrici festgestellt hat778, »durchweg das Bestreben, die Gnosis auf biblischen Boden zu verpflanzen, ohne dass dasselbe über eine veräußerlichte Verknüpfung von Schrift und Gnosis thatsächlich sich zu erheben vermag«. Formaler Ausdruck eines solchen exegetischen Verfahrens ist es, dass der gnostische ›Lehrsatz‹ jeweils an erster Stelle steht und erst sekundär vermittels bestimmter Zitierweisen zu der Schrift in eine Beziehung gesetzt wird: »… Dies ist, was in der Schrift geschrieben steht« oder auch: »Deswegen sagt der Soter …«. Solches Verfahren hat zur Folge, dass – so wiederum G. Heinrici779 – »nicht das [gnostische] System nach der Schrift, sondern die Schrift nach dem System normirt wird«, also gleichsam als eine nachträgliche Bestätigung der ursprünglichen gnostischen Wahrheit. Das Ergebnis eines solchen methodischen Verfahrens ist, dass der Apostel Paulus zum (nachträglichen!) Zeugen für die ursprüngliche geheime Überlieferung der Gnostiker wird780. Nach dem Zeugnis des Hippolyt gilt dies vor allem für die von ihm in Ref. V 6,4–10,2 zitierte ›Naassenerschrift‹: Hier wird zunächst aus dem Römerbrief des Paulus der Textzusammenhang Röm 1,20–23.26 f. zitiert und daran die Überlegung geknüpft: »In diesen Worten, die Paulus gesagt hat, um darin ihr, der Gnostiker, ganzes unaussprechliches Geheimnis zusammenzufassen …«781. Was speziell die Korintherbriefe des Paulus betrifft, so ist in diesem Zusammenhang besonders Ref. V 8,25 f. hervorzuheben: Hier wird – wie bereits bei Irenäus782 – jener Bericht des Apostels von seiner 777 Zur impliziten Auseinandersetzung des Irenäus mit der gnostischen Anthropologie vgl. auch Adv. Haer. V 6–8 und dazu R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpret, S. 278 ff.: »Der pneumatische und der sarkische Mensch – eine anthropologische Grundlegung«. Nach seinem Urteil handelt es sich hier um denjenigen »Abschnitt des irenäischen Werkes, der die dichteste und eindringlichste Paulus-Rezeption aufweist« (S. 278). 778 G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die Heilige Schrift, S. 46 f., hier auch zu den Entsprechungen nach dem Zeugnis des Irenäus (Adv. Haer. I 8,1 und 9,4). 779 G. Heinrici, a.a.O., S. 47. 780 Th. Zahn, Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I/2, S. 765. 781 Ref. V 7,19. Dazu J. Frickel, Hellenistische Erlösung in christlicher Deutung, S. 132 mit Anm. 652: »Dieser Passus, der 2 Kor 12,2–4 und 1 Kor 2,13.14 zu einer Einheit verbindet, gibt die Begründung für die in 7.16.19 gezollte Hochschätzung«. 782 Irenäus, Adv. Haer. II 30,7 f.S. dazu oben Anm. 768.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

›Entrückung‹ von 2 Kor 12,2–4 zitiert, woran sich unmittelbar mit der exegetischen Formel »dies ist / bedeutet« das Zitat von 1 Kor 2,13 f. anschließt. Im Sinne der gnostischen Naassener bedeutet dies, dass die von 2 Kor 12,4 unmittelbar auf die »geistgewirkte Rede« von 1 Kor 2,13 f. bezogen werden. Und in Bezug auf diese ›Mysterien‹ gilt der Exklusivanspruch der Naassener: Es sind, wie es bei Hippolyt heißt, jene »unaussprechlichen Mysterien, die wir [die Gnostiker] allein kennen«. In Ref. V 8,27 schließt sich daran unter der Überschrift »und dies ist / bedeutet das, was in der Schrift gesagt ist«, der Anspruch der Naassener an: Dies sind »die unaussprechlichen Mysterien, von denen wir allein wissen«. Dass in diesem gnostischen Kontext auch die mit der neutestamentlichen Gleichnisrede verbundene Formel »Wer Ohren hat zu hören, der höre« von Mk 4,9 parr verstanden wird, versteht sich, für die Gnostiker jedenfalls, von selbst: Diese Formel bedeutet für sie, dass »es keinen Hörer dieser Geheimnisse gibt – es sei denn die gnostischen Vollkommenen allein«. In diesem exklusiven Sinn nehmen also die Naassener für sich in Anspruch, in der Nachfolge des Apostels Paulus zu stehen: »Paulus ist, gerade wegen seiner Schau der himmlischen Geheimnisse … [der] Typus des Pneumatikers«783. Auf diese Weise gewinnen die Aussagen des Paulus in der Kombination von 1 Kor 2,13 f. und 2 Kor 12,2–4 durch ihre Einbeziehung in einen genuin gnostischen Kontext gleichsam ein ›gnostisches Eigenleben‹784. Entsprechendes gilt auch für das die paulinische Tradition aufnehmende exegetische Verfahren der Naassener nach Hippolyt, Ref. V 8,22, hier mit Bezug auf Eph 2,17: Die Wendung »Friede den Fernen« aus Jes 57,19 wird ganz im gnostischen Sinne auf die ›Hyliker‹ bzw. die ›Choiker‹ bezogen – und entsprechend die Wendung »Friede den Nahen« auf die ›Pneumatiker‹. Dem entspricht das exegetische Verfahren, wie Hippolyt es Ref. V 8,23 referiert, hier freilich im Blick speziell auf Joh 5,28 bzw. Mt 27,52 f.: Wenn es hier heißt, dass »die Toten aus ihren Gräbern herausgehen werden«, so bedeutet dies i.S. der Naassener, dass »aus den Leibern der Choiker die Pneumatiker … wiedergeboren werden«785.

Nach dem Referat des Hippolyt liegt die Paulus-Exegese der Valentinianer durchaus auf derselben Linie786: Von besonderem Interesse ist hier die den Epheser- und den 1. Korintherbrief verbindende Auslegung, wie sie Hip783 So J. Frickel, Naassener und Valentinianer, S. 98; ders., Hellenistische Erlösung in christlicher Deutung, S. 138: »Die von Paulus im ersten Korintherbrief gezogene Unterscheidung ist der klassische Schriftbeweis der Valentinianer für die psychische Menschengruppe im Rahmen ihrer Lehre von den drei Naturen geworden«. 784 Gegen O. Betz, Das Problem der Gnosis seit der Entdeckung der Texte von Nag Hammadi, S. 73. 785 Unsicher bleibt, ob an dieser Stelle in der Formulierung eine Anspielung auf 1 Kor 15,45 vorliegt. 786 Zur Fragestellung vgl. J. Frickel, Naassener oder Valentinianer? S. 119: »Man wird auf Grund der Ähnlichkeiten ihrer Exegesen folgern dürfen, dass Naassener und Valentinianer aus der gemeinsamen Tradition einerälteren christlichen Gnosis hervorgegangen sind«.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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polyt, Ref. VI 34,7 f., für Valentinus bezeugt: Hier wird unter der Überschrift »Dies ist …, was in der Schrift geschrieben steht« zunächst das Zeugnis des Epheserbriefs (3,14.16–18) vorgetragen und daran eine dem Wortlaut von Eph 3 folgende Auslegung angeschlossen: Der Eph 3,16 genannte ›innere Mensch‹ findet dabei – selbstverständlich – das besondere Interesse der gnostischen Ausleger, indem er mit dem ›psychischen‹ Menschen identifiziert wird, während sodann die in Eph 3,18 folgende Aufzählung, »welches [da] sei die Länge und Breite und Höhe und Tiefe« Zug um Zug gleichsam in das valentinianische Weltbild übertragen wird. Konkret heißt dies: Die ›Tiefe‹ steht für den ›Vater aller Dinge‹; die ›Breite‹ für den Stauros (als die ›Grenze des Pleromas‹), und die ›Länge‹ für das ›Pleroma der Äonen‹. Und in diesem Zusammenhang hat für die gnostischen Exegeten auch wiederum 1 Kor 2,14 seinen Ort: »deswegen [also] empfängt der Psychiker nicht den Geist Gottes, denn er gilt ihm als Torheit« – und ›Torheit‹, d.i. in diesem Kontext ja eben die ›Kraft des Demiurgen‹. Und schließlich: in diesen Zusammenhang wird Ref. VI 35,1 auch die Rede des ›Apostels‹ von Eph 3,4 f. eingefügt, das »Geheimnis« nämlich, »das den früheren Geschlechtern nicht kundgetan worden ist, weil keiner der Propheten von ihm gesprochen hat«, jenes »Geheimnis« aber, von dem »nun wir, die Gnostiker, reden«, und zwar als von einem »uns nunmehr geoffenbarten Geheimnis«. Was hier vorliegt, ist – aufs Ganze gesehen – eine in sich stimmige lectio gnostica von Eph 3,3– 5, jenes (Paulus-)Briefes, der zusammen mit dem Kolosserbrief in der frühchristlichen Gnosis offensichtlich ein besonderes Interesse gefunden hat787. Ein demgegenüber eher formales Zeugnis von Paulus-Rezeption bietet das von Hippolyt mehrfach (Ref. V 24,1; 26,16; 27,2) genannte Baruchbuch des Justin dar, der für seine Lehre einen Exklusivanspruch erhebt (Ref. V 23,2). Hier wird insgesamt dreimal 1 Kor 2,9 (»Was kein Auge gesehen …«) zitiert und zugleich auf das Geheimnis dieser gnostischen Lehre bezogen, die es ›im Schweigen‹ zu bewahren gilt. Nach Ref. V 24,1 handelt es sich dabei um eine Art ›Schwurformel‹, die ›unaussprechlichen Dinge‹ der Erkenntnis der Gnostiker im Schweigen zu bewahren, wobei nach Ref. V 27,3 zu den hier thematisierten ›Mysterien‹ auch wiederum die anthropologische Differenzierung zwischen den ›choischen‹ und ›psychischen‹ Menschen einerseits und den ›Pneumatikern‹ andererseits gehört.

Ausdrücklicher Bezug auf den Apostel Paulus liegt demgegenüber bei Basilides vor, dessen Paulus-Rezeption sich keineswegs nur auf die Korintherbriefe beschränkt. Die im Anschluß an das Basilides-Referat des Irenäus (Adv. Haer. I 24,3–7) und des Hippolyt (Ref. VII 20–27) erörterte Frage, ob bei Basilides ein ›monistisches‹ (so Hippolyt) oder ein ›dualistisches‹ System vorliegt, ist hier nicht im Einzelnen zu erörtern788. Unbestritten ist jedoch, dass bei Basilides die Paulus-Rezeption eine gewichtige Rolle gespielt hat, 787

S. dazu unten S. 442 ff. Vgl. dazu W. Foerster, Das System des Basilides, S. 236 ff., mit der These, dass bei Irenäus eine Angleichung des Systems des Basilides an die geläufigen Typen gnostischer Systeme 788

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

und zwar gerade auch bei der Begründung seines Systems. Bereits von daher gesehen ist wiederum offensichtlich, dass das Zeugnis des Paulus auch hier der Entfaltung der eigenen gnostischen Lehre erst sekundär zugeordnet wird. Paradigmatisch dafür ist das methodische Verfahren des Basilides in der Darstellung durch Hippolyt, Ref. VII 25,3: Nachdem Hippolyt bereits zuvor (Ref. VII 25,1) die Lehre des Basilides referiert hatte, wird der ›Schriftbeweis‹ dafür, in diesem Falle ingestalt von Eph 3,4 f., erst sekundär hinzugefügt: »Dieses«, und d.h.: das, was zuvor bereits als die Lehre des Basilides dargelegt worden ist, »das meint« bzw. »darauf bezieht sich« jenes ›Mysterium‹, von dem der Epheserbrief in seinem 3. Kapitel (3,4 f.) spricht, jenes ›Geheimnis‹ nämlich, das ›den früheren Generationen nicht kundgetan worden ist‹. Ganz analog wird nach dem Referat des Hippolyt (Ref. VII 26,3) 1 Kor 2,7 und 2,13 sekundär in den Primärtext der Lehre des Basilides integriert. Die ›Weisheit‹ von 1 Kor 2,7, von der ›im Geheimnis‹ die Rede ist, wird hier, bei Basilides konkret auf die Beantwortung der spezifisch basilidianischer Fragen bezogen, was es um den »nicht-seienden [Vater] sei, was um die Sohnschaft, was um den Hl. Geist …« – bis hin zu der Frage, was es mit der auf sich habe. Ist 1 Kor 2,13, von daher gesehen, in der frühchristlichen Gnosis so etwas wie ein ›geflügeltes Wort‹ gewesen?789. Abschließend im Zusammenhang der Paulus-Rezeption der basilidianischen Gnosis ist noch auf die Auslegung der Zitatenkombination von Eph 3,3 und 2 Kor 12,4 in einem Kontext hinzuweisen, der als solcher durch die spezifisch gnostische Spekulation über die in der ›Gestaltlosigkeit‹ zurückgelassene ›Sohnschaft‹ bestimmt ist: Nach Ref. VII 26,7 nämlich mußte ›das Mysterium [von der in der ›Formlosigkeit wie eine Fehlgeburt‹ zurückgelassenen ›Sohnschaft‹] ›offenbart werden‹, ein ›Geheimnis‹, das »früheren Geschlechtern nicht bekannt war – wie geschrieben steht«: Eph 3,3 und 2 Kor 12,4. Einen zweiten Schwerpunkt der Auslegung – besser wohl der Adaption der Korintherbriefe des Paulus stellt neben 1 Kor 2,6–16 – wiederum nach dem Zeugnis der frühkirchlichen Häresiologen – das große ›Auferstehungskapitel‹ des 1. Korintherbriefes, 1 Kor 15 dar. Hier gab es, nach dem Zeugnis jener Häresiologen, zwei Schwerpunkte der Rezeption seitens der frühchristlichen Gnostiker: Einmal die anthropologische Aussagenreihe in 1 Kor 15,44–49 und zum anderen das ganze Kapitel abschließende eschatologische ›Summarium‹ von 1 Kor 15,50790. Die Tatsache, dass gerade dieses Kapitel – neben 1 Kor 2 – eine besondere Resonanz in der frühchristlichen Gnosis gefunden hat, ist keineswegs erstaunlich: Zu Recht hat W. Schrage in seinem vorliegt. Vgl. auch K. Rudolph, in: ThR 38 (1973), S. 2–6, zum »alexandrinischen Gnostizismus«; ders., Die Gnosis, S. 334 f., sowie zuletzt W.A. Löhr, Basilides und seine Schule. 789 So J. Frickel, Naassener oder Valentinianer, S. 98, mit Anm. 10. 790 Vgl. dazu F. Altermath, Du corps psychique au corps spirituel; E. H. Pagels, The Mystery of Ressurection, S. 276–288.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Kommentar zum 1. Korintherbrief betont, dass insbesondere in apodiktischen Aussagen von 1 Kor 15,45 ff., stärker noch als in 1 Kor 15,21 f., »die Zuordnung der beiden Menschheitsrepräsentanten zu zwei gegensätzlichen Welten betont« wird, nämlich »zum und auf der einen, zum und auf der anderen Seite«791: ›Zwei Welten‹ also, die zeitlich wie auch qualitativ in einem Gegensatz zueinander stehen. Sollte (auch) dies wiederum ein Hinweis darauf sein, dass der Apostel auch hier Sprache und Terminologie seiner Kontrahenten in Korinth aufnimmt – oder sogar von deren Terminologie abhängig ist792, um sie seinerseits alsbald zu korrigieren? So etwa durch V. 46: Die Formulierung in diesem Vers: »aber nicht zuerst das ›Pneumatische‹, sondern das ›Psychische‹ [und erst dann] das ›Pneumatische‹« könnte jedenfalls durchaus eine Aussage des Apostels im Widerspruch zur Auffassung seiner Gegner in der Gemeinde in Korinth anzeigen, einen Widerspruch zu einer absoluten Vorordnung des ›Pneumatischen‹ vor dem ›Psychischen‹, und zwar ganz i.S. jener Reihenfolge, wie sie jetzt durch die (ursprünglich titellose) Schrift »Vom Ursprung der Welt« aus dem Kodex II von Nag Hammadi bezeugt wird: »Der erste Adam des Lichts ist pneumatisch … Der zweite Adam ist psychisch … Der dritte Adam ist irdisch ( )«793. Was zunächst den erstgenannten Text- und Sachzusammenhang 1 Kor 15,44 ff. betrifft, so ist es auch hier wiederum, wie bereits in 1 Kor 2,6 ff., die für eine gnostische Anthropologie durchaus ›rezeptable‹ Terminologie, die Rede also vom ›Choiker‹, vom ›Psychiker‹ sowie vom ›Pneumatiker‹, die das besondere Interesse der frühchristlichen Gnostiker gefunden hat: Ausdrücklich bezeugt denn auch Irenäus den für seine gnostischen Kontrahenten gegebenen Sachzusammenhang zwischen 1 Kor 2,6 ff. und 1 Kor 15, wenn er feststellt, dass ja auch Paulus selbst »ausdrücklich ( ) vom choischen, vom psychischen und pneumatischen [Menschen] gesprochen« hat794. Dies bedeutet nun keineswegs, dass jene drei ›Menschenklassen‹ nach gnostischer Auffassung ohne jede Beziehung zueinander stehen. Vielmehr gibt es hier, wie wiederum Irenäus die Position seiner Gegner Adv. Haer. I 6,1 beschreibt, für die ›Psychiker‹, die, wie es auch im Judasbrief (V. 19) des Neuen Testaments heißt, »den Geist nicht haben«, durchaus die Möglichkeit, »sich dorthin zu bewegen, wohin ihre Neigung ( ) geht«, noch mehr: Nach Irenäus, Adv. Haer. I 6,1, ist auch ›das Pneumatische‹ dazu ›ausgesandt‹, dass es hier, auf Erden, in »Verbindung mit dem Psychischen gestaltet wird«, genauer noch: »zusammen mit ihm im Wandel erzogen«. Das ›Psychische‹ bedarf nämlich, wie Irenäus die Position seiner Kontrahenten beschreibt, auch der »sinnlichen Erziehung«; und weiter (ebd.): »Eben 791

So W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (EKK VII /4), S. 303. In diesem Sinne z.B. M. Winter, Pneumatiker und Psychiker, S. 226 ff. und S. 230 ff. 793 NHC II /5, p. 117,28–34 sowie p. 122,8 ff. 794 Adv. Haer. I 8,3, hier mit Verweis auf Röm 11,6. 792

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

dazu ist ja der Soter zu dem Psychischen in die Welt gekommen, damit er es rette«, weil es, das ›Psychische‹, ist und somit über sich selbst zu entscheiden vermag. Es ist also keineswegs so, dass – i.S. etwa eines rein naturhaften Denkens – die Grenzen zwischen den drei ›Menschenklassen‹ unveränderlich verlaufen. Und auf eben dieser Linie liegt auch die im Zusammenhang mit solcher Anthropologie entworfene Eschatologie: Die ›Vollendung‹ ( ) wird erst dann eintreten, wenn, wie es wiederum bei Irenäus (Adv. Haer. I 6,1) heißt, die Gesamtheit des ›Pneumatischen‹, genauer wenn die ›pneumatischen Menschen‹ als solche die ›vollkommene Erkenntnis‹ erlangt haben und in die ›Mysterien der Achamoth‹ eingeweiht worden sind. Trotz einer in der frühchristlichen Gnosis verbreiteten Disqualifizierung der ›Seele‹ gegenüber dem ›Geist‹ gibt es hier also auch eine gewisse Verantwortung der ›Pneumatiker‹ gegenüber den ›Psychikern‹795. Aufs Ganze gesehen ist in dieser Hinsicht eine bemerkenswerte Variationsbreite der Paulus-Rezeption in der frühchristlichen bzw. speziell in der valentinianischen Gnosis festzustellen: Während z.B. die Rezeption von 1 Kor 15 im Fragment 40 des Herakleon im Wesentlichen auf der Basis einer ›kirchlichen‹ Rezeption von 1 Kor 15 bleibt796, geben die gleichfalls valentinianischen Excerpta ex Theodoto im Blick auf 1 Kor 15 einer spezifisch gnostischen Paulus-Rezeption Raum: Charakteristisch dafür ist die Rezeption von 1 Kor 15,47 im Exc. 56,1–3, die das Paulus-Zitat im Grunde nur noch zum formalen Anknüpfungspunkt für die Entfaltung einer spezifisch gnostischen bzw. valentinianischen Anthropologie werden lässt, wie sie auch von Irenäus, Adv. Haer. I 6,2 bezeugt wird797: Unter Voraussetzung der Aussage von Exc. 54,1, dass von Adam ingestalt seiner Söhne Kain, Abel und Seth drei ›Naturen‹ gezeugt worden sind und in diesem Sinne Adam auch ›unser Vater‹ gewesen ist, wird hier, Exc. 56,2, eine ›Drei-Naturen‹Lehre entfaltet, die ihrerseits nunmehr deutlich unterscheidet: »Deswegen nun sind viele zwar Hyliker, nicht viele dagegen Psychiker, wenige aber nur Pneumatiker«, der im Exc. 56,3 die Feststellung hinzugefügt wird, dass ›das Pneumatische‹ als solches »von Natur gerettet« ist, das ›Hylische‹ dagegen 795 So E. H. Pagels, The Mystery of Ressurection: A Gnostic Reading of 1 Corinthians 15, S. 282: »Therefore the ›calling‹ of the ›many‹, the psychics, reveals to ›the few‹ who are chosen the meaning of their election. As Valentinians theologians’ emphazise, the elect receive grace and gnosis not for their own sake, but for the sake of teaching and restoring the psychics to salvation«. Zur gleichwohl gegebenen Unterscheidung zwischen den ›Pneumatikern‹ einerseits und den ›Psychikern‹ andererseits vgl. ebd., S. 285 ff. 796 Dazu vgl. A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 250 ff.; speziell zu 1 Kor 15,42 ff.: S. 286 f. und S. 293 f. 797 Zum Vergleich zwischen Exc. ex Theod. 56,2–3 mit Irenäus, Adv. Haer. I 6,2 vgl. A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 334 f. – Für Irenäus vgl. auch Adv. Haer. I 7,4; 8,4. Zu den Differenzen bei der Beschreibung der ›Menschenklassen‹ bei Irenäus einerseits, in den Exc. Ex Theod. andererseits vgl. E.H. Pagels, Conflicting Versions of Valentinian Eschatology, S. 35–53, sowie J.F. McCue, Conflicting Versions of Valentinianism? Irenaeus and the Excerpta ex Theodoto, S. 412 ff.

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»von Natur dem Verderben anheimfällt«, während ›das Psychische‹ infolge seiner Mittelstellung zwischen dem ›Pneumatischen‹ und dem ›Hylischen‹ die Wahl bzw. die Fähigkeit zum Glauben (und damit zur Unverweslichkeit) hat, andererseits aber auch die Wahl zum ›Unglauben‹ (und damit zum Verderben)798. Bemerkenswerterweise wird am Ende von Exc. 56 (4) noch ein weiteres Zeugnis gnostischer Paulus-Rezeption nachgetragen, und zwar ingestalt einer allegorischen Deutung des ›Ölbaum‹-Gleich-nisses von Röm 11,17 ff.: Das ›Psychische‹ ist es demnach, das ›zum Glauben und zur Unverweslichkeit‹ in den guten Ölbaum eingepflanzt worden ist. ›Israel‹ aber steht in dieser Deutung für den ›Pneumatiker‹, von dem es Röm 11,26 heißt: »… und so wird ganz Israel gerettet werden«. Auch hier wird wiederum eine Beziehung zwischen den ›Psychikern‹ und den ›Pneumatikern‹ hergestellt, in der die ersteren keineswegs vom Heil ausgeschlossen sind – ganz analog zu der wiedeum von Irenäus, Adv. Haer. I 8,3, überlieferten gnostischen Deutung von Röm 11,16: »Dass aber der Soter die Erstlinge derer, die er erretten wollte, aufnahm, hat Paulus gesagt: ›Ist die Erstlingsgabe heilig, so ist es auch der ganze Teig‹«. ›Erstlingsgabe‹ steht in dieser Deutung für ›das Pneumatische‹, ›Teig‹ aber bezeichnet ›uns‹, d.h. die ›psychische‹ Kirche, deren Teig er, der Soter, »angenommen und in sich erhoben hat, da er selbst ja der ›Sauerteig‹ war«799. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung zwischen den ›Psychikern‹ und den ›Pneumatikern‹ im Exc. 57: »Es geschieht also, was die drei Genera betrifft, eine Gestaltwerdung ( ) des ›Pneumatischen‹, [demgegenüber] aber eine ›Versetzung‹ ( ) des ›Psychischen‹ aus der Sklaverei in die Freiheit«. Bei aller Annäherung der beiden Genera, so auch i.S. einer Verantwortung der ›Pneumatiker‹ für die ›Psychiker‹, bleibt hier am Ende doch wiederum eine Differenz. Was sich bei den Pneumatikern als eine ›Gestaltwerdung‹ dessen darstellt, was im Pneumatiker gleichsam keimhaft immer schon angelegt war, ist im Blick auf die Psychiker lediglich eine ›Versetzung‹ vom ›Ort der Mitte‹ (Irenäus, Adv. Haer. I 7,5) ›in einen anderen Stand‹ bzw. ›an einen anderen Ort‹: ›changement de lieu‹800. Bezüglich der Rezeption von 1 Kor 15 in der frühchristlichen Gnosis betrifft, so ist nach Irenäus mit 1 Kor 50,50 noch ein weiterer Schwerpunkt gesetzt: »Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht ererben – so wenig wie die Vergänglichkeit die Unvergänglichkeit ererben kann«. Obwohl Ire798 Zur ›Bedürftigkeit‹ bzw. ›Fähigkeit‹ der ›Psychiker‹ zum Glauben (und damit auch zur ›Unvergänglichkeit‹) nach Exc. 56,3 vgl. auch Exc. 57. 799 Bei Irenäus, Adv. Haer. I 8,3 steht diese Deutung von Röm 11,16 im Zuammenhang mit der gnostischen Deutung des Gleichnisses vom ›Sauerteig‹. – Zu Röm 11,16 vgl. auch Exc. ex Theod. 58,2 und dazu E.H. Pagels, The Mystery of Resurrection, S. 284. 800 So F. Sagnard, SC 23, S. 175, n. 5. Vgl. auch H. Strutwolf, Gnosis als System, S. 107: »Das pneumatische Element ist u.a. dadurch vom psychischen unterschieden, dass allein das erste eine erfährt, während das zweite nur eine zu erwarten hat«.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

näus der einzige Zeuge für die Rezeption von 1 Kor 15,50 in der frühchristlichen Gnosis ist, urteilt er umso entschiedener: »Diese Stelle wird von allen Häretikern in ihrem Unverstand (amentia) vorgebracht, [weil] sie daraus demonstrieren wollen, dass Gottes [eigenes] Gebilde nicht gerettet wird«801. Tatsächlich jedoch ist eine Rezeption von 1 Kor 15,50 in diesem Sinne – sieht man zunächst von der rätselhaften Interpretation von 1 Kor 15,50 im koptischen Philippusevangelium (§ 23) ab802 – in den einschlägigen Quellen nicht überliefert. Gleichwohl stellt sich für Irenäus der umstrittene Sachverhalt von 1 Kor 15,50 relativ einfach dar. Nach seiner Auffassung beachten seine Kontrahenten nicht, dass es »drei Dinge sind, aus denen der vollständige Mensch (perfectus homo) besteht, nämlich aus Fleisch, Seele und Geist, von denen [nur] das eine, der Geist nämlich, rettet und gestaltet; ein anderes, nämlich das Fleisch, gerettet und geformt wird, während das andere zwischen diesen beiden ist, nämlich die Seele, die [entsprechend ihrer Zwischenstellung] das eine Mal dem Geist folgt [und so] von ihm erhoben wird, das andere Mal jedoch dem Fleisch zustimmt (consentiens carni) und [somit] in die irdischen Begierden fällt. Diejenigen [also], die das, was errettet und zum Leben hin gestaltet, nicht haben – diese eben werden konsequenterweise auch ›Fleisch und Blut‹ genannt, weil sie den Geist Gottes nicht in sich haben«. In diesem Sinne scheint es hier, auf den ersten Blick jedenfalls, eine gewisse Übereinstimmung zwischen Paulus und seinen gnostischen Rezipienten zu geben – mit dem Unterschied freilich, dass das, was bei Paulus selbst nur in einem Zusammenhang mit dem (1 Kor 15,51 ff. ausgeführten) ›Geheimnis der Verwandlung‹ zu verstehen ist, seitens der Gnostiker aus dem ursprünglich paulinischen Kontext herausgelöst und auf diese Weise zugleich unter das Vorzeichen einer genuin gnostischen Anthropologie gestellt wird. Im Unterschied also zu Paulus wird bei den Gnostikern die irdische Vorfindlichkeit des Menschen in ›Fleisch und Blut‹ allein unter dem Aspekt der absoluten Vergänglichkeit gesehen. Was der Apostel Paulus in 1 Kor 15,50 (im Kontext von 15,42 ff. und 15,51 ff.!) darlegt und was Irenäus seinerseits (in Adv. Haer. V 9,1–3 und 14,1 ff.) zur ›positiven‹, d.h.: theo-logischen Bedeutung dieser Formel im Einzelnen ausführen, gerät demgegenüber in der frühchristlichen Gnosis unter dem Vorzeichen einer dualistischen Anthropologie zur absoluten Bestätigung der gnostischen Grundüberzeugung, dass es am Ende allein der ›Pneumatiker‹ ist, der abseits von ›Fleich und Blut‹ am transzendenten ›Reich Gottes‹ teilhat – mit anderen Worten: Das Geheimnis der ›Verwandlung‹ von 1 Kor 15,51 ist hier 801 Adv. Haer. V 9,1. Allenfalls wäe hier noch auf Adv. Haer. I 30,13 hinzuweisen, wo auch 1 Kor 15,50 zitiert wird, hier jedoch speziell im Blick auf den ›Leib‹ des Auferstandenen: Die Gnostiker erklären, daß es der größte Irrtum unter seinen Jüngern gewesen sei, quoniam putant eum in corpore mundiale resurrexisse, eine Auffassung, die Irenäus seinerseits mit Verweis auf 1 Kor 15,50 widerlegt. Zur Stelle im Einzelnen vgl. R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpre, hier das Kapitel 10, S. 467 ff. 802 S. dazu unten zur Rezeption von 1 Kor 15 in den Schriften von Nag Hammadi.

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preisgegeben zugunsten einer Auffassung, die die Kontinuität vom irdischen Leben ›in Fleich und Blut‹ zum ›Reich Gottes‹ letztlich anthropologisch, vom Wesen des Menschen, genauer: des ›Pneumatikers‹ her begründet. Hier zeigt sich einmal mehr, in welchem Maß und Sinn die frühchristlichen Gnostiker die Paulusbriefe als Primärquelle ihrer eigenen Theologie und Anthropologie gelesen und ausgelegt haben803, während Irenäus demgegenüber auf seine Weise in Adv. Haer. V 9, 1–3 und 14,1 ff. sich genötigt sah, gegen solche Vereinnahmung von 1 Kor 15,50 durch die Gnostiker im Sinne einer prinzipiellen ›Heilsunfähigkeit des Fleisches‹ im Namen des Apostels zu protestieren: Hier steht grundsätzlich eine theo-logische gegen eine anthropologische Sicht des eschatologischen Heils des Menschen. Und von daher gesehen kann man mit R. Noormann feststellen, dass die »irenäische Verteidigung der Heilsfähigkeit der Sarx … sich sachlich als eine Fortsetzung der paulinischen Bemühung verstehen [lässt], gegen ein enthusiastisches, den Menschen in seiner Leiblichkeit vom Heilsgeschehen ausschließendes Verständnis der Soteriologie die Relevanz der Geschöpflichkeit für das Heilsgeschehen festzuhalten … Zukünftiges Leben aus der Auferstehung der Toten wird« hier, bei Irenäus, »in paulinischer Weise als Verwandlung des Sterblichen und Vergänglichen zur Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit verstanden«804. Was demgegenüber wiederum die gnostische Paulus-Exegese betrifft, so versteht es sich von ihren hermeneutischen Voraussetzungen her von selbst, dass die Rede des Apostels vom , vom ›inneren Menschen‹, in Röm 7,22 und 2 Kor 4,16 hier, im Kontext einer gnostischen Anthropologie, ein besonderes Interesse gefunden hat805. Die Frage, welcher religionsgeschichtlichen oder auch philosophischen Tradition Paulus selbst diese Metapher entnommen hat, ist hier nicht im Einzelnen zu erörtern806. Was jedenfalls die gnostische Rezeption dieser Metapher betrifft, so bedarf es keiner Frage, dass die Rede vom ›inneren Menschen‹ hier im Wesentlichen als Metapher für den ›Pneumatiker‹ verstanden wird. Das Zeugnis des Irenäus vor allem in dieser Hinsicht ist eindeutig, nicht zuletzt auch insofern, als er diese Metapher selbst nicht benutzt, sondern nur im Zusammenhang seines Referats der gnostischen bzw. – genauer – der valentinianischen 803 Vgl. E. H. Pagels, The Mystery of Resurrection, S. 287: »This sketch of the Valentinian method of interpreting 1 Corinthians 15 may demonstrate how these gnostic Christians can read Paul as a gnostic and his letters as primary(!) sources of gnostic theology«. 804 So R. Noormann, Irenäus als Paulusinterpret, S. 528 f. Für Irenäus selbst vgl. Adv. Haer. V 13,4–5. 805 Dazu im Einzelnen die bei C. Markschies, Art. »Innerer Mensch«, in: RAC 18, Sp. 311 f. genannte Literatur. Besonders herorzuheben sind neben dem entsprechenden Artikel von C. Markschies selbst (in: ZKG 105 [1994], S. 1–17) die Monographie »Der innere Mensch« von Th. Heckel vom Jahr 1993 sowie der Aufsatz »The Concept of the ›Inner Human Being‹ … in the Anthropology of Paul«, in: NTS 46 (2000), S. 315–341. 806 So C. Markschies, in: RAC 18, Sp. 279. Dazu im Einzelnen: Th. Heckel, a.a.O., S. 4–9.

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Anthropologie807, so besonders deutlich in Adv. Haer. I 21,4: »Während nämlich durch Unwissenheit Mangel und Neid entstanden sind, wird durch die Erkenntnis der ganze Zustand, den die Unwissenheit verursachte, aufgelöst. Darum ist die Erkenntnis die Erlösung des ›inneren Menschen‹«, und weiter (ebd.): »Pneumatisch also muß die Erlösung sein, denn durch Erkenntnis wird der ›innere‹, pneumatische Mensch erlöst … Und dies ist die wahre Erlösung«. Das Referat des Irenäus geht in Adv. Haer. II 19,2 noch einen Schritt weiter, sofern hier die Bedingung der Möglichkeit, das spiritale Pleroma zu erkennen, auf die dem Gnostiker innewohnende »Substanz des Samens« zurückgeführt wird. Und dies geschieht dadurch, dass der ›innere Mensch‹ (homo qui est intus) den Gnostikern den ›wahren Vater‹ zeigt. Und schließlich ist in diesem Zusammenhang auch noch auf die von Irenäus in Adv. Haer. I 13,2 überlieferte ›eucharistische Formel‹ des Gnostikers Markus hinzuweisen: »Die Charis, die vor allem war, unausdenkbar und unsagbar, erfülle deinen inneren Menschen und vermehre in dir ihre Erkenntnis, indem sie das Senfkorn [Mk 4,31] in die gute Erde [Mk 4,8] sät«. Hier steht jenes ›Senfkorn‹ für den in den Gnostiker gelegten ›erkenntnis- und heilbringenden Samen‹808. Und so ist es nur konsequent, wenn – wiederum nach dem Zeugnis des Irenäus, Adv. Haer. V 19,2 – allein dem ›inneren Menschen‹ das ›ewige Leben‹ zuteil wird: Et quidam quidem neque animam suam neque corpus recipere posse dicunt aeternam vitam, sed tantum honinem interiorem. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt auch die Auseinandersetzung des Irenäus mit der gnostischen Rezeption von der Rede des Paulus vom ›inneren Menschen‹ im Zusammenhang mit der ›Entrückung‹ des Apostels in den ›Dritten Himmel‹ von 2 Kor 12,2–4 in Adv. Haer. II 30,7, insgesamt geradezu ein ›Kabinettstück‹ von ironisierender Kritik der gnostischen Position: Was eigentlich hätte, so die Argumentation des Irenäus, dem Apostel jener Aufstieg in den ›dritten Himmel‹ und der damit verbundene Eintritt ins ›Paradies‹ genützt, wenn dies alles, nach der Meinung der Gnostiker jedenfalls, lediglich einen Aufstieg in Sphären bedeutete, die immer noch sub potestate Demiurgi stehen. Demgegenüber, so die Argumentation des Irenäus, kam es für den Apostel doch gerade darauf an, ein speculator et auditor der Mysterien oberhalb des Demiurgen zu sein, also aus dessen Herrschaftsbereich herauszugelangen! Zumindest was die Position der Gnostiker in der ironisierenden Darstellung durch Irenäus betrifft: ›bis zur Mitte‹ hätte der Apostel gelangen müssen, und d.h.: ›bis hin zur Mutter‹, um von ihr nämlich ›über 807 Vgl. die Durchsicht der hier in Betracht kommenden Zeugnisse des Irenäus bei Th. Heckel, Der innere Mensch, S. 221 ff. Heckel spricht deswegen auch von einem »gnostischen Exil der Metapher«. Eine besondere Bewandtnis hat es im Übrigen (gegenüber Röm 7,22 und 2 Kor 4,16) mit dem Gebrauch der Metapher in Eph 3,16: Hier wird jener ›innere Mensch‹ – vom Kontext her gesehen – mit dem ›Pneumatiker‹ identifiziert. 808 Zu der von Irenäus, Adv. Haer. I 13,2, überlieferten ›eucharistischen‹ Formel des Gnostikers Markos vgl. auch Hippolyt, Ref. VI 40,2, auch hier mit Bezugnahme auf Mk 4,30 f., sowie Ref. V 9,6, hier von den Naassenern. Zur ›eucharistischen Formel‹ des Valentinianers Markos vgl. N. Förster, Markus Magus, S. 86 f.

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die Dinge belehrt zu werden‹, quae sunt intra Pleroma – denn, so die Meinung und Kritik der Gnostiker, der ›innere Mensch‹ (intus homo), der auch ›in ihm‹, dem Paulus, ›redete‹, war ja durchaus imstande, non tantum usque ad tertium caelum, sed usque ad matrem illorum pervenire, und dies umso eher, als ja auch hier die von Irenäus apostrophierten Gnostiker für sich in Anspruch nahmen, »über den Demiurgen hinaus bis hin zur ›Mutter‹ gelangt zu sein«. Die Kritik des Irenäus dazu wiederum: Da ja der Apostel selbst von seiner assumptio ad tertium caelum als einem ›großen und herrlichen‹ Geschehen berichte, werden ja wohl auch nicht die Gnostiker ihrerseits »über den siebenten Himmel hinaus aufsteigen« – non enim sunt meliores apostolo.

Der Befund hinsichtlich der Rezeption der Metapher vom ›inneren Menschen‹ in der frühchristlichen Gnosis nach dem Zeugnis des Irenäus wird durch das Zeugnis des Hippolyt in seiner Refutatio omnium haeresium bestätigt, zugleich aber auch noch erweitert: Ersteres speziell im Blick auf die bereits genannte ›eucharistische Formel‹ des Gnostikers Markus in Ref. VI 40,2: »… die Gnade erfülle deinen ›inneren Menschen‹ und mache reich in dir ihre Erkenntnis«, ein Vorgang, der auch hier, bei Hippolyt, mit dem Gleichnis vom ›Senfkorn‹ aus den Evangelien in Verbindung gebracht wird: indem nämlich jene ›Gnade‹ den Samen, in diesem Fall also »das Senfkorn in die gute und fruchtbare Erde sät«. Andererseits sind jedoch gewisse Abweichungen vom Zeugnis des Irenäus bei Hippolyt nicht zu übersehen, so vor allem dort, wo nach Hippolyt, Ref. VI 34,5, einem Zeugnis wiederum für die Valentinianer, der ›innere Mensch‹ mit dem ›Psychiker‹ gleichgesetzt wird: »Dies [der Mensch von Gen 2,7] ist nach ihrer, der Valentinianer Meinung, der ›innere Mensch‹, nämlich der ›Psychiker‹, der im irdischen Leib wohnt«809. Bemerkenswert für das Zeugnis des Hippolyt ist in diesem Zusammenhang vor allem auch ein christologischer Akzent, so in seinem Referat über Valentinus in Ref. X 13,3: Christus sei, so heißt es hier, »aus dem ›äußeren Pleroma‹ zur Rettung des [in der Welt] verirrten Pneuma herabgestiegen«, das »in unserem ›inneren Menschen‹ wohnt und das«, wie es hier des Weiteren heißt, »um dieser ›Innewohnung‹ willen gerettet wird«. Das heißt: Auch der ›innere Mensch‹ (als der ›Pneumatiker‹!) bedarf der der Rettung durch den Erlöser. Noch deutlicher – als ein Zeugnis im Übrigen für Marcion! – in Ref. X 19,3: Christus sei von Gott ›zur Rettung der Seelen‹ gesandt, womit sich hier nunmehr zugleich eine christologische Deutung der Metapher vom ›inneren Menschen‹ verbindet: ›Als ein Mensch‹ ( ), jedoch nicht wirklich sei Christus in Erscheinung getreten! Und Entsprechendes gilt wohl auch im Blick auf das Zeugnis des Hippolyt für Basilides bzw. für die Basilidianer in Ref. VII 27,5 f., wenn es 809 Vgl. z.St.C. Markschies, i: RAC 18, Sp. 286: »Wenn nach Hippol. Ref. 6,34,5 der i.M. bei den Valentinianern auch als ausgelegt wird, dann dürfte dies mit der … Auslegung auf allen drei Stufen der Menschenklassenlehre bzw. einem Dualismus innerhalb des i.M … zusammenhängen«.

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hier im Anschluss an Joh 2,4 – »meine Stunde ist noch nicht gekommen« – heißt: »Dieser ist nach ihrer Meinung der ›innere Mensch‹, nämlich der Pneumatiker im Psychiker« – und das heißt: »die 3. Sohnschaft, die hier die Seele verließ, die nicht sterblich war, sondern ihrer Natur entsprechend blieb …«. Ein Zeugnis wiederum ganz eigener Art für die Rezeption der Metapher vom ›inneren Menschen‹ liegt schließlich noch im Epheserbrief vor, hier speziell Eph 3,16 und an dieser Stelle zugleich in einen Text- und Sachzusammenhang einbezogen, der syntaktisch gesehen in einer einzigen Satzkonstruktion die VV . 14–19 umfaßt und in den VV . 20 und 21 mit einer Doxologie abgeschlossen wird. Bereits dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es mit diesem Text eine besondere Bewandtnis hat: Dem Autor dieses Briefes ist offensichtlich daran gelegen, seine Adressaten in der hier vorliegenden Abfolge von Relativ-, Final- und Infinitivsätzen auf einen Sachzusammenhang aufmerksam zu machen, der sich für ihn als eine sachliche und thematische Einheit darstellt, eine Einheit, die von der Rede vom ›inneren Menschen‹ in V. 16 über das ›Ergreifen‹ bzw. ›Erfassen‹ von V. 18 und das ›Erkennen‹ von V. 19 bis hin zur finalen Aussage von V. 19 reicht: »… damit ihr zur Erfüllung gelangt in das ganze ›Pleroma Gottes‹«. Die Grundaussage ist dabei das im V. 16 formulierte Gebetsanliegen des Verfassers im Blick auf das ›Erstarken des inneren Menschen‹, und angesichts der häufigen Bezugnahmen im Epheserbrief auf die Wirksamkeit des ›Geistes‹ liegt es auf der Hand810, dass jener ›innere Mensch‹ hier, im Epheserbrief, nicht lediglich den ›eigentlichen‹ Menschen, sondern den ›Pneumatiker‹ i.S. des durch den ›Geist‹ bestimmten Menschen bezeichnet811, der als solcher befähigt ist, das zu erfassen und zu erkennen, was es mit der »Breite und Länge, der Höhe und der Tiefe« auf sich hat – und die »alle Erkenntnis übertreffende Liebe Christi zu erkennen« – und dies letztere nun wiederum in der Ausrichtung: »damit ihr [auf diese Weise endlich] erfüllt werdet in die ganze Fülle Gottes …«. Insgesamt: Was im 3. Kapitel des Epheserbriefes vorliegt, ist – für sich betrachtet – gewiss noch nicht eine im engeren Sinne des Wortes ›gnostische‹ Sprache812, wohl aber eine ›gnoseologische‹ Sprache, die den frühchristlichen Gnostikern durchaus geeignet erscheinen mußte, nunmehr in einer ›spezifisch gnostischen‹ Sprache expliziert zu werden, und dies umso mehr und umso eher, als in diesem in sich geschlossenen Text- und Sachzusammenhang eine gewisse Dynamik in Richtung auf den abschließenden 810 Eph 1,13.17; 2,18.22; 4,30; 5,18; 6,17 sowie besonders 4,23 f. Zum Sachverhalt vgl. H. Schlier, Der Brief an die Epheser, S. 169. 811 Vgl. auch Irenäus, Adv. Haer. I 21,4: sowie H. Windisch, Der zweite Korintherbrief (KEK 6. Abt.), Göttingen 1924, S. 126 f. zu Kor 4,16, mit Hinweis auf die entsprechende Formulierung des (Alchimisten) Zosimus. Speziell dazu: R. Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterien-religionen, S. 354 f. 812 Zur neueren Forschungsgeschichte in dieser Hinsicht vgl. H. Merkel, Der Epheserbrief in der neueren exegetischen Diskussion, S. 3176–3195.

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Finalsatz nicht zu übersehen ist: »… damit ihr [die ihr jetzt noch Mangel leidet!] endlich in das ganze, alles umfassende Pleroma Gottes [hinein] zur Erfüllung gelangt«. Dies gilt insbesondere im Blick auf die beiden Finalsätze in den Versen 18 und 19: Die eigentliche Gabe, die der Apostel für die Adressaten seines Briefes erbittet, ist die alle ›Erkenntnis überbietende Liebe Christi‹, damit es endlich zu jenem eschatologischen Vorgang der ›Erfüllung‹ kommt – insgesamt also: Hier, im Gebet des Apostels, liegt ein Sachzusammenhang vor, der – angefangen bei der Rede vom ›inneren Menschen‹ bis hin zur Rede vom ›Pleroma‹ Gottes – geradezu als eine Vor-Abbildung dessen erscheint, was sich später in der frühchristlichen Gnosis, und hier nunmehr im ausdrücklichen Bezug auf das dritte Kapitel des Epheserbrefes, als Ergebnis einer gnostischen Schriftauslegung erweist – hier nunmehr unter Voranstellung der exegetischen Formel ›Dies ist / bedeutet‹ und damit zugleich, wie dies besonders deutlich aus dem entsprechenden Zeugnis des Hippolyt, Ref. VI 34,7 f., hervorgeht, unter dem Vorzeichen einer valentinianischen Sichtweise von Gott, Welt und Mensch. Spezielle Probleme im Blick auf den soeben genannten Passus aus dem Epheserbrief sind bei alledem nicht zu übersehen: Dies gilt, abgesehen zunächst von dem finalen Schlußsatz V. 19, insbesondere für V. 18, wo in einer geradezu formelhaften Weise vom ›Erfassen‹ bzw. ›Begreifen‹ der ›Länge und Breite sowie der Höhe und Tiefe‹ die Rede ist – und in diesem Zusammenhang zugleich von der ›alle Erkenntnis übertreffenden Liebe Gottes‹. Dass es sich bei jener formelhaften Reihe von der ›Länge und Breite sowie der Höhe und Tiefe‹ um eine ursprüngliche kosmische Formel der Drei- bzw. Vierdimensionalität handelt, ist wohl unbestritten: Eine traditionelle formelhafte Rede also, deren Sinn und Funktion im Eph noch näherhin zu bestimmen ist813. Vorausgesetzt, dass es sich dabei um eine traditionelle Formel handelt, soll hier, im Eph, mit dieser Formel jedenfalls nicht die ›himmlische Berufung oder Erbschaft‹ umschrieben werden814, sondern – vom Kontext her gesehen – der allumfassende, den Raum in seiner Gesamtheit erfassende Charakter der hier gemeinten ›Erkenntnis‹. So gesehen hat diese Formel, auch wenn sie das Bild eines ›Raumes‹ assoziiert, nichts mit der Apk 21,15 ff. beschriebenen ›Himmelsstadt‹ zu tun815; vielmehr gilt es, auch an dieser Stelle des Epheserbriefes jene traditionelle, ursprünglich wohl kosmische Formel in Entsprechung zu ihrem Kontext im Epheserbrief zu verstehen. Eindeutig in dieser Hinsicht ist jedenfalls, dass jene in V. 18 formelhaft beschriebene ›Erkenntnis‹ im Kontext von Eph 3,18 f. Jedenfalls mit ›Christus‹ zu tun hat – in welchem Sinn aber? 813 Vgl. die Kommentare zum Epheserbrief, besonders H. Schlier, Der Brief an die Epheser, S. 171–174; S. 171: »Doch was sollen die Christen begreifen? Die Antwort ist seltsam: … Offensichtlich handelt es sich um eine Formel« – vielleicht sogar um eine ursprünglich gnostische Formel, die die Dimensionen des Pleroma umschreibt? – so M. Dibelius, An die Kolosser. Epheser. An Philemon (HNT 12), S. 77. 814 So noch H. Schlier, in: ThWNT I, S. 515, Z. 35 ff. Von dieser bzw. ist jedoch im Kontext gar nicht die Rede. 815 So noch H. Schlier, in: ThWNT I, S. 515 f.; vgl. auch J. Gnilka, Der Epheserbrief (HthKomm z. NT X/2, S. 187 f.).

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Die älteste christologische Deutung jener (ursprünglich wohl kosmischen) Formel ist bei Irenäus überliefert, und zwar in seinem bereits von Eusebius, h.e. V 26, erwähnten, nur in armenischer Sprache überlieferten ›Erweis des apostolischen Kerygmas‹. Hier heißt es im c. 34: »Denn er [Christus] selbst ist das Wort des allmächtigen Gottes, das in unsichtbarer Gestalt in uns über die ganze Welt verbreitet ist und ihre Länge und Breite und Höhe und Tiefe durchwaltet. Denn durch das Wort Gottes hat das Universum seinen Bestand«. Diese christologische Deutung erhält hier freilich noch einen weiteren Akzent, nämlich einen ›kreuzestheologischen‹ Sinn. Im Anschluß an den eben zitierten Passus heißt es: »und in ihm [dem Wort Gottes] ist der Sohn Gottes gekreuzigt, indem er allen Dingen das Kreuzeszeichen eingezeichnet hat … Denn er [der Gekreuzigte] ist es, der die Höhe ins Licht stellt und die Tiefe, die weit unter der Erde liegt, fortsetzt und die Länge von Ost und West hinstreckt und die Nordseite und die Mittagsruhe durchschifft und [auf diese Weise] die Zerstreuten von allen Seiten zur Erkenntnis des Vaters zusammenruft«. Versucht man die auffällige Wendung ›indem er allen Dingen das Kreuzeszeichen eingezeichnet hat‹ aus dem Armenischen ins Griechische zu übersetzen, so ergibt 816 sich die Formulierung . Griechisch , d.h. in diesem Kontext: mit dem Buchstaben (Chi) bzw. im christlichen Sinne: mit dem Kreuzeszeichen kennzeichnen. Ganz analog verfährt Irenäus auch Adv. Haer. V 17,4: Hier ist es wiederum das (als lignum, d.h. als ›Holz‹ bezeichnete) Kreuz, dem in seiner X-Gestalt kosmische Ausmaße und damit auch eine universale Geltung zukommen. In diesem Sinn kann Irenäus an dieser Stelle von einer ligni dispositio sprechen, von einem (alle Welt betreffenden) ›Heilsplan des Kreuzes‹ – denn: »weil wir es [das Wort Gottes] durch das ›Holz‹ verloren haben« – eine Anspielung offensichtlich auf das ›Holz‹ des ›Baumes der Erkenntnis‹ von Gen 2,17 – »ist es wiederum durch das Holz«, d.h. durch das Kreuz, »allen offenbar geworden«, und zwar ostendens altitudinem et longitudinem et latitudinem in se. Noch deutlicher in dieser Hinsicht äußert sich Irenäus Adv. Haer. V 18,3: Mundi enim factor vere verbum Dei est … et in universa conditione infixus, quoniam verbum dei gubernans et disponens omnia … Et ›caro factum est‹ et perpendit super lignum, uti universa in semetipsum recapituletur. Wenn es in diesem Zusammenhang heißt: et in universa conditione infixus, so bedeutet dies, dass Christus als das ›Wort Gottes‹ gleichsam »in die Schöpfung hinein gekreuzigt worden ist«817. Solcher Formulierung korrespondiert offensichtlich wiederum die von Irenäus, Epideixis 34, benutzte Formulierung »gekreuzigt in dem All«. So erschließt sich hier am Ende ein weitreichender, geradezu universaler Sachzusammenhang, der über Platon, Timaios c. VIII (36 B.C.), und Justin in seiner 1. Apologie (c. 60,1 ff., hier mit ausdrücklichem Bezug auf Platon) bis hin zu Irenäus, der letztlich doch wohl auf jener ursprünglich platonischen Aufassung von einer ›Weltseele‹ beruht, die eben ingestalt eines (Chi) die ganze Welt durchdringt, und zwar deren Höhe und Tiefe ebenso wie ihre Länge und Breite:818. – Insgesamt also: Eine bestimmte 816

Zur Textrestitution in diesem Sinn vgl. A. Rousseau, SC 406, S. 271, n. 1. So nach der Übersetzung von W. Overbeck, Menschwerdung, S. 294 f. 818 Zu diesem Sachzusammenhang Platon – Justin vgl. bereits W. Bousset, Platons Weltseele und das Kreuz Christi, S. 273–285, sowie A. Rousseau, SC 406, S. 274–277. Zur Beziehung dieser Formel auf den »universalen, das All umfassenden und Juden und Heiden einenden Leib Christi am Kreuz«: H. Schlier, Der Brief an die Epheser, S. 173 f., hier (S. 174) mit Bezug 817

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Art von ›Kreuzestheologie‹, die sich, zumindest bei Justin, der Überlieferung einer bestimmten ›natürlichen Theologie‹ versichert, um auf diese Weise endlich umso deutlicher die kosmische Symbolik des Kreuzes zur Aussage zu bringen: Die ›Gestalt‹, das des Kreuzes steht hier für die kosmische und – damit zugleich – für die universale Geltung des Kreuzes819.

Von solcherlei kosmischen oder auch ›heilsgeschichtlichen‹ Spekulationen ist nun der Epheserbrief des Neuen Testaments noch weit entfernt, damit aber auch von jener gnostischen Lesart, in der das ›Kreuz‹, der ›Stauros‹, i.S. einer Art gnostischer ›Kreuzestheologie‹ im Rahmen eines gnostischen Weltgefüges zum mutiert, zu jener ›Grenze‹ also, die das vom trennt820. Der Kontext der in Eph 3,18 aufgenommenen Formel weist jedenfalls in eine gänzlich andere Richtung: Da ist einerseits (Eph 3,17) vom Gebetswunsch des Apostels die Rede, »dass der Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne« und die Adressaten dieses Briefes auf diese Weise »in der Liebe eingewurzelt und fest gegründet« sein mögen; und andererseits geht es in diesem Gebet des Apostels um die Erkenntnis der ›Liebe Christ‹, die ›alle Erkenntnis übertrifft‹. Was also liegt hier näher als die Schlußfolgerung, dass es in diesem Satzgefüge bei jener traditionellen, ursprünglich wohl kosmischen Formel in V. 18 b um den Versuch der Kennzeichnung der all-umfassenden, alle Grenzen überschreitenden ›Liebe des Christus‹ geht, die alle ›Erkenntnis‹ übertrifft821, ja mehr noch: Wenn denn solche ›Liebe Christi‹ zugleich auch die ›Fülle Gottes‹ selbst erweist und darstellt, hat sie am Ende auch die ›Erfüllung‹ der Adressaten des Epheserbriefes ›in das ganze Pleroma Gottes [selbst] hinein‹ zum Ziel822. Für eine gnostische Lesart des Epheserbriefes stellt sich jener ursprünglich intendierte Sachverhalt freilich gänzlich anders dar, und das heißt: Unter der Voraussetzung eines spezifisch gnostischen Welt- und Menschenbildes dient auf Irenäus, Epideixis 34: »In Epid. 34 ist Christus das ›Wort des allmächtigen Gottes‹, das uns alle durchdringt und so alle Welt umfaßt, ihre Breite und Länge, Höhe und Tiefe. Dieses weltumfassende Schöpferwort wurde sichtbar in Christus am Kreuz …«. 819 Vgl. in diesem Sinn bereits J. Danielou, Le symbolisme cosmique de la croix, S. 23–36, hier mit Hinweis auf Gregor von Nyssa, Adv. Eunomos III 3,39 f. Dazu vgl. A. Rousseau, SC 406, S. 372 ff. 820 So Hippolyt, Ref. VI 34,7. Vgl. auch Irenäus, Adv. Haer. I 3,5. Zur Sache vgl. W. Bousset, Platons Weltseele und das Kreuz Christi, S. 281 f.: »Der Horos-Stauros entstammt letztlich der platonischen Spekulation über die Chi-förmige, weltgestaltende Weltseele …«, sowie E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch, S. 216 f.: »Eine als geistiges Verständnis ausgegebene rigorose und ungebundene Allegorese erlaubt … die Einfügung jeder Schriftstelle in das vorgegebene gnostische System … Auch das Kreuz läßt sich als Stauros / Horos ohne Not in die Bewegungen des Pleroma einfügen« (mit Verweis auf Irenäus, Adv. Haer. I 3,5). 821 In diesem Sinne bereits P. Pokorný, Der Epheserbrief und die Gnosis, S. 117: »Der Passus über die Dimensionen der Liebe …«. Vgl. auch F. Mussner, Der Epheserbrief, S. 112 822 Vgl. H. Schlier, Der Brief an die Epheser, S. 175: »Im Innewerden der alle Welt umfassenden Dimension des Leibes Christi am Kreuz und seines Wesens, der Liebe Christi, eröffnet sich die Fülle Gottes …«. Zum christologischen Gebrauch von ›Pleroma‹ vgl. bereits Kol 1,19 und 2,9.

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nunmehr der Epheserbrief in seinem Text- und Sachzusammenhang 3,14–19 am Ende nur noch der (gleichsam nachträglichen) Bestätigung der eigenen genuin gnostischen Position. Eines der deutlichsten Zeugnisse dafür ist das Zeugnis des Hippolyt in seiner ›Refutatio‹ VI 34,5–8, hier im Rahmen seines Referats über die Valentinianer823: Die Art und Weise des exegetischen Verfahrens der Gnostiker wird auch hier wieder durch die exegetische Formel ›dies ist/dies bedeutet‹ angezeigt: Was in der Schrift geschrieben steht, ›bedeutet‹ nach der Meinung der gnostischen Ausleger … Dementsprechend heißt es bereits Ref. VI 34,5, hier unter der Überschrift: »Der Demiurg ließ die Seelen hervorgehen …« nach dem Zitat von Gen 2,7 LXX : »Dieser ist nach ihrer Meinung der ›innere Mensch‹, der ›psychische‹ Mensch nämlich, der in dem choischen Leib wohnt, welcher der hylische und [somit] vergängliche Mensch ist«. Nach einer längeren Ausführung zum Wesen jenes ›inneren‹ Menschen (Ref. VI 34,6) heißt es sodann Ref. VI 34,7: »Dies ist … das, was in der Schrift geschrieben ist«, nämlich in Eph 3,14.16–18. Daran wiederum schließt sich eine Art Kommentar zu dem Eph 3 vorliegenden Gebet des Apostels an, und dies unter dem Vorzeichen einer bereits zuvor (Ref. VI 34,4 ff.) entwickelten spezifisch gnostischen Anthropologie. Speziell im Blick auf den Gebetswunsch des Apostels von Eph 3,6 heißt dies nunmehr in gnostischer Paraphrase: »… damit Gott euch gewähre, dass Christus im ›inneren Menschen‹ Wohnung nehme, [und] das heißt: im ›psychischen‹, nicht im ›leiblichen‹ [Menschen]«. – Noch deutlicher ist die gnostische Adaption des Textes aus dem Epheserbrief in der Auslegung der Formel von Eph 3,18 hervor: »Was da ist die Länge und Breite …« hervor: Hier wird unter der Überschrift: »damit ihr imstande seid zu erkennen …« jedes einzelne Glied jener Formel gleichsam ins Gnostische übersetzt: »Was die Tiefe ist, das heißt: der ›Vater des Alls‹; was die Breite, das heißt: der Stauros, die Grenze des Pleroma; was die Länge, das heißt: ›das Pleroma der Äonen‹«, woran sich sogleich (Ref. VI 34,8) das Zitat von 1 Kor 2,14 anschließt, dass der ›Psychiker‹ nämlich nicht imstande ist, das aufzunehmen, was ›von Gottes Geist ist‹: ihm, dem ›Psychiker‹, ist dies alles nur ›Torheit‹ – ›Torheit‹ hier als einer Wirkkraft des ›Demiurgen‹. – Ein letzter entsprechender Akzent wird noch mit Ref. VI 35,1 gesetzt, auch hier wiederum mit Bezug auf den Epheserbrief: »Alle Propheten also wie auch das Gesetz haben vom törichten Demiurgen gesprochen«, als ›Toren‹ nämlich, die doch gar nichts wissen – und deswegen eben sagt ja auch der Soter … (Joh 10,8) wie auch der Apostel von dem ›Geheimnis‹ spricht, »das den früheren Geschlechtern nicht kundgetan worden ist« (Eph 3,4 f.)824. Nicht zuletzt in diesem Zusammenhang ist noch auf eine offensichtlich analoge Situation in der antignostischen Polemik des Irenäus angesichts der Inanspruchnahme von Eph 3,18 durch die Gnostiker hinzuweisen: Unter Berufung auf 1 Kor 8,1 – »Die Erkenntnis bläht auf, die Liebe aber baut auf« – wird hier gegen den ›Erkenntnis‹-Drang der Gnostiker Stelung bezogen. Dementsprechend heißt es Adv. Haer. II 25,4: Ordinem ergo serva tuae scientiae et ne ut bonorum ignarus supertranscendas ipsum deum … neque super demiurgumrequiras quid est, non enim invenies … Und in diesen Zusammenhang fügt sich dann auch (unter der Über823

S. dazu bereits oben S. 441 f. Zur Benennung des ›Mysteriums‹ von Eph 3,5 in jeweils unterschiedlichen Kontexten vgl. auch Hippolyt, Ref. V 8,2; VII 25,3 und 26,7 (hier in Verbindung mit 2 Kor 12,4). 824

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schrift: indeterminabilis est enim artifex tuus) Eph 3,18 ein: Kein Mensch in seiner Geschöpflichkeit darf sich vermessen, die ganze Schöpfung zu durchmessen und deren ›Tiefe, Länge und Höhe‹ zu betrachten – und entsprechend Adv. Haer. IV 19,2 f.: Quatenus super deum extollitis cogitationes vestras? – und dies gilt auch im Blick auf Eph 3,18: exponite mihi plenitudinem, latitudinem et longitudinem et altitudinem, circummensuationis intitium et finem, quae non intelligit cor hominis et non apprehendit ea …, und schließlich am Ende seiner Argumentation (19,3): ›Allen‹ wohl sei doch klar, dass die ›Größe Gottes‹ nicht aus dem abzuleiten sei, was [ohnehin] ›allen offenbar‹ ist; und dass solche Größe ›alles enthält‹ (omnia continet), dies wird doch jeder bestätigen, quicumque digne deo sapit. Und zu solchem »angemessen von Gott denken, gehört in diesem Sinne nicht zuletzt auch die Einsicht in die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit«825.

Gewiß reichen die Indizien nicht aus, um in dieser Hinsicht eine Abhängigkeit der frühchristlichen Gnosis vom Epheserbrief festzustellen826. Deutlich ist gleichwohl, dass jene Rede von der ›Höhe und Tiefe‹ und ›Länge und Breite‹ in der kosmischen Formel von Eph 3,18 oder auch die Rede von der ›Fülle‹, vom Pleroma Gottes im Unterschied zum ›Mangel‹, zum Kenoma der irdischen Welt in der religionsgeschichtlichen Umwelt des Epheserbriefes gewisse Assoziationen auslöste, die in der frühchristlichen Gnosis eine spezifisch gnostische Rezeption solcher Redeweise nahegelegt bzw. veranlaßt hat. Die Möglichkeit, Eph 3,18 auf eine spezifisch gnostische Weise zu rezipieren, war hier jedenfalls offensichtlich – und damit nun aber auch eine gewisse ›Affinität‹ der Sprache des Epheserbriefes zur frühchristlichen Gnosis, einer Sprache gleichsam ›im Vorfeld der Gnosis‹827. In diesem Sinn stellt die Rezeption der beiden Briefe ›an die Kolosser‹ und ›an die Epheser‹ ohne Zweifel ein besonderes Kapitel in der Geschichte der Paulus-Rezeption in der frühchristlichen Gnosis dar. Bereits Th. Zahn hat diesen Sachverhalt in seiner ›Geschichte des neutestamentlichen Kanons‹ entsprechend betont: Es sei »nicht zu verwundern dass in allen Richtungen der verzweigten Schule [der Valentinianer] mit besonderer Vorliebe die Briefe an die Epheser und Kolosser citiert wurden«828. Sollte nun solche ›besondere Vorliebe‹ am Ende doch ihre Ursache darin haben, ›dass der Verfasser dieser Briefe‹, so wiederum Th. Zahn in der Wiedergabe der Position von F. Chr. Baur829, »von denselben gnostischen Ideen erfüllt war, welche der valentinianischen Lehre zu Grunde lagen?« – nun, in der weitergehenden Forschungsgeschichte ins825 Ganz in diesem Sinn schließt der ganze Zusammenhang Irenäus, Adv. Haer. II 25,3–28,9 menschliche Selbstbescheidung im Umgang mit der ›Größe‹ und ›Tiefe‹ Gottes ein. 826 So mit Recht bereits J. Gnilka, Der Epheserbrief, S. 35. 827 So wiederum J. Gnilka, Der Epheserbrief, S. 159, Anm. 4: »Eph ist bestenfalls als prägnostisch anzusehen«; ebd., S. 326: Der Verf. des Eph bewege sich »im Vorfeld der Gnosis«. 828 Th. Zahn, Geschichte des neutestamentlichen Kanons I/2, S. 751. 829 Th. Zahn, ebd., S. 756, mit Hinweis auf die 2. Auflage von F. Chr. Baur, Paulus, der Apostel Jesu Christi, S. 10 ff. 21 f. 23 ff. und S. 50 ff. – Zur Position von F. Chr. Baur im Blick speziell auf den Eph vgl. H. Merkel, Der Epheserbrief in der neueren exegetischen Diskussion, S. 3162–3164.

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besondere des 20. Jahrhunderts hat man in dieser Hinsicht, mit Recht wohl, zurückhaltender geurteilt, obwohl doch auch immer wieder, und sei es auch nur speziell im Blick auf den ›Mysterien‹-Charakter beider Briefe830, zumindest die Frage zur Debatte stand (und steht), ob und inwieweit eben der letztere, der als solcher ja für mancherlei Optionen offensteht, eine gewisse ›Potentialität‹ in Richtung auf ein gnostisches Verständnis der Kolosser- und Epheserbriefe signalisiert; eine ›Potenz‹, die unter den kirchen- und religionsgeschichtlichen Bedingungen eines Übergangs vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert am Ende nur noch der entsprechenden Explikation bzw. Aktualisierung in den gnostischen Systemen des 2. Jh.s bedurfte. Kann man also im Blick auf diese beiden Briefe, unter der Voraussetzung, dass die gnostischen Grundprinzipien ›principiell verschieden von denen des Christentums‹ sind831, in einem bestimmten Sinn sogar von einem ›Schwellencharakter‹ des Kolossser- und des Epheserbirefes im Blick auf die Relation Christentum – Gnosis sprechen? – in dem Sinne jedenfalls, in dem seinerzeit G. Heinrici die Frage stellte: »Doch waren jene Anknüpfungspunkte, welche die Gnosis in der Schrift fand, rein äußerlich? Fehlte der Gnosis jede innere Berührung mit dem Geist, der die Schrift beseelt? Schon die Energie, mit der sie sich an die Urkunden des neuen Testaments drängt, jene Vorliebe, man möchte sagen jener wahlverwandte Zug, der sie vorgend zu bestimmten Schriften desselben führte, gebietet Vorsicht im Urteil«832. Und nicht zuletzt: Auch in der neueren Forschung gibt es Stimmen, die in diese Richtung weisen – so z.B. wenn A. Lindemann in seiner rezeptionsgeschichtlichen Studie ›Paulus im ältesten Christentum‹ feststellt: »… aber den ersten Schritt in Richtung auf Eph und die weitere(!) christliche Gnosis ist der Vf des Kol bereits selbst gegangen – er hat ihn nicht nur vorbereitet«833. Ob man deshalb den (Kolosser- wie auch den) Epheserbrief als bereits ›prä-gnostisch‹ kennzeichen kann834, ist gewiß zunächst eine Ermessens830 H. Schlier, Der Brief an die Epheser, S. 16 ff. und S. 20 ff. Zur Position von H. Schlier zum Thema »Der Epheserbrief und die Gosis« vgl. wiederum H. Merkel, a.a.O., S. 3162–3164. 831 G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die Heilige Schrift, S. 189. 832 G. Heinrici, a.a.O., S. 187, hier auch mit dem Hinweis auf »die eigenthümliche Verwendung der Kunstwörter und im Epheser- und Colosserbrief« – mit dem Ergebnis: »all das scheint uns in eine dem Gnosticismus verwandte Sphäre zu weisen« (S. 188). In diesem Sinne auch R. M. Grant, Gnosticism and Early Christianity, S. 159 f. zu Kol: »Paul himself is moving in direction of Gnosticism«, und ebd., S. 160 f., zu Eph als Dokument eines »incipient Gnosticism«. 833 A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 121 f. Vgl. ebd., S. 129 f. zum Eph: »… eine theologische Synthese zwischen der paulinischen Tradition einerseits und den Vorstellungen der sich entwickelnden Gnosis andererseits«, hier (S. 130, Anm. 1) mit Verweis auf K. M. Fischer, Tendenz und Absicht des Epheserbriefes, S. 196: Eph »gibt der Gnosis einen Raum in der Kirhe, indem er ihre zentralen Anschauungen umdeutend aufnimmt«. 834 So K. Berger, in: TRE 13, S. 524. Zum Problem vgl. auch H. Koester, Einführung in das Neue Testament, S. 701 ff. und S. 705 ff. – Einschränkend in dieser Hinsicht wiederum E. Dassmann, Paulus in der Gnosis, S. 124: »Dass Paulus, insbesondere die deuteropaulinischen Epheser- und Kolosserbriefe für das valentinianische System … eine wichtige Rolle

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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frage; die Rezeptionsgeschichte beider Briefe im 2. Jh. macht in jedem Fall offenbar, dass in diesen beiden Briefen – in besonderer Weise – gewisse Prädispositionen für eine spezifisch gnostische Rezeption gegeben waren: eine ›gnoseologische‹ Sprache nämlich beider Briefe835, die ihren gnostischen Rezipienten die Möglichkeit darbot, sich selbst gleichsam in der Weisheitsund Erkenntnislehre beider Briefe wiederzufinden, und zwar ganz i.S. von Kol 1,9: »… damit ihr erfüllet werdet mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistgewirkten Erkenntnis«836. Soll oder kann man hier vielleicht sogar mit H.J. Holtzmann von einem ›theosophischen‹ Charakter beider Briefe sprechen? – Christentum also als ›Theosophie‹, der es – ganz i.S. von 1 Kor 2,10 – um die geistgewirkte Erkenntnis der unergründlichen ›Tiefen‹ Gottes geht?837. Bezeichnend für solche ›gnoseologische‹ Sprache beider Briefe ist es jedenfalls, dass Christus hier ingestalt einer ›Mysterien‹-Lehre verkündigt wird, wobei es freilich in beiden Briefen nicht um eine Mehrzahl von einzelnen ›Mysterien‹ geht, sondern am Ende nur um das einzige Mysterium, nämlich Christus selbst: ›In ihm‹ sind ja, wie es Kol 2,3 f. heißt, »alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen«, so dass es dementsprechend nichts anderes als eben dieses ›Mysterium Christi‹ (Kol 4,3) zu verkündigen gilt – oder auch, wie es Eph 6,19 heißt, das »Mysterium des Evangeliums«, jenes ›Geheimnis‹ nämlich, das nach Kol 1,26 f. »Einst verborgen war, jetzt aber offenbar geworden ist«. Solche ›Mysteriensprache‹ hat für einen gnostischen Rezipienten Anknüpfungsmöglichkeiten zur Genüge geboten für jene in der frühchristlichen Gnosis besonders geschätzten Geheimüberlieferungen und Geheimlehren, zu deren ›Erkenntnis‹ es einer besonderen ›Offenbarung‹ bedarf; Möglichkeiten, die besondere Sprache dieser beiden Briefe in eine explizit gnostische Sprache und Redeweise zu überführen. Und am Ende bedeutet dies, dass der Apostel Paulus hier, indem man seine bzw. die unter seinem Namen überlieferten Briefe unter einem spezifisch gnostischen ›Vorzeichen‹ las, nunmehr tatsächlich zum ›Apostel der Häretiker‹ geworden ist, auf den man sich denn auch ausdrücklich beruft: »deswegen auch sagt der Apostel …«838. Die Tatsache, dass in den beiden Briefen ›an die Kolosser‹ und ›an die Epheser‹ jene Theologie des ›Christusmysteriums‹ eine (implispielen, soll duchaus nicht geleugnet werden, nur läßt sich aus der Affinität zu Paulus keine Exklusivität ableiten«. 835 So F.-J. Steinmetz, Die Weisheit und das Kreuz, S. 233 ff. 836 Vgl. entsprechend auch Kol 1,28; 2,3 sowie Eph 1,8.17 f. und 3,10. 837 H. J. Holtzmann, Kritik der Kolosser- und Epheserbiefe, S. 215 ff.; ders., Lehrbuch der Neutestamentlichen Theologie II , S. 235 ff., hier S. 237: »Je mehr die gesunde Entwicklung des christl. Lebens durch die falsche Theosophie gerade auf dem Gebiete der Erkenntnis bedroht war, desto mehr musste das Evglm als die wahre Weisheitslehre dargestellt und der Irrlehre durch Beförderung der ächten Gnosis entgegengearbeitet werden«. 838 Exc. ex Theod. 48 (mit Zitat Eph 4,30); 49,1: »deswegen sagte der Apostel«; 85,3: »wie der Apostel sagt« (mit Zitat Eph 6,16). Vgl. auch Hippolyt, Ref. V 8,25; VI 35,1 (mit Zitat Eph 3,14 f.); VIII 18,2; 20,2 und IX 12,22.

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zite oder auch explizite) ›Kreuzestheologie‹ keineswegs ausschließt, steht bei alledem außer Frage839, stellt jedoch für die ohnehin eklektisch verfahrende gnostische Rezeption beider Briefe keineswegs ein Hindernis dar. Ganz in diesem Sinne ist bereits die grundsätzliche Kritik des Irenäus, Adv. Haer. I 20,1, zu verstehen, dass bei seinen gnostischen Kontrahenten ein spezielles Interesse an einer »ungeheuren Menge von apokryphen«, also ›geheimen‹ (und gefälschten!) Schriften bestehe, »die sie selbst erfunden haben« und die sie nunmehr ›vorbringen‹, um diejenigen, die »unverständig sind und die Schriften der Wahrheit nicht kennen, in Verwirrung zu bringen«. Welcher Art und welchen Inhalts jene ›apokryphen‹ Schriften gewesen sind, wird von Irenäus an dieser Stelle nicht im Einzelnen ausgeführt; in jedem Fall handelt es sich dabei um Schriften, in denen auf eine spezifisch gnostische Weise das ›Geheimnis‹ des Glaubens bzw. der ›Erkenntnis‹ enthüllt wird, und dies offensichtlich mit dem Anspruch, dass sie, die Gnostiker, allein, wie Irenäus bezeugt (Adv. Haer. II 28,6), die »unaussprechlichen Mysterien kennen« und deshalb in der Lage sind, »das Unbeschreibliche zu beschreiben« oder, wie es mit Bezug auf Kol 1,26 und Eph 3,9 Adv. Haer. III 2,2 heißt: et se vero indubitate et intaminate et sincere absconditum scire myterium840. Das Stichwort ›Mysterium‹ gehört in diesem Sinne ohne Zweifel zu den Grundbegriffen der frühchristlichen Gnosis, hier selbstverständlich mit einem durchaus elitären Anspruch verbunden, dass sie, die Gnostiker, allein imstande sind, jenes ›Mysterium‹ zu entschlüsseln bzw. zu ›erkennen‹. Dabei ist das entsprechende Zeugnis des Irenäus für eine Rezeption der ›Mysterientheologie‹ der beiden Briefe ›an die Epheser‹ und ›an die Kolosser‹ keineswegs so eindeutig, wie man es zunächst erwarten könnte. Wenn z.B. im Referat des Irenäus, Adv. Haer. I 12,4, im Zusammenhang einer Erörterung über die Christologie seiner Kontrahenten von dem ›großen und verborgenen Geheimnis‹ die Rede ist, so liegt es zwar nahe, dabei an die entsprechende Formulierung in Kol 1,26 bzw. Eph 3,9 zu denken; fraglich bleibt gleichwohl, ob es sich hier jeweils um ein Zitat aus dem Kolosser- bzw. Epheserbrief handelt. Entsprechendes gilt auch im Blick auf seine Rede von den inennarrabilia mysteria bzw. vom absconditumm mysterium in Adv. Haer. II 28,6 und III 2,2841. Unbeschadet dessen ist deutlich, dass die ›Mysteriensprache‹ beider unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefe für eine spezifisch gnostische Lesart die Anknüpfungsmöglichkeit boten.

Ganz anders demgegenüber stellt sich der entsprechende Sachverhalt in der ›Refutatio omnium haeresium‹ des Hippolyt dar. Dies ist darin begründet, 839

Vgl. dazu F. Steinmetz, Die Weisheit und das Kreuz, S. 235–238. Vgl. auch Adv. Haer., Praefatio, die Bezugnahme auf die sententiae absconditae des Valentinus, sowie Adv. Haer. I 12,4, hier im Zusammenhang einer Darlegung der gnostischen Christologie: »Dass einige Gnostiker den ›Vor-Vater aller Dinge‹ als ›Anthropos‹ bezeichnen« – »dies ist das große und verborgene Mysterium« [Kol 1,26; Eph 3,9], das »Geheimnis« nämlich, »dass die Kraft, die über allem ist und alles in sich enthält, Anqrwpoj genannt wird – und deswegen nennt der Soter sich »Menschensohn«! 841 Vgl. auch Adv. Haer. III 3,1: recondita mysteria. 840

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dass Hippolyt im Unterschied zu Irenäus daran interessiert ist, die PaulusRezeption seitens der Gnostiker speziell im Blick auf den Kolosser- und den Epheserbrief in einen umfassenden philosophie- und religionsgeschichtlichen Horizont einzufügen. Kennzeichnend dafür ist bereits die Inhaltsübersicht in der Vorbemerkung zum 1. Buch seiner Refutatio: Hier werden im ersten Abschnitt bereits die ›Lehrmeinungen‹ ( ) der griechischen Philosophen den »abscheulichen« und »nicht auszusprechenden Mysterien« der gnostischen Häretiker gegenübergestellt. Generell ist dabei für die Darstellung des Hippolyt die Einbeziehung des Stichwortes , wie es in der frühchristlichen Gnosis gebraucht wird, in den Kontext der hellenistischen Mysterienreligionen charakteristisch. Das hat zur Folge, dass das Stichwort fast durchweg, so bereits Ref. I, Prooemium 2, mit den Epitheta , und versehen wird842. Inhaltlich gesehen ist dabei nach gnostischem Verständnis das ›unaussprechliche Mysterium‹ darauf ausgerichtet, ›woher‹ bzw. »wodurch ein ›Pneumatiker‹ [und] nicht ein ›Sarkiker‹ zu dem geworden ist [was er ist]«, sofern jedenfalls er, der Gnostiker, jenes ›im Schweigen verborgene Geheimnis‹ zu verstehen vermag843. Die Bedingung dafür ist nach Meinung des Hippolyt der exklusive Anspruch der Gnostiker, dass allein sie es sind, die jene ›Mysterien‹ bzw. – wie es Ref. V 6,4 heißt – die ›Tiefen [Gottes]‹ zu erkennen vermögen844 – ein exklusiver Anspruch also der Gnostiker, der seinerseits wiederum die entsprechende Arkandisziplin zur Folge hat, die Weitergabe der entsprechenden Überlieferungen allein an ›die Würdigen‹. Bei alledem verbindet sich bei Hippolyt mit seinem Referat über die Lehren seiner Kontrahenten zugleich die entsprechende Kritik und Polemik, so besonders deutlich wiederum im Prooemium zum ersten Buch seiner Refutatio: Hier heißt es im § 8, dass die gnostischen Häretiker ihre »Erfindungen« nicht etwa »aus den Heiligen Schriften«, sondern statt dessen »in jeder Hinsicht aus der Weisheit der Griechen, aus philosophischen Meinungen, erdichteten Reden sowie aus den ausschweifenden Phantasien der Astrologen« begründet haben. »Unzählbar« also sind, wie es Ref. V 10,1 heißt, ihre »törichten Erfindungen«, »unsinnig und geschwätzig«, wozu an dieser Stelle als herausragendes Beispiel dafür das Zitat des gnostischen ›Naasenerhymnus‹ (Ref. V 10,2) tritt, abgeschlossen mit der Bemerkung: »Solcher Art nun sind die Erfindungen der Naassener, die sich doch selbst ›Gnostiker‹ nennen« (Ref. V 11,1). Eben dies gilt nun selbstverständlich auch für jene Art von ›Mysterientheologie‹, wie sie, nach der Meinung der Gnostiker jedenfalls, in den beiden Briefen ›an die Kolosser‹ und ›an die Epheser‹ entfaltet wird. Der ›Kanon‹ 842 Vgl. Prooemium 5 sowie die weiteren Belege bei M. Marcovich, Hippolytus, Refutatio, S. 487 f. 843 So Ref. V 8,7; vgl. auch V 8,10. 844 Vgl. auch Ref. V 8,9 sowie 8,29 und 11,1.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

für die konkrete Auswahl aus diesen beiden Briefen ist auch hier wieder die eigene gnostische Grundposition, so z.B. besonders deutlich in Ref. VII 25,3, wo das ›Mysterium‹ von Eph 3,4 f., ›das den früheren Geschlechtern nicht kundgetan worden ist‹, vermittels der exegetischen Formel ›dies ist / dies bedeutet‹ jenem ›großen Archon‹ zugeordnet wird, der da wähnte, er selbst sei »der einzige Gott und über ihm kein anderer«. Ganz entsprechend wird nach dem Zeugnis von Ref. V 8,5 das »den früheren Geschlechtern unbekannte Mysterium« von Eph 3,4 f. auf das »unaussprechliche Geschlecht des vollkommenen Menschen« gedeutet und auf diese Weise wiederum in einen genuin gnostischen Kontext einbezogen. Dem entspricht es schließlich auch, wenn Ref. VII 26,7, hier im Kontext der gnostischen Lehre von den ›Archonten‹ und »der in der Gestaltlosigkeit wie eine Fehlgeburt zurückgelassenen Sohnschaft«, eben jenes Mysterium von Eph 3,4 f. offenbar gemacht wird, »das den früheren Geschlechtern nicht kundgetan worden ist«845. Aufs Ganze gesehen bedeutet dies: Nicht mehr jene für den Kolosserwie auch für den Epheserbrief charakteristische ›kirchen- bzw. missionsgeschichtliche‹ Deutung des Mysteriums – konkret: im Sinne einer Teilhabe der Heiden am Heil – ist hier bestimmend846; vielmehr gewinnt in einem gnostischen Kontext jenes ›Geheimnis‹ gleichsam seinen nichtchristlichen Stand wieder; und d.h.: Von einem »in der Öffentlichkeit«, in der Missionspredigt also, kundgetanen »Mysterium des Evangeliums« (Eph 6,19) kann hier, im gnostischen Kontext, nicht mehr die Rede sein. In methodischer wie auch in sachlicher Hinsicht entsprechendes gilt dies für die gnostische Rezeption der für den Kolosser- wie auch für den Epheserbrief charakteristischen Theologie des Pleroma und der Äonen, die – so jedenfalls, wie sie sich in beiden Briefen darstellt – in besonderer Weise die Frage einer ›gnosisnahen‹ Sprache des Neuen Testaments aufwirft: Nicht zufällig hat R.A. Markus in seiner Studie ›Pleroma and Fulfilment‹ ›the notorious gnostic utilisation of St. Paul’s language describing the fulness of godhead dwelling in Christ‹ hervorgehoben847, und auch Irenäus lässt keinen Zweifel daran, dass die frühchristlichen Gnostiker sich ihrerseits für ihre Pleroma- und Äonen-Theologie vorzugsweise auf den Paulus des Kolosser- und des Epheserbriefs berufen haben: ›Auch Paulus‹, so heißt es Adv. Haer. I 3,1, »nennt diese [Lehre der Gnostiker] ganz offen oft genug, und er hat [darüber hinaus] auch ihre Ordnung bedacht«, wenn er sagt: »… für die Geschlechter des Äons der Äonen« (Eph 3,21); und weiter (ebd.): 845 An dieser Stelle mit dem Zusatz: und folgendem Zitat von 2 Kor 12,4. Ref. VI 35,1 wird Eph 3,4 f. in die gnostische Lehre vom ›Demiurgen‹ einbezogen. 846 Vgl. dazu Kol 1,27; Eph 3,6 sowie Eph 1,9 f. 20 ff. sowie 3,10: Das Mysterium des erhöhten Christus als Auftakt einer »Befriedung des Kosmos«. 847 R.A. Markus, Pleroma and Fulfilment, S. 202. – Zur gnostischen Pleroma- und Äonentheologie im Einzelnen vgl. K. Müller, Beiträge zum Verständnis der valentinianischen Gnosis, S. 179–224; G. Delling in: ThWNT VI , S. 299 f., sowie die eingehende Auseinandersetzung zum Thema bei Irenäus, Adv. Haer. II 15,1–17,14.

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»Und wo auch immer [das Wort] ›Äon‹ oder ›Äonen‹ [bei Paulus oder im Neuen Testament insgesamt] genannt wird, ist es nach ihrer Meinung stets ein Hinweis auf jene [gnostischen] Äonen«. Entsprechendes gilt auch für das Stichwort ›Pleroma‹: »Und deshalb, sagen sie [die Gnostiker], hat Paulus eindeutig erklärt: ›Und er ist das All‹ [Kol 3,11], oder auch: ›Alles ist zu ihm, und das All ist aus ihm‹ [Röm 11,36] oder auch: ›In ihm wohnt die ganze Fülle Gottes‹« [Kol 2,9]. Über solche einzelnen Belege hinaus ist für die gnostische Rezeption der Pleroma- und Äonentheologie des Kolosserund des Epheserbriefes eine gewisse Vereinheitlichung der dicta probantia aus beiden Briefen charakteristisch: Während beim Gebrauch von ›Pleroma‹ im Kontext beider Briefe ursprünglich zwischen einem christologischen Gebrauch i.S. der Rede von der ›Fülle‹ Gottes in Christus (Kol 1,19; 2,9 und Eph 4,13), einem gleichsam ›heilsgeschichtlichen‹ Gebrauch i.S. der ›Fülle der Zeiten‹ (Eph 1,10)848 und einem ekklesiologischen Gebrauch i.S. von Eph 1,23 zu unterscheiden ist, stellt sich der Sachverhalt der gnostischen Rezeption der genannten Belege relativ einheitlich dar: Infolge ihrer Einbeziehung in einen genuin gnostischen Kontext dienen sie nur noch einer gleichsam nachträglichen Bestätigung der vorgefaßten gnostischen Grundposition: ›Pleroma‹, das ist nunmehr der Ort der jenseitig-göttlichen ›Fülle‹ und Vollkommenheit, und zwar im Gegensatz zur irdischen Welt als einem Ort des ›Mangels‹ ( ) und der ›Leere‹ ( )849. Von daher gesehen spricht im Übrigen nur wenig dafür, dass, was speziell den Kolosserbrief betrifft, das Stichwort ›Pleroma‹ ursprünglich ein Terminus der kolossischen Häresie gewesen ist850. – Während also für Irenäus und seine ›heilsgeschichtliche‹ Theologie der Sinn der Schrift eben in der ›Fülle der Zeit‹, d.h. in der ›Fleischwerdung des Sohnes Gottes‹, ein für allemal gegeben ist, liegt der Sinn einer unter einem gnostischen Vorzeichen rezipierten Schrift im Verweis auf ein ›Pleroma‹ jenseits von Zeit, Raum und Geschichte851. Diesen gewiss nicht vollständigen Überblick über die gnostische Rezeption der unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefe abschließend bleibt noch der Hinweis darauf, dass die gnostische Exegese sich keines848 Vgl. auch das Fragment aus Theodoret, Eranistes 1 bei Irenäus, Adv. Haer. III 17,4: »Als aber die Fülle der Zeit gekommen war …«, sowie die Definition von bei E. Lohse, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon (KEK 9/2), S. 99: »Aus der hellenistischen Umwelt hat die christliche Gemeinde das Wort aufgenommen, um von Gottes Fülle zu reden, die in dem Einen zu wohnen beschloß. Damit ist aber der Begriff aus dem Zusammenhang der Kosmologie in den der Soteriologie übertragen worden«. 849 Vgl. z.B. Hippolyt, Ref. VI 34,2: »… damit das Pleroma in einer vollkommenen Zahl versammelt sei«, sowie ebd., V 8,30 und Irenäus, Adv. Haer. I 7,1. Dazu im Einzelnen H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 208 ff. und S. 362 ff. 850 So noch M. Dibelius in seinem Kommentar (HNT 12), 3. Aufl. bearb. von H. Greeven, S. 18 f. 851 Vgl. A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 28 sowie S. 81 und S. 106: »Irenäus sucht nicht in einem überkosmischen Pleroma nach Urbildern, nach dem Sinn und Maß für das Weltgeschehen, sondern im Pleroma der Zeit, im Wirken Christi, aus dessen Fülle wir alle empfangen haben, liegt seine Norm und sein Ausgangspunkt«.

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wegs auf jene Briefe beschränkt hat, die ihrerseits bereits mehr oder weniger deutliche Ansätze für eine spezifisch gnostische Rezeption dargeboten haben. In diesem Sinne gab es offensichtlich auch im Römerbrief des Paulus sowie im Philipperbrief ein gewisses Potential für eine spezifisch gnostische Rezeption. Nicht zufällig beklagt so bereits Origenes in der Praefatio zu seinem Kommentar zum Römerbrief des Paulus, dass bestimmte Probleme bei der Auslegung dieses Briefes nicht nur in diesem selbst begründet sind, sondern auch darin, dass gewisse Häretiker ex paucis huius epistolae sermonibus totius Scripturae sensum … conantur evertere852. So gesehen genügte für eine spezifisch gnostische Lesart bereits die Unterscheidung von ›Geist‹ und ›Buchstabe‹ in Röm 2,28 f. aus, um eine esoterische Auslegung im Sinne der frühchristlichen Gnosis zu legitimieren, und zwar i.S. jener geläufigen gnostischen Unterscheidung zwischen den ›Pneumatikern‹ einerseits und den ›Psychikern‹ andererseits853. Exemplarisch für eine solche Exegese stehen vor allem das 5. und das 8. Kapitel des Römerbriefes. So wird z.B. in den valentinianischen Excerpta ex Theodoto, hier im Exc. 49,1, die Aussage von Röm 8,20 von der »Unterordnung der Schöpfung unter die « von Röm 8,21 in gnostischer Lesart in einen gnostischen Kontext gestellt, in dem es nunmehr, bei Streichung des Stichwortes , um die »ignorance du Démiurge« geht854. Dementsprechend wird auch die ursprünglich futurisch-eschatologische Ankündigung der Befreiung der Schöpfung von Röm 8,21 auf eine endzeitliche Sammlung der göttlichen aus der Welt bezogen. Ein weiteres signifikantes Beispiel für eine spezifisch gnostische Adaption des 8. Kapitels des Römerbriefs findet sich nach dem Zeugnis des Hippolyt, Ref. VII 25,1 ff. auch für Basilides: Im Anschluß an das Zitat von Röm 8,19.22 heißt es hier speziell im Blick auf die ›Erwartung der Söhne Gottes‹: »Die Söhne sind wir, die Pneumatiker«; und ebenso wird auch Röm 5,13 f. – »bis zu Mose von Adam an herrschte die Sünde« – ganz in gnostischer Manier auf die Herrschaft des ›Großen Archon‹ bezogen, jenes Herrschers also, der, wie es hier (Ref. VII 25,3) heißt, »sich selbst für den einzigen Gott hielt, über den kein anderer ist«. Und schließlich wird dies alles auf die Herrschaft des bezogen, jenes ›Herrschers‹ also, der, wie es Ref. VII 25,3 heißt, »sich selbst für den einzigen Gott hielt, über dem kein anderer ist«. Und endlich wird dies alles auf jenes ›Mysterium‹ von Eph 3,3.5 und Kol 1,26 f. bezogen, auf jenes ›Geheimnis‹, das nach Eph 3,3.5 und Kol 1,26 f. »Den früheren Geschlechtern unbekannt war« – insgesamt ein in sich konsistenter Zusammenhang, der B. Aland zu der These Anlaß gegeben hat, »dass der Basilideskreis mit zeitgenössischen Mitteln – mythischen 852

Origenes, Comm. In Epist. S. Pauli ad Romanos, Praefatio (Mogne, PG XIV, 833). Dazu E. H. Pagels, The Gnostic Paul, S. 6 f.; dies., The Valentinian Claim to Esoteric Exegesis of Romans, S. 244. 854 F. Sagnard, in: SC 23, S. 162, zu Exc. 49,1. 853

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und philosophischen – Paulus interpretiert«855 – eine Paulus-Interpretation auch hier wiederum, wie in der frühchristlichen Gnosis insgesamt, im Sinne einer sekundären Adaption der Paulusbriefe an die jeweils bereits vorgefaßte gnostische ›Hypothese‹. Entsprechendes gilt endlich auch für die Rezeption des Philipperbriefes in der frühchristlichen Gnosis: Ganz unabhängig von der in der Forschungsgeschichte oft erörterten Frage, ob das Phil 2,6–11 überlieferte ›Christuslied‹ seinerseits bereits in einem gnostischen Traditionszusammenhang zu verstehen ist856, ist hier offensichtlich, dass gerade dieser in sich geschlossene Textzusammenhang für gnostische Rezipienten im Rahmen ihrer Vorstellungen vom ›Pleroma‹ und vom ›Kenoma‹ gewisse Prädispositionen für eine spezifisch gnostische Rezeption darbot. Ganz in diesem Sinne wird in den valentinianischen Excerpta ex Theodoto, hier im Exc. 35,1–2, mit ausdrücklicher Berufung auf ›den Apostel‹ Phil 2,7 zitiert und die Formulierung vermittels der exegetischen Formel , d.h.: ›dies bedeutet‹, auf die gnostische Lehre vom ›Pleroma‹ bezogen: ›Sich-entäußern‹ bedeutet in diesem Sinn: Er, Christus, »ist außerhalb der Grenze des Pleromas geraten, da er ein Bote des Pleroma war«857. – Auch Hippolyt wiederum überliefert für verschiedene gnostische Schulen Beispiele für eine spezifisch gnostische Rezeption von Phil 2,6 ff.: So für die Sethianer in Ref. V 19,20 f., wo im Blick auf Phil 2,7 vom »Ablegen ( ) der Knechtsgestalt« sowie entsprechend vom »Anziehen ( ) des himmlischen Gewandes« die Rede ist. – Nach Ref. X 11,10 f. bedeutet die Aussage von Phil 2,6 f. im Kontext der Lehre der sethianischen Gnosis von der Errettung der ›Lichtfunken‹, dass ›der vollkommene Logos des oberen Lichts in eine Schlange verwandelt in den Mutterleib eingegangen‹ sei, »damit er jenen , den Lichtfunken nämlich, [aus der Finsternis] heraufzuholen vermag« – insgesamt wiederum ein charakteristisches Beispiel für die Adaption einer einer christologischen Grundaussage des Philipperbriefes an eine spezifisch gnostische Soteriologie, ein Verfahren, das Hippolyt seinerseits nur noch mit dem Satz zu kommentieren vermag: »So treiben es die von Dämonen bessenen Sethianer«. Solcher ›Exegese‹ von Phil 2,6–11 entspricht es dann auch, wenn, wiederum nach dem Zeugnis des Hippolyt, Ref. V 8,22, die Dreiteilung des Kosmos in Phil 2,10 von den Naassenern (in Verbindung mit Eph 2,17) i.S. gnostischer Anthropologie gedeutet wird, i.S. also einer Charakterisierung der ›Hyliker‹ und der ›Choiker‹ einerseits und der ›Pneumatiker‹ bzw. der »verständigen vollkommenen Menschen« andererseits. Auf dieser anthropologischen Linie liegt nach dem Zeugnis von Ref. V 21,6 schließlich auch die das Selbstver855

B. Aland, Seele, Zeit, Eschaton bei einem frühchristlichen Theologen, S. 264 f. Vgl. z.B. die Kennzeichnung von Phil 2,6–11 als ›gnostisches Weglied‹ durch K. Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums, S. 144 ff. 857 Vgl. auch das Zitat von Phil 2,9 (im Zusammenhang mit Eph 4,9 f.) in Exc. ex Theod. 43,4 f. 856

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ständnis der Sethianer widerspiegelnde Deutung von Phil 3,20: »Uns allein, den wiedergeborenen Pneumatikern, die [als solche] nichts Fleischliches mehr an sich haben, ist das zu eigen«858. Dies alles, was bisher an Beispielen für die Rezeption der paulinischen (und deuteropaulinischen) Briefe nach dem Zeugnis der frühkirchlichen Häresiologen im Einzelnen genannt worden ist, steht exemplarisch für die Methodik einer gnostischen Exegese, sich das Paulus-Erbe des frühen Christentums konsequent zugunsten der eigenen, genuin gnostischen Hypothese anzueignen. Am Ende bleibt somit nur noch die angesichts der gnostischen Originalschriften von Nag Hammadi immerhin naheliegende Frage zu beantworten, ob der bisher aus den Sekundärzeugnissen der frühkirchlichen Häresiologen gewonnene Befund auch durch diese gnostischen Originaltexte bestätigt wird.

Exkurs: Zur Frage der Paulus-Rezeption in den gnostischen Schriften von Nag Hammadi Die Formulierung »Zur Frage der Paulus-Rezeption …« soll bereits ein Problem in dieser Hinsicht signalisieren, die Frage nämlich, ob es überhaupt in den Schriften von Nag Hammadi ein bemerkenswertes Zeugnis für die spezifisch gnostische Rezeption der unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefe gegeben hat. Jüngere Untersuchungen zu dieser Fragestellung sind zu einem eher zurückhaltenden Urteil in dieser Hinsicht gelangt. In der einschlägigen Untersuchung von A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, ist dies zunächst gewiß in seinem generellen Urteil begründet, »dass dem Apostel von den Gnostikern in der Tat eindrückliche Epitheta gegeben werden, dass ihm aber eine einmalige und überragende Stellung offenbar nicht zuerkannt wird«859. Und noch deutlicher spricht derselbe Autor im Anschluss an seine Überprüfung der Paulus-Zitate speziell in den Schriften von Nag Hammadi von einer »Zurückhaltung der Gnostiker Paulus gegenüber«, die letztlich darin begründet sei, »dass sich die paulinische Theologie in ihrem eigentlichen Kern einer gnostischen Interpretation entzog«, hier zugleich mit der Schlußfolgerung: »Die Gnostiker sahen offenbar überhaupt keine spezifische Affinität zwischen ihrem eigenen Denken und der Theologie des Paulus«, woran sich dann alsbald das Votum anschließt: »Das Interesse [sc.: der Gnostiker] bestand in erster Linie darin, solche christliche Traditionen in das gnostische Denken zu integrieren, die geeignet waren, den eigenen [gnostischen] Ansatz weiter zu verdeutlichen und auszubauen«860. Dem entspricht das Urteil von E. Dassmann, der zwar ausdrücklich einige 858

Vgl. hier auch die Bezugnahme auf Phil 2,7: A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 100 f. 860 Ebd., S. 342. Vgl. auch S. 400. 859

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4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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Zeugnisse für den, wie er formuliert, »sparsamen Paulusgebrauch« in den Schriften von Nag Hammadi benennt, um dann am Ende festzustellen: »Das ist schon alles …«861. Solcher Befund stünde in einem bemerkenswerten Gegensatz zum Befund der Paulus-Rezeption nach dem Zeugnis der frühkirchlichen Häresiologen: Hier bedurfte es ja offensichtlich durchaus nicht erst einer besonderen Affinität des Apostels zu spezifisch gnostischen Positionen, um ›den Apostel‹ oder sogar ›den großen Apostel‹ für die eigene gnostische Position in Anspruch zu nehmen. Entsprechendes gilt nun offensichtlich auch für die gnostischen Originalschriften von Nag Hammadi: Nur mit Vorbehalt ist in dieser Hinsicht auf jene zwei Schriften von Nag Hammadi hinzuweisen, die sich ihrerseits ausdrücklich auf den Apostel berufen: Die Apokalpse des Paulus (NHC V/2) und das Gebet des Paulus (NHC I/5), in denen lediglich Anspielungen auf die Paulusbriefe wahrscheinlich zu machen sind862; aussagekräftiger in dieser Hinsicht ist die Schrift Vom Wesen der Archonten (NHC II /4), in der es p. 86,21–26 heißt: »Der große Apostel sagte zu uns über die Mächte der Finsternis«, hier zugleich mit Zitierung von Eph 6,12863. Schon von daher gesehen ist die Tatsache, dass der Apostel Paulus auch nach dem Zeugnis der Schriften von Nag Hammadi in bestimmten Kreisen der frühchristlichen Gnosis in hohem Ansehen stand, nicht zu bestreiten. Problematisch ist lediglich, dass in diesen Schriften im Einzelnen nicht immer eindeutig ist, ob es sich jeweils tatsächlich um ein Zitat oder lediglich um eine Anspielung auf die unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefe handelt864. Gerade letzteres könnte freilich auch ein Symptom dafür sein, dass die jeweiligen ›Zitate‹ oder Reminiszenzen ihrerseits in den jeweiligen gnostischen Kontext integriert worden sind – und eben auf diese Weise demonstrieren, dass es jenen gnostischen Paulus-Rezipienten gerade darauf ankam, das Zeugnis des Apostels ganz in den neuen gnostischen Kontext zu integrieren: ›Anpassung‹ an den neuen gnostischen 861 E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch, S. 198; ders., Paulus und die Gnostiker, S. 125 ff. Vgl. auch das Urteil von R.A. Bullard, The Hypostasis of Archons, S. 47: »Indeed, it ist unusual to find a citation form the Pauline literature at all, for references to Paul are not common in Gnostic literature. Apart from the Apocalypse of Paul in Codex V, Paul is never named in the Nag Hammadi texts, although there are allusions«. 862 So im »Gebet des Paulus« (NHC I/1) in Anspielung auf Phil 2,9 sowie auf 1 Kor 2,9. Ob man aus dem hier nicht angeführten Versteil (»Was Gott bereitet hat …«) eine gezielte Streichung erschließen kann, ist unwahrscheinlich. So aber A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 324 f.: »Paulus selbst interpretiert das Wort als Offenbarung ›für die, die Gott lieben‹, nicht als esoterische Geheimmitteilung«. 863 Zu weiteren Bezugnahmen auf Eph, Kol und 1 Kor in NHC II /4 vgl. E. H. Pagels, Exegesis and Exposition of the Genesis Creation Accounts from Nag Hammadi, S. 279–285. 864 Zur Problematik in dieser Hinsicht vgl. C.A. Evans u.a., Nag Hammadi-Texts and the Bible, A Synopsis and Index, S. XVIII ff., hier zunächst i.S. der Unterscheidung zwischen ›probability‹ und ›possibility‹: »citation of biblical texts indicates the reasonable probability that there is some form of influence between the text of Scripture and the texts of the Nag Hammadi tractates … The citation of biblical references only suggests that there is only a possibility of some form of influence between the biblical text and the Nag Hammadi text«.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Kontext also auch in dieser Gestalt! Nicht zuletzt in diesem Sinne bestätigt die Paulus-Rezeption in den Schriften von Nag Hammadi in formaler wie auch in sachlicher Hinsicht durchaus »das Gewicht des Paulus für Denken und Selbstverständnis der christlich-gnostischen Gruppen«865. Im Folgenden ist dies – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – an einigen ausgewählten Beispielen zu untersuchen: So hat vor allem der sog. Rheginosbrief aus dem Kodex I von Nag Hammadi (NHC I/4), nach seiner subscriptio auch die »Abhandlung (kopt.: plogos) über die Auferstehung« genannt, auf seine Weise teil an einer Diskussion, die im 2. nachchristlichen Jahrhundert offensichtlich von besonderer Aktualität war und die auch Tertullian in seiner Streitschrift De resurrectione mortuorum bezeugt866, Zur Debatte steht dabei die Frage nach der (gegenwärtigen) Realität der ›Auferstehung‹ oder, wie diese Frage im Rheginosbrief formuliert bzw. bereits beantwortet wird: »Warum betrachtest du dich nicht selbst als [bereits] auferstanden?« (NHC I/4, p. 49,29 f.)). Die Beantwortung dieser aktuellen Frage erfolgt hier, im Rheginosbrief, ganz analog zu der Art und Weise, in der sie auch Tertullian für seine gnostischen Kontrahenten bezeugt, mit dem Verweis nämlich auf bestimmte ›dicta probantia‹ aus der paulinischen und deuteropaulinischen Briefliteratur und, damit zugleich, mit der Einfügung dieser dicta probantia in einen spezifisch gnostischen Kontext. Obwohl wörtliche Zitate dabei im Rheginosbrief nicht nachweisbar sind, steht hier eine (auch die deuteropaulinischen Briefe einschließende) Paulus-Rezeption außer Frage. Auch A. Lindemann, in seinem Urteil über die Paulus-Rezeption im ›Rheginosbrief‹ eher zurückhaltend, urteilt, dass »der Einfluß der Paulus-Tradition im Rheg[inosbrief] größer [ist] als in jeder anderen gnostischen Schrift von Nag Hammadi«867. Ausdrücklich bezieht sich der Autor dieser Schrift auf den Apostel. Dabei bezeugt auch hier wiederum die Auswahl der Zitate (oder auch Anspielungen) das besondere, d.h. gnostische Vorverständnis im Blick auf die Paulus-Tradition. Dies gilt nicht nur im Blick auf das 15. Kapitel des 1. Korintherbriefs, das in der frühchristlichen Gnosis insgesamt ein besonderes Interesse gefunden hat, sondern hier, im Rheginosbrief, insbesondere im Blick auf die Rede des Paulus in V. 54 vom »Verschlungensein des Todes in den Sieg«: »Der Soter verschlang den Tod« (NHC I/4, p. 45,14–18), was in gnostischer Interpretation zuerst in christologischer Hinsicht heißt: »… er verwandelte sich 865 So K. Koschorke, Paulus in den Nag-Hammadi-Texten, S. 179, hier auch mit der entsprechenden Kritik an der Poition von A. Lindemann: »Lindemanns These jedoch, dass die Gnostiker offenbar überhaupt keine spezifische Affinität zwischen ihrem eigenen Denken und der Theologie des Paulus [sahen], dürfte sich nicht aufrechterhalten lassen«. 866 De ressurrectio mort. 19,4 f. und dazu K. Koschorke, a.a.O., S. 198, sowie S. 179, Anm. 8, und S. 202 mit Anm. 64, hier mit dem Hinweis, dass Tertullian sich fast durchgängig mit den paulinischen Beweistexten für das gnostische Verständnis der ›Auferstehung‹ auseinandersetzt. 867 A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 322.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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in einen unvergänglichen Äon«, in soteriologischer Hinsicht aber zugleich: »Der Soter stand auf, indem er das Sichtbare durch das Unsichtbare verschlang«, was i.S. des Autors des Rheginosbriefs bedeutet, dass die »pneumatische Auferstehung« (sc.: der Gnostiker) die ›psychische‹ wie auch die ›sarkische Auferstehung verschlingt‹ (p. 45,39–46,3), letzteres möglicherweise eine Bezugnahme auf 1 Kor 15,44: »Es wird gesät ein psychischer Leib, und es wird auferweckt ein pneumatischer Leib«868. In diesem Zusammenhang findet sich denn auch p. 45,23 ff. sogar ein ausdrückliches PaulusZitat: ›Dann aber, wie der Apostel (selbst) sagte: »Wir litten mit ihm, und wir standen auf mit ihm, und wir gingen in den Himmel mit ihm‹«. Dies ist zwar kein wörtliches Zitat, enthält aber doch, wie M.L. Peel nachgewiesen hat869, deutliche Anspielungen auf Röm 8,17; Eph 2,5 f. und Kol 2,12. Die Frage, ob dabei, wie A. Lindemann vermutet hat, »die bereits ihrerseits von gnostischen Vorstellungen bestimmten Aussagen von Eph 2 … offenkundig den hermeneutischen Schlüssel [bildeten]«870, sei hier dahingestellt; in jedem Falle aber setzt die Argumentation des Rheginosbriefes an dieser Stelle eine Art Weiterentwicklung der Paulus-Tradition voraus, und zwar auch hier wiederum unter der Voraussetzung einer spezifisch gnostischen Grundposition des Autors des Rheginosbriefs. Symptomatisch für solche sekundäre ›Gnostisierung‹ der Paulus-Tradition ist auch die im Rheginosbrief mehrfach bezeugte Pleroma-Theologie bzw. -Christologie. So gehört zu den vom Autor des Rheginosbriefs bevorzugten gnostischen Bildern und Symbolen vor allem das Symbol der ›Fülle‹, des Pleroma, und zwar auch hier wiederum im Gegensatz zu dem die irdische Welt bestimmenden ›Mangel‹. So heißt es im Rheginosbrief p. 44,30 ff., im Rahmen einer christologischen Reflexion über den ›Menschensohn‹ und den ›Gottessohn‹, dass durch den ›Menschensohn‹ die , d.h. die ›Restauration‹ zum Pleroma hin erfolgt, und zwar deswegen, weil er »der ›Menschensohn‹, ursprünglich ›von oben her‹ war«, und zwar als ein »Same der Wahrheit … bevor die Struktur ( ) [dieser Welt] wurde, in der vielerlei Herrschaften und Gottheiten existieren«. In diesem Sinne gibt es die ursprüngliche ›Welt des Pleroma‹ und jenseits ihrer die defizitäre ›Welt des Mangels‹ ( , kopt.: šta); dies ein Grundthema gnostischen Denkens, das in den Schriften von Nag Hammadi u.a. auch als Frage der Jünger 868 1 Kor 15 hat nach dem Zeugnis der Schriften von Nag Hammadi im Kontext gnostischer Anthropologie besonderes Interesse gefunden. Vor allem 1 Kor 15,50 gerät hier geradezu zu einem gnostischen »Standardtext«. So K. Koschorke, Paulus in den Nag-Hammadi-Texten, S. 192. 869 M. L. Peel, Gnosis und Auferstehung, S. 79–81, sowie A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 320. 870 A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 320, hier zugleich mit der These, »dass die Gnostisierung der paulinischen Auferstehungtheologie nicht erst im Rheg. erfolgt ist, sondern schon im Eph«. Vgl. ebd., S. 320 f.: »Der Vf des Rheg hat mit seiner entscheidenden These: ›Dies ist die pneumatische Auferstehung …‹ (p. 45,39–46,2) den in Eph 2,5–7 nur implizit ausgesprochenen Gedanken theologisch auf den Begriff gebracht«.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

an Jesus artikuliert wird, so z.B. im sog. Dialog des Erlösers (NHC III /5, p. 139,14–18): »Die Jünger sagten zu ihm: ›Was ist die Fülle und was ist der Mangel?‹ Er, Jesus, sagte zu ihnen: ›Ihr seid aus der Fülle, aber ihr seid an dem Ort, an dem Mangel ist‹871, ein Thema zugleich, das im Rheginosbrief nunmehr speziell unter der Überschrift »Was dann ist eigentlich die ›Auferstehung‹?« (p. 48,3–6) im Rahmen einer Mahnrede Jesu an die Jünger (p. 47,1 ff.), hier speziell p. 49 ff., im Einzelnen ausgeführt wird – insgesamt ein Sachzusammenhang, der von geradezu paradigmatischer Bedeutung für eine sekundäre Gnostisierung der Paulus-Tradition ist, damit aber auch für das spezifisch gnostische Verständnis von ›Auferstehung‹: Vorausgesetzt ist dabei offensichtlich ein ursprünglich kosmologischer Mythos, der hier, im Rheginosbrief anthropologisch ausgerichtet erscheint, nicht mehr also im Blick auf eine Art ›Universaleschatologie‹, sondern im Blick speziell auf Heil oder Unheil des Menschen in der Welt872: Nachdem hier, p. 44,30 ff., von der ›Apokatastasis‹, d.h. von der Wiederherstellung bzw. von der Restauration des Pleroma i.S. einer restitutio in integrum die Rede war, folgt p. 48,4 ff. die spezifisch gnostische Definition mit der Frage »Was also ist [eigentlich] die Auferstehung?« Zur Beantwortung dieser Frage wird der Leser des Rheginosbriefs zunächst ausdrücklich auf das Zeugnis des ›Evangeliums‹ verwiesen, in diesem Fall auf die ›Erscheinung‹ des Mose und des Elia von Mk 9,4 parr, hier mit der Schlußfolgerung, dass die ›Auferstehung‹, wie neutestamentlich argumentiert wird, ›durch unseren Herrn, den Erlöser Jesus Christus geschehen ist‹ und in diesem Sinn keineswegs nur eine ›Illusion‹ (kopt.: ouphantasia) gewesen ist – viel eher würde dies dann schon für ›die Welt‹ zutreffen – und mit der Schlußfolgerung sodann (p. 48,26 f.): »Alles verwandelt sich, [also] ist die Welt nichts anderes als eine ›Phantasie‹, eine Illusion«. Demgegenüber ist die Art von ›Auferstehung‹, die der Autor des Rheginosbriefs meint, von gänzlich anderer Art: ›Sie ist die Wahrheit‹, als solche gekennzeichnet durch das, »was festen Bestand hat«, als ›Offenbarung‹ nämlich »dessen, was [wirklich] ist«, und in diesem Sinn zugleich eine »Verwandlung ( ) ins Neue« (p. 48,36 f.) – denn: »Unvergänglichkeit [fließt] herab auf die Vergänglichkeit und Licht herab auf die Finsternis, indem es sie [die Finsternis] verschlingt – und die Fülle ( ) vollendet den Mangel – und dies sind die Symbole und Vergleiche der Auferstehung ( ). Dies ist es, was das Gute hervorbringt«. Aus alledem ergibt sich die entsprechende, ganz im einem spezifisch gnos871 Dieselbe Fragestellung auch im »Brief des Petrus an Philippus« (NHC VIII /2), p. 134,20 ff.): »Herr, wir möchten [etwas über] den Mangel der Äonen und über das Pleroma erfahren …«; vgl. ebd. auch die Definition von ›Mangel‹ und ›Vollendung‹ bzw. ›Fülle‹. Zu vergleichen ist in diesem Zusammenhang auch der ›Dialog des Erlösers‹ (NHC III /5), p. 139,14 ff.: Auf die Frage der Jünger, was die ›Fülle‹ und was der ›Mangel‹ sei, antwortet Jesus: »Ihr stammt aus der Fülle, aber ihr seid am Ort, an dem Mangel ist. Und siehe, ihr [der Fülle] Licht ist über euch ausgegossen«. 872 Vgl. dazu C. Colpe, in: JAC 22 (1979), S. 98–103, hier S. 99 f.

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tischen Sinne gehaltene Mahnung an den Adressaten des Rheginosbriefs (p. 49,10 ff.): »Daher sollst du, Rheginos, dich in deinem Denken nicht auf ›das Geteilte‹ beschränken noch sollst du wandeln nach Maßgabe des Fleisches, [und zwar] um der Einheit (kopt.: mntoyeei) willen. Vielmehr sollst du herausgehen aus [allen] Teilungen und Fesseln – und schon hast du die Auferstehung«. Bemerkenswert im Blick auf diesen Text- und Sachzusammenhang ist, dass sich hier mit einem gleichsam ›präsentisch-eschatologischen‹ Verständnis von ›Auferstehung‹ in spezifisch gnostischer Manier die Mahnung verbindet, ›nicht mehr‹ , d.h. »nicht mehr ›in Teilen‹ zu denken«. Hier geht also mit der Vorstellung von einer Restauration des ›Pleroma‹, der ursprünglichen ›Fülle‹, zugleich die Erwartung einher, dass diese ›Fülle‹ als solche auch durch die (eschatologische) ›Einheit‹ im Gegensatz zum ›Geteiltsein‹ (in der irdischen Welt) gekennzeichnet ist. Es ist nicht auszuschließen, dass hier eine Anspielung auf jenes defizitäre von 1 Kor 13,9 ff. vorliegt873; in jedem Falle jedoch: Das im Rheginosbrief hier benutzte Wort mentoyeei bezeichnet in seinem Kontext, im Gegensatz nämlich zur ›Teilung‹ ( ) von p. 49,13 die ›Einheit‹, das ›Einssein‹, also die , »a unity« nämlich, »that is contingent upon abnegation of particularity, both mentally and physically. This kind of unity is in effect the reunification of the Fulness«874. Bestätigt wird solches Verständnis des fraglichen koptischen Stichwortes im Übrigen durch das entsprechende Zeugnis des Evangelium Veritatis (NHC I/3, p. 24,25–29): »Denn der Ort, an dem Neid und Streit ist, ist defizitär [wörtlich: oušta pe]; der Ort aber, der die Einheit ist, ist vollendet«875. Kann in diesem Sinn der Rheginosbrief als ein traditionelles Zeugnis für die Einbeziehung der paulinischen Auferstehungstheologie in einen spezifisch gnostischen Kontext gelten, so hat es demgegenüber in dieser Hinsicht mit dem Philippusevangelium von Nag Hammadi (NHC II /3, p. 51,29–86,19) offensichtlich seine besondere Bewandtnis876. In dieser Evangelienschrift, formal gesehen eher eine Spruchsammlung, gibt es Zeugnisse einer Paulus-Rezeption, die – zunächst jedenfalls – durchaus der eigenen Intention des Apostels zu entsprechen scheinen, damit zugleich aber auch bestimmte

873 Vgl. Origenes, In Jo 13,10: § 58 sowie Clemens Alexandrinus, Strom. VI 7,55,4 und VI 17, 160,1. 874 So B. Layton, The Gnostic Treatise on Resurrection from Nag Hammadi, S. 104 f.; J.-É. Menard, La traité sur la résurrection, S. 79. 875 Vgl. auch ebd., p. 25,1 ff., hier speziell p. 25,13–15. Zur Sache vgl. auch die entsprechenden Aussagen bei den frühchristlichen Häresiologen. Dazu vgl. B. Layton, The Gnostic Treatise on Resurrection, S. 105. Besonders ist dabei auf Clemens Alexandrinus, Exc. Ex Theod. 36,2 hinzuweisen. 876 Dazu vgl. K. Koschorke, Paulus in den Nag-Hammadi-Texten, S. 191 ff.; A. Lindemann, Paulus im älltesten Christentum, S. 325 ff.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Interessen verbinden, die ihrerseits nur unter einem bestimmten gnostischen Vorzeichen nachzuvollziehen sind: Kennzeichnend dafür ist bereits das erste hier zu nennende Zeugnis im § 23 des Philippusevangeliums (p. 56,26–57,19), insgesamt ein Text- und Sachzusammenhang, in dem zunächst einmal mehr die Bedeutung von 1 Kor 15 (und speziell von 1 Kor 15,50!) als eine Art ›Standardtext‹ der frühchristlichen Gnosis bezeugt ist – dies nun freilich in einer auf den ersten Blick nur schwer nachvollziehbaren Weise, in der Kombination nämlich mit Joh 6,53 f.877. Ist das hier vorliegende Problem, wie H.-M. Schenke gemeint hat, dadurch zu lösen, dass es sich hier um »zwei Exzerpte aus zwei ganz verschiedenen Schriften mit ganz verschiedener, ja entgegengesetzter Tendenz« handelt, »nämlich aus einer gnostischen oder gnostisierenden und aus einer kirchlich-orthodoxen, die der Sammler des Florilegiums, das jetzt durch Zufall ›PhilEv‹ heißt, … hier ad vocem ›Auferstehung‹ nach der Methode sic et non einander gegenübergestellt hat?«878. Diese Auskunft ist kaum zureichend, um die im § 23 des PhilEv.s vorliegende Kombination von 1 Kor 15,50 und Joh 6,53 zu erklären; vielmehr geht die Argumentation offenbar dahin, dass es angesichts jener apodiktischen Aussage von 1 Kor 15,50 eben nicht »das Fleisch, das auf uns ist«, erben wird, sondern allein das »Fleisch und Blut Jesu« von Joh 6,53 – denn, so die Begründung: »Sein Fleisch ist das Wort und sein Blut der Hl. Geist« (p. 57,6 f.), woran dann sich sogleich die Schlußfolgerung anschließt, dass es notwendig sei, »in diesem Fleisch aufzuerstehen, weil alles in ihm ist«. Also: »Nicht erben wird das natürliche Fleisch des Menschen; auferstehungsfähig hingegen ist das Fleisch Christi bzw. des Logos, der sakramental erworben und durch Gnosis realisiert wird«879, und dies i.S. der hier zu Worte kommenden Gnostiker bereits während des irdischen Lebens, i.S. also einer ›präsentischen‹ Eschatologie880. Was im Blick auf den § 23 des PhilEv.s besonders bemerkenswert ist: Die spezifisch gnostische Interpretation von 1 Kor 15,50 wird hier ingestalt einer ›eucharistischen‹ Deutung von Joh 6,53 vorgetragen – und auf diese Weise zugleich i.S. einer präsentischen Eschatologie. Dem entspricht im PhilEv auch die Sprucheinheit des § 90 (p. 73,1–5): »Wenn man die Auferstehung 877 Zum § 23 des Philippus-Evangeliums vgl. H.-M. Schenke, Auferstehunsgglaube und Gnosis, S. 123–126; ders., Das Philippus-Evangelium, S. 229: »ungewöhnlich schwer zu verstehen«. 878 So H.-M. Schenke, Auferstehungsglaube und Gnosis, S. 124. Bei aller Kritik an H.-M. Schenke vermag freilich auch E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch, S. 205, angesichts des im Phil Ev vorliegenden Textes nur darauf zu verweisen, daß es »in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts eine Grauzone zwischen kirchlicher und und gnostisch-valentinianischer ›Orthodoxie‹ gegeben haben dürfte«. 879 So K. Koschorke, Paulus in den Nag-Hammadi-Texten, S. 192. Zur Sache vgl. auch R. McL. Wilson, The New Testament in the Nag Hammadi Gospel of Philipp, S. 294. 880 So K. Koschorke, Paulus in den Nag-Hammadi-Texten, S. 192: »Bereits während des Erdenlebens, so will der Satz sagen, solange man noch ›in diesem Fleisch‹ ist, muß man der Auferstehung teilhaftig werden. Nachher ist es dafür zu spät«.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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nicht bei Lebzeiten erhält, so wird man, wenn man stirbt, nichts erhalten« – dies nun wiederum eine der Grundlehren der frühchristlichen Gnosis, wie sie – z.B. – auch Tertullian in seinem Traktat »Über die Auferstehung der Toten« (19,6) bezeugt: Vae, qui non, dum in hoc carne est, cognoverit arcana haeretica, hoc enim apud illos resurrectio. Demgegenüber liegt im § 110 des PhilEv.s (p. 77,15–35) unter dem Thema der »Freiheit des Gnostikers« (in der Verbindung mit Joh 8,32!) eine Auslegung von 1 Kor 8,1 vor, die als solche geeignet ist, jenem seit alters verbreiteten Vorurteil eines aus dem gnostischen Freiheitspathos notwendig sich ergebenden Libertinismus entschieden zu widersprechen. Der hier zunächst an Joh 8,32 anschließende Satz: »Wer die Erkenntnis der Wahrheit hat, ist frei«, liegt als solcher, wie die auf Joh 8,34 bezugnehmende Wendung »Der Freie aber sündigt nicht« (p. 77,16 f.) zeigt, durchaus auf einer genuin joanneischen Linie: ›Freiheit‹ in diesem Sinne steht im Gegensatz zu aller ›Sklaverei unter der Sünde‹. Gewiß gibt es auch in der gnostischen Rezeption von Joh 8,32 das Bekenntnis zu der durch die ›Erkenntnis der Wahrheit‹ erlangten ›Freiheit‹. Aber das heißt hier nunmehr konkret: ›Freiheit‹ wird nunmehr i.S. der Freiheit ›von der Welt‹ verstanden, genauer noch in dem Sinne, dass jene ›Erkenntnis‹ die ›Erhebung über den Ort‹, d.h. über die Welt, bewirkt – und eben hier zeigt sich nun auch die Eigenart des hier sich äußernden gnostischen Verständnisses von 1 Kor 8,1: Das Verbum steht im gnostischen PhilEv nicht mehr i.S. der ursprünglichen negativen Konnotation des ›Sichaufblähens‹ o.ä., sondern – im gnostischen Kontext des PhilEv.s – nunmehr im positiven Sinn einer ›Erhebung über das All‹, also i.S. der Freiheit des Gnostikers gegenüber der ›Welt‹, in einem spezifisch gnostischen Sinn. Nichtsdestoweniger jedoch: Solches Verständnis von ›Freiheit‹ wird hier, im PhilEv, ganz im ursprünglich paulinischen Verständnis, limitiert bzw. kontrapunktiert durch den Zusatz: »die Liebe aber erbaut« – und dies in diesem gnostischen Kontext im Blick auf diejenigen, die jene mit der ›Erkenntnis‹ gegebene ›Freiheit‹ noch nicht erlangt haben: »Wer aber frei geworden ist [gegenüber der Welt], der ist doch [zugleich] Knecht wegen der Liebe«, und zwar »wegen der Liebe zu denen, die die Freiheit der Erkenntnis noch nicht anzunehmen vermochten« – insgesamt also: eine ebenso originäre wie originelle Art der Rezeption von 1 Kor 8,1, die die scharfe Antithese i.S. des Paulus – »die Erkenntnis bläht auf [d.h.: macht hochmütig], die Liebe aber erbaut« auf eine besondere Art rezipiert und zugleich variiert. Auch hier gilt also, dass »sich der Vf. [des PhilEv.s] der paulinischen Sätze bedient, um spezifisch gnostische Vorstellungen zum Ausdruck bringen zu können«881. Soll man im Blick auf diesen Sachverhalt im § 110 des PhilEv.s, sofern hier ja offensichtlich jener ursprünglich paulinische Gegensatz von ›Erkenntnis‹ und ›Liebe‹ gleichsam eingeebnet wird, vielleicht sogar von 881

So A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 327.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

einer ›harmonisierenden‹ Interpretation sprechen, wie sie im Blick auch auf 1 Kor 8,1 bei Clemens Alexandrinus, Strom. VII 104,5, vorliegt?882 – dagegen spricht jedoch, dass auch im gnostischen PhilEv an dieser Stelle jene Dialektik von ›Erkenntnis‹ und ›Liebe‹ zum Tragen kommt: »Wer aber frei geworden ist durch die Erkenntnis, der ist [doch zugleich] Knecht aus Liebe zu denen, die die Freiheit der Erkenntnis«, die Freiheit des ›Gnostikers‹ also »noch nicht anzunehmen vermochten«. Die durch ›Erkenntnis‹ gewonnene Freiheit ist also mit einem ›Libertinismus‹ keineswegs zu verwechseln, sie hat hat vielmehr ihre Grenze an der Zuwendung, an der Liebe zu denen, die noch nicht im Besitz jener Freiheit sind, was konkret i.S. des PhilEv.s heißt: »Die Erkenntnis aber macht sie fähig ( ), dass [auch] sie, die jene Freiheit noch nicht besitzen, frei werden«883. So seltsam und fremd die PaulusRezeption im PhilEv auch im Übrigen erscheinen mag: Hier, im § 110 des PhilEv.s, ist bei aller auch hier zu vermerkenden ›Gnostisierung‹ ein genuin paulinisches Interesse durchaus festgehalten. Keineswegs so (relativ!) eindeutig wie im Falle der bisher genannten gnostischen Schriften von Nag Hammadi verhält es sich demgegenüber mit der Paulus-Rezeption im Evangelium veritatis (NHC I/3, p. 16,31–43,24). Dies ist zunächst darin begründet, dass in dieser Schrift nicht ausdrücklich aus den paulinischen (und deuteropaulinischen) Briefen zitiert wird, sondern die ›Zitate‹ oder auch Anspielungen auf die Paulusbriefe jeweils ganz in ihren gnostischen Kontext eingefügt erscheinen, so z.B. bereits in den ersten Zeilen des EV, p. 16,31 ff., wo die Definition dieses ›Evangeliums‹ möglicherweise auf Grund von Eph 1,13 formuliert ist. Darüber hinaus gibt es im EV eine Fülle von Anspielungen auf die unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefe, die in jedem Fall anzeigen, in welchem Maße – und mit welcher Selbstverständlichkeit! – hier die paulinische Überlieferung für die eigene gnostische Grundposition in Anspruch genommen und in einen genuin gnostischen Kontext eingefügt wird. Äußert sich hier vielleicht sogar ein gleichsam ›kanonischer‹ Anspruch dieses ›Evangeliums der Wahrheit‹(!), das – als solches! – gar nicht mehr der Autorisierung vermittels des Rückverweises auf eine andere ›kanonische‹ Autorität bedarf?! Ob man, mit G. Quispel den Autor dieses ›Evangeliums‹ geradezu einen ›Paulinisten‹ nennen soll884, erscheint von daher gesehen als durchaus fraglich, und dies 882 Dazu vgl. J.B. Bauer, Zum Phil-Evangelium Spruch 109 und 110, Sp. 551–554, sowie H.-M. Schenke, Das Phil-Evangelium, S. 477 f., hier mit der Hypothese, daß eine so »weitgehende Übereinstimmung zwischen dem EvPhil und Clemens in einer so extremen ›gnostischen‹ Um-Interpretation des Paulus … sich am besten als auf einer gemeinsamen Tradition beruhend« erklären lässt. 883 Zum § 110 speziell vgl. K. Koschorke, Paulus in den Nag-Hammadi-Texten, S. 193 f.; A. Lindemann Paulus im ältesten Christentum, S. 327; K. Niederwimmer, Die Freiheit des Gnostikers nach dem Philippusevangelium, S. 372 ff. 884 G. Quispel, The Original Doctrine of Valentinus the Gnostic, S. 241, zu EV p. 18,22–31.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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wiederum vor allem angesichts dessen, dass es auch hier die eigene (gnostische) Position des Autors ist, die die Auswahl aus den unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefe bedingt. Dementsprechend sind es wieder vor allem der 1. Korintherbrief sowie die beiden deuteropaulinischen Briefe an die Kolosser und an die Epheser, auf die hier, im Einzelnen mehr oder weniger deutlich, Bezug genommen wird: Briefe also, die offensichtlich als solche bereits gewisse Prädispositionen für eine spezifisch gnostische Lesart darbieten. Demgegenüber ist jedenfalls die von L. Cerfaux in dem Aufsatz »De Saint Paul a l’Évangile de la verité« entfaltete Hypothese, dass der Autor des EV insbesondere durch die drei ersten Kapitel des Römerbriefs ›inspiriert‹ worden sei – »il nous a donné de l’épitre paulinienne un commentaire gnostique« – so kaum nachvollziehbar885. Offensichtlich anders verhält es sich mit der Frage einer Rezeption des 1. Korintherbriefes sowie der beiden Briefe an die Kolosser und an die Epheser: Ausdrückliche Zitate liegen zwar auch hier nicht vor, wohl aber mehr oder weniger deutliche Anspielungen auf diese Briefe. So z.B. im EV p. 18,21–24, wenn von einer Verfolgung Christi durch die die Rede ist: »Sie verfolgte ihn [sc.: weil sie durch ihn zunichte gemacht worden ist]; sie nagelte ihn an ein Holz«. Hier könnte es sich durchaus um eine Anspielung auf 1 Kor 2,8 handeln: Die ›Archonten‹ haben den »Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt«886. So gesehen erscheint es auch nicht abwegig, in der im EV relativ häufigen Rede von der unergründlichen ›Tiefe‹ Gottes, ›Tiefe‹ hier gleichsam als eine Hypostase Gottes, eine Bezugnahme auf 1 Kor 2,10 zu sehen, so zunächst in EV p. 22,25–27: »… wegen der Tiefe dessen, der jeden Raum umfaßt, während es [demgegenüber] keinen gibt, der ihn umfasst«. – Entsprechendes gilt dann auch im Blick auf die Rede von der ›Grenzenlosigkeit‹ (und der ›Tiefe‹) Gottes p. 35,10 ff., weiter von der ›Tiefe seines Gedankens‹ (p. 37,7 f.) oder auch, so p. 40,26 f., von der Rede Gottes als demjenigen, »der aus der Tiefe gekommen ist, der über die geheimen Dinge gesprochen« und als solcher auch »dem Sohn den Namen gegeben hat«887. – Exemplarisch für die Rezeption der beiden Briefe an die Kolosser und an die Epheser steht sodann vor allem die Rezeption der Rede vom ›verborgenen Mysterium‹ bzw. vom ›Mysterium Christi‹ in EV p. 18,12– 16, und zwar in Entsprechung zum sog. Revelationsschema von Kol 1,25–27 bzw. Eph 3,3–5: »The language here is strongly reminiscent of Eph 3:3–4,9; 6:19, Col

885 L. Cerfaux, De Saint Paul a l’Évangile de la Verité, S. 103–112. – Zur Paulus-Rezeption im EV vgl – auch J.D. McCoughey, The Gnostic Gospel of Truth and the New Testament, S. 87–108; J. Williams, Biblical Interpretation in the Gospel of Truth; A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 315–318. 886 Vgl. auch Act 10,40 sowie EV p. 20,25. 887 Zur Rede von der ›Tiefe‹ Gottes vgl. Röm 11,33; Eph 3,18 sowie besonders den Tractatus tripartitus von Nag Hammadi (NHC I/5), p. 60,18 ff. (in der Übersetzung von P. Nagel): »Solange sie im Denken des Vaters waren, will sagen, als sie in der verborgenen Tiefe waren, erkannte die Tiefe sie, während sie die Tiefe, in der sie waren, nicht zu erkennen vermochten noch sich selbst noch etwas anderes« sowie ebd., p. 55,26 ff.: Die Transzendenz Gottes »übersteigt alle Weisheit und ist über alle Vernunft und über alle Ehre und über alle Schönheit und alle Süßigkeit und alle Größe und alle Tiefe und Höhe«. Vgl. dazu Eph 3,18!

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

1:26; 2:2«888. Zumindest an den genannten Stellen ist der »Einfluss paulinischer Tradition« nicht nur »nicht auszuschließen«, wie A. Lindemann meint, sondern als solcher evident. Und so spricht denn auch mancherlei dafür, in der Rede des EV p. 24,20 ff. von der durch Jesus erwirkten »Auffüllung des Mangels« eine Reminiszenz an Kol 2,9 f. zu sehen: »Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig« und, so jedenfalls die gnostische Version von Kol 2,9 f., »in ihm seid ihr Teilhaber dieser Fülle«889. – Die Rede des EV, p. 17,2 f., vom Evangelium als »Offenbarung der Hoffnung«, im Anschluß an Kol 1,5.23, sowie p. 18,33 f. vom »Vater, der vollkommen ist, der das All geschaffen hat und in dem das All ist« im Anschluss an Kol 1,17; weiter die immerhin mögliche Reminiszenz an Kol 2,14 im EV, p. 20,26 f., sowie endlich die durch 1 Kor 8,2 f.; 13,12 und Gal 4,9 inspirierte Rede vom gegenseitigen ›Erkennen‹ in EV, p. 20,26 f. vervollständigen das Bild der Rezeption der Paulus-Tradition im EV und lassen eine bewußte Paulus-Rezeption im EV als durchaus wahrscheinlich gelten.

Ob in diesem Zusammenhang auch der sog. Tractatus tripartitus von Nag Hammadi (NHC I/5, p. 51,1–138,27) zu nennen ist, erscheint auf den ersten Blick als zweifelhaft – immerhin: Wenn das Urteil von A. Lindemann zutrifft, »dass TracTrip in seiner ganzen Terminologie stark von fester christlicher Tradition bestimmt ist«890, sind auch hier jeweils in den Kontext integrierte Paulus-Zitate nicht von vornherein auszuschließen. Dies gilt zunächst vor allem im Blick auf die immerhin wahrscheinliche Anspielung auf Röm 11,32 (nach der Lesart des Papyrus 46 und des Codex D) für p. 117,4 ff. Nach Ausweis dieser Stelle hat der Autor des Tract. Tripart. die Paulusbriefe jedenfalls gekannt, auch wenn er sie – ganz analog dem EV – nicht ausdrücklich zitiert. – Speziell im Blick auf den Römerbrief des Paulus ist in diesem Zusammenhang auch p. 108,5–9 zu erwähnen, nach dem Urteil von A. Lindemann »eine Aussage über die Herrschaft des Todes, die an Röm 5,12 ff. erinnert und geradezu eine Paraphrase dieses paulinischen Textes sein könnte«891. So wäre es dann nicht von vornherein auszuschließen, dass p. 54,19 ff. in der theo-logischen Formulierung: »Kein Körper kann ihn je umfassen – auf Grund seiner unerreichbaren Größe, seiner unergründlichen Tiefe, seiner unermesslichen Höhe und seiner unfaßbaren Ferne« nicht nur eine Bezugnahme auf 1 Kor 2,10, sondern wohl eher noch auf Eph 3,18 f. vorliegt. Entsprechendes gilt auch für den Passus p. 54,25–55, der wiederum Wesen und Natur des ›Ungezeugten‹ zu umschreiben versucht: »Das, was er ersinnt, was er sieht, was er sagt, was ihm als Denken zu eigen ist, übersteigt«, wie es hier heißt, »alle Weisheit und ist über alle Vernunft und über

888

So H.W. Attridge in seinem Kommentar, in: CGL I, S. 49. Vgl. z.St. E. H. Pagels, The Gnostic Paul, S. 138. 890 A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 323 f. 891 A. Lindemann, a.a.O., S. 323. Vgl. auch S. 324: »In p. 132,23–28 ist ganz deutlich an Gal 3,28 gedacht, allerdings mit einer starken Verschiebung der inhaltlichen Tendenz, und zwar i.S. einer eschatologischen Aussage«. Weiter S. 334 zu p. 118,32–35 und p. 123,15–18. 889

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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alle Ehre … und alle Größe und Tiefe und Höhe«892. Ein Bezug auf 1 Kor 2,10 und Eph 3,18 ist hier jedenfalls nicht auszuschliessen, auch wenn im Übrigen nicht zu verkennen ist, dass die entsprechenden biblischen wie auch die NHC I/5 genannten Aussagen über die Unfaßbarkeit Gottes ihrerseits in Tradition und Kontext einer in der hellenistischen Rede von ›Gott‹ weitverbreiteten Überzeugung von der »incomprehensibility of the highest God« stehen893. Entsprechendes gilt ebeonso für die Frage, ob im Tractatus Tripartitus p. 57,10 ff. und p. 116,28 ff. eine Bezugnahme auf den Kolosserbrief (1,15 ff.) wahrscheinlich zu machen ist894. Der Sachverhalt einer gleichsam impliziten Paulus-Rezeption könnte ohne Frage an weiteren Schriften von Nag Hammadi demonstriert werden. Stattdessen sei an dieser Stelle dieses Thema mit dem Sonderfall der Rezeption des sog. Carmen Christi von Phil 2,6–11 abgeschlossen895: Bereits nach dem Zeugnis der frühkirchlichen Häresiologen hat gerade dieser Text- und Sachzusammenhang in der gnostischen Paulus-Rezeption eine gewichtige Rolle gespielt. Exemplarisch dafür steht das Zeugnis des Clemens Alexandrinus in seinen Excerpta ex Theodoto: Hier bezeugt vor allem das Exc. 35,1 eindrücklich die sekundäre Gnostisierung der Paulustradition: »Jesus, unser Licht«, so heißt es hier mit ausdrücklicher Berufung auf »den Apostel« und auf Phil 2,7, »hat sich selbst entäußert«, was nunmehr in gnostischer Interpretation heißt: Er, Christus, ist »außerhalb der Grenze, des Horos [des Pleroma] geraten …, da er ja ein Bote des Pleroma war«. Hier wird ganz offensichtlich der Aussage von Phil 2,7 »eine Deutung gegeben, die wohl der gnostischen Mythologie entspricht, die aber weder mit Phil 2 noch mit der paulinischen Christologie im Zusammenhang steht«896. Auch Hippolyt in seiner ›Refutatio‹ bezeugt verschiedentlich die sekundäre Gnostisierung von Phil 2,6 ff., so z.B. in Ref. V 19,20 f. i.S. einer spezifisch gnostischen ›Inkarnations‹-Christologie. Hier heißt es dementsprechend, dass sich »der von 892

Zitiert nach der Übersetzung von P. Nagel, S. 24 f. Vgl. H.W. Attridge und E. H. Pagels in ihrem Kommentar zum Tract. Tripart. (NHS XXIII ), S. 230 f. zu p. 54,12–23: »This passage emphatically declares the incomprehensibility of the highest God, a doctrine widespread in hellenistic theology«. Hier (S. 230 f.) mit Verweis auf entsprechende Texte in weiteren Schriften von Nag hammadi, u.a. auch EV p. 17,7 f. 894 Zu weiteren möglichen Bezugnahmen auf Röm 5,12 ff.; Gal 3,28 f. usw. vgl. A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 323 f. 895 Speziell dazu vgl. G. Lüdemann /M. Janssen, Phil 2,6–11 und gnostische Christushymnen aus Nag Hammadi, S. 488–511, hier zu NHC XI /1 (»Interpretation der Erkenntnis«) und NHC VII /4 (»Lehren des Silvanus«) als »Dokumente der Wirkungsgeschichte« des vorpaulinischen Christushymnus. 896 Zur Problematik eines solchen ›exegetischen‹ Verfahrens vgl. A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 301 f.; z.St. Vgl. auch F. Sagnard, in: SC 23, S. 136 f. – Für die Exc. ex Theod. Ist darüber hinaus auch auf das »paulinische Summarium« Exc. ex Theod. 43,1–2 hinzuweisen, in dem nach Phil 2,9 auch Kol 1,16 und Eph 4,9 f. unter der Überschrift »Envoi di Saveur et formation de Sagesse« zitiert werden – im Übrigen parallel zu Irenäus, Adv. Haer. I 4,5–7,5. Dazu im Einzelnen F. Sagnard, a.a.O., S. 152 f.: »Les deux textes se complétent et s’éclairent mutuellement«. Vgl. entsprechend die in Exc. ex Theod. 19,3–5 vorliegende Zitatenkombination von Eph 4,24; Kol 1,15 f. und Phil 2,7. 893

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

oben kommende vollkommene Logos des Lichts der ›Bestie der Schlange‹ gleichmachte und in den unreinen Mutterschoß einging, indem er ihn durch seine ›Ähnlichkeit‹ ( ) täuschte, damit er die Fesseln löse, die den vollkommenen Nous umstricken, der in der Unreinheit des Mutterschoßes vom Erstgeborenen des Wassers, von der Schlange, dem Wind, der Bestie gezeugt worden war« – und in diesen Kontext einer genuin gnostischen ›Soteriologie‹ wird nun am Ende vermittels der exegetischen Formel ›dies ist / dies bedeutet‹ der Bezug auf Phil 2,7 eingetragen: »Dies ist die ›Knechtsgestalt‹« – und dies zugleich »die Notwendigkeit, dass der Logos Gottes in den jungfräulichen Mutterschoß hinabstieg« – ›aber‹, so wird vom gnostischen Kommentator von Phil 2,7 sogleich hinzugefügt: »Jenes Eingehen des vollkommenen Menschen … in den Mutterschoß der Jungfrau und das Lösen der Geburtswehen in jener Finsternis war noch nicht zureichend, vielmehr: nachdem er [der Logos Gottes] im Mutterschoß in die unreinen Geheimnisse hineingegangen war, trank er den Becher des lebendigen … Wassers, das alle trinken müssen, die jene ›Knechtsgestalt‹ ablegen und [statt dessen] das ›himmlische Gewand‹ anziehen wollen«. Ref. V 20,1 wird dem noch hinzugefügt: »Dies ist, was die Wortführer der Lehre der Sethianer sagen«897. Ob in dieser Art von ›Inkarnationstheologie‹ der gnostische Grundsatz einer ›Identität von Erlöser und Erlösten‹ vorausgesetzt ist, bleibt zu fragen, eindeutig bei alledem ist im Blick auf die zu Erlösenden: Wer das ›himmlische Gewand‹ anlegen will, der muß zuvor die ›Knechtsgestalt‹, die ablegen, und dies bedeutet im Blick auf diese Art von Rezeption von Phil 2,7: »Nicht Phil 2,7 ist [hier der] Gegenstand der Aussage, sondern die gnostische Soteriologie«898. Noch deutlicher heißt es in Ref. X 11,10 f., dass »das ganze Überlegen des oberen Lichts‹ darauf gerichtet ist, den ›Lichtfunken‹ ( ), der unten ist, von dem Vater, der unten ist, zu befreien«. Und dieses Geschehen wird im Folgenden so beschrieben: Der ›vollkommene Logos‹ sei, in eine Schlange verwandelt, »in den Mutterleib eingegangen, um [auf diese Weise] jenen Nous, den ›Funken aus dem Licht‹ hinaufnehmen zu können«, und dies wiederum mit dem exegetischen Zusatz: »und dies ist / bedeutet [bzw. »darauf bezieht sich] die ›Knechtsgestalt‹« von Phil 2,7. Insgesamt: Was hier vorliegt, ist eine Auslegung von Phil 2,6 f., die ihren ›Kanon‹ in nichts anderem als im genuin gnostischen Mythos hat899. Und so ist es auch nur konsequent, wenn, so nach dem Referat des Hippolyt (Ref. V 21,6), das Selbstbewußtsein der Gnostiker sich, hier im Blick auf Phil 3,20, 897 Entsprechend auch Ref. V 19,22, hier mit Verweis auf die »Paraphrase des Sem«, in der, wie es hier heißt, »alle unaussprechlichen Geheimnisse« der Sethianer zu finden seien. 898 So A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 310. 899 Zu weiteren Bezugnahmen auf den Philipperhymnus vgl. Ref. V 21,9: »Der Logos, der von oben in Knechtsgestalt [Phil 2,7] gekommen ist« sowie die Bezugnahme auf Phil 2,10 in Ref. V 7,11; 8,22 und 16,14.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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in dem Sinn ausspricht, dass »wir allein es sind, die wiedergeborenen Pneumatiker, nicht die Sarkiker, deren ist«900. Von dieser Art von ›Exegese‹, die paulinische Überlieferung in einen genuin gnostischen Kontext zu übersetzen, ist nun freilich das exegetische Verfahren in den gnostischen Originalquellen von Nag Hammadi sehr deutlich zu unterscheiden: In diesen Schriften wird nicht mehr im eigentlichen Sinne ›zitiert‹; vielmehr bleibt hier von der ›Vorlage‹ der Paulusbriefe nur noch das Stichwort übrig, das für die gnostischen Rezipienten den Ansatz bzw. den Ausgangspunkt für ihre eigene Auslegung darstellt. Angesichts dessen bleibt es oft genug auch eine Frage des Ermessens, ob man z.B. im Evangelium Veritatis (NHC I/3) oder auch im Tractatus Tripartitus (NHC I/5) Anzeichen einer gezielten Rezeption von Phil 2,6–11 wahrscheinlich zu machen vermag. Gewisse Berührungen bzw. Entsprechungen sind gewiß nicht von vornherein auszuschließen, so z.B. im Blick auf das Motiv der ›Namensgebung‹ von Phil 2,9 ff. im EV p. 38,11 f. Andererseits könnten die Anzeichen einer ›Berührung‹ zwischen Phil 2,8 und Ev p. 20,28–32 auch lediglich auf Zufall beruhen901. Wiederum ist wohl nicht nur Zufall im Spiel, wenn sich die Beziehung zwischen EV p. 38,11 f. und p. 38,36–38, die Beziehung also zwischen dem Motiv der ›Namensgebung‹ und dem entsprechenden Passus in Phil 2 als eine Art ›Einbeziehung‹ des vorgegebenen Paulus-Textes in den gnostischen Kontext des EV verstehen lässt902. Entsprechend ist im Blick auf den Tractatus Tripartitus in diesem Zusammenhang auf p. 114,31 ff., hier insbesondere auf p. 114,33 f., als Reminiszenz des Topos von der ›Erniedrigung‹ in Phil 2,7 f. sowie auf p. 115,3–11 hinzuweisen: Hier heißt es p. 115,5: »Er hat nicht nur den Tod derer auf sich genommen, die er zu retten gedachte, vielmehr hat er auch ihre Niedrigkeit angenommen, zu der sie herabgestiegen waren …«903. – Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist auch die ausgedehnte Reflexion zum Thema des ›Namens‹, 900 Vgl. auch das für die Gnostiker charakteristische Selbstverständnis i.S. von Phil 3,20 in Exc. ex Theod. 54,3. Anders demgegenüber wird Phil 3,20 nach dem Zeugnis des Hippolyt, Ref. VI 34,3, bei den Valentinianern auf die ›himmlischen Engel‹ bezogen, von denen es hier heißt, daß sie »im oberen Jerusalem wandeln«. Auch hier ist die sekundäre Gnostisierung der Aussage von Phil 3,20 offensichtlich. 901 So A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 317. Zur Fragestellung vgl. auch J.T. Sanders, The New Testament Christological Hymns, S. 122 f. 902 Zur Problematik von EV p. 20,28 f. und p. 38,11 f. vgl. J.T. Sanders, ebd., S. 122 f. und entsprechend zu EV p. 20,6–9 S. 124 f., hier mit der Schlußfolgerung: »The very close parallels, at time almost verbatim, between the Gospel of Truth and the New Testament Christological Hymns … seem to point the fact that the author of the Gospel of Truth was acquainted with New Testament hymns«. 903 Vgl. z.St. auch den Tract. Tripart. (NHC I/5), p. 115,4. Dazu H.W. Attridge/ E. H. Pagels in ihrem Kommentar (NHS XXIII ), S. 436: »Following orthodox doctrine (e.g. Phil 2:8), Valentinians regulary emphasized the significance of the death of Jesus. Cf. Gospel of Truth 20,28–30. This death could, however, interpreted i a docetic fashion«. Vgl. auch ebd. zu Tract. Tripart, p. 114,33 f., die Betonung des Leidens des Erlösers mit Verweis auf Hebr 2,10; 4,15 sowie Phil 2,7 f.

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wie sie im Philippusevangelium (NHC II /3) in den Sprucheinheiten 11 a und 11 b sowie speziell in der Sprucheinheit 12 a (p. 54,5–10) vorgetragen wird: Die Rede von dem »über alles erhabenen Namen«, den der »Vater dem Sohn gegeben hat«, dürfte angesichts dessen, dass die bohairische Übersetzung von Phil 2,9 an dieser Stelle von dem ›Namen‹ spricht, »den er einem jeden von uns gegeben hat«, eine hinreichende Begründung dafür sein, dass die Aussage im PhilEv als eine unmittelbare Reminiszenz an Phil 2,9 zu verstehen ist: »… und er schenkte ihm den Namen, der über jedem Namen ist«, wobei das koptische Verbum ti für ›geben, schenken‹ durchaus dem griechischen von Phil 2,9 korrespondiert904. Mit Recht hat H.-M. Schenke zu dieser Stelle vermerkt: »Falls also unser Text die Stelle Phil 2,9 voraussetzen sollte, dann wäre sie gänzlich uminterpretiert und Namensverleihung und Macht überhaupt aus der Postexistenz des Gottessohnes in seine Präexistenz verlegt worden«905. Gegenüber den bisher genannten, z.T. gewiß fraglichen Beispielen für eine Rezeption des Christushymnus von Phil 2,6–11 in den Schriften von Nag Hammadi nehmen die beiden im Folgenden noch zu nennenden Schriften im Blick auf die Frage der Paulus-Rezeption eine Sonderstellung ein: einmal die (nach ihrer subscriptio so genannte) Interpretation der Erkenntnis aus dem Codex XI von Nag Hammadi (NHC XI /1, p. 1,12–21,34) und die (nach ihrem Präskript so genannten) Lehren des Silvanus aus dem Codex VII (NHC VII /4, p. 84,15–118,7), die letzteren mit dem Vorbehalt, dass sie, so jedenfalls die allgemeine Auffassung in der gegenwärtigen Forschung, im strengen Sinne gar nicht als eine ›gnostische‹ Schrift zu beurteilen sei. Die erstgenannte Schrift, die Interpretation der Erkenntnis, ist nicht nur speziell im Blick auf Phil 2,6 ff. von besonderem Interesse906, sondern auch im Blick auf die Paulus-Rezeption in den Schriften von Nag Hammadi insgesamt: »Dass Paulus … in der christlichen Gnosis eine dominierende Autortät war, zeigt Inter [›Interpretation der Erkenntnis‹] erneut auf eindrückliche Weise«907. Damit ist diese Schrift gewiß noch nicht ein weiterer Beleg dafür, dass der Apostel Paulus am Ende in besonderer Weise der haereticorum apostolus gewesen ist, aber auf jeden Fall ein Hinweis darauf, dass die Paulus-Rezeption im frühen Christentum des 2. und 3. Jh.s eben auch diese 904 Zur Stelle vgl. bereits R. McL. Wilson, The Gospel of Philip, S. 76, sowie H.-M. Schenke, Das Phil-Evangelium, S. 188 f. 905 H.-M. Schenke, a.a.O., S. 189. Fraglich demgegenüber ist freilich, ob die Sprucheinheit 104 a des Phil-Evangeliums mit H.-M. Schenke, a.a.O., S. 464, als ein »versprengter Nachtrag zur Diskussion der §§ 11 und 12« zu betrachten ist. 906 Dazu vgl. G. Lüdemann /M. Janssen, Phil 2,6–11 und gnostische Christushymnen aus Nag Hammadi. Speziell zu NHC XI /1 vgl. K. Koschorke, Gnostic Instruction of the Organization of the Congregation, S. 757–767; ders., Eine neugefundene gnostische Gemeindeordnung, S. 30–60. 907 So K. Rudolph in seiner Rezension zu U. Plisch, Die Auslegung der Erkenntnis (NHX XI ,1) in: ThLZ 122 (1997), Sp. 788 f.; Zitat: Sp. 789. U. Plisch selbst charakterisiert den Autor dieser Schrift (S. 4) als einen »christlichen Gnostiker in bewußter Paulustradition«.

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Facette in sich trug.: Ein (christlicher) Gnostiker versteht sich selbst durchaus in der Kontinuität und Tradition des Apostels Paulus908, dies wiederum nur um den Preis einer sekundären Gnostisierung der paulinischen Tradition. Ob es sich dabei, speziell nunmehr im Blick auf den Text- und Sachzusammenhang von NHC XI /1, 10,27–38, nach dem Urteil von G. Lüdemann und M. Janßen jedenfalls, in Analogie zu Phil 2, 6–11 um einen ›Hymnus‹ handelt (und damit zugleich auch um ein ursprünglich selbständiges Traditionsstück), ist so eindeutig nicht909. Zunächst unterscheidet sich dieser Zusammenhang von seinem Kontext durch den für ihn charakteristischen ›Ich‹-Stil: Hier handelt es sich also gleichsam um ein Zitat des Lehrers und Erlösers Christus selbst, das als solches von seinem Kontext deutlich abgehoben erscheint. Jedoch ist es gerade dieser Kontext, der mit der Rede von der ›Gestalt dieser Erscheinung‹ (p. 10,23, koptisch: psmat mpischma) auf Phil 2,7 verweist: ›Und er wurde an Gestalt gefunden als ein Mensch‹. Desgleichen verweist auf Phil 2 das Stichwort ›Erniedrigung‹ (kopt.: thebeio) von p. 10,28: »Ich wurde überaus klein, damit ich dich durch meine Erniedrigung hinaufbrächte in die große Höhe«910. Es bedarf also keines Zweifels, dass hier nunmehr in der Tat auf die ›Knechtsgestalt‹ des Erlösers von Phil 2,7 Bezug genommen wird, ob dabei auch »in ihrer ausdrücklichsten Form: am Kreuz« nämlich911, wird so jedenfalls nicht ausgesprochen. Keinen Zweifel jedoch gibt es daran, dass in dieser gnostischen Schrift der Aspekt der ›Erniedrigung‹ des gnostischen Erlösers im Anschluß an Phil 2,6 ff. eine vom Autor dieser Schrift bewußt akzentuierte Rolle spielt, wie im Übrigen auch der Rückbezug auf den Hymnus des Philipperbriefs p. 12,10 ff. bestätigt: In p. 12,15 heißt es nunmehr ausdrücklich und in wörtlicher Entsprechung zu Phil 2,7 a: »[… Er] entäußerte sich selbst«912. Ebenso deutlich ist, was diesen Text- und Sachzusammenhang betrifft, seine sekundäre ›Gnostisierung‹: Im Unterschied nämlich zu Phil 2 gewinnt 908

Vgl. U. Plisch, Die Auslegung der Erkenntnis, S. 4. G. Lüdemann / M. Janssen, Phil 2,6–11 und gnostische Christushymnen aus Nag Hammadi, S. 494 ff. So sieht U.-K. Plisch in seinem Kommentar (S. 111 f.) in dem Zusammenhang p. 10,27–38 nur »eine erneute Abfolge von Zitaten, in denen sich der Erlöser direkt an die wendet«. 910 U.-K. Plisch, Die Auslegung der Erkenntnis, S. 110, versteht die Rede von der »Gestalt dieser Erscheinung als eine verdichtete Wiedergabe dessen, was inhaltlich die beiden Glieder des Parallelismus in Phil 2,7 c.d zum Ausdruck bringen. [kopt.] smat kann dabei durchaus als Übersetzung eines griechischen aufgefasst werden, steht für sich selbst«, bezeichnet im Kontext also die ›Knechtsgestalt‹ des Erlösers. 911 So U.-K. Plisch, a.a.O., S. 111 (zu p. 10,27 f.). Allenfalls auf p. 3,37 f. wäre hier noch zu verweisen, dies freilich nur unter der Voraussetzung der von U.-K. Plisch vorgeschlagenen Ergänzung des an dieser Stelle weitgehend zerstörten Textes: awo af[pa]htf abal ahrei apmou. In der Formel ahrei apmou könnte in der Tat eine Bezugnahme auf die Wendung von Phil 2,8 vorliegen. Dazu vgl. U.-K. Plisch, a.a.O., S. 87: »… der Kreuzestod Jesu als reales Ereignis [erscheint] in Inter nirgends als aufgegeben«. 912 Vgl. z.St.U.-K. Plisch, a.a.O., S. 117 f. sowie den Tract. Tripart. (NHC I/5), p. 114,31– 115,11. 909

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

das ›Carmen Christi‹ in seiner gnostischen Version nun auch eine soteriologische Dimension, die dem ursprünglichen Textzusammenhang in Phil 2 so nicht zu eigen war – eine ›soteriologische‹ Dimension nun freilich ganz i.S. einer spezifisch gnostischen Soteriologie: ›Ich‹, d.h. der Logos von p. 10,24, ›bin klein geworden, damit ich dich [die Seele] durch meine Erniedrigung (kopt.: hitn pathebio) hinaufbrächte in die große Höhe, zu dem Ort [nämlich], aus dem du herausgefallen bist [und] in die Grube gebracht wurdest‹. Es ist offensichtlich, dass sich das spezifisch gnostische Interesse, was diesen Text aus dem Philipperbrief des Paulus betrifft, in erster Linie auf diese soteriologische Funktion des ›Erniedrigten‹ als eines ›Wegführers‹ ( ) aus jenem Abgrund in die ›große Höhe‹ richtet, also auf eine genuin gnostische Metapher für den ›Erlöser‹. In der Tat: Im »ersten Satz des Hymnus ist die gesamte Lehre der gnostischen Erlösung zusammengefasst: Die Seele des Menschen ist in die Welt gefallen und in ihr gefangen. Durch das Kommen des Erlösers in die Welt wird die Seele wieder in ihre ursprüngliche Heimat hinaufgenommen«913 – denn: »Ich bin es, der dich auf Schultern tragen wird« und schließlich: »Gehe hinein durch die Seite [an] den Ort, aus dem du [einst] gekommen bist«. Insgesamt: Was hier, in der Interpretation der Erkenntnis vorliegt, ist ein besonderes Exempel nicht nur für eine spezifisch gnostische Soteriologie, sondern auch ein herausragendes Beispiel für eine interpretatio gnostica von Phil 2,6–11. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob und inwieweit in dieser gnostischen Schrift Phil 2,6–11 auch unter einem spezifisch christologischen Aspekt rezipiert worden ist? Wird also der hier beschriebene Weg Jesu speziell im Blick auf seine ›Erniedrigung‹, i.S. also von Phil 2,8, zu einem auch für die Gnostiker beispielhaften Vorgang, so dass am Ende auch für die gnostischen Adressaten dieser Schrift die Mahnung von Phil 2,5 gilt: »Dies sollt ihr bedenken unter euch, was auch in Christus Jesus [gilt]«. Konkret könnte dies ja nunmehr in einem gnostischen Kontext heißen: »This humilitas Christi is the orientation point for the Gnostic pneumatic, who has to practise the same kind of humility towards the ordinary Christian«914. So ausdrücklich wie im Christushymnus des Philipperbriefs des Paulus wird dies in dieser gnostischen Schrift allerdings nicht ausgeführt. Voraussetzung für die Bewältigung der hier angesprochenen Gemeindesituation ist vielmehr wiederum ein gnostischer Grundsatz, wie er auch im Evangelium veritatis (NHC I/3, 913 So G. Lüdemann/M. Janssen, Phil 2,6–11 und gnostische Christushymnen aus Nag Hammadi, S. 497. Vgl. ebd., S. 499 f. mit Hinweis auf den Authentikos Logos (NHC VI /3), p. 34,32–35,18. Im Unterschied zur Auslegung der Erkenntnis ist es freilich im »Seelenhymnus« des Authentikos Logos eher die eigene Aktivität, das eigene (Sich-)Mühen (kopt.: hise), das eigene »Suchen und Forschen der verständigen Seele«, das sie am Ende das »finden« läßt, wonach sie »gesucht hat« – und damit dann auch die »Ruhe empfängt von ihren Mühen«. 914 So K. Koschorke, Gnostic Instructions on the Organization of the Congregation, S. 762. Zur »background situation« der Mahnung von NHC XI /1 im Einzelnen vgl. K. Koschorke, ebd., S. 759 f.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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p. 24,25–28) formuliert ist: ›Denn der Ort, an dem es Streit und Neid gibt, ist Mangel – der Ort aber, welcher die Einheit [ist], ist Fülle‹. Unter dieser spezifisch gnostischen Voraussetzung unternimmt es nun der Autor der »Interpretation der Erkenntnis«, eine durch ›Streit und Mißgunst‹ hinsichtlich der Charismen gekennzeichnnete Gemeindesituation zu bewältigen – mit dem Verweis auf das Vorbild Christi selbst. So heißt es hier (NHC XI /1, p. 17,35 ff.): »Reich nämlich ist der Logos, frei von Mißgunst und gütig«. Er gibt und verteilt seinen Menschen Gaben, ohne neidisch zu sein – und aus alledem nun die Schlußfolgerung (p. 15,26 ff.): »Es ziemt sich also [im Blick nämlich auf Christus] für jeden von uns, dass er sich die Gabe, die er von Gott empfangen hat, zunutze mache, damit wir nicht neidisch [aufeinander] sind«. Oder auch ganz in diesem Sinne noch einmal p. 15,16 ff. der Verweis auf das Vorbild Christi: »Christus hat sich entfernt … [von diesem allen, d.h. von Neid und Mißgunst], sofern er nämlich [die Glieder an seinem Leib?] von ganzem Herzen liebt«; und wiederum im Gegensatz dazu: Derjenige aber, »der neidisch ist, bringt seine Glieder gegeneinander auf …«915. Insgesamt also: eine im Detail wie auch in ihrer Aussagerichtung nahezu paulinische Argumentation, die als solche durchaus der paulinischen Lehre von den Charismen folgt – und am Ende Christus selbst als ›Vorbild‹ für das Miteinander der Charismen in der Gemeinde benennt. Dies alles freilich ohne dass damit ausdrücklich die ›Selbsterniedrigung‹ Christi i.S. von Phil 2,8 als Maßstab und Kriterium für die ›Demut‹ unter den Christen i.S. von Phil 2,3 zum Maßstab gesetzt wird. Gegen Neid und Mißgunst innerhalb der (gnostischen) Gemeinde wird lediglich auf das Vorbild des Logos verwiesen, der ›frei von Mißgunst und freundlich‹ ist (p. 15,16 ff.), und schließlich auch – wiederum ganz i.S. paulinischer Ekklesiologie – das ›Haupt‹ des Leibes. Also: »Seid auch nicht neidisch gegenüber dem, der [jeweils] zum Auge oder zur Hand oder zum Fuß bestimmt ist. Danke vielmehr dafür, dass du selbst nicht außerhalb des Leibes existierst, sondern dieses eine und selbe Haupt hast, um dessentwillen das Auge existiert und die Hand und der Fuß und die übrigen Teile [des Leibes]« (p. 18,30–38)916. Insgesamt: Was hier, in dieser Schrift unter dem Titel einer Interpretation der Erkenntnis vorliegt, erweist sich als das Dokument einer merkwürdig ›reduzierten‹ Paulus-Rezeption: Am Ende ist es hier, im Blick speziell auf den Christus-Hymnus von Phil 2,6–11, doch auch hier wiederum lediglich der ›Vorbild‹-Gedanke, der sich im Blick auf Christus als dominant erweist. 915 Die nur fragmentarisch überlieferte Formulierung p. 15,1 f.: »Er [Christus] hat sich entfernt …« bzw. »Er trennte sich [von diesem allen?]« kann jedenfalls nicht mit K. Koschorke, in: ZThK 76 (1979), in dem Sinne ergänzt werden: »er trennte sich von seiner himmlischen Herrlichkeit«, i.S. also der Selbsterniedrigung von Phil 2,8. 916 Zur Stelle vgl. U.-K. Plisch, a.a.O., S. 143 f. sowie den Exkurs zur »Entfaltung der Leib-Christi-Vorstellung in Inter als Rezeption paulinischer und deuteropaulinischer Texte«, S. 146–149.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

Die unter dem Titel der Lehren des Silvanus im Kodex VII der Schriften von Nag Hammadi überlieferte Schrift (NHC VII /4, p. 84,15–118,5) nimmt unter den übrigen in diesem Kodex überlieferten Schriften eine Sonderstellung ein: Zunächst zwar gibt sie sich eindeutig als das Zeugnis einer Paulus-Rezeption zu erkennen, indem der Apostel (mit Bezug auf 1 Kor 11,1) ausdrücklich genannt (p. 108,30–32) und darüber hinaus unter Bezugnahme auf 1 Kor 1,20 ff. auch zitiert wird (p. 111,20–112,8)917. Von daher gesehen spricht einiges dafür, auch den Titel dieser Schrift in diesem paulinischen Kontext zu sehen: Der hier genannte Silvanus als der pseudonyme Verfasser wäre dann also kein anderer, als der bereits im Neuen Testament mehrfach genannte gleichnamige ›Reisebegleiter‹ des Apostels918. Durchaus gewichtiger demgegenüber wiegt freilich die im Blick auf diese Schrift in der Forschungsgeschichte von Anfang an gestellte Frage, ob und inwieweit es sich bei diesen ›Lehren des Silvanus‹ überhaupt um eine spezifisch gnostische Schrift handelt? – in der Tat: eine Schrift, die mit dem Satz beginnt: »Mache aller Kindheit ein Ende … und verstärke den Kampf gegen den Unverstand« (p. 84,16 ff.) und mit der Mahnung endet: »Nimm die Weisheit des geduldigen und freundlichen Christus an und bewahre diese [Weisheit]« (p. 118,2– 5), ist wohl eher als eine ›Weisheitsschrift‹ oder auch als »Urkunde eines aufgeklärten Christentums ante litteram« zu charakterisieren919, denn als eine im engeren Sinne ›gnostische‹ Schrift, und wohl auch nur infolge einer gewissen Affinität der ›Weisheit‹ zur ›Gnosis‹ in die (gnostische) Bibliothek von Nag Hammadi gelangt. In der bisherigen Forschungsgeschichte besteht denn auch im Blick speziell auf die ›Lehren des Silvanus‹ ein weitgehender Konsens darüber, dass diese Schrift zunächst vor allem der jüdischen und frühchristlichen Weisheitstradition verpflichtet ist: »Silvanus ist eine christianisierte Weisheitslehre des hellenistischen Judentums … und in ihren theologischen, besonders in der zweiten Hälfte sich häufenden Aussagen ein Zeugnis typisch alexandrinischer Theologie«920. So besteht denn auch in der gegenwärtigen Forschung, von wenigen Ausnahmen abgesehen921, ein 917 Zum Einzelnen der Paulus-Rezeption in NHC VII /4 vgl. auch A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 334–338. 918 Zum Silvanus im Neuen Testament vgl. bes. Das Zeugnis des Lukas: Act 15,22 ff.; 16,19 ff.; 17,4 ff. und 18,5 sowie für Paulus: 2 Kor 1,19; 2 Thess 1,1 sowie 1 Petr 5,12. – Zur Frage der Verfasserschaft der »Lehren des Silvanus« vgl. auch M. L. Peel und J. Zandee in ihrer Einleitung zu dieser Schrift, in: NHMS XXX , S. 271 f. 919 So J. Zandee, Die Lehren des Silvanus, S. 155; ebd.: »eine Urkunde eines aufgeklärten Christentums ante litteram«, als solche »nicht weit entfernt … von der Definition, die Immanuel Kant von der Aufklärung gegeben hat, und die auch zur Umschreibung dessen, was ›Silvanus‹ unter Weisheit versteht, brauchbar [ist]«. 920 So H.-M. Schenke/W.-P. Funk, in: Nag Hammadi Deutsch 2, S. 605 f. – Speziell zur »imdebtness to Jewish Wisdom Tradition« vgl. M. L. Peel/ J. Zandee, in: NHMS XXX , S. 251 ff., hier auch zu den Parallelen zu Philo Judaeus (S. 263–265) sowie zu den »Affinities to zhe Alexandrian School of Theology« (S. 265–267). 921 So z.B. J. L. Sumney, The ›Techings of Silvanus‹ as a Gnostic Work, S. 191–206.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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weitreichender Konsens darüber, dass diese Schrift nicht eigentlich als eine gnostische Schrift zu bezeichnen sei. Bemerkenswert ist gleichwohl, dass ein so entschiedener Verfechter des nichtgnostischen Charakters der ›Lehren des Silvanus‹ wie J. Zandee am Ende seinerBeurteilung dieser Schrift einschränkend vermerkt, dass ›nichtgnostisch‹ in diesem besonderen Fall keineswegs bedeutete, dass diese Schrift »nicht mit dem Gnostizismus vergleichbar wäre«922. Und dies gilt nun umso mehr, als der ›weisheitliche‹ Grundcharakter dieser Schrift als solcher(!) angesichts einer in der spätantiken Philosophie- und Religionsgeschichte generell zu beobachtenden ›Tendenz der Weisheit zur Gnosis‹ gnostische oder doch gnostisierende Tendenzen, wie sie z.B. p. 94,27 ff. auch in dieser Schrift festzustellen sind, keineswegs ausschließt923. Und nicht zuletzt zu dieser Fragestellung ›weisheitlich‹ oder ›gnostisch‹: In der spätantiken Philosophie- und Religionsgeschichte ist eine ursprünglich eher ›weisheitliche‹ Schrift, gleichsam unter einem ›gnostischen Vorzeichen‹ gelesen, auch und gerade für gnostische Rezipienten durchaus ›rezeptabel‹ – und ist wohl auch auf diesem Wege in die gnostische Bibliothek von Nag Hammadi gelangt. Auch die ›Lehren des Silvanus‹ sind in diesem Sinn »a document clearly open to gnosticising interpretation«924. Unter dieser Voraussetzung wäre dann auch zu prüfen, ob und in welchem Sinn eine Schrift, die, wie H.-M. Schenke formuliert hat925, »die Gnosis voraussetzt und Weisheit entwickelt«, im Zusammenhang ihrer Paulus-Rezeption nun auch auf den Christushymnus von Phil 2,6–11 zurückgegriffen bzw. diesen Hymnus in den Kontext der ihr eigenen (gnostisierenden) Weisheitskonzeption einbezogen hat? Bei dieser Fragestellung im Blick speziell auf die ›Lehren des Silvanus‹ ist von vornherein deutlich, dass auch hier, abgesehen von der Ausnahme des Paulus-Zitats p. 111,20 ff., aus den Briefen des Paulus nicht ausdrücklich zitiert wird. Gleichwohl finden sich in dieser Schrift im Einzelnen mehr oder weniger deutliche Anklänge an den Philipper-Hymnus des Paulus: So zunächst vor allem p. 103,34–104,1: Die Formulierung an dieser Stelle – »Obwohl er Gott war, fand man ihn doch« – oder auch: »wurde er doch gefunden«! – »unter den Menschen als ein Mensch«. Dies ist ohne Frage ein nahezu wörtliches Zitat von Phil 2,7: , und zwar auch hier offensichtlich unter der Voraussetzung der Rede von der 922 J. Zandee, Die Lehren des Silvanus. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Hypothese einer nachträglichen »Ent-Gnostifizierung« dieser Schrift (mit Hinweis speziell auf p. 93,22–25 und p. 24,25–29). So W.-P. Funk, in: ThLZ 100 (1975), Sp. 10. 923 Vgl. H.-M. Schenke, Die Tendenz der Weisheit zur Gnosis, S. 355. 924 So M. L. Peel/J. Zandee, in: NHS XXX , S. 268 sowie in: NovTest 14 (1972), S. 294– 311, hier S. 307 ff., mit der Einschränkung freilich: »In spite of such impressiv parallels, however, the presence of other theologumena in Silv make it virtually impossible to call the text ›a Gnostic‹«. Zu den gnostischen Tendenzen in NHC VII /4 vgl. auch Y. Janssens, Les lecons de Silvanos, S. 21 f. 103.124 sowie S. 4: »De plus, sans que le traité soit spécifiquement gnostique, quelques termes peuvent cependant faire penser au gnosticisme«. 925 H.-M. Schenke, Die Tendenz der Weisheit zur Gnosis, S. 358.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

ursprünglichen ›göttlichen Gestalt‹ Jesu in Phil 2,6926. Von hier aus ergibt sich dann auch ein Sachzusammenhang mit dem sog. ›Demuts-Hymnus‹ von p. 110,14–111,20, und hier insbesondere mit der Aussage p. 110,34–111,3: Er, »der in seiner Schmach [all’] das verschmäht hat, was [in der Welt] für Ehre erachtet wird, damit [auf diese Weise] die Demut [oder auch: die ›Erniedrigung‹] um Gottes willen umso höher erachtet werde …«927. Auf derselben Ebene liegt auch, formal-syntaktisch wie auch sachlich gesehen, die ›Weisheits‹-Formulierung von p. 107,9 ff.: »Die Weisheit Gottes wurde um deinetwillen zur törichten Gestalt, damit sie dich, du Tor, heraufführe und weise mache«. Dies ist, aufs Ganze gesehen, eine Formulierung, die nicht nur ausgesprochenermaßen eine ›Weisheits‹-Theologie bzw. -Christologie voraussetzt, sondern nunmehr auch ganz i.S. von Phil 2,6 ff. die Erniedrigung und damit auch die ›Demut‹ jener ›Weisheit‹ Gottes thematisiert – und in diesem Sinne geradezu eine Theologie bzw. Christologie der ›Erniedrigung‹ bzw. der ›Demut‹ entfaltet, die in dem großen Christus- bzw. ›Demutshymnus‹ von p. 110,14–111,20 ihren Höhe- und Zielpunkt erreicht: Bei alledem geht es dem Autor dieser Schrift zunächst darum, dass – zunächst im Blick auf Christus selbst – ›die Demut [vor Gott] groß werde‹ (p. 111,2 f.); und weiter (p. 110,29 ff.): »Erkenne, wer Christus ist, und mache ihn dir zum Freund«, denn er, Christus, ist es ja, »der die hochmütigen [dämonischen?] Kräfte demütigt und den Hochmütigen durch die Demut zu schanden machte«; aber ganz i.S. des paulinischen Philipperbriefes (2,3–5!) geht es hier nicht nur um einen ›christologischen‹ Sachverhalt, vielmehr ist die hier entfaltete »Christologie der Demut und der Erniedrigung« als solche zugleich auf die Rezipienten der »Lehren des Silvanus« ausgerichtet. »Der erniedrigte und demütige Christus« ist hier offensichtlich zugleich ›Vorbild‹ für die Adressaten dieser Schrift: Denn eben jene ›Demut‹ und ›Erniedrigung‹, die den Weg des Christus bestimmt hat, soll nun auch, wie es p. 111,7 f. heißt, »die Demut in dem Hochmütigen hervorbringen«, um am Ende auf diese Weise »den Menschen Gott ähnlich werden zu lassen« (p. 111,12 f.). – Im Übrigen ist solche für die ›Lehren des Silvanus‹ charakteristische Christologie und(!) Anthropologie der ›Demut‹ nicht nur für den Hymnus (p. 110,14–111,20) charakteristisch, sondern bestimmt auch im Übrigen diese Weisheitsschrift: Hinzuweisen ist hier vor allem auf den Text- und Sachzusammenhang p. 104,15 ff.: Im Anschluss an die oben bereits christologische zitierte Aussage von p. 103,34–104,1 wird hier um die Zustimmung der Adressaten dieser Schrift geworben: Diese Zustimmung ist 926 Formal wie auch sachlich gesehen entspricht die Formulierung p. 103,34–104,1 durchaus dem passiven Partizip ›erfunden als ein Mensch‹ von Phil 2,7. 927 Koptisch thebbio bzw. t-chebbio, »Demut, Erniedrigung«, deckt die ganze semantische Skala von griechisch , , ab. Vgl. dazu W. E. Crum, A Coptic Dictionary, Oxford 1939, p. 457 f., sowie W. Westendorf, Koptisches Handwörterbuch, Heidelberg 1965, S. 258.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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am Ende nichts anderes als die ›Opfergabe für Christus‹ – und: eben »dies ist die Demut des Herzens«: »wenn du dich [also] demütigst, wirst du hoch erhöht werden; und wenn du dich [selbst] erhöhst, wirst du tief gedemütigt werden …«. Abseits von allen gemeinhin als ›spezifisch gnostisch‹ geltenden Stereotypen sind die ›Lehren des Silvanus‹, aufs Ganze gesehen eine »Weisheitschrift mit gnostisierenden Tendenzen«, somit das Zeugnis einer ganz eigenen Art ›christlicher Gnosis‹. Sicherlich gibt es auch hier gewisse Stereotype wie – z.B. – hinsichtlich der Anthropologie die Unterscheidung zwischen den ›Sarkikern‹ und den ›Psychikern‹ (p. 92,11 ff.; 93,3 ff.), weiter etwa in der Anspielung auf das ›Brautgemach‹ (p. 94,19 ff.), darüber hinaus auch in der Beurteilung der als der Hauptsünde (p. 87,19 f.; 91,10 f.) sowie im Gebrauch der in der frühchristlichen Gnosis weitverbreiteten Metaphern von ›Schlaf‹ (p. 88,24) und ›Trunkenheit‹ (p. 94,20 f.). Gleichwohl sind die ›Lehren des Silvanus‹ das Zeugnis einer besonderen Art ›christlicher Gnosis‹, wie vor allem auch die hier vorliegende durchaus eigene Rezeption von Phil 2,6–11 bezeugt. Gewiss kann man mit G. Lüdemann und M. Janßen geltend machen, dass im Gegensatz zur Erhöhung Christi in Phil 2,6–11 in der Gnosis wie auch in den »Lehren des Silvanus« »die Erhöhung des Menschen bzw. der menschlichen Seele durch die Erniedrigung des Erlösers im Vordergrund« steht, so dass in diesem Sinne das Interesse des gnostischen Rezipienten sich »ganz auf die soteriologische Funktion Christi« richtet.928 Dies geschieht wiederum unter der Voraussetzung jener Mahnungen zur Selbsterkenntnis (p. 117,3 f.) und Selbstprüfung (p. 117,7–9: »Klopfe bei dir selbst an …«!). Am Ende ist es hier, in den ›Lehren des Silvanus‹, bei und trotz allen gnostischen oder doch jedenfalls ›gnostisierenden‹ Tendenzen, immer die eigene ›Überheblichkeit‹, die – im Gegensatz zur ›Demut‹ – ›ins Verderben führt‹ (p. 118,1 f.). Ein Selbstverständnis des ›Gnostikers‹ im Sinne desjenigen, der »durch seine Natur [bereits] gerettet« ist, ist hier von vornherein ausgeschlossen. Gewiss kann man mit A. Lindemann auch im Blick auf die ›Lehren des Silvanus‹ kritisch feststellen, dass der Verfasser dieser Schrift nicht »als Vertreter eines ausgeprägten ›Paulinismus‹ verstanden werden« darf: »Die Pauluszitate und -anspielungen prägen sein Denken nicht, er zieht sie vielmehr nur da heran, wo sie die Tendenz seiner Paränese bestätigen. Insofern unterscheidet sich seine Paulusbenutzung nicht von der der Gnostiker«929. Ganz unzutreffend demgegenüber ist die Verallgemeinerung dieser Erkenntnis im Blick nunmehr auf die Paulus-Rezeption in der frühchristlichen Gnosis insgesamt, ingestalt nämlich des Urteils, »dass … von einer ausgeprägten Paulusrezeption der frühchristlichen Gnosis nicht

928 So G. Lüdemann/M. Janssen, Phil 2,6–11 und gnostische Christushymnen aus Nag Hammadi, S. 510 f. 929 A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 338.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

gesprochen werden kann«930. Dem widerspricht nun in der Tat der bisher im Einzelnen dargelegte Befund einer spezifisch gnostischen oder auch einer eher ›weisheitlichen‹ Paulus-Rezeption. Selbstverständlich kann man in diesem Zusammenhang die ›Grundfrage‹ stellen, ob sich die Theologie des Paulus speziell im Blick auf die Gesetzesund Rechtfertigungslehre wie auch im Blick auf die paulinische Ekklesiologie und Eschatologie, letztlich also im Blick auf ihren ›ihren eigentlichen Kern einer gnostischen Interpretation entzog‹931. Gleichwohl ist es eben die besondere Sichtweise der frühchristlichen Gnosis gewesen, die jene für die Gnosis charakteristische ›Auswahl‹ aus den überlieferten Paulusbriefen bedingt, so dass bereits in diesem Sinn die Gnostiker in der Tat von vornherein ›keine spezifische Affinität zwischen ihrem eigenen Denken und der Theologie des Paulus‹ sahen932. Vielmehr bestand ihr, der Gnostiker, Interesse an Paulus lediglich darin, »solche Traditionen in das gnostische Denken zu integrieren, die geeignet waren, den eigenen [gnostischen] Ansatz weiter zu verdeutlichen und auszubauen«933. Paulus bzw. die unter seinem Namen überlieferten Briefe werden, hier, in der gnostischen Paulus-Rezeption, gleichsam ›instrumentalisiert‹, um nunmehr, im Kontext also einer christlichen Gnosis, ihrerseits die eigene, vorgefasste Grundposition vermittels des Rekurses auf die christlich-kirchliche Tradition zu bestätigen bzw. zu ›verifizieren‹. Und das heißt zugleich, dass es in diesem Sinn keine ›spezifischen Affinität‹ zwischen jenem originär-gnostischen Denken und der Theologie des Paulus gegeben hat – abgesehen allenfalls von der Frage, ob und inwieweit es bereits in den unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefen gewisse Voraussetzungen oder auch Anhaltspunkte gegeben hat, die den gnostischen Auslegern von ihrer eigenen Grundposition her für eine spezifisch gnostische Interpretation als besonders geeignet erschienen. Solche Fragestellung ist schon deshalb nicht von vornherein abzuweisen, weil sich die gnostischen Rezipienten der unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefe sich im Wesentlichen auf bestimmte Briefe beschränkt haben, auf den 1. Korintherbrief nämlich sowie auf die beiden Briefe ›an die Kolosser‹ und ›an die Epheser‹. Gab es also in diesen Briefen vor allem, so möchte man fragen, gewisse Anhaltspunkte oder Fragestellungen, die den gnostischen Rezipienten, von deren eigener Position her gesehen, als durchaus geeignet erschienen, den Apostel Paulus, wie er in 930 Ebd., S. 341, hier mit dem Zusatz: »Die Untersuchung der Nag-Hammadi-Texte hat diesen Eindruck im ganzen bestätigt«. Allenfalls die Apokalypse des Paulus (NHC V/2, p. 17– 24) weist nach dem Urteil von A. Lindemann (a.a.O., S. 333) »eine gewisse Vertrautheit mit einigen paulinischen Texten auf« und »ist insofern durchaus ein Beleg für die Wertschätzung des Paulus zumindest in bestimmten gnostischen Kreisen«. Kritisch dazu E. Mühlenberg, in: ThR 61 (1991), S. 301: »Gar nicht plausibel ist L.s Ausschaltung eines gnostischen Paulus«. Demgegenüber auch E. Dassmann, Stachel im Fleisch, S. 214 ff. 220. 931 So A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, S. 342. 932 Ebd., S. 342. 933 Ebd., S. 342.

4.3 Praxis der gnostischen Rezeption des Neuen Testaments

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der frühen Kirche des 2. Jahrhunderts verstanden und rezipiert worden ist, am Ende doch als einen der Ihren zu erweisen? – und in diesem Sinne nun in der Tat als einen apostolus haereticorum, auf den sich die frühe Kirche vielleicht sogar zu Unrecht berief? – Diese Fragestellung ist schon deshalb nicht von vornherein von der Hand zu weisen, weil in den genannten Briefen des Apostels zumindest auch ein Potential gegeben war, das – so offensichtlich die Auffassung jener gnostischen Rezipienten – nur noch ›aktualisiert‹ werden musste. Dies heißt nicht, die frühchristliche Gnosis mit H. Langerbeck als eine »systematische Entfaltung der paulinischen Theologie« zu verstehen934, wohl aber als ein eigenständiges Phänomen der spätantiken Philosophie- und Religionsgeschichte, das sich für seine Legitimation gegenüber der im Übergang vom 1. zum 2. Jh. Sich herausbildenden ›frühkatholischen‹ Kirche – ebenso wie diese – auf eine biblisch-neutestamentliche Legitimation berief, dies allerdings in einer spezifisch gnostischen Weise – mit der Konsequenz, dass der Apostel Paulus nunmehr, in solcher Perspektive, den Repräsentanten jener ›frühkatholischen Kirche‹ als der apostolus haereticorum entgegentrat und damit auch ganz konkret als »der Künder einer über die Welt des Demiurgen hinausführenden [esoterischen] ›Weisheit‹«935. Aufs Ganze gesehen bestätigt also die Paulus-Rezeption der frühchristlichen Gnosis im Blick sowohl auf das entsprechende Zeugnis der frühkirchlichen Häresiologen als auch im Blick auf die gnostischen Originalzeugnisse von Nag Hammadi das bisher bereits an den synoptischen Evangelien wie auch am Johannesevangelium gewonnene Bild, wirft aber zugleich wiederum die Frage auf, ob die von den gnostischen Rezipienten getroffene Auswahl aus den Schriften des Neuen Testaments ihrerseits wiederum in den genannten Schriften selbst bestimmte Anhaltspunkte hat? Gab es also hier bereits in bestimmten Schriften des Neuen Testaments, eine jene Auswahl steuernde Potenz gleichsam, gnostischerseits eben auf jene Schriften des Neuen Testaments zu beziehen, die ihrerseits – in der Sichtweise der Gnostiker jedenfalls – ein bestimmtes ›Potential‹ in sich bargen, das seitens der gnostischen Ausleger am Ende nur noch zu explizieren bzw. zu aktualisieren war? – »For at this time gnosticising was a part of the ›spätantiker Geist‹«936. Mit anderen Worten: Was am Ende hier noch einmal zur Diskussion steht, ist die Frage nach einer ›Gnosis-Nähe‹ in den Schriften des Neuen Testaments selbst. 934 So H. Langerbeck, Aufsätze zur Gnosis, S. 81. Vgl. dazu auch H.v. Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel, S. 171, sowie A. Lindemann, a.a.O., S. 311. 935 So K. Koschorke, Paulus in den Nag-Hammadi-Texten, S. 201 f., hier im Anschluss an die Oratio Pauli (NHC I/1). 936 Grundsätzlich dazu F. Wisse, The Nag Hammadi Library and the Heresiologists, S. 222 f.: »Meanwhile a gnosticising strain had developed with the Christian church already in the New Testament period this need not have been under the influence of specific Gnostic groups. For at this time gnosticising was part of the ›spätantiker Geist‹«.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

4.4 Zur Frage einer Gnosis-Nähe der Schriften des Neuen Testaments937 Im Blick zunächst auf die synoptischen Evangelien ist diese Frage wohl relativ einfach zu beantworten: Hier ist es nicht zufällig vor allem die Rede Jesu ›in Gleichnissen‹ gewesen, die das besondere Interesse der Gnostiker gefunden hat, und dies zumal angesichts der markinischen »Gleichnistheorie« von Mk 4,10–12 (und Mk 4,34) mit ihrer strikten Unterscheidung zwischen den Jüngern Jesu, denen, wie es hier heißt, »das Geheimnis der Herrschaft Gottes« anvertraut ist, und »jenen, die draußen ( ) sind, so daß die Jünger Jesu, was das Verstehen der Gleichnisrede Jesu betrifft, geradezu als ›Esoteriker‹ (griech.: ) erscheinen, und es in diesem Sinn geradezu als eine Aufforderung verstanden werden kann, zwischen jenen, die ›draußen‹ sind, einerseits und den Jüngern Jesu als den ›Esoterikern‹ andererseits zu unterscheiden – insgesamt also eine strikte Unterscheidung, die in gewisser Weise durchaus einer für die Gnosis charakteristischen Unterscheidung zwischen den ›Sarkikern‹ bzw. ›Hylikern‹ einerseits und den ›Pneumatikern‹ andererseits entspricht938. Ganz i.S. solcher exklusiven Jüngerbelehrung heißt es denn auch bei Irenäus, Adv. Haer. I 3,1, im Blick auf die Gleichnisse Jesu: »Dies ist zwar nicht offen [in der Schrift] gesagt, weil nicht alle die Gnosis erfassen; es ist aber geheimnisvoll durch den Heiland in Parabeln denen angezeigt, die es verstehen können«939. Die Gleichnisse Jesu gelten hier nach gnostischer Lesart als Chiffren gleichsam für die geheimen Überlieferungen der Gnostiker, als Rätselrede also, die nur dem ›Pneumatiker‹ zugänglich ist und als solche, so wiederum Irenäus, Adv. Haer. III 5,1, dem inennarrabile mysterium entspricht, von dem Jesus eben nur ›in Gleichnissen‹ gesprochen hat – eine esoterische Rede also, die sich allein den von Jesus erwählten Jüngern erschließt: Jesus selbst habe ja, so referiert Irenäus die Position seiner gnostischen Kontrahenten in Adv. Haer. I 25,5, in mysterio und ›abgesondert‹ (seorsum) zu seinen Jüngern gesprochen und sie zugleich beauftragt, nun auch ihrerseits jene geheimen Überlieferungen nur ›abgesondert‹ den dignis et adsentientibus weiterzuge937 Das Stichwort ›Gnosis-Nähe‹ bezieht sich hier auf eine Sprache, der im Zusammenhang mit bestimmten ›gnostisierenden Tendenzen‹ bereits im ersten nachchristlichen Jahrhundert eine gewisse ›Affinität‹ zur Sprache der Gnostiker eigen ist und die – als solche – den gnostischen Rezipienten geeignet erschien, adäquat in einen genuin gnostischen Kontext integriert zu werden. Zum Sachverhalt vgl. z.B. S. Pétrément, A Separate God, S. 2 ff. und S. 482, sowie R. M. Grant, Gnosticism and Early Christianity, S. 156 ff. bzw. S. 163 ff., hier speziell zu Paulus und zum Joh-Evangelium. 938 Vgl. R. Pesch, Das Markusevangelium (HthKzNT II /1), S. 237: in Mk 4,10 »deutet in der vormarkinischen Sammlung wohl die Esoterik der Gleichnisdeutung an«. 939 Zur Vorliebe der Gnostiker für die Parabel- bzw. Gleichnistexte der synoptischen Evangelien vgl. N. Brox, Gnosis und gnostischer Mythos bei Irenäus von Lyon, S. 62 ff. Zur Sache vgl. bereits oben S. 261 ff.

4.4 Zur Frage einer Gnosis-Nähe der Schriften des Neuen Testaments

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ben940. Und im Zusammenhang mit der ›Parabeltheorie‹ von Mk 4,10–12 hat dann selbstverständlich auch die die Gleichnisrede Jesu in Mk 4,34 abschließende Kennzeichnung der Gleichnisrede als Rätselrede, die als solche der ›Auflösung‹ ( ) bedarf, die entsprechende Resonanz in der frühchristlichen Gnosis gefunden941. Hier bedurfte offensichtlich nur noch der Fortschreibung und Entfaltung solcher Grundposition, um am Ende zu jener gnostischen ›Esoterik‹ zu gelangen, wie sie z.B. für die valentinianische Gnosis in den Excerpta ex Theodoto des Clemens Alexandrinus überliefert ist: »Der Soter hat die Apostel gelehrt, [und zwar] zuerst auf ›typische‹ und ›mystische‹ Weise ( und ), danach in Parabeln und in Rätselrede, und schließlich an dritter Stelle in ›offener‹ Rede ( ) – und dies alles selbstverständlich , im Blick also auf die Jünger allein942. Irenäus, Adv. Haer. I 3,1, spricht in diesem Zusammenhang, und zwar speziell im Blick auf die ›Schriftbeweise‹ der Gnostiker für das ›Pleroma‹ und die Äonen, davon, dass jene ›Äonen‹, die vom Soter selbst ›geheimnisvoll‹ in seinen Gleichnissen angezeigt worden sind, nur denjenigen gelten, die zur ›Auflösung‹ ( ) dieser verschlüsselten Rede imstande sind, zu einer esoterischen Deutung also der Gleichnisrede unter dem hermeneutischen Vorzeichen der eigenen gnostischen Grundposition. Eben dies meint auch Clemens Alexandrinus, Strom. VII 96,2: Sie, die Gnostiker, »wählen das mehrdeutig Gesagte aus und übertragen es auf ihre eigenen Meinungen«943. Auch hier also trifft jener Grundsatz zu, wie W. Harnisch ihn im Blick auf eine durch das Prinzip der ›Allegorie‹ bestimmte Hermeneutik formuliert hat: Sie, jene allegorische Hermeneutik, ist »überall da maßgebend, wo Gleichniserzählungen einem außerhalb ihrer selbst liegenden Interesse dienstbar gemacht werden«944. Hinsichtlich des Johannesevangeliums stellt sich die Frage einer ›Affinität‹ zu einem spezifisch gnostischen Denken gewiß in einer besonderen Weise. Hier eröffnet ja bereits der ›Prolog‹ eine über die Geschichte Jesu weit hinausführende gleichsam kosmische Dimension. Bereits dies ist ein Sachverhalt, der dem eigenen Interesse der frühchristlichen Gnosis an einer ›Ursprungserzählung‹ bzw. einer ›Prinzipienlehre‹ entgegenkam und somit zu einer

940 Vgl. Irenäus, Adv. Haer. I 25,5 sowie III 5,1. – Zum Ganzen vgl. auch G. G. Stroumsa, Hidden Wisdom, S. 37 ff. 941 Vgl. G. G. Stroumsa, ebd., S. 34: Jesus offenbart die Deutung der Gleichnisse »in private to his authentic disciples« (mit Verweis auf Origenes, c. Cels. III 60). 942 Zur Wendung vgl. Mk 4,10. Zu vergleichen ist in diesem Zusammenhang auch das entsprechende Zeugnis für die Basilidianer bei Hippolyt, Ref. VII 20,1: ’ . Zum Ganzen vgl. G. G. Stroumsa, Hidden Wisdom, S. 37 ff. 943 Zur gnostischen ›Parabeltheorie‹ s.o. S. 215 ff. 944 W. Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu, S. 62.

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4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

gnostischen ›relecture‹ des Joh-Prologs geradezu herausforderte945. Darüber hinaus gilt solche Affinität – zumal von dem eigentümlich ›dualistischen‹ Wirklichkeitsverständnis des JohEv.s her gesehen! – für die für dieses Evangelium charakteristischen harten Gegenüberstellungen von ›Licht und Finsternis‹, ›Leben und Tod‹, ›Wahrheit und Lüge‹, die im JohEv noch nicht i.S. eines ›metaphysischen‹ Dualismus zu verstehen sind, es gleichwohl durchaus verständlich erscheinen lassen, ›woran sich‹, wie J. Becker formuliert hat946, »spätere Gnostiker zu delektieren vermochten, wenn sie mit ihrem Vorverständnis das Joh[-Evangelium] lasen«. Hier also, im Blick auf den johanneischen Dualismus, gab es – auch wenn im JohEv selbst an der Erschaffung der Welt durch Gott kein Zweifel gelassen wird, durchaus eine ›Affinität‹ zu einer genuin gnostischen Sichtweise von Gott, Welt und Mensch – und damit denn auch, was die gnostischen Rezipienten des JohEv.s angeht, eine Vorzugsstellung gerade dieser Evangelienschrift. In diesem Sinne beklagt denn auch Irenäus, Adv. Haer. III 11,1 ff., den »überaus reichlichen Gebrauch (plenissime utentes)«, den die Gnostiker und insbesondere die Valentinianer von diesem Evangelium gemacht haben. Und es ist offensichtlich eben jener ›Dualismus‹ gewesen, der gerade diese Evangelienschrift für die Gnostiker in besonderer Weise als ›rezeptabel‹ erscheinen ließ, in diesem Zusammenhang gewiß auch die, was das Thema der Anthropologie betrifft, geradezu ›deterministischen‹ Gegenüberstellungen eines Seins »aus Gott« und eines Seins »aus der Finsternis, die sich offensichtlich relativ leicht in eine durch schicksalhafte Ursprungsbestimmungen gekennzeichnete gnostische Anthropologie ›übersetzen‹ ließen947. Es hat also in der Tat eine gnostische Wirkungsgeschichte des JohEv.s gegeben – genauer noch: einen selektiven Gebrauch dieses Evangeliums, »der sich daran orientierte, welche Stellen [aus dem JohEv] für die gnostische Grundaussage zu adaptieren waren«948. Insgesamt also: eine ›gnostische Inanspruchnahme‹ des JohEv.s, und zwar i.S. einer sekundären konsequenten »Gnostisierung der johanneischen Tradition«949, die bestimmte ›gnosis-nahe‹ Formulierungen im JohEv für die eigene gnostische ›Hypothese‹ in Anspruch nimmt. Wiederum auf eine besondere Weise stellt sich die Frage einer ›Nähe‹ zur frühchristlichen Gnosis im Blick speziell auf das Corpus Paulinum dar: Bemerkenswert ist bereits der Umstand, dass es keineswegs alle im Corpus Paulinum gesammelten Briefe gewesen sind, die das besondere Interesse der frühchristlichen Gnostiker gefunden haben. In dieser Hinsicht sind vielmehr seitens der Gnostiker offensichtlich von vornherein bestimmte Akzente 945

Dazu s.o. S. 291 ff. J. Becker, Johanneisches Christentum, S. 106 f. 947 S. dazu oben S. 291 ff. 948 So K. Rudolph, Bibel und Gnosis, S. 145. 949 Vgl. T. Nagel, Zur Gnostisierung der johanneischen Tradition, S. 675–693. 946

4.4 Zur Frage einer Gnosis-Nähe der Schriften des Neuen Testaments

483

gesetzt worden, und zwar unter dem Aspekt einer gewissen Affinität jener Briefe zur eigenen gnostischen Grundposition950. So gesehen kann man gewiß nicht mit E.H. Pagels die Briefe des Paulus als eine »Primärquelle der gnostischen Theologie«951 bezeichnen. ›Primärquelle‹ ist für die spezifisch gnostische ›Theologie‹ vielmehr die jeweils eigene gnostische Grundposition, eben jene ›wahre Gnosis‹ also, die die Gnostiker im Kontext ihrer Schriftauslegung für sich in Anspruch nahmen, jene spezifisch ›gnostische‹ Sichtweise nämlich, von der die Gnostiker bei ihrer Art von Schriftauslegung ausgingen und die ihre Schriftauslegung am Ende nur noch als eine gleichsam nachträgliche Bestätigung ihrer vorgefaßten gnostischen Grundposition erscheinen läßt. Solchem Grundsatz entsprechend sind es in der frühchristlichen Gnosis vor allem der 1. Korintherbrief des Paulus sowie die beiden Briefe ›an die Kolosser‹ und ›an die Epheser‹ gewesen, die angesichts der ihnen eigenen ›gnoseologischen‹ Sprache ihren gnostischen Rezipienten die entsprechenden Möglichkeiten einer Anknüpfung an die eigene gnostische Grundposition darboten952, darüber hinaus aber auch die Möglichkeit einer Bestätigung jener eigenen Grundposition. So ist es denn auch durchaus nachvollziehbar, dass jener Paulus, der 1 Kor 2,6 f. von der »Weisheit unter den Vollkommenen« spricht, die »im Mysterium verborgen ist«, und weiter, 1 Kor 2,10, von der »Erkenntnis der Tiefe Gottes« die exegetischen Energien seiner gnostischen Rezipienten geradezu herausforderte. Entsprechendes gilt dann auch im Blick auf die eigentümlich ›gnoseologische‹ Sprache der beiden Briefe ›an die Kolosser‹ und ›an die Epheser‹, wenn hier, ganz i.S. einer bestimmten Art von ›Mysterientheologie‹, von der ›Kundgabe des Mysteriums seines‹, Gottes, ›Willens‹ die Rede ist (Eph 2,9 f.). Für gnostische Leser bestand an dieser Stelle eine gewisse ›Offenheit‹ zur eigenen vorgegebenen Grundposition953. Es ist, von daher gesehen, denn auch kein Zufall, dass G.G. Stroumsa seiner Untersuchung der »esoterischen Traditionen und der Wurzeln des christlichen Mystizismus« eben jenes Zitat von 1 Kor 2,6 f. vorangestellt hat954, und dass die valentinianischen Paulus-Ausleger durch eine 950 Zur Fragestellung im Einzelnen vgl. bereits oben S. 416 ff. (Zu 1 Kor) und S. 442 ff. (Zu Eph und Kol). 951 E. H. Pagels, The Gnostic Paul, S. 1, hier mit Verweis auf Hippolyt, Ref. V 7,14 (?) und Irenäus, Adv. Haer. I 8,2–3. 952 Zur ›gnoseologischen‹ Sprache in Kol und Eph vgl. F.-J. Steinmetz, Die Weisheit und das Kreuz, S. 233. Vgl. auch R.M. Grant, Gnosticism and Early Christianity, S. 160, zu Kol: »Paul himself is moving in the direction of Gnosticism« sowie S. 161, zu Eph: »an incipient Gnosticism«. 953 G. G. Stroumsa, Hidden Wisdom, S. 1. Vgl. auch bereits Th. Zahn, Der neutestamentliche Kanon I/2, S. 758: Paulus, »der am deutlichsten redende Prediger der ›verborgenen Weisheit‹«. 954 Zum Ganzen vgl. E. H. Pagels, The Gnostic Paul, S. 75 f., sowie den ganzen Sachzusammenhang bei Irenäus, Adv. Haer. III 2,1–3,1. Auch die antignostische Polemik des Tertullian geht in diese Richtung, wenn er in seiner Schrift De praescriptione haereticorum, cc. 25 f., gegen eine Geheimlehre bzw. ein ›verborgenes Evangelium‹ (occultum ecangelium) Stellung

484

4. Die Rezeption des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis

solche Rede des Apostels im 1. Korintherbrief ihre eigenen Überlieferungen einer ›verborgenen‹, einer ›apokryphen Weisheit‹ autorisiert sahen, die als solche, d.h. als ›verborgene‹ und ›geheime‹ Überlieferungen, nur mündlich weiterzugeben sind. Die »Weisheit aus der Schrift«, so heißt es dementsprechend bei Irenäus, Adv. Haer. III , 2,1, kann man nach der Meinung seiner gnostischen Kontrahenten »nur dann finden, wenn man die [entsprechende geheime] Überlieferung kennt«. Nicht nämlich schriftlich (per litteras) ist jene Überlieferung weitergegeben worden, sondern per vivam vocem, und eben deswegen habe ja auch Paulus gesagt: Sapientiam autem loquimur inter perfectos, sapientiam autem non mundi huius (1 Kor 2,6), und Irenäus seinerseits fügt hinzu: Et hanc sapientiam unusquisque eorum esse dicit quam a semetipso adinveneris, fictionem videlicet … Es ist gewiß kein Zufall, dass in eben diesem Sachzusammenhang (Adv. Haer. III 2,2) von Irenäus das Selbstbewußtsein seiner gnostischen Kontrahenten hervorgehoben wird, denn sie sind es ja, die für sich in Anspruch nahmen, »ohne jeden Zweifel (indubitate) und ohne jegliche Beimischung (intaminate) das absconditum mysterium zu kennen, nämlich eben jenes »Mysterium« von Kol 1,26 und Eph 3,9. Aufs Ganze gesehen kann man gewiß darüber streiten, ob der Apostel Paulus selbst in 1 Kor 2,6 ff. »nicht seinen eigenen Intentionen untreu« geworden ist oder auch »auf den ersten Blick in Akkomodation an die korinthischen ›Gnostiker‹ sich selbst fremd zu werden scheint«955; und gewiß kann man mit Recht darauf verweisen, dass Paulus in 1 Kor 2,6–16 »unverkennbar an jüdische Weisheitstraditionen an[ knüpft]«956. Dies schließt jedoch keineswegs aus, dass eben dieser Paulus in der Geschichte der Rezeption seiner Briefe auf diese Weise selbst »ein wichtiger Faktor auf dem Wege von der traditionellen [jüdischen] Weisheit zur gnostischen Sophia gewesen ist«957. Deutlich ist in jedem Falle, dass die Rede des Paulus speziell in 1 Kor 2,6 ff. bestimmte Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Rezeption i.S. der späteren frühchristlichen Gnosis darbot958. Von daher gesehen kann – abschließend – festgestellt werden, dass überall dort, wo bei Andeutung oder unter Zugrundelegung eines ›dualistischen‹ Weltbildes – z.B. in der Rede von 1 Kor 2,6 und 8 von den »Archonten dieses Äons« oder auch in Joh 12,31 vom »Herrscher dieser Welt« oder gar in 2 Kor 4,4 vom »Gott dieses Äons« – die Rede ist, in der Tat »the presence of

bezieht und demgegenüber formuliert (c. 26, 2): Dominus palam edixit, sine ulla significatione alicuius taciti sacramenti. 955 So G. Bornkamm, Paulus, S. 171. 956 So G. Theissen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, S. 349 f. 957 So G. Theissen, ebd. 958 Zum Streit um die »hermeneutische Bedeutung von 1 Kor 2,6–16« vgl. P. Stuhlmacher, in: Theol. Beiträge 18 (1987), S. 133–158, hier besonders seine Ausführungen zur ›exegetischen Wende‹ im Blick auf 1 Kor 2,6 ff.: S. 139 f.

4.4 Zur Frage einer Gnosis-Nähe der Schriften des Neuen Testaments

485

trends and tendencies … moving in gnostic direction« gegeben ist959. Ihre – im eigentlichen Sinne – ›häretische‹ Qualität gewinnen solche Zeugnisse einer ›Gnosis-Nähe‹ aus bestimmten Schriften des Neuen Testaments erst und nur dort, wo sie, eingefügt in einen neuen, nunmehr genuin gnostischen Kontext, gleichsam ihr eigenes Leben beginnen – wie eben in der gnostischen Religion. Und in diesem Zusammenhang, besser wohl: in dieser Perspektive gesehen, ist die nicht zu bestretende ›Affinität‹ gewisser Schriften des Neuen Testaments zur gnostischen Religion und Weltanschauung am Ende nur ein weiterer Hinweis darauf, dass das Christentum von seinem Anfang an – auch dies gehört ja wohl zur ›Fleichwerdung des Logos‹ – an der Sprache seiner Zeit und Welt teilhat.

959 So R. McL. Wilson, Nag Hammadi and the New Testament, S. 291. Dementsprechend S. Pétrement, Sur le problème du gnosticisme, in: RMM 85 (1980), S. 154: »un tendence au gnosticisme«, sowie R.M. Grant, Gnosticism and Early Christianity, S. 158 f., hier S. 161: »incipient gnosticism«.

5. Kapitel

»Words with an Alien Voice« Worte mit einer bestimmten Bedeutung an ihrem ursprünglichen Ort, besser noch: in ihrem ursprünglichen Kontext gewinnen – werden sie programmatisch in einen neuen, veränderten Kontext versetzt – eine neue, ihnen ursprünglich »fremde Stimme«1. Dieser vor allem im 4. Kapitel im Einzelnen beschriebene Vorgang ist am Ende im Folgenden mit Blick auf seine Konsequenzen für die Relation »Frühchristentum und Gnosis« hin zu bedenken:

5.1 Schriftauslegung als Ursprung der gnostischen Häresie? Sofern sich die frühchristliche Gnosis nach dem Zeugnis der frühkirchlichen Häresiologen wesentlich als (eine bestimmte Art von) Schriftauslegung darstellt, erweist sich – wiederum nach dem Zeugnis der frühkirchlichen Häresiologen – eben diese Schriftauslegung als die Quelle bzw. als der Ursprung der Häresie. Einer der wichtigsten Zeugen dafür ist Origenes, und zwar in seiner Streitschrift Contra Celsum III , 11 und 12: Nachdem er bereits im c. 11 festgestellt hatte, dass es »von Anfang an(!) im Blick auf die Auslegung der anerkannten göttlichen Schriften Verschiedenheiten ( ) unter den Gläubigen gegeben hat« – ein Sachverhalt, der im c. 11 zunächst im Blick auf die aus den neutestamentlichen Pastoralbiefen zu erkennenden eschatologischen Probleme um die ›Auferstehung‹ dargelegt wird –, stellt er im c. 12 fest: , insgesamt ein Sachzusammenhang, den K. Koschorke, ein wenig verkürzt, so beschrieben hat: »Infolgedessen wurden die Schriften, die von allen als göttlich anerkannt waren, verschieden ausgelegt, und so entstanden Häresien«2. Insgesamt also: Hier bereits, bei Origenes, ist es die unterschiedliche Aufnahme ( ) – sprich: Rezeption! –, die ihrerseits wiederum die unterschiedlichen »Häresien« be1 Mit dieser Überschrift des abschließenden Kapitels wird noch einmal auf den gleichnamigen Aufsatz von P.C. Miller mit dem Untertitel: Gnostics, Scripture, and Canon, in: JAAR 57 (1989), S. 459–463, Bezug genommen. 2 So K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 213. Im c. 12 weist Origenes darüber hinaus auch auf die Entstehung von ›Häresien‹ bei den Griechen wie auch bei den Juden hin und im folgenden c. 13 auch noch auf den Topos der ›Notwendigkeit‹ der Entstehung von Häresien im Sinne von 1 Kor 11,19.

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5. »Words with an Alien Voice«

dingt bzw. verursacht. In eben diese Richtung geht auch die gezielt antignostische Polemik des Irenäus, Adv. Haer. II 10,1, dass die Gnostiker sich anhand der Auslegung von »mehrdeutigen Schriftstellen« (… ambiguas exsolvere scripturas) »einen anderen Gott fabriziert haben« (alterum deum fabricaverunt), gleichsam eine andere ›Theologie‹ begründet haben3 – insgesamt also (jedenfalls nach dem Urteil des Irenäus!): Zwar wird die Schrift auch von den Häretikern als »Heilige« Schrift anerkannt, was jedoch die Auslegung dieser Schrift betrifft, so »verdrehen« (convertere) sie deren eigentlichen und ursprünglichen Sinn (Adv. Haer. III 12,12) – dies nun ein Sachverhalt, der den Tertullian, De praescriptione haereticorum (19,1) zu der Schlussfolgerung veranlasst: Ergo non ad scripturas provocandum est; nec in his constituendum certamen, in quibus aut nulla, aut incerta victoria est, aut parum certa … – denn – so ebd. 14,3 f. – »Fides, inquit, tua te salvum fecit, non exercitatio scripturarum«, und zwar jener Glaube, der in der ›Glaubensregel‹ niedergelegt ist (fides in regula posita est), woraus sich die Schlussfolgerung ergibt: adversus regulam nihil scire omnia scire est (ebd., 14,5). Die Hl. Schrift der Christen hat – demgegenüber – bei den Häretikern ja offensichtlich lediglich die Funktion – wie Irenäus wiederum formuliert hat (Adv. Haer. III 11,7) –, »ihre eigene Lehre zu bestätigen«: suam confirmare doctrinam … Tertullian, De praescr. haer. 39,7, scheut sich in diesem Zusammenhang nicht, zu schreiben, dass die Schrift selbst dazu »disponiert« ist, den Häretikern »Material« darzubieten – denn: ich, Tertullian, lese ja in der Schrift selbst (1 Kor 11,19!), dass es Häresien geben müsse, die es – ohne die Schrift – gar nicht geben könne (ebd., 39,7). Schriftauslegung hier also in der Tat als Quelle und Ursprung der Häresie! – eine These, die im übrigen auch von den späteren frühchristlichen Häresiologen bestätigt wird – so jedenfalls von Clemens Alexandrinus (Strom. VII 97,3): »Indem sie, die Gnostiker, sich bemühten, über den gemeinsamen Glauben hinauszugehen ( … ), haben sie die Wahrheit verlassen« – oder auch Eusebius in seiner »Kirchengeschichte« (V 28,13 f.) mit dem Hinweis auf den »leichtfertigen Umgang« mit der Schrift und – gewiss nicht zuletzt auch Epiphanius mit seiner These, dass die Lehren der gnostischen Häretiker auf einer falschen bzw. nur einen ausgewählten Teil der Schrift berücksichtigenden Lesart der Schrift beruhen: »Heresy in the strict sense means any erroneous doctrine based on a wrong interpretation of scripture«4. Bereits diese polemischen Stellungnahmen geben zu erkennen, dass es auch hier, angesichts der gnostischen Schriftauslegung, nicht der Tatbestand 3 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Adv. Haer. II 10,2: Hi autem, quaerentes exsolvere scripturas et parabolas, alteram maiorem et impium quaestionem introducunt, siquidem super mundi fabricatorem Deum alius ist deus. 4 So G. Vallée, A Study in Anti-Gnostic Polemics. Irenäus, Hippolyt, and Epiphanius, S. 77 ff. sowie S. 84 f.

5.1 Schriftauslegung als Ursprung der gnostischen Häresie?

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der Schriftauslegung als solcher ist, der den Ursprung der Häresie ausmacht, sondern lediglich eine bestimmte Art der Schriftauslegung, die ihrerseits eine bestimmte Hermeneutik voraussetzt – eben das spezifische Vorverständnis der frühchristlichen Gnosis. Irenäus wiederum hat diesen Sachverhalt auf die Formel gebracht, dass die Häretiker zwar – gleichsam grundsätzlich gesehen – auch ein Zeugnis für die principia evangelii geben, indem sie – wie auch die »rechtgläubige« Kirche! – von der Schrift bzw. von den Evangelien ausgehen, dies aber am Ende doch nur, um auf diese Weise »ihre eigene Doktrin zu befestigen«5. Von daher gesehen ist es dann nicht mehr die Tatsache der Schriftauslegung als solche, die Quelle und Ursprung der Häresie ausmacht, sondern eben die besondere Art und Weise der gnostischen Schriftauslegung. Im Sinne der antignostischen Polemik des Irenäus (Adv. Haer. III 11,7) heißt das: Am Ende ist es die eigene Doktrin der Gnostiker, die – gleichsam nachträglich! – durch die Heilige Schrift der Christen »konfirmiert«, d.h. bestätigt wird. Nicht also der Vorgang der Schriftauslegung als solcher gerät hier, in der frühchristlichen Gnosis, zur Quelle der Häresie, sondern jenes »besondere« Interesse, jenes »Vorverständnis« – insgesamt also jene besondere Hermeneutik, die »hinter« der Rezeption der biblischen Überlieferung steht und ihrerseits von bestimmten Prämissen ausgeht. Tertullian wiederum hat dies sehr deutlich erkannt, wenn er die eigentliche Ursache der (gnostischen) Häresie eben im Missverständnis der Schrift seitens seiner gnostischen Kontrahenten erkennt: »Da gibt es nun eine Häresie, die Bücher der Schrift nicht annimmt; diejenigen jedoch, die sie rezipieren, rezipieren sie nicht ohne Änderung (non recipit integras), sondern durch Hinzufügungen und Auslassungen ad dispositionem instituti«, was – frei übersetzt – heißt: »nach den eigenen (häretischen!) Prädispositionen« (De praescr. haer. 17,1). Die von C. Colpe in diesem Zusammenhang formulierte Alternative, »ob sich hier Gnosis als Exegese erst entzündet oder [bereits] fertig da ist und sich dann dem Text [scil.: der Schrift] eisegetisch nähert«6, ist so gesehen eindeutig im letzteren Sinne zu entscheiden, im Sinne nämlich einer Exegese, die ihrerseits von vornherein einem bestimmten Vor-Verständnis verpflichtet ist. Und d.h. zugleich: Was hier, in der Rezeption der Hl. Schrift der Christen seitens der frühchristlichen Gnostiker vorliegt, ist am Ende nichts anderes

5 Adv. Haer. III 11,7: … et ipsi haeretici testimonium reddant eis [sc.: evangeliis] et ex ipsis egrediens unusquisque eorum conetur suam confirmare doctrinam. Vgl. auch III 12,12: Zwar Annäherung an die Schriften, zugleich jedoch ›Sinnverdrehung‹, und zwar secundum eversionem sententiae, sowie K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 179. 6 C. Colpe, Heidnische, jüdische und christliche Überlieferung in den Schriften aus Nag Hammadi IX , in: JAC 23 (1980), S. 108–127, hier S. 123 speziell zum sog. Testimonium veritatis (NHC IX /3).

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5. »Words with an Alien Voice«

als eine Instrumentalisierung dieser Schrift, und zwar nach Maßgabe bzw. nach dem »Kanon« eines spezifisch gnostischen Schriftverständnisses7.

5.2 Zur Frage nach dem Kanon der gnostischen Schriftauslegung Eben hier, bei der Frage nach dem Kanon der gnostischen Schriftauslegung bestätigt sich auch der alte Grundsatz aller Rezeptionstheorie: Quidquid recipitur ad modum recipientis recipitur)8 – was zugleich heißt: Auswahl, Umprägung und Neuinterpretation der jeweiligen Tradition … – insgesamt also Aspekte, die nunmehr auch für die »Rezeption« der Schriften des Neuen Testaments in der frühchristlichen Gnosis zutreffen. Dies schließt im Übrigen nicht aus, dass – ohne den Vorlauf einer ›Rezeptionsästhetik‹ – das Wesentliche in dieser Hinsicht bereits im Jahr 1871 von G. Heinrici erkannt worden ist: »So forschten die Gnostiker in der Schrift – und fanden, was sie finden wollten«9, diese Formulierung übrigens auch wiederum ein Hinweis darauf, dass die Sentenz vom »Suchen und Finden« von Mt 7,7 par im Kontext einer spezifisch gnostischen Rezeption des Neuen Testaments hier einmal mehr ihre besondere Bedeutung bzw. ihre Wirkungsgeschichte erweist10 – nicht zufällig deshalb in dieser Hinsicht die ärgerliche Klage des Tertullian, De paescr. haer. 43,2: Quaerite et invenietis ubique meminerunt …– und entsprechend auch die Begründung für den Überdruss, den Tertullian angesichts der Rezeption von Mt 7,7 seitens der Gnostiker empfindet: Venio itaque ad illum articulum, quem et nostri praetendunt ad ineundam curiositatem, et haeretici inculcant ad importandam scrupulositatem. Scriptum est inquiunt, quaerite et invenietis – bis hin zu c. 9,6: Sie, die Gnostiker, erklären Mt 7,7 7 Dies schließt im Übrigen die These des Tertullian nicht aus, sondern eher ein, dass die Schriften selbst nach dem Willen Gottes so disponiert seien, ut haereticis materias subministrarent (De Praescript. Haer. 39,7, im Folgenden mit Hinweis auch auf 1 Kor 11,19. 8 So Thomas von Aquin, Summa Theologia I 75,5, hier als Zitat aus Ps.-Aristoteles, Liber de causis, prop. 10, zitiert von H. R. Jauss, Art. Rezeption, Rezeptionsästhetik, in: Hist. Wb. der Philosophie VIII , Sp. 996–1004, hier: Sp. 997. Zur (notwendigen) Unterscheidung von ›Rezeptions-‹ und ›Wirkungsgeschichte‹ (i.S. von H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 283 ff.) vgl. H. Jauss, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft (1970), S. 185 ff., sowie K. Berger, Exegese des Neuen Testaments, S. 94: ›Wirkung‹ ist erst die Folge, »die sich kausal auf dem Rücken der Rezeption ergibt«; vgl. ebd., S. 106 f., sowie H. Jauss, Die Theorie der Rezeption. Rückschau auf ihre unbekannte Vorgeschichte, Konstanz 1987, S. 17, mit der These einer »Interaktion von Wirkung und Rezeption«, d.h.: »›Wirkung‹ benennt das vom Text bestimmte, ›Rezeption‹ das vom Adressaten bedingte Element der Konkretion«. 9 G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die Hl. Schrift, S. 60. Vgl. ebd., S. 62: »Der tiefere Grund dieser Praxis liegt in dem Bestreben, das [gnostische] System in die Schrift hineinzutragen«. 10 Zur Bedeutung dieser Sentenz für das Ganze der frühchristlich-gnostischen Rezeption der Schrift s.o. S. 244 ff. sowie Irenäus, Adv. Haer. III 14,2: quaerere quidem semper in excusatione habent, … invenire vero nunquam possunt.

5.2 Zur Frage nach dem Kanon der gnostischen Schriftauslegung

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sine disciplina rationis, was konkret heißt: nihil esse quaerendum ultra quod crediderunt id esse, quod quaerere debuerunt … Demgegenüber ist das, was die Häretiker in der Schrift »suchen«, ja nichts anderes als eine gleichsam nachträgliche Bestätigung ihrer eigenen vorgefassten ›Hypothese‹! Am Ende heißt dies nichts anderes als dass »nicht das [gnostische] System nach der Schrift, sondern« – gerade umgekehrt also! – »die Schrift nach dem [gnostischen] System normiert« wird11. Dieses ›Suchen‹, im Sinne der Schriftforschung, ist also keineswegs voraussetzungslos und damit auch ziellos, sondern ein sehr zielgerichtetes ›Suchen‹ – eben weil es von vornherein im Wissen um das geschieht, was es eigentlich zu ›finden‹ gilt … Zeigt sich hier vielleicht sogar ein platonisches Erbe der frühchristlichen Gnosis, im Sinne nämlich des Dialogs »Menon« (80 D ff.): Wer auch immer »sucht« und forscht, muss zumindest eine Vorstellung, eine Ahnung, ja geradezu ein vorgängiges Wissen darum haben, was bzw. wonach er »eigentlich« sucht? Und was bei Platon die , das ›Sich-wieder-Erinnern‹ ist, wäre dann – analog dazu – in der frühchristlichen Gnosis die alle hinter sich lassende ›Erkenntnis‹ des ›Woher‹ und – damit auch – des ›Wohin‹. Unter der Voraussetzung, dass das hermeneutische Auswahlprinzip das je eigene gnostische System ist12, gilt hier in jedem Falle: Das »Finden« – im Sinne einer verstehenden Aneignung der Schrift – »findet sich dann ganz von selbst«13. Soviel hier zunächst zu den Prinzipien einer gnostischen »Erkenntnistheorie«. Die Praxis, der konkrete Vollzug dieser Prinzipien entspricht dem durchaus und gibt in diesem Sinne zugleich auch eine Antwort auf die zuletzt von W.A. Löhr aufgeworfene Frage nach einer »definierbaren gnostischen Weise der Rezeption«14. Die eigene Art gnostischer Schriftauslegung erschließt sich in einem Zeitalter des Synkretismus in vielfältiger Weise. Konkret heißt dies, dass die spezifisch gnostische Lesart der Bibel sich nicht nur als eine »pneumatische Deutung des gemeindechristlichen Glaubens« darstellt15; gnostische Lesart der Bibel, das ist gewiss auch »a radical reinterpretation, or inverted reading of early Biblical history. Gnostic mythology is here presented in the form of Biblical esoteric exegesis«16 – in jedem Falle aber darauf ausgerichtet, die (jeweils bereits vorausgesetzten!) Grundlehren der gnostischen Rezipienten zu bestätigen. 11

So G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die Hl. Schrift, S. 47. So E. Dassmann, in: JAC 1979, S. 127. Vgl. auch E. H. Pagels, The Gnostic Paul, S. 3 (mit Berufung auf G. Heinrici, a.a.O., S. 46 und S. 175): »Gnosis itself, and not the Scripture, remains their primary hermeneutical presupposition«. 13 So K. Koschorke, Hippolyts Ketzbekämpfung, S. 45 f. 14 W.A. Löhr, Das antike Christentum im zweiten Jahrhundert – neue Perspektiven seiner Erforschung, in: ThLZ 127 (2002), Sp. 247–267, hier: Sp. 256. 15 So K. Koschorke, ZThK 74 (1977), S. 334. 16 So G. G. Stroumsa, Hidden Wisdom, S. 56, mit Bezug auf Irenäus, Adv. Haer. I 3,1. Vgl. auch M. Simonetti, Biblical Interpretation in the Early Church, S. 34: »By distorting is meaning in order to confirm the basic teachings of the Gnostics«. 12

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5. »Words with an Alien Voice«

Die solchen hermeneutischen Grundsätzen entsprechende exegetische Praxis ist nach dem Zeugnis der frühchristlichen Häresiologen am deutlichsten wohl am entsprechenden Zeugnis des Irenäus aufzuweisen, hier vor allem unter dem Stichwort der Adaption, der »Anpassung« also der Hl. Schrift der Christen an die Lehren der frühchristlichen Gnosis. Eine solche »Anpassung« ist hier die Konkretion einer gleichsam »integrativen Hermeneutik«, die darauf aus ist, die vorgegebene Tradition der Schrift in den (neuen!) Kontext einer spezifisch gnostischen Hermeneutik einzubeziehen bzw. zu »integrieren«17. Die exegetische Terminologie, deren sich – möglicherweise – bereits die Gnostiker bedienten, in jedem Falle aber Irenäus selbst, ist nach dem Zeugnis der frühchristlichen Häresiologen dabei im Einzelnen durchaus vielfältig, in der Grundtendenz jedoch eindeutig: An erster Stelle ist hier gewiss das lateinische Stichwort adaptare – griechisch - bzw. – zu nennen, wie Irenäus es – z.B. – Adv. Haer. I 3,1 und 6 sowie I 8,1 – verwendet. In der Sache durchaus entsprechend gilt dies auch für transferre (griech.: ), transfigurare (griech.: ), transfigurare (griech.: ), convertere (griech.: ) oder auch adultare (griech.: )18. Alle diese Verben haben gemeinsam, dass sie – jedes auf seine Weise – den Vorgang einer »Anpassung«, einer Transformation eines biblischen Textes in einen andersartigen, nämlich gnostischen Kontext beschreiben. Ziel und Ausrichtung des Gebrauchs solcher Terminologie ist in jedem Falle eindeutig: die »Transformation« oder – besser noch – die »Anpassung« eines Textes aus der Schrift an einen genuin andersartigen gnostischen Kontext, letztlich die Integration des jeweiligen biblischen Textes in einen genuin gnostischen Kontext – und damit zugleich eine grundlegende Veränderung des Sinnes des jeweiligen Textes (an seinem ursprünglichen Ort). Seinem ursprünglichen Sinn am Ort seiner Entstehung entgegen gerät nunmehr dieser Text zu einem Zeugnis für die Lehre der Gnostiker. Dass bei solchem methodischen Vorgehen jene biblischen Texte die besondere Beachtung der gnostischen »Exegeten« finden, die ihrerseits infolge einer gewissen »Nähe« zu Terminologie (und Sache!) der frühchristlichen Gnosis besonders »geeignet« erschienen, den eigenen gnostischen Ansatz des weiteren auszuführen, versteht sich von selbst, ist aber keineswegs die conditio sine qua non für die gnostischen Rezipienten. Deutlich 17 Zum Stichwort »Integrative Hermeneutik«: H. Strutwolf, Retractatio Gnostica. Die Reintegration gnostischer Schultradition im Dialog mit der Großkirche, in: A. Franz / Th. Tentsche (Hrsgg.), Gnosis – oder die Frage nach Herkunft und Ziel des Menschen, Paderborn 2002, S. 41–64, hier: S. 46 ff.: »Die integrative Hermeneutik der Gnostiker«. 18 Zur exegetischen Terminologie der Gnostiker: A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 9, so wie A. Le Boulluec, Exégèse et polémique antignostique chez Irénée et Clémens d’Alexandrie, S. 709, zum »vocabulaire de l’altération tendancieuse et de l’adaptation«.

5.2 Zur Frage nach dem Kanon der gnostischen Schriftauslegung

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ist jedoch in jedem Falle: Am Ende erscheint der jeweilige biblische Text in seinem neuen Kontext in einer gänzlich andersartigen Ausrichtung19. Das wohl deutlichste Zeugnis für den eben beschriebenen hermeneutischen Prozess einer Transformation des biblisch-neutestamentlichen Zeugnisses in den neuen, nunmehr gnostischen Kontext bietet unter den frühchristlichen bzw. früh-»kirchlichen« Zeugen vor allem Irenäus in seinem auch für die Folgezeit grundlegenden Werk »Adversus Haereses« dar, »grundlegend« vor allem in dem Sinne, dass die Nachfolger des Irenäus unter den frühchristlichen Häresiologen in dieser Hinsicht sich ausdrücklich auf Irenäus berufen bzw. umfassend aus seinem Werk zitiert haben20. Dabei geht bereits aus der Praefatio zum ersten Buch von »Adversus Haereses« mit aller Eindeutigkeit hervor, dass die Auseinandersetzung mit der frühchristlichen Gnosis von Irenäus jedenfalls grundlegend im Zeichen der Hl. Schrift der Christen geführt wird – eben als »Streit um die Schrift«, genauer noch: als Streit um deren »rechte« Auslegung21. Charakteristisch ist in Praefatio 1 die entsprechende Polemik des Irenäus: Sie, die gnostischen Kontrahenten, »verfahren leichtfertig« mit der Schrift, genauer: mit den »Worten des Herrn« ( ) und erweisen sich so als »schlechte Exegeten des [ursprünglich] 22. Und nicht genug mit gut gesagten ( diesem generellen Urteil: Solche Fehlleistung der gnostischen Kontrahenten entspricht eben jener Art und Weise, in der sie ihre Irrlehren vortragen: Es ist jedenfalls kein Zufall, dass Irenäus bereits hier, zu Beginn des ersten Buches, auf die Art und Weise verweist, in der die Gnostiker ihr besonderes Verständnis der Schrift den »kirchlichen« Christen nahezubringen versuchen: Nicht zufällig jedenfalls gebraucht Irenäus hier den Terminus , und zwar an dieser Stelle eindeutig im negativen Sinne einer »listig vorbereiteten Überredungskunst«, die – wie am Ende von Praefatio 1 im Gebrauch der Adverbien und einmal mehr deutlich wird – die Adressaten jener »Überredungskunst« zunächst zwar zum eigenen ›Suchen‹ 19 Zum Ganzen vgl. neben der Anm. 18 genannten Arbeit: A. Le Boulluec, La notion d’hérésie dans la littérature grecque II –III siècles, Paris 1985, hier S. 189 ff.: »Le conflict des interprétations«, hier speziell S. 231 ff., sowie vom selben Verfasser: La Bible chez les marginaux de l’orthodoxie, in: C. Mondésert (éd.), Le monde grec ancien et la Bible I, Paris 1984, S. 153–170; L’écriture comme norme hérésiologique dans le controverse des Iie et IIIe siècles, in: G. Schoellgen/Ch. Scholten (Hrsgg.), Stimuli. Exegese und Hermeneutik in Antike und Christentum. FS E. Dassmann, in: JAC , Erg.-Bd. 23, Münster 1996, S. 66–76. 20 Hinzuweisen ist hier insbesondere auf Epiphanius von Salamis, der in seinem ›Panarion‹ (haer. 31–34) ausführlich aus dem 1. Buch des Irenäus, Adv. Haer., zitiert. Zu den griechischen Irenäus-Fragmenten des Irenäus bei Epiphanius vgl. A. Rousseau / L. Doutreleau, Irénée de Lyon. Contre les Hérésies (SC 263) Paris 1979, S. 61–100. 21 Grundlegend zu diesem »Streit um die Schrift«: A. Le Boulluec, La notion d’hérésie, S. 215–253. 22 Zum Terminus in der Auseinandersetzung mit der gnostischen Exegese vgl. auch Eusebius, h.e. V 28: … .

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in der Schrift motiviert, sie aber eben auf diese Weise zugleich »zugrunde richtet«, so dass sie am Ende »gar nicht mehr imstande sind, die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden«. In diesem »Streit um die Schrift«, gibt es offensichtlich eine »Überredungskunst«, »qui transforme la persuasion en tromperie«23. Bereits zu Beginn des 1. Buches von »Adversus Haereses« muss sich zeigen, was es konkret mit jenem Grund-Satz des Irenäus in Adv. Haer. III 12,12 im Blick auf das Schriftverständnis seiner Kontrahenten auf sich hat: Scripturas quidem confitentur, interpretationes vero convertunt, hier ausdrücklich mit Rückverweis auf die entsprechenden Darlegungen des Irenäus im 1. Buch. Was also heißt das konkret, wenn die gnostischen Schriftausleger bereits hier, in der Praefatio zum ersten Buch wie dann auch noch einmal im dritten Buch (III 14,4) »schlechte Exegeten« dessen genannt werden, was in der Schrift ursprünglich »gut gesagt worden ist«?24 Die Grundsätze der gnostischen Schriftauslegung – wie auch die ihnen entsprechenden Methoden – bezeugt Irenäus, selbstverständlich auf seine polemische Weise, sehr eindeutig. So gilt jene Grundaussage von Adv. Haer III , 12,12 bereits im Blick auf den Aspekt einer ›Auswahl‹ der von den gnostischen Exegeten bevorzugten Texte und Textgruppen des Neuen Testaments, konkret also im Blick auf eine Auswahl nach Maßgabe der eigenen gnostischen Prinzipien bzw. des eigenen gnostischen Vorverständnisses. Dementsprechend heißt es Adv. Haer. I 19,1: , das heißt: »Sie treffen eine Auswahl aus den Schriften und versuchen auf diese Weise den Beweis dafür anzutreten, dass unser Herr einen anderen zum Vater hatte als den Schöpfer der Welt« – die Schrift selbst also auf Grund solcher Auswahl als ›Beweis‹ ( ) für den Grundsatz einer spezifisch gnostischen Gottesvorstellung! Konkret heißt dies, dass hier die Schrift letztlich nach Maßgabe der eigenen, für die Gnosis charakteristischen ›Grundidee‹ ( ) gelesen und verstanden wird! Auch dies im Übrigen wiederum ein hermeneutisch-exegetischer Aspekt, unter dem, was die Schriftforschung der Gnostiker betrifft, jene Sentenz vom ›Suchen‹ und ›Finden‹ von Mt 7,7 par für die frühchristliche Gnosis einmal mehr ihre besondere Bedeutung gewinnt: ›Suchen‹ nämlich in der Schrift im Sinne jenes hermeneutischen Prinzips einer ›Anpassung‹ (adaptio) ausgewählter Schriftstellen an die eigene gnostische ›Grundidee‹ bzw. ›Grundlehre‹ ( )25.

23 So A. Le Boulluec, La notion d’Hérésie, S. 218. Zum Terminus vgl. Adv. Haer. III , Praefatio 3, hier ironisch im Sinne der ›Überzeugungskunst‹ der Gnostiker. 24 Vgl. auch Adv. Haer. III 14,4: … interpretari audentes [sc.: qui a Valentino] male quae ab hoc [Lukas] bene sunt dicta. 25 Zur Sentenz von Mt 7,7 als Leitwort gnostischer Bibelauslegung s.o. 215 ff.

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Dass in diesem Zusammenhang jene biblisch-neutestamentlichen Texte oder auch ganze Textgattungen bei ihren gnostischen Exegeten besonderes Interesse fanden, denen eine gewisse ambiguitas (griech.: ) eigen ist, versteht sich von selbst, und zwar im Blick vor allem auf die Parabeln bzw. Gleichnisse der Evangelien. Dementsprechend vermerkt Irenäus, Adv. Haer. II 27,2, nicht zufällig, dass die Häretiker eben vermittels ihrer Auslegung jener Gleichnisse »ihren eigenen Gott gefunden haben«: per tenebrosas parabolarum absolutiones unusquisque eorum putat proprium invenisse deum. Ganz so erweisen sich die – an sich ja mehrdeutigen – Parabeln der Evangelien des Neuen Testaments in der Tat als das »bevorzugte Terrain der gnostischen Spekulationen« (»le terrain favori des spéculations gnostiques«)26. Und in diesem Sinne bezeugt auch die Argumentation des Irenäus, Adv. Haer. I 10,3, dass es gegenüber denen, »die die Lehre ( ) verändern und [dazu noch] einen anderen Gott neben dem Schöpfer, Urheber und Ernährer des Alls ausdenken ( )« notwendig sei, »das, was in den Parabeln gesagt ist, [immer wieder] neu zu überdenken«, um sie [auf diese Weise] der wahren Lehre ( ) zuzuordnen. Angesichts solchen Missbrauchs der Schrift ist es – bis zu einem gewissen Grade – durchaus nachvollziehbar, wenn Irenäus seinerseits (Adv. Haer. II 26,1) mit Berufung auf den Apostel Paulus (1 Kor 8,1) der Meinung Ausdruck gibt, dass es im Grunde doch besser und nützlicher sei, ein »ungebildeter« Mensch, ein gleichsam zu sein – besser jedenfalls, als per quaestionum subtilitates et minutiloquium in impietatem zu fallen. Und dies nun insbesondere im Blick auf die Lehren des Apostels Paulus, von denen nach des Irenäus Meinung jene Häretiker ja ohnehin »ganz und gar nichts« verstehen (in totum non intelligentes), sondern im Grunde lediglich ihre dementia insensationis zu erkennen geben (Adv. Haer. IV 41,4). Die »Methode« – und damit auch die Sache –, um die es bei der Schriftauslegung der Kontrahenten des Irenäus geht, zeigt sich am deutlichsten wohl in jenen Text- und Sachzusammenhängen im Referat des Irenäus, die das Thema der »Anpassung«, der Adaption, zum Gegenstand haben, der »Anpassung« nämlich der biblischen Schriften an die seitens der Gnostiker bei der ihnen eigenen Art der Schriftauslegung jeweils vorausgesetzten eigenen Lehre ( ). Hier bestätigt sich nun in der Tat, was Tertullian in der ihm eigenen Art gegen Ende seiner Schrift De praescriptione haereticorum (c. 38,1) kurz und bündig formuliert hat: Illic igitur et scripturarum et expositionum adulteratio deputanda est, ubi doctrinae diversitas invenitur –

26 So A. Le Boulluec, La Bible chez les marginaux, S. 165, hier mit der Fortsetzung: »C’est le sens du précepte constamment invoqué par les Gnostiques«, ders., Notion d’hérésie, S. 23 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Mahnung des Irenäus, Adv. Haer. II 27,1, dass die Parabeln »nach dem, was unzweideutig ist«, aufzulösen sind: »et ideo parabolae debent non ambiguis adaptari …«.

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»Verfälschung« der Schrift also überall dort, wo eine der Schrift ursprünglich fremde »Doktrin« die Auslegung der Schrift bestimmt. Irenäus wiederum hat dies sehr deutlich erkannt, wenn er in seinem antignostischen Hauptwerk immer wieder – und somit grundlegend für das gnostische Verständnis der Schrift – das Bemühen der gnostischen Exegeten hervorhebt, die Schrift an die eigene gnostische , d.h. an die den Gnostikern eigene Grundposition »anzupassen«27. Neben der kurzen Notiz in der Praefatio zum zweiten Buch – et quanta ex scripturis eligentes adaptare conantur fictioni suae – steht paradigmatisch dafür die entsprechende Polemik bzw. Widerlegung des Irenäus in Adv. Haer. I 1,3; 3,6, 8,1 und 9,1–4. Ein charakteristisches Beispiel für Methode und Praxis der gnostischen Schriftauslegung findet sich bereits zu Beginn des 1. Buches von Adv. Haer. in I 1,3, hier im Zusammenhang eines Referats des Irenäus zur gnostischen (ptolemäischen) Lehre vom Pleroma und seinen Äonen (I 1,1–3). Ausgangspunkt der Argumentation der Gnostiker ist dabei zunächst die Überlieferung, dass der »Erlöser« ( ) zunächst dreißig Jahre lang nicht öffentlich aufgetreten ist, um auf diese Weise, wie es hier heißt, »die Mysterien der Äonen« anzuzeigen. Der »Schriftbeweis« der Gnostiker dafür ist das Gleichnis von den »Arbeitern im Weinberg« von Mt 20,1–7, in dem die Addition der hier genannten Stundenzahlen jener Arbeiter des Gleichnisses genau die Summe »Dreißig« ausmacht, die als solche zugleich für die Summe der dreißig »Äonen« stehen; und eben dies – so wiederum die Schlussfolgerung der Kontrahenten des Irenäus – seien eben »die großen und wunderbaren und unaussprechlichen Mysterien«, die sie, die Gnostiker, gleichsam als »Frucht« ihrer Auslegung »einbringen«; – soweit das Referat des Irenäus, von ihm selbst beschlossen mit der Feststellung: »… und wenn sich sonst noch etwas von den Aussagen der Schrift an ihre Gebilde anpassen und angleichen lässt«: . Eben auf dieser Grundlinie einer spezifisch gnostischen Schriftauslegung liegt sodann auch die verallgemeinernde, auch »das Gesetz und die Propheten« einschließende Polemik des Irenäus in Adv. Haer. I 3,6: Nachdem bereits Adv. Haer. I 3,4 zunächst – unter Bezugnahme auf ausgewählte Schriftstellen (u.a.: Kol 3,11; Röm 11,36; Kol 2,9 und Eph 1,10) – die gnostische Lehre vom »Soter als das All« dargelegt worden war, setzt I 3,5 das Referat des Irenäus hinsichtlich der Argumentation seiner Kontrahenten fort, und zwar nunmehr im Blick speziell auf die gnostische Lehre vom Verhältnis des »Horos« zum »Stauros«: Der als diejenige Größe, die »festigt« und »stützt« – und in diesem Sinne zugleich mit dem »Stauros« identisch ist – insgesamt eine spezifisch gnostische Spekulation, zu der nachträglich der 27 Vgl. dazu A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 9 f., sowie A. Le Boulluec, Notion d’hérésie, S. 220 ff.

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»Schriftbeweis« geführt wird, und zwar mit Hinweis auf Mt 3,12; 10,34.38; Mk 8,34 sowie auf die Rede des Apostels Paulus vom »Kreuz«: 1 Kor 1,18; Gal 6,14. Der folgende Abschnitt (I 3,6) beginnt auf diesem neutestamentlichen Hintergrund mit der Feststellung des Irenäus: »Auf diese Weise also reden sie über ihr ›Pleroma‹ und das ›Gebilde des Alls‹ ( )– soweit zunächst das Referat des Irenäus über die die gnostische Lehre vom Pleroma und seinen Äonen . Bei alledem bedarf es – im Sinne des Irenäus jedenfalls – keiner Frage, dass ein Verständnis der in I 3,5 aufgeführten »Beweisstellen« in jenem gnostischen Sinne gar nicht anders möglich und auch gar nicht anders zu erklären ist, als dass die Gnostiker zu solchen Auffassungen im Grunde nur dadurch gelangen konnten, dass sie »gezwungen« waren, das in der Schrift selbst ursprünglich »gut gesagte ( ) dem »anzupassen« ( ), was die Gnostiker sich zuvor, vor ihrer Schriftlektüre also(!), »schlecht ausgedacht« hatten. Wird im Folgenden zu alledem noch hinzugefügt, dass sie, die Gnostiker, die »Beweise«, die für ein solches pervertierendes Verfahren der Schriftauslegung nicht nur aus den Evangelien und Apostelschriften gewinnen, sondern auch aus dem »Gesetz und den Propheten«, in denen es – so Irenäus selbst – »viele Parabeln und Allegorien« gibt, die man als solche »in vielerlei Richtungen zerren« kann, so offenbart sich hier einmal mehr eine Grundtendenz der gnostischen Schriftauslegung: Es ist ganz vorzüglich das »Mehrdeutige« ( ) der Schrift, das die gnostischen Rezipienten der Schrift dazu bringt, eben diese Schrift – wie Irenäus sich ausdrückt – »auf abscheuliche ( ) und listige Weise ( ) ihrem eigenen Gebilde ( ) anzupassen« und auf diese Weise – was konkret heißt: indem sie die rechte Deutung der Schrift pervertieren ( ) und überhaupt bei ihrer Art von Schriftauslegung »leichtfertig verfahren« ( ) – diejenigen unter den (kirchlichen) Christen, »die noch keinen festen Glauben an den einen Gott … und an den Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, haben, von der Wahrheit gleichsam als Gefangene fortführen …«. Was hier, Adv. Haer. I 3,6, vorliegt, ist paradigmatisch für das Ganze von Verfahren und Methode der gnostischen Schriftauslegung, und zwar vor allem insofern, als die Voraussetzung für solches »exegetisches« Verfahren hier das eigene, das genuin gnostische »Gebilde« ( ) ist, genauer: die eigene, der Schriftauslegung vorausgehende der Gnostiker, also ihre Grundposition. In diesem Sinne steht das Referat des Irenäus, Adv. Haer I 3,6, paradigmatisch für das Ganze der hermeneutischen Prinzipien der gnostischen Schriftauslegung, und dies wiederum insbesondere im Blick auf die von den Kontrahenten des Irenäus offensichtlich bevorzugte Auslegung der Gleichnisse und Parabeln, bei deren »finsterer Auslegung« – per tenebrosas parabolarum absolutiones – die Gnostiker am Ende, wie es hier heißt, »ihren eigenen Gott gefunden haben« (Adv. Haer. II 27,2: proprium invenisse deum). Die im Folgenden noch zu nennenden Beispiele für solche

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Art von Schriftauslegung bestätigen nur noch – je auf ihre Weise – den an Adv. Haer. I 3,6 grundlegend-programmatisch gewonnenen Sachverhalt: So steht auch am Anfang von Adv. Haer. I 8,1 – – der Rückbezug auf das die Kritik des Irenäus bereits einschließende Referat gnostischer Grundlehren in Adv. Haer. 7,1–5: »Solcher Art [also] ist ihre Grundlehre ( ), die«, wie Irenäus sogleich hinzufügt – »weder die Propheten verkündigt haben noch der Herr gelehrt, noch die Apostel überliefert haben«, aufs Ganze gesehen eine Lehre also, die sich am Ende lediglich der eigenen »Prahlerei« der Gnostiker verdankt: Sie eben sind es ja, die »sich rühmen, mehr als andere erkannt zu haben, indem sie – hier ein Hinweis auf die »Agrapha« der Gnostiker! – »aus Ungeschriebenem zitieren …« – und eben deshalb faktisch gezwungen sind, »die Parabeln des Herrn oder die Rede der Propheten oder [auch] die Rede der Apostel glaubwürdig an das [von ihnen selbst] Gesagte anzupassen ( ), damit [auf diese Weise] ihr eigenes Gebilde ( ) nicht ohne [bestätigendes Schrift-]Zeugnis in Erscheinung trete«. Konkret bedeutet dies, dass sie, wie Irenäus weiter kritisch vermerkt, »die Ordnung wie auch den Zusammenhang der Schriften mißachten« – und nun die entscheidende Kritik: »Sie verkehren ( ) und verformen ( ) [sc.: die biblischen Schriften] und täuschen auf diese Weise viele, indem sie ihrer [eigenen] schlecht geleiteten Phantasie die Herrenworte anpassen …«. Dass bei solchem »exegetischen« Verfahren der für alle Schriftauslegung geltende »Kanon der Wahrheit« – konkret in Gestalt der regula fidei – bereits vom Ansatz her außer Betracht bleibt, versteht sich für Irenäus von selbst; mehr noch: und bestätigen so ein weiteres Mal, dass die hier von Irenäus apostrophierten Gnostiker die Schrift im Grunde nach Maßgabe ihres eigenen – eben gnostischen Kanons rezipieren …28. In eben diesen Sachzusammenhang ordnet sich schließlich auch die Kritik an der Schriftauslegung der Gnostiker ein, wie Irenäus sie in Adv. Haer. I 9,1–4 vorträgt: Methodisch verfährt Irenäus hier ganz ähnlich wie bereits in Adv. Haer. I 8,1, d.h. seine Kritik geht auch hier wiederum von einem Referat bestimmter gnostischer Grundlehren in Adv. Haer. I 8,5 aus, woran sich seine kritisch-polemischen Einwände unmittelbar anschließen: … – »Du siehst also, mein Lieber, die Methode, mit der sie sich selbst betrügen, indem sie die Schriften misshandeln – und [eben] auf diese Weise ihr eigenes Gebilde ( ) zu begründen versuchen. Eben deswegen habe ich denn auch ihre Lesarten ( ) als solche zitiert, damit du aus ihnen die Verschlagenheit ihrer Methode und die Bosheit ihres Irrtums erkennst«. 28 Vgl. z.St. auch J.-D. Dubois, L’exégèse des Gnostiques et l’histoire du Canon des Écritures, in: M. Tardieu (éd.), Les règles de l’interprétation,. S. 89–97, hier: S. 95 f.

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Im Anschluss an eine Polemik gegen die gnostische Deutung des Prologs zum Joh-Evangelium heißt es sodann Adv. Haer. I 9,2: »So ist nun also der Betrug ( ) ihrer Exegese offenbar: Sie pervertieren ( ) die Auslegung , d.h.: »mit Überredungsgabe«, was jedoch nichts daran ändert, dass sie »ein Schriftwort nach dem anderen aus seinem wahren Zusammenhang ( ) herausreißen, die [biblischen] Namen missbrauchen und sie« – nunmehr die entscheidende Kritik – auf ihre eigenen ›Hypothese‹ übertragen – hier im Sinne des eigenen gnostischen Systems29. Adv. Haer. I 9,4 formuliert endlich die Schlussfolgerung aus solchem Verfahren: »Denn nachdem sie sich die ihnen eigene ›Hypothese‹ gebildet haben, sammeln sie Begriffe und Namen, wie sie verstreut [in der Schrift] vorkommen, und versetzen ( ) sie … aus ihrem natürlichen ( ) in einen widernatürlichen ( ) Gebrauch«. Wenn Irenäus in diesem Zusammenhang im Folgenden fortfährt: »Sie tun [auf diese Weise] dasselbe wie jene Leute, die sich bestimmte [oder auch: beliebige] Ideen ( ) vornehmen und versuchen, sie mit Hilfe der Dichtungen des Homer zu bearbeiten …«, so nimmt Irenäus hier ohne Frage auf ein bestimmtes literarisches Verfahren der spätantiken Homer-Rezeption Bezug, den sog. Cento[n]. Cento – wörtlich: »ein aus Lappen / Lumpen zusammengeflickter Rock«, hier gebraucht im Sinne einer sekundären Zusammenstellung unterschiedlicher Zitate zu einer »neuen« Dichtung30. Eben dieser Cento wird dann von Irenäus, Adv. Haer. I 14,2, ausdrücklich genannt, in diesem Kontext konkret in Form einer überaus scharfen Kritik an den von seinen Kontrahenten für ihre eigene »Hypothese« benutzten Quellen. Denn – so argumentiert Irenäus – »nicht nur das, was bei den [griechischen] Komikern als Argument geltend gemacht wird, geben sie, die Gnostiker, als ihr Eigentum (quasi propria) aus, vielmehr auch das sammeln sie, was sie bei denen, die Gott nicht kennen und die – wie man so sagt – ›Philosophen‹ sind, [finden]« – dies nun mit der Konsequenz, dass sie sich selbst quasi centonem, viele alte Lumpen zusammenstückelnd (consarcien29 Zum Verständnis von bei Irenäus, vorzüglich zur Kennzeichnung der ›Hypothese‹ seiner gnostischen Kontrahenten vgl. Adv. Haer. I 10,3, hier im Gegensatz zur »Hypothese der Wahrheit«. Lateinische Übersetzung zu ist bei Irenäus im übrigen regula oder auch argumentum. Zur Sache vgl. M. Harl, Les Mythes Valentiniens de la création et de l’eschatologie dans le langage d’Origène: Le mot Hypothesis, in: B. Layton (ed.), The Rediscovery of Gnosticism I, S. 417–425, hier bes. S. 419–421. 30 Vgl. die Definition bei Tertullian, De praescr. haeret. 39,5: Homerocentinas etiam vocare solent, qui de carminibus Homeri propria opera more centonario ex multis hinc inde compositis in unum sarcunt corpus. Dazu im Einzelnen: K.H. Schelkle, Art. Cento, in: RAC 2, Sp. 272 f., sowie A. Le Boulluec, Exégèse et polémique antignostique chez Irénée et Clément d’Alexandrie; L’exemple du centon, in: E.A. Livingstone (ed.), Studia Patristica XVIII , Oxford/ New York 1982, S. 707–713, hier S. 709: »Le réduction hérésiologique des systems gnostiques au modèle du centon, en depit de son intention négatrice, est plus pertinente, ou moins négatrice, ou moins inexacte, que certaines consodérations contemporaines sur le ›syncrétisme‹ de la Gnose …«. Vgl. auch A. Le Boulluec, La notion d’hérésie, S. 223–225.

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tes – griechisch: ) ein finctum superficium subtili eloquio geschaffen haben«, indem sie eine gleichsam »neue« Lehre einführen – »neu« allerdings nur deswegen, weil »mit neuartiger Geschicklichkeit« (nova arte) hergestellt, im Grunde aber doch »alt und nutzlos«, weil sie, jene »neue« Lehre, »mit alten Dogmen gesäumt« ist, die »nach Ignoranz und Gottlosigkeit (irreligiositas) stinken«. Im Folgenden nennt Irenäus auch noch die Gewährsleute für diese Lehren im Einzelnen: Neben Homer vor allem die alten griechischen Philosophen: Thales, Anaximander, Anaxagoras – qui et atheus cognominatus est – bis hin zu Demokrit, Epikur und Platon. Hier jedenfalls, im Zusammenhang solcher Argumentation, offenbart sich einmal mehr, dass nach dem Urteil des Irenäus der Schriftauslegung seiner Kontrahenten – nicht zuletzt auch im Blick auf ihre »Methode«! – ein gänzlich andersartiges theologisches »Modell« zugrunde liegt: Eben die eigene gnostische »Hypothese«. Ihr stellt Irenäus – im Anschluss an seinen Exkurs zur spätantiken Homer-Rezeption – den ihm eigenen »Kanon der Wahrheit« gegenüber, an dem es unverändert ( ) festzuhalten gilt: Derjenige jedenfalls, der diese Mahnung befolgt, wird jenes dem Centon eigene Verfahren alsbald durchschauen – und das heißt nunmehr ganz konkret: Er wird »ein jedes Wort«, das die Gnostiker gesagt haben. »wieder an den ihm zukommenden Ort stellen und es [auf diese Weise] dem Leib der Wahrheit zuordnen« – und auf diese Weise zugleich das gnostische »Gebilde«, die gnostische »Erfindung« ( ), als »unhaltbar« ( ) bloßstellen.31 Die Grundtendenz in der Beurteilung der gnostischen Schriftauslegung durch Irenäus ist damit eindeutig und bestätigt in diesem Sinne zugleich das methodische wie auch das sachliche Verfahren der gnostischen Exegeten: In jedem der von Irenäus angesprochenen Fälle hat die Schriftauslegung der Gnostiker ihrerseits die eigene gnostische »Grundidee« ( ) zur Voraussetzung, genauer noch: Maßstab, also den »Kanon« der gnostischen Schriftauslegung. Entsprechendes gilt auch, und zwar offensichtlich in der Nachfolge des Irenäus32, im Blick auf das entsprechende Zeugnis des Clemens Alexandrinus: Vor allem die von ihm in Strom. VII 96,1 ff. vorgetragene Kritik am Schriftgebrauch der Gnostiker bestätigt dies mit aller Eindeutigkeit in der Methode wie auch in der Sache der Polemik: Anstatt, dass die Gnostiker die (hier als Beispiel genannten) »prophetischen Schriften mit der gebührenden Sorgfalt gebrauchen, treffen sie«, wie es Strom. VII 96,2 heißt, lediglich »eine 31 Vgl. auch Adv. Haer. I 9,5 (Ende): »Auf diese Weise wird man denn auch aufs genaueste – vor jedem Beweis! – erkennen, dass die von der Kirche verkündete Wahrheit [absolut] verlässlich ist, das von jenen aufgerichtete Gebäude – demgegenüber – nichts anderes als Lüge«! 32 Zur Benutzung des Irenäus durch Clemens Alexandrinus vgl. Eusebius, h.e. VI 13,9; R. M. Grant, Gnosticism and Early Christianity, S. 182–189; A. Le Boulluec, Notion d’hérésie, S. 409 f.

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Auswahl«, die sie als solche bereits als »Häretiker« ausweist. »Auswahl« in diesem Falle also im Sinne einer Auswahl des »mehrdeutig gesagten« – und damit zugleich: »Überführung« dieser Auswahl »in die eigenen Meinungen«: . Bis in die Wortwahl hinein entspricht solches exegetisches Verfahren der bereits von Irenäus geäußerten Kritik in Adv. Haer. I 8,1 und 9,4 sowie in Adv. Haer. II 27,2 ( ). Die Kritik bzw. Polemik des Clemens setzt sich ganz in diesem Sinne im Folgenden fort, wenn Clemens hier (Strom. VII 96,2) ausdrücklich feststellt, dass sie, die Gnostiker, wie es hier heißt, »Stimmen sammeln«, dabei jedoch das (eigentliche) »von ihnen außer Betracht lassen«, sondern es vielmehr im Sinne der »bloßen Lesart missbrauchen« – eben auf diese Weise jedoch, wie es Strom. VII 96,3 heißt, »das [tatsächlich] Gesagte bzw. Gemeinte missbrauchen, auf eben diese Weise jedoch, wie es Strom. VII 96,3 heißt, »das [ursprünglich] Gemeinte verändern« ( ). Demgegenüber stellt Clemens sodann fest: »Die Wahrheit [sc.: der Schrift] wird aber nicht dadurch gefunden, dass man das Gemeinte ( ) verändert und auf diese Weise die ganze wahre Lehre zugrunde richtet, sondern vielmehr darin, dass man sorgfältig beachtet, was dem Herrn und dem allmächtigen Gott angemessen ist wie auch [ihm] geziemt« ( ). Eben dies, nämlich »sich der Wahrheit zuzuordnen«, ist nach der Meinung des Clemens, Strom. VII 96,5, gar nicht der Wille seiner Kontrahenten; sie wollen sich ja gar nicht »der Wahrheit zuordnen«, sondern »ihren eigenen [vorgefassten] Meinungen« folgen – und auf diese Weise »den Schriften Gewalt antun«. Wenn Clemens in diesem Zusammenhang noch hinzufügt, dass dies im Widerspruch zu denjenigen geschieht, »die durch unseren Widerspruch schon längst überführt worden sind«, so ist dies zugleich ein deutlicher Hinweis darauf, dass das, was Clemens hier darlegt, Reflex und Niederschlag einer höchst aktuellen Auseinandersetzung zwischen den »Kirchenchristen« einerseits und den Gnostikern andererseits um die rechte Art und Weise der Schriftauslegung ist – abhängig jeweils von der eigenen hermeneutischen Voraussetzung der Schriftauslegung33. – Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang sind, was jedenfalls den Einfluss des Irenäus betrifft, nicht zuletzt auch Stil und Argumentation des Clemens in Strom. III 38,1: »Auch diese [Häretiker] sammeln einzelne Worte ( ) aus bestimmten prophetischen Perikopen, pflücken sie [wie Blumen] ab und flicken sie auf schlechte Weise zusammen ( ). Ob auch hier – wie bereits bei Irenäus, Adv. Haer. I 8,1; 9,4 und II 14,2! – auf den sog. Cento Bezug genommen wird34, sei dahingestellt – in jedem Falle jedoch zeigt sich auch hier wieder mit dem Gebrauch des Verbums ein bereits traditioneller Stil 33 A. Le Boulluec, Notion d’hérésie, S. 410, verweist in diesem Zusammenhang wiederum auf Irenäus, Adv. Haer. I 4,3; III 15,2 und IV 35,4. 34 So A. Le Boulluec, in: Studia Patristica XVIII (s.o. Anm. 30), S. 707 f.

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der »Ketzerpolemik« der frühchristlichen Häresiologen an35, und zwar wie – abschließend – noch einmal mehr in Strom. III 39,2 f., hier speziell im Blick auf die Paulus-Rezeption in der frühchristlichen Gnosis: Clemens jedenfalls vermutet, dass bereits der Apostel Paulus sich in Röm 3,8 mit solchen Leuten zu tun hatte wie nunmehr auch er selbst. Im Anschluss an das Zitat von Röm 3,8 jedenfalls heißt es hier: »Diese Leute [eben] sind es ja, die bei der Lesung [der Schrift] durch den Ton ihrer Stimme ( )« die Schriften zu ihrem eigenen Vergnügen ( ) verdrehen und das, was verständlich und zuträglich dargeboten wird, gewaltsam ( ) zu ihrem eigenen Wohlgefallen verändern« – dies nun gewiss ein extremes Beispiel für die häretisch-gnostische Lesart der Schrift, eben so aber auch paradigmatisch dafür, in welche »Abgründe« man gerät, wenn die Schrift nicht von den »Verständigen« nach Maßgabe des »Kanons der Wahrheit« (Strom. VI 124,5) ausgelegt wird, sondern – wie bei den gnostischen Häretikern – nach Maßgabe einer gnostischen »Hypothese«. Bewegte sich die Argumentation des Clemens in den bisher genannten Texten im Wesentlichen auf der bereits von Irenäus gelegten Basis, so wird mit Strom. VII 97,3 zweifellos ein neuer Akzent gesetzt: Sie, die Gnostiker, seien »eifrig darum bemüht, den »gemeinen Glauben ( ) zu überschreiten ( ), und haben damit die Wahrheit hinter sich gelassen«. Dieser Schritt über das »normale« Maß des Glaubens – und damit zugleich über den »Gemeindeglauben« der frühkatholischen Kirche hinaus – ist zweifellos ein Charakteristikum der frühchristlichen Gnosis: Nach Irenäus bedeutet dieser »Überschritt« geradezu ein Kennzeichen gnostischer Schriftauslegung: Supra enim Deum factae sunt cogitationes ipsorum, supergressi cordibus suis ipsium magistrium, suspicione quidem superelati et supergressi, veritate autem declinantes a vero Deo!36. K. Koschorke hat aus solchem – zweifellos programmatischen – »Überschreiten« des gemeinchristlichen Glaubens in der frühchristlichen Gnosis die Schlussfolgerung gezogen, dass hier »nicht – wie in der kirchlichen Ketzerpolemik – Richtig gegen Falsch gesetzt wird, sondern die vorläufige kirchliche Glaubensweise durch die überlegene gnostische Einsicht überboten wird«37, und zwar mit der Folge, dass die frühchristliche Gnosis – gleichsam im Sinne eines »Zweistufenmodells« – letztlich nichts anderes ist als eine »pneumatische Deutung des gemeinchristlichen Glaubens«: »So transponieren die Gnostiker etwa das, was die Gemeindechristen gegenständlich-vordergründig verstanden, auf eine höhere Sinnebene, so dass beide Seiten mit dem gleichen Begriff

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Zum Stichwort

vgl. auch Clemens Alexandrinus, Strom. VII 99,3: sowie Hippolyt, Ref. V 6,2. 36 Adv. Haer. IV 19,1; vgl. auch I 8,1 sowie z.St. A. Le Boulluec, Notion d’hérésie, S. 409. 37 K. Koschorke, Polemik, S. 9.

5.2 Zur Frage nach dem Kanon der gnostischen Schriftauslegung

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ganz unterschiedliche Dinge meinten«38. Und dies wiederum hat nun – nach K. Koschorke – zur Folge, dass »geläufige Verhältnisbestimmungen zwischen Gnosis und Christentum zu revidieren« sind39, und zwar in dem Sinne, dass das Verhältnis von »Christentum« und »Gnosis« sich am Ende als »Stufungen« erweist: ein »Stufungsmodell« also, das hier entworfen wird40: Es ist eben jene »Stufe des Geistes«, die die frühchristliche Gnosis von jener gleichsam subalternen des »gemeinen Glaubens« unterscheidet – insgesamt also: Was sich hier offenbart, das ist nun in der Tat ein elitäres Denken, das als solches – was die »entscheidende Differenz gegenüber den Kirchenchristen« betrifft41 – die frühchristliche Gnosis am Ende als eine »höhere Stufe des Christentums« verstehen lässt – was zugleich heißt: »Gnostische Einsicht und kirchlicher Glaube sind nicht Gegensätze, sondern Stufen«42, deren erste, der »kirchliche Glaube«, sich im Sinne der Gnosis durch eine gewisse »Statik« auszeichnet – im Gegensatz eben wiederum zur »Dynamik gnostischen Suchens«43. Auch dieses Verständnis der Relation zwischen einem »gemein-christlichen« Glauben einerseits und der »höheren«, nämlich »pneumatischen« Stufe anderseits bestätigt einmal mehr, dass die letztere ihren Ursprung in einem gänzlich andersartigen hermeneutischen Ansatz der Schriftauslegung hat – nämlich in einer spezifisch gnostischen »Grundidee« ( ) als Kanon der Schriftauslegung. Begründet ist solche »pneumatische« Schriftauslegung letztlich in der Autarkie des Pneumatikers, der – eben auf Grund seiner Überlegenheit gegenüber dem »kirchlichen« Exegeten – die »eigentliche« Tiefendimension der Schrift aufzudecken vermag und der sich als solcher letztlich auch über den Apostel Paulus oder auch über Jesus selbst zu erheben vermag44. Der »gemein-christliche« Glaube, , ist demgegenüber lediglich eine durch die »pneumatische« Auslegung im Sinne der Gnosis zu überwindende, gleichsam subalterne Stufe des Glaubens, die als solche im Sinne einer wahren (Glaubens-)Erkenntnis zu überschreiten ist. Hier äußert sich in der frühchristlichen Gnosis ein Erkenntnisanspruch, der zunächst alle irdisch-menschlichen Instanzen »überschreitet«, 38 K. Koschorke, in: ZThK 74 (1977), S. 334–343. Zum Thema einer ›pneumatischen‹ Deutung im Rahmen gnostischer Schriftauslegung vgl. bereits G. Widengren, Die Hymnen der Pistis Sophia und die gnostische Schriftauslegung, in: Liber amicorum. Studien in Honour of Professor Dr.C.J. Bleeker (SHR 17), Leiden 1969, S. 269–281, hier. S. 270.275.277, sowie K. Rudolph, Loyalitätskonflikte in der Gnosis, in: Ders., Ges. Aufsätze (1996), S. 210–219, hier: S. 212 f.: »… ›pneumatische Auslegung‹, d.h. der Text wird einer ›Tiefenexegese‹ unterworfen …«. 39 K. Koschorke, in: ZThK 74 (1977), S. 336 f. 40 Dazu im Einzelnen: K. Koschorke, Polemik, S. 9 f. 53.87.180–187.232. 41 So K. Koschorke, Polemik, S. 35. 42 Ebd., S. 183 sowie überhaupt S. 183–203: »Gnostische Polemik als Bestätigung des Stufenmodells«. 43 Ebd., S. 200–202. 44 Vgl. dazu N. Brox, in: MThZ 18 (1967), S. 276.

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5. »Words with an Alien Voice«

damit am Ende aber auch die Apostel wie auch Jesus selbst45. Und dies ist eben der Anspruch des Pneumatikers, der – wie Irenäus in Adv. Haer. II 1,3 f. am Beispiel der gnostischen Lehre vom Pleroma deutlich macht – usque in infinitum, bis ins »Unendliche« und »Unermeßliche« (immensum) geht und in diesem Sinne am Ende auch Gott selbst transzendiert (Adv. Haer. II 25,4). Dementsprechend erweist sich die Autarkie des gnostischen Pneumatikers gerade auch in der Dynamik seines ständigen und rastlosen »Suchens« (Mt 7,7) im Gegensatz zur »Statik des kirchlichen Glaubens«: uti nunquam stet eorum excogitatio in uno Deo46. Einen im Grunde noch »freieren« – besser wohl: gewaltsamen – Umgang der Gnostiker mit der Schrift, in diesem Falle vor allem der Naassener und der Sethianer, demonstriert Hippolyt in seiner Refutatio omnium haeresium: Der Gnostiker begnügt sich hier, »nachdem er seinen eigenen ›Lehrsatz‹ ausgesprochen hat, mit einem apodiktischen oder auch: , »und auch die kausale Verknüpfung: … hat keinen anderen Grund als den regellos kombinierenden Willen«47. Angesichts eines solchen methodischen Verfahrens ist jedenfalls eindeutig, dass der genuin gnostische »Lehrsatz« – in logischer Hinsicht – jeweils an erster Stelle steht und somit erst »nachträglich« durch das – im gnostischen Sinne – »entsprechende« Schriftzitat bestätigt bzw. kommentiert wird: »… eben deswegen spricht Jesus«48. Primär ist bei alledem in jedem Fall die Formulierung der gnostischen Position, der – so besonders deutlich Ref. VI 34,7 – nachträglich eine gleichsam »pneumatische« Auslegung von Eph 3,14.16–18 beigegeben wird49. Angesichts solcher »Exegese« ist es verständlich, dass Hippolyt zu deren Charakterisierung jenes bereits von Irenäus und Clemens Alexandrinus her bekannte Stichwort benutzt. Auch für die gnostische Schrift45 Für Jesus selbst: Irenäus, Adv. Haer. I 25,2; II 32,2; für die Apostel: Adv. Haer. I 13,6; 25,1–3; 27,2; III 1,1; 2,2; 12,7.12. Dazu: N. Brox, in: MThZ 18 (1967), S. 274. Vgl. auch die generelle Aussage I 8,1: . 46 Vgl. K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 200, sowie H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. 334 f.: Die »unverkennbare Sympathie der Gnosis mit dem Erkenntnisanspruch auf das ›Unergründliche‹«, hier mit Verweis auf Irenäus, Adv. Haer. II 1,4: et sic in immensum excidente sentenria … et nunquam aliquando consistere, semper quaerentes alios praeter dictos. Zur Kritik des Irenäus in dieser Hinsicht vgl. Adv. Haer. II 1,3: ut nunquam stet eorum excogitatio in uno deo …; vgl. auch Tertullian, De praescr. haereticorum 8 ff. Zum Stichwort »Suchen und Finden« in diesem Zusammenhang vgl. auch K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 198–202. 47 So G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis, S. 46 f. 48 Vgl. in diesem Sinn: Ref. V 8,21; 12,5.6 f.; 17,19. Zur Formel o.ä.: Ref. V 7,39 f.; 8,4 ff.; 9,3 f.; 12,5.7; 17,9 u.ö. Vgl. auch Ref. V 8,21 mit Zitat Joh 10,7 als nachträgliche Bestätigung der gnostischen Position. Speziell zum Naassenerbericht (Ref. V 6,1–11,1) vgl. T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums im zweiten Jahrhundert, S. 299 ff., hier bes. S. 300 f., zum Stichwort »pneumatische Exegese« (mit Verweis auf J. Frickel, Hellenistische Erlösung, S. 173). 49 S. dazu oben Kap. 4, S. 442 f.

5.2 Zur Frage nach dem Kanon der gnostischen Schriftauslegung

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auslegung, wie Hippolyt sie im 5. Buch seiner »Refutatio« im Blick hat, insbesondere also für die Sethianer, gilt, dass sie ihre Lehre ( ) »aus den griechischen Weisen Musaios, Linus und Orpheus gestohlen ( ) und zusammengestückelt ( ) haben«50. Es ist eben solcher Missbrauch der Schrift nach Maßgabe einer spezifisch gnostischen Lehre, der am Ende auch den Tertullian in seiner Schrift De praescriptione haereticorum (cc. 9 ff.) veranlasst, nach dem rechten Modus bzw. nach dem Maß des »Suchens« in der Schrift zu fragen und auf diese Frage eine – nach seiner Erkenntnis – eindeutige Antwort zu geben: So nämlich, wie der (eigentliche) Gegenstand der Schrift die »Lehre Christi« ist, so hat man schon »gefunden, wenn man zum Glauben gekommen ist« (c. 10,3 f.), also – so seine Schlussfolgerung (c. 11,7) – gibt es nun auch ein Ende für alles »Suchen« – denn: »zum Glauben gekommen sein«, das heißt immer zugleich, dass der Kanon des »Suchens« in Gestalt der regula fidei bereits »gefunden« ist (c. 12,5) – und die Konsequenz daraus: Fides … tua te salvum fecit, non exercitatio scripturarum. Und dies bedeutet zugleich: Die regula fidei allein ist es, die den angemessenen Zugang zur Sache der Schrift eröffnet. Dies ist »an sich« zweifellos ein eindeutiger »Kanon«, der formal gesehen eine andere Weise der Auslegung der Schrift nicht grundsätzlich ausschließt, nämlich eben jene Auslegung, die nach einem anderen Kanon verfährt – mit den Worten des Tertullian selbst: Es ist der »Unterschied der Lehre«, die doctrinae diversitas, die auch eine andere, dann jedoch häretische Lesart, ermöglicht – und eben dies gilt nun auch im Blick auf jene Lesart der Schrift, die nach dem Kanon der »Überbietung« der urchristlichen Doktrin verfährt. So ausschweifend die »exegetische« Phantasie der Gnostiker im Einzelnen auch gewesen sein mag – auch sie, die Gnostiker, verfahren nach einer regula, der regula ihrer »Hypothese«. Wiederum Irenäus hat dies sehr deutlich erkannt, wenn er in der Praefatio (2) zum 2. Buch seiner Streitschrift schreibt: evertemus per magna capitula omnem ipsorum regulam, jene regula nämlich, die nach dem Maßstab, nach dem »Kanon« der gnostischen »Hypothese« verfährt und – konkret im Sinne einer »pneumatischen« Schriftauslegung – die Schrift an die eigene gnostische »Grundlehre« bzw. »Grundidee« anpasst51. So gesehen, bedarf es keiner weiteren Frage mehr, dass die von Irenäus immer wieder genannte bzw. das , das »Gebilde« der Gnostiker, an die (bzw. das) die Gnostiker die Schrift »anzupassen« bestrebt sind52, 50

Hippolyt, Ref. V 4 und 6,2. Vgl. auch Adv. Haer. IV, Praefatio 2 und 3, hier von der regula der Valentinianer. Dazu: K. Koschorke, Polemik, S. 242 ff. Zur Frage der Austauschbarkeit von regula bzw. und vgl. z.B. Irenäus, Adv. Haer. I 10,3: Die ›Hypothese‹ der Gnostiker im Gegensatz zur ›Hypothese der Wahrheit‹ sowie N. Brox, Irenäus, Gegen die Häretiker II , S. 221, Anm. 50 (zu Adv. Haer. II 27,1), hier mit Verweis auf Adv. Haer. I 2,25; 9,4 und II 28,1. 52 Vgl. Irenäus, Adv. Haer. I 1,3; 3,6; 7,5; 8,1; 9,1 f. 51

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nichts anderes bedeutet, als die eigene Lehre bzw. das System der Gnostiker. Und dies heißt zugleich: Die eigene Lehre, das eigene System ist der für sie verbindliche Maßstab der Schriftauslegung – mit anderen Worten: »… les gnostiques, par leur exégèse, decouvrent dans les Écritures le mythe qui exprime la gnose«53 – jenen »Mythos« oder auch jene Doktrin, der bzw. die für die Gnostiker die grundlegende hermeneutische Voraussetzung für ihr Art von Schriftauslegung ist, zu deren Bewahrheitung (confirmatio) sie überhaupt – nach Irenäus, Adv. Haer. III 7,1 – die Schrift benutzen. Der Terminus steht hier also durchaus in seinem ursprünglichen Sinn als die suppositio, als die – als solche unbewiesene! – »Grundlage« und Voraussetzung – und damit auch als die regula, als der »Kanon« der gnostischen Schriftauslegung54. Ganz in diesem Sinne steht nach Irenäus, Adv. Haer. I 10,3, die »Hypothese« der Gnostiker im Gegensatz zur »Hypothese« des Glaubens der Kirche, die Lehre der Gnostiker im Gegensatz zur Lehre der »rechtgläubigen« Kirche. Und das heißt zugleich: In derselben Weise, in der – nach dem Zeugnis des Irenäus (Adv. Haer. IV 33,8) – die »wahre Gnosis« in Gestalt der Lehre der Apostel und des Lehrsystems der Kirche aller Schriftauslegung voraus liegt und sie – zugleich maßgeblich bestimmt, verhält es sich nunmehr auch in der frühchristlichen Gnosis mit der spezifisch gnostischen »Hypothese«. Sie, diese »Hypothese«, ist hier die hermeneutische Grundlage und Voraussetzung aller Schriftauslegung55. Hier geht es also nicht lediglich um eine – eventuell auswechselbare – »Methode«, sondern eben um jene »eigene« – und damit auch »besondere«! – Hypothese der Gnostiker, wie sie von Irenäus, Adv. Haer. I 9,2, als genannt wird, also um die »eigene Lehre«, das »eigene System« gleichsam der Gnostiker: »Ein jedes Schriftwort reißen sie aus seinem Zusammenhang heraus«, was zugleich heißt: »weg von der Wahrheit« ( ), und übertragen es auf ihre eigene ›Hypothese‹: – oder noch deutlicher Adv. Haer. I 9,4: »Denn nachdem sie sich ihre eigene Hypothese ( ) gebildet haben, sammeln sie Lesarten ( ) und Namen … und versetzen sie … aus ihrem [ursprünglich] natürlichen in einen widernatürlichen Gebrauch …«. Und endlich Adv. Haer. I 7 und 8: Nachdem hier zunächst (I 7) eine Art Überblick über gnostische Grundlehren gegeben worden ist, schließt I 8,1 unmittelbar daran an: 53 So J. Fantino, La Théologie d’Irénée. Lecture des Écritures en réponse à l’exégèse gnostique, S. 154. 54 Zu i.S. der ›Grundlage‹ bzw. ›grundlegenden Voraussetzung‹ vgl. A. Szabó, Art. Hypothese, in: HWPh 3, Sp. 1260 f.; speziell zum Gebrauch in der frühchristlichen Gnosis: M. Harl, Les ›Mythes valentiniens dans le langage d’Origène: Le mot HYPOTHESIS , in: B. Layton (ed.), The Rediscovery of Gnosticism, vol. 1, S. 417–425, hier speziell S. 419 ff. 55 Zu Irenäus, Adv. Haer. IV 33,8 vgl. auch N. Brox, Offenbarung, Gnosis und gnostischer Mythos, S. 95 f. Zur Sache vgl. auch B. Reynders, La polémique de saint Irénée. Méthode et principes, In: RTAM 7 (1935), S. 17 f.: »L’exégèse hérétique ramène la parole divin à un système subjectif construit a priori«, sowie E.H. Pagels, The Gnostic Paul, S. 3: »Gnosis itself, and not the scripture, remains their primary hermeneutical presupposition«.

5.2 Zur Frage nach dem Kanon der gnostischen Schriftauslegung

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»Solcherart nun ist ihre Hypothese …«, was hier jedenfalls heißt: »Solcher Art ist ihre Lehre« bzw. »… ist ihr System«56. Von hier aus gesehen bedarf es im Grunde keiner weiteren Frage mehr, dass das Stichwort , wie Irenäus es – oft auch analog zu – »Gebilde« – gebraucht, das Ganze der Lehre – also das »System« seiner gnostischen Kontrahenten bezeichnet – eine »Lehre«, ein »System« zugleich, das als solches die (hermeneutische) Voraussetzung, also den »Kanon« für die Schriftauslegung seiner gnostischen Kontrahenten darstellt – als solches nun aber zugleich – eben als – von besonderer und eigener Art ist und in diesem Sinne auch gewiss nicht als solches aus der Praxis gnostischer Schriftauslegung erwächst. In diesem Sinne kann man, diese Frage abschließend, mit A. Le Boulluec die »zentrale These« formulieren: »les hérétiques tirent leur doctrine de leur propre imagination; le recours à l’Écriture n’est qu’un artifice secondaire, dont la fonction est de donner confiance, de convaincre, de séduire …«57. An erster Stelle steht also die gnostische »imagination«, die sich sekundär in einer bestimmten Rezeption der Schrift darstellt – eine »imagination« also, der Irenäus wiederum eine gewisse Eigenständigkeit zugesteht, eben die Eigenständigkeit jener »eigenen Hypothese« der Gnostiker. So ist »Gnosis« in der Tat ein »ständiges Wiederfinden des Eigenen im Fremden«58 bzw.– wie N. Brox formuliert hat59 – Gnosis als »Interpretationsprinzip«, als gleichsam »nachträgliche Verifizierung des gnostischen Mythos an der biblischen Überlieferung«. Von daher gesehen kann man gewiß nicht mehr – im Rahmen einer kirchengeschichtlichen Sichtwiese der frühchristlichen Gnosis – feststellen, dass »gnostische[s] Denken sich … als solches nicht in einem abgeschlossenen Ganzen religiöser Anschauungen bzw. eines mythologischen Systems« konstituiert, »sondern in der einheitlichen … Grundtendenz bei der Deutung vorgegebener religiöser Traditionen«60. Statt »konstituiert« muss es hier heißen: »sich darstellt«, und zwar als jene »eigene Hypothese«, 56 Entsprechendes gilt für die Kennzeichnung der gnostischen Lehre als , ›Gebilde‹. So z.B. Irenäus, Adv. Haer. I 1,3; 3,6; 9,1 u.ö. – Zur Übersetzung von i.S. von ›Lehre, System‹ vgl. A. Rousseau /A. Doutrelau, in: SC 263, S. 220–222 (zu I 9,1). Besonders deutlich ist der Gebrauch von in diesem Sinne in Adv. Haer. I 7 und 8: Nachdem Irenäus zuvor in I 7,1–5 den Abriss einiger gnostischer Zentrallehren gegeben hat, heißt es im Anschluss daran I 8,1: , d.h.: »von solcher Art ist ihre Lehre«. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Origenes, De princ. IV 2,1: »Die Gnostiker haben sich ihren Einbildungen ( ) ergeben und sich mythische Hypothesen erdacht« ( ). 57 A. Le Boulluec, La notion d’hérésie, S. 220, zu Irenäus, Adv. Haer. I 1,3. 58 H. Leisegang, Die Gnosis, S. 38. 59 N. Brox, Offenbarung, Gnosis und gnostischer Mythos, S. 44 f. 68; vgl. auch ebd., S. 99: Irenäus verweist »auf den umgreifenden Horizont einer voraus liegenden Gnosis«; ders., Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 39: »Die Bibelauslegung lebt jeweils aus dem umgreifenden hermeneutischen Horizont einer voraus liegenden Gnosis, hier der häretischen, dort der kirchlichen …«. 60 So K. Koschorke, Polemik, S. 5, unter der Überschrift: »Gnosis als kirchengeschichtlicher Faktor«.

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5. »Words with an Alien Voice«

als jenes »eigene System«, das für die frühchristliche Gnosis der Ausgangspunkt – und damit auch der »Kanon« – für die »eigene« gnostische Art von Schriftauslegung gewesen ist.

5.3 Zur Frage der Definition der Religion ›Gnosis‹ »Why is Gnosticismus so hard do define?« – mit dieser Frage beginnt K.L. King ihre Studie »What is Gnosticism?« vom Jahre 2003. An deren Ende formuliert sie unter der Überschrift »The End of Gnosticism?« die These: »In the end, I think, the term ›Gnosticism‹ will most likely be abandoned, at least in its present usage«61. Zunächst ist davon auszugehen, dass – ganz generell gesehen – »Definitionen« schon vom Wortsinn her gesehen »Begrenzungen« sind, als solche auch Abstraktionen vom konkreten Erscheinungsbild – und in diesem Sinne immer auch sekundäre Konstruktionen. Dementsprechend definiert denn auch z.B. U. Luz: »Definitionen sind Konstruktionen. Sie sind nicht Abbilder der Wirklichkeit, sondern menschliche Instrumente, mit deren Hilfe Wirklichkeit konstituiert und interpretiert wird«62 und – so darf man hinzufügen – auf diese Weise für den jeweiligen Betrachter überschaubar (und in einen gewissen Sinne auch verfügbar) werden. Es liegt auf der Hand, dass dies alles auch für die Frage einer »Definition« der »Gnosis« zutrifft, für ein – seinem Wesen nach – pluralistisches System mit einem universalen Anspruch im Zeitalter des späthellenistischen Synkretismus63. »To define or not to define«, das ist also nicht nur das Problem einer Definition von »Religion« überhaupt64, sondern auch die offensichtlich nur schwer zu beantwortende Frage im Blick speziell auf »die Gnosis«. Gibt es also speziell für »die Gnosis« – »so etwas«, was die im Einzelnen so vielfältigen Erscheinungsweisen dieser Religion – mythologisch gespro61 K. L. King, What is Gnosticism? S. 1 ff. und S. 218 ff. Zitat: S. 218. – Zu den Problemen bei der Definition von ›Gnosis‹ vgl. auch N. Brox, Selbst und Selbstentfremdung in der Gnosis, S. 255 f., hier freilich auch mit der Einschränkung (S. 257 f.): »Zu dieser radikalen Skepsis besteht kein Anlass«, mit Blick nämlich auf Irenäus, Adv. Haer. I 21,5, und das sog. Thomasbuch von Nag Hammadi (NHC II /7). Vgl. ebd., S. 262 und S. 265 f. zu Irenäus I 21,4 und zum Evangelium veritatis von Nag Hammadi (NHC IX /3, p. 35,25–36,4). 62 U. Luz, Der frühchristliche Christusmythos. Ein Gespräch mit Gerd Theißen zu seinem Verständnis der Religion des Urchristentums, in: ThLZ 128 (2003), Sp. 1246, hier mit Verweis auf J. Assmann: »Mythos als Organon zur Konstitution von Wirklichkeit«. 63 Zum Stichwort ›Pluralismus‹ speziell im Blick auf die gnostischen Schriften von Nag Hammadi vgl. A. Böhlig, Zum Pluralismus in den Schriften von Nag Hammadi, in: Ders., Gnosis und Synkretismus I, S. 229–250. 64 So J. G. Platvoet, »To define or not to define«: The Problem of the Definition of Religion, in: Ders. /A.L. Mollendijk (ed.s), The Pragmatics of Defining Religion. Contextes, Concepts, and Contents (SHR LXXXIV ), Leiden 1999, S. 245–265. Vgl. im selben Band: H. J. Adraansen, On Defining Religion (S. 227–245).

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chen: die bereits von Irenäus und Hippolyt beklagte »vielköpfige Hydra«65 – mit- und untereinander verbindet und sie am Ende doch als je unterschiedliche Konkretionen ein- und derselben »Religion« ausweist – ja vielleicht mehr noch: als »Individuationen« jener einen »Weltreligion«, die bereits A. Hilgenfeld in seiner »Ketzergeschichte des Urchristentums« die »neue Weltreligion der Aufklärung« genannt hat66? Die Problematik einer solchen »Definition« von »Gnosis« wird in der neueren Forschung vor allem von zwei Publikationen angezeigt: Einmal durch die knappe Studie von W. Wink unter dem Titel »Cracking the Gnostic Code«, Atlanta/ GA 1993, sowie durch die demgegenüber umfassende Darstellung von M.A. Williams, Rethinking Gnosticism, mit dem – bezeichnenden – Untertitel »An Argument for dismantling a dubious category, Princeton 199667. Beide Publikationen kommen für eine (umfassende!) Definition von »Gnosis« (bzw. »Gnostizismus«) schon deshalb kaum in Betracht, sofern sie nämlich beide im Zusammenhang ihrer jeweiligen ›Definition‹ offensichtlich nur einen Teilaspekt des gnostischen Seins- und Weltverständnisses hervorheben, der seinerseits zwar durchaus in ein »spezifisch gnostisches Seins- und Weltverständnis« integriert ist, dem jedoch in seinem gnostischen ›Kontext‹ jeweils nur eine partielle Bedeutung zukommt. Was die erstgenannte Untersuchung betrifft, so zeigt sich dies bereits im Untertitel der Studie: »The Powers in Gnosticism«. Dementsprechend handelt es sich hier beim ›Gnosticism‹ um nichts anderes als um die Widerspiegelung des Protestes gegenüber den Institutionen und Arrangements der Zeitgeschichte68. – Entsprechendes gilt am Ende aber auch für den Versuch von M.A. Williams, angesichts einer ›Definition‹ von ›Gnosis‹ bzw. ›Gnostizismus‹ den gnostischen Mythos – im Sinne einer Grund- und Ursprungserzählung – auf »the demonizing of the demiurge« bzw. auf die Kategorie »biblical demiurgical myth« zu reduzieren und zugleich diese Kategorie wiederum aus einer

65 Irenäus, Adv. Haer. I 28,1 und 30,15, hier speziell im Blick auf die Schulen der valentinianischen Gnosis: Tales quidem secundum eos sententiae sunt: a quibus, velut Lernaea hydra, multiplex capitibus, fere de Valentini scola generata est. Für Hippolyt vgl. Ref. V 11. 66 A. Hilgenfeld, Die Ketzergeschichte des Urchristentums urkundlich dargestellt, Leipzig 1884, S. 177 f. Zur Entdeckung einer ›neuen Weltreligion‹ vgl. G. Quispel, Gnosis als Weltreligion, Zürich 1952. Kritisch dazu: K. Rudolph, Gnosis – Weltreligion oder Sekte? in: Ders., Ges. Aufsätze, S. 255–263. Demgegenüber hat sich heute der Konsens herausgebildet, dass die Gnosis erst in ihrer Spätphase des Manichäismus als eine ›Weltreligion‹ bezeichnet werden kann. So jetzt auch C. Markschies, Die Gnosis, S. 101 ff. 67 Vom selben Verfasser vgl. bereits: The demonizing of the demiurge: The innovation of Gnostic Myth (1992). Zu der hier vollzogenen Fundamentalkritik an H. Jonas’ Gnosisverständnis vgl. auch M.M. Waldstein, Hans Jonas’ Construct ›Gnosticism‹: Analysis and Critique, in: Journal of Early Christian Studies 8 (2000), S. 341–372. 68 W. Wink, Cracking the Gnostic Code, S. 12 f.: »My thesis, in short, is that the heavenly visions, heavenly journeys, and revelations of the divine order beyond this phenomenal world so rife in that period were not simply symbolic depictions of the process of personal individuation … They were also very precise chartings of the seismic upheavals shaking and shattering human existence in the era of Roman hegemony, and they register a total aversion to the whole world over the which the Powers of that era held sway«. Gnosis also eine Art ›Anti-Religion‹ im Imperium Romanum! In diesem Rahmen wird im Übrigen auch die Definition von Clemens Alexandrinus, Exc. Ex Theodoto 78,2 interpretiert: S. 38 f.

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5. »Words with an Alien Voice«

sozialen Krise zu erklären: »The crucial step in the demonization of the demiurge ist to be explained in terms of some social crisis«69.

Gegenüber solchen Versuchen, die »Gnosis« bzw. das »Wesen der Gnosis« auf Grund einzelner Aspekte und Themen der gnostischen Religion zu definieren, käme es jedoch gerade darauf an, das »Wesen der Gnosis« über jene Einzelaspekte hinaus im Sinne eines Gesamtgefüges, besser noch: im Sinne einer Kohärenz von Theologie, Kosmologie, Anthropologie sowie Soteriologie und Eschatologie zu definieren. In dieser Hinsicht erscheint es auch noch beim gegenwärtigen Stand der Forschung als durchaus angemessen, zunächst von R. Bultmanns bekannter Definition der Gnosis als einer »dualistischen Erlösungsreligion« auszugehen70, einer Definition, die zunächst mit den Stichwörtern »Dualismus« und »Erlösung« zwei charakteristische Konstituenten gnostischer Religiosität benennt. Es ist – von daher gesehen – verständlich, dass diese Formulierung in der Folgezeit in mancherlei Variationen aufgenommen worden ist, wobei dem Stichwort »dualistisch« in diesem Zusammenhang gewiss besondere Bedeutung zukommt – denn: Eben von daher, gleichsam unter einem dualistischen »Vorzeichen«, ist ja hier, in der Gnosis, eine weitgehende Kohärenz der Themen von Theologie, Kosmologie, Anthropologie sowie Soteriologie und Eschatologie festzustellen. Und es ist auch eben diese Kohärenz, die im Rahmen des gnostischen »Systems« bzw. der gnostischen »Hypothese« (Irenäus!) das Recht gibt, nicht nur von einer gnostischen »Weltanschauung« zu sprechen71, sondern eben auch von einer gnostischen »Religion« auf der Grundlage eines in sich kohärenten Grund- und Ursprungsmythos. Und es ist nun eben auch jene dualistische Orientierung in der Deutung von Gott, Welt, Mensch und Erlösung, die als solche nicht aus genuin christlichen Prämissen abgeleitet werden kann, sondern von ihrem Ansatz her letztlich außerbiblisch bzw. außerchristlich ist72. Wenn es also, wovon Irenäus bereits im Rahmen seiner anti-gnostischen Position ausgegangen ist, so etwas 69 So in: The demonizing of the demiurge (s.o. Anm. 67), S. 83 ff. Vgl ebd., S. 95 f., und ›Rethinking Gnosticism‹, S. 51 f. 215–219 und S. 265: »The only genuinely defining feature of Gnosticism«! – Kritisch dazu K. L. King, What is Gnosticism, S. 214 f., S. 215: »His goal is laudable, but in the end he fulls back into the old mold. First of all, the category itself privilege one mythic element over all others as determinant characteristic«. Vgl. auch K. Rudolph, Hans Jonas und die Gnosisforschung aus heutiger Sicht, S. 32 f.; A. Franz, Die Inszenierung der Gnosis …, S. 97 f., sowie U. Kaiser, Neuere Gnosisforschung, in: VuF 48 (2003), S. 63 f. 70 R. Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, S. 176 ff. Zum Stichwort ›Erlösungsreligion‹ vgl. H.G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte, S. 172–178, sowie die Kennzeichnung der Gnosis als »Prototyp einer natürlichen(!) Erlösungsreligion« bei K. Berger, in: TRE 13, S. 521, Z. 35 ff. 71 So H. J. Klauck, Alte Welt und neuer Glaube, S. 163–179, unter der Überschrift ›Gnosis als Weltanschauung‹. Zur Frage der ›Kohärenz‹ vgl. K. Rudolph, Die Gnosis, S. 65–67. 72 So N. Brox, Offenbarung, Gnosis und gnostischer Mythos, S. 126. Zur Gnosis als einer eigenständigen Religion vgl. N. Brox, Selbst und Selbstentfremdung in der Gnosis, S. 255–270; ders., Erleuchtung und Wiedergeburt: Aktualität der Gnosis, S. 14 ff.: »Gnosis – eine spätantike Erlösungsreligion«.

5.3 Zur Frage der Definition der Religion ›Gnosis‹

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wie eine für die frühchristlichen Gnosis charakteristische »Hypothese« ( ) gegeben hat, so sollte sich von daher auch das »Wesen« dieser Religion bestimmen bzw. eine »normative Selbst-Definition« formulieren lassen73. Die nach dem Zeugnis der frühchristlichen Häresiologen für die häretische Gnosis charakteristische Frage nach der »Herkunft des Bösen« – bzw. unde malum et qua re – kann dabei wiederum nur als ein Teilaspekt jener »Definition« gelten74 Anders dem gegenüber verhält es offensichtlich mit einer ganzen Reihe gnostischer Originaltexte, in denen die den Gnostikern ursprünglich eigene »Grundidee« artikuliert wird, und dies offensichtlich im Sinne einer gleichsam autonomen Erfahrung, die nicht aus genuin christlichen Prämissen abgeleitet werden kann75 – und das heißt konkret: Spätestens an dieser Stelle ist nun jene Kurzdefinition von zu nennen, wie Clemens Alexandrinus sie in seinen Excerpta ex Theodoto (78,2) überliefert hat76. Auch wenn es gewiss nicht von vornherein auszuschließen ist, dass es sich an dieser Stelle zunächst – in formaler Hinsicht jedenfalls – nur um die Version einer »katalogartigen« Zusammenstellung philosophischer wie auch pädagogischer »Grundfragen« handelt, wie sie in späthellenistischer Zeit gemeinhin erörtert worden sind77, ist doch nicht zu übersehen, dass hier, in Exc. ex Theodoto 78,1, jene Grundfragen in einen neuen, eben gnostischen Kontext »übersetzt« worden und – damit zugleich – gänzlich neu ausgerichtet worden sind: Was jedenfalls den unmittelbaren Kontext dieser »Formel« betrifft, so ist zunächst schon zu beachten, dass ausdrücklich eine Abgrenzung gegenüber der frühkatholischen Kirche vorgenommen wird: »Es ist [eben] nicht das Sakrament der Taufe allein, das [den Menschen] freimacht, sondern [erst] die Erkenntnis …«, letztere also 73 Vgl. J.-E. Ménard, Normative Self-Definition in Gnosticism, S. 134–150. 238–240, hier speziell mit Bezug auf das Testimonium veritatis (NHC IX /3). – Die Rede des Irenäus von der ›eigenen Hypothese‹ der Gnostiker wird im übrigen nicht zuletzt durch den Neuplatoniker Plotin bestätigt: Im Rahmen seiner Polemik ›gegen die Gnostiker‹ im 2. Buch seiner ›Enneaden‹ (II 9,6) stellt er ausdrücklich fest, dass seine Kontrahenten im Zusammenhang ihrer PlatonRezeption eine ›eigene Philosophie‹ bzw. eine ›eigene Häresie‹(!) begründet haben, und zwar : »Was sie von Platon übernommen haben, übertragen sie, . 74 Vgl. dazu Irenäus, Adv. Haer. II 3,2; 4,2; 17,10; Tertullian, De praescr. haer. 7,5 (hier in Verbindung mit den Fragen unde homo und unde deus) sowie Epiphanius, Haer. 24,6,1: »Der Anfang dieser schlechten Bekanntmachung [der Gnosis] hat seine Ursache im Suchen und Sagen, woher das Böse …« Dazu vgl. C. Scholten, Martyrium und Sophiamythos im Gnostizismus nach den Texten von Nag Hammadi, hier bes. S. 273–286: »Die Herkunft des Bösen und das Gottesbild des Gnostizismus«. S. 276: Der »Logos des gnostischen Mythos« sei »in einer Erklärung der Herkunft des Übels wie des Bösen angesichts der Gutheit Gottes zu sehen«. Vgl. im Übrigen auch Plotin, Enn. I 8: . 75 G. Quispel, Gnostic Studies I, S. 214 f., spricht in diesem Zusammenhang (im Blick speziell auf Basilides) von der »autonmy of religious experience«. 76 Dazu s. bereits oben S. 177 ff. 77 So C. Markschies, Valentinus Gnosticus? S. 391 f. Mit Anm. 22; ders., Valentinian Gnosticism, in: J.D. Turner (ed.), The Nag Hammadi Library after Fifty Years, S. 408 ff.

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im Sinne der Gnostiker das notwendige Korrelat zur Taufe78, und zwar im Sinne der »Erkenntnis, wer wir [einst] waren, was wir geworden sind, wo wir waren« – besser noch: »wohinein wir geworfen(!) worden sind« – und [damit zugleich auch die Erkenntnis,] »wohin wir eilen, [ja, mehr noch:] wovon wir erlöst werden, [kurz:] was Geburt ist, was Wiedergeburt«. In diesem Sinne erweist sich die hier vorliegende Definition von »Erkenntnis« als ein in sich stimmiger Sinn- und Sachzusammenhang, der an der elementaren Frage nach dem »Woher?«, dem »Wo?« und dem »Wohin« des Menschen orientiert ist und sich – sofern es sich hier um eine Existenzbewegung des Menschen handelt – grundsätzlich von den präpositionellen »Prinzipienreihen« der griechischen philosophischen Tradition und der für sie charakteristischen »Metaphysik der Präpositionen« unterscheidet79: Nicht eine »prinzipielle« Frage steht hier im Hintergrund, sondern die »existentielle« Frage nach dem »Geworfensein« des Menschen in die Welt – und damit zugleich die soteriologische Frage, die Frage also, »woraus« bzw. »wovon wir erlöst werden. Und es ist eben diese soteriologische Ausrichtung, die diese Formulierung in Exc. ex Theodoto 78,2 von der Formulierung jener Grundfrage bei dem Neuplatoniker Porphyrius unterscheidet: »Ein Mensch«, so heißt es hier, »der sich seines Logos bedient«, der , »weiß, woher er gekommen ist und wohin er eilen muss …«80. Bei Porphyrius weiß der Mensch auf Grund seiner Ausstattung mit dem »Logos« von vornherein um sein ›Woher‹ und sein ›Wohin‹; und demgegenüber bei dem Gnostiker Theodotus die Erkenntnis der Notwendigkeit, aus seinem »Geworfensein« in die Welt dereinst erlöst zu werden … – in der Tat: In diesem Sinne hat die existentielle Frage des Menschen nach seinem Woher? – Wo? – Wohin? mit den im »profanen Unterricht« erörterten Fragen nur wenig zu tun; vielmehr werden diese Fragen hier in einem gnostischen Kontext und damit zugleich in einem spezifisch gnostischen Sinn gestellt. Deutlich genug sind hier dementsprechend die Akzente gesetzt, wenn hier, in dieser gnostischen Formel, von einem passiven, also erlittenen »Geworfensein« (sc.: in die Welt) die Rede ist und damit zugleich wiederum die Frage sich stellt »woraus wir erlöst werden?«, eine Frage, die am Ende dieser formelhaften Verdichtung des gnostischen Mythos als solche in die Rede 78 Zum Verhältnis von ›Taufe‹ und ›Erkenntnis‹ vgl. A. Böhlig, Bemerkungen zur Metaphysik in Gnosis und Philosophie, S. 34 und S. 37 ff. – Zur grundlegenden Bedeutung von Clemens Alexandrinus, Exc. ex Theol. 78,2 vgl. H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 207, mit Verweis auf H. Jonas, Gnosis und spät antiker Geist I. S. 261. Vgl. auch A.H.B. Logan, Gnosticism, S. 908 f. 79 Dazu W. Theiler, Die Vorbereitung des Neuplatonismus, S. 8 ff. 20 ff. und 32 ff.; H. Dörrie, Präpositionen und Metaphysik, S. 124–136; A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus, S. 141 ff. 80 Porphyrios, De abstinentia I 27,1. Anders jedoch das Urteil des Herausgebers J. Bouffartigue in seinem Kommentar z.St. (S. 97): »C’est bien une ›gnose‹ qui est exigée ici. Le méme idée est présent dans une texte gnostique: voir Clément, Exc. Ex Theodoto 78,2« – aber: es ist eben nicht ›dieselbe Idee‹! Zur Stelle vgl. auch A. Böhlig, a.a.O. (Anm. 78), S. 36 f.

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von der »Wiedergeburt« einmündet. Drei Existenzweisen werden somit hier unterschieden, die ihrerseits wiederum mit drei Zeitstufen verbunden sind81, so dass in diesem Sinne hier zugleich von einem Bewegungs-Zusammenhang die Rede ist, und zwar im Sinne einer Dynamik in Richtung auf das »Erlöst-« bzw. »Befreit-Werden«, also auf die »Wiedergeburt« hin. So kann man durchaus sagen, dass der dieser Formel zugrundeliegende Mythos – »Mythos« hier durchaus im Sinne einer »Ursprungserzählung«! – sowohl seinem Inhalt nach (was den hier vorausgesetzten Zusammenhang von Kosmologie, Anthropologie und Soteriologie betrifft) als auch in seiner formale Struktur eschatologisch ausgerichtet ist. Es gibt hier, wie H.J. Klauck dies formuliert hat, »Befreiung, es gibt ein Ziel, es gibt die Möglichkeit, den verlorenen Urzustand wiederzuerlangen«82 – Ausrichtung also der Kosmologie und der Anthropologie auf die Soteriologie, wobei letztere den End- und Zielpunkt aller vorausgehenden Bewegung darstellt – ganz in Entsprechung wiederum zu dem Dankgebet der Thomasakten, wo es c. 15 heißt: »Du aber hast mir gezeigt, mich selbst zu suchen und zu erkennen, wer ich [einst] war und wie ich jetzt bin, damit ich [auf diese Weise] wiederum werde, was ich [einst] war«83. Die Frage nach dem ursprünglichen »Woher?« gewinnt hier ihre besondere, letztlich grundlegende Bedeutung: hier also in der Tat Wieder-geburt, Aufhebung nämlich der Selbstentfremdung des Menschen – und damit zugleich: restitutio in integrum, im Sinne nämlich der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes und Wesens des Menschen. Fragt man also mit Irenäus nach Gestalt und Eigenart jener »Grundidee«, der »Hypothese« der Gnostiker, so ist hier eben diese Grundformel aus den Excerpta ex Theodoto zu nennen – und das »System« der Gnostiker wäre dann – von hier ausgesehen – nichts anderes mehr als die (mythologische) Entfaltung dieser Grundformel – zugespitzt formuliert, wäre eben diese Grundformel, wie Clemens Alexandrinus sie in seinen Excerpta ex Theodoto überliefert hat, dann zugleich auch »das Primäre und zugleich die einzige Konstante gnostischen Denkens, alles übrige … demgegenüber sekundär und variabel«84.

81 Vgl. H. J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums II , S. 147; ders., Alte Welt und neuer Glaube, S. 165, sowie C. Andresen /A. M. Ritter, Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte I, S. 59 f., hier zugleich als Ausgangspunkt für eine Definition von ›Gnosis‹: »Gnosis bezeichnet das Wissen um die geoffenbarte Identität des in der Welt gefangenen Selbst mit seinem jenseitigen, göttlichen Teil«. 82 H. J. Klauck, Alte Welt und neuer Glaube, S. 165. 83 Zur Stelle vgl. G. Bornkamm, Mythos und Legende, S. 13 f. 84 So K. Koschorke, Polemik, S. 209 f. Vgl. ebd., S. 209, Anm. 9: »Mit der Grundformel Exc. Th. 78,2 als solcher ist bereits – wie Jonas Gnosis I 261 f. zeigt – das gnostische System in seinen entscheidenden Elementen gegeben, da diese mit der Frage nach Sein, Ursprung und Ziel ›eine vollständige Systematik des gnostischen Mythos‹ enthält«. Vgl. auch H.J. Klauck, Alte Welt und neuer Glaube, S. 164: Exc. ex.Th. 78,2 wird »im Kontext ausdrücklich … als Definition der Gnosis ausgewiesen«.

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Bei alledem ist, was die gegenwärtige Quellenlage gnostischer Originaltexte betrifft, aber auch offensichtlich, dass jene eben skizzierte »Grundformel« keineswegs singulär ist, sondern im Blick auf die hier geschilderte Dynamik der »Erkenntnis«-Bewegung eine geradezu paradigmatische Bedeutung hat: In mancherlei Variationen, grundsätzlich gleichwohl in derselben Ausrichtung wird sie nunmehr auch in einer ganzen Reihe von Zeugnissen aus den Schriften von Nag Hammadi bezeugt, so dass es durchaus als angemessen erscheint, wenn bereits A. Bengsch in seiner Irenäus-Studie vom Jahre 1957 jene Formel aus den Excerpta ex Theodoto als das »theologische Programm« der frühchristlichen Gnosis bezeichnet hat85. Hier, in den Excerpta ex Theodoto, liegt also in der Tat so etwas wie eine »normative Selbst-Definition« (J.-E. Ménard) der frühchristlichen Gnosis vor, als solche durchaus geeignet, als eine Art ›Leitfaden‹ durch die Vielfalt der gnostischen Mythologie zu dienen …! Was das entsprechende Zeugnis der gnostischen Schriften von Nag Hammadi betrifft, so ist an erster Stelle das sog. Evangelium Veritatis (NHC I/3) zu nennen: Hier wird – ebenso wie in Exc. ex Theodoto 78,2 – die Notwendigkeit der »Erkenntnis des Vaters der Wahrheit« hervorgehoben, die – wie es hier p. 16,39 ff. heißt – zur Rettung derer »geschieht, die unwissend über den Vater« waren: »Daher ist einer, wenn er erkennt, ein Wesen von oben« (p. 22,2–4) – denn (p. 22,13 ff.): »Wer auf diese Weise erkennen wird, weiß [damit zugleich], woher er gekommen ist und wohin er geht«86. Und weiter (ebd.): »Er weiß es als einer, der betrunken war und sich von seiner Trunkenheit abgewendet hat und [auf diese Weise] wieder zu sich selbst zurückkehrt …«. »Erkenntnis« also gleichsam als restitutio in integrum aus der Trunkenheit oder, wie es in der Bildersprache der frühchristlichen Gnosis auch heißt (p. 29,8 ff.): Als »Erwachen aus dem Schlaf«, genauer hier noch: »aus den Angstträumen des Schlafes«. »So werfen sie die Unwissenheit von sich wie den Schlaf« (p. 29,33 f.) – »Heil« ( ) also dem Menschen, der sich [selbst] vermittels solcher Erkenntnis zurückbrachte(!) und [aus dem Schlaf der Unwissenheit] erwacht ist (p. 30,13 f.). Auch hier hat das EV wiederum an einer in der frühchristlichen Gnosis – auch in Verbindung mit Eph 5,14! – weitverbreiteten Bildsprache teil bzw. diese Bildsprache auf seine Weise rezipiert87. 85 A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 55, hier ebenfalls mit Verweis auf H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, 261, Anm. 2. 86 Vgl. J. Helderman, A Christian Gnostic Text, The Gospel of Truth, S. 54: »It is essential the same as the famous formula of the Valentinian Theodotus, transmitted by Clement of Alexandria«. Vgl. auch H.-M. Schenke, The Problem of Gnosis, S. 77: Die allgemein-menschliche Frage nach dem Woher, Wo und Wohin »can be quite specifically and can signify the deapest mystery of Gnosis, as in the Gospel of Truth (NHC I, 22,13–15) or the Excerpta from Theodotus (78,2)«; S. Arai, Die Christologie des Evangelium Veritatis, S. 21 ff., spricht im Blick speziell auf p. 22,2 ff. des EV von einem »Grundmotiv des gnostischen Mythos«. 87 Vgl. in diesem Zusammenhang für die gnostische Schule der ›Peraten‹ Hippolyt, Ref. V 7,31, hier mit ausdrücklicher Berufung auf Eph 5,14. – Zum Ganzen vgl bereits H. Jonas,

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Grundlegend ist bei alledem jedoch: Wer auf diese Weise zur »Erkenntnis« gekommen ist, der weiß nunmehr auch, »woher er gekommen ist und wohin er geht und er weiß es als einer, der« – wie es im EV p. 22,13 ff. heißt – »sich selbst gefunden hat«. Es bedarf keiner Frage, dass hier, im Evangelium veritatis, dasselbe Grundthema erörtert wird wie in Exc. ex Theodoto 78,2 – ein Sachverhalt, der offensichtlich auch für eine ganze Reihe weiterer Schriften von Nag Hammadi zutrifft, so besonders deutlich zunächst im sog. Thomasbuch (NHC II /7, p. 138,8–10), und zwar hier im Zusammenhang jener »geheimen Worte«, die der »Erlöser« ( ) zu Thomas, seinem »Zwillingsbruder« sprach: »Prüfe dich und erkenne, wer du bist und wie du bist und wie du sein wirst …« Und weiter (p. 138,17 f.): »Derjenige aber, der sich selbst erkannt hat, der hat [damit auch] schon die Erkenntnis über die Tiefe des Alls erlangt …«. In diesen Sachzusammenhang ordnen sich schließlich auch die im Folgenden noch zu nennenden Zeugnisse aus den Schriften von Nag Hammadi ein: So zunächst der sog. Brief des Petrus an Philippus (NHC VIII /2, p. 134,20 ff.): Hier heißt es im Rahmen eines Lehrgesprächs des erhöhten Christus mit den Aposteln in einer Bitte der Apostel: »Herr, wir wollen den Mangel der Äonen und ihre Erfüllung erkennen«, was zugleich heißt: »Wir wollen erkennen, wie wir an diesem Ort [des Mangels] festgehalten werden« – also: »wie wir hierher gekommen sind« und »wie wir wieder [von hier] gehen werden«. Ganz entsprechend heißt es auch in der Schrift »Der Gedanke unserer großen Kraft« (Noema: NHC VI /4, p. 37,2–5) innerhalb eines generellen Aufrufs zur »Erkenntnis«: »Weshalb fragt ihr nicht, wie ihr sein werdet [oder aber], wie ihr ins Dasein gekommen« bzw. »wie ihr entstanden seid?«. Entsprechendes gilt für den Dialog des Erlösers (NHC III /5, p. 134,19 ff.): »Wer nicht erkennen wird, wie er[bzw.: woher er] gekommen ist, derjenige wird [auch] nicht wissen, auf welche Weise er [aus der Welt] hinausgehen wird«. Und schließlich gibt es in diesem Zusammenhang noch eine Art christologischer Version jener Grundfrage im sog. Testimonium veritatis (NHC IX /3, p. 31,22 ff.), hier im Rahmen einer Unterscheidung zwischen dem »wahren« und dem »falschen Christus«: »Sie kennen zwar Christus, [dies] aber nur im Wort und nicht in der Kraft« – auf solche Weise nämlich »wissen sie nicht, wohin sie gehen sollen, noch wissen sie, wer [eigentlich] Christus ist« – oder noch deutlicher in dem (nur fragmentarisch überlieferten) Textzusammenhang p. 35,25–36,1 f.: »Und sie [erkannten] sich, [wer sie sind] oder wie sie [jetzt] sind und welcher der Ort ist, an dem sie ruhen werden von ihrer Unwissenheit, nachdem sie zur Erkenntnis [geGnosis und spätantiker Geist I, S. 113 ff., sowie G. McRae, Sleep and Awakening in Gnostic Texts, in: U. Bianchi (ed.), Le Origini dello Gnosticismo, S. 496–507. Zu vergleichen ist in diesem Zusammenhang der ›Weckruf‹ in der koptisch-gnostischen Schrift Noema. Gedanke der Großen Kraft (NHC VI /4, p. 39,33 ff.: »Doch schlaft ihr und träumt Träume. Wacht auf, kehrt zurück und kostet die wahre Speise, teilt das Wort und das Wasser des Lebens aus …«.

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kommen sind]« – auch hier wiederum ein Text- und Sachzusammenhang, in dem die grundlegende Bedeutung der »Erkenntnis« hervorgehoben wird: »Dies nun ist das Zeugnis der Wahrheit: Wenn der Mensch sich selbst erkennt und [damit auch] Gott, der über der Wahrheit ist – dieser Mensch wird gerettet werden« (p. 44,31–45,4). Von dieser Position her ist es durchaus nachvollziehbar, dass J.-E. Ménard eben diese Schrift »the best sample of the self-definition of Gnostic System« genannt hat88. Hier jedenfalls, in den durch Exc. ex Theodoto 78,2 wie auch durch die genannten Texte aus den Schriften von Nag Hammadi vielfältig bezeugten Grundfragen, ist offensichtlich das »Basis-Prinzip« der frühchristlichen Gnosis zu finden: »Erkenne, wer du bist, wie du warst und wie du werden wirst …«. Was jenen gnostischen Originaltexten gemeinsam ist, ist die jeweils ausdrückliche Akzentuierung der »Heilsnotwendigkeit der Erkenntnis«: – »Erkenntnis« – und – »Heil«, »Erlösung« – sind untrennbar miteinander verbunden, sofern nämlich die erstere »eine direkte soteriologische Funktion [hat] und … als solche ist«89, und zwar ganz so, wie dies in dem von Hippolyt (Ref. V 10,2) überlieferten »Naassenerhymnus« beschrieben wird: … . Gewiss ist der Terminus »Gnosis« – um mit K. Rudolph zu formulieren90 – zunächst nur eine »Art Hilfsmittel, das aus der häresiologischen Objektsprache zu einem metasprachlichen Begriff aufgestiegen ist«, bezeichnet jedoch gerade so das Zentrum einer spezifisch gnostischen Soteriologie – und in diesem Sinne auch das »Ursprünglich-Eigene« der gnostischen Religion91. In diesen Sachzusammenhang fügen sich dann – über die bisher genannten gnostischen Originalschriften von Nag Hammadi hinaus – die entsprechenden Zeugnisse der frühchristlichen Häresiologen ein. Dies gilt vor allem für das Zeugnis des Irenäus, wie es in Adv. Haer. I 21, 4 und 5 vorliegt, in einem Text- und Sachzusammenhang, auf den bereits H. Jonas mehrfach als einen der zentralen gnostischen Texte hingewiesen hat92. Hier nämlich zeigt sich – was die spezifisch gnostische Frage nach der Auflösung des »Mangels« und der »Unwissenheit« ( ) durch die »Erkenntnis« betrifft – eine weitgehende Übereinstimmung zwischen dem Referat des Irenäus einerseits und 88 J.-E. Ménrad, Normative Self-Definition in Gnosticism, S. 144. Zur Sache vgl. auch K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 91 ff. 89 So K. Rudolph, Erkenntnis und Heil: Die Gnosis, S. 23. 90 K. Rudolph, H. Jonas und die Gnosisforschung aus heutiger Sicht, S. 33, hier in Auseinandersetzung mit M.A. Williams, Rethinking Gnosticism. 91 K. Rudolph, Erkenntnis und Heil: Die Gnosis, S. 43: »Das ›Wissen‹ um die geheimen kosmologischen und anthropologischen Zusammenhänge ist ein übernatürliches, das nicht nur ›Erlösung‹ bringt, sondern bereits ist. Insofern ist die Titulierung dieser Religion mit ›Gnosis‹ durchaus treffend«. 92 H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 206, Anm. 2; II , S. 162 f. sowie Erg.-Heft zu I: S. 411. Vgl. A. H.B. Logan, Gnostic Truth and Christian Heresy, S. 211: »This [Irenäus I 21,4] finds a precise echo in the ›Gospel of Truth‹ [p. 18,4–11; 24,28 ff.]«.

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dem Evangelium veritatis von Nag Hammadi (NHC I/3, p. 24,28–32 bzw. 25,19 andererseits. Die angesichts dessen immerhin naheliegende Frage, ob Irenäus an der genannten Stelle am Ende doch aus dem von ihm Adv. Haer. III , 11,9 ausdrücklich erwähnten valentinianischen Evangelium veritatis zitiert, ist also nicht so rundweg, wie dies neuerdings wieder bei C. Markschies geschieht93, von der Hand zu weisen – und dies umso weniger, als es hier ja nicht nur eine (bis in die jeweils benutzte Terminologie – bzw. reichende!) Übereinstimmung zwischen dem Evangelium veritatis von Nag Hammadi im Blick speziell auf das Thema der »Auflösung des Mangels« durch die »Erkenntnis« gibt, sondern auch eine Übereinstimmung mit dem von Clemens Alexandrinus, Strom. IV 89,1–3, überlieferten vierten Fragment des Valentinus: »Denn wenn ihr den Kosmos auflöst ( ), selbst aber nicht aufgelöst werdet ( ), so seid ihr Herren über die Schöpfung und die ganze Vergänglichkeit«. Angesichts dessen ist jene konsequente »degnostification« der von Clemens Alexandrinus überlieferten Valentinus-Fragmente, wie C. Markschies sie in seinem Buch »Valentinus Gnosticus?« vorgenommen hat, zumindest im Blick auf das 4. Fragment nicht nachvollziehbar94. Vielmehr wird die Wahrscheinlichkeit, dass hier am Ende doch eine ursprünglich-gnostische Aussage vorliegt, nicht zuletzt auch durch die Fortsetzung des oben bereits genannten Irenäus-Textes (Adv. Haer. I 21,4) in Adv. Haer. I 21,5 unterstützt bzw. verstärkt: An dieser Stelle nämlich zitiert(!) Ireänus eine Art soteriologischer Formel, die die Gnostiker nach ihrem Tod gleichsam auf ihrer »Himmelsreise« den sie ihren Aufstieg hindernden demiurgischen Mächten bzw. den »Archonten« der Welt entgegenhalten sollen. Hier heißt es dann u.a.: »Ich bin ein Sohn vom Vater, der zuvor schon war … Ich bin gekommen, um das zu sehen, was mein ist – bzw. et eo rursus in mea, unde veni. Und den demiurgischen Mächten, den »Archonten« der Welt, die sich den Gnostikern auf ihrer »Himmelsreise« in den Weg stellen, sollen sie mit der Formel begegnen: bzw. vas ego preciosum, ein »Gefäß« nämlich »wertvoller als eure Mutter, die euch geschaffen hat« – denn: »Mag

93 C. Markschies, Valentinus Gnosticus? S. 343 ff. Vgl. im übrigen J.-E. Ménard, L’Evangile de Verité, S. 35, mit der Hypothese, dass das von Irenäus genannte Evangelium veritatis zwar nicht mit der gleichnamigen Schrift von Nag Hammadi identisch ist, wohl aber ein Kommentar zu jenem Evangelium ist. Vgl. auch die ›gemäßigte‹ Position in dieser Hinsicht von R. McL. Wilson, Valentinianism and the Gospel of Truth, in: B. Layton (ed.), The Rediscovery of Gnosticism I, S. 133–145, hier S. 135 f., sowie H. Jonas, Erg.-Heft zu Gnosis und spätantiker Geist I, S. 408 ff. 94 So C. Markschies, Valentinus Gnosticus? S. 118–149. Auffällig ist hier vor allem, dass das entsprechende Zeugnis des Irenäus, Adv. Haer. I 21,4 in Markschies’ Kommentar zum Fragment 4 gar nicht genannt wird. Kritisch zu solcher ›degnostification‹ vgl. bereits J. Helderman, A Christian Gnostic Text, S. 57 f., der seinerseits wiederum »the close relationship between the fragment 4 and Adv. Haer. 1.21.4« betont.

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eure Mutter auch ihre Herkunft nicht kennen – ich kenne mich selbst und weiß, woher ich bin«: ego autem novi meipsum et scio unde sum …95. Breit ausgeführt wird in diesem Zusammenhang der Topos von der »Himmelsreise der Seele« (durch die ihr feindlichen Himmelssphären hindurch) insbesondere in der (1.) Jakobus-Apokalypse von Nag Hammadi (NHC V/3, p. 24,10–44,1): Hier werden denn auch die Antworten geoffenbart, die die Seele den – als »Zöllnern« bezeichneten – kosmisch-archontischen Mächten entgegenhalten soll. Unter der Überschrift »Siehe, ich werde dir dein Heil offenbaren« heißt es hier: »Wenn sie [sc.: jene »Zöllner«] dich ergreifen wollen, sollst du sagen: »Ich bin ein Sohn, und ich stamme vom präexistenten Vater …« (p. 33,21 ff.). Und »wenn die Zöllner fragen: ›Wohin willst du gehen?‹ so sollst du sagen: »An den Ort, von dem ich gekommen bin – dahin werde ich zurückkehren« und weiter: »Wenn du dies sagst, wirst du ihren Angriffen entgehen« (p. 34,15 ff.), und sie, jene »Zöllner« werden »in Verwirrung geraten – Du aber wirst zu dem empor gehen, was das Deinige ist …« (p. 35,19 ff.). Von besonderem Interesse in diesem Sachzusammenhang ist schließlich das – allerdings nur fragmentarisch überlieferte – Zeugnis p. 34,20 ff.: »Wenn du aber in die Hände der ›Greifer‹ kommst, die die Seele mit Gewalt rauben, so sollst du zu ihnen sagen: ›Ich bin ein Gefäß, das mehr [wert] ist, als die Frau, die eure Mutter ist‹« – dies jedenfalls eine Aussage, die – die Möglichkeit ihrer Textkonstitution vorausgesetzt96 – sachund sinngemäß ganz dem Zeugnis des Irenäus, Adv. Haer. I 21,4 entspricht und – auch von daher gesehen – offensichtlich für den Topos der »Himmelsreise der Seele« in der frühchristlichen Gnosis charakteristisch ist. Die Reihe der genannten, in ihrer Aussagerichtung je auf ihre Weise eindeutigen Zeugnisse – angefangen bei Irenäus bis hin zur Jakobus-Apokalypse von Nag Hammadi mag am Ende noch ein weiteres patristisches Zeugnis beschließen: Epiphanius überliefert in seinem umfassenden antignostischen Werk (Haer. 26, 13, 2) den Auszug aus einem weiteren gnostischen Originaltext, einem ansonsten unbekannten Philippusevangelium. Hier heißt es in Gestalt eines Gebetes des Apostels: »offenbare mir, Herr, was die Seele auf 95 Vgl. entsprechend NHC II /4: »Vom Wesen der Archonten« (ed. B. Layton, NHS 20, Leiden 1989), p. 92,95 ff.: Norea antwortet den ›Archonten‹, die sie am Betreten der Arche des Noah hindern wollen: »Ich stamme nicht von euch ab, sondern ich bin ›von oben‹ gekommen«. Dazu: A.M. McGuire, Virginity and Subversion: Norea Against the Powers in the Hypostasis of Archons, in: K.L. King (ed.), Images of Feminism in Gnosticism, Philadelphia 1988, S. 239–258, hier S. 251 f. – Zum Thema der »Himmelsreise der Seele« durch den ›Zaun der Bosheit‹ vgl. W. Bousset, Die Himmelsreise der Seele, in: ARW 4 (1901), S. 136–169. 229–273; H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 205 ff. – Speziell zur ›Himmelsreise‹ der Norea vgl. auch die entsprechenden Nachrichten bei Epiphanius, Haer. 26,1,3 zum ›Buch der Norea‹. Dazu: J. Dummer, Die Angaben über die gnostische Literatur bei Epiphanius, Pan. Haer. 26, hier speziell zum ›Seelenaufstieg‹ S. 197 ff. sowie zum Buch Norea S. 205 ff. Vgl. weiter Epiphanius, Haer. 26,10,7 ff., sowie Origenes, c. Cels. VI 31. 96 Dazu vgl. W. Schoedel, in: NHS XI , Leiden 1979, S. 88, sowie I. Schletterer/ U.-K. Plisch, in: Nag Hammadi Deutsch II , S. 416.

5.3 Zur Frage der Definition der Religion ›Gnosis‹

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ihrer ›Himmelsreise‹ ( ) sagen muss und wie sie jeder von den oberen [kosmischen] Mächten antworten soll« – nämlich: »Ich [die Seele] habe mich selbst erkannt und habe mich selbst gesammelt [sc.: aus der Zerstreuung] von allen Seiten her, und ich habe den Archonten keine Kinder gezeugt, vielmehr habe ich seine [des »Archonten«] Wurzeln ausgerissen und die zerstreuten Glieder gesammelt und kenne dich, wer du bist – denn ich bin / gehöre zu denen ›von oben her‹: 97 . Das Besondere dieses Zeugnisses im Rahmen der bisher genannten Zeugnisse: Das Grundzeugnis einer Definition von »Gnosis« von Exc. ex Theodoto 78,2 erscheint hier gleichsam ins »Persönliche« übertragen, in eine »Formel nämlich, die die »Seele« bei ihrer »Himmelsreise« durch die »oberen Kräfte« zu sprechen hat, um auf diese Weise am Ende ihr Ziel zu erreichen: die (Wieder-)Vereinigung nämlich mit dem der Welt jenseitigen Gott – oder auch anderes ausgedrückt: die Rückkehr aus dem für die »Welt« bestimmenden »Mangel« in die »Fülle«, das Pleroma der göttlichen Welt. , Erkenntnis«, das ist hier in der Tat der »Heilsweg« – genauer noch: der »heilige Weg«, um das Heil (wieder-) zu erlangen – ganz so wie es im sog. Naassenerhymnus bei Hippolyt, Ref. V 10, 2 im Munde Jesu(!) heißt: …, »Erkenntnis« in diesem Sinne ist nicht nur ein gleichsam »technisches« Wissen um den »Heilsweg« (und seine Stationen), sondern »Selbst-Erkenntnis«, , wie Hippolyt die Lehre der Naassener, »die sich selbst nennen«, formuliert hat (Ref. V 6,6), »Selbst-Erkenntnis« eben im Sinne des Wissens um das eigene »Woher«, »Wo« und »Wohin« – und in diesem Sinne als der grundlegende Anfang der »Vollendung« ( ), »Gotteserkenntnis« aber als die – »Erkenntnis« in diesem Sinne zugleich, wie wiederum Irenäus bezeugt (Adv. Haer. I 15,2), der Weg vom Tod ins Leben – denn: »der Vater wollte ja die »Unwissenheit auflösen und [damit] den Tod vernichten«. »Auflösung« der geschieht »durch seine Erkenntnis«, d.h. dadurch, dass sie, die Menschen, ihn erkannten«98. Die frühchristliche Gnosis, wie sie sich in den überlieferten Quellen als eine »dualistische Erlösungsreligion« darstellt, ist – von daher gesehen – in 97 Zum Terminus ›sich selbst sammeln‹ in diesem Kontext vgl. H. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, S. 139 f., hier mit Hinweis auf ein Fragment aus dem gnostischen ›Evangelium der Eva‹ bei Epiphanius Haer. 26, 10,7. Auch im Referat über die ›Gnostiker‹ bei Epiphanius, Haer. 26, 10,7–10, kommt dem »Sicht-Selbst-Sammeln« (sc.: aus der Welt) beim Überwinden der ›Archonten‹ entscheidende Bedeutung zu. Dazu vgl. bereits W. Anz, Zur Frage nach dem Ursprung des Gnostizismus, S. 20 ff. 98 In diesem Sinne ist die Religion ›Gnosis‹ nicht auf die ›Selbst‹-Erkenntnis reduzierbar. Vgl. J.-E. Ménard, Die Erkenntnis im Evangelium der Wahrheit, S. 59–63 (mit Verweis auf Plotin, Enn. VI 9,7. Vgl. auch G.W. McRae, Prayer and Knowledge, S. 222 ff.; K.-W. Tröger, Mysterienglaube und Gnosis, S. 113–115; S. 114: »Beide Stellen (Hippolyt V, 6,6 und Irenäus I, 21,4) zusammengenommen enthalten alles Wesentliche, was … über die Erlösung in der Gnosis zu sagen ist«.

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5. »Words with an Alien Voice«

ihrer durch Exc. Ex Theodoto 78,2 bezeugten Grundstruktur bzw. von ihrer »eigenen Grundidee« her durchaus als eine eigene Religion mit einem universalen Anspruch zu verstehen – und in diesem Sinne gewiss auch als eine Art »Meta-Religion«99. Historisch gesehen setzt sie – eben als frühchristliche Gnosis – ohne Frage das Christentum voraus, ist aber gleichwohl, was jedenfalls das ihr eigene Wesen bzw. ihre betrifft – und damit auch den »Kanon« ihrer Rezeption des Neuen Testaments! – von ihrem eigenen Ansatz her als nicht-christlich zu bezeichnen: Eben jene ihr eigene »Hypothese« beruht ja grundsätzlich nicht auf spezifisch christlichen Prämissen – auch wenn sie in ihrer durch die entsprechenden christlich-gnostischen Quellen bezeugten Erscheinungsweise – historisch gesehen – das Christentum voraussetzt. »Erlösung durch Gnosis«, das Zentrum ihrer »Hypothese«, ist jedenfalls aus spezifisch christlichen Prämissen nicht ableitbar. Die von B. Aland im Blick auf die Relation »Gnosis und Christentum« formulierte Alternative – »entweder müssten wir das Phänomen einer christlichen Gnosis … von einer nicht-christlichen Gnosis sachlich unterscheiden. Das Verbindende wäre dann lediglich eine mehr oder weniger tief reichende gnostische Verbrämung. Oder aber Gnosis bezeichnete das eine sachlich zusammengehörende Ganze [sic!]«100 – würde sich dann freilich als letztlich unsachgemäß erweisen: »im Ansatz christlich« ist die frühchristliche Gnosis keineswegs – wie dies bereits Irenäus erkannt hat, wenn er im Rahmen seiner anti-gnostischen Polemik durchgehend betont, dass die »Gnostiker« die spezifisch-christliche Überlieferung an ihre »eigene Hypothese« bzw. an ihr »eigenes Plasma«, d.h. an die ihnen eigene regula veritatis »angepasst« haben: Auslegung also bzw. Rezeption der genuin christlichen Überlieferung unter einem dezidiert gnostischen Vorzeichen101. Die (Um-)Deutung des »Christusereignisses« geschieht in diesem Sinne, auch und gerade im sogenannten Evangelium veritatis von Nag Hammadi, vielmehr nach Maßgabe eines de-

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So G. Theissen, Die Religion der ersten Christen, S. 317 sowie S. 320 ff. So B. Aland, Gnosis und Christentum, S. 319–350. Kritisch dazu J. Becker, ThR 51 (1968), S. 63 f. 101 Vgl. dagegen B. Aland, a.a.O., S. 330: »Woher kommt diese gesamte Konzeption? Ich möchte meinen, sie ist nur auf dem Hintergrund des Christentums und als Interpretation des Christusereignisses möglich …«. Vgl. auch ebd., S. 339. »Die valentinianische Gnosis erweist sich als im Kern christlich« sowie S. 341: Die Gnosis ist »eine innerchristlich entstandene, christliche Häresie«. Von daher gesehen gewinnt die die Diskussion einleitende Bemerkung von B. Aland ein besonderes Gewicht: »I think one of the main difficulties of the phenomenon of Gnosis … lies in the fact that we not only base our interpretation of the texts on different kinds of presuppositions …«. Speziell im Blick auf das Evangelium Veritatis von Nag Hammadi heißt dies: »This I can only understand as an attempt to interpret the Christus event. In my opinion this idea cannot be explained from non-Christian mythology or philosophy …«. Gleichwohl ist gerade auch im Evangelium Veritatis am Ende nicht zu übersehen, dass die hier vorliegende Interpretation des »Christus-Ereignisses« sich aus anderen als genuin-christlichen Quellen speist. 100

5.4 Noch einmal zur Frage einer »vor-christlichen« Gnosis

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zidiert nicht-christlichen Kanons102, nach Maßgabe nämlich einer ursprünglich-gnostischen »Hypothese«, die – jedenfalls in logischer Hinsicht – dem kirchlichen Christentum vorausgeht. Damit stellt sich hier, am Ende, noch einmal die Frage einer »vor-christlichen« Gnosis.

5.4 Noch einmal zur Frage einer »vor-christlichen« Gnosis Am Ende bleibt noch einmal zu fragen, ob und inwieweit die die bisherige Forschungsgeschichte bestimmende Alternative »vor-christlich« – »nachchristlich« dem tatsächlichen Prozess der Begegnung von »Christentum« und »Gnosis« zu entsprechen vermag103 – und dies zumal dann, wenn diese »Begegnung« gleichsam »statisch« verstanden wird – unter Absehung nämlich eines dynamischen Prozesses einer wechselseitigen »Begegnung« von Christentum und Gnosis. Ganz in diesem Sinne hat bereits im Jahr 1963(!) K. Rudolph gefordert, dass die »Begriffe ›vorchristlich‹, ›nachchristlich‹ überhaupt einmal einer grundsätzlichen (historischen) Klärung« bedürfen104. Konkret würde dies bedeuten, dass die bisher die Gnosis-Forschung weithin bestimmende Alternative von »vorchristlicher« und »nachchristlicher« Gnosis durch das Phänomen einer nicht-christlichen Gnosis relativiert würde: »Nachchristlichkeit« der Gnosis wäre dann nur noch in einem chronologischen Sinne zu verstehen, und das heißt: »der Inhalt ist weiterhin nichtchristlich oder auch nebenchristlich« – mit der Konkretion: »Ein solcher nachchristlicher Gnostizismus … kann … auch in gnostischer Interpretation einer bereits entwickelten christlichen Lehre bestehen«105. In diesem 102 Vgl. in diesem Sinne bereits den Einspruch von H. Jonas zur Position von B. Aland, in: B. Layton (ed.), The Rediscovery of Gnosticism I, S. 345 ff., sowie R. van den Broek, in: VC 37 (1983), S. 71: ›Gnosis‹ als ein komplexes Phänomen »cannot be explained exclusively from Judaism or Platonism, and certainly not from Christianity. Mrs. Aland’s suggestions to that effect … lead into a blind alley …«. 103 Zur Frage der Alternative ›vor-christlich‹ – ›nach-christlich‹ s. bereits oben Kap. 3, 184–205. 104 So in seiner Rezension zu C. Colpe, Die religionsgeschichtliche Schule, in: ThLZ 88 (1963), Sp. 28–33, hier: Sp. 32. Vgl. im übrigen C. Colpe selbst, a.a.O., S. 199: ›Verzicht auf Alternativen‹ wie z.B. Vorchristlich oder nachchristlich«; ders., Art. Gnostizismus, in: RAC 11, Sp. 542, auch hier i.S. einer Relativierung der Fragestellung. Weiter vgl. S. Schulz, in: ThR 36 (1960), S. 227, hier mit dem Argument, dass »eine phänomenologische Wesensbestimmung« der Gnosis meist zu einem vorchristlichen Ansatz führt, während »die genetische Bestimmung ihrer synkretistischen Einzelelemente in der nachchristlichen Zeit steckenbleiben muss«. 105 So C. Colpe, in RAC 11, Sp. 542. So gibt es, wie H.-M. Schenke, Nag Hammadi Deutsch I, S. 4, festgestellt hat, auch unter den Schriften von Nag Hammadi keinen gnostischen Originaltext aus eindeutig vorchristlicher Zeit – aber: eben diese Schriften »beweisen doch, dass die Gnosis ihrem Wesen nach ein vorchristliches [besser wohl: nicht-christliches!] Phänomen ist« – und: Es ist eben dieses ›Wesen‹, mit Irenäus gesprochen: die der

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Falle wäre dann freilich die traditionelle Unterscheidung »vorchristlich – nachchristlich« am Ende gar nicht mehr i.S. einer Alternative zu verstehen – denn: was die jeweils benutzten Quellen betrifft, so würde es sich hier um einen nach-christlichen Vorgang handeln; was aber die Voraussetzung für die (Auswahl und) Rezeption jener Quellen betrifft, um einen Vorgang, der jene Alternative transzendiert oder doch jedenfalls relativiert: »Anpassung« ist in diesem Prozess die grundlegende Kategorie, und zwar nun eben nicht i.S. einer »Anpassung« der Gnosis an das frühe Christentum106, sondern – gerade umgekehrt! – »Anpassung des Christentums – genauer: seines biblisch neutestamentlichen Kanons – an die eigene nicht-christliche Position, an die »eigene Hypothese« der frühchristlichen Gnosis! – anders formuliert: Was etwa für Irenäus der »Kanon der Wahrheit« im Sinne der kirchlichen Lehre und der ihr entsprechenden kirchlichen Überlieferung ist, das ist für die frühchristliche Gnosis ein Sachverhalt, der außerhalb dieser Überlieferung liegt – nämlich die »eigene« ( ), als solche nicht-christliche(!) »Hypothese« – »Hypothese« hier durchaus im Sinne der »eigenen« – nichtchristlichen! – Position bzw. »Grundlehre«. Eben diese genuin-gnostische und – als solche – nicht-christliche »Hypothese« ist für die Gnosis Grundlage und – damit auch – hermeneutische Voraussetzung – mit Irenäus gesprochen: der »Kanon« gnostischer Schriftauslegung. Die »Wahrheit aus der Schrift«, so referiert Irenäus (Adv. Haer. III 2,1) die Auffassung seiner gnostischen Kontrahenten, »kann man nur finden, wenn man die [entsprechende] Überlieferung kennt: non enim per litteram traditum illa, sed per vivam vocem, ob quam et Paulus dixisse [mit Zitat des loquimur von 1 Kor 2,6] – »und unter dieser Wahrheit versteht ein jeder von ihnen die Lehre [wörtlich: fictionem!], die er a semetipso adinvenerit – insgesamt also: eine die Prinzipien der gnostischen Hermeneutik bloßlegende Polemik, die – im Sinne des Irenäus jedenfalls – für Valentinus und Basilides ebenso gilt wie auch für Marcion und Kerinth. Sie alle stehen hier unter dem Verdikt, dass sie auf diese Weise »Mythen zusammenschustern« ( )« und an sie das (ursprüngliche) »Wort Gottes«, speziell aus den »Parabeln des Herrn«, »anpassen« (Irenäus, Adv. Haer. I 8,1; 9,2). Sie, jene gnostischen »Mythen«, sind hier also gleichsam das Primäre, die »Grundlage« ( ), also das (hermeneutische) »Prinzip der [Schrift-]Forschung«107. »Anpassung« (an die eigene gnostische »Hypothese«) ist hier das entscheidende Wort gnostischer Schriftauslegung, im Einzelnen in vielfältiger Gnostiker, das bzw. die sie, die Gnostiker, mit ihrer Art von Rezeption der Schrift zur Geltung bringen. 106 So C. Markschies, Die Gnosis, S. 28 f. 107 So B. Reynders, RTAM 7 (1935), S. 18: »principe de recherche«, hier mit Hinweis auf Irenäus, Adv. Haer. I 8,1 und 9,2. – Zum Stichwort »Mythos« in diesem Zusammenhang vgl. auch Origenes, De Principiis IV 2,1: . Vgl. demgegenüber noch das Verständnis von bei F.C. Burkitt, Church and Gnosis, S. 89: »Gnosticism is not a really satisfactory religious theory – it is a poor(!) hypothesis«!

5.4 Noch einmal zur Frage einer »vor-christlichen« Gnosis

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sprachlicher Variation108, insgesamt jedoch in eindeutiger sachlicher Ausrichtung – und das heißt konkret: im Sinne der Dominanz eines durchgängigen hermeneutischen Prinzips. Paradigmatisch für das methodische Verfahren der gnostischen Schriftauslegung auf Grund der »eigenen Hypothese« – im Sinne des »eigenen Systems« ist die Beschreibung dieses Verfahrens bei Irenäus, Adv. Haer. I 9,2: »Denn nachdem sie die ihnen eigene ›Hypothese‹ gebildet haben, sammeln sie Lesarten und Namen ( ) … und übertragen sie ( ), wie wir bereits zuvor gesagt haben [Adv. Haer. I 1,3; 3,6; 8,1) aus ihrer [ursprünglichen] natürlichen in eine widernatürliche Natur«. Grundsätzlich auf derselben Linie liegt die Argumentation des Irenäus in Adv. Haer. I 10,3: Wenn hier zunächst die »Hypothese der Wahrheit«, d.h. die kirchliche Glaubensregel als Kanon bzw. als Kriterium einer »rechten« Schriftauslegung hervorgehoben wird, dann ist – damit zugleich – auch deutlich, dass die spezifisch gnostische Art und Weise der Schriftauslegung ihrerseits von einer anderen – eben nicht-christlichen »Hypothese« ausgeht, und das heißt: »Christliche Gnosis ruht auf dieser Grundlage«, nämlich auf der kirchlichen Glaubensregel. »Falsche Gnosis« demgegenüber ist daran zu erkennen, dass sie [eben] diese Grundlage verändert«. Und diese »Veränderung« in der frühchristlichen Gnosis geschieht eben unter der Voraussetzung eines anderen hermeneutischen Kanons gegenüber dem der »legitimen« genuin-christlichen Tradition, im Sinne einer sekundären »Anpassung« dieser Tradition an das »eigene [genuin gnostische] Gebilde ( ), das am Ende, wie Irenäus, Adv. Haer. II 10,1 formuliert, einen »anderen Gott« voraussetzt. Es ist – von daher gesehen – kein Zufall, dass Irenäus in seinem antignostischen Hauptwerk immer wieder, nahezu unermüdlich auf diese entscheidende Differenz der »kirchlichen« zur »gnostischen Hypothese« zu sprechen kommt109, weil bei allen terminologischen Variationen in dieser Hinsicht das »Basis-Prinzip« der Hermeneutik seiner gnostischen Kontrahenten auf einer am Ende nicht-christlichen Grundposition beruht: »they did base their radically new religion on a perverse re-interpretation of scripture and older tradition of exegese«110. Und die Voraussetzung dafür ist eben jene der Gnostiker – mit der Konsequenz: »Gnosis itself, and not the scripture remains their primary hermeneutical presupposition«111 – oder auch: Gnostische Schriftexegese ist im Grunde 108 Dazu im Einzelnen A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 9 (mit Anmerkungen); B. Reynders, RTAM 7 (1935), S. 5–27, sowie G. Valley, Theological and Non-Theological Motivs in Irenaeus’ Refutation of the Gnostics, S. 256, Anm. 22. 109 Vgl. A. Bengsch, Heilsgeschichte und Heilswissen, S. 52: »Sicher aber sieht Irenäus in diesem Glaubensbekenntnis die wahre ›Hypothesis‹, von der alles theologische Denken auszugehen hat. Christliche Gnosis ruht auf dieser Grundlage, falsche Gnosis ist daran zu erkennen, dass sie diese verändert«. 110 So B.A. Pearson, Some Observations On Gnostic Hermeneutics, S. 253, hier freilich mit der so nicht nachvollziehbaren Aussage: »This is how a religion of late antiquity arose as a product(!) of scriptural interpretation«. 111 So E.H. Pagels, The Gnostic Paul, S. 3.

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nichts anderes als »die nachträgliche Verifizierung des [nicht-christlichen] gnostischen Mythos an der biblischen Überlieferung«112 – und im Gegensatz (und Gegen-Zug) dazu nun wiederum die Position des Irenäus. Die »wahre Gnosis«, d.i. allein die kirchliche Gnosis, wie sie in der Glaubensregel – als der »Hypothese der Wahrheit« – ihren Niederschlag gefunden hat. Sie ist das allein geltende Interpretationsprinzip113, denn unter diesem »Vorzeichen« – besser wohl noch: an diesem Ort der »rechtgläubigen Kirche« werden die biblischen Schriften, wie es bei Irenäus, Adv. Haer. IV 33,8 heißt, sine falsatione, et secundum expositio legitima … et sine periculo et sine blasphemia gelesen und angenommen114. Grundlegend für die rechte, die »rechtgläubige« Lesart der Schrift ist also der »Ort«, an dem sie gelesen bzw. rezipiert wird – oder, wie N. Brox formuliert hat115: Schriftauslegung »lebt jeweils aus dem umfassenden hermeneutischen Horizont einer voraus liegenden Gnosis, hier der häretischen, dort der kirchlichen, die Irenäus auch die ›wahre Gnosis‹ nennt« . Und was für die rechtgläubige Kirche in diesem Sinne der »Kanon des Glaubens«, die Glaubensregel, ist, das ist für die Gnosis, und zwar eben auch für die frühchristliche Gnosis dementsprechend – besser: im Gegensatz dazu – »die Explikation der Gnosis in ihrem Mythus116. Hier jedenfalls zeigt sich einmal mehr, worum es am Ende in diesem »Streit um die Schrift« ging: um nichts anderes als um die » de la foi … contre l’ mythique, la fable des hérétiques«117, die »Grundlage« also der Lehre des Glaubens der Kirche versus die Grund- und Basislehre einer – im Ansatz ihrer »Hypothese« – häretischen, im Grunde nicht-christlichen Erkenntnislehre. Spätestens angesichts dessen tritt offensichtlich, was die Relation frühchristliche Gnosis – frühes Christentum betrifft, die chronologische Frage hinter die Sachfrage zurück: Entscheidend, grundlegend ist die Voraussetzung einer genuin gnostischen »Hypothese« vor der »Hypothese« der »rechtgläubigen« Kirche. Und das heißt zugleich, dass in diesem Falle die chronologische Frage durch die Sachfrage gleichsam überholt wird – insgesamt also: Die – insbesondere durch Irenäus bezeugte – Tatsache, dass die spezifisch gnostische »Hypothese« ihrerseits die Voraussetzung für die 112

So N. Brox, Offenbarung, Gnosis und gnostischer Mythos, S. 68. Vgl. N. Brox, ebd., S. 93 ff. 114 Dazu N. Brox, ebd., S. 95 f.; ders., in: ZAC 2 (1998), S. 29 f.: »Insofern schränkt Irenäus die Suffizienz der Bibel, demzufolge … die Bibel aus sich selbst ausgelegt werden will [Adv. Haer. IV 26,1!], wieder ein«. 115 In ZAC 2 (1998), S. 39. 116 So H. Schlier, Die Gnosis, S. 504 f. – Eben dieser ›Mythos‹ bzw. das ihm zugrundeliegende ›System‹ wäre dann auch Wesen und Inhalt der ›Hypothese‹ der Gnostiker! – Zum Verständnis von ›Hypothese‹ i.S. von ›System‹ vgl. A. Rousseau/A. Doutreleau, in: SC 263, S. 221, sowie M. Harl, Le mot HYPOTHESIS , S. 417 f und S. 425, hier mit Hinweis darauf, dass bei den frühchristlichen Häresiologen der Terminus auch die Konnotation von ›Fabel‹ hat! 117 A. Le Boulluec, L’écriture comme norme hérésiologique, S. 72. 113

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Rezeption der biblisch-neutestamentlichen Überlieferung ist, ist gewiss nicht ein Indiz für einen – chronologisch gesehen – vor-christlichen Ursprung der Gnosis, wohl aber für deren nicht-christlichen Charakter. Zweifellos geht es, was die Art und Weise der gnostischen Rezeption der biblischen Überlieferung betrifft, nicht zuletzt auch um den Anspruch der frühchristlichen Gnosis, den »gemeinchristlichen« Glauben – möglicherweise sogar im Sinne einer Art »Meta-Religion«118 – zu überbieten: , wobei die traditionelle exegetische Methode der Allegorese im Rahmen der gnostischen Schriftauslegung zum Zweck der Erschließung des »eigentlichen« Sinnes der Schrift (auch!) aufseiten der gnostischen Exegeten ein grundlegendes Instrument darstellt119. Primär gilt dies – nicht nur aus gnostischer Sicht! – für die Rezeption der Textsorte der Gleichnisse bzw. Parabeln des Neuen Testaments, die sich – wie bereit Irenäus festgestellt hat (Adv. Haer. I 3,6), »in vielerlei Richtungen zerren« – und auf diese Weise auch relativ mühelos an die »eigene Hypothese« bzw. an die eigenen hermeneutischen Voraussetzungen der gnostischen Exegeten »anpassen« lassen120. Angesichts der entsprechenden Erfahrungen im Umgang seiner gnostischen Kontrahenten mit dieser Textsorte ist es denn auch durchaus verständlich, dass Irenäus seinerseits die Notwendigkeit betont, »die Inhalte der Parabeln wiederholt zu überdenken ( ), um sie [auf diese Weise] der , d.h. der kirchlichen Glaubensregel, zuzuordnen121. Konkret heißt dies: Die »Auflösung« ( ) der biblisch-neutestamentlichen Gleichnisrede hat »nach dem, was unzweideutig ist«, zu geschehen (Adv. Haer. II 10,1) – ein charakteristisches Beispiel dafür (Adv. Haer. V 8,3): Denn es ist »ein Unterschied, wer [jeweils] allegorisch auslegt: wenn es die Gnostiker tun, so tun sie verbotenes, ist es er, Irenäus selbst, so legt er die Bibel [sachgemäß, nämlich in Übereinstimmung mit dem »Kanon der Wahrheit«] aus«. Am Ende bedeutet dies: »Wer sich fromm bescheidet [als ein idiota religiosus!] und nicht lästerlich und schamlos ist, der respektiert seine Grenzen« – also gilt auch hier, bei der sachgemäßen Gleichnisauslegung, die Grundregel: »Die Wahrheit« ist – angesichts der Vorliebe der gnostischen Ausleger für das »mehrdeutig gesagte« ( ) als Chiffren 118 So G. Theissen, Die Religion der ersten Christen, S. 317: »Heiden, die von der Tendenz zum monotheistischen Glauben erfasst worden waren … konnten ihre Unzufriedenheit mit allen bestehenden Religionen durch Suche nach einer neuen ›Meta-Religion‹ befriedigen …«. 119 Zur Frage einer ›Überbietung‹ des ›gemeinen Glaubens‹ der (Kirchen-) Christen vgl. K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker, S. 9 f. sowie S. 180–187; ders., in: ZThK 1977, S. 334–337 (zu Clemens Alexandrinus, Strom. VII 97,3); A. Le Boulluec, in: SC 428, S. 294 f. 120 Zum Einzelnen in dieser Hinsicht vgl. N. Brox, Die biblische Hermeneutik des Irenäus, S. 30–33. Speziell zur Rolle der Allegorese bei Valentinus bzw. bei den Valentinianern: D. Dawson, Allegorical Readers und Cultural Revision in Ancient Alexandria, S. 127–182. 121 So Adv. Haer. II 10, 1–3 zur Einordnung der Inhalte der Parabeln in die ›Hypothese der Wahrheit‹. Vgl. entsprechend: Adv. Haer. II 20,1; 24,3; 27,1–3; 28,8; III 5,1; IV 26,1. Zur Sache vgl. N. Brox, Art. Irenäus von Lyon, in: RAC 18, Sp. 845 f.

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für geheime Überlieferungen! – »mühelos in der Kirche zu haben«122 – denn: Hier allein, in der (rechtgläubigen) Kirche, gibt es »die wahre Gnosis« als Interpretationsprinzip der Hl. Schrift. Grundsätzlich dasselbe gilt dann auch für jene Texte aus dem Neuen Testament, denen – im Blick jedenfalls ihrer gnostischen Rezipienten – eine gewisse »Nähe« zur eigenen gnostischen Position eigen ist und die sich als solche – offensichtlich relativ mühelos – in ein spezifisch gnostischen Grundkonzept ( ) einfügen lassen: Insbesondere gilt dies für jene »dualistischen« Implikationen (und Explikationen!), wie sie für das Johannesevangelium wie auch für gewisse Briefe des Paulus charakteristisch sind und sich – jedenfalls im Sinne der gnostischen Exegeten – relativ leicht an das genuin gnostische Grundkonzept »anpassen« lassen, und zwar ohne deswegen ihrerseits bereits unter dem Verdacht eines »incipient Gnosticism« zu stehen. Eine gewisse »dualistische« Komponente ist offensichtlich dem spätantiken Weltbild, im Einzelnen gewiss in unterschiedlicher Schärfe, als solchem inhärent und in diesem Sinne nicht bereits als solche als »spezifisch gnostisch« zu denunzieren. So hat R. McL. Wilson zweifellos recht, wenn er in seiner Darstellung des »gnostischen Problems« einen unmittelbaren Einfluss von gnostischen Ideen und gnostischer Terminologie auf Paulus und das 4. Evangelium bezweifelt, gleichwohl aber hinzufügt: »… although certainly they [Paulus und Johannes] did use language which the Gnostics were later to adopt«123. Was in diesem Zusammenhang die Briefe des Paulus, speziell den 1. Korintherbrief sowie die (deuteropaulinischen) Briefe an die Kolosser und die Epheser betrifft, so ist eine gewisse »Nähe« zur (späteren bereits formierten frühchristlichen) Gnosis gar nicht zu bestreiten. Und es ist eben diese »Nähe«, die für die gnostischen Rezipienten ihrerseits die Möglichkeit bzw. den entsprechenden »Ansatz« darbot, den Apostel Paulus – eben als den »Apostel der Häretiker« – und bestimmte von ihm bzw. in seinem Namen überlieferte Briefe – so vor allem den 1. Korintherbrief sowie die beiden Briefe an die Kolosser und die Epheser – in die ihnen eigene »Hypothese« zu 122 Adv. Haer. III 4,1. Vgl. auch I 25,5. Nicht zu übersehen ist in diesem Zusammenhang, dass Irenäus selbst (Adv. Haer. V 32,2) in der Auseinandersetzung mit seinen gnostischen Kontrahenten die Auffassung vertritt: »Nichts darf man … allegorisch deuten«, ein Grundsatz freilich, der von ihm selbst keineswegs konsequent befolgt wird – es ist eben ein Unterschied, wer da und von welchen Voraussetzungen ( !) aus ›allegorisiert‹ – vgl. z.B. die Allegorese des Irenäus selbst in Adv. Haer. V 8,3. Vgl. N. Brox, in: RAC 18, Sp. 845 f. – Zur Problematik der allegorischen Auslegung vgl. weiter: Adv. Haer. I 3,1; II 27,1 f. sowie III 5,1. 123 So R. McL. Wilson, The Gnostic Problem, S. 98; ders., ›Jewish Gnosis‹ and Gnostic Origins, S. 180: »There are trends and tendencies, movements on the way to Gnosticism, affinities with later Gnostic doctrins in the New Testament itself«. Speziell im Blick auf die Paulusbriefe des Neuen Testaments stellt S. Pétrement, RMM 85 (1980), S. 154, fest, dass im 1. Kor des Paulus »une tendance au gnosticism« zu beobachten sei, aber eben nur eine ›Tendenz‹, eine »attitude … non pas, autant qu`il semble, un gnosticisme déjà formé«. In diesem Sinne auch E.R. Dodds, Heiden und Christen, S. 31 (mit Anm. 45), hier mit Verweis vor allem auf 2 Kor 4,4.

5.4 Noch einmal zur Frage einer »vor-christlichen« Gnosis

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integrieren. Ausdruck dieses Sachverhalts ist – nicht zuletzt – die – zweifellos gezielt zugespitzte These von H. Langerbeck, die ausgebildete frühchristliche Gnosis des 2. Jahrhunderts als eine »systematische Entfaltung der paulinischen Theologie« zu charakterisieren und die frühchristliche Gnosis als solche »die mächtige Erscheinung einer ersten christlich-paulinischen Theologie« zu nennen124. Im Übrigen besteht beim gegenwärtigen Forschungsstand in dieser Hinsicht wohl kein Zweifel mehr daran, dass in diesem Zusammenhang – und damit auch in diesem zeitlichen Rahmen – das Zeugnis der sog. Pastoralbriefe des Neuen Testaments einmal mehr besondere Bedeutung gewinnt – diese Briefe nicht nur angesichts einer bereits hier vorausgesetzten Auseinandersetzung mit einer »fälschlich so genannten Gnosis«, sondern auch angesichts dessen, dass hier, in diesen Briefen mehrfach die Rede von den »törichten Untersuchungen« ( ) der Kontrahenten des – sich selbst in der Paulus-Tradition verstehenden Verfassers – ist. Dies ein Sachverhalt, der – möglicherweise – auf Differenzen speziell in der Schriftforschung und Schriftauslegung hinweist, konkret also auf eine »Schriftforschung«, die von eben jener »fälschlich so genannten Gnosis« ausgeht. In diesem Sinne ist es keineswegs abwegig, dass in diesen Briefen bereits eine Auseinandersetzung mit einer für die Gnosis charakteristischen Schriftauslegung vorausgesetzt ist: »Suchen« bzw. »Forschen« in diesem Sinne also als termini technici gleichsam für das »Suchen« – und gegebenenfalls auch »Finden«! – der »rechten« Auslegung der Schrift, und zwar unter der Voraussetzung der gnostischen »Hypothese«125. So gesehen wären dann auch und gerade die »Pastoralbriefe« des Neuen Testaments – von ihrer zeitlichen Ansetzung um die Wende vom 1. zum 2. nachchristlichen Jahrhundert her gesehen – eine Station auf dem Wege zur Schriftauslegung in den gnostischen Schulen des 2. Jahrhunderts: Die »Gnosis« der Pastoralbriefe in diesem Sinne also eine Art von »Gnosis«, die »der christlichen Gnosis des 2. Jahrhunderts vorausgeht«126 – und wiederum einen dynamischen Prozess der Ursprungsgeschichte der frühchristlichen Gnosis bezeugt, damit zugleich aber auch den Prozess einer Begegnung von 124 H. Langerbeck, Aufsätze zur Gnosis, S. 79 ff., hier bes. S. 81. Zum Problem vgl. auch C. Colpe, in: RAC 11, Sp. 601 ff., hier speziell Sp. 622 eine Art Definition von einer ›gnosisbereiten Sprache‹ als »Sprache von der Art, dass sie ohne Divergenzen auch in die nachchristliche gnostische Spekulation eingehen konnte«. Speziell zu Paulus: ebd., Sp. 601 ff.; zum Joh-Ev: Sp. 607 ff. 125 Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem den term. techn. 1 Tim 1,4; 6,4; 2 Tim 2,23; Tit 3,9. Dazu: N. Brox, Die Pastoralbriefen S. 102 f., der diese Terminologie (im Zusammenhang mit der Rede von »Fabeln, Mythen, Genealogien«) speziell auf eine gnostische Auslegung des Alten Testaments bezieht. Zum Ganzen s. bereits oben: Kap. 3. 126 So A. Böhlig, Christentum und Gnosis im Ägypterevangelium von Nag Hammadi, S. 2, Anm. 5. Zur Abfassungszeit der Pastoralbriefe und die Wende vom 1. zum 2. Jh. vgl auch M. Hengel, Der Sohn Gottes, S. 54 f.; ders., Paulus und die Frage einer vorchristlichen Gnosis, S. 485.

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5. »Words with an Alien Voice«

»Christentum« und »Gnosis«, der sich – als solcher – speziell im Blick auf die »Gnosis« schwerlich auf jene eher statische Alternative »vor-christlich – nach-christlich« festlegen lässt bzw. – genauer noch – die »chronologische« Frage durch die Sachfrage gleichsam überholt. Und schließlich: Gegen ein gleichsam statisches Verständnis der Kategorien »vor-christlich – nach-christlich« im Blick auf die Religion »Gnosis« sprechen auch die Überlegungen, die der Kirchenhistoriker W.A. Löhr in seiner Studie zur »Ausbreitung des antiken Christentums als historiographisches Projekt« vorgetragen hat127: Wenn es denn tatsächlich gilt, was der Verfasser in diesem Aufsatz so formuliert hat: »Die jüngere Forschung ist sich mehr und mehr bewusst geworden, dass die religiöse Szene des Römischen Reiches keine statische Kulisse war, vor deren Hintergrund die Aufstiegsgeschichte des antiken Christentums erzählt werden kann, sondern eher ein dynamisches Kraftfeld(!), in dem die verschiedenen Kräfte ständig aufeinander einwirken und sich gegenseitig modifizieren« – dann dürfte es ohnehin naheliegen, von bestimmten »statischen« Modellen zur Beschreibung der Relation »Frühes Christentum – Gnosis« – im Sinne auch einer Fixierung auf bestimmte die bisherige Forschung bestimmende Modelle »vorchristliche«/»nachchristliche Gnosis« – Abschied zu nehmen. Der Vorteil einer solchen »dynamischen« Betrachtungsweise könnte – immerhin – darin bestehen, auf solche eher »dynamische« Weise dem wirklichen Leben der Menschen – in diesem Falle: der Christen – in jener Zeit, einer nicht zuletzt durch »Weltangst« bestimmten Zeit, näher zu sein.128

127

In: ZNT 8 (2005), S. 22–34; Zitat: S. 32. An dieser Stelle ist ausdrücklich noch einmal auf das Buch von E.R. Dodds zu verweisen: »Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst«. 128

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Stellenregister I. Literatur des antiken Judentums Artapanos

Spec Leg I 32.36 VitMos I 111

155

Philon Alexandrinus Fuga 217 f. Leg All III 47 218

217, 219 121

Sapientia Salomonis 6,12–16 216 18,14–16 170

II. Neues Testament Matthäus 3,10 ff. 3,12 5,15 7,6 7,7 (par Lk 11,9)

10,34.38 10,34 12,24 ff. 13,33 (par Lk 13,20) 13,45 f. 13,47 18,12–14 (par Lk 15,4–7) 18,20 20,1–7 21,31 22,2–14 (par Lk 14,16–24)

25,1–13 359 f., 411 497 108 282 39, 75, 214 ff., 220–230, 237, 241, 244, 250, 282, 411, 490, 494, 539 497 96 281 275, 279 178, 181, 285 284 347 229 496 275 288

27,52 f.

276 f., 279, 539, 562 432

Markus 4,3 ff. 4,4–9 4,8 4,9 4,10–12 4,13–20 4,20 4,21 4,26–29 4,30–32 4,31 4,34 8,34 9,4 10,38

273 f., 411 290 440 274, 432 480 f. 281 281 108 290 279, 286 108, 279, 281, 440 480 f. 497 460 339

Lukas 1,35 311 11,9 (par Mt 7,7) 75, 214 f., 222, 241, 250, 282

568

Stellenregister

13,20 f. (par Mt 13,33) 275, 286 14,16–24 (par Mt 22,2–14) 288 15,4–7 (par Mt 18,12–14) 268, 285 f., 347 17,21 108, 280, 339 18,9 ff. 276 19,5 275 23,46 101 Johannes 1,1 f. 1,3 f. 1,4 1,5 1,9 ff. 1,10 ff. 1,11 f. 1,12 f. 1,13 1,14

1,16 1,18 1,28 1,33 1,34.39 2,1–11 2,4 2,9 2,12 2,13–16 2,19 3,5 f. 3,6 3,7 f. 3,14 3,18 3,29 3,31 4,7–32 4,10.14 4,36 f. 4,14 ff.

381, 398 302, 304, 310, 337 f., 368, 381 317 f., 338 381, 390 374, 394 363 f., 381 364, 374, 381 f. 364, 394 f. 394 14, 56, 72, 350, 353 f., 363, 368, 372 ff., 383 ff., 388, 545 365, 368 310, 368 332 367 307 280, 338 f. 442 312 332 319, 333 326 339 f. 395 348 395 307 312 353 322 96, 340 310 320

4,16 ff. 4,19 4,21 4,22 4,23 4,39 4,42 4,46–54 4,48 5,24 5,39 5,53 f. 6,38 6,51c–58 6,53 8,12 8,21 8,23 8,30–36 8,32 8,34 8,37 8,42 8,43–47 8,44 8,52 10,7 10,9 10,30 10,38 11,25 11,37 12,31 12,32 13,34 14,6 17,11 18,37 19,26 19,34.36 f. 20,19–23 20,24 20,31

315, 320 341 317, 341 315 320, 341 323 364 321–324, 329, 331 f. 324 352 225–229 356 353 356 339, 355 ff., 462 311, 348 339 353 358 357–360, 388, 463 463 327 f. 396 395 321, 324, 329 f. 240 310 f. 342 311 350 311 349 484 354 279 311, 349 307 307 100 311 362 307 396

Apostelgeschichte 8,9 ff. 121 f. 10,40 465

569

Stellenregister

17,27 20,17–35

219 69

Römerbrief 1,20–23.26 f. 2,28 f. 3,8 5,12 ff. 5,13 7,3 7,22 8,3 8,17 8,21 11,16 11,17 f. 11,26 11,32 11,33 11,36 12,3

431 454 502 466 f. 454 356 439 f. 350 459 454 429, 437 437 437 360, 466 66, 230, 422 496 254

1. Korintherbrief 1–4 1,17.18 ff. 1,20 ff. 1,21 2,1–16 2,4–7 2,6 ff.

2,6–16 2,7 2,8 f. 2,9 2,10 2,13 ff. 2,14 f. 8,1 ff. 10,11

65, 67, 562 419, 497 474 226 418 226 65–68, 214, 410, 412 f., 419 ff., 425–428, 435, 483 f., 522, 536 418, 419, 425, 430, 434, 484 412, 420, 434 67, 350, 412, 421, 465 99, 426, 433 298, 421–426, 449, 465 ff., 483 275, 426 f., 431 f., 434 67 f., 275, 429 f., 433, 446 68, 357 ff., 446, 463 f., 466, 495 272, 275

11,1 11,19 11,32 1 Kor 13 13,9 ff. 13,12 15,11 15,21 ff. 15,29 15,44 ff. 15,47 15,48 15,50 15,51 ff. 15,53 15,54 2. Korintherbrief 4,4 4,16 5,3 12,2–4 Galaterbrief 1,1 3,28 4,9 4,19 6,14 Epheserbrief 1,10 1,13 1,23 2,15 2,17 3,3 3,3–5 3,4 3,5 3,9 3,14 ff. 3,14.16–18 3,16 3,17

474 488 f. 116 359 422, 461 466 404 435 312 426, 434 f. 436 275, 429 355 ff., 434, 437 ff., 462 438 329 323

421, 484 439 f. 356 432, 434, 440, 446

403 466 466 373 497

453,496 464 453 107 326, 432, 455 401, 427, 433 f., 454 433, 454, 465 433 337 450, 484 417, 423, 449 446, 504 433, 440, 442 445

570 3,18 ff. 3,21 4,13 5,14 6,12 6,19 Philipperbrief 2,3 2,5 2,6–11 2,7

Stellenregister

433, 443, 445 ff., 466 f. 267, 452 453 108, 166, 514 457 449, 452

3,20 3,13

473 472 455, 467–476 96, 350, 455, 467–476 96, 456 231

Kolosserbrief 1,9 1,15 1,17 1,19 1,25–27 1,26 ff. 2,3 2,9 f. 2,14 3,11 4,3

449 368 466 453 465 449, 450, 454, 484 449 453, 466, 496 466 453, 496 449

1. Timotheusbrief 1,4 38, 74 f., 80, 200 f., 205, 211, 259 f., 263, 408, 414 4,3 38 4,7 38 6,4 39, 75, 409

6,20

6,21

6, 34, 36 ff; 40, 57 f., 63, 73 f., 187, 205, 208, 213, 301, 368, 414 f. 39

2. Timotheusbrief 1,12 413 1,17 39 2,18 39 f., 76 2,33 39 3,16 408 4,4 38 Titusbrief 1,14 3,9 3,10

38 39, 75 38, 408

1. Petrusbrief 4,8

359

2. Petrusbrief 3,15 f.

406 f.

1. Johannesbrief 1,1 4,2

72, 399 398 72

2. Johannesbrief 7 72 Offenbarung des Johannes 2,6.15 301, 308, 386 2,24 422 21,15 ff. 443

III. Frühchristliche Schriften und Autoren Clemens Alexandrinus Exc. ex. Theod. 1,3 279, 287 3,1 279 6,2.4 310 7,3 310

22,3.4 23,2 26,2–3 32,1 35,1–2 36,2 43,4

311 f. 351, 403 310–313 312 455, 467 312 455

571

Stellenregister

49,1 53,1 f. 54,1 56,1–3 56,3 56,4 57 60 61,1.3 62,2 63,2 65,2 78,1 78,2

454 287, 318 274, 317, 430, 436 436 ff. 324 326, 436 f. 437 311 311 311 327 312 511 196 f., 201, 245, 512–516, 519 f.

Quis dives salvetur 10,2 229 Strom. I 16,2 51,4 f.

285 227

Strom. II 9 36,2–4 52,5 f. 91,5

242 297 415 227

Strom. III 4,39 38,1 39,2

211 501 252, 502

Strom. IV 5,1 5,3 71,2 71,2 – 74,4 81,1 89,1–3.4

227 229 415 314 208 299 f., 517

Strom. V 3,1 ff. 11,1 ff. 12,1 14,96,3 88,5 16,6 96,3

300 227 227 244 425 228 244

Strom. VI 17,160,1 7,55,4 61,3 124,5

461 461 402 502

Strom. VII 55,6 96,1 96,2.5 96,3 97,3 104,5 106,4

227 500 253, 410, 481, 500 f. 501 488, 502, 525 464 402

Strom. VIII 1,1 f. 2,1–5

229 229

Epiphanius Pan. Haer. 21,1–7 26,1,3 f. 26,1,4 26,1,9 26,2,6 26,8,1 31,5–6 31–34 33,3–7 39,1,3 39,3,5 39,5,1 39,5,2 40,2,1 40,2,8 40,7,3

120 82 f. 83 82 81 81 81 493 81, 302 145 145, 202 f. 81 83 82 111 82

Epistula Apostolorum 1,12 404–406 30,41 404–406 32,42 404–406 Eusebius von Caesarea Hist. Eccl. II 13,6 117 23,1 121 Hist. Eccl. IV 4,3

46

572

Stellenregister

7,1 ff. 7,7 11,8 11,10 18,9

117 f. 82, 208 209 209 126

Hist. Eccl. V 26 28

444 493

Hist. Eccl. VI 13,9

500

Praep. evangelica VII 8,5.9 57 Praep. evangelica XI 6,31 57 Hippolyt Ref. I Proeom. 2

451

Ref. IV 46,6–49,9

89

Ref. V 2 6–9 6–11 6,1 ff. 6,3 6,3 f. 6,4 f. 6,4–10,2 6,5 6,6 7,1 f. 7,7 7,8 f. 7,15 7,20 f. 7,22 7,28 7,30 8,1 8,22 f. 8,27 8,25 8,4 8,5

50, 335 93 102 93 49 f., 66, 103, 335 66 103, 298, 451 431 102, 109 519 102 f., 336 107 88 107 88, 108, 241 104 108 102, 342 337 432 432 431 342 337 f., 452

8,7 8,8 8,9 8,12 8,22 8,26.29.44 8,28 8,29 f. 8,32 f. 8,36–38 8,42.44 9,1 9,2 9,3 9,5

338 287 339, 343 339 326, 455 274 275 50, 238, 273 f., 413 281 340 343 343 338 341 108, 113, 280, 286 9,6.21 274 9,7 109 9,8 f. 102, 104 9,9 343 9,12 49 9,18 f. 340 9,21 107 9,22 103 10,1 109, 451 10,2 102, 104, 109, 166, 343, 451, 516 11 49 f., 343 11,1 451 15,1 87 19,22 94, 468 19,2 f. 95 19,20 96, 455, 467 20,1 468 21,1 87 21,5 96 21,6 96, 455, 468 22 94 22,1 93 23–27 93, 98 23,1 99 23,2 88, 98 23,3 50, 99 24,1 66; 433 24,2 98 f. 26,1 100 26,6.22.26.31.34 100 f. 26,16 433

573

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26,29–32 26,29 27,2 27,3 27,4 27,5 27,6 28 28,1 Ref. VI 7,1 7–19.20 9,3–18,7 9,6 10,2 14,4 ff. 19 f. 20,4 21,1 ff. 24,4 25,1–4 26,2.3 30,6 30,7 34,5 34,7

100 88 340, 433 433 101 99 99 57,119 99

35,1 37,7 39,1 40,2 52,2 ff.

119 124 113 115 115 115 120 119 119 89 89 89 298 66, 298 441, 446 417, 433, 443, 446, 504 433 297, 424 281 281, 441 267

Ref. VII 29,15 31,3.5 15–19 20–27 21,3 25,1 25,3 26,3 26,7 27,5 f.

90 90 91 91, 433 281 434, 454 93, 434, 452 434, 454 434, 452 441

Ref. VIII 9,1 18,3

238 49

Ref. IX 6 Irenäus Adv. Haer. I praef. 1 praef. 2 1,1 ff. 1,3 1–9 3,1 3,6 4,5–7,5 6,1 6,4 7,1 7,5 8,1

8,2 8,3 8,4 8,5 9,1 ff. 9,2 9,4 9,5 10,1–3 10,3 11,1 11,14 12,4 13,2 15,2 16,1 16,2 16,3 18,2–4 18,3 18,4 19,1

51

204, 211 79, 253, 302 267, 305 303, 496, 523 127 266 f., 267, 452, 480, 492 211, 264, 496, 498, 523, 526 309 324, 326, 330, 429, 430, 435 f. 308 312 204, 330, 437 213, 402, 410 f., 431, 498, 501, 522, 532 40 275, 428 f., 430, 437, 498 267 296, 302–304, 310 306, 498 499, 506, 523 302, 306, 499, 501, 506 307 307 270, 495, 506, 523 296, 301–304 48 450 281, 440 519 267 269 40 307 307 267 494

574 20,1 21,4 21,5 23 23,1–3 23,1–31,2 24,3–7 25,5 25,6 29,1–4 30,1–15 30,15 31,3 Adv. Haer. II 1,3 1,4 4,1 10,1 11,5 13,10 19,2 21,2 22,1 25,4 26,1 27,1–3

28,2–4 28,6 28,8 30,7 31,1 Adv. Haer. III 2,1 2,2 2,12 3,1–2 7,1 10 11,1 11,2 11,7 11,11 12,6

Stellenregister

79, 209, 428 297, 440, 516 ff. 393, 517 119, 120 124, 126 127 91 f., 433 255, 262, 265, 480 48 79, 366 335 48 f., 80, 295, 300 48 504 300 314, 316 409, 488, 523, 525 48 220 440 40 263 504 495 212, 255, 262 f., 269 f., 495, 497, 501 255, 266 450 255 440 47 214, 254, 413, 428, 484, 522 450, 484 488 254 506 301, 386 308, 386, 482 48 301, 307, 386, 421, 488 301 254

12,11 12,12 13,1 24,2

263 494 401, 417 213, 215, 221 f.

Adv. Haer. IV praef. 2 6,2 19,2 33,8 35,4 36,8 41,4

210 126, 209 447 506, 524 254, 402 276 412, 413, 495

Adv. Haer. V 8,3 9,1 9,1–3 14,1 ff. 17,4 18,3 19,2 20,2 26,2 33,1–3

525 429 438 f. 438 f. 444 444 440 254,409 126, 209 48

Epid. 34 92

444 f. 221

Johannes Chrysostomus Homilie 18 zu Pastoralbriefen 56 Justinus Martyr Apol. I 26,1–3 26,6 f. 26,8 56

118, 124 f., 377 42, 47, 119 124, 209 118, 125

Apol. II 10,6 15,1

217 124

Dial. c. Tryph. 35,2.6 120,6

42 118, 124 f.

Syntagma

47, 86, 94, 118, 124–127, 209 f.

575

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Oden Salomos 1,1–5 5,1–11 6,8–18 7,4 11,6–8 17,6 22,1–12 22,1–12 22,54 24,1 25,1–12 26,12 27,1–3 28,7 f. 28,10 41,8 41,9 42 42,1.6.18 42,11 ff.

174 174 174 173 176 175 174 175 175 173 174 243 173 175 175 175 175 175 173 175

Origenes Contra Celsum III 11.12 51, 409, 487 Contra Celsum V 16 227 61 f. 51 Contra Celsum VI 7 229 27.30 f. 246 De principiis IV 2,1 507, 522 2,2 233 3,14 230 f. Hom in Num 17,4

227

Comm in Jo XXXII 21 XIII 31 f. II 14

228, 230 276 314

Comm in Mt Frgm. 138 I Frgm. 139

221, 229 229

Comm in Rom VIII

260

Tertullian Adv. Praxeam 13,4

259

Adv. Valentinianos 4,2 300 Adv. Marcionem 1,9 36,1 f. I 20,4 I 9,7 V 11 III 5,4

260 276 404 414 421 77, 403

De anima 2,7 3,1 34 35,2 18,1 18,3 18,4

259 f. 278 120, 125 259, 265 277 278 200, 277 f.

De pudicitia 17,18 7,2 7,6 ff. 8,5 9,1 9,2 f. 19,3

256 259 272 271 260, 270 f. 271 404

De praescr. haer. 4–5 7,5 7,7 8 ff. 8,1 8,6 9 10 ff. 11,3–7 12,4 14,2 14,3 f. 17,1

414 511 414 504 223 228 39 235 225 224 260 402 257, 264

576 17,38 18,1 18,3 19,1 19,3 23 25 f. 33,8 38,1

Stellenregister

257 401 410 410, 488 402 403 483 200, 414 495

38,10 39,5 39,7 40,1 43,2

260 499 490 251 223

Scorpiace 11 11,4

265, 270 257

IV. Nag-Hammadi-Schriften und ihnen verwandte Schriften Oratio Pauli (NHC I/1) 66, 457, 479 Epistula Jacobi Apocrypha (NHC I/2) 1,1–16,30 289 3,25–34 243 7,1 ff. 290 7,22–35 290 8,16 ff. 290 12,12 f. 383 Evangelium veritatis (NHC I/3) 8,20 f. 237 16,31 ff. 346 f., 464 16,31–43,24 176, 464 16,38–17,1 347 17,2–4 237, 347, 466 17,3 f. 346, 361 17,24–18,11 361 18,1 ff. 348 18,11 ff.28 ff. 346, 348 f. 18,22–24 66, 350, 465 20,26 466 20,28–32 469 21,34 348 22,2 ff. 42, 54, 393 22,25 ff. 66, 298, 424, 465 24,17–20 244 24,20 ff. 92, 466 24,25–29 461, 472, 475 24,28–32 517 24,28–25,19 249 28,24 ff. 349 29,34 f. 349

30,32 ff. 31,14 ff.28 ff. 31,35 ff. 31,28–35 35,10 ff. 35,15 37,8 38,11 38,36–38 40,26 f. 40,30–32 42,1 f. 43,1 43,14

383 346 268 237, 349, 351 424, 465 66 66 469 469 66, 298, 424, 465 244 244 244 44

Rheginusbrief (NHC I/4) 44,14–17,24 ff. 352 44,30 ff. 459 44,39–45,5 352 45,2 ff. 352 45,14–18 458 45,23 458 45,24 ff. 352 45,39–46,3 458 48,4 ff. 460 48,5 352 48,26 f. 460 49,29 f. 458 49,9–16 352 49,10 ff. 461 49,15 f. 352 49,22–24 352 Tract Tripart (NHC I/5) 51,1–138,27 466

577

Stellenregister

54,15–24 54,25–55 54,19 ff. 55,26 ff. 57,10 ff. 60,18 ff. 61,24–28 65,14–31 71,9 f. 72,4 f. 108,5–9 113,37 114,31 ff. 114,7–10 114,31–115,11 115,3–11 115,4 116,28 ff. 117,3 ff. 117,4 ff. 117,20 ff. 119,21 ff. 123,20–33 127,25 ff. 128,34 ff. 133,16–21

66 466 466 465 467 465 237 237 237 237 466 382 469 382 471 469 469 467 360 366 360 331 361 355 255 382

Apokr. Joh (NHC II/1) 1,22–24 372 1,22–27 367 2,10 ff. 92 2,20 44 5,4 ff. 376 23,26–31 370 25,34 383 30,11 ff.parr. 369, 372 30,11–31,25 377 30,20 f.par. 374, 382 31,13 f. 369 31,25 ff.parr. 372, 375 31,27 366 Thomasevangelium (NHC II/2) 1.2 239 f., 283, 285 f. 3 244, 284 4 88 8 (Mt 13, 47–56) 238,284 ff. 20 (Mk 4,30–32) 286

21 22 24 49.50 57 63 64 65 75 76 (Mt 13,4.5 f.) 84 96 106 107 (Mt 18,12 f. par Lk 15,3–6)

238, 288 288 44, 238 44 287 238 288 238 279 285 178 238 288 285, 286

Philippusevangelium (NHC II/3) 52,21–24 42 54,5–10 470 56,20–57,19 355 56,29 f. 383 57,25–58,7 383 65,25–29 43 73,1–5 462 73,3 ff. 356 74,12–20 42 77,15–35 375, 463 83,11 ff. 133 f., 359 121,1 ff. 353 Hypostasis der Archonten (NHC II/4) 86,21–26 84, 457 87,17–20 349 91,34 ff. 83 92,95 518 95,5 ff. 84 96,27 44 97,4.9 44 97,13 f. 44, 84 140,10 f. 82 Schrift ohne Titel (NHC II/5) 97,24–127,17 83 102,24 f. 83 117,28–34 435 122,6–9 331 125,8 f. 52 150,10 f.23–25 82

578 155,10 f.

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82

Exegese der Seele (NHC II/6) 127,19–129,5 120 131,13–132,35 120 133,31–134,15 120 Dialog des Erlösers (NHC III/5) 120,3–8 248 129,14 f. 243 129,15 f. 237 132,10–12 383 139,14–18 460 134,19 ff. 515 Apokr.Joh (NHC IV/1) 30,11–31,25 377 30,20 f. 382 31,25–27 372 46,23 ff. 369, 372 46,23–49,13 369 47,6–8 par. 382 49,6 ff. parr. 374 f. Apokalypse des Paulus (NHC V/2) 457 17–24 478 Apokalypse des Jakobus (NHC V/3) 31,21 f. 66 32,28 ff. 394 24,10–44,1 518 Apokalypse des Adam (NHC V/5) 144, 199, 202 77,4–20 66 Der Donner (NHC VI/2) 13,1–13,32 168 127,19–129,5 120 131,13–132,35 120 133,31–134,15 120 Athentikos Logos (NHC VI/3) 27,6 ff. 110 29,3 ff. 110 30,26–24,8 236 33,4–35,22 236

34,18–23 34,32–35,18

236 472

NHC VI/5 Zitat aus Platons Politeia 588b–589b 131, 191 Paraphrase des Seth (NHC VII/1) 1,1–49,9 94–98 Paraphrase des S em (NHC VII/2) 94–97, 143 36,2–24 66 Logos des großen Seth (NHC VII/2) 132 36,2–2,4 66 59,22 ff. 43 f. Apokalypse des Petrus (NHC VII/3) 120 77,33 f. 251, 253 Lehren des Silvanus (NHC VII/4) 84,15–118,7 470, 474 f. 87,19 f. 477 91,10 f. 477 92,11 ff. 159, 477 93,13–25 331 94,19 477 97,27 ff. 475 103,28–104,25 370, 476 108,30–32 475 110,14–111,20 467 111,20–112,8 475 117,5–9 237, 477 118,1 ff. 477 Zostrianus (NHC VIII/1) 44, 82, 132, 135, 202 Epistula Petri ad Philippum (NHC VIII/2) 361–365 132,18 364 134,18 ff. 195 133,12–138,9 363 134,8 f. 364

579

Stellenregister

134,20 ff. 136,10–137,4 137,5 f. 139,18–20

363 f., 460, 515 361–365 364 350

Allogenes (NHC IX/3) 82 Testimonium veritatis (NHC IX/3) 82, 160, 208, 235, 489, 511 31,22–32 43, 515 35,25–36,4 508 37,7 f. 251, 253, 39,31 382 Marsanes (NHC X/1) 82, 135, 191, 202 Interpretation der Erkenntnis (NHC XI/1) 1,12–21,34 470 ff. 10,23 471 10,24 472 10,27–38 471

10,28 12,10 12,28 15,16 ff. 15,26 ff. 17,35 ff. 18,30–38

471 471 382 473 473 473 473

Die Dreigestaltige Protenoia (NHC XIII) 361 35,1 f. 381 36,5 f. 381 38,12 f. 381 38,22 379 39,6 f. 379 49,8 379 42,4.7 351, 381 46,5 f. 381 46,5–50,20 380 46,30–33 381 47,7–15 381 47,13 ff. 382 ff. 50,10–12 379 50,15 381 f.

V. Übrige griechische und römische Literatur Aratus Phainomena

Fragment 40 89

Empedokles 89 f., 342 Epiktet Diss. I 28,20 Diss. IV 1,51 Herakleon Fragment 2 Fragment 13 Fragment 17 Fragment 22 Fragment 31 Fragment 35 Fragment 27

321, 323, 329, 331 f., 436 Fragment 43 328 Fragment 44–47 326 Fragment 46 325, 328, 330 Heraklit

217 217

322, 338 315 340 332 325 310 322, 324

89, 104, 342 f. Homer 102, 104, 108, 342, 499 f. Platon Gorgias 503D

217

Timaios 28c c. VIII

217 444

580 Politikos 258a.e Politeia 588a–589b

Stellenregister

Vita Plotini 41 16.34 131, 191

Plotin 56, 92, 511

24,54 f. 82 f.

Pseudo-Klementinen Hom. II 22 ff. 120 Recogn. II 7 ff. 120

Enneaden II 9,4.30, 10,12 ff. 54

VI. Papyri Pap. Berol. 8502 8,15 15,3 ff. 17,4 ff. 19,6–77,7 20,9–11 parr. 20,19 22,13 22,15 ff. 26,1 ff. parr. 26,11–14 27,5 ff. 27,18 28,7 30,4–8 30,14–31,1 31,15–18 parr. 33,10–12 36,3 f.

237 246 246 365 367, 372 140, 368 45 44, 92, 202 368 368 369, 376 372 372 368 366 368 368 44

44,11 ff. 59,9–12 63,12–64,3 64,5 65,2 67,18 73,9 f. 75,5–7 75,14 f.parr. 75,18 f. 76,4 76,5 ff. parr. 88,8 123,2 ff.

366 368 204 44 44, 202 246 44, 202 369 372 369 44 366 202 243

Pap. Oxyrrh. 645.654 242 Pap. Oxyrrh. 655 44

Autorenregister Abramowski, R. 173 f. Abramowski, L. 102, 174 f. Adam, A. 170, 177 f. Aland, B. 4, 95, 113–116, 124 f., 128, 192, 317–323, 326–333, 454 f., 520 f. Aleith, E. 399 Alkier, St. 13 Alt, K. 54 Altermath, F. 434 Anz, W. 16, 31 f. Arai, S. 35, 120, 141, 514 Barth, C. 281, 332 Bauer, W. 112, 164, 171, 174, 228, 294, 399 f. Baur, F. Chr. 128, 296, 447 Becker, J. 70 ff., 187, 292, 391, 396, 482, 520 Bengsch, K. 207, 209, 211 ff., 220 ff., 453, 496, 514, 523 Berger, K. 6, 37, 61, 74, 122, 124, 419 Bergman, J. 274 Bergmeier, R. 61 f., 121, 123, 127 f. Bethge, H.-G. 195, 282 f., 361 ff. Betz, H.-D. 155 f., 159 Betz, O. 183, 198, 200, 432 Beyschlag, K. 9 ff., 32, 117 ff., 121, 127, 226 Bianchi, U. 35, 515 Blumenberg, H. 19 f., 30, 194 ff., 221, 224, 504, 512 Böhlig, A. 7 f., 10, 30 ff., 62, 76, 131, 133 f., 136, 143–147, 157, 159, 192, 195 ff., 508, 512, 527 Bornkamm, G. 112, 178–183, 484, 513 Bousset, W. 15 f., 19, 25–28, 30 ff., 36, 63, 106, 111, 148–151, 153, 161,

180, 218, 246, 298, 400, 422, 445, 518 Brandenburger, E. 68, 375, 419 f. Braun, F.-M. 292, 343 Broek, R. van den 90, 129, 151, 158, 369–372, 374 f., 378, 521 Brox, N. 44, 47 ff., 55, 117 f., 127, 209 f., 212–215, 220 f, 223, 226, 228 ff., 237 f., 254 ff., 262 ff., 308, 409 f., 414, 421, 480, 503–510, 524 ff. Büchli, J. 163 ff. Bultmann, R. 5 f., 13, 15, 17, 26 f., 71, 171, 333, 350, 375, 378, 391 f., 396 f., 417, 510 Burkitt, F.C. 192 f., 522 Campenhausen, H.v. 234, 403, 413 Cerfaux, L. 465 Charlesworth, J.H. 174 Colpe, C. 23, 33 ff., 43, 62, 64, 84, 95, 126, 139, 143 ff., 159 ff., 169 ff., 182, 184, 186, 198, 200 f., 203, 206, 208, 331, 379 ff., 460, 489, 521, 527 Conzelmann, H. 38, 66 f., 72, 219, 326, 399, 421 f., 426 Dassmann, E. 399 f., 405 f., 412, 430, 445, 448, 456 f., 462, 478, 491, 493 Devoti, D. 316, 323, 329, 334 Dibelius, O. 22, 29, 65, 218, 309, 443, 453 Dodd, C.H. 154 f., 161–165 Dodds, E.R. 526, 528 Dörrie, H. 153 f., 157, 318 Doresse, J. 8, 130, 136 f., 149, 159 Drijvers, H.J.W. 37, 131, 174, 177 ff., 183, 193, 239

582

Autorenregister

Dubois, J.-D. 41, 366, 371, 379, 498 Dummer, J. 52, 81 f., 84, 518 Eliade, M. 3, 147, 152 ff., 156, 162, 189 Evans, C.A. 289, 343 f., 375, 379, 457 Fallon, Fr.T. 44, 248, 282 Faye, E. de 7, 30 f., 36, 192 f. Feldman, L.H. 29 Festugière, A.J. 153, 163 Findlay, A.F. 183 Foerster, W. 8, 92, 95, 119, 126, 277, 300, 309, 313, 315, 336, 433 Fossum, J. 120 f. Frickel, J. 88 ff., 94, 101–109, 113 f., 116, 274 ff., 279 ff., 294, 336–342, 377, 387, 428, 431 f., 504 Gnilka, J. 70, 443, 447 Goppelt, L. 24, 35 Grant, F.C. 20 f. Grant, R.M. 88, 126, 241, 246, 312, 389, 448, 480, 483, 485, 500 Green, H.A. 1, 5 Gunkel, H. 19, 24–29 Günther, J.J. 69 Harnack, A.v. 9, 22, 27, 32, 51, 86, 88, 172, 189, 209, 231 Harnisch, E. 273 Harnisch, W. 288, 481 Haldimann, K. 295, 385, 293 Heidenheim, M. 120 Heinrici, G. 257 f., 302, 310 f., 315 f., 334, 387 f., 309, 415, 431, 448, 490 f., 504 Hengel, M. 3, 15, 21, 27, 29, 52, 61, 64, 72 f., 292, 301, 344, 361 f., 366, 376, 384, 389 f., 397, 527 Heldermann, J. 243, 345, 384, 385, 424, 514, 517 Hilgenfeld, A. 86 f., 116, 119, 124, 126, 188, 209, 388, 391 f., 509 Hofrichter, P. 294, 362, 380

Holzhausen, J. 34, 37, 51, 164 f., 297–300, 314, 322 f., 325, 425 Holzman, H.J. 38, 74, 449 Hornschuh, M. 405 f. Janssen, Y. 239, 351, 378, 379, 385, 475 Janssen, M. 467, 470 ff., 477 Jonas, H. 16 f., 21, 23, 31 f., 35, 54, 87, 92 f., 95, 99 f., 104, 110, 112, 157, 166 f., 171 f., 174, 176 ff., 180 ff., 185, 193 ff., 197, 231 ff., 245 f., 285, 303, 309, 453, 405 f., 512 ff., 516 ff., 521 Käsemann, E. 69, 350 Kaestli, J.D. 180, 316, 371, 385 King, K.L. 84, 142, 408, 510, 518 Kippenberg, H.G. 30, 121, 126, 248, 510 Klauck, H.-J. 15, 21, 30, 61, 177, 179 f., 510, 513 Klein, G. 21, 122 f., 405 Krause, M. 8, 43, 130 f., 136–139, 141, 143, 208, 248, 365 Koschorke, K. 4, 49 ff., 66, 86, 132, 196, 208, 215, 220, 223, 225 ff., 235 ff., 240, 250 f., 253, 361–365, 401, 409 f., 458 f., 461 f., 464, 470, 472 f., 479, 487 f., 491, 502 ff., 507, 513, 516, 525 Kroll, J. 148, 153, 155, 158 Langerbeck, H. 157, 193, 231, 317, 412, 479, 527 LeBoulluec, A. 213, 220, 222, 226, 231, 236, 292, 401, 408 f., 492 ff., 496, 499–502, 507, 524 f. Leipoldt, J. 403 Lindemann, A. 77, 286 f., 399–407, 427, 448, 456 ff., 463–469, 474, 477 ff. Löhr, W.A. 90 ff., 207 f., 434, 491, 528 Loewenich, W. van 292, 294, 301, 304 f., 305, 307, 310, 313, 334, 337 f., 341, 388 f. Logan, A.H.B. 79 f., 116, 127, 142, 247, 282, 376, 379, 512, 516

Autorenregister

Lüdemann, G. 23 f., 118, 121 ff., 125, 470 ff., 477 Luttikhuizen, G.P. 362, 364 f., 380 MacDermot, V. 250, 269 MacRae, G.W. 132, 139, 144, 147, 350 f., 370 Mahé, J.P. 151 f., 154–161 Marcovich, M. 87–92, 94, 98, 100 f., 107, 109 f., 240, 244, 451 Markus, R.A. 250, 452 Markschies, C. 8, 30, 33, 81, 131, 134, 144, 159, 169, 184 f., 189–192, 195 ff., 201, 295–300, 302, 304, 306, 314 f., 330, 346, 424 f., 439, 441 509, 511, 517, 522 Mizugaki, W. 226, 231 Müller, K. 14, 17 f., 21, 23, 267, 303, 452 Nagel, P. 42, 45, 170, 176, 180, 199, 298, 465, 467 Nagel, T. 292, 302, 305, 308–313, 317 ff., 321 f., 324 f., 333 f., 336– 341, 343 ff., 348 ff., 352, 354, 357, 358, 360, 362, 366 ff., 379 f., 382, 384, 387, 389 f., 396 f., 482, 504 Nock, A.D. 164, 192, 197 Noormann, R. 40, 399, 414, 421, 431, 438 f. Pagels, E.H. 43, 249, 313–316, 319– 324, 329, 331 f., 399, 413 ff., 417 f., 434, 436 f., 439, 454, 457, 466 f., 469, 483, 491, 506, 523 Parrot, D.M. 139 Paulsen, H. 18 f., 21, 70, 77 Pearson, B.A. 34 f., 44 f., 57 f., 67, 82–85, 130, 132 ff., 141 f., 150, 156, 187, 191, 199, 202 f., 523 Peel, M.L. 247, 352 ff., 459, 474 f. Pfleiderer, O. 407 Perkins, Ph. 80, 133, 147, 162, 186, 188 f., 200, 382 f. Pétrement, S. 67, 80, 96, 132, 134, 136, 142, 163, 169, 192, 485, 526 Plisch, U.K. 289, 470 f., 473, 518

583

Poffet, J.-M. 312 f., 315, 320, 385 Pokorný, P. 33, 108, 350 f., 383, 389, 445 Puech, H.-Ch. 36, 54, 80 f., 83, 242 f., 246, 288 Quispel, G. 3, 29, 33, 61, 91, 168 f., 178 f., 231, 239, 282, 319, 464, 509, 511 Reitzenstein, R. 30 f., 102–107, 109, 148 f., 155 f., 159, 161 f., 177 Robinson, J.M. 7, 130, 138, 159, 240, 377 ff., 384 Röhl, W.G. 343 f., 349, 354, 356, 358, 362, 365, 388 Rudolph, K. 7, 10 f., 17, 21, 23, 29, 32 f., 34, 37, 42, 46, 58 f., 64, 71, 79, 91, 93, 97, 103, 112 ff., 116 f., 119–121, 123, 125 f., 130 ff., 134, 137 f., 140, 146, 150 f., 157 f., 160, 166 ff., 171–175, 178 f., 182, 193 f., 198 f., 201, 205 f., 232 f., 245 f., 248, 257, 291, 303, 316, 375 f., 378, 385 ff., 411, 434, 470, 482, 503, 509 f., 516, 521 Säve-Söderbergh, T. 169 Sagnard, F. 195, 204, 210, 220, 250, 267, 309–318, 403, 437, 454, 467 Sanders, J.N. 292 ff., 303 Schenke, G. 377 f., 380 ff. Schenke, H.M. 7, 9, 11, 43, 63, 85, 103, 106, 129 f., 133, 136, 141, 146, 159, 176, 201, 269, 282 f., 287, 346, 354–358, 366, 375, 377 f., 380 ff., 385, 413, 419, 424, 462, 464, 470, 474 f., 514, 521 Schneider, C. 20, 219 Schlier, H. 7, 70, 106, 173, 411, 442–445, 448, 524 Schnelle, U. 390 f., 396 f. Schottroff, L. 70, 319 Schrage, W. 65–68, 282, 416, 426, 434 f. Sevrin, J.-M. 291, 312, 358 Spicq, C. 164

584

Autorenregister

Steinmetz, F.-J. 449 f., 483 Stroumsa, G.G. 33, 101, 134, 199, 205, 481, 483, 491 Strutwolf, H. 158, 231 f., 234, 269, 316, 328, 330, 437, 492 Tardieu, M. 41, 43, 96, 139, 366, 368 f., 371, 373 f., 498 Theißen, G. 6, 33, 123, 125, 197, 239, 418, 425, 427, 484, 508, 520, 525 Thyen, H. 72, 334, 378 Till, W.C. 32, 111, 130, 137, 141, 196, 209, 243, 279, 365 Tröger, K.-W. 7 f., 84 f., 97 f., 108, 120, 149 ff., 159 f., 168, 199, 214, 379 f., 519 Trumbower, J.S. 391 ff., 395 f. Turner, J.D. 142, 376 ff., 381, 383 ff., 511 Turner, H.D. 379 Vouga, F. 6, 71, 239, 295, 398

Waldstein, M. 365 ff., 369–374, 377, 509 Waszink, J. 256, 278 f. Weder, H. 288 f., 291, 295, 385, 393 Widman, M. 65, 419 Wiles, F.M. 292, 345, 389, 392 Windisch, H. 208, 421, 442, 468 Wilson, R. McL. 10, 29, 34, 36, 63, 101, 104, 116, 123, 131, 135, 137, 144 ff., 156, 158 f., 163 f., 183, 186 f., 234, 238, 240, 257, 336, 341, 346, 354, 379, 384, 462, 470, 485, 517, 526 Winter, M. 67, 426 f., 429, 435 Wucherpfennig, A. 302 ff., 312–316, 318, 321–324, 326 ff., 330 ff., 335, 349, 357, 386, 389, 430, 436, 512 Zahn, Th. 400, 410, 415, 417, 431, 447, 483 Zandee, J. 474 f. Zumstein, J. 72, 292 f., 295, 385 f., 389 f., 398

Sachregister Acta Pauli 404 Acta Thomae 177–184 Adam-Literatur 132 f. Adaption 279, 281 f., 291, 295, 357, 411, 434, 446, 454 f., 492, 494 f. Ägypterevangelium (NHC III/2) 88, 137, 143–145, 158, 199, 202 f. Affinität zur Gnosis (Gnosisnähe) 64– 68, 70–73, 76, 186, 291 f. 294, 305, 345, 388, 391, 393, 400 f., 447, 456 ff., 474, 478, 480–485 Allegorie / Allegorese 181, 210, 212, 255–258, 262–265, 270, 273, 338, 341, 409 f., 481, 497 Apokalypse – jüdische 43, 82, 133 Aristoteles-Rezeption 89–93, 115, 490 Aufstieg 71, 111 f., 232 f., 333, 372 f., 440 Basilides (Gnostiker) 53, 90–93, 208, 281, 402 f., 428, 433 f., 441, 454 Basilidianer 201, 402, 441 Brautgemach 249 f., 279, 287, 312, 477 Christianisierung – sekundär 63, 96, 101, 105, 112, 131, 135–147, 185 f., 379 ff., 385 – De- 63, 97 f., 132, 135 f., 145 ff., 149 Determinismus 320 f., 325 ff., 392, 396 f. Doketismus 384 f. Eklektizismus 31, 211, 257, 409 Empedokles 89 f., 342 Erlöster Erlöser (salvator salvandus) 6, 85, 311, 319, 468

Erlösergestalt 90, 112, 134, 145, 375 Eschatologie – apokalyptische 246 f. – futurische 248 f., 323 – gnostische 247 f., 288, 311 – präsentische 245–249, 297, 299, 352 f., 462 – Individual- 245 f – Universal- 460 Eugnostosbrief NHC III/3 und IV/1) 8,132, 137 Genealogie 17, 38, 46, 74 f., 200–205, 211, 326, 375 Gleichnisse (Parabeln) 108, 212, 259– 291, 339, 411, 480 f., 495 ff., 525 Gnostizismus 6 ff., 11, 16, 31–37, 148 f., 156 ff., 193 f., 336, 475, 509, 521 Gnostiker 41–57 Gnosis – Definition 150 f. – Messina-Definition 34–37 – als „Interpretationsprinzip“ 214, 356, 507, 524 ff. – philosophisch 115–117, 152 ff., 166, 192 ff. – außer-christlich 1, 8–11, 54, 62 f., 82 ff., 93–98, 128–149, 160, 165, 182–185, 261, 374 ff., 520–525 – vor-christlich 1, 8, 10 f., 36, 61 f., 71, 76, 96, 104, 112, 130, 147 ff., 160, 165, 171 f., 178, 182, 184 ff., 416, 525 – nach-christlich 6, 10 f., 62, 168, 170, 185 – jüdisch 132–135, 154 ff., 168 f., 198 f.

586

Sachregister

Hermetik 148–166 – Poimandres 105 f., 154–165 Heilsunfähigkeit 439 Himmelsreise der Seele 245 f., 394, 518 Hypothese 4 f., 8 ff., 50, 57 f., 80, 96, 112, 135, 168, 170, 181, 191, 210 ff., 234, 239, 261, 306, 327, 336, 361, 416, 431, 455 f., 465, 482, 491, 499 f., 502, 505 ff., 510 f., 513, 520–527

Markus Magus 281 Memar Marqa 120 Mythos – gnostisch 54, 123–126, 164, 209, 214, 245, 250 – Ur- / Grund- / Kunstmythos 190–200 – vom „Erlösten Erlöser“ 6, 85, 175 ff. Mysterion des Brautgemachs 312, 355

Inkarnationsthelogie 351, 353, 363, 468 Innerer Mensch (Röm 7,22 und 2 Kor 4,16) 439 Interpretationskonflikt 72, 292 ff., 307 f., 389, 398, 401, 404

Naassener – Homilie 101 ff. – Predigt 93, 103, 106, 112, – Psalm / Hynmus 102 ff., 107–112, 343, 519 – Schrift 103–110, 274 f., 337, 339– 343, 387 Negative Theologie 92 Nikolaiten 41, 52, 66 f., 301, 308, 386, 422 Noetus 51

Judentum – alexandrinisches 154 f. – gnostisierendes 168, 172 f., 197–199 – hellenistisches (Diaspora) 13–15, 21, 27–31, 164, 219, 474 – rabbinisches 28 – samaritanisches 120 f. jüdische – Apokalyptik 28 ff., 422 – Weisheit 28, 374, 484 Justin (Gnostiker) 50, 57, 66, 86, 88, 93, 98–101, 119, 340 Kanon der Wahrheit (regula veritatis) 5, 55, 210–214, 233 f., 254, 259– 270, 293, 301, 386, 410, 413, 420, 428, 498, 522, 525 Klimax Suchen-Finden – Pap. Oxyrrh. 654 (Thomasevangelium) 214 ff. – NHC II/7 (Thomasbuch) – NHC III/5 (Dialog des Erlösers) – NHC IV/4 (2. Jakobus-Apokalypse) – NHC I/2 (Epistula Jacobi Apocypha) Kreuzestheologie 311, 350, 422, 444 f., 450 Mandäismus / Mandäer 148, 166–177 Manichäismus 33, 123, 147 f., 169– 181

Oden Salomonis 172–177 Ophiten 49–53, 101 Parabel s. Gleichnisse Pastoralbriefe – Irrlehren 36–40,57 f., 73 ff. Paulus – Apostel der Häretiker 401–405 Perlenlied 148, 170 ff., 177 f., 180, 183 Philon Alexandrinus 155, 256, 326 Pistis Sophia 7, 84, 130, 174 f., 237 f., 241, 245, 278 f. Platonismus 153, 158, 191 f. Platon – Rezeption in der Gnosis 191 f. Pleroma – Kenoma 250, 447, 455 – Äonen 111, 145, 203, 267 f., 303 ff., 316 ff., 433, 446, 452 ff., 481, 496 f., 515 – Restitutio in integrum 199, 249 f., 288, 311, 314 f., 345, 460 Pronoia-Hymnus (NHC IV/1) 361, 369–378

Sachregister

587

Ptolemaeus, Schule des 259 ff., 302 ff., 310 Porphyrius, De absentis 54, 82, 197 Poimandes 105 f., 149 f., 154–158, 161–165

Successio haereticorum 46 f., 50 f., 118 f.

Religion – Gnosis als 3–6, 244 – Universal- 22 – Welt- 13, 33, 98, 169, 189 Religionsgeschichtliche Schule 5, 18 f., 62

Valentinianismus 41–55, 81, 110, 119, 126–128, 163 f., 190–192, 201, 204, 208, 210, 231–234, 253, 258, 269 f., 272, 276–281, 295–346, 360, 371, 386 ff., 392, 395 f., 400–403, 410 ff., 415 f., 420, 422–454, 481 ff., 517, 522

Samaritaner 46, 49, 118–125, 276, 314, 317, 319–322, 325, 329, 333, 340 f. Seth (Sethianer) 11, 43 f., 49, 52, 80– 83, 86 f., 93–101, 119, 132–136, 141.145, 200–205, 274, 317, 361, 430, 436, 455 f., 468, 504 f. Simon Magus 10, 42, 46–49, 78, 117, 190 f. Simonianer 41, 51, 113, 116 ff., 120–128, 280, 286, 377

Thomasevangelium 6, 88, 108, 178, 238 f., 244, 282

Weltreligion 13, 33, 98, 509 Weisheit – Dualistisch 67 f., 71 f., 375 f., 413, 419, 422 – Tendenz zur Gnosis 375 f., 413, 419, 475 – Sophiamythos 314 – Formulierung 476 f. Wirkungsgeschichte 61, 64, 85 f., 153, 164