»Freiheit heißt, die Angst verlieren«: Verweigerung, Widerstand und Opposition in der DDR: Der Ostseebezirk Rostock 9783666351143, 9783525351147, 9783647351148

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«: Verweigerung, Widerstand und Opposition in der DDR: Der Ostseebezirk Rostock
 9783666351143, 9783525351147, 9783647351148

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Analysen und Dokumente Band 40

Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)

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Christian Halbrock

»Freiheit heißt, die Angst verlieren« Verweigerung, Widerstand und Opposition in der DDR: Der Ostseebezirk Rostock

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Umschlagabbildung: Im September 1962 drangen zwei Jugendliche nachts in die Goethe-Schule in Gnoien ein, drapierten im Flur ein Skelett aus dem Biologie-Raum mit einem Bild des SED-Chefs Walter Ulbricht und schrieben mehrere systemkritische Losungen an. Mit ihrer Tat hofften sie, andere Menschen dazu bringen zu können, gleichfalls gegen die SED tätig zu werden. Die Aufnahme entstand als Tatort-Foto bei der Spurensicherung durch das MfS. Die beiden Jugendlichen wurden verhaftet und zu je sechzehn Monaten Haft verurteilt. Foto: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 1934/62, Bl. 73.

Mit 8 Tabellen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-35114-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Einleitung......................................................................................................11 I Bezirk Rostock: Forschungsstand .................................................18 II Quellen ........................................................................................28 III Widerstand: Kategorien und Motivsuche .....................................32 1

Das Untersuchungsgebiet: der nördlichste DDR-Bezirk .......................39 1.1 Aufbaubezirk, Abriss, Verfall und Systemkonkurrenz ...................40 1.2 Das »Tor zur Welt« im Sperr- und Grenzgebiet: die Häfen in Rostock und Wismar und die Skandinavienfähren .......................46 1.3 Bilder im Kopf: Otto von Bismarcks verspätetes Mecklenburg und »im Norden – da war doch eh nichts los«..............................51 1.4 Gegenwind aus dem Norden der DDR ........................................58

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Vier Jahrzehnte DDR im Bezirk Rostock: ein kurzer Überblick............67 2.1 Die späten vierziger und die fünfziger Jahre .................................68 2.1.1 Ernst Lohmeyer, Arno Esch, Siegfried Witte, Willy Jesse und Walter Kolberg...................................................70 2.1.2 SED-Kirchenkampf zwischen Boltenhagener Bucht und Stettiner Haff .............................................................78 2.1.3 Der 17. Juni 1953 an der Küste.........................................88 2.1.4 Spionage, Diversion, Sabotage: Motive und Hintergründe ....................................................................95 2.2 Die sechziger Jahre .....................................................................111 2.2.1 Widerstand gegen die Kollektivierung in der Landwirtschaft und im Fischereigewerbe .........................112 2.2.2 Widerspruch und Widerstand nach dem Mauerbau ........118 2.2.3 Das Jahr 1968. Volksbefragung und Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ....................121 2.3 Die siebziger Jahre .....................................................................127 2.3.1 Widerspruch, Aufbegehren und Widerstand gegen die Biermann-Ausbürgerung .................................................129 2.4 Die achtziger Jahre .....................................................................140

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Inhalt

2.4.1 Widerstand und bezirksübergreifende Fahndung oder Unmut kennt keine Bezirksgrenzen .................................141 2.4.2 Kirchliches und unabhängiges Friedensengagement.........148 2.4.3 Das Jahr 1989 im Bezirk Rostock: Aufbruch zu neuen Ufern ...............................................................................158 3

Formen des Widerspruchs und des Widerstands .................................161 3.1 Politisch abweichendes Verhalten...............................................161 3.1.1 Absicht und Wirklichkeit ................................................161 3.1.2 Nonkonformität, Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition ...............................................................163 3.1.3 Schwierigkeiten der Begriffsbestimmung – Die »Dienstpflichtverletzung« – zwischen mitmenschlicher Kulanz, abweichendem Verhalten und Widerspruch .......166 3.1.4 Nonkonformismus – Verweigerung .................................179 3.1.5 Protest: Von der Weigerung zum Widerspruch ...............192 3.1.6 Widerstand ......................................................................202 3.1.7 Opposition ......................................................................209 3.2 Opposition: fünf Gehversuche ...................................................213 3.2.1 Opposition in den fünfziger Jahren? Orientierungspunkte und Überlegungen ........................213 3.2.2 »Externe« Opposition ......................................................216 3.2.3 Gehversuch zwischen Widerstand und oppositionellem Aufbegehren ....................................................................217 3.2.4 Oppositionell: mehr als nur reaktiv .................................220 3.2.5 Gruppenfindungsprozesse und Handlungsoptionen: der OV »Michael« der BV Rostock ..................................223 3.3 Fördernde und hemmende Faktoren von Widerstand und Opposition.................................................................................232 3.3.1 Die Juristische Hochschule des MfS zu den Gruppen unter dem »Dach der Kirche« und Opposition im Bezirk Rostock.................................................................232 3.3.2 »Schutzdach« der Kirche? Anmeldepflicht, Verbote und Ordnungsstrafen für nichtreligiöse Veranstaltungen im Pfarrhaus..........................................236 3.3.3 Politische Gegnerschaft und Opposition unter dem »Dach der Kirche« ...........................................................245

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Inhalt

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3.3.4 Widerspruch und Opposition auf Landpartie ..................254 3.3.5 »Legalistisch« oder »gesetzeswidrig«? Widerspruch und Opposition in Verboten-Land .........................................257 Exkurs: Friedensarbeit im Jakobitreff in Stralsund – Motive, inhaltliche Bezüge, Systemkritik ......................................263 3.3.6 Strukturen, Netzwerke und Solidarität ............................271 3.3.7 Ringen um Öffentlichkeit................................................275 3.3.8 Unter dem »Dach der Kirche« und zugleich zwischen Widerstand und Opposition – das Ökumenische Zentrum Umwelt Wismar ...............................................281 3.3.9 Aufbruch hin zu einer oppositionellen Szene in Wismar: Aktionen und Reaktionen .................................289 3.4 Die Ausreiseantragsteller ............................................................292 3.4.1 Diskussion um die Ausreiseantragsteller ..........................292 3.4.2 Gemeinsamer Protest und Solidarität mit Ausreiseantragstellern ......................................................299 3.4.3 Aktionen von Ausreiseantragstellern ................................303 3.4.4 Ausreiseantragstellergruppen............................................311 3.5 Fazit – eine erste Zwischenbetrachtung ......................................322 4

Alltag – Interaktion, Motive, Herkunft, biographische Verläufe im Zusammenhang mit Nonkonformität, Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition ...............................................................327 4.1 Alltag .........................................................................................327 4.1.1 Interaktion und Prozesshaftigkeit im Alltag .....................332 4.1.2 Die alltägliche Meckerei. Mehr als nur ein Volkssport im Alltag? ........................................................................337 4.1.3 Besetzter Wohnraum: von der Nonkonformität über die Subkultur zum Widerstand im Alltag ........................349 4.1.4 Motivsuche: »We can be heroes just for one day [...] We could be heroes just for one day« ...............................362 4.1.5 Herkunft: »Elternhaus und Schule«? ................................368 4.1.6 Wechselhafter Widerspruch oder Diskontinuität und Kontinuität? ....................................................................378 4.2 Solidarität vs. Entsolidarisierung: Ursachen und Folgen .............381 4.2.1 Die Angst vor der Courage der Anderen ..........................381

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4.2.2 Gerüchte, Unsicherheit, Stress und Missgunst – das subtile Wirken der Staatssicherheit und die paralysierende Kraft von Überwachung und MfSMythos ............................................................................393 4.2.3 Das Engagement Einzelner und Indifferenz auf Kosten der Solidarität ..................................................................396 4.2.4 Solidarität in einer sich entsolidarisierenden Gesellschaft .....................................................................403 4.2.5 Wege der Solidarität: von der individuellen Verweigerung zur kollektiven Unterstützung bis zum offenen Aufbegehren .......................................................408 4.2.6 Solidarität aus der Gemeinschaft heraus: Die Zeugen Jehovas und der Fall Leopoldshagen ................................422 4.3 Fazit – eine zweite Zwischenbetrachtung ...................................425 5

Kontinuität und Wandel: Dauerthemen der Nonkonformität, der Verweigerung, des Protestes und des Widerstandes .............................429 5.1 Streiken (ver)lernen(?) Der 17. Juni 1953 und sein langer Schatten .....................................................................................433 5.2 Dauerthema Selbstbehauptung: Sozialismus bedeutet Umgestaltung plus Belästigungen im ganzen Lande ...................442 5.3 Widerspruch gegen die Kirchenpolitik der SED.........................445 5.4 Dauerthema Flucht als Widerstand? Kein Recht auf Reisefreiheit und Flucht über die Häfen.....................................458 5.5 Widerstand zwischen Kontinuität und Wandel – Fahnenabrisse und die »Mißachtung staatlicher und gesellschaftlicher Symbole« ........................................................468 5.6 Exkurs – Bilder und Überlieferungen vom Widerstand: »jung« und »männlich«? .............................................................484 5.6.1 Jugendlicher Übermut, Randale und Rebellion: Phantasiegestalten in der MfS-Überlieferung zum Widerstand ......................................................................486 5.6.2 Rollenbild und Aktenüberlieferung: unterschätzte Frauenpower ...................................................................494 5.6.3 Nachwachsende Unruhestoffe .........................................502

Schlussbetrachtung ......................................................................................507

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Inhalt

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Anhang ........................................................................................................513 Abkürzungen ......................................................................................513 Auswahlbibliografie ............................................................................514 I Erinnerungsberichte ........................................................514 II Literatur zu Widerspruch, Widerstand und Opposition – allgemein ......................................................................515 III Literatur zu Widerspruch, Widerstand und Opposition im Bezirk Rostock ...........................................................518 IV Nachschlagewerke ...........................................................524 Personenregister ..................................................................................525 Ortsregister .........................................................................................533 Angaben zum Autor............................................................................539

Verzeichnis der Tabellen Tabelle 1: »Schwerpunktpersonen«, 1978, für die DDR-Bezirke und Berlin (Ost) ..........................................................................................58 Tabelle 2: Aufstellung der »Basisgruppen« der politischen Untergrundtätigkeit 1989 .....................................................................61 Tabelle 3: Wohnorte der »Exponenten« der PUT 1989 laut MfS ..................63 Tabelle 4: Zahl der gemeldeten mündlichen Proteste nach der Biermann-Ausbürgerung in den einzelnen DDR-Bezirken und in Ost-Berlin ......................................................................................138 Tabelle 5: Widerstandshandlungen 1973–1979. .........................................474 Tabelle 6: Angaben zu den Urhebern (= [mindestens] 278 Personen) laut Delikte- und Kerblochkarteien 1973–1979..................................474 Tabelle 7: Ausgang der Ermittlungsverfahren u. Ä., soweit bekannt geworden bzw. feststellbar...................................................................476 Tabelle 8: Anzahl Beschädigungen nach Alter und Geschlecht der Betreffenden (sofern Angaben vorhanden)........................................478

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Einleitung

Bereits das »Aufbaugesetz« vom 6. September 1950 verwies auf die Bedeutung, die den Küstenhäfen beim forcierten Ausbau der Industrie zukam. Unter den beim »planmäßigen Aufbau« zu bevorzugenden Städten, den »wichtigsten Industriezentren der Republik«, wurden gleich zwei Orte im Norden genannt. 1 Paragraph 2 nannte neben den traditionellen Industriezentren – Berlin, Dresden, Leipzig, Magdeburg, Chemnitz, Nordhausen und Dessau – auch die Städte Wismar und Rostock. Ihre Häfen konnten noch als weitgehend unbedeutend gelten. Nur schwach entwickelt war zudem die Werftindustrie; mit den Heinkel-Flugzeugwerken (und dem Arado-Flugzeugwerk in Warnemünde) verfügt lediglich Rostock über einen industriellen Schwerpunkt. 2 Das Aufbaugesetz zeitigte bald konkrete Folgen: Westlich von Wismar entstanden im Neubaugebiet Wendorf ab 1950 Wohnungen für etwa 18 000 Menschen. Hier sollten die Arbeiter leben, die im Hafen und auf der MathiasThesen-Werft benötigt wurden. Rund um ein Hochhaus im Stile der Berliner Stalinallee baute man eine Stadt, die, wie sich ein Zeitzeuge erinnerte, »ganz von sozialistischer Kultur geprägt sein« sollte. 3 Im ersten Bebauungsplan war noch eine Fläche für eine Kirche mit Pfarrhaus ausgewiesen worden. Doch rückte man schnell hiervon ab. Bald stand fest, dass Wendorf ähnlich wie Eisenhüttenstadt ohne eine Kirche entstehen sollte. Nach längeren Vorgesprächen erklärte Wismars Oberbürgermeister Herbert Fiegert den kirchlichen Vertretern am 15. Oktober 1957, dass sie sich die Baupläne »für alle Zeiten [...] aus dem Sinn schlagen« könnten. Wie in Eisenhüttenstadt, wo der findigen Gemeinde seit 1951 ein ausgemusterter Zirkuswagen als Kirche diente, sann man auch in Wismar nach einer Alternative. Ein solcher Wagen zeugte vom Beharrungsvermögen einiger weniger Christen in dem sozialistischen

1 Gesetz über den Aufbau der Städte in der Deutschen Demokratischen Republik und der Hauptstadt Deutschlands, Berlin, (Aufbaugesetz). Vom 6. September 1950. In: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, den 14. September 1950, Nr. 104, S. 965–967, hier 966. 2 Albrecht, Martin: Heinkels Sprengniete gehen um die Welt. In: Zr. 11 (2007) 1, S. 40–44; Wittig, Peer: Das Aradowerk in Anklam. In: Zr.3 (1999) 1, S. 46–48; Fordan, Paul: Meine Zeit bei den Heinkel-Flugzeugwerken. In: Zr. 7 (2003) 2, S. 77–87. 3 Dürr, Martin: Aus der Geschichte der Kirchgemeinde Wismar-Wendorf. Vom Kirchwagen zum Haus der Begegnung. In: Mecklenburgia Sacra, Bd. 9 (2006), S. 108–143.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Aufbaugebiet. 4 1958 griff die kleine, sich im Aufbau befindende Gemeinde um Pfarrer Martin Dürr zur Selbsthilfe. Es gelang ihr, den Besitzer des »einzigen Privatgrundstücks [...] im Bereich dieses Stadtteils« für ihre Pläne zu gewinnen. Gegen eine Miete stellte er einen Teil seines Hofes zur Verfügung. Er diente der Gemeinde fortan als Abstellplatz, wie es juristisch korrekt heißen musste, da ein Aufstellplatz unter die Genehmigungspflicht fiel. Die Gemeinde erwarb schließlich den Wohnwagen eines pensionierten Dompteurs und hielt am Abend des 9. September 1958 in ihm ihre erste Andacht ab. 5 Allein die Existenz des Kirchenwagens, so Pfarrer Martin Dürr, musste den Funktionären als Provokation erscheinen. 6 Vom Ansatz her geht es in dieser Arbeit nicht um einzelne spektakuläre Widerstandstaten. Von Interesse ist eher das, was sich als »Kultur des Widerstehens« umschreiben lässt: Menschen, die im Alltag durch ihr Auftreten unterstrichen, dass sie sich nicht mit dem SED-Staat identifizierten und für sie andere als die in der DDR vorgegebenen Werte galten. Die alltägliche Verweigerung und der alltägliche Widerspruch waren Teil der Kultur des Widerstehens, auch wenn sich manches, was die Menschen vor Ort bewegte, nicht in den Stasi-Akten wiederfinden lässt. Hierzu zählten auch das Beharren und die Verweigerung von Menschen, die andere hierdurch ermutigten oder ihnen gar als Vorbild dienten. Ziel ist es, das Spektrum politisch abweichenden Verhaltens in seiner Breite zu erfassen. In den vier Jahrzehnten der DDR stellten sich Menschen in verschiedenster Form gegen den SED-Staat. Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass sich – bezogen auf die entsprechenden Jahrzehnte – bestimmte Charakteristika wie Unterschiede benennen lassen. Sie mögen sowohl die Intensität, Radikalität, zeitliche Dauer und inhaltlichen Bezüge der Widerstandstaten betreffen. Ob es ebenso Kontinuitäten im Widerstandsgeschehen gab, wird im Laufe der Arbeit zu klären sein. Nicht selten waren die Biographien der Handelnden, so eine weitere Annahme, von Brüchen und dem Wechsel in ihrem Verhalten gegenüber dem Regime bestimmt. Auch die Folgen, mit denen sich die, die aufbegehrten, konfrontiert sahen, fielen von Fall zu Fall und selbst bei vergleichbaren »Delikten« unterschiedlich aus und variierten im Laufe der Jahre. Bei der Ahndung politischer Straftaten folgte das MfS dem ihm eigenen System »operativer« Erwägungen und den von der SED ausgegebenen personen- wie zeitabhängigen innenpolitischen Maximen. 4 Insgesamt gab es zu diesem Zeitpunkt vier Kirchen-Wagen in der DDR: »›Goßners Erbe‹ – aus der Arbeit der Goßner-Mission in der DDR«. In: Die Kirche. Evangelische Wochenzeitschrift, 13. Jg., Nr. 13, 30.3.1958, S. 1 f. 5 Dürr, Martin: Aus der Geschichte der Kirchgemeinde Wismar-Wendorf. Vom Kirchwagen zum Haus der Begegnung. In: Mecklenburgia Sacra, Bd. 9 (2006), S. 108–143, hier 111. 6 Ebenda, S. 115.

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Einleitung

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Nonkonformität, Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition wurden konkret und verwirklichten sich stets im praktischen Handeln. Wer sich verweigerte, Widerspruch und Widerstand leistete oder sich oppositionell betätigte, befand sich dabei in einer Minderheitssituation. Anhand einzelner Fallbeispiele soll daher in der Arbeit nach der Zahl der Widerstandshandlungen insgesamt gefragt und die Reaktionen der Umwelt miteinbezogen werden. In der Arbeit geht es nicht nur darum, nach den sichtbaren Resultaten von politisch abweichendem Verhalten zu fragen. Auch ist es nicht das Ziel, jene Handlungen entlang einer Zeitachse von den Fünfzigern bis in die achtziger Jahre aufzuzählen. Welcher Impuls und welche »Idee«, so soll gefragt werden, standen hinter dem Widerspruch, Widerstand und oppositionellen Handeln? Wie erklärten die Akteure sich und anderen ihr Handeln, wo lagen die Motive und wie rechtfertigten sie ihre politische Normabweichung? Unter welchen Bedingungen wurden sie aktiv? Um die einzelnen Äußerungsformen von politisch abweichendem Verhalten begrifflich einzuordnen, sind in der Vergangenheit verschiedene Definitionen herangezogen worden. Verwandt werden hier die Begriffe Nonkonformität, Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition. Sie sollen zum einen den dynamischen Prozess, der dem Vorgang häufig innewohnte, betonen, zeigen zugleich aber auch, dass es sich konkret jeweils um eigene Stufen der Konfrontation mit dem System handelte. Diese Entscheidung lässt sich plausibel begründen: So waren die Grenzen zwischen den einzelnen Äußerungsformen politisch abweichenden Verhaltens häufig fließend. Hinzu trat der Umstand, dass eine Tat häufig in eine weitere einmündete und sich die »Idealtypen« in der Praxis oft als »Mischformen« präsentierten. Nonkonformität, Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition vollzogen sich nicht im »luftleeren« Raum: Das, was als politisch abweichendes Verhalten gelten musste, schien durch die Sanktionsandrohung des Staates vorherbestimmt. Jene ergab sich aus dem übersteigerten Lenkungs- und Kontrollbedürfnis, mit dem die SED weithin die Gesellschaft durchdrang. Vom Anspruch her verfolgte sie das Ziel, so gut wie alles zu kontrollieren und vorzugeben. Selbst weniger spektakuläre Unmutäußerungen wurden protokolliert, als Vorkommnis abgeheftet und zum Teil geahndet. So entstand in der Bevölkerung der Eindruck, dass sich bereits im »Volkssport Meckern« der Widerspruch, mitunter gar der Widerstand gegen das Regime artikuliere. Der Staat seinerseits konnte sich nie sicher sein, ob aus dem verbal geäußerten Widerspruch, sofern er nicht konsequent dagegen vorging, nicht mehr erwuchs und dieser im Aufruhr mündete. Da sein Sicherheitsdienst schon rein technisch nicht in der Lage war, die Gesellschaft flächendeckend zu kontrollieren, nährte er die Vorstellung von der allumfassenden Kontrolle. Mit Drohungen, Festnahmen, Inhaftierungen und Verurteilungen hielt er das Bild von seiner Om-

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

nipotenz als Inszenierung aufrecht. Die Bedrohung und Strafverfolgung diente darüber hinaus weiteren Zielen: Neben der Unterdrückung von Widerspruch und Protest übte der Staat Vergeltung. Er rächte sich an denen, die sich seiner Heilslehre nicht unterordneten und gegen die bestehenden Normen verstießen. Nicht nur die Reaktion des Staates, sondern jede politisch abweichende Handlung enthielt in sich mehrere Komponenten. Mit der Kritik an den Verhältnissen ließen die Regierten zuallererst ihrem Ärger freien Lauf und verschafften ihrem Unmut Gehör. Häufig diente die öffentliche Empörung noch einem weiteren Zweck: Sie diente der Suche nach Gleichgesinnten und von Übereinstimmung vor Ort. Der Staat und sein Geheimdienst unterstellten ihren Kritikern ohnehin mehrheitlich, dass ihnen die Empörung »nur« den Anlass dazu bot, um sich situationsbezogen mit anderen zu verständigen. Ob dem so war, und welche Aussagen sich hierzu treffen lassen, soll im Lauf der Arbeit ergründet werden. Die Taten waren zugleich, so eine darüber hinausgehende Deutung in dieser Arbeit, oft ein Akt der Selbstbehauptung: Mit ihr wurde der vom System eingeforderten ideologischen Eindeutigkeit widersprochen. Auch ging es häufig nicht einzig um den Anlass, der zur Kritik herausforderte, sondern um den Protest gegen das Regime als solchen. Doch aus welchen Motiven wurden Menschen aktiv? Lässt sich die Motivlage der Handelnden thesenartig benennen und auf bestimmte Aussagen reduzieren: Erkenntnisleitend soll hier die Annahme sein, dass das politisch abweichenden Verhalten maßgeblich drei Zielen diente: Neben dem Akt der Selbstbehauptung, der erfolgte, um das eigene Selbstwertgefühl nicht zu verlieren, standen Taten, die sich an die Regierenden direkt wandten, und Taten, die auf die Ermutigung und Mobilisierung Gleichgesinnter im Land setzten. Häufig kam, auch davon wird auszugehen sein, mehr als nur einer der Aspekte zum Tragen. Nicht alles, was eifrige Denunzianten dem MfS meldeten, muss als Widerstand gelten. Manch eine anscheinend eher harmlose Äußerung wurde von der Stasi als Widerstand eingestuft oder als Ausdruck einer oppositionellen Haltung bewertet. Dies mag manche Handlung, die als widerständiges Verhalten aktenkundig wurde, relativeren. Auch muss darauf verwiesen werden, dass das, was als widerständiges Verhalten Berücksichtigung finden soll, nicht analog den Zuordnungskriterien des MfS den Akten entnommen werden kann. In vielen Fällen, so eine weitere These, war die Formensprache der Unmutäußerung oder des Protestes abhängig von der Normsetzung durch den Staat. Verweigerung, Unmutäußerungen, Protest und Widerstand waren und sind, so ist in Anlehnung an Max Weber festzustellen, Lebensäußerungen des sozia-

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Einleitung

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len Handelns. 7 Sie sind Lebensäußerungen, die sich wie jedes soziale Handeln allgemein auf das erfahrene oder vermutete Verhalten des Gegenüber bzw. Interaktionspartners, also im konkreten Fall des SED-Staates und seiner Repressionsorgane, bezogen. Dieser Aussage liegt die Annahme zugrunde, dass jedem Handeln eine Interpretation der Handlungssituation durch den Handelnden vorausging. 8 Die jeweils gewählten Formen der Nonkonformität, von Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition erklären sich also aus der konkreten Situation und den dem Handelnden präsenten Einsichten und verfügbaren Ressourcen. Sie blieben an den bestehenden Normen orientiert, unabhängig davon, ob die, die ihren Unmut bezeugten, sich Freiräume innerhalb dieser Norm erschließen wollten oder sich diametral gegen die bestehende Ordnung wandten. Jedem, der sich allzu deutlich in Widerspruch zur herrschenden Norm begab, drohte potenziell die gesellschaftliche Ausgrenzung bis hin zur Strafverfolgung. So verwundert es kaum, dass jene Formen des Widerspruches dominierten, bei denen die Handelnden sich anschickten, Freiräume innerhalb des Normengefüges auszuloten. Entscheidend dafür mögen pragmatische Erwägungen gewesen sein. Wer Schwächen in der Argumentation der SED ausnutzte, Schlupflöcher im Reglement des Systems für sich auszukundschaften wusste, auf Defizite bei der Umsetzung der offiziell proklamierten sozialen und politischen Rahmensetzungen verwies, nutzte drei strategische Vorteile. Zum ersten konnte er meinen, dass er das Risiko der strafrechtlichen Verfolgung für sich und seine Mitstreiter minimierte. Zum zweiten richtete er seinen Protest auf ein bereits existentes Themenfeld aus: er erreichte so eher Außenstehende als mit einem neuen, von ihm eingebrachten Thema. Ein freier Diskurs, in dem sich neue Themen verankern ließen, war überdies nicht möglich. So brachte er, wenn er die Herrschenden an ihre Versprechungen erinnerte, diese und ihrer Parteigänger in Verlegenheit. Zum dritten mochte er nicht als »Phantast« erscheinen, der etwas ansprach oder forderte, was unter den gegebenen Umständen den meisten Menschen angesichts der Lebenswirklichkeit in der Diktatur kaum realistisch erschien. Er setzte sich schließlich nicht dem Verdacht aus, als bestellter Provokateur zu agieren.

7 »Handeln soll ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. Soziales Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.« Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe, 6. Auflage, Tübingen 1984, S. 19. 8 Messing, Manfred: Soziales Handeln. In: Endruweit, Günter; Trommsdorff, Gisela (Hg.): Wörterbuch der Soziologie. 2. Aufl., Stuttgart 2002, S. 211 f.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Nicht unberücksichtigt bleiben darf darüber hinaus, dass die Auseinandersetzung um die Sinnhaftigkeit von Protest und Widerstand stets mit bedacht werden musste. So gab es genügend Stimmen, die sich gegen jedwede Verweigerung oder gar Widerstand aussprachen. Aufgrund des effektiv gegebenen Risikos hielten sie dies für unangebracht und rieten hiervon ab. Um ihren eigenen Opportunismus zu verteidigen, stuften sie dies als unvernünftig ein oder werteten ein solches Verhalten gar ab. Mit der inhaltlichen Delegitimierung der Herrschenden gewannen demgegenüber Widerstand und oppositionelles Handeln umgekehrt proportional an Legitimation. Indem Gegner des Systems Schwächen desselben benannten und auf Widersprüche zwischen der Selbstdarstellung des Systems und der Wirklichkeit verwiesen, warben sie auf der Basis bestehender Kodes für ihren Standpunkt. Zugleich forderten sie für sich und andere jenes Recht auf Zorn und Empörung ein, aus dem – nach Peter Sloterdijk – Protestbewegungen allgemein ihr moralisches Kapital abzuleiten verstehen. 9 Schließlich gehe es bei der Empörung nur sekundär um den inhaltlichen Bezug, der gewählt werde. »Natürlich«, so Sloterdijk, »wird auch immer ›um etwas‹ gekämpft, vor allem aber dient der Kampf der Offenbarung der kämpferischen Energie an sich«. 10 Dem Alltag kommt bei der Betrachtung von bewusster Nonkonformität, Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition eine gewichtige Rolle zu. Nicht nur, weil es interessant ist, zu fragen, was es neben den »großen« Widerstandstaten an Widerspruch, Protest und Widerstand im »Kleinen« noch gab. Der Alltag beschreibt zugleich jene Sphäre, die die Kommunisten durch die Zerstörung vorhandener Traditionen und Besitzverhältnisse umzugestalten sich zum Ziel gesetzt hatten. Schon das Festhalten, Beharren und sich Dagegenwenden musste als Votum gegen ihren missionarischen Anspruch verstanden werden. Beharren und Verweigerung wurden so zum Widerspruch: Angesichts anlaufender Kampagnen und der planwirtschaftlichen Normsetzung, die bestimmte, bis wann ein Umgestaltungsziel zu erreichen sei, geriet jener in den Augen der SED zum Widerstand. Ob eine Verweigerung »nur« eine Verweigerung war oder als mehr betrachtet werden sollte, darüber entschied so auch der Kampagnendruck, denen sich der Einzelne durch seinen Entschluss, nicht mitzumachen, aussetzte. Das, was als Widerstand galt, entwickelte sich ebenso wie die verschiedenen Formen des Widerstands in Interaktion zum Agieren des Staates. Die Sicherheitsbehörden vermuteten und suchten im Alltag ihrerseits fortwährend nach Nonkonformismus – Verweigerung, Widerspruch – Aufbegehren, Widerstand – Opposition. Angelegt war dies in der proklamierten Not9 Sloterdijk, Peter: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt/M. 2006, S. 170–189. 10 Ebenda, S. 21.

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wendigkeit, die Gesellschaft von ihrer Basis her – dem Alltag – auch gegen Widerstände neu erschaffen zu müssen. Was fortschrittlich sei und heilbringend in die »neue Zeit« wies, darüber entschied die Partei. In der Regel schwieg die Mehrheit der Betroffenen und hielt trotzdem einige Zeit noch an den zu überwindenden Traditionen fest. Einzelne hingegen entzogen sich der Umerziehung und Enteignung, zeigten sich eloquent oder widersprachen mit Vehemenz. Ein noch kleinerer Teil der Betroffenen ging zum offenen Widerstand über, fertigte Flugblätter, schrieb Losungen an oder sammelte Informationen für westliche Stellen, in der Hoffnung, so zum Niedergang des »Neuen« etwas beitragen zu können. Aus diesem Spannungsgefüge ergab sich der Konflikt um den Alltag. Gegen Ende der siebziger Jahre erlahmte der missionarische Eifer zur Neugestaltung der Gesellschaft in der DDR. Doch auch bei den nun noch eingeführten und für obligatorisch erklärten Neuerungen ging es im Kern um nichts Geringeres als in den Umgestaltungskampagnen der fünfziger Jahre: Um den Anspruch zur Schaffung einer neuen Gesellschaft, bewohnt von neuen, aus ihrer angeblichen Rückständigkeit auch notfalls durch Zwang zu »befreienden« Menschen. Nonkonformität, Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition hatten – so eine Hauptthese der Arbeit – zumeist etwas Reaktives – sie wandten sich gegen die Anmaßungen und als Belästigung empfundenen Eingriffe des Regimes im Alltag an den verschiedenen Orten im ganzen Lande. Die vorliegende Arbeit gliedert sich in fünf – von seiner Anlage her – unterschiedliche Teile. Im ersten Teil wird, nach einer Übersicht über die Literatur und den Forschungsstand, das Untersuchungsgebiet – der ehemalige Bezirk Rostock – vorgestellt. Der zweite Abschnitt vermittelt anhand von Eckdaten, charakteristischen Entwicklungen und wichtigen Ereignissen einen Überblick über Widerspruch, Widerstand und Opposition in den vier Jahrzehnten der DDR im Bezirk Rostock. Wenn auch in verkürzter und vereinfachter Form, steckt er in chronologischer Reihenfolge den Rahmen der Betrachtung ab. Im dritten Teil wird anhand von Idealtypen nach den Charakteristika der verschiedenen Formen des politisch abweichenden Verhaltens gefragt. Unterschiede und Gemeinsamkeiten sollen zugleich aufgezeigt werden. Auch geht es um die Frage, inwieweit sich die verschiedenen Formen sinnvoll gegeneinander abgrenzen lassen. Der vierte Teil rückt den »Alltag« in den Blick der Betrachtung. Zum einen geht es darum, zu fragen, welche Formen neben dem »Widerstand im eigentlichen Sinne« ansonsten »im Alltäglichen« zum Tragen kamen und wann und bis zu welchem Grade sich dieses noch als Widerstand definieren lässt. Zum anderen, mit welchen Reaktionen ihrer Umwelt sich, die, die Widerspruch leisteten, konfrontiert sahen. Im fünften und letzten Teil wird zusammenfassend anhand von vier Thesen nach den Kontinuitäten bzw. dem Wandel und dem, was überliefert wurde, gefragt.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Eine Schlussbetrachtung, eine Auswahlbibliografie und Register schließen die Arbeit ab. Zitierte Literatur und Quellen sind jeweils in den Fußnoten belegt.

I

Bezirk Rostock: Forschungsstand

Der Bezirk Rostock entstand 1952 als einer von vierzehn Bezirken im Rahmen der DDR Verwaltungsreform. Neun Jahre später, nach dem Mauerbau vom 13. August 1961, kam der Ostteil Berlins als offiziell 15. Bezirk der DDR hinzu. 11 Für den Ostseebezirk liegt zum hier interessierenden Untersuchungsgegenstand – Widerstand und Alltag – zwar eine Reihe von Veröffentlichungen vor. Häufig werden die Handlungen des politisch abweichenden Verhaltens aber nur anhand von Akten und Zeitzeugenerinnerungen nacherzählt, ohne dass die begriffliche Zuordnung auf einer analytischen Grundlage erfolgt; der hier interessierende Aspekt der Interaktion wird zumeist nur nebenbei gestreift. Die staatliche Repression gilt dabei häufig, und zwar unabhängig von der Intension und dem Handeln der Gemaßregelten, als hinlänglicher Beweis für das Vorliegen einer Widerstandstat bzw. eines widerständigen Agierens. Der Umstand, dass der Staat und seine Geheimpolizei mitunter erst die »Staatsfeindlichkeit« einer Handlung konstruierten, Andersdenkende zu Staatsfeinden machten und gelegentlich Exempel zur ›Erhöhung der revolutionären Wachsamkeit‹ statuierten, bleibt so mitunter auf der Strecke. Weniger spektakuläre Formen des politisch abweichenden Verhaltens wurden demgegenüber bislang kaum behandelt; die Arbeiten zum Alltag – und insbesondere zum Urlaub – an der Ostseeküste setzten den Aspekt des Alltags bislang nur selten in Beziehung zum politisch abweichenden Verhalten. Ausnahmen sind die in einigen Abhandlungen erwähnten Fluchtgedanken, Fluchtversuche und die gelungenen »Grenzübertretungen«. Für die Küstenregion liegen zum Themenkomplex Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition mehrere Veröffentlichungen vor. Eine wichtige Rolle bei der Auseinandersetzung mit dem Widerstand und der Aufarbeitung der Repressionen an der Rostocker Universität kommt dem Verband Ehemaliger Rostocker Studenten (VERS) zu. Mit seinen Publikationen, so über den in Moskau hingerichteten Arno Esch, 12 erinnert dieser daran, dass es »studentische Opposition und oppositionelle Bestrebungen, die sich 11 Art. Bezirk. In: DDR-Handbuch. Hg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Bd. 1, 3. Auflage, Köln 1985, S. 220 f. 12 Bernitt, Hartwig; Köpke, Horst; Wiese, Friedrich-Franz (Hg.): Arno Esch. Mein Vaterland ist die Freiheit. Dannenberg 2010.

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gegen den Machtanspruch der SED wandten« auch im Norden des Landes gab. 13 Arno Esch, leitendes Mitglied der LDPD, gründete Ende 1948 mit Gleichgesinnten in Rostock die »Radikal-Soziale Freiheitspartei«, die sich innerhalb der immer stärker unter den Einfluss der SED gelangenden LDPD »als sozialliberale Opposition verstand«. 14 Roland Bude berichtet vom, wenn auch nur kurzzeitig erfolgreichen Versuch der »Unterwanderung der SED« und des FDJ-Hochschulvorstandes durch eine Gruppe von etwa zwanzig Studenten an der Universität in Rostock in den Jahren 1949 und 1950. 15 Zerschlagen wurde der Zusammenschluss, den Thomas Ammer »als eine Art Widerstandsgruppe« umschreibt, 16 im Sommer 1950 mit der Inhaftierung, Verurteilung und zum Teil Deportation der meisten Beteiligten in die Sowjetunion. In den folgenden Jahren, Mitte der Fünfziger und Ende der Sechziger und im September 1989, gab es drei weitere Versuche, die FDJHochschulgruppe der Theologen an der Rostocker Universität zu »unterwandern«. Es handelte sich um den Versuch, die vorgegebenen Strukturen zur Wahrung der eigenen Interessen zu nutzen und den Zugriff der FDJUniversitätsleitung auf die Theologen zu minimieren. 17 Mit der Arbeit von Thomas Ammer »Universität zwischen Demokratie und Diktatur« liegt zugleich eine Übersichtsdarstellung vor zu den politischen Auseinandersetzungen an der Rostocker Universität in den sechziger und siebziger Jahren. Sie wird ergänzt durch eine Liste jener Studenten, die aus politischen Gründen inhaftiert wurden. Erwähnt seien zwei weitere Veröffentlichungen, die sich mit den Vorgängen an der Rostocker Universität beschäftigen: Zum einen die Arbeit von Martin Handschuk (»Auf dem Weg zur sozialistischen Hochschule. Die Universität Rostock in den Jahren 1945 bis

13 Fricke, Karl Wilhelm: Arno Esch. In: Kowalczuk, Ilko-Sascha; Sello, Tom (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 47–49. 14 Köpke, Horst: Die Radikal-Soziale Freiheitspartei. In: Bernitt, Hartwig; Köpke, Horst; Wiese, Friedrich-Franz (Hg.): Arno Esch. Mein Vaterland ist die Freiheit. Dannenberg 2010, S. 77–80. 15 Bude, Roland: Workuta – Strafe für politische Opposition in der SBZ/DDR (Schriftenreihe des LStU Berlin; 30). Berlin 2010, S. 41. 16 Ammer, Thomas: Universität zwischen Demokratie und Diktatur. Ein Beitrag zur Nachkriegsgeschichte der Universität Rostock. Köln 1969, Nachdruck 1994, S. 74. 17 Für die späten fünfziger Jahre: Zeitzeugeninterview mit Pfarrer i. R. Hans-Udo Vogler, Freienhufen, den 9.7.1999, S. 10; Vogler studierte in den fünfziger Jahren Für die späten sechziger Jahre: Reichert, Steffen: Ein Leben im Schatten der Mauer. Er erlebte vom Westen aus den Mauerbau und wurde durch den Mauerfall gerettet: Christoph Wonneberger. In: Glaube und Heimat. Evangelisches Sonntagsblatt für Thüringen, Nr. 33, 14.8.2011, S. 4; Das Jahr 1989 betreffend: Der OPK »Konzil« der MfS-Bezirksverwaltung Rostock enthält einen Maßnahmeplan, der »der Aufklärung [...] der Bildung einer Arbeitsgemeinschaft zur Erarbeitung eines idealen Gesellschaftsmodells« im September 1989 an der WPU Rostock in der Theologie-Sektion dienen sollte. BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 570/91, Bl. 1.

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1955«). 18 Zum zweiten geht Julius Schoenemann am Beispiel der Medizinischen Fakultät in Rostock auf die Folgen der dritten Hochschulreform der DDR ein. 19 Die Greifswalder Universität erlangt für die Widerstandsgeschichte durch die Vorgänge rund um den »Greifswalder Medizinerstreik« im Jahre 1955 an Bedeutung. Die Proteste richteten sich gegen die Umwandlung der Medizinischen Fakultät der Universität Greifswald in eine Militärmedizinische Ausbildungsstätte. 20 Unter dem Titel »… sie wollten sich nicht verbiegen lassen« gab Dietmar Kausch zusammen mit dem Verband ehemaliger Rostocker Studenten eine Broschüre zu den Repressalien gegen andersdenkende Schüler in den fünfziger Jahren unter anderem in Bad Doberan und Rostock heraus. 21 Henrik Bispinck beleuchtet am Beispiel der Großen Stadtschule in Rostock zudem das Schicksal jener Lehrer, die in den Westen flohen. 22 Mit dem Aufsatz »Protest, Opposition und Widerstand an den Oberschulen in der SBZ und in der frühen DDR«, auch hier geht es um die Große Stadtschule in Rostock, legte er einen Beitrag zur Widerstandsgeschichte vor. Wie bei anderen Arbeiten hierzu auch, erfolgt die begriffliche Zuordnung eher intuitiv und unterliegt keiner weiteren Erläuterung: Klar ist jeweils, was dem Widerstand im ›eigentlichen Sinne‹ zuzurechnen ist – der Autor spricht von »genuine[n] Widerstandsaktionen« und nennt als eine solche Form den »sichtbaren Protest«; das politisch abweichende Verhalten, das ›unterhalb‹ dieser Schwelle anzusiedeln ist, wird mit umgangssprachlich etablierten Termini umschrieben, die nicht weiter erläutert werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Opposition, der mit den »oppositionelle[n] Haltungen«, die 18 Handschuk, Martin: Auf dem Weg zur sozialistischen Hochschule. Die Universität Rostock in den Jahren 1945 bis 1955 (Quellen und Studien aus den Landesarchiven MecklenburgVorpommerns; 6). Bremen 2003; Ders.: Studentische Opposition an der Universität Rostock 1945 bis 1955. In: Zr. 6 (2002) 1, S. 30–36. 19 Schoenemann, Julius: Der große Schritt. Die dritte Hochschulreform in der DDR und ihre Folgen. Dargestellt an einem Beispiel aus der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock 1969– 1972. Rostock 1998. 20 Schmiedebach, Heinz-Peter; Spiess, Karl-Heinz: Studentisches Aufbegehren in der frühen DDR (Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald; 2). Stuttgart 2001; Nitzsche, Raimund; Glöckner, Konrad (Hg.): Geistige Heimat ESG – In Freiheit leben aus gutem Grund. Erinnerungen an 60 Jahre Evangelische Studentengemeinde Greifswald. Greifswald 2006; Nitzsche, Raimund: Vorlesungsstreik im Kalten Krieg. Vor 50 Jahren protestierten Studenten gegen die Ausbildung von Militärmedizinern. In: MPKZ, Nr. 13, 27.3.2005, S. 7; Schlagen, Udo: Studenten gegen Militärmedizin in Greifswald – Kirchturmbrand von St. Jacobi. Was geschah am 30./31. März 1955. In MPKZ, 7.7.2010. 21 Kausch, Dietmar: »… sie wollten sich nicht verbiegen lassen.« Repressalien – Widerstand – Verfolgung an den Oberschulen in Bad Doberan, Bützow, Grevesmühlen, Ludwigslust und Rostock 1945–1989. Rostock 2006. 22 Bispinck, Henrik: »Sie werden meinen Schritt mit Leidenschaft vor Kollegium und Klasse verurteilen.« Zur Republikflucht von Oberschullehrern in Mecklenburg. In: Zr. 14 (2010) 1, S. 32– 38. Ders.: Bildungsbürger in Demokratie und Diktatur. Lehrer an höheren Schulen in Mecklenburg 1918 bis 1961 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 79). München 2011.

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»sichtbar wurden« und die zu Konflikten mit der Schulleitung und der FDJ führten, gleichgesetzt wird. Konkret wird vom Autor das Ringen um den Erhalt der Schülerselbstverwaltung in Rostock als ein Beispiel für »Opposition [...] an den Oberschulen« angeführt. 23 Mehrere Inhaftierungen rückten das Gebiet des späteren Bezirkes Rostock beizeiten in das Blickfeld derer, die die Vorgänge in der DDR von der Bundesrepublik aus verfolgten. Mehrere Veröffentlichungen erschienen in diesem Rahmen zu den Prominenten unter den frühen Opfern der kommunistischen Herrschaft. So zu dem 1946 inhaftierten und hingerichteten Rektor der Greifswalder Universität, Ernst Lohmeyer, 24 und dem 1950 verschleppten und seitdem verschollenen Pfarrer Robert Lansemann aus Wismar. 25 Mit der Inhaftierung und der späteren Flucht des Rostocker Sozialdemokraten Willy Jesse 26 und des Rostocker Fabrikanten, CDU-Politikers und mecklenburgischen Wirtschaftsministers Siegfried Witte beschäftigen sich zwei weitere Abhandlungen. 27 Auch Christian Schwießelmann geht auf das Vorgehen gegen bürgerliche Politiker, die sich dem Machtanspruch der SED widersetzten, ein. Am Beispiel des CDU-Landesverbandes Mecklenburg und Vorpommern stellte er das Ringen um ein eigenständiges oppositionelles Profil in den Jahren bis 1952 anschaulich dar. All dies erfolgte trotz Interventionen der SED, trotz Repressionen und Verhaftungen. 28 Inhaftiert und verschleppt wurde so auch 1950 der Wolgaster CDU-Bürgermeister Walter Kolberg. 29 23 Bispinck, Henrik: Protest, Opposition und Widerstand an den Oberschulen in der SBZ und in der frühen DDR. In: HuG 20 (2011) 2, Nr. 72, S.  40–42. 24 Schmauch, Werner (Hg.): In Memoriam Ernst Lohmeyer. Stuttgart 1951; Saß, Gerhard: Lohmeyer, Ernst. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 15. Berlin (West) 1987, S. 132 f.; Hilger, Andreas: »Tod den Spionen!«: Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ/DDR und in der Sowjetunion bis 1953. Göttingen 2006, S. 109–113; Grabe, Irmfried: Lohmeyer, Ernst Johannes. In: Schultze, Harald; Kurschat, Andreas (Hg.): Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Leipzig 2006, S. 634–636; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Geist im Dienste der Macht. Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1961. Berlin 2003, S. 114 f.; Rautenberg, Mathias: Der Tod und die SED. Zum 65. Todestag Ernst Lohmeyers. In: Zr. 15 (2011) 2, S. 20–33. 25 Rathke, Heinrich: Lansemann, Robert. In: Schultze; Kurschat: Evangelische Märtyrer (ebenda), S. 633 f.; Wiaterek, Norbert: Das Glaubenszeugnis wach halten. Gedenkgottesdienst an Pastor Robert Lansemann am 27. Juli in Heiligen Geist Wismar. In: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung, 63. Jg., Nr. 30, 27.7.2008, S. 4; Pettke, Sabine (Hg.): Biographische Lexikon für Mecklenburg. Bd. 7. Rostock 2013, S. 187–189. 26 Stunnack, Grit: Willy Jesse. In: Zr. 1 (1997) 2, S. 35–38. 27 Keipke, Bodo: Siegfried Witte. In: Zr. 2 (1998) 1, S. 51–56. 28 Schwießelmann, Christian: Die Christlich-Demokratische Union Deutschlands in Mecklenburg und Vorpommern. Von der Gründung bis zur Auflösung des Landesverbandes (1945– 1952)(Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; 58). Düsseldorf 2011; Ders.: Die CDU im Norden der DDR 1952 bis 1961. Ein Blick hinter die Kulissen einer Blockpartei in den Bezirken Neubrandenburg, Rostock und Schwerin. In: Zr. 13 (2009) 1, S. 37–57. 29 »Auf den Spuren von Bürgermeister Walter Kolberg. Jugendliche aus Vorpommern präsentieren ihre Forschungen beim zweiten Jugendgeschichtstag«. In: Mecklenburgische und Pommersche

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Das Jahr 1953 kann in mehrfacher Hinsicht als eine Zäsur in der Geschichte des Ostseebezirks angeführt werden. Während die kirchenfeindliche Politik der SED im Frühjahr auf einen neuen Höhepunkt zutrieb und noch vor den Ereignissen des 17. Juni, kam es entlang der Ostseeküste mit der Aktion »Rose« zur Massenenteignung im Hotel- und Pensionsgewerbe. 30 Das Geschehen steht für die Repression im SED-Staat; erst die offene Solidarisierung mit den Betroffenen in Binz und Zingst macht sie zu einer Geschichte des Widerstandes. Der dann folgende Aufstand rund um den 17. Juni 1953 hatte seine Schwerpunkte in Berlin, im mitteldeutschen Industrierevier und im Süden der DDR; der Bezirk Rostock galt, auch wenn es hier zur Erhebung kam, als Nebenschauplatz des Geschehens. Während Beatrice Vierneisel und Klaus Schwabe den Verlauf des Aufstandes am 17. Juni 1953 bezogen auf Mecklenburg-Vorpommern bzw. »den Aufstand an der Küste« nachzeichnen, bezieht sich Heike Schmidt auf die Ereignisse in Rostock. Hier kam es im Laufe des 17. und 18. Juni zu Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen vor allem auf den Werften, im Dieselmotorenwerk sowie in mehreren Zulieferbetrieben des Schiffsbaus. 31 Als wichtige Zäsur ist ebenso das Jahr 1961 zu benennen. Auch wenn der Bezirk Rostock weit entfernt vom Geschehen in Berlin lag, so erreichten die Auswirkungen die Küstenregion. Zwei Veröffentlichungen wenden sich der Grenzschließung und dem Mauerbaus vom 13. August 1961 in Berlin zu und beschreiben deren Folgen in ihrer Fernwirkung auf den Bezirk Rostock. Zum einen liegt dazu der Beitrag der beiden Rostocker Anita Krätzner und Michael Heinz vor. Unter dem Titel »Verurteilt wegen ›staatsgefährdender Hetze‹. Reaktionen im Bezirk Rostock auf den Mauerbau 1961« zählen sie summarisch die verschiedenen Proteste und Widerstandshandlungen auf. 32 Kirchenzeitung, Nr. 49, 3.12.2006, S. 8; »Walter Kolberg (3. März 1899 – ca. 1954). In: Mecklenburg, 47 (2005) 11, S. 19. 30 Im Frühjahr 1953 enteignete die SED unter konstruierten Beschuldigungen mehr als 1 500 Hotel-, Pensions- und Gaststättenbesitzer entlang der Ostseeküste, insbesondere auf Rügen und Usedom. Wegen vermeintlicher Verstöße gegen das »Gesetz zum Schutz des Volkseigentums und anderen gesellschaftlichen Eigentums« und unter anderen Anschuldigungen gerieten an die 400 Unternehmer in Haft. Mit der Arbeit von Siegfried Schmidt »Stasi-Aktion Rose«, erschienen in Göhren 1994, liegt eine aus der Zeitzeugenperspektive heraus entstandene Dokumentation vor. 31 Schmidt, Heike: Der 17. Juni 1953 in Rostock. Berlin 2003. Hinz-Wessels, Annette; Thiel, Jens: Das Friedrich-Loeffler-Institut 1910–2010. 100 Jahre Forschung für die Tiergesundheit. Berlin 2010, hier: »Die Auswirkungen des 17. Juni 1953 auf dem Riems«, S. 146–148; Schwabe, Klaus: Aufstand an der Küste. Ursachen, Verlauf und Ereignisse des 17. Juni 1953. Schwerin 2003; Ders.: Der 17. Juni 1953 in Mecklenburg und Vorpommern (Geschichte Mecklenburg-Vorpommern; 4). Schwerin 1993; Vierneisel, Beatrice: Der 17. Juni 1953 in Mecklenburg und Vorpommern. Begleitheft zur Ausstellung des Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Schwerin 2003. 32 Heinz, Michael; Krätzner Anita: Verurteilt wegen »staatsgefährdender Hetze«. Reaktionen im Bezirk Rostock auf den Mauerbau 1961. In: Zr. 15 (2002) 2, S. 39–49.

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Im Jahr 2002 erschien zum anderen das Buch »Meuterei vor Rügen – was geschah auf der SEEBAD BINZ? Der Prozess gegen die Junge Gemeinde 1961 in Rostock« von Hellmuth Henneberg. 33 Ähnlichkeiten hierzu wies der Prozess um die »Glatzkopfbande« auf, der vom 1. bis 4. September 1961 stattfand und zu dem Inge Bennewitz einen Aufsatz vorlegte. 34 Trotz politischer Schauprozesse und der behaupteten Gefahrenabwehr für die Sicherheit des Staates handelt es sich in beiden Fällen um Beispiele der staatlichen Repression – mit Widerstand hatte das Geschehen nur bedingt zu tun. Eine großen Raum in der Aufarbeitung mit der Diktatur nehmen die Arbeiten ein, die sich mit dem Verhältnis der SED zur Kirche und deren Eigenleben beschäftigen, wobei dabei auf unterschiedlichste Aspekte Bezug genommen wurde: Neben der Nonkonformität und dem Widerspruch aus dem kirchlichen Raum wurde von einigen Autoren der »Alltag« mitberücksichtigt. Propst Friedrich Winter, Studentenpfarrer in Greifswald von 1953 bis 1960 und anschließend bis 1964 Superintendent in Grimmen 35, legte mit der Biographie »Bischof Karl von Scheven« 2009 eine eindrucksvolle Betrachtung zu den frühen Jahren der SED-Kirchenpolitik vor. Karl von Scheven stand der von Stettin nach Greifswald 1945 umgesiedelten Kirchenleitung Pommerns bis 1954 vor. 36 Auf ihn folgte bis 1972 Friedrich-Wilhelm Krummacher, den Aulikki Mäkinen in ihrem 2002 vorgelegten Beitrag als »Mann der Einheit« charakterisiert. 37 Die Geschichte der Evangelischen Studentengemeinde in Greifswald blieb in diesen Jahren nicht frei von politischen Übergriffen und Repressionen. Hierzu erschien die von Raimund Nitzsche und Konrad Glöckner 2006 herausgegebene Aufsatzsammlung »Geistige Heimat ESG – In Freiheit leben aus gutem Grund. Erinnerungen an 60 Jahre Evangelische Studentengemeinde Greifswald«. 38 Friedrich Winter legte zu seinen »Jahre[n] in Greifswald zwi-

33 Henneberg, Hellmuth: Meuterei vor Rügen – was geschah auf der SEEBAD BINZ? Der Prozess gegen die Junge Gemeinde 1961 in Rostock. Rostock 2002, S. 23–26 u. 136–138. 34 Bennewitz, Inge: Die wahre Geschichte der »Glatzkopfbande«. Ein Film und seine Hintergründe. In: Apropos: Film 2001. Das Jahrbuch der DEFA-Stiftung. Berlin 2001, S. 232–260. 35 Henkys, Jürgen: Menschen, Akten und Geschichten. Friedrich Winter verbringt seinen Ruhestand in Archiven und am Schreibtisch. Jetzt wird er 85. In: DK, Nr. 10, 4.3.2012, S. 15. 36 Winter, Friedrich: Bischof Karl von Scheven (1882–1954). Ein pommersches Pfarrerleben in vier Zeiten. Berlin 2009. 37 Mäkinen, Aulikki: Friedrich-Wilhelm Krummacher – der Mann der Einheit. In: Zr. 6 (2002) 2, S. 39–44; Dies.: Der Mann der Einheit. Bischof Friedrich-Wilhelm Krummacher als kirchliche Persönlichkeit in der DDR in den Jahren 1955–1969. Greifswald 2002. Vgl. hierzu auch: Winter, Friedrich: Deutliche Worte – vom Staat übergenommen. Vor 25 Jahren ist Bischof FriedrichWilhelm Krummacher gestorben. In: Mecklenburgische Kirchenzeitung, Nr. 25, 20.6.1999, S. 7. 38 Nitzsche, Raimund; Glöckner, Konrad (Hg.): Geistige Heimat ESG – In Freiheit leben aus gutem Grund. Erinnerungen an 60 Jahre Evangelische Studentengemeinde Greifswald, Greifswald 2006.

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schen 1946 und 1960« in »Zeitgeschichte regional« 2002 zugleich einen eigenen Erinnerungsbericht vor. 39 Geprägt wurde die SED-Kirchenpolitik der fünfziger und sechziger Jahre durch den Abriss von Kirchen: Am Beispiel der Wismarer Marienkirche gehen Robert Scheunpflug bzw. Georg M. Diederich am Schicksal der Rostocker Christuskirche auf dieses besondere Kapitel ein. Anders als Scheunpflug interessierten Diederich insbesondere die Proteste und Auseinandersetzungen, die den Abriss begleiteten und das Geschehen unbestreitbar zum Politikum machten. 40 Robert Scheunpflug übernimmt in seiner vom Schweriner Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen geförderten Arbeit hingegen weitgehend undifferenziert die Argumente, die vorgebracht wurden, um den Abriss durchzusetzen. 41 Scheunpflug glaubt nicht, dass kirchenfeindliche Motive für den Abriss verantwortlich zu machen sind und spricht von »einer komplizierten lokalpolitischen Konstellation, vor dem Hintergrund einer Zeit, die in Planungseuphorie und Wertschätzung von Moderne Erhalt des Alten wenig Stellenwert beimaß«. 42 Das erscheint kaum plausibel. Scheunpflug versäumt es vielmehr, die von ihm verwandten Quellen im zeitlichen wie politischen Umfeld zu kontextualisieren. 43 Von Rahel Frank stammen mit der »Greifswalder Weg« und »›Realer – Exakter – Präziser?‹« zwei Arbeiten, die sich mit den beiden nordostdeutschen Kirchen in der Spätphase der DDR auseinandersetzen. Während die erste vor dem Hintergrund der SED-Kirchenpolitik nach dem besonderen Gepräge der Greifswalder Kirche unter Bischof Horst Gienke fragt und die mit dem MfS kooperierenden Kirchenvertreter benennt, geht die zweite über 39 Winter, Friedrich: Meine Jahre in Greifswald zwischen 1946 und 1960. In: Zr. 6 (2002) 2, S. 79–89. 40 Diederich, Georg M.: Aus den Augen aus dem Sinn. Die Zerstörung der Rostocker Christuskirche 1971. 2. Aufl. Rostock 1997. 41 Scheunpflug, Robert: »Zur Herstellung von Leichtbauelementen geeignet ...«. Der Abriss der Marienkirche Wismar im Kontext von Staat, Kirche und Denkmalpflege. Schwerin 2008. Vgl. hierzu auch: Titzck, Karl-Reinhard: Ein neues Buch über die Zerstörung von St. Marien in Wismar. In: MPKZ, 63. Jg., Nr. 37, 14.9.2008, S. 7. 42 Scheunpflug: Der Abriss der Marienkirche. Ebenda, S. 100. 43 Ebenda, S. 85–92. Auch dass mehrere Akademiker in ihrer Beschwerde nicht von einem kirchenfeindlichen Akt sprachen, sondern nur auf die kulturhistorische Bedeutung des Bauwerkes verwiesen, belegt kaum Scheunpflugs These. Es zeigt vielmehr, dass sich eine solche Beschwerde nicht im luftleeren Raum vollzog und politisch als besonders verfemt angesehene Argumente zumeist nicht in dieser Form benannt wurden, um das Risiko für die Appellanten zu minimieren. Die Gründe für den Abriß der Marienkirche liegen vielmehr außerhalb der von Scheunpflug verfochtenen Interpretation: Nicht zuletzt, weil die Kirche von vielen als letzter verbliebener Ort des Widerspruchs angesehen wurde, ging die SED gegen deren gesellschaftlich sichtbare Präsenz vor, ließ Kirchen abreißen oder verbot den Bau von Gotteshäusern in den Neubaugebieten. Sie nutzte dabei jeweils die sich ihr bietenden Gelegenheiten und war häufig nicht darum verlegen, Kirchen großzügig den Neugestaltungsplänen zu opfern. Um den damit heraufbeschworenen Protesten beizeiten den Wind aus den Segeln zu nehmen, verwies man auf lokale Erfordernisse und stritt, wie übrigens auch bei SEDKirchenkampf Anfang der fünfziger Jahre, ab, dass man eine kirchenfeindliche Intention verfolge.

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diese Ansatz hinaus. Zusätzlich werden in ihr nicht mehr nur die achtziger, sondern auch die siebziger Jahre behandelt. Neben den IM-Verstrickungen schaut Rahel Frank in ihrem Buch über die mecklenburgisch-lutherische Landeskirche auch auf innerkirchliche wie körperschaftliche Mechanismen der »Gefahrenabwehr« und Disziplinierung. Ersichtlich wird, warum sich bestimmte Pfarrkonvente und Kirchenkreise gegenüber den politischen Vereinnahmungsversuchen weitgehend immun verhielten. Dies bedeutete nicht, dass sich nicht auch in Mecklenburg einzelne Pfarrer und Landessuperintendenten fanden, die bereit waren, mit dem Staatssicherheitsdienst zusammenzuarbeiten. 44 Der kirchlichen Friedensarbeit, der Rolle der Westmedien auf dem Kirchentag in Stralsund 1978 und dem Wirken der oppositionellen Friedensgruppen, unter anderem den Mobilen Friedensseminaren von 1981 bis 1989 in Mecklenburg widmete Christoph Wunnicke mehrere Beiträge. 45 Zum Staatssicherheitsdienst, der das politisch abweichende Verhalten derer bekämpfte, um die es hier gehen soll, liegen für den Bezirk Rostock drei Veröffentlichungen vor. Zum einen das Buch von Thomas Ammer und HansJoachim Memmler von 1991 »Staatssicherheit in Rostock«. 46 Geprägt ist die Publikation von der Euphorie des Aufbruchs des Herbst 1989 und der hiermit einhergehenden Besetzung der Bezirksverwaltung in Rostock. Im Mittelpunkt steht dementsprechend die Arbeit des Unabhängigen Untersuchungsausschusses. Zugleich versuchen die Autoren, dem Leser eine erste Orientierung über die Methoden und die Arbeit des MfS zu vermitteln, indem sie, wie in jener Zeit üblich, ausgiebig aus Dienstanweisungen und anderen Dokumenten zitieren. 47 44 Saß, Rahel von: Der »Greifswalder Weg«. Die DDR-Kirchenpolitik und die Evangelische Landeskirche Greifswald 1980 bis 1989. Schwerin 1998; Frank, Rahel: »Wagenburg« im HoneckerStaat. Ein Einblick in den Weg der mecklenburgischen Landeskirche 1971 bis 1989. In: Zr. 6 (2002) 2, S. 53–56; Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008. 45 Wunnicke, Christoph: Die Mobilen Friedensseminare von 1981 bis 1989 in Mecklenburg. In: Zr. 5 (2001) 1, S. 30–39; Ders.: »In die Kirche können sie ruhig gehen, laß sie beten, da stören sie keinen.« Die FDJ und kirchliche Basisgruppen im Jahr 1983 in Rostock. In: Zr. 7 (2003) 1, S. 92–95; Ders.: »Auf der Suche nach Leben.« Das MfS, die Westmedien, die CDU und auch ein wenig Friedensbewegung. Der Kirchentag in Stralsund vom 16. bis 18. Juni 1978. In: Zr. 8 (2004) 1, S. 72–76. 46 Ammer, Thomas; Memmler, Hans-Joachim: Staatssicherheit in Rostock. Zielgruppen, Methoden, Auflösung. Köln 1991, S. 11. 47 Ebenda. Laut Ammer und Memmler gab es 1989 in Bezirk Rostock 2 965 hauptamtlich Stasi-Mitarbeiter, weitere 721 Berufssoldaten und Unteroffiziere bewachten die Objekte entlang der Küste. Insgesamt beschäftigte die Bezirksverwaltung demnach 3 686 Hauptamtliche. Nach einer Aufstellung des BStU von 1995 hatten die Bezirksverwaltung und die Kreisdienststellen im Bezirk Rostock insgesamt 3 827 Mitarbeiter und so noch rund 200 mehr als bei Ammer angeführt [Nach: Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte. Struktur. Methoden. MfS-Handbuch). Berlin 1995, S. 100 f.] Lediglich

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Mit der Broschüre von Volker Höffer, dem BStU-Außenstellenleiter in Rostock, liegt eine weitere Veröffentlichung vor, die unter dem Titel »›Der Gegner hat Kraft‹. MfS und SED im Bezirk Rostock«, 1997 erschien. Sie konzentriert sich maßgeblich auf die Ereignisse 1989 und die »Lageeinschätzung der Rostocker Staatssicherheit«. 48 Mit der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Rostock beschäftigen sich Jenny Schekahn und Tobias Wunschik. Der Arbeit kommt das Verdienst zu, einen Einblick in eines der wichtigsten »Betätigungsfelder« des MfS zu eröffnen. Konkret geht es hier um die »Ermittlungsverfahren, Zelleninformatoren und Haftbedingungen«. 49 Urlaub, Küste, Sonnenschein: Für die meisten, die auf den Küstenbezirk von Berlin aus oder Sachsen schauten, war es die Region, in die sie fuhren, um sich von den Strapazen des Alltags zu erholen. Zwar gibt es mittlerweile eine Reihe von Veröffentlichungen, die sich dem Aspekt des Alltags, wenn auch in seiner besonderen Form des Urlaubs, zuwenden; nur selten wird der Widerstand und politisch abweichend Verhalten in Beziehung zu den Verhältnissen im Alltag/Urlaub gesetzt. Dies ist umso bedauerlicher, als davon auszugehen ist, dass insbesondere die in den Sommermonaten mit Tausenden von Urlaubern überfüllten Campingplätze mit ihren Zeltkinos und den sich hier treffenden Jugendlichen als Orte, an denen es immer wieder zu Unmutäußerungen kommen konnte, anzusehen sind. Von den Arbeiten, die sich mit der Funktion des Bezirkes als Regenerationszone werktätiger Arbeitskraft beschäftigen, seien hier stellvertretend Thomas Schaufuß »Die politische Rolle des FDGBFeriendienstes in der DDR. Sozialtourismus im SED-Staat«, Berlin 2011, und Christopher Görlich »Urlaub vom Staat« genannt. 50 Mit dem Beitrag »Wie der Osten wirklich war« entstand so zum Beispiel ein Film, dessen apologetische Intention sich kaum übersehen lässt. 51 die BV in Potsdam beschäftigte laut Gieseke mit 3 926 Hauptamtlichen noch mehr Mitarbeiter: Rostock wäre so die am zweitstärksten besetzte Bezirksverwaltung des MfS gewesen. Im benachbarten Bezirk Neubrandenburg gab es hingegen nur knapp zweitausend Angestellte. Im hohen Mitarbeiterstand schlug sich so auch die Bedeutung, die dem Bezirk Rostock mit seinen Häfen, den Reedereien sowie den Urlaubern zukam, nieder. Zugleich zeichnete die Rostocker Verwaltung für die bundesdeutschen »Operationsgebiete« Hamburg und Norddeutschland federführend verantwortlich. Die Stasi im Ostseebezirk arbeitete zu jenem Zeitpunkt mit 9 263 »aktiven inoffiziellen Quellen« zusammen, sprich, betrachtete diese Menschen als »Inoffizielle Mitarbeiter« [Ammer, Thomas; Memmler, HansJoachim: Staatssicherheit in Rostock. Zielgruppen, Methoden, Auflösung. Köln 1991, S. 11.] 48 Höffer, Volker: »Der Gegner hat Kraft«. MfS und SED im Bezirk Rostock (BF informiert; 20). Berlin 1997. 49 Schekahn, Jenny; Wunschik, Tobias: Die Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Rostock. Ermittlungsverfahren, Zelleninformatoren und Haftbedingungen in der Ära Honecker (BF informiert; 31). Berlin 2012. 50 Görlich, Christopher: Urlaub vom Staat. Tourismus in der DDR. Köln 2012; Ders.: Urlaub vom Staat. Zur Geschichte des Tourismus in der DDR. In: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien (2006) 38/39, S. 64–68. 51 Wie der Osten wirklich war. Dokumentation und private Aufnahmen deutscher Amateurfilmer. Produktion MDR Ottonia, 2007.

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Auf das Ende der DDR im Bezirk Rostock gehen gleich mehrere Veröffentlichungen ein. Zum einen Susanne Höser, Richard Scherer und Bernhard Schmidtbauer, die die Ereignisse für Rostock nachzeichnen. 52 Zum anderen Dirk Mellies und Frank Möller, die das Geschehen des Herbstes 1989 für Greifswald auf der Basis von Zeitzeugenberichten rekonstruieren. 53 Zwei weitere Arbeiten vermitteln zudem einen Eindruck über den »politischer Umbruch und Neubeginn« in Wismar 54 bzw. die »Friedliche Revolution und [den] demokratische[n] Übergang in den Kreisen Bad Doberan und RostockLand. 55 Lothar Probst und Kai Langer wandten sich in ihren Arbeiten »dem Norden« insgesamt zu. 56 Mit der von Arvid Schnauer herausgegebenen Dokumentation »Zur Arbeit des Rostocker Gerechtigkeitsausschusses« 1989/90 57 und dem »Abschlußbericht des Untersuchungsausschusses der Stadt Greifswald« liegen zugleich zwei weitere Zeugnisse aus dieser Zeit vor. 58 Erwähnt sei hier zudem die Reihe »Aufarbeitung und Versöhnung« der EnqueteKommission des Landetages Mecklenburg-Vorpommern«, die für das Bestreben der neunziger Jahre steht, die SED-Herrschaft aufzuarbeiten. Enthalten sind hier Beiträge unter anderem über die oppositionellen Treffen »Konkret für den Frieden« 1985 in Schwerin und 1989 in Greifswald, die »Repression gegen die christliche Jugend im Bildungs- und Erziehungsbereich« oder auch »die Rolle der Kirchen im politischen System der DDR«. 59 52 Höser, Susanne; Scherer, Richard: »Wir hatten Hoffnung auf eine Demokratie«. Rostocker Protestanten im Herbst '89 (Talheimer Sammlung kritisches Wissen; 26). Talheim 2000; Schmidtbauer, Bernhard: »Im Prinzip Hoffnung«. Die ostdeutschen Bürgerbewegungen und ihr Beitrag zum Umbruch 1989/90. Das Beispiel Rostock. Frankfurt/M. 1996; Herbst '89 – Die Wende in Rostock. Zeitzeugen erinnern sich …. Hg. v. der Universität Rostock. Rostock 1999. 53 Mellies, Dirk; Möller, Frank (Hg.): Greifswald 1989. Zeitzeugen erinnern sich. Marburg 2009. 54 Abrokat, Sven: Politischer Umbruch und Neubeginn in Wismar von 1989 bis 1990 (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte; 21). Hamburg 1997. 55 Heinz, Michael: »Der Kampf um die Hirne und Herzen der Menschen tobt …« Friedliche Revolution und demokratischer Übergang in den Kreisen Bad Doberan und Rostock-Land. Rostock 2009. 56 Langer, Kai: »Ihr sollt wissen, daß der Norden nicht schläft …«. Zur Geschichte der »Wende« in den drei Nordbezirken der DDR (Quellen und Studien aus den Landesarchiven MecklenburgVorpommerns; 3). Bremen/Rostock 1999. Hierzu ebenso: Langer, Kai: Aufbegehren und Widerstand in Mecklenburg und Vorpommern 1945–1989. In: Brunner, Detlev; Niemann, Mario (Hg.): Die DDR – eine deutsche Geschichte. Wirkung und Wahrnehmung. Paderborn, München, Wien 2011, S. 297–318; Probst, Lothar: »Der Norden wacht auf«. Zur Geschichte des politischen Umbruchs in Rostock im Herbst 1989. Bremen 1993. 57 Schnauer, Arvid: Zur Arbeit des Rostocker Gerechtigkeitsausschusses. Teil I: 1989/90: Erinnerungen, Notate, Dokumente. Schwerin 2009. 58 Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses der Stadt Greifswald. Hg. v. Untersuchungsausschuß der Stadt Greifswald. Greifswald 1990. 59 Busch, Philipp: Die Treffen »Konkret für den Frieden« in Schwerin (1985) und Greifswald (1989). In: Leben in der DDR, Leben nach 1989 – Aufarbeitung und Versöhnung. Zur Arbeit der Enquete-Kommission des Landtages Mecklenburg-Vorpommern, Bd. 7 Expertisen und Forschungs-

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

II

Quellen

Die Arbeit stützt sich zu großen Teil auf die Überlieferung des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Im Mittelpunkt stehen dabei die Akten der Bezirksverwaltung Rostock, die in der BStU-Außenstelle in Rostock-Waldeck liegen. Hinzugezogen wurden in dieser Arbeit unter anderem Operativvorgänge, IMBerichte, die Auswertungs- und Stimmungsberichte der Auswertungs- und Kontrollgruppe in Rostock, Untersuchungs- und Haftakten aus Rostock. Ergänzt wurden diese durch Berichte, Untersuchungsvorgänge und Haftakten aus der MfS-Zentrale in Berlin, die sich auf den Bezirk Rostock beziehen. Erstmals ausgewertet wurden die Deliktekerblochkarteien der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit in Rostock, die im Archiv der BStU-Außenstelle, konkret im Bereich der Findmittel, überliefert sind. 60 Diese Schwerpunktsetzung ergibt sich aus dem Entstehungsort der Arbeit, der Bildungs- und Forschungsabteilung des BStU und deren Auftrag. Hinzu kommen weitere Akten, unter anderem aus Landes- und Kommunalarchiven, Zeitungsartikel und Erinnerungsberichte. Die archivarische Überlieferung der Staatssicherheit ist neben der der SED, der Bezirke, Kreise und Kommunen eine der Quellengruppen, die einen Zugang und Aufschluss über das Geschehen in der DDR gewährt. Allein ihr Vorhandensein und ihre Verfügbarkeit muss als Gewinn für die Forschung bewertet werden. Sie ermöglicht neben dem Informationsgehalt eine besondere Perspektive, die der geheimpolizeilichen Verdächtigungen, der Ermittlungsvorgaben und -zwänge und »Gefahrenabwehr«, die es kritisch stets mit zu berücksichtigen gilt. Die Berichte sind zuallererst Texte einer mit der »Feinderkennung« und »-bekämpfung« beauftragten Geheimpolizei, die hieraus ihre Daseinsberechtigung ableitete. Stereotype Zuschreibungen, Feindbilder und das Klischee vom andauernden revolutionären Kampf und die formelhafte Selbstbestätigung gehören dabei dazu. Demgegenüber gab es aber auch die Suche nach dem tatsächlichen Gehalt einer Denunziation oder eines Verdachtes. Trotz des geheimpolizeilichen Ermittlungseifers und der ideologischen Überformung der Sprache soll die Überlieferung des MfS als Zeitzeugnis studien zum Thema »Kirche und Staat«. Schwerin 1997, S. 233–299; Ohlemacher, Jörg; Blühm, Reimund: Repression gegen die christliche Jugend im Bildungs- und Erziehungsbereich. In: Leben in der DDR (ebenda), S. 101–231; Onnasch, Martin: Die Rolle der Kirchen im politischen System der DDR. In: Leben in der DDR (ebenda), S. 9–100. 60 Die Deliktekerblochkarteien, die als Fahndungs- und Findmittel vom MfS angelegt wurden, liegen in unterschiedlicher Form (A4- und A5-Format) und dem Fahndungszweck oder Tatprofil entsprechend, für mehrere Bereiche vor. So existieren unter anderem Karteien unter der Rubrik »schriftliche Hetze Bekannt«, »schriftliche Hetze Unbekannt«, »mündliche Hetze Bekannt«, »mündliche Hetze Unbekannt« und nach Delikt-Paragraphen und Kreisdienststellen angelegte Ablagen. Die A4-Karteien der Kategorie »Hetze« enthalten mitunter bereits in komprimierter Form fast alle Informationen, die sich dem Ermittlungsvorgang entnehmen lassen.

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trotzdem hier Verwendung finden. Hierfür spricht nicht nur der hohe Informationsgehalt. Hinzu kommt der im Vergleich zu anderen Quellen des SEDStaates vergleichsweise hohe Zuverlässigkeitsgrad, was die Annäherung an das wiedergegeben Geschehen betrifft. Zurückführen lässt sich dies auf den Status der Geheimhaltung, aber auch auf das im Lauf der sechziger Jahre verdichtete System unterschiedlicher Bezugsquellen und deren Zuverlässigkeitsprüfung, was einer internen Qualitätskontrolle gleichkam. Letztere lag in der Verantwortung der Auswertungs- und Kontrollgruppen und der Referate Auswertung und Information der Abteilungen XX auf der Bezirksebene sowie der Abteilung Anleitung und Kontrolle der Auswertungs- und Kontrollgruppen der Hauptabteilung IX in Berlin. Hinzu kamen die jährlich in einigen Bezirksverwaltungen angesetzten Komplexüberprüfungen der Hauptabteilung IX. 61 Der Geheimhaltungsgrad legt nahe, dass die so entstandenen Berichte und Analysen nicht in dem Grad, wie es bei offiziellen Verlautbarungen gängig war, der »Beschönigung« und »Glättung« unterlagen. Vor allem das System der internen Prüfungen diente dazu, die Aussagen und Vorgänge hinsichtlich ihrer Verlässlichkeit zu prüfen. Doch sind auch hier quellenkritische Gesichtspunkte zu beachten, auf die in der Arbeit an gegebener Stelle eingegangen wird. So gibt es im MfS-Bestand, was die Qualität betrifft, durchaus unterschiedliche Berichtsformen und Berichtstypen. Während sich die sogenannten operativen Ermittlungsakten, Observierungs- und »Bearbeitungsberichte« relativ nahe am Geschehen zu bewegen scheinen, vermitteln die vom MfS erstellten Stimmungsberichte ein nicht unbedingt überzeugendes Bild. So liegt die Vermutung nahe, dass es nach der Weitergabe der Berichte an die vorgesetzten Stellen häufig zu einer Verkürzung in der Darstellung der geschilderten Tatbestände kam. Dies gilt in Teilen auch für die von der Auswertungs- und Kontrollgruppe regelmäßig vorgelegten Informationsberichte: Aus den in Berlin auf der Grundlage der Berichterstattung aus den Bezirksverwaltungen dann zusammengefügten zentralen Berichten der ZAIG lässt sich aufgrund der hiermit einhergehenden Verkürzung das eigentliche Geschehen allzu häufig nur schwerlich rekonstruieren. Nicht alle Unterlagen, die sich im Bestand des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes befinden, entstanden in den Räumen des MfS. Im Rahmen des »Politisch-operativen Zusammenwirkens« (POZW) kooperierte der Staatssicherheitsdienst unter anderem mit der Volkspolizei, den Räten der Bezirke,

61 Engelmann, Roger; Joestel, Frank: Hauptabteilung IX. Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte – Strukturen – Methoden. MfS-Handbuch. (Veröffentlichung in Vorbereitung – ich danke den Autoren für die Vorab-Überlassung des Arbeitsmanuskripts); Joestel, Frank: Verdächtig und beschuldigt. Statistische Erhebungen zur MfS-Untersuchungstätigkeit 1971–1988. In: Engelmann, Roger; Vollnhals, Clemens (Hg.): Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR (Analysen und Dokumente; 16). 2. Aufl., Berlin 2000, S. 303–329.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Kreise und Städte – insbesondere mit den Abteilungen Inneres – und übernahm deren Informationsberichte. 62 Die Archivarin Christiane Vollbrecht von der BStU-Außenstelle Rostock hat in einer Untersuchung im Jahr 2008 auf die im Bestand der Bezirksverwaltung vorhandenen Unterlagen aus den Referaten Genehmigungsangelegenheiten [Ausreise], Inneres/Kirchenfragen und Volksbildung des Rates der Stadt Rostock hingewiesen. 63 Am Beispiel der Vernehmung der Jugendlichen der »Glatzkopfbande« zeigte Inge Bennewitz nicht nur auf, dass Geständnisse unter »Schlafentzug, Hunger, unerträglichem Durst [...] und grenzenloser Angst« zustande kamen. 64 Durchgeführt wurden die Befragungen, die dem Staatssicherheitsdienst nachfolgend als Grundlage dienten, im Volkspolizeikreisamt in Wolgast. Die von den Vernehmern 1961 protokollierten Aussagen wurden gleichzeitig zugespitzt und sinnentstellt wiedergegeben. In einem Fall scheint es erwiesen, dass dem Beschuldigten leere Papierseiten zum Unterschreiben vorgelegt wurden. Auf ihnen fügte man nachträglich Teile des Vernehmungsprotokolls ein. Ebenso zeichnete die Volkspolizei bei einer Reihe von politischen Verstößen und bei politisch abweichendem Verhalten für die Vernehmungen von Festgenommen verantwortlich, protokollierte deren vermeintliche Aussagen, die wenn die Betreffenden anschließend vom MfS »übernommen« wurden, in deren Ermittlungsakten landeten. Wie Inge Bennewitz aufzeigte, wandte die Volkspolizei beim Verhör der Jugendlichen der »Glatzkopfbande« 1961 rabiatere Methoden als das MfS an und fertigte Vernehmungsprotokolle sinnentstellt eindeutig zum Nachteil der Vernommenen an. 65 Die in den vom MfS durchgeführten Untersuchungsvorgängen protokollierten Vernehmungen geben zumeist die – unter den gegebenen Umständen – zustandegekommenen Aussagen der Untersuchungshäftlinge wieder. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus dem offerierten »Täterwissen« der Vernommenen, aber auch der Arbeitsweise des MfS ab den sechziger Jahren. Hinsichtlich des Duktus, der Wortwahl und der Zuspitzung der Aussagen ist jedoch auch hier zu fragen, ob sie dem Willen der Vernommenen entsprachen. Erkennbar ist häufig ein »Ringen« unter ungleichen Voraussetzungen um die in den Ermittlungs- und Befragungsprotokollen fixierten Aussagen. Hierbei ging es um grundsätzliche Fragen des Tatgeschehens ebenso wie um die Motive der vom MfS Beschuldigten. Auch das MfS versuchte dabei als von der Staatsanwalt62 Zusammenwirken, politisch-operatives (POZW). In: Das MfS-Lexikon. Berlin 2012, S. 393. 63 Vollbrecht, Christiane: Ergebnisse aus der Sichtung der Unterlagen des Bestandes »Rat der Stadt Rostock«. Analyse im Auftrag der BStU-Außenstelle Rostock. Rostock 2008. 64 Bennewitz, Inge: Die wahre Geschichte der »Glatzkopfbande«. Ein Film und seine Hintergründe. In: Apropos: Film 2001. Das Jahrbuch der DEFA-Stiftung. Berlin 2001, S. 232–260, hier 258 f. 65 Ebenda.

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schaft beauftragte Ermittlungsinstanz immer wieder, das Geschehen zu dramatisieren und spitzte Aussagen hin auf das Kriterium der »Staatsfeindlichkeit« zu. Im bürokratisch-geheimpolizeilich verfremdenden Duktus gab man die so oft erst unter Druck erzwungene Aussage als vermeintlich wörtliche Rede wieder. Den Beschuldigten musste ihrerseits daran gelegen sein, ihre missliche Situation nicht noch weiter zu verschlimmern. Grade bei spontanen Widerstandshandlungen wie den zahlreichen Fahnenabrissen und der Beschädigung von Losungen und Agitationstafeln erscheint es auffällig, dass die Beschuldigten ihre Tat im Nachhinein zu entpolitisieren suchten. Das Motiv der persönlichen Verärgerung fern jeglicher politischer Intension taucht dabei ebenso als immer wiederkehrende Begründung auf wie der übermäßige Genuss von Alkohol, der die Handlung als Mutprobe erscheinen lassen sollte. Auch bei anderen Widerstandstaten lässt sich dieses Muster in einer Reihe von Fällen nachweisen. Die von den Auswertungs- und Kontrollgruppen im Bezirk zusammengetragenen Stimmungsberichte lassen sich unter quellenkritischen Gesichtspunkten in verschiedene Bestandteile untergliedern. Am Anfang der Berichte stehen zumeist Äußerungen, die die Rechtmäßigkeit der Politik der SED bestätigen und bekräftigen sollen. Häufig folgen Beispiele aus dem Alltag, die nahelegen, dass sich die Berichterstatter vorzugsweise in parteinahen Kreisen bewegten und hier ihre Freizeit verbrachten. Es drängt sich die Vermutung auf, dass sie der Ansicht waren, dass ihr Umgangskreis ihrer Ansicht nach die »Normalität« abbilde. In den siebziger und achtziger Jahren wurde die prekäre Versorgungslage bezeichnend deutlich benannt. Dies mag als ein Indiz gelten, dass die Mangelsituation die Berichterstatter und ihre Familien ebenso wie die übrige Bevölkerung betraf und für sie zur Belastung wurde. Hinzu kam in der »Provinz« auch der Neid auf die Parteigänger des Systems in Berlin, die es dort, was die Versorgungslage betraf, besser hatten. Zum Schluss enthalten die Berichte die hier interessierenden »negativen Vorkommnisse und Meinungen«, die ein Bild von der tatsächlichen Stimmung in Teilen der Bevölkerung liefern. Trotz der Probleme, die die Auswertung der Geheimpolizei-Akten mit sich bringt, stützt sich die Arbeit im Folgenden auf die Überlieferung des MfS. Hinzugezogen werden dort, wo dies möglich ist, auch andere Quellen wie Erinnerungs- und Zeitzeugenberichte und die Akten kommunaler und staatlicher Stellen. In einer Reihe von Fällen, wie zum Beispiel den Widerstandstaten, wo die Urheber unbekannt blieben oder dort, wo eine Einbeziehung der damals Beteiligten nicht möglich war oder den zeitlichen Rahmen des Projektes gesprengt hätte, muss die Auswertung der MfS-Akten – unter der gegebenen Sorgfalt – Aufschluss über das Geschehen geben.

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III

Widerstand: Kategorien und Motivsuche

Mit dem Ende der DDR und der Öffnung der Archive erhielt auch die Widerstandsforschung zum SED-Staat einen entscheidenden Schub. In den ab Anfang der 1990er Jahre erschienen Arbeiten wurde auch nach den Formen des politisch abweichenden Verhaltens in der DDR gefragt. Als Referenzfolie diente nicht selten die Widerstandsforschung zum NS-Staat, die einen ähnlichen Prozess der Suche nach den geeigneten Begriffen bereits in den 1980er Jahren durchlaufen hatte. Insbesondere für jene Formen des politisch abweichenden Verhaltens, die noch nicht als Widerstand im »engeren« Sinne gelten können, in denen sich aber ebenso die Distanz zum System und der Wille, sich diesem zu entziehen, ausdrückten, ist dies von besonderem Interesse. Und um die soll es hier im Folgenden gehen. Eckhard Jesse verwies auf Martin Broszat, der von Resistenz in Bezug auf das katholisch-konservative Milieu Bayerns sprach, um die dort bestehende Systemferne, verbunden mit einer gewissen Immunität gegenüber der Ideologie der Nationalsozialisten zu charakterisieren. 66 Auch Dietmar Remy charakterisiert so die »Verweigerungshaltung [...] der katholischen Bevölkerungsmehrheit des Eichsfeldes« in Nordthüringen als Resistenz; favorisiert dann aber mit Bezug auf Ilko-Sascha Kowalczuk den Begriff der »gesellschaftlichen Verweigerung«. 67 Mit Eigensinn bzw. EigenSinn 68, Verweigerung 69 und Selbstbehauptung 70 fanden weitere Bezeichnun-

66 Broszat, Martin: Resistenz und Widerstand. In: Ders. u. a. (Hg.): Bayern in der NS-Zeit, Bd. 4 (Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Teil C), München, Wien 1981, S. 691–709; Jesse, Eckhard: Artikulationsformen und Zielsetzungen von widerständigem Verhalten in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Bd. VII, 1, Baden-Baden 1995, S. 987–1030. Hieran anknüpfend orientierte sich Jesse, indem er Broszats Ansatz mit Ideen der Extremismusforschung verband, an den Begriffen Widerstand, Opposition, Resistenz und Dissidenz. 67 Broszat, Martin: Resistenz und Widerstand. In: Ders. u. a. (Hg.): Bayern in der NS-Zeit, Bd. 4 (Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Teil C), München, Wien 1981, S. 691–709, hier 703; Remy, Dietmar: »Staaten kommen und gehen – Gott bleibt!« Zur Verweigerungshaltung der katholischen Bevölkerungsmehrheit des Eichsfeldes im letzten Jahrzehnt der DDR. In: Heydemann, Günther; Mai, Gunther; Müller, Werner: Revolution und Transformation in der DDR 1989/90. Berlin 1999, S. 211–227; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Artikulationsformen und Zielsetzungen von widerständigem Verhalten in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. In: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland«. Bd. VII. 2. Baden-Baden 1995, S. 1201–1284. 68 Bialas, Wolfgang: Vom Eigensinn der DDR-Intellektuellen. Von Parteiarbeit und Dissidenz der scientific community. In: Berliner Debatte Initial (1993) 4, S. 77–88; Vester, Michael: Milieuwandel und regionaler Strukturwandel in Ostdeutschland. In: Ders.; Hofmann, Michael; Zierke, Irene (Hg.): Soziale Milieus in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Strukturen zwischen Zerfall und Neubildung. Köln 1995, S. 7–50, hier 47; Lindenberger, Thomas (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR (Zeithistorische Studien, 12), Köln, Weimar, Wien 1999; Davis, Belinda; Lindenberger, Thomas; Wildt, Michael (Hg.): Alltag, Erfahrung, Eigensinn. Historisch-anthropologische Erkundungen. Frankfurt, New York 2008.

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gen Verwendung. Sie umschreiben verschiedenste Verhaltensformen, die ein latentes Ausweichen und Sich-Verweigern beinhalten oder eine sich im konkreten Handeln niederschlagende Abwehrhaltung meinen. Martin Jander bezog sich auf Richard Löwenthals Unterteilung zum Widerstand im NSStaat, der zwischen dem bewussten politischen Kampf, der gesellschaftlichen Verweigerung und weltanschaulichen Dissidenz unterschied. 71 Auch Bernd Stöver sah, am Beispiel der Arbeiterschaft, ähnliche Verhaltensweisen in beiden Diktaturen, die sich in einer Gemengelage vielschichtiger Motive entwickelten. So gab es sowohl den partiellen Konsens wie Dissenz und erst der Druck, den der Staat ausübte, drängte manch einen zum Widerspruch und Widerstand. 72 Parallelen zum Verhalten im NS-Staat, das von der Nonkonformität, der gesellschaftlichen Verweigerung bis zur politischen Opposition reichte, macht auch Arnd Bauernkämper aus, der die ablehnenden Reaktionen der Bauern in der DDR in Folge der Zwangskollektivierung untersuchte. 73 Um zu umschreiben, was Widerstand ist, wurden in der DDR-Forschung verschiedene Begriffe verwandt. So sprach man unter anderem von Konflikt, Widerspruch, Abwehr, Gegenwehr, Auflehnung, Renitenz, Ungehorsam oder Opposition, um das zu benennen, was Detlev Peukert 1982 mit Blick auf den Nationalsozialismus als den Widerstand »im engeren Sinne« umschrieb. 74 Daneben gab es, so Peukert, jenen bewussten Nonkonformismus, der sich im Alltag gegen die Normen und Vorgaben des Systems im Alltag sperrte und nach Peter Steinbach mehr und eindeutiger war, als die latente Resistenz. In der NS-Forschung hat sich, in Unterscheidung zu den eindeutigeren Formen 69 Pollack, Detlef; Rink, Dieter: Opposition, Widerstand, Protest und Verweigerung in den 70er und 80er Jahren – zur Abgrenzung des Phänomens. In: Dies. (Hg.): Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970–1989. Frankfurt/M. 1997. 70 Fricke, Karl Wilhelm: Selbstbehauptung und Widerstand in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland. 2. Aufl., Bonn, Berlin (West) 1966; Poppe, Ulrike; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR (Forschungen zur DDRGeschichte; 6), Berlin 1995. 71 Löwenthal, Richard: Widerstand im totalen Staat. In: Bracher, Karl Dietrich; Funke, Manfred; Jacobsen, Hans-Adolf (Hg.): Nationalsozialistische Diktatur 1933–1945. Eine Bilanz (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 192), Bonn 1986, S. 618–632, hier 621. 72 Stöver, Bernd: Leben in der deutschen Diktatur. Historiographische und methodologische Aspekte der Erforschung von Widerstand und Opposition im Dritten Reich und in der DDR. In: Pollack, Detlef; Rink, Dieter (Hg.): Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970–1989. Frankfurt/M., New York 1996, S. 46. 73 Bauerkämper, Arnd: Abweichendes Verhalten in der Diktatur. Probleme einer kategorialen Einordnung am Beispiel der Landwirtschaft in der DDR. In: Ders.; Sabrow, Martin; Stöver, Bernd (Hg.): Doppelte Zeitgeschichte. Deutsche-deutsche Beziehungen 1945–1990. Bonn 1998, S. 295– 311. 74 Peukert, Detlev: Der deutsche Arbeiterwiderstand 1933–1945. In: Bracher, Karl Dietrich; Funke, Manfred; Jacobsen, Hans-Adolf (Hg.): Nationalsozialistische Diktatur 1933–1945. Eine Bilanz (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 192). Bonn 1986, S. 633–654, hier 636.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

des Widerstands, zum Beispiel den Flugblattaktionen, Losungen und Sabotagehandlungen, die Umschreibung vom »Widerstand im Alltag« etabliert, auf die sich die Arbeit unter anderem im Folgenden bezieht. Auch Peter Steinbach spricht davon, dass bei der Beschäftigung mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus der Begriff des Widerstandes, nachdem anfangs die großen Ereignisse und Taten im Vordergrund standen, in den 1980er Jahren eine Erweiterung erfuhr. Dies sei, so Steinbach weiter, durch »die Beschäftigung mit dem Widerstand im Alltag und in der Region sowie die Dokumentation einzelner Widerstandsakte von sogenannten ›kleinen Leuten‹« geschehen. 75 Zwar ließen sich der Nonkonformismus, die Verweigerung und der individuelle Protest alternativ auch als Vorformen des Widerstandes bezeichnen. Sie wären in diesem Sinne dann ein Noch-Nicht-Widerstand. Dagegen eingewandt wurde jedoch bereits in der in der NS-Forschung geführten Diskussion, dass die vom System bewusst forcierte Entgrenzung zwischen dem politischen und gesellschaftlichen Bereich, die selbst die private Ebene nicht aussparte, dies wieder infrage stellt. Die Suche nach definitorischer Klarheit stößt so, dies mag für beide Forschungsfelder – die NS- und die DDR-Forschung – gelten, auch an ihre Grenzen und bedarf einer Relativierung. Unabhängig davon steht die Frage, ob sich politisch abweichendes Verhalten sinnvoll in Kategorien unterteilen lässt. Mit Bezug auf den Nationalsozialismus entwarf Detlev Peukert 1982 ein Vier-Stufen-Modell: Er plädierte für die vier Begriffe Nonkonformität, Verweigerung, Protest und Widerstand. 76 Hubertus Knabe legte zu den »Grundformen des politischen Widerspruchs in Ostdeutschland« nach 1945 ein zehnstufiges »Dissens-Fächer-Modell« vor. 77 Ehrhart Neubert brachte für die DDR demgegenüber ein dreistufiges Modell in die Debatte ein. Es geht von drei Verhaltenstypen aus: 1. Das quasi oppositionelles Handeln auf der Grundlage noch gewährter oder temporärer Spielräume, 2. Widerstand, der nicht mehr auf die Einhaltung bestehender Normen achtet und seine Legitimität aus der Nichtlegitimität der SED-Herrschaft zieht und 3. der politische Widerspruch als eine im Vergleich weniger entschiedene Form des Aufbegehrens. 78 75 Steinbach, Peter: Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Ders.; Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 323). Bonn 1994, S. 15–26, hier 15. 76 Peukert, Detlev: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde: Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln 1982, S. 97 f. 77 Knabe, Hubertus: Was war die »DDR-Opposition«? Zur Typologisierung des politischen Widerspruchs in Ostdeutschland. In: DA, 29 (1996) 2, S. 184–198. Das Modell nimmt folgende Unterscheidungen vor: 1. Aufstand, 2. aktiver Widerstand, 3. politische Opposition, 4. Dissidenz, 5. politischer Protest, 6. Neue Soziale Bewegungen, 7. passiver Widerstand, 8. sozialer Protest, 9. partielle Kritik, 10. Resistenz. 78 Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989. Berlin 1997, S. 27– 33.

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Einleitung

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Reinhard Buthmann orientierte sich in seinem 2001 erschienenen Beitrag »Widerständiges Verhalten und Feldtheorie. Theorie versus Wirklichkeit?« an der Feldtheorie des Soziologen Kurt Lewins. Unterteilen ließe sich der »Modus Widerstand« demnach in »aktiv direkt« und »aktiv indirekt«. Hiervon wären wiederum jeweils die Geschehenstypen »organisiert kollektiv« und »individuell« abzuleiten. Dem vorangestellt ist eine Aufstellung, die »widerständiges Verhalten« in die »Modi Widerstand«, »Widerspruch« und »Widerstehen« gliedert. Die »Handlungen und Affekte« werden von Buthmann entweder als »aktiv direkt« oder als »aktiv indirekt« bezeichnet. 79 Ilko-Sascha Kowalczuk schlug 1995 ein vierstufiges Modell vor: Es unterscheidet zwischen 1. gesellschaftlicher Verweigerung, 2. sozialem Protest, 3. politischer Dissidenz und 4. Massenprotest. Alle »vier Gruppen des Widerstands sind« jedoch, wie Kowalczuk betont, »miteinander verwoben«. 80 Karl Wilhelm Fricke forderte hingegen in seinem Beitrag »Dimensionen von Opposition und Widerstand in der DDR« 1999, dass vor der »theoretischen Durchdringung« der Widerstandsgeschichte zunächst eine breiter angelegte »Aufarbeitung der Fakten stehen« müsste. 81 Andernfalls ließen sich, so Fricke, die »Ziele und Motivationen und kausalen Zusammenhänge sowie die inneren und äußeren Bedingungen von Opposition und Widerstand in der SBZ/DDR nicht definieren.« Fricke erinnert daran, dass sich Widerstand und Opposition kaum als losgelöste Phänomene erschließen lassen. Vielmehr habe es einen Stimulus-Response-Mechanismus gegeben: »Der Kausalzusammenhang zwischen Strategie und Taktik der SED und den darauf folgenden oppositionellen und widerständigen Reaktionen«, so Fricke weiter, »deren Erscheinungsform sich ständig wandelte, ist nicht [...] bestreitbar«. 82 Hieran knüpfte auch die Begriffsumschreibung von Karl Wilhelm Fricke an: »In einem Herrschaftssystem totalitären Charakters«, führte Fricke 1966 aus, »kann und muß bereits eine rein menschliche und eigentlich unpolitische Verhaltensweise 79 Buthmann, Reinhard: Widerständiges Verhalten und Feldtheorie. Theorie versus Wirklichkeit? Eine Reminiszenz an Kurt Lewin. In: Neubert, Ehrhart; Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht. Ohnmacht. Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR (Analysen und Dokumente; 21). Bremen 2001, S. 89–120. 80 Kowalczuk, Ilko-Sascha: Artikulationsformen und Zielsetzungen von widerständigem Verhalten in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. In: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«. Bd. VII. 2. Baden-Baden 1995, S. 1201–1284. Vgl. hierzu auch: Ders.: Verschiedene Welten. Zum Verhältnis von Opposition und »SED-Reformern« in den achtziger Jahren. In: Neubert, Ehrhart; Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht. Ohnmacht. Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR (Analysen und Dokumente; 21), Bremen 2001, S. 49–75, hier 55. 81 Fricke, Karl Wilhelm: Dimensionen von Opposition und Widerstand in der DDR. In: Henke, Klaus-Dietmar; Steinbach, Peter; Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand und Opposition in der DDR (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; 9). Köln, Weimar, Wien 1999, S. 20–43, hier 21. 82 Ebenda.

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Opposition oder Widerstand bedeuten. Regimefeindliche Äußerungen reichen daher [...] von unbewußt-spontanem Aufbegehren gegen die Willkür einzelner Maßnahmen des Regimes bis zur bewußt-konzeptiven Opposition, die sich konspirativ zu sammeln und aktiv zu handeln versucht.« 83 Die Arbeit dient in diesem Sinne zuallererst dem Zweck, das Wissen um das politisch abweichende Verhalten in der DDR zu verbreitern. Zur Analyse und Kategorisierung des Faktenmaterials soll hier ein Fünf-Stufen-Modell, bestehend aus den Begriffen Nonkonformität, Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition, zur Anwendung gelangen. Aufgeworfen wurde zudem immer wieder die Frage, welche Motive für die, die sich der Diktatur widersetzten, ausschlaggebend waren. Auch dieser Frage soll im Weiteren, sofern sich hierfür Belege finden lassen, nachgegangen werden. Zumeist impliziert man mit dem Begriff Widerstand einen Akt der bewusst begangenen Gesetzesübertretung und des Aufbegehrens gegen die gegebene staatliche Ordnung. Der Widerstandsbegriff enthält ebenso aber auch eine konservative Komponente. In der Konsequenz kam es häufig erst zum Widerstand, weil die, die sich auflehnten, am Überlieferten festhielten, der Staat dies aber nicht akzeptieren wollte. Die so unter Druck Geratenen reagierten nach ihrem eigenen Verständnis lediglich auf die als Anmaßung empfundenen Eingriffe des Staates in ihre Persönlichkeitssphäre. Sie waren sich zugleich des Risikos bewusst, das sie hiermit eingingen und wussten, dass das Regime sie mit dem Vorwurf des Widerstandes konfrontieren würde. Herfried Münkler führt in diesem Sinne aus, dass sich Widerstand »von revolutionären Handlungen [...] durch sein eher konservatives Ziel« abgrenzt, dass in der »Verteidigung bzw. Widerherstellung des status quo ante« begründet liegt. 84 Widerstand legitimiert sich in der Diktatur demnach nicht über die Vorstellung, abermals eine neue Ordnung schaffen zu müssen, sondern vielmehr über den Anspruch, die vom Okkupanten beseitigten oder nicht gewährten Rechte einfordern und wiederherstellen zu wollen. So ist auch nach dem Militärtheoretiker Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz nicht der Widerstandsleitende, sondern der in dessen Sphäre Eindringende der »wahre Aufrührer«; der Widerstandsleitende hingegen der »wahre Verteidiger der Ordnung«. 85 Diese Sichtweise findet in der von dem französisch-schweizerischen Philosophen JeanJacques Rousseau entworfenen Theorie des Gesellschaftsvertrages ihre Bestätigung. Demnach resultiert das Recht auf Widerstand bzw. das Erlöschen der Gehorsamspflicht aus dem Bruch oder der Nichterfüllung des Gesellschafts83 Fricke, Karl Wilhelm: Selbstbehauptung und Widerstand in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 2. Auflage, Bonn, Berlin 1966, S. 12. 84 Clausewitz, Carl Philipp Gottlieb von: Vom Kriege VI, S. 7. Nach: Münkler, Herfried: Widerstand. In: Wörterbuch Staat und Politik, S. 874–875. 85 Ebenda.

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bzw. Herrschaftsvertrages durch den augenblicklichen Inhaber der Macht. 86 Der Gedanke ist nicht neu und wurde zur Begründung des Widerstandes bereits in der NS-Forschung formuliert: Peter Steinbach hob so das politische Grundverständnis hervor, das die unterschiedlichen Gegner des Nationalsozialismus einte und mit dem sie Maßstäbe setzen: Es ging ihnen darum, »das geschändete Recht zu sühnen, in streng rechtlich gebundener Weise Verantwortung zu fordern und den Menschen wieder in sein Menschenrecht einzusetzen«. 87 Auf jene Kausalität wies auch Melanie Tatur am Beispiel des Widerstandes in der Volksrepublik Polen hin. 88 Als Motiv der polnischen Streikbewegung wird von ihr, auf der Grundlage verschiedener Studien, die »Sehnsucht nach dem normalen Leben ausgemacht«. Jene Sehnsucht richtete sich gegen die Willkür der Macht: mit den Protesten »wurde ein quasi natürliches Recht auf Ordnung und ordentliche Arbeit, Gerechtigkeit und angemessenen Lebensbedingungen, auf ein Leben ohne Angst und Lüge eingeklagt«. Die Strategie der Solidarność-Führung formulierte, so Tatur, unter ausdrücklichem Bezug auf das »Scheitern des Modells des Gesellschaftsvertrages das oppositionelle Programm einer selbstverwalteten Republik«. 89

86 Rousseau, Jean-Jacques: Der Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts. Wiesbaden 2008. 87 Steinbach, Peter: Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Ders.; Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 323). Bonn 1994, S. 15–26, hier 24. 88 Tatur, Melanie: Zur Dialektik der »civil society« in Polen. In: Deppe, Rainer; Dubiel, Helmut; Rödel, Ulrich (Hg.): Demokratischer Umbruch in Osteuropa. Frankfurt/M. 1991, S. 234–255, hier 240–242. 89 Ebenda S. 239 f.

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Das Untersuchungsgebiet: der nördlichste DDR-Bezirk

Der Bezirk Rostock war der einzige Bezirk, der über drei DDR-Außengrenzen verfügte. Neben der Landgrenze im Westen zur Bundesrepublik bei Lübeck, Selmsdorf und Herrnburg grenzte der Bezirk im Osten mit der Insel Usedom an das seit 1945 zu Polen gehörende Swinemünde und Wollin. Eine besondere Situation herrschte zudem entlang der Küste. Sie wurde als offene Seegrenze von der Polizei, der Stasi, der »Volksmarine« und dem »Grenzkommando Küste« überwacht. Freiwillige Grenzhelfer meldeten zudem jede Auffälligkeit. Skurril mutete die Situation an den Stränden des Bezirkes an: Tagsüber dienten sie der Erholung. Mit dem Eintritt der Dunkelheit wurden sie zur Grenzzone, in der man sich nicht aufhalten durfte. Allein schon, weil dieses Verbot nicht jedem bekannt war oder Besucher meinten, es ignorieren zu können, kam es hier immer wieder zu vermeintlichen Grenzverstößen und in der Folge zu Abmahnungen, Zuführungen und Befragungen. Was die Bevölkerungsdichte und die industrielle Bruttoproduktion sowie die als Indikator für die ökonomisch-urbane Erschließung hinzugezogene »mittlere Lastdicht (KW/qkm)« betraf, belegte Rostock einen Wert im unteren Bereich der infrastrukturell mittelstark erschlossenen Bezirke. 1 Neben den vorhandenen industriellen Ansiedlungen (den fünf große Werften und Häfen, dem Faserplattenwerk in Ribnitz-Damgarten und dem Kernkraftwerk bei Greifswald) blieb der Bezirk von der Land- und Fischereiwirtschaft geprägt. Mit Trinwillerhagen lag eines der DDR Vorzeige-Musterdörfer im Bezirk. Neben den beiden Universitäten in Rostock und Greifswald, die auf eine lange Geschichte verweisen konnten, existierten drei Hochschulen. So eine technische Fachschule in Wismar – die 1969 zur Ingenieurhochschule erhoben wurde – und die ebenfalls 1969 durch die Zusammenlegung zweier Vorgängereinrichtungen begründete Ingenieurhochschule für Seefahrt Warnemünde/Wustrow. In Prora auf Rügen unterhielt die NVA eine eigene Kaderschmiede mit Hochschulstatus. In Heiligendamm bestand zudem eine Fachschule für angewandte Kunst. Trotz der bestehenden Bezirkseinteilung lebten die Traditionen landschaftlich-landesherrschaftlicher Prägungen fort. So gab es mit der Evangelisch-lutherischen mecklenburgischen Landeskirche und der 1 Kohl, H.; Marcinek J.; Nitz, B.: Geographie der DDR (Studienbücherei Geographie, Bd. 7). Gotha, Leipzig 1978, S. 90 f., 102 u. 112.

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Evangelisch-uniierten Kirche des Konsistorialbezirks Greifswald für Pommern zwei sehr unterschiedliche protestantische Kirchen, die ab den Siebzigern zunehmend kooperierten. Auch die beiden Reichsbahndirektionen in Schwerin und Greifswald und ihre separaten Fahrpläne zeugten davon, dass sich der Bezirk auf zwei historisch unterschiedlichen Territorien befand. Dem mecklenburgischen Teil, der bis an die Trebel, die Ribnitz und Damgarten teilt, reicht und kurz vor Ahrenshoop endet, haftete der Ruf der Rückständigkeit an. Zum einen mag dieser Eindruck durch die auch noch nach 1945 vorherrschende landwirtschaftliche Prägung, die Dörfer, die durch Ackerbürgerstädte ergänzt wurden, befördert worden sein. Viele Reformen wie die Bauerbefreiung oder die Überwindung der Ständemacht setzten sich in Mecklenburg-Schwerin zum anderen später durch als in anderen Teilen Deutschlands. Das ab 1815 insgesamt zu Preußen gehörende Vorpommern orientierte sich demgegenüber nach Berlin und fand hierüber früher den Anschluss an die politische, technische und infrastrukturelle Entwicklung. 2

1.1

Aufbaubezirk, Abriss, Verfall und Systemkonkurrenz

Der Bezirk Rostock entstand 1952 neben Neubrandenburg und Schwerin als einer der drei Nordbezirke. 3 Sie traten an die Stelle des Landes Mecklenburg, in dessen Namen 1947 der Zusatz »Vorpommern« auf Weisung der SMAD gestrichen werden musste. 4 Während den Bezirken Schwerin und Neubrandenburg im Süden mit Perleberg, Meyenburg und Wittenberge bzw. Prenzlau und Templin beträchtliche Teile Brandenburgs zugeschlagen wurden, vereinigte der Bezirk Rostock die Küstenabschnitte von Mecklenburg und Vorpommern. Entsprechend fiel die sozialistischen Aufbau-Poesie für die Bezirke aus: Während es im Süden mit dem Bezirk Halle »den« Chemiebezirk gab, firmierte Neubrandenburg in dieser Zuordnung als Landwirtschaftsbezirk. Der ebenfalls landwirtschaftlich geprägte Bezirk Schwerin durfte sich »Agrar-

87.

2

North, Michael: Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns. München 2008, S. 74–77 u. 81–

3 Die Grundlage für die neuen Bezirke bildete das »Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe in den Ländern der Deutschen Demokratischen Republik vom 23.7.1952.« In: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, 1952, Nr. 99. Berlin, den 24.7.1952, S. 613 f.; SBZ von 1945 bis 1954. Die sowjetische Besatzungszone Deutschlands in den Jahren 1945–1954. Hg. v. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen. Bonn, Berlin (West) 1964, S. 201 f. 4 North, Michael: Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns. München 2008, S. 98. Der Bezirk Rostock bestand aus vier Stadt- und zehn Landkreisen und war etwa 7 000 km² groß. Hier lebten etwa 900 000 Menschen. Rein statistisch betrachtet – bezogen auf Einwohner und Größe – markiert der Bezirk Durchschnittswerte im DDR-Maßstab: Kohl, H.; Marcinek, J.; Nitz, B.: Geographie der DDR (Schriftenbücherei Geographie; 7). Gotha, Leipzig 1978, S. 90 f., 102, 112.

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1 Das Untersuchungsgebiet

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Industriebezirk« nennen. Rostock – offiziell ein »Industrie-Agrarbezirk« – sollte hingegen mit Begriffen wie Küste, Schifffahrt, Hafen und Strandurlaub assoziiert werden. 5 »Die seeseitig orientierte Wirtschaft des Küstengebietes«, hieß es, »erforderte seine administrative Zusammenfassung, um die wirtschaftlich-organisierende Funktion wirksam angehen zu können.« 6 Neben jener nüchternen Begründung sollte den Einwohnern und Besuchern als sinnstiftende Elemente ein Bewusstsein vom Ostseebezirk vermitteln werden. Eigens wurde von der Deutschen Post ab dem 15. Mai 1967 alljährlich von Mai bis September über Mittelwelle und UKW [FM] das Programm »Radio DDR Ferienwelle« betrieben. 7 Die Neugestaltungspläne für die Bezirksstadt folgten ebenso dieser Metapher. In ihrer Planung von 1969 enthielten sie die Vorstellung, als höchstes Gebäude und Stadtkrone an der Langen Straße hin zur Warnow ein »Haus der Wissenschaft, Bildung und Kultur« zu errichten. 8 Für die angrenzende Neubebauung sollte die Kröpeliner Vorstadt weitgehend abgerissen werden. Das Hochhaus gedachte man in Form eines riesigen, 120 Meter hohen, doppelten Segels zu errichten, dessen Achterliek hin zur Warnow zeigt. Mit dem Theaterneubau, einer Freilichtbühne und einem Aufmarschplatz plante man, hier das neue politische wie kulturelle Zentrum zu schaffen. 9 Auch für andere Bezirksstädte gab es entsprechende Projekte. 10 In Rostock gelangte von der 5 Handbuch der Deutschen Demokratischen Republik. Leipzig 1979, S. 144, 155 u. 164. 6 Kornow, Johannes: Vom Werden und Wachsen unseres Ostseebezirkes. In: Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock, Neue Folge. Hg. im Auftrag des Rates der Stadt Rostock vom Stadtarchiv und dem Kulturhistorischen Museum der Stadt Rostock, (1982) 2, S. 23–39, hier 35. 7 Zur Verfügung stand ein nicht mehr benötigter Militärsender in Diedrichshagen bei Warnemünde, über den man ansonsten einen Messton hätte ausstrahlen müssen, sowie die Sendeanlagen in Putbus auf Rügen. Nach: Lentz, Lothar: Unterhaltung – Information – Manipulation. Betrachtungen zur Rundfunkgeschichte in Rostock und Mecklenburg-Vorpommern. 80 Jahre Rundfunk in Deutschland 1923–2003. In: Zr. 7 (2003) 1, S. 49–60, hier 55; Könne, Christian: Die ›Radio-DDRFerienwelle‹. Programm für Urlaub im Sozialismus. In: Rundfunk und Gesellschaft 35 (1998) 3, S. 15–29. 8 Urbanski, Wolfgang: Rostock. Die weitere städtebauliche Entwicklung der Stadt. In: Deutsche Architektur 18 (1969) 6, S. 330–337, hier 336 f.; Beitrag der Redaktion, Wettbewerb Stadtzentrum Rostock. In: Deutsche Architektur 19 (1970) 2, S. 88–93; Urbanski, Wolfgang: Bebauungskonzept für das Stadtzentrum von Rostock. In: Ebenda, S. 94–95. 9 Diederich, Georg M.: Aus den Augen. Aus dem Sinn. Die Zerstörung der Rostocker Christuskirche 1971. 2. Aufl., Rostock 1997, S. 52, 54, 57 u. 83; Nachrichtenmeldung. In: Ostseezeitung, 18. Jg., Nr. 35, 10.2.1969; Berdermann, Kai: Planung und Bau der Südstadt in Rostock 1960–1968. In: Zr. 10 (2006) 2, S. 59–77, hier 74. 10 Neubrandenburg sollte ein Hochhaus in Form eines mittelalterlichen Stadttores erhalten: Raschke, Brigitte: Der Wiederaufbau und die städtebauliche Entwicklung von Neubrandenburg in der Zeit zwischen 1945 und 1989. München 2005. Nur in Leipzig mit dem einem Buch nachempfundenen Universitätshochhaus und in Jena 1968 mit dem im Volksmund »Keksrolle« genannten CarlZeiss-Hochhaus wurden die Vorstellungen umgesetzt. In Rahmen der »Bildzeichenarchitektur« sollte es als zylindrische Röhre oder auch Fernrohr für die optische Industrie der Stadt stehen. Wieler, Ulrich: Architektur und Bauen in Thüringen 1945–1989 (Thüringer Blätter zur Landeskunde).

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Planung kaum etwas zur Ausführung. Lediglich ein überdimensionierter Parkplatz legte in den folgenden Jahren Zeugnis von den Zukunftsvisionen der SED ab. Mit den anschließenden Tribünenflächen gab es hier vor dem Haus der Seefahrt die Möglichkeit für Massenaufmärsche. Nicht nur das Hochhaus wurde nicht gebaut. Auch die Brücke, die vor der Stadtbild-Dominante schwunghaft die Warnow queren sollte, blieb unausgeführt. Doch wurde die Altbebauung südlich des Schröderplatzes hierfür vorsorglich abgerissen und es verschwand die katholische Christuskirche. 11 Rostock profitierte nicht nur vom Hafen- und Werftenausbau. Hinzu kam die Vision, die Stadt zu einem sozialistischen »Klein-Hamburg« auszubauen. Durch die »Ostseewochen« ab 1958 rückte die Stadt für mehr als ein Jahrzehnt zu den privilegierten Großstädten Berlin und Leipzig auf. 12 Für sieben Tage im Sommer, zumeist im Juni, schien die Stadt der tristen und von Versorgungsmängeln geplagten DDR-Wirklichkeit entrückt zu sein. Die »Ostseewoche« erfüllte im Systemwettstreit gleich mehrere Funktionen. Als Veranstaltung stand sie in Konkurrenz zu der seit der Kaiserzeit bestehenden und nach dem Zweiten Weltkrieg ausgebauten »Kieler Woche« in Schleswig-Holstein. 13 Außenpolitisch bestritt die DDR-Führung so ihren »Kampf um die internationale Anerkennung«. 14 Die SED glaubte, die skandinavischen Staaten eher als Sömmerda 2000, S. 6. In Oberhof entstand mit dem Interhotel »Panorama« von 1967 bis 1969 ein Gebäude, das zwei Skisprungschanzen nachempfunden war. 11 Zur Christuskirche: Diederich, Georg M.: Aus den Augen. Aus dem Sinn. Die Zerstörung der Rostocker Christuskirche 1971. 2. Aufl., Rostock 1997, S. 223–234; Ders.: Die Sprengung der Rostocker Christuskirche vor 25 Jahren. Fakten und Hintergründe. In: DA 29 (1996) 4, S. 560–568; »Mahnmal für 1971 gesprengte Kirche. Am 22.10. wird in Rostock ein Denkmal für die Christuskirche geweiht«. In: MPKZ, 64. Jg., Nr. 42, 18.10.2009, S. 8; Pergande, Frank: Rostock. Eine Scheibe Erinnerung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 244, 21.10.2009, S. 2; Christuskirche. Katholische Gemeinde in Rostock im Wandel der Zeit. Geschichte der Christusgemeinde und ihrer Kirche in Bildern und Texten. Hg. v. Heinrich-Theissing-Institut Schwerin, Schwerin 2010; »Zerbombt, gesprengt und neu. Buch zeigt die bewegende Geschichte der Christusgemeinde in Rostock«. In: MPKZ, 66. Jg., Nr. 3, 23.1.2001, S. 8. 12 Seegers, Lu: »Die Ostsee muss ein Meer des Friedens sein«. Die Ostseewoche in Rostock als Herrschafts- und Stadtrepräsentation der DDR (1958–1975). In: Zr. 11 (2007) 2, S. 45–52. Lu Seegers glaubt, dass Rostock dadurch nach Berlin und Leipzig zur »drittwichtigsten Stadt der Republik avanciert« wäre. Auch nennt sie Rostock eine »ausgesprochene Lieblingsstadt Walter Ulbrichts« – der Beleg hierfür fehlt jedoch. Rostock wäre nach Lu Seegers auch »eine empfindliche Konkurrenz für den Hamburger Hafen« gewesen, was insgesamt schwer vorstellbar ist. So gelang es nicht einmal, den Warenverkehr der Tschechoslowaken, die in Hamburg über einen exterritorialen Moldau-Hafen verfügen, nach Rostock umzuleiten. Als Beleg für seine Aussage führt Lu Seegers an: Rackow, Gerd; Heyne, Martin, Kleinpeter, Oswald (Hg.): Rostock. 1945 bis zur Gegenwart. Rostock 1969, S. 197. Hier ist die betreffende Aussage jedoch nicht enthalten. 13 Muschik, Alexander: Rostocker Ostseewoche versus Kieler Woche: Die deutsch-deutsche Festwochenkonkurrenz um die Gunst der nordischen Länder. In: Zr. 11 (2007) 1, S. 71–78. 14 Linderoth, Andreas: Kampen för erkännande. DDR:s utrikespolitik genternot Sverige 1949– 1972. Lund 2002; Muschik, Alexander: Die beiden deutschen Staaten und das neutrale Schweden. Eine Dreiecksbeziehung im Schatten der offenen Deutschlandfrage 1949–1972 (Nordische Geschichte; Bd. 1), Münster 2005.

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zum Beispiel Frankreich oder Großbritannien für die diplomatische Aufwertung der DDR gewinnen zu können. 15 Nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit 33 Staaten Ende 1972, Anfang 1973, der Anerkennung der DDR durch Frankreich und Großbritannien am 9. Februar 1973 und durch die USA im September 1974 verlor die »Ostseewoche« an Bedeutung und wurde eingestellt. 16 Nach der letzten »Ostseewoche« 1975 trat der Ort an der Warnow in die Reihe der gewöhnlichen Bezirksstädte zurück. Die während der »Ostseewoche« suggerierte Weltoffenheit blieb ein staatlich dosiertes Schauspiel, das denen, die ihm beiwohnten, vor Augen führte, woran es ansonsten stets mangelte. Das »Aufbaugesetz«, der Status als Bezirkshauptstadt und das Privileg, Teil der Ost-West-»Festwochenkonkurrenz« zu sein, gingen mit nicht geringen Sonderzuwendungen einher. 17 Für Denkmalschützer und am Erhalt von historischer Bausubstanz Interessierte bedeutet dies gewöhnlich nichts Gutes. In der Regel rissen die Neugestaltungspläne empfindliche Lücken in den Altbaubestand. Die Folgen waren mitunter gravierender als der Mangel an Geld und Baukapazitäten. Für den Bau der Langen Straße fielen in Rostock ab 1953 Teile der kriegsbeschädigten Altbebauung der Spitzhacke zum Opfer. Zwar wurde die an die Ostberliner Stalinallee erinnernde Prachtstraße dem regionalen Backsteinstil entsprechend errichtet. Wer sich am Erhalt der Häuser interessiert zeigte, den konnte dies nur wenig trösten. So verschwanden die verbliebenen Altbaureste auf der Ostseite des Neuen Marktes. Ebenso fatal wirkte sich der mentale Wandel aus. Altbauten und funktionslos gewordene Gebäude wurden als unzeitgemäße Zeugen einer vergangenen Epoche angesehen. Im Mittelpunkt stand die sozialistische Stadtentwicklung. Da die DDR inzwischen so organisiert war, dass auch kommunale Entscheidungen ohne freie Diskussion oder gar Widerspruch umzusetzen waren, erhielt der Protest, der sich dagegen wandte, eine politische Komponente. Er richtete sich nicht nur gegen die Maßnahme als solche, sondern, ohne dass dies so ausgesprochen werden musste und sollte, gegen die Form, wie sie zustande kam. Dass es nicht mehr die Kommunen waren, die zumeist die Entscheidung über den Abriss und die Neugestaltung trafen, ließ den Protest gegen die Einzelmaßnahme zu mehr werden, als er es ursprünglich gewesen wäre. Die SED hatte die Entscheidungshoheit inzwischen an sich gezogen und die Angelegenheit zur »Chefsache« erklärt. Sie bewarb die Neugestaltungsplane in der Tagespresse als politisches Konzept, dass sich aus ihrem Anspruch, eine neue Gesellschaft durch die Formung eines neuen Menschen zu schaffen, ergab. Auch hier er15 Ebenda. 16 Weber, Hermann: DDR. Grundriß der Geschichte 1945–1990. Überarb. und erg. Neuauflage, Hannover 1991, S. 318–320. 17 Seegers, Lu: »Die Ostsee muss ein Meer des Friedens sein«. Die Ostseewoche in Rostock als Herrschafts- und Stadtrepräsentation der DDR (1958–1975). In: Zr. 11 (2007) 2, S. 45–52, hier 48.

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öffnete sich ein weiteres Feld des »Widerspruchs im Alltag«, der, da die Trennung zwischen privat, kommunal, gesellschaftlich und staatlich von der SED negiert wurde, in der Folge auch zum politischen Widerspruch wurde. Ungeachtet von Einwänden und Eingaben ließ die Stadtverwaltung in Rostock 1960 das Petritor abtragen. 18 In Stralsund ordnete der Rat der Stadt an, das kriegsbeschädigte Semlower Tor zu sprengen, obwohl der Leiter des Instituts für Denkmalpflege in Schwerin, Walter Ohle, protestiert und der Stellvertretende Minister für Kultur, Hans Pischner, Einspruch eingelegt hatte. 19 Stralsund bereitete sich auf diese Weise auf die Ostseewoche vor. Hinzu kam, dass die Route zur Saßnitzer Schwedenfähre über Stralsund führte. Das Semlower Tor galt daher als »Schandfleck«, das den Blick auf die Erfolge des Sozialismus beeinträchtigte. Vom Wandel kündeten hingegen die Dominanten der neuen Zeit: So das Haus der Stadtverwaltung, das Hotel »Baltic« oder das Haus des Hafens. Ebenso das Gebäude der Wasserwirtschaftsdirektion, das im Volksmund aufgrund seiner Kachelmusters Konfettihaus genannt wurde. Es wurde 1960 im historischen Stadtkern errichtet. 20 Bereits am 8. Mai 1959 hatte die SED-Kreisleitung einen Vorstoß der Stadtverordneten zum behutsamen Umgang mit der Innenstadt verworfen. Die SED forderte, dass jeder Plan »nur die sozialistische Umgestaltung« der »Gesamtstadt [...] zum Inhalt haben« könne. 21 Davon blieb bis 1965 nicht viel: An die Stelle der erwartungsvollen Zukunftsvision traten die ökonomischen Zwänge. Hinzu kam die Einsicht, dass Stralsund angesichts der Geschlossenheit seines Stadtkerns der DDR in der UNESCO und ICOMOS 22 zu internationalen Ansehen verhelfen könne. 23 Lediglich DDR-Stararchitekt Hermann Henselmann, der seit 1953 am Umbau von Saßnitz mitwirkte, 24 hielt an den überkommenen Grundsätzen fest. Noch Ende der sechziger Jahre kritisierte er bei einem Besuch im Stadtmuseum, dass in Stralsund – anders als andernorts in der DDR – »die neuen Siedlungen« und die Altstadt nicht miteinander »verflochten« wären, sondern sich »fremd gegenüber« stünden. 25 18 Rüchel, Uta: Denkmalschutz und Macht. Die Entwicklung des Denkmalschutzes in Stralsund zwischen 1930 und 1990. In: Zr. 8 (2004) 1, S. 39–51, hier 46. 19 Ebenda, S. 43–46. 20 Ebenda. 21 Brunner, Detlev: Stralsund. Eine Stadt im Systemwandel vom Ende des Kaiserreichs bis in die 1960er Jahre (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 80). München 2010, S. 88 f. 22 International Council on Monuments and Sites. 23 Rüchel, Uta: Denkmalschutz und Macht. Die Entwicklung des Denkmalschutzes in Stralsund zwischen 1930 und 1990. In: Zr. 8 (2004) 1, S. 39–51, hier 43–46. 24 Für Saßnitz-Dwasieden entwarf Henselmann eine Oberschule mit den dazugehörigen Sportstätten: Brockhaus – Reisehandbuch. Ostseeküste mit Rostock, Stralsund, Greifswald, Wismar, Kühlungsborn und Saßnitz. 3. Aufl., Leipzig 1974, S. 402. 25 Brunner, Detlev: Stralsund. Eine Stadt im Systemwandel vom Ende des Kaiserreichs bis in die 1960er Jahre (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 80). München 2010, S. 89.

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Der Stadtumbau hinterließ auch andernorts seine Spuren. Angesichts des Eifers, mit dem hierbei vorgegangen wurde, blieben nur wenige Wege, den Unmut zu artikulieren. Denkmalschützer, die ihren Beruf ernst nahmen, gerieten schnell in den Ruf der Andersartigkeit. Man verdächtigte sie, sich dem sozialistischen Aufbau insgesamt entgegenstellen zu wollen. Die Bedenken, die sie äußerten, wurden umgedeutet zum Protest, der sich gegen das Programm des sozialistischen Gesellschaftsumbaus richtete. Lediglich ihr unbestreitbares fachliches Interesse an der Sache bewahrte sie davor, dass sich aus ihrer Kritik persönliche wie berufliche Konsequenzen ergaben. Doch auch dies gab es: Bei der Neubesetzung von Stellen wurden die Kritiker nicht mehr berücksichtigt oder mitunter aus ihren Positionen gedrängt. In anderen Fällen lag die Vermutung nahe, dass sich das, was die SED den Kritikern unterstellte, bestätigte: Der forcierte sozialistische Stadtumbau diente anderen Sozialismuskritikern als probates Vehikel, um ihren Protest gegen das System insgesamt zu äußern und über die Defizite bei der Neugestaltung auf die fehlende Legitimität desselben hinzuweisen. 26 Auch hier vollzogen sich der Widerspruch und der Protest im Alltag des Systems vor der Folie einer schwer auszudifferenzierenden Gemengelage. Den Druck, den die SED mit ihrer Maßnahmen zur Umgestaltung der Gesellschaft auf die hiervon Betroffenen ausübte und die Penetranz, mit der die Partei in die Privatsphäre der Menschen vordrang und ihre Glaubensgrundsätze angriff, prägte auch den Widerspruch und Protest in den ersten Jahrzehnten der DDR. So ging es den Betroffenen, die sich hiergegen auflehnten, zuallererst darum, mit dem Beharren am Hergebrachten, dem Festhalten an den eigenen Lebensäußerungen und Überzeugungen und der Solidarität mit anderen Bedrängten sich der SED entgegenzustellen. Man befand sich allem Anschein gegenüber dem System in der Defensive und verteidigte die einem eigengewordene Form des Lebens im Widerspruch und Gegensatz zu den Normen und Vorgaben des SED-Staates. Zwar gab es in allen Jahren die verschiedensten Formen des Nonkonformismus, also des Beharrens und Festhaltens, und des Protestes. Aber erst die späten siebziger Jahre brachten mit der Abnahme des Umgestaltungsdruckes einen Wandel. Im kirchlichen Umfeld nahm die Suche nach offensiveren Formen, mit dem man dem SED-Staat auch politisch offener entgegentreten wollte, zu. Hierzu bedurfte es eines Generationswechsels. Diejenigen, die die fünfziger und sechziger Jahre bewusst miterlebt hatten, schienen durch die Erfahrungen jener Jahre gekennzeichnet. Sie hielten an der Praxis der Verteidigung fest, waren eingeschüchtert oder glaubten nicht, dass mehr, als das, was bislang noch geduldet wurde, möglich 26 Vgl. hierzu im Abschnitt 3.2.4 Oppositionell: mehr als reaktiv die Ausführungen zum ZOV »Prix«: MfS, BV Rostock, Abt. XX/3, an das MfS, HA XX/3, Vermerk zum ZOV »Prix«, Rostock, 18.12.1970: BStU, MfS, AR 3, AOP 4857/74, TV 1, Bd. I, Bl. 5.

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wäre. Anders als in der NS-Zeit standen für diese Form des »Widerstehens im Alltag« kaum praktikable Ansätze zur Verfügung. Vor 1933 bestehende Traditionen im Arbeitermilieu waren nach der NS-Diktatur geschwächt oder in dieser Zeit weggebrochen. Im sozialdemokratischen und bürgerlichen Umfeld sorgte die SED nach 1946 zusätzlich dafür, dass die noch existenten Rückzugsmöglichkeiten durch Verbot und Verfolgung dezimiert wurden. Einen Raum, um sich in organisierter Form dem Herrschaftsanspruch entgegenzustellen, indem man eine eigene Gesprächskultur praktizierte und an Traditionen festhielt, schien vor allem die Kirche zu bieten. Hinzu kamen die wenigen bildungsbürgerlichen und akademischen Kreise, die auf Distanz zum SEDStaat gingen. Sie fanden sich nur in wenigen Städten im Norden, weil das Potenzial vor Ort häufig hierfür fehlte. 27 Unter den missbilligenden Blicken der SED und ihrer betrieblichen Vorgesetzten sowie angesichts der Observierung durch die Geheimpolizei sollten ihnen ihre Gesprächskreise und Zusammenkünfte wie eine Form des Widerstands gegen das SED-Regime erscheinen. De facto traf dies nicht zu. Es war aber eine jener vielfältigen Formen des Nonkonformismus, des Beharrens und der gelebten Andersartigkeit im Alltag, mit der sich Menschen dem Regime entgegenstellten. Da sie mit ihren Treffen eine bedingte Öffentlichkeit herstellten, über Dinge diskutierten, die nicht Gegenstand einer eigenständigen, kritischen Betrachtung sein dürften und hier Literatur tauschten, die in der DDR »nicht lizenziert«, also verboten war, verstießen sie aber auch gegen die DDR-Gesetze.

1.2

Das »Tor zur Welt« im Sperr- und Grenzgebiet: die Häfen in Rostock und Wismar und die Skandinavienfähren

Zu dem, was mit dem Bezirk Rostock assoziiert wurde, zählten immer auch seine Häfen und Fähranlagen. Dass sie als »Tor zur Welt« in der DDR euphemistisch von der Presse bejubelt wurden, weckte kaum einlösbare Sehnsüchte und verleitete mach einen, hier nach einer Möglichkeit zu suchen, aus der DDR zu entkommen. Die Sperr- und Überwachungsanlagen entlang der Häfen bewiesen einmal mehr, wie sehr die Scheinwelt der Propaganda und die Realität auseinander klafften. Die Überwachung an den Häfen und entlang der Küste, mit der man sich alltäglich konfrontiert sah, und die Fluchtversuche,

27 Das MfS in Rostock beschäftigte sich so mit einem Chemiker, der einen Hauskreis »leitete«, sich gegen 1968 gegen die neue Verfassung ausgesprochen hatte und »westliche Lebensweisen verherrlichte«: MfS, BV Rostock, Information zu [Name]: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, ZMA 2197, Bl. 5, 10.

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über die man hinter vorgehaltener Hand redete, zählte zu den ständigen Begleitern des Alltags im Küstenbezirk. 28 Unter der Gründung der beiden deutschen Staaten und der folgenden OstWest-Auseinandersetzung im Kalten Krieg litten auch die wirtschaftlichen Beziehungen. Die Verkehrswege, über die Waren und Dienstleistungen aus den Industrieregionen des Ostens zu den Exportabnehmern gelangten, sollten nach dem Willen der DDR nicht mehr über bundesdeutsches Gebiet verlaufen. Ins Hintertreffen geriet so auch der Seehandel, der bislang zu großen Teilen über die Häfen Hamburg, Lübeck und Bremen erfolgte. Der für den Berlin-Brandenburger Raum maßgebliche Hafen Stettin fiel nach 1945 an Polen bzw. stand, je nach Lesart, »unter polnischer Verwaltung«. Der Plan, hier einen Freihafen für die DDR nach dem Vorbild des tschechoslowakischen Freihafens in Hamburg zu errichten, scheiterte an Vorbehalten der polnischen Seite. Notgedrungen forcierte die SED den Ausbau der eigenen Häfen. 29 Der Neubau des euphemistisch »Überseehafen« genannten Schiffsterminals am Breitling bei Rostock folgte so maßgeblich ökonomischen Erwägungen, die sich aus der politischen Gesamtlage ergaben. Er wurde aber ebenso aus Prestigegründen vorangetrieben. Von einem großen propagandistischen Aufwand begleitet kam es am 26. Oktober 1957 zum ersten »Spatenstich für [den] neuen Seehafen«. Vollzogen wurde er von Rostocks Oberbürgermeister Willi Solisch nördlich von Petersdorf 30, in einer bislang nur von Naturfreunden geschätzten Zone des Küstenhinterlandes. Die Staat- und Parteiführung zeigte sich über alle Zweifel erhaben; zu sehr atmete die Planung den offiziell beschworenen Geist des Aufbruchs in eine bessere Zeit. »Wenn bei uns irgendjemand behaupten würde, mit unserer Wirtschaft ginge es bergab, die Produktion käme bald ins Stocken [...] – man würde ihn glatt für verrückt erklären«, schrieb Walter Florath am Tage des Baubeginns in einer Kolumne des Neues Deutschlands, die den Artikel zum Hafenbau flankierte. 31 Doch kam das Projekt nie zur Vollendung. Verantwortlich hierfür zeichnete die für einen leistungsfähigen Hafen notwendige Binnenwasseranbindung. Sie wurde zwar projektiert, aber nie gebaut. Ursprünglich bestand der Plan, dem neuen Hafen, wie es 1958 nach einem Beschluss von Staats- und Wirtschaftsfunktionären 28 Vgl. hierzu im Abschnitt 5.4 Flucht über die Häfen. 29 Olbrich, Paul: Die Schiffahrt in der sowjetischen Besatzungszone (Materialien zur Wirtschaftslage in der sowjetischen Zone). Bonn 1958, S. 74–83. 30 »Mit aller Kraft an den Ausbau des Seehafens Rostock. Erste Parteiaktivtagung in den Bezirken zur Auswertung der 33. ZK-Tagung«. In: ND, 12. Jg., Nr. 254, 26.10.1957, S. 1; »Nach der 33. Tagung des Zentralkomitees: Neue Initiativen in Stadt und Land. Erster Spatenstich für neuen Seehafen«. In: Ebenda, Nr. 255, 27.10.1957, S. 1; Kleinpeter, Oswald: Die politische und ökonomische Entwicklung der Stadt Rostock in der Periode des Sieges der sozialistischen Produktionsverhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Rackow, Gerd; Heyne, Martin; Kleinpeter, Oswald (Hg.): Rostock. 1945 bis zur Gegenwart, Rostock 1969, S. 171–212, hier 193. 31 Florath, Walter: Wo es aufwärts, wo es abwärts geht. In: ND, Nr. 254, 26.10.1957, S. 1.

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hieß, den »Anschluß an das gesamte Wasserstraßennetz der DDR und der ČSR« zu sichern: »Der neue Seehafen kann seine Aufgabe nur erfüllen«, lautet es vielversprechend in einem Beitrag hierzu, »wenn leistungsfähige Verkehrswege zu den wichtigsten Zentren unserer Industrie geschaffen werden.« 32 Daraus ergebe sich, so der Autor weiter, »die Notwendigkeit, eine Kanalverbindung von Rostock zur Elbe zu schaffen«. Der Ausbau des 149 Kilometer langen Nord-Süd-Kanals sollte von Rostock aus über die Warnow, vorbei an Bützow und Sternberg, über Crivitz Richtung Perleberg erfolgen. Östlich von Wittenberge plante man den Durchstich zur Elbe bzw. bei Stepenitz einen Abzweig direkt in die Havel. 33 Am 15. Dezember hatte das Neue Deutschland zuvor von einem weiteren Vorhaben berichtete. Der neue Hafen verfüge demnach zukünftig auch über einen Kanal, »der den Breitling mit dem Saaler Bodden verbindet und über [die Recknitz und Trebel und] die Peene den Binnenwasserweg bis zum Oderhaff und damit nach dem mitteldeutschen Wasserstraßennetz garantiert«. 34 Bei den Ankündigungen blieb es. Immerhin gelang es, wenn auch mit mehrjähriger Verspätung, den Überseehafen an das Autobahnnetz anzuschließen. Im Oktober 1978 rollte nach acht Jahren Bauzeit der Verkehr auf der von Walter Ulbricht im September 1959 in seiner Rede zum Siebenjahrplan vor der Volkskammer angekündigten NordAutobahn. 35 Als Baubeginn war das Frühjahr 1963 genannte worden. Die ständigen Verzögerungen boten ihrerseits Anlass für hinreichend Spott und einen geläufigen Witz. Jener besagte, dass die Autobahn zwar komme, doch sei sie im August 1961 »zum Trocknen erst einmal hochkant an der Grenze rund um Westberlin aufgestellt« worden. 36 Von Euphorie getragen sein sollte nach den Plänen der SED eine weitere Aktion. Sie erbrachte dem Hafen zwar nicht die aus betriebswirtschaftlichen Gründen wünschenswerte Anbindung an das Binnenwassernetz. Doch errichtete man eine neue Mole für die Hafeneinfahrt. Schul- und Lehrlingsklassen in der gesamten DDR waren aufgerufen, auf den Feldern Steine für die neue Ostmole zu sammeln. 37 Nur gelegentlich kam in den DDR32 Czesienski, H.: Das Bauvorhaben Nord-Süd-Kanal. In: Die Schiffahrt. Hg. v. Verlag die Wirtschaft, (1959) 7, S. 12; »Rostocker Hafentagebuch«. In: Die Schiffahrt. Hg. v. Verlag die Wirtschaft, (1958) 12, S. 19; Ohlens, Bernhard: Der Rostocker Überseehafen. Vorgeschichte, Aufbau und Bestimmung. In: SBZ-Archiv. Dokumente, Berichte, Kommentare zu gesamtdeutschen Fragen, 11 (1960) 8, S. 116–118, hier 118. 33 Czesienski, H.: Das Bauvorhaben Nord-Süd-Kanal (ebenda); Ohlens, Bernhard: Der Rostocker Überseehafen (ebenda). 34 »Antwort auf eine Leserfrage: Warum bauen wir den Rostocker Hafen aus?«. In: ND, 12. Jg., Nr. 296, 15.12.1957, S. 3 35 Karge, Wolf: Autobahnplanung und -bau im Norden der DDR. In: Zr. 13 (2009) 2, S. 39– 48, hier 40. 36 Ebenda. 37 Danker-Carstensen, Peter: 40 Jahre Rostocker Seehafen. In: Zr. 4 (2000) 1, S. 29–35, hier 30.

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Veröffentlichungen das Ungewöhnliche an dem Unterfangen zur Sprache: »Die DDR hatte bisher auf dem Gebiet des Hafenbaus wenig Erfahrungen«, hieß es so in einem Beitrag, um an anderer Stelle fortzufahren: »Die Ostmole wurde zu einem großen Teil unter Verwendung von Feldsteinen und nach bisher nicht üblichen Verfahren geschüttet.« Beschworen und reproduziert werden sollte zugleich das Bild von der »ganzen Republik«, die »da [...] mit am Überseehafen« baute. 38 Um die FDJ-Gruppen zu höheren Ergebnissen beim Feldsteinsammeln anzuhalten, kreierten findige Agitatoren eigens ein Maskottchen. »Leichtmatrose Pitt« berichtete in Tageszeitungen und andernorts von den Fortschritten beim Hafenausbau. 39 Neben der innenpolitischen Mobilisierung spielte der ökonomische Faktor bei der Kampagne eine nicht unwesentliche Rolle. Man hoffte auf diesem Wege, Material zu sparen und so die Ausgaben für den Hafenausbau zu begrenzen. In Anwesenheit einer von Walter Ulbricht angeführten Regierungsdelegation konnte der Hafen am Vorabend des 1. Mai 1960 symbolträchtig eröffnet werden. Die Propaganda setzte Walter Ulbricht wirkungsvoll ins Bild. Am Hafenbecken B bestieg er am 30. April die eingelaufene MS Schwerin und grüßte mit ausladender Handbewegung die versammelten Journalisten und Gäste. 40 Ulbrichts Auftritt im Hafen und »Leichtmatrose Pitt« verkündeten den Lesern, dass die DDR einen weiteren Erfolg errungen habe. Die DDR sei ein maritim engagierter Staat und mit Überseeterminal und eigener Flotte ausgestattet. Neben dem Ausbau des Hafens in Wismar und dem Neubau in Rostock entstand zwischen 1982 und 1986 auf der Grundlage älterer Planungen der Fährhafen Mukran. Geschaffen werden sollte so eine leistungsstarke Fährbzw. Trajektverbindung zwischen der DDR und der Sowjetunion, die die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen beiden Staaten untermauern sollte. Zugleich kam dem Hafen eine wichtige Rolle als Nachschublinie für die sowjetischen Truppen in der DDR zu. 41 Bei den Bauarbeiten gelangten auch etwa 480 Waffendienstverweigerer zum Einsatz. Sie wurden bevorzugt zu Handschachtarbeiten eingesetzt. Prora wurde so »zeitweise [...] [zum] größten Bau-

38 Kornow, Johannes: Vom Werden und Wachsen unseres Ostseebezirkes. In: Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock, Neue Folge. Hg. im Auftrag des Rates der Stadt Rostock vom Stadtarchiv und dem Kulturhistorischen Museum der Stadt Rostock, (1982) 2, S. 23–39, hier 36. 39 »Feldsteine für den Rostocker Hafen. 1 657 Tonnen auf Rädern«. In: Freie Erde. Organ der Bezirksleitung Neubrandenburg der SED, 7. Jg., Nr. 41, 18.2.1958, S. 2. 40 »Umschlag begann mit Feuerwerk. Am 30. April 1960 machte MS ›Schwerin‹ im Rostocker Überseehafen fest«. In: Norddeutscher Leuchtturm. Beilage der Norddeutschen Neusten Nachrichten, 26.4.1985, S. 3; Danker-Carstensen, Peter: 40 Jahre Rostocker Seehafen. In: Zr. 4 (2000) 1, S. 29–35, hier 31. 41 Klietz, Wolfgang: Ostseefähren im Kalten Krieg. Berlin 2012. Kramer, Reinhard; Kramer, Wolfgang; Foerster, Horst-Dieter: Zwischen Gestern und Morgen. Die Fährverbindung SassnitzTrelleborg. Rostock 2009, S. 146–148.

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soldaten-Standort der DDR«. 42 Sie wurde in einem Block einer in den dreißiger Jahren aus dem Boden gestampften, jedoch nicht fertiggestellten Bäderanlage untergebracht. Die NS-Organisation »Kraft durch Freude« hatte geplant, an der Ostküste Rügens südlich von Sassnitz ein gigantisches Prestigeobjekt hochzuziehen. Die Zeit auf Rügen hinterließ bei denen, die hier als Spatensoldaten ihren Armeedienst ableisteten und von den Vorgesetzten häufig schikaniert wurden, gemischte Gefühle: »Die DDR-Führung fasste«, so schreibt Rüdiger Wenzke in seinem Beitrag über die Bausoldaten von Prora, »jede [...] Waffendienstverweigerung prinzipiell als politische Gegnerschaft auf.« 43 Die Häfen in Stralsund und Wolgast waren schon aufgrund ihrer geographischen Lage wirtschaftlich weniger leistungsstark. Sie standen vor allem der Küstenschifffahrt zur Verfügung und dienten – im Fall von Wolgast – als Umschlagplatz für die Binnenschifffahrt bzw. in Stralsund auch als Fährhafen für das nahe Hiddensee. 44 Während dem Wolgaster Hafen im Seeverkehr eine untergeordnete Bedeutung zukam, diente die 1948 in der Stadt aufgebaute Werft der Kriegsmarine de facto als »Hauswerft«. Bis 1990 baute man hier die meisten der von der »Volkspolizei See«, dem »Grenzkommando Küste« und der »Volksmarine« genutzten Boote. Von 1965 bis 1990 entstanden hier insgesamt 225 Militärschiffe der unterschiedlichsten Klassen für die DDR, die Sowjetunion und Polen, davon 32 Landungsboote für die vorbeugende »Verteidigung auf dem Territorium des Gegners«, sprich den Angriffskrieg. 45 Militärische Bedeutung besaßen vor allem die Stützpunkte Dranske auf Rügen – hier waren 1965 die Schnelleinsatzkräfte in der 6. Flottille zusammengefasst und stationiert worden – sowie Peenemünde auf Usedom und Hohe Düne bei Warnemünde. 46 42 »Die Waffenverweigerer in Uniform. Eine Tagung auf Rügen soll die Bausoldaten der DDR stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken«. In: MPKZ, 66. Jg., Nr. 12, 27.3.2011, S. 12. Zu den Zahlen: 1985 waren insgesamt 1 242 Bausoldaten in 15 Stammobjekten stationiert, davon 354 in Prora, 141 in Brandenburg/Havel, 105 in Pasewalk. An den restlichen Standorten waren jeweils weniger als 100 Bausoldaten stationiert. Nach: Eisenfeld, Bernd; Schicketanz, Peter: Bausoldaten in der DDR. Die »Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte« in der NVA. Berlin 2011, S. 177 f. 43 Wenzke, Rüdiger: Die Bedeutung des Militärstandortes Prora für die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte. In: Zr. 14 (2010) 1, S. 73–78, hier 76; »Die Waffenverweigerer in Uniform. Eine Tagung auf Rügen soll die Bausoldaten der DDR stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken«. In: MPKZ, 66. Jg., Nr. 12, 27.3.2011, S. 12. 44 Olbrich, Paul: Die Schiffahrt in der sowjetischen Besatzungszone (Materialien zur Wirtschaftslage in der sowjetischen Zone). Bonn 1958, S. 74–83. 45 Vgl. hierzu die Planungen des Warschauer Paktes, die »Volksmarine« zusammen mit der polnischen Marine Teile Dänemarks und Südschwedens besetzten zu lassen. Hierzu: Friis, Thomas Wegener: Die Militärspionage der NVA in Dänemark. In: HuG, 15 (2006) 3, Nr. 55, S. 10–15; Zur Produktion im VEB Peene-Werft Wolgast: Markus, Uwe: Waffenschmiede DDR. Ein Überblick. Berlin 2010, S. 143–158. 46 Markus, Uwe: Waffenschmiede DDR. Ein Überblick. Berlin 2010, S. 143–158. Vgl. hierzu auch: Pfeiffer, Ingo: Gegner wider Willen. Konfrontation von Volksmarine und Bundeswehr auf See. Berlin 2012.

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Bilder im Kopf: Otto von Bismarcks verspätetes Mecklenburg 47 und »im Norden – da war doch eh nichts los«

Anders als mitunter angenommen, 48 kam es im Norden immer wieder zu Verweigerung, Aufbegehren und Widerstand. Der Bezirk Rostock hinkte den Ereignissen keineswegs immer hinterher. Zwar entschied sich Kai Langer, seine Abhandlung über die Ereignisse von 1989 mit dem vielsagenden Titel »ihr sollt wissen, daß der Norden nicht schläft …« zu versehen. Expressis Verbis impliziert der Titel noch kein höheres Maß der Systemgefolgschaft als anderorts in der DDR. Doch schien Kai Langer diese Annahme naheliegend zu sein. Sie ergebe sich, so mutmaßt Langer, aus einer wie auch immer gearteten Gesamtsumme historischer und mentaler Prägungen (»der schwerblütigen Mentalität« 49) der im Norden lebenden Bevölkerung. Hieraus leitet Langer die »Neigung der Bevölkerung« ab, »sich mit den bestehenden Verhältnissen zu arrangieren«. 50 »Zu prüfen« wären, schreibt Kai Langer in der Einleitung, daher »die Ursachen für die relativ hohe Anpassungsbereitschaft der Norddeutschen gegenüber dem politischen System«. 51 Als ein Beispiel, das in diesem Zusammenhang »hervorhebenswert« sei, führt Kai Langer den Umstand an, dass »immerhin 21,6 Prozent« der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter in der SED organisiert gewesen seien. 52 Dies vermag kaum zu beweisen, was hier bewiesen werden soll. Der hohe Stand der SED-Mitgliedschaft belegt keineswegs, wie Langer meint, eine besondere Affinität zum SED-System im Norden der DDR. Vielmehr spiegelt jener Wert nur die Parteibindung unter der berufstätigen Bevölkerung wider, die es in der gesamten DDR gab. Dies bestätigen auch die von der SED herausgegeben Zahlen. Während der betreffende Wert in den Nordbezirken bei 21,6 Prozent lag, erreichte der Organisationsgrad in der DDR insgesamt 21,9 Prozent. Außerhalb des Ostseebezirkes lag er so noch

47 Otto von Bismarck ist der Ausspruch zugeschrieben worden »Wenn die Welt untergeht, gehe ich nach Mecklenburg, denn dort geht sie fünfzig Jahre später unter«; belegt ist der Ausspruch als Bismarck-Zitat jedoch nicht. Vgl. hierzu: www.quotez.net/german/otto_von_ bismarck.htm (14.07.2014). Hierzu: Kasten, Bernd: Alles 50 Jahre später? Die Wahrheit über Bismarck und Mecklenburg. Rostock 2013, S. 24–25. 48 Langer, Kai: »Ihr sollt wissen, daß der Norden nicht schläft …«. Zur Geschichte der »Wende« in den drei Nordbezirken der DDR (Quellen und Studien aus den Landesarchiven MecklenburgVorpommern; 3). Bremen/Rostock 1999, S. 266. Hierzu ebenso: Langer, Kai: Aufbegehren und Widerstand in Mecklenburg und Vorpommern 1945–1989. In: Brunner, Detlev; Niemann, Mario (Hg.): Die DDR – eine deutsche Geschichte. Wirkung und Wahrnehmung. Paderborn, München, Wien 2011, S. 297–318. 49 Langer, Kai: »Ihr sollt wissen, daß der Norden nicht schläft …« (ebenda), S. 268. 50 Ebenda, S. 266. 51 Ebenda, S. 9 f. 52 Ebenda, S. 28.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

geringfügig höher. 53 Bereits 1993 erschien von Lothar Probst die »Geschichte des politischen Umbruchs in Rostock im Herbst 1989«. 54 Der Titel des Buches »Der Norden wacht auf« spiele auf jene Losung an, die, so Lothar Probst, »selbstbewusst« von einigen Rostockern »während der ersten großen Demonstration« in Rostock [am 19. Oktober 1989] gerufen worden« sei. 55 Das Paradigma vom »im Vergleich zum Süden ›langsameren‹ Norden« erwies sich auch für Lothar Probst als erkenntnisleitend, wobei er in seiner Argumentation ebenso »auf die besondere Mentalität der Menschen im Norden« verweist. 56 Als Beleg dienen ihm zwei Interviews. Probst befragte Joachim Gauck und Heiko Lietz, die ihn in seiner Annahme bestätigen. Joachim Gauck erklärte, die Norddeutschen »mußten [...] erst von den Sachsen angestachelt werden« und würden »sich nun mal nicht [...] am ehesten aus dem Sessel« erheben. Lietz verwies auf den »Unterschied zwischen uns hier [...] und den anderen Landesteilen«, der ihm manifest erscheine. Wesentlich differenzierter fiel demgegenüber die Antwort des Rostocker Studentenpfarrers Christoph Kleemann aus, der Propst darauf verweist, dass »Trägheit und Phlegma« grundsätzlich »zwei verschiedene Dinge« seien. Wer aus der vermeintlichen Ruhe, die die norddeutsche Lebensart ausstrahle, schließe, dass es den Betreffenden »an innerer Bewegung« mangele, der, so Kleemann, »täuscht sich«. Der Unterschied sei vielmehr darin zu suchen, so Kleemann weiter, dass »im Norden [...] vieles in der Stille« reife, eh es für den unbedarften Beobachter plötzlich unerwartet und unaufhaltsam »nach außen drängt«. Im »temperamentvollen Süden« würden demgegenüber »auch die halbfertigen Dinge« angesprochen oder in Bewegung gesetzt. 57 Bezeichnenderweise glaubte ausgerechnet der letzte Leiter der MfSBezirksverwaltung in Rostock, Oberst a. D. Artur Amthor, Kai Langer und Lothar Probst widersprechen zu müssen. Mit seinem Buchtitel »Ruhe in Rostock? Von wegen« stellte er sich dem Eindruck vom vermeintlich beschaulichen Norden entgegen. 58 Die Situation sei, klagte der »Untersuchungsführer« und spätere Leiter der Untersuchungsabteilung IX und »Stellvertreter Operativ« von der großen Zahl der »Vorkommnisse« und einer »hohen arbeitsmäßi53 Ludz, Peter Christian; Ludz, Ursula: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED). In: DDR-Handbuch. Hg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. 3. Aufl., Köln 1985, S. 1160–1189, hier 1185. 54 Probst, Lothar: »Der Norden wacht auf«. Zur Geschichte des politischen Umbruchs in Rostock im Herbst 1989. Bremen 1993, S. 12. 55 Auch hierbei bezieht sich Probst auf das mit Joachim Gauck geführte Interview: Probst: »Der Norden wacht auf« (ebenda), S. 10, 12. Vgl. hierzu: »Riss durch den Osten. Joachim Gauck kritisiert die ›Angst vor der Freiheit‹«. In: Ostseezeitung v. 22.10.2009, S. 2. 56 Probst: »Der Norden wacht auf«. Zur Geschichte des politischen Umbruchs in Rostock im Herbst 1989. Bremen 1993, S. 12. 57 Ebenda. 58 Artur Amthor: Ruhe in Rostock? Von wegen. Ein Oberst a. D. berichtet. Berlin 2009.

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gen Belastung« geprägt gewesen. Sein Arbeitsalltag in Rostock unterschied sich so kaum von dem seiner Kollegen in den anderen Bezirksverwaltungen. 59 Dies mochte was auch immer bedeuten. Neben der geringen urbanen Dichte im Vergleich zum Süden der DDR gab es regionale Besonderheiten, die entlang der Ostsee zum Problem für die Stasi wurden. Neben der unübersichtlichen Situation auf den Zeltplätzen, wo größere Gruppen von Jugendlichen der Stasi Kopfzerbrechen bereiteten, trat die Grenzsituation an der Küste und bei Lübeck. Darüber hinaus zeichnete die Bezirksverwaltung Rostock für die Überwachung der DDR-Schiffsbesatzungen und die Häfen verantwortlich. Während des Sommers heuerten zudem nicht wenige von der Stasi als Aussteiger beargwöhnte Saisonkräfte aus allen Teilen der DDR an der Küste an und schufen sich hier – so auf Hiddensee – ihre eigene Welt fern der Systemzwänge des gewöhnlichen DDR-Arbeitsalltages in den Betrieben. 60 Entlehnt ist das Zitat, das Langer als Vorlage diente, einer Erklärung, die das Neue Forum des Bezirkes Schwerin am 17. Oktober 1989 in Güstrow verabschiedete. Es sei falsch, hieß es hier, wenn behauptet würde, der Norden hätte den gesellschaftlichen Aufbruch »verschlafen«. 61 Mit der Erklärung wolle man beizeiten den Gerüchten entgegenwirken, zwischen dem Norden und dem Süden gäbe es unterschwellige Spannungen. Angesichts der sich verselbstständigenden Ereignisse hätten jene der SED als willkommener Vorwand dienen können. Konkret reagierte man auf Meldungen, in Leipzig wären Autos mit den Kennzeichen A (für Rostock), B (für Schwerin) oder C (für Neubrandenburg) nicht mehr betankt worden. Als Begründung sei, so das Gerücht, vom Tankwart angegeben worden, der Norden wäre »rot« und die SED müsse hier keinerlei Proteste befürchten. 62 Im »Süden der DDR«, so hieß es auch in einem Stasi-Bericht, werde »über den ›Roten Norden‹ hergezogen und gesprochen«. 63 Dass es im Norden bis zum 17. Oktober grundsätzlich ruhig 59 Ebenda, S. 30. 60 Magas, Marion: Hiddensee. Inselgeschichte aus einer anderen Zeit. DDR-Zeitzeugnisse von Inselfreunden und Lebenskünstlern. Berlin 2008; Dies.: Hiddensee. Versteckte Insel im verschwundenen Land. DDR-Zeitzeugnisse von Inselfreunden und Lebenskünstlern. 2. Aufl., Berlin 2010; Faust, Manfred: Hiddensee. Die Geschichte einer Insel: Von den Anfängen bis 1990 mit einer Chronik der wichtigsten Ereignisse. Ribnitz-Damgarten 2009. 61 Langer, Kai: »Ihr sollt wissen, daß der Norden nicht schläft …«. Zur Geschichte der »Wende« in den drei Nordbezirken der DDR (Quellen und Studien aus den Landesarchiven MecklenburgVorpommern; 3). Bremen, Rostock 1999, S. 9. 62 Vgl. hierzu auch: Joachim Gauck: Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen. München 2009, S. 201. Gauck berichtet, dass »Autos aus den Nordbezirken [...] mit Schimpfwörtern bemalt« worden seien. Ebenso hieß es in einem OiBE-Bericht der Stasi vom 11.10.1989 hierzu: »daß im Süden der DDR Bürger aus den Nordbezirken beschimpft und vereinzelt nicht bedient (z. B. an Tankstellen) werden.« Nach: MfS, BV Rostock, [Bericht] Meinung von [Name], Abt. Postbau der BDP, Rostock, 11.10.1989: BStU, MfS, BV Rostock, OiBE 449/93, T. II, Bd. I, Bl. 284. 63 MfS, BV Rostock, [Bericht] Meinung von [Name], Abt. Postbau der BDP, Rostock, 11.10.1989: BStU, MfS, BV Rostock, OiBE 449/93, T. II, Bd. I, Bl. 284.

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geblieben wäre, ließe sich kaum behaupten. Zwar lag der Schwerpunkt der Proteste in Sachsen und Berlin. Zu den Städten, aus denen am 7. Oktober »feindliche Demonstrativhandlungen [...] begleitet von Rufen gegen die Sicherheitsorgane, nach ›Freiheit‹« und dem »Neuen Forum« zu vermelden waren, zählten auch Prenzlau, Neubrandenburg und Rostock. Jeweils etwa dreißig Demonstranten bewiesen hier, dass sich der Aufbruch nicht nur auf Plauen, Leipzig, Dresden, Berlin und andere Orte beschränkte. 64 In der Rostocker Petrikirche versammelten sich am Abend des 7. Oktober zudem an die tausend Teilnehmer zu einer Gebetsnacht. Ausgelegt wurde hier eine Protestresolution an das Zentralkomitee der SED, die Volkskammer und den Bezirkstag unter der sich schließlich 600 Unterschriften fanden. Am 9. Oktober überreichte eine Delegation den Protest im Rathaus der Stadt. 65 Und am 12. Oktober nahmen etwa 2 000 Interessierte an einer gemeinsamen Veranstaltung des »Neuen Forums« und der »Sozialdemokratischen Partei der DDR« in der Rostocker Marienkirche teil. Berichtet wurde hier über die Proteste und die polizeilichen Übergriffe in Berlin und Leipzig. Zugleich fand eine Spendensammlung für die in anderen Städten Inhaftierten statt. 66 Ähnliche Anwürfe, wie sie gegen Autofahrer aus dem Norden gerichtet worden sein sollen, erfreuten sich in deren Heimat einer gewissen Popularität. An einigen Stammtischen zwischen Oder, Haff und Küste behaupteten böse Zungen, bei den Funktionären in den Nordbezirken handle es sich um eine sächsische Equipe. Allzu häufig hieß es nicht nur im alkoholisierten Zustand »sie seien im Norden die vierte Besatzungsmacht«. Angeführt wurde so gerne der langjährige Erste Sekretär der SED in Neubrandenburg, Johannes Chemnitzer, der nicht nur Chemnitzer hieß, sondern fast aus jener Stadt stammte, die seit 1953 Karl-Marx-Stadt hieß. 67 Durch die SED-Funktionäre Lothar Geißler aus Sachsen-Anhalt (Vorsitzender des Rates des Bezirkes Neubranden-

64 MfS, ZOS, 2. Tagesbericht zur politisch-operativen Lage und Wirksamkeit der Sicherungsmaßnahmen aus Anlaß des 40. Jahrestages der Gründung der DDR – »Jubiläum 40«, Berlin, 8.10.1989: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2275, Bl. 52–54; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 394. 65 MfS, ZOS, Information Nr. 1488/89 vom 9.10.1989: Übergabe einer »Erklärung aus der Gebetsnacht in der Petrikirche« durch Vertreter der Kirche an den Referenten für Kirchenfragen des Rates der Stadt Rostock: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2277, Bl. 31–33. 66 MfS, ZOS, Politisch-operativ bedeutsame Handlungen, Vorkommnisse und Erscheinungen im Zusammenhang mit der operativen Aktion »Jubiläum 40« gemäß dem Befehl Nr. 14/89 und der Weisung des Genossen Minister vom 8.10.1989 (Berichtszeitraum: 12. bis 13.10.1989), Berlin, 13.10.1989: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2280, Bl. 27 f. 67 Johannes Chemnitzer stammte tatsächlich aus Weidenfels bei Chemnitz. Von 1963 bis 1989 war Chemnitzer Bezirkschef in Neubrandenburg. Nach: Wer war wer in der DDR? Bd. 1, Berlin 2010, S. 204.

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burg von 1962 bis 1967) 68 oder Wolfgang Urbanski aus Lößnitz im Erzgebirge 69, von 1969 bis 1972 der Chefarchitekt von Rostock, glaubte man die Theorie bestätigt zu sehen. Weitere Biographien von in Sachsen geborenen Funktionären schienen den Eindruck zu erhärten. 70 Zur wissenschaftlich-kulturellen Prominenz, deren weicher Dialekt sie als Aufbauhelfer auswies, zählte der bei Chemnitz geborene Schriftsteller Kurt Barthel, von 1956 bis 1967 Leiter des Volkstheaters in Rostock und dessen Chefdramaturg. Dies galt auch für mehrere Universitätsrektoren. 71 Ein Teil der Funktionäre, die wegen ihres Dialektes als nicht einheimisch auffielen, entstammte Flüchtlingsfamilien. So Werner Krolikowski (unter anderem Sekretär für Agitation und Propaganda der Bezirksleitung Rostock), dessen Eltern aus Schlesien geflohen waren. Hier im Norden stellte er seine Befähigung unter Beweis, bevor er seine Karriere andernorts fortsetzte. Oder auch Alfred Kraus, der erste Leiter der MfS-Bezirksverwaltung in Rostock und Vorgänger von Rudolf Mittag, den es als Sudetendeutschen in den Norden verschlug. 72 Wie bei den Schlesiern und den Sudeten nahmen es die Plattdütschen mit der Zuordnung bei jenen nicht so genau, die aus Sachsen-Anhalt oder Thüringen stammten. Auch sie galten den meisten, da sie den ortsüblichen Dialekt nicht beherrschten, als Vertreter einer an die Küste delegierten Funktionärskaste. 73

68 Zu Lothar Geißler: Wer war wer in der DDR? Bd. 1, Berlin 2010, S. 380. Im Bezirk Neubrandenburg stammten zudem die SED-Bezirkssekretäre Fritz Hecht, Wolfgang Hermann, Horst Jonas und Gerhard Müller aus dem Süden der DDR. 69 Zu Wolfgang Urbanski: Wer war wer in der DDR? Bd. 2, Berlin 2010, S. 1035. 70 Herbst, Andreas; Ranke, Winfried; Winkler, Jürgen (Hg.): So funktionierte die DDR. Bd. 3 (Lexikon der Funktionäre). Reinbek 1994,S. 227, 273; Zu Egon Rentzsch: Wer war wer in der DDR? Bd. 2, Berlin 2010, S. 1061 f.; Zu Gerda Meschter: Ebenda, S. 873 f. ; Zu Rudolf Mittag: Ebenda, S. 891. 71 So für Professor Klaus Plötner, von 1976 bis 1982 Prorektor und 1989 bis zu seiner Abberufung 1990 Rektor an der Universität Rostock und seinen Vorgänger im Amt Wolfgang Brauer (1976– 1989). Hinzu kam der Rektor der Ingenieurhochschule Wismar, der Leipziger Heinrich Preuss (1979–1988) sowie der Prorektor, dann Rektor der Universität Greifswald Professor Peter Richter (1984–1988/1988–1990). Zu Kurt Walter Barthel: Wer war wer in der DDR? Bd. 1, Berlin 2010, S. 65; Zu Klaus Otto Gustav Plötner: Ebenda, Bd. 2, S. 1012; Zu Wolfgang Brauer: Ebenda, Bd. 1, S. 167; Zu Peter Richter: Ebenda, Bd. 2, S. 1070; Herbst, Andreas; Ranke, Winfried; Winkler, Jürgen (Hg.): So funktionierte die DDR. Bd. 3 (Lexikon der Funktionäre). Reinbek 1994, S. 26, 46, 259, 263, 276. 72 Flocken, Jan v.; Jurtschitsch, Erwin: »Das hat uns als Tschekisten Spaß gemacht«. Im Einsatz gegen Bauern, Pfarrer und Studenten. Tagebuchaufzeichnungen eines alten Stasi-Generals. In: Der Morgen, Nr. 141, 20.6.1990, S. 14. 73 Aus Thüringen stammten so die Sekretäre der SED-Bezirksleitung Gerhard Mendl (1955– 1960) und Bruno Lietz (1961–1972). Karl Zylla, der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung in Rostock von 1954–1960, vereinte in seiner Biographie beides: In Breslau geboren, hatte das ehemalige NSDAP-Mitglied ab 1946 mit dem SED-Parteibuch in Thüringen Karriere gemacht und war 1954 zum Aufbau des Sozialismus an die Ostsee entsandt worden. Zu Bruno Lietzin: Wer war wer in der

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Vergessen wurde darüber zumeist, dass ein Teil des Spitzenpersonals, wie Hans Warnke, Harry Tisch oder auch Karl Mewis selbst dem Norden entstammte. Während ersterer in Hamburg das Licht der Welt erblickte und später in Rostock als Vorsitzender des Rates des Bezirkes von 1952 bis 1959 residierte, leiteten Mewis (in Hamburg geboren) von 1952 bis 1961 und der aus Vorpommern stammende Tisch von 1961 bis 1975 als Erste SEDSekretäre die Geschicke des Ostseebezirks. 74 Komplizierter verhielt es sich mit Ernst Timm, dem vorletzte Chef der SED-Bezirksleitung von 1975 bis 1989. In Brandenburg/Havel geboren (jedoch bei seinen Großeltern aufgewachsen) schien er, so die Erinnerung von Zeitzeugen, dem Klischee des aus dem Süden kommenden Funktionärs idealtypisch zu entsprechen.75 Ernst Timm sorgte mit seinem Auftreten zuallererst selbst dafür, dass ihm der Ruf des selbstgefälligen Funktionärs vorauseilte. Was Staatssicherheitsminister Erich Mielke mit seinem Ausspruch »ich liebe doch alle, alle Menschen« am 13. November 1989 vor der Volkskammer vollbrachte 76, schaffte Rostocks Erster allemal. Zum Fiasko geriet ihm eine durch den Protest auf der Straße erzwungene »Dialogveranstaltung«. »Parteienpluralismus und Bürgermitbestimmung« lautete das Thema des Forums am 5. November 1989. Auf dem Podium saßen dessen ungeachtet lediglich die Vertreter der SED und der mit ihr »verbündeten gesellschaftlichen Kräfte«. Dies änderte sich, als sich einer der Mitbegründer des Neuen Forums in Rostock, Reinhard Haase, ungebeten auf einen frei gebliebenen Stuhl im Podium setzte und ein Transparent mit der Aufschrift »Neues Forum« entrollte. 77 Zuvor hatte Reinhard Haase das Wort an Ernst Timm gerichtet und ihn gefragt, »was er unter der Diktatur des Proletariats verstehe«. Nach mehrfachem »Äh« und dem im Publikum ausbrechenden Gelächter, rief der bis dahin mächtigste Mann des Bezirks nach den Erinnerungen von Christoph Kleemann »in tiefstem Sächsisch« empört in den Raum, »na, da müsse man doch erst mal in einem Lexikon oder so was nachschlagen«. Schallendes Gelächter ergoss sich über den sich selbst bloßstellenden Parteifunktionär, so Kleemann, der einst selbst im DDR? Bd. 1, Berlin 2010, S. 789; Herbst, Andreas; Ranke, Winfried; Winkler, Jürgen (Hg.): So funktionierte die DDR. Bd. 3 (Lexikon der Funktionäre). Reinbek 1994, S. 225. 74 »Die neuen SED-Bezirksleitungen. Die Mitglieder und Kandidaten der Büros der SEDBezirksleitungen (Stand: Juni 1958)«. In: SBZ-Archiv, 9. Jg., Nr. 14, 25.7.1958, S. 216 f. 75 Probst, Lothar: »Der Norden wacht auf«. Zur Geschichte des politischen Umbruchs in Rostock im Herbst 1989. Bremen 1993, S. 45. 76 Vgl.: Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 475 f. In der Wiedergabe der Rede hiervon abweichend und mit dem Mitschnitt nicht in jedem Punkt übereinstimmend: »Erich Mielke über den Staatssicherheitsdienst«. In: Deutschland Archiv, 23 (1990) 1, S. 121. 77 Probst: »Der Norden wacht auf«. Zur Geschichte des politischen Umbruchs in Rostock im Herbst 1989. Bremen 1993, S. 45, sowie Zeitzeugengespräch mit Christoph Kleemann, Behnkenhagen, 16. September 2011.

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sächsischen Meißen Pfarrer gewesen war und von dort an die Küste kam. 78 »Timm ist schlimm«, lautete fortan einer der Rufe auf den Demonstrationen in Rostock. 79 Gerne erzählte man zu fortgerückter Stunde im Norden die Geschichte von den noch des Niederdeutschen kundigen Dorfbewohnern. Ihren frisch aus Sachsen von der Parteischule aufs Land delegierten Bürgermeister narrten sie angeblich damit, dass sie in seiner Gegenwart stets Plattdeutsch redeten. Belegt ist dies nicht. All jene Gerüchte und Zuschreibungen, ob nun von Sachsen aus verbreitet oder gegen dessen Bewohner gerichtet, verrieten nur wenig über die tatsächlichen Verhältnisse im Lande. Abgrenzung und Regionalstolz wird es auch heute in vielen Gegenden geben. Die Verhältnisse in einer geschlossenen Gesellschaft mochten dem jedoch eine besondere Brisanz verleihen. In politisch unangepassten Kreisen und in den Augen derer, die auf ein Ende der fortwährenden Willkür hofften, etablierte sich hingegen eine positive Wertung des Südens: Hier avancierte der Süden, insbesondere das mitteldeutsche Industrierevier um Leuna, Halle und Bitterfeld, mitunter zum Sehnsuchtsort in der Hoffnung auf bessere Zeiten. Man hoffte, dies sei der Ort, an dem sich die Arbeiter eines Tages nicht mehr alles gefallen lassen und sich wie am 17. Juni 1953 abermals erheben würden. Immer wieder spielten daher Gerüchte, dass es im Chemiedreieck oder in anderen Industrierevieren des Südens zu Unruhe gekommen sei, auch im Bezirk Rostock eine Rolle. Eine SED-ZK-Abteilung in Berlin wusste in ihrem Halbmonatsbericht Nr. 16 vom 6. September 1962 so von »in Rostock kursierenden Gerüchten« zu berichten, dass »es in Leipzig und Buna sowie in Schwarze Pumpe zu Unruhen und Arbeitsniederlegungen wegen der schlechten Versorgung gekommen sei«. 80 Immerhin blieb es im Ostseebezirk nicht vollends ruhig: Von der Werft in Wismar liefen Meldungen ein, dass es die »dortigen Werft-Arbeiter ablehnten, an der Plandiskussion teilzunehmen«. Sie würden sich nach eigenem Bekunden solange daran nicht beteiligen, »ehe sie genügend Fleisch- und Wurstwaren erhalten«. 81 Ob das Gerücht von den rebellischen Industriearbeitern im Süden zutreffend oder nur lediglich eine Mär war, musste hingegen offenbleiben. Wahrscheinlich sind jene Gerüchte als eine Begleiterscheinung des DDRAlltags anzusehen. Der Magdeburger Bischof Axel Noack, der in den achtziger 78 Siegfried Wittenburg, ein anderer Teilnehmer der Veranstaltung gibt die Worte Timms wie folgt wieder: »Oh, das ist eine längere Definition. Da müsste man mal nachlesen«. Nach: Wittenburg, Siegfried: Die friedliche, freiheitliche und demokratische Revolution Rostock 1989. Erlebnisberichte der Akteure. Rostock 2009, S. 31. 79 Zeitzeugengespräch mit Mathias Finger, Kühlungsborn, 4.2.1990. 80 SED, ZK-Abteilung Organisation. Gruppe Parteiorganisation und -Information, Halbmonatsbericht Nr. 16, Berlin, 6.9.1962, BArch DY 30 IV 2/15/101, Bl. 15–29, hier 26. 81 Ebenda.

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Jahren als Pfarrer seinen Dienst in Wolfen im Chemiedreieck der DDR versah, berichtete so von der Ambivalenz der in diesen Zuschreibungen steckenden Erwartungen und Projektionen. »Man denkt immer«, so antwortete Noack in einem Interview 2009 auf die Frage, dass hier »die Revolution buchstäblich in der Luft lag«, hier »seien die Leute besonders aufrührerisch gewesen«. Noack führte hierzu weiter aus: »Das war aber nicht so. Es gab ein paar Umweltaktivisten. Die Leute mussten dort leben und haben vieles verdrängt.« Zur Illustration erzählte Axel Noack die Geschichte von jenem »Arzt aus Schwerin«, den er »zu einem Gemeindeabend« eingeladen hatte: »Der brachte Schaubilder mit, auf denen der Lungenflügel eines 80-Jährigen in Schwerin und eines 30-Jährigen aus Bitterfeld zu sehen waren. Beide waren gleich stark staubbelastet. Den haben die Leute fast gelyncht – das wollten sie nicht hören.« 82

1.4

Gegenwind aus dem Norden der DDR

Die SED hatte auch aus dem Norden der DDR mit Gegenwind zu rechnen. Aufschluss hierüber liefert eine Aufstellung des MfS aus dem Jahre 1978. Enthalten seien in ihr, so behauptete die für die Verfolgung politischer Delikte zuständigen Hauptabteilung XX, jene »Schwerpunktpersonen«, die »eine unabhängige pazifistische Friedensbewegung in der DDR schaffen wollten«. Nicht nur im Süden der DDR und in Ost-Berlin rumorte es demnach vernehmbar. Tabelle 1: »Schwerpunktpersonen«, 1978, für die DDR-Bezirke und Berlin (Ost) 83 Bezirk Berlin Dresden Halle Potsdam Karl-Marx-Stadt Magdeburg Frankfurt/Oder Gera

»Schwerpunktpersonen« 22 19 19 19 12 10 9 9

82 Keller, Claudia; Schlegel, Matthias: Interview mit Axel Noack. »Die Gesellschaft dünnt in der Mitte aus«. Altbischof Axel Noack über Gratwanderungen der in der DDR, sterbende Dörfer und ein Lied der Prinzen. In: Der Tagesspiegel, 30.8.2009, S. 8. 83 MfS, HA XX/4, »Schwerpunktpersonen, Stand 1978«, Aufstellung der MfS-HA XX/4, enthalten in: »Personen, die unter Missbrauch der Kirche eine unabhängige pazifistische Friedensbewegung in der DDR schaffen wollen (siehe Ministerbefehl vom 9./10.3.1982)«: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 132, Bl. 1–51.

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1 Das Untersuchungsgebiet Bezirk Rostock Erfurt Leipzig Schwerin Cottbus Neubrandenburg Suhl

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»Schwerpunktpersonen« 7 6 6 6 4 4 4

Der hohe Anteil an Pfarrern und kirchlichen Jugendmitarbeitern sowie die Verankerung der Gruppen unter dem »Dach der Kirche« bedingte, dass sich das für Kirchenfragen zuständige Referat 4 in der Hauptabteilung XX der neuen Entwicklung annahm. Von den insgesamt 156 Personen standen 106 im kirchlichen Dienst – zumeist handelte es sich um evangelische Pfarrer und Diakone. Aufgeführt wurden im Einzelnen die Namen von achtzig Pfarrern, die häufig als Jugendpfarrer die Arbeit mit der christlichen Jugend vor Ort leiteten; hinzu kamen sieben Studentenpfarrer und sechzehn Jugenddiakone sowie fünf kirchliche Mitarbeiter im engeren Sinne. Letztere waren Leiter von Evangelischen Akademien, Mitarbeiter von Studienabteilungen oder Dozenten an kirchlichen Ausbildungsstätten. Die sich herausbildende Protestbewegung fand anfangs ihren größten Rückhalt im kirchlichen und kirchennahen Milieu. Hinzu kamen zunehmend an der Friedens- und Umweltarbeit Interessierte aus kirchenfernen Elternhäusern. Die Stasi maß dieser Entwicklung unter dem Aspekt, dass damit oppositionelle Strukturen entstehen würden, besondere Priorität bei. In der Konsequenz sprach man von der »Etablierung einer [...] Opposition« in der DDR und vermutete hinter all dem eine »Erosionsstrategie« des Klassenfeindes. 84 Zuallererst waren es die Nöte von Gemeindegliedern und Konflikte, so der Wehrkundeunterricht 1978/79, die einzelne Pfarrer und Diakone tätig werden ließen. Da sie mitunter selbst Kinder im schulpflichtigen Alter hatten, setzte sich der Konflikt bis in ihre Familien fort. Unter denen, die das MfS im Jahre 1978 als »Schwerpunktpersonen« benannte (siehe Tabelle 1), befanden sich im Bezirk Rostock zwei Studentenpfarrer, ein Kreisjugendwart, ein Jugenddiakon, ein Theologiestudent und zwei Pfarrer. 85 Beide Pfarrer wandten sich öffentlich 84 Vgl. hierzu u. a.: SED-Kreisleitung Humboldt-Universität, Einschätzung über den Einfluß der Kirchen auf Mitarbeiter und Studenten an der Humboldt-Universität Berlin, Berlin, 9.7.1982: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX, Nr. 2782, Bl. 176–189, hier 184; MfS, Juristische Hochschule Potsdam, Sektion politisch-operative Spezialdisziplin, (Entwurf). Die grundsätzlichen Ziele der weiteren wirkungsvollen vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung aller Anzeichen und Erscheinungsformen politischer Untergrundtätigkeit und die Hauptwege ihrer Realisierung, JHS 001, Nr. 255/I/78: BStU, MfS, JHS, Nr. 21876, Bl. 1–198. 85 MfS, HA XX/4, »Schwerpunktpersonen, Stand 1978«, Aufstellung der MfS-Hauptabteilung XX/4, enthalten in den Unterlagen »Listen zu Personen, die unter Missbrauch der Kirche eine unab-

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gegen die Einführung des Wehrkundeunterrichtes. Einer von ihnen, Joachim Gauck, sprach sich 1978 in der Rostocker Andreaskirche »offen gegen die Wehrerziehung« aus und forderte die betroffenen Eltern auf, »die Wehrerziehung abzulehnen« und ihre Kinder von dem Fach »fernzuhalten«. 86 Beargwöhnt wurde vom MfS weiterhin seine intensive Ost-West-Arbeit, also die von ihm durchgeführten Treffen mit der Partnergemeinde aus der Bundesrepublik. Bereits 1968, in seiner Zeit als Pfarrer in Lüssow bei Güstrow, war er den DDR-Behörden negativ aufgefallen: So kannte er den im Operativvorgang »Vereinigung« von der Bezirksverwaltung Schwerin bespitzelten, 1973 dann inhaftierten und zu sieben Jahren Haft verurteilten DDR-Kritiker Ulrich Schacht. 87 »Abhalten von Jugendweihe« lautete der doppeldeutige Vorwurf, mit dem man Joachim Gauck zugleich überzog: Seit Gaucks »Anwesenheit in Lüssow« sei ein »Rückgang der Jugendweiheteilnehmer« zu verzeichnen gewesen, zunehmend entschieden sich wieder vermehrt Schüler nur für die Konfirmation. 88 Der Grund sei Gaucks »starker Einfluß auf die Schuljugend«. Obendrein wäre der umtriebige Pfarrer in einer »Elternversammlung offen gegen [das] sozialistische Bildungssystem aufgetreten«. 89 Aufgeführt wurde in der Liste 1978 auch der Diakon M. In seiner Gemeinde kannte man ihn als jemanden, der Jugendliche zu begeistern verstand. Respektiert und geschätzt wurde er auch deshalb, weil man wusste, dass er sich dem System gegenüber verschiedentlich verweigert hatte. Ihm eilte der Ruf voraus, authentisch für seine Glaubens- und politischen Überzeugungen einzutreten. Als einer der ersten Waffendienstverweigerer gehörte er den Baueinheiten der NVA an und nahm an den jährlichen Bausoldatentreffen des Evangelischen Jungmännerwerkes in Berlin teil. Zugleich bot er den Jugendlichen die entsprechenden Freiräume. Entscheidend war, was seine Arbeit im Einzelnen bewirkte. Bald sprach man auch außerhalb des Ortes über seine erfolgreiche Jugendarbeit. Mit den hier aufgegriffenen Themen reichte sie schnell über das ursprüngliche Profil kirchlicher Unterweisung hinaus. Friedensaktivitäten, Umweltaktionen und Diskussionsforen gehörten mit dazu. Im Lauf der achtziger Jahre erhöhte sich die Zahl der Friedens- Umweltund Menschenrechtsgruppen. In den Nordbezirken stellten einige Kreise hängige pazifistische Friedensbewegung in der DDR schaffen wollten (siehe Ministerbefehl vom 9./10.3.1982): BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 132, Bl. 1–51, hier 8 und 50. 86 Ebenda, Bl. 50. 87 Ebenda; Kuschel, Sabine: Die Niederlage ist verschlungen in den Sieg. In: Glaube und Heimat. Mitteldeutsche Kirchenzeitung, Nr. 20, 15.5.2011, S. 11; Zu Ulrich Schacht: Wer war wer in der DDR? Bd. 2, Berlin 2010, S. 1119 f. 88 MfS, HA XX/4: »Schwerpunktpersonen, Stand 1978«, Aufstellung der MfS-Hauptabteilung XX/4, enthalten in den Unterlagen »Listen zu Personen, die unter Missbrauch der Kirche eine unabhängige pazifistische Friedensbewegung in der DDR schaffen wollten (siehe Ministerbefehl vom 9./10.3.1982): BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 132, Bl. 1–51, hier 50. 89 Ebenda.

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infolge des Wegzuges oder der Ausreise von Mitgliedern ihre Arbeit wieder ein, während sich andernorts neue Gruppen fanden. Die Situation blieb durch Instabilität gekennzeichnet. Manch einer hatte das Gefühl, das sich durch das Engagement in den oft kleinen Gruppen nichts ändern ließe. Hinzu kamen die Einschüchterungsversuche des Staates, die bewirkten, dass sich manch einer von den Gruppen wieder zurückzog. Glaubt man den Ausführungen des MfS, änderte sich auch die soziale Zusammensetzung: Ende 1988 konnten nach der verdeckten Erhebung des Staatssicherheitsdienstes in der DDR nur noch 38 Prozent der Gruppenmitglieder als kirchliche Mitarbeiter gelten; in Gruppen mit, wie es hieß, »koordinierenden Funktionen« betrug deren Anteil immerhin noch 56 Prozent. 90 Insgesamt zählte das MfS 1988 in der DDR 147 oppositionelle Gruppen mit 2 133 Mitwirkenden. Im Bezirk Rostock existierten demnach 6 Gruppen, in denen sich 79 Mitglieder engagierten. 91 Tabelle 2: Aufstellung der »Basisgruppen« der politischen Untergrundtätigkeit 1989 Bezirk Karl-Marx-Stadt Halle Berlin Leipzig Dresden Erfurt Cottbus Magdeburg Potsdam Suhl Gera Rostock Neubrandenburg Schwerin Frankfurt/Oder Insgesamt

Gruppen 25 19 15 18 14 8 6 8 8 5 6 6 3 5 1 147

Mitglieder 329 296 265 225 215 141 112 98 98 91 89 79 55 32 8 2 133

Das Protestpotenzial in der DDR schien sich unterschiedlich auf die einzelnen Bezirke zu verteilen. Einen Schwerpunkt bildeten die Großstädte Berlin und Leipzig und die verhältnismäßig dicht besiedelten Industriebezirke Karl-MarxStadt, Halle und Dresden. Hier gab es viele Hochschulen und zentrale Berufsschulen auf einem vergleichsweise engen Raum. Anders sah es hingegen in den 90 MfS, HA XX/4, Soziale Zusammensetzung »Führungskräfte« der politischen Untergrundtätigkeit, Stand 1.1.1989: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 3687, Bl. 128. 91 MfS, HA XX/4, Zahlenmäßige Aufstellung der »Basisgruppen« der politischen Untergrundtätigkeit, Stand 1.1.1989: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 3687, Bl. 118.

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landwirtschaftlich geprägten und dünner besiedelten Bezirken Neubrandenburg, Schwerin, Rostock und Frankfurt/Oder aus. Hier fanden sich zumeist weniger Gruppen und Menschen, die in ihnen mitarbeiteten. Bestätigt wird dies auch durch die »Gesamt-PUT-Liste (DDR)«. Sie enthielt eine Aufstellung all jener Personen, die nach der Einschätzung des MfS der Kategorie »Politische Untergrundtätigkeit« (PUT) zuzuordnen waren. 92 Die hier erfassten Menschen stellten sich dem System entgegen und engagierten sich in oppositionellen Kreisen. Der Arithmetik des MfS folgend sollten sie als die führenden Köpfe der »politischen Untergrundtätigkeit« in der DDR erfasst werden. Datiert wurde die Liste auf den 7. April 1989. Da sie aus dem Arbeitsbereich der Bezirksverwaltung Berlin stammt, ist eine gewisse BerlinLastigkeit nicht auszuschließen – von den 3 050 aufgeführten Personen hatten 2 557 ihren Wohnsitz in Ost-Berlin. 93 Dies entsprach zugleich den Vorstellungswelten des MfS, das davon ausging, dass vor allem die oppositionellen Kreise der »Hauptstadt« als das eigentliche Problem anzusehen seien. Dementsprechend zeigte man sich im Nachhinein irritiert und überrascht angesichts der Vehemenz und Ausstrahlungskraft der oppositionellen Gruppen in Leipzig und andernorts im Herbst 1989 in der DDR. 94 Den eindeutigen Schwerpunkt bei der Zahl der in der Liste registrierten Personen stellte so Ost-Berlin (2 557) dar, gefolgte von den Umlandbezirken Potsdam (70) und Frankfurt/Oder (63). Der Bezirk Rostock war mit 21 Eintragungen vertreten, den andere, wesentlich dichter besiedelte und höher industrialisierte Bezirke wie Halle (27) und Erfurt (27) nur geringfügig »überboten« (siehe Tabelle 3). Die PUT-Liste zeugt aber auch von den Schwierigkeiten, jenseits von Berlin oder Leipzig in den weniger dicht besiedelten Bezirken der DDR. Der Kreis derjenigen, die Widerspruch und Widerstand leisteten, sich oppositionell betätigten und sich einander hierin bestärkten, war hier kleiner als in Großstädten der DDR und in Ost-Berlin. Die, die »auf dem platten Land« lebten, sahen sich einer höheren Kontrolle ausgesetzt. Ein Blick auf den Bezirk Rostock vermittelt zugleich eine Vorstellung über die Auswahlkriterien, die die Staatssicherheit zugrunde legte. Neben einem Studentenpfarrer aus Rostock und einem Jugenddiakon aus Stralsund fanden sich hier die Namen von zwei Jugendlichen, die der Greifswalder Aussteigerszene entstammten. Zwei der Aufgeführten engagierten sich in den Friedens- bzw. Umweltgruppen der Greifswalder Evangelischen Studentengemeinde. Hinzu kamen zwei Jugendliche, die in der Friedensarbeit »unter dem 92 Untergrundtätigkeit, politische (PUT). In: Das MfS-Lexikon. Berlin 2012, S. 340. 93 MfS, BV Berlin, Gesamt-PUT-Liste (DDR), Stand 07.04.1989: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX, Nr. 3326, Bl. 40–57. 94 Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 395.

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Dach der Kirche« mitarbeiteten, sowie zwei Mitglieder des Ökumenischen Zentrums Umwelt in Wismar. 95 Zwei »PUT-Exponenten« aus Rostock gelangten deshalb auf die Liste, weil sie am 26. November 1987 nach Berlin fuhren, um sich an der Mahnwache an der Zionskirche zu beteiligten. Konkret handelte es sich um zwei Schülerinnen, gegen die das MfS in der Operativen Personenkontrolle »Rabatz« belastendes Material sammelte. Beide verzogen wenig später nach Ost-Berlin. Während die eine in Rostock im August 1987 einen Ausreiseantrag stellte, um zu ihrem Vater, der als politischer Häftling 1972 in die Bundesrepublik ausgereist war, zu gelangen, reichte die zweite in Berlin einen Ausreiseantrag ein. 96 Tabelle 3: Wohnorte der »Exponenten« der PUT 1989 laut MfS Bezirk (Wohnort) Rostock Neubrandenburg Schwerin Frankfurt/Oder Potsdam Cottbus Magdeburg Halle Leipzig Dresden Karl-Marx-Stadt Erfurt Suhl Gera Bundesrepublik, West-Berlin, westliches Ausland Ost-Berlin nicht zuordenbar Insgesamt

Anzahl der aufgeführten Personen 21 20 24 63 70 15 20 26 27 42 14 27 4 19 138 2 557 11 3 050

Der Wegzug nach Leipzig oder Berlin stellte neben der Ausreise eines der »Probleme« bei der Etablierung der Protestszene im Norden da. Die MfSKreisdienststelle in Greifswald zeigte sich am 5. Oktober 1987 mehr als erleichtert, den Operativvorgang »Sammler« einstellen und das Material an die

95 MfS, BV Berlin, Gesamt-PUT-Liste (DDR), Stand 07.04.1989: BStU, MfS, BV Berlin, Abt. XX, Nr. 3326, Bl. 40–57. 96 MfS, BV Rostock, PK, Gruppierungen PID: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX/1001, OPK Rabatz.

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Bezirksverwaltung Berlin abgehen zu können. 97 Wie man erfahren hatte, hielt sich der so ausspionierte und schikanierte Robert Conrad seit nunmehr »drei Monaten fast ständig in Berlin« auf. Das MfS wertete die Wohnsitzverlegung als »Schutzverhalten« des Betroffenen, der sich den »anhaltenden Disziplinierungsmaßnahmen« anscheinend entziehen wollte. Hierzu zählten die Einbehaltung des Personalausweises und die Ausgabe des Ersatzpapiers PM 12, wiederholte Polizeiaktionen in dem von ihm bewohnten Abrisshaus und die vom MfS forcierte Exmatrikulation an der Universität. 98 Wie die Kreisdienststelle ausführte, hatten zuvor schon »enge Bekannte und Freunde« des Betroffenen, »die bislang in Greifswald wohnhaft waren, ebenfalls ihren Arbeitsund Wohnsitz [...] nach Berlin verlegt«. 99 Die Kreisdienststelle wusste den Fortzug der von ihr als »Störenfriede« angesehenen Jugendlichen zu würdigen. Robert Conrad galt den Verteidigern der inneren Sicherheit als jemand, der »in der Lage« war, andere Jugendliche »relativ schnell zu inspirieren [...] [und] zu beeinflussen«. 100 Dass dies nicht im Sinne der sozialistischen Gesellschaftsvorstellungen geschah, war der Kreisdienststelle hinlänglich bekannt. Robert Conrad alias »Sammler« trete immer wieder, so wurde es im Bürokratendeutsch vermerkt, »als Initiator und Mitorganisator von Veranstaltungen mit negativ-dekadentem Inhalt [...] in Erscheinung«. Sein Ziel sei es, so meinte man herausgefunden zu haben, »zur Verbreitung imperialistischer Unkultur« einen Beitrag leisten zu wollen und die ansonsten beschauliche Kreisstadt in Unruhe zu versetzen. 101 Robert Conrad folgten weitere Jugendliche aus seinem Freundeskreis nach Berlin – zumeist in den Prenzlauer Berg, wo sich ein eigener Greifswalder Freundeskreis herausbildete. In der Konsequenz gelangten neben dem OV »Sammler« auch die Vorgängen »Aussteiger«, »Stammtisch«, »Junior« und »Lyrik« in die Archivierung bzw. wurden nach Berlin abgegeben. 102 Ebenso erleichtert zeigte sich das MfS, als Thomas Abraham 1988 Rostock verließ. Die Kreisdienststelle in der August-Bebel-Straße stellte daraufhin den Operativvorgang »Apostat« ein. 103 Thomas Abraham war als Bausoldat einge97 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Abschlussbericht zum OV »Sammler«, Greifswald, 5.10.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2430/87, Bl. 336–342, hier 342. 98 Ebenda, Bl. 341. 99 Ebenda. 100 Ebenda, Bl. 337. 101 Ebenda, Bl. 340. 102 Ebenda, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Referat XX/2, Einleitungsbericht zur OPK »Lyrik«, Greifswald, 17.8.1984: BStU, MfS, HA XX, Nr. 6059, T. 1, Bl. 96–98; MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Abschlussbericht zum OV »Aussteiger«, Greifswald, 10.7.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1952/85, Bd. I, Bl. 487–494; MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Referat 2, Abschlussbericht zur OPK »Stammtisch«, Greifswald, 6.12.1985, MfS: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 3078/85, Bl. 232–238. 103 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat III, Abschlussbericht zum OV »Apostat«, Rostock, 12.12.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2727/88, Bd. I, Bl. 87–89.

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zogen worden und ging danach nach Leipzig zum Theologiestudium. 104 In Rostock zählte er seit 1981 mit zu den bekanntesten Gesichtern der kirchlichen Friedensarbeit: 1982 verwies man ihn »von einem Tag auf den anderen« von der 2. EOS in Rostock-Evershagen. Mit anderen Schülern, so lautete der Vorwurf, habe der Zehntklässler eine »klerikal-pazifistische Gruppierung« gebildet. 105 Neben der Weigerung, an der vormilitärischen Ausbildung teilzunehmen, fiel er an der EOS vor allem dadurch auf, weil er wie zwei andere Schüler den Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen« trug. 106 Fortan beteiligte er sich an den Friedensgottesdiensten in Rostock und organisierte eine Friedensausstellung, die auf dem Landesjugendsonntag am 9. Juni 1985 in der Rostocker Marienkirche gezeigt wurde. 107 1988 verzog auch Christian Utpatel nach Berlin in den Prenzlauer Berg. Zusammen mit Thomas Abraham zeichnete er für die unabhängigen Proteste am Rande der FDJ-Manifestation Pfingsten 1983 auf dem Rostocker ErnstThälmann-Platz und eine wenig später auf dem Rostocker Kirchentag zensierte Ausstellung verantwortlich. 108 Teile des Operativvorganges wurden nach Berlin abgegeben. Manch ein Projekt der Friedens- und Umweltarbeit kam im Bezirk Rostock über das Stadium der Planung nicht hinaus. Im Mai 1983 überlegte man innerhalb der »Arbeitsgruppe Frieden« der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche, in Rostock ein eigenes Informationszentrum aufzubauen. 109 In der mit bundesdeutschen Devisen Anfang der achtziger Jahre ausgebauten Nikolaikirche sollte ein »entsprechender Arbeitsraum« entstehen, der »zumindest halbtags zu besetzen« sei. 110 Diskutiert wurde darüber, ob Heiko Lietz die Stelle übernehmen könne. Angeregt worden war dies nicht zuletzt von Landesbischof Heinrich Rathke, der Heiko Lietz positiv gewogen schien. Doch scheiterte der Plan am Oberkirchenrat in Schwerin, der einen staatlichen Baustopp oder 104 Vgl. hierzu: Vogler, Werner (Hg.): Vier Jahrzehnte kirchlich-theologische Ausbildung in Leipzig. Das Theologische Seminar. Die Kirchliche Hochschule Leipzig. Leipzig 1993, S. 122–129. 105 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat III, Eröffnungsbericht zur Anlegung des OV »Apostat«, Rostock, 2.5.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2727/88, Bd. I, Bl. 3–11, hier 4. Der Vorgang ist auch wiedergegeben in: Gauck, Joachim: Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen. München 2009, S. 173–175. 106 MfS, Eröffnungsbericht OV »Apostat« (ebenda), Bl. 4; Gauck, Winter im Sommer (ebenda), S. 174 f. 107 MfS, Eröffnungsbericht OV »Apostat« (ebenda). 108 Zeitzeugeninterview mit Christian Utpatel am 29. Juni 2011 in Klein Gievitz, Landkreis Müritz. Fotodokumentation zur Demonstration auf dem Ernst-Thälmann-Platz in Rostock, Pfingsten 21. Mai 1983 (Fotos: Hans Krischer); Durchschlag des Briefs an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Herrn Erich Honecker, Rostock, den 26.5.1983 (Privatbesitz Christian Utpatel); Gedächtnisprotokoll Christian Utpatel vom 22.12.1992 109 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Quelle: IMB »Heinz«, Aufnahme vom 28.4.1983, Tonbandabschrift: Bericht Nr. 1 – Sitzung der Arbeitsgruppe Frieden am 26.4.1983, Rostock, 25.5.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. I, Bl. 25–28, hier 25 f. 110 Ebenda, Bl. 26.

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erhebliche Verzögerungen an dem »Neubauobjekt Nikolaikirche« befürchtete, sollte sich erst einmal herumgesprochen haben, dass die systemkritischen Gruppen hier Arbeitsräume erhielten. 111 Auch andernorts im Bezirk ließen sich Überlegungen zur Schaffung einer oppositionellen Infrastruktur nicht umsetzen. Aus dem »Bereich der Evangelischen Landeskirche Greifswald« lagen dem MfS im Dezember 1987 verschiedene Informationen vor, nach denen in den von der Kirche in Vorpommern »verwalteten [...] Räumen ›Friedens- und Umweltbibliotheken‹« entstehen sollten. 112 Schon im März 1987 erfuhr die Kreisdienststelle Greifswald von den Plänen des Stadtjugendwarts Bernd Schröder, in der Universitätsstadt nach dem Vorbild der Berliner Umweltbibliothek eine ähnliche Einrichtung zu eröffnen. 113 Tatsächlich ging die Idee von einem Jugendlichen in Greifswald aus, der Schröder eines Tages fragte, ob er bei ihm im Kreis »das Buch von Peter Wensierski ›Von oben nach unten wächst gar nichts‹ vorstellen« könne. 114 Neben dem Ökumenischen Zentrum Umwelt in Wismar gab es lediglich in Middelhagen auf der Halbinsel Mönchgut auf Rügen eine kleine Umweltbibliothek. Sie wurde von dem im Operativvorgang »Deponie« aufgrund seiner umtriebigen Umweltarbeit von der SED beargwöhnten Pfarrer Frieder Jelen eingerichtet. 115

111 Ebenda, Bl. 28. 112 MfS, BV Rostock, Information Nr. 101/87 über Reaktionen und Erscheinungen im Bezirk, die im Zusammenhang mit Vorgängen um die Zionskirche in Berlin stehen, Rostock, 6.12.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 273, T. 1, Bl. 45–54, hier 53. 113 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Wochenübersicht Jan.–März 1987/Kirche, laufende Nummer 95: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 480, Bl. 91. 114 »Man muss auch als Diakon immer wissen, was man tut.« Interview mit Bernd Schröder, dem ehemaligen Greifswalder Jugendwart, über die Offene Evangelische Jugendarbeit der 1980er Jahre. In: Zr. 15 (2011) 1, S. 106–108, hier 107; Wensierski, Peter: Von oben nach unten wächst gar nichts. Umweltzerstörung und Protest in der DDR. Frankfurt/M. 1986. 115 MfS, BV Rostock, KD Rügen, Zwischenbericht zur OPK »Deponie«: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1/92, Bl. 34–48, hier 36; MfS, BV Rostock, AKG, Übersicht über die im Bezirk Rostock anhängigen bzw. sich in Bearbeitung befindlichen OV im Rahmen der Bekämpfung von Erscheinungen des PIT/PUT, KD Rügen, Operativ-Vorgang »Deponie«, Delikt § 218 StGB, Reg.Nr. I/604/88: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 121, Bd. I, Bl. 121.

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Vier Jahrzehnte DDR im Bezirk Rostock: ein kurzer Überblick

Der folgende Abschnitt wendet sich jenen Protesten, Widerstandshandlungen und oppositionellen Bestrebungen zu, die zu einer »Widerstandsgeschichte im Norden« der SBZ/DDR als fester Bestandteil hinzuzählen sind. Sie sind mitunter bereits andernorts ausführlich gewürdigt worden; ergänzt werden sie hier durch eigene Forschungsergebnisse, die neue Aspekte zum Geschehen enthalten. Der Abschnitt vermittelt so einen Überblick über die Widerstandsgeschichte entlang der Ostseeküste zwischen 1945 und 1989. Zugleich geht es bereits hier um jene Formen des politisch abweichenden Verhaltens, die den Staat unterhalb der Schwelle des »Widerstandes im engeren Sinne« herausforderten, sowie um die eher seltenen Versuche, sich konzeptionell über den eigentlichen Widerstand hinaus zu verständigen und als Opposition in Erscheinung zu treten. Angesprochen werden so auch Formen der bewussten Nonkonformität und des Widerspruchs ebenso wie die Bestrebungen, sich oppositionell zu betätigen. Im hieran anschließenden Abschnitt der Arbeit wird auf jene Formen dann dezidiert eingegangen. Der Abschnitt ist chronologisch gegliedert: Die einzelnen Jahrzehnte weisen dabei zum Teil zeittypische Formen des politisch abweichenden Verhaltens auf. Gleichzeitig lassen sich aber immer auch Kontinuitäten und ähnliche Protest- wie Widerstandsäußerungen benennen. Im daran anschließenden, systematisch aufgebauten Abschnitt wird dann anhand konkreter Beispiele untersucht, ob und nach welchen Kriterien sich die einzelnen Formen des politisch abweichenden Verhaltens sinnvoll untergliedern lassen. Hier wird das Charakteristische der einzelnen Kategorien herausgearbeitet und nach der Bedeutung und dem Gewicht im Widerstandsgeschehen insgesamt gefragt. Mittels der angeführten Beispiele wird auch überprüft, wieweit die Theoriebildung in der Praxis Bestand hat. Um jenen Fragen nachgehen zu können, scheint jedoch ein Blick auf die »Geschichte des Widerstandes« im Norden hilfreich zu sein.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

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Die späten vierziger und die fünfziger Jahre

Für die SED schien die Machtfrage nach eigenem Bekunden Anfang der fünfziger Jahre geklärt. Noch fehlte es dem Regime aber an Stabilität und – auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen – an Durchschlagskraft. Dies wussten auch die Herrschenden. Zudem mangelte es den mit sowjetischer Hilfe an die Macht gekommenen SED-Funktionären an Legitimität. Trotz der fortlaufenden Beschwörung des angeblichen Volkswillens ließen sich nur wenige Ostdeutsche darüber hinwegtäuschen. Mit pseudodemokratischen, tatsächlich manipulierten Volksabstimmungen, »einhelligen« Willensbekundungen und Einheitslisten-Wahlen konnte dieser Umstand kaum kaschiert werden. Zum Schein, dass alles demokratisch zuginge, genehmigten die sowjetischen Stellen 1945 neben der KPD weitere Parteien. Die KPD, die ab 1946 zur SED wurde, duldete deren Aktivitäten jedoch nur unter einer entscheidenden Bedingung: Sie hatten sich der SED unterzuordnen. Ihre Vertreter sollen ihre Positionen und ihr Vorgehen mit der SED abstimmen. Schon gar nicht durften sie sich gegen deren Politik stellen. Nicht alle Mitglieder der Liberaldemokarten und der Christdemokraten unterwarfen sich diesen Vorgaben. Vor allem in den ersten Jahren zeigte sich eine Reihe von bürgerlichen Politikern entschlossen, dem zu widersprechen. Sie riskierten damit hohe Haftstrafen, mitunter war es ihr Todesurteil. Anfangs vertraute ein Teil von ihnen der KPD/SED, die sich im Unterschied zu ihren früheren Verlautbarungen vor 1933 nun demokratisch geläutert gab und behauptete, dass eine freie Betätigung in der Sowjetischen Bestatzungszone bzw. der DDR möglich sei. Andere gingen dies Risiko ein und widersprachen der SED, weil sie davon überzeugt waren, eine zweite Diktatur in Deutschland nicht hinnehmen zu können. Sie folgten ihrem Gewissen. Bald wurde klar, dass den Beteuerungen der SED lediglich ein taktisches Kalkül zugrunde lag. Bereits 1946 war die Sozialdemokratie durch die Zwangsfusion mit der KPD zur SED in die Illegalität abgedrängt worden. Die SED, ihre Geheimpolizei und die sowjetischen Stellen reagierten mit Härte auf alle Bestrebungen der verbliebenen Sozialdemokraten, sich weiterhin politisch zu betätigen. Einschüchterungen, Bespitzelungen, gezielte Diffamierungen und Verhaftungen waren an der Tagesordnung. Die Einschüchterungen und der Terror forderten auch entlang der Ostseeküste viele Opfer. Unter ihnen befanden sich mehrere prominente Politiker und Kirchenvertreter. Die offene Repression, verbunden mit langjährigen Haftstrafen und Todesurteilen prägten das Bild vom Widerstand in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren in der SBZ/DDR. Doch darf dies nicht darüber hinweg täuschen, dass nicht jeder, der verurteilt wurde, Widerstand im engeren Sinne leistete. Viele hielten lediglich an den ihnen einst zugesagten Rechten fest,

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versahen ihren Dienst ohne Rücksicht darauf, was die SED zu ihren Entscheidungen sagen würde oder legten ihren Widerspruch gegen politische Entscheidungen ein. All dies reichte oft, um des Widerstandes bezichtigt zu werden. Hinzu kam die offenkundige Willkür, in deren Folge selbst Menschen verurteilt wurden, die sich auf in der DDR verfassungsmäßig garantierte Rechte beriefen. Der in Wismar inhaftierte und in Schwerin ums Leben gekommene Pfarrer Robert Lansemann setzte sich im Rahmen seines seelsorgerischen Dienstes über einige erst jüngst erlassene Verordnungen – das Verbot der Informationsweitergabe an des Rote Kreuz in West-Berlin – hinweg. Aufgrund seiner Predigten, in denen er die Regierung kritisierte, galt er der SED als Ärgernis, die ihn daher zum Schweigen bringen wollte. Auch der Diakon Herbert Büdke widersprach aus religiöser Überzeugung – er hatte sich auf den in der Verfassung verankerten Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche berufen und entsprechende Konsequenzen in der Jugendarbeit eingefordert – und geriet in Haft. Die SED verurteilte ihn wegen der »falscher Auslegung der christlichen Lehre« und bewies so, dass sie sich, wenn es ihr opportun erschien, nicht an die von ihr erlassene Verfassung gebunden sah. Büdke hatte nicht einmal Widerstand im engeren Sinne geleistet – den Gesetzesbruch beging hier der SED-Staat. 1 Die immer niedriger angesetzte Grenze der strafrechtlichen Relevanz, die Willkür von Polizei und Justiz und die Ignoranz der Regierenden gegenüber den einst von ihnen selbst erlassenen Verfassungsgrundsätzen, die die bürgerlichen Freiheiten auf dem Papier garantierten, bewirkten, dass vieles, was an sich legal war, nun als Widerstand verfolgt wurde. Neben jenen, die »lediglich« ihren Widerspruch einlegten oder aufgrund ihrer unkorrumpierten Amtsführung als unbequem auffielen und von der SED daher dem Widerstand zugerechnet wurden, gab es auch jene, die sich bewusst zum Widerstand entschlossen. Sie verletzten gezielt die bestehenden Normen und Gesetze. Ihr Anliegen war es, eine zweite Diktatur in Deutschland durch aktives Handeln zu verhindern. Zu ihnen zählten unter anderem die sich der SED entgegenstellenden Liberaldemokraten in Mecklenburg. Eindeutig Widerstand (im engeren Sinne des Wortes) leisteten auch die, die Flugblätter verteilten, Sabotageakte verübten oder Spionage in der Hoffnung betrieben, so den Niedergang der DDR herbeiführen zu können. Auch rund um den 17. Juni 1953 kam es in etlichen Orten im Norden der DDR anlässlich des Aufstandes zum Widerstand, der von Arbeitsniederlegungen, über Streiks und Blockaden bis hin zur Gefangenbefreiung reichte.

1 Vgl. hierzu die folgenden Ausführungen im Abschnitt 2.1.2 (SED-Kirchenkampf zwischen Boltenhagener Bucht und Stettiner Haff).

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2.1.1 Ernst Lohmeyer, Arno Esch, Siegfried Witte, Willy Jesse und Walter Kolberg In der Nacht vom 14. auf den 15. Februar 1946 wurde mit Ernst Lohmeyer in Greifswald einer der prominentesten bürgerlichen Vertreter der Hansestadt verhaftet. 2 Der Theologieprofessor Lohmeyer amtierte seit Anfang Mai 1945 als Rektor der nach dem Krieg geschlossenen Universität. Von den sowjetischen Stellen war er in diesem Amt am 15. Mai bestätigt worden. 3 Mit Ernst Lohmeyer wurde ausgerechnet ein erklärter Gegner der NSRegimes Opfer der politischen Verfolgung in der Sowjetischen Besatzungszone. Lohmeyer zählte zu den Mitgliedern der NS-kritischen Bekennenden Kirche. Als Theologieprofessor in Breslau verbot er den »Studenten, in SAUniform an seinen wissenschaftlichen Übungen« teilzunehmen, was, so Zeitgenossen, »großes Aufsehen erregte«. 4 In einer Universitätspredigt sprach er 1935 mit Blick auf die nationalsozialistischen Deutschen Christen von der »grenzenlos verwirrten Kirche«. Er wurde daraufhin nach Greifswald strafversetzt. 5 Nach seinem Militäreinsatz ab 1939 kehrte er 1943 nach Greifswald zurück und beteiligte sich 1945 an der kampflosen Übergabe der Stadt an die Rote Armee. Während er bei den sowjetischen Stellen zunächst ein hohes Ansehen genoss, beargwöhnte ihn die KPD in Greifswald zunehmend. Zwar engagierte er sich an führender Stelle in dem von der KPD protegierten Kulturbund. Als Gründungs- und Vorstandsmitglied der Demokratischen Partei und nach deren Fusion auch Vorstandsmitglied der CDU machte man ihn für die Stärke 2 Schmauch, Werner (Hg.): In Memoriam Ernst Lohmeyer. Stuttgart 1951; Saß, Gerhard: Lohmeyer, Ernst. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 15. Berlin (West)1987, S. 132 f.; Hilger, Andreas: »Tod den Spionen!«: Todesurteile sowjetischer Gerichte in der SBZ/DDR und in der Sowjetunion bis 1953. Göttingen 2006, S. 109–113; Grabe, Irmfried: Lohmeyer, Ernst Johannes. In: Schultze, Harald; Kurschat, Andreas (Hg.): Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Leipzig 2006, S. 634– 636; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Geist im Dienste der Macht. Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1961. Berlin 2003, S. 114 f.; Rautenberg, Mathias: Der Tod und die SED. Zum 65. Todestag Ernst Lohmeyers. In: Zr. 15 (2011) 2, S. 20–33; Matthiesen, Helge: Eine tödliche Intrige. Die Wiedereröffnung der Universität Greifswald 1946 und der Fall Lohmeyer. In: FAZ, 15.3.1996, S. 10; Ders.: Der Tod und die SED. Zum 65. Jahrestag Ernst Lohmeyers. In: Zr. 15 (2011) 2, S. 20–33; Wenz, Dieter: ».. und alle seine Rechte sind wiederherzustellen (posthum)«. Die Universität Greifswald gedenkt ihres von der Besatzungsmacht hingerichteten ersten Rektors nach dem Krieg. In: FAZ, 19.9.1996, S. 16. 3 Verhörprotokoll vom 16.2.1946, Archiv der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, UAG, PA 347, Bd. 4, o. Pag.; u. a. 4 Schreiben des Oberkirchenrates in Greifswald, an die Sowjetische Militäradministration in Schwerin, betr.: Bitte um Freilassung des Professors der Theologie Dr. Lohmeyer Greifswald aus der Haft, 6.3.1946, Archiv der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, UAG, PA 347, Bd. 4, o. Pag. 5 Ludewig, Sophie: Die »grenzenlos verwirrte Kirche«. Ausstellung beleuchtet evangelischen Widerstand im Nationalsozialismus. In: Mecklenburgische und Pommerische Kirchenzeitung, Nr. 29, 22.7.2002, S. 4.

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der Partei in Greifswald mitverantwortlich. Die KPD hatte in Greifswald hingegen Probleme, Fuß zu fassen. In Berührung kam Lohmeyer in dieser Zeit mit dem Kommunisten Franz Wohlgemuth, der, wie es in den Erinnerungen seiner Frau Melie Lohmeyer heißt, »als politischer Schrittmacher nach Greifswald« kam. 6 Ernst Lohmeyer wurde schließlich Opfer einer Denunziation. Sie stammte von Wohlgemuth, der zum Mitglied der Kreisleitung der SED berufen worden war. Seine Aussage findet sich in einer Arbeitsmappe des Sekretariats der SED und trägt das Datum vom 14. Februar. Ernst Lohmeyer habe demnach als Major der Wehrmacht 1939 an Erschießungen von polnischen Zivilisten in Bromberg teilgenommen und sei 1942/43 »Ortskommandant in der Ukraine« gewesen. Zu jenem Zeitpunkt liefen umfangreiche Ermittlungen in der Stadt gegen mehrere Greifswalder wegen der Beteiligung am »Bromberger Blutsonntag«, einer Vergeltungsaktion der Wehrmacht nach dem Einmarsch in Polen, und es erwies sich als fatal, wenn man hiermit in Verbindung gebracht wurde. Wohlgemuth muss sich bei seiner Anzeige dieser Wirkung bewusst gewesen sein. Vorsorglich wies er darauf hin, dass Lohmeyer, falls nichts passiert, »anlässlich der Wiedereröffnung der Universität die Direktorenkette überreicht« werde. 7 Wie zu erwarten, wurde Lohmeyer wenig später inhaftiert. Wohlgemuths Anschuldigung erwies sich, was die Bromberger Vorgänge betraf, als unzutreffend. Die sowjetischen Vernehmer konzentrieren sich nun auf den Vorwurf, Lohmeyer habe in der Ukraine an Kriegsverbrechen mitgewirkt. Zwar hatte sich Lohmeyer in der Ukraine an keine Verbrechen oder am gewaltsamen Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung beteiligt. In seinem Verantwortungsbereich kam es, wie andernorts, aber auch zu Festnahmen und zu Überstellungen an die deutschen Militärgerichte. All dies lieferte der sowjetischen Anklage den Vorwand, sich eines einst geschätzten, inzwischen aber unbequem gewordenen bürgerlichen Politikers und Hochschullehrers zu entledigen. In dem einzigen aus der Haftzeit übermittelten Brief schrieb Lohmeyer am 31. März: »Kapitän Iwanoff, der mich verhaftete, [...] fragte [...] nach militärischen Dingen, und zwar nach den Erschießungen in Polen, meiner Tätigkeit in Belgien und schließlich in Russland. Aber auch ich habe den Eindruck, als suchten sie erst nach Dingen, bei denen sie einhaken und mich fassen können, und als ob

6 Der Fall Lohmeyer, dargestellt von seiner Frau, geschrieben vom 15. bis 20. Februar 1949 von Melie Lohmeyer, Berlin-Tempelhof, Archiv der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, UAG, PA 347, Bd. 4, o. Pag. 7 Meldung enthalten in: Kreisleitung Greifswald der SED, Sekretariat, Schriftwechsel des Kreisvorstandes und der Ortsgruppe der SED Greifswald, Juli-August 1946, Landesarchiv Greifswald, IV/4/02/46/16, Bd. 2, Bl. 64.

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diese Fragen nur die wahren Motive verschleiern sollen, die auf politischem Gebiet liegen«. 8 Am 28. August 1946 verurteilte ein Sowjetisches Militärtribunal den Angeklagten zum Tode. 9 Allem Anschein nach wurde das Urteil am 19. September in Greifswald vollstreckt und Lohmeyer in den Wäldern bei Hanshagen, südöstlich von Greifswald verscharrt. Franz Wohlgemuth machte hingegen Karriere im SED-Staat: Sechs Wochen nach der Denunziation ernannte man ihn zum Kurator der Universität, wo er die Personalfragen bearbeitete. 1951 saß er bereits im Staatssekretariat für Hochschulwesen und ging 1957 als Professor nach Halle, wo er im Jahr drauf in Ungnade fiel. 10 Zum Verhängnis wurde Lohmeyer, dass er an seinem Posten ausharrte – was bereits ausreichte – und für den Erhalt bürgerlicher Werte und deren politische Repräsentanz eintrat. Anders verhielt es sich im Fall von Arno Esch, der bewusst Widerstand leistete. Am 18. Oktober 1949 wurde Arno Esch verhaftet. Der damals einundzwanzigjährige studierte in Rostock Rechtswissenschaften. Seit 1946 zählte er in Mecklenburg zu den führenden Köpfen der Liberaldemokraten. Entschlossen stellte er sich dem Alleinvertretungsanspruch der SED und der Sowjetisierung Ostdeutschlands entgegen und leistete Widerstand. Zugleich versuchte er unter immer schwieriger werdenden Bedingungen, einen letzten Spielraum für ein oppositionelles Engagement zu erhalten. Mit dem Anspruch, sich als Opposition gegen die SED zu behaupten, forderten er und einige Liberaldemokraten die sowjetische und ostdeutsche Geheimpolizei heraus. Als 2. Vorsitzender des Landesjugendbeirates und Mitglied der »vorläufigen« LDPHochschulgruppe wurde er 1947 zum Landesjugendreferent der Liberaldemokraten berufen. »Vorläufig« nannte sich die Hochschulgruppe deshalb, weil als einzige offizielle Jugendorganisation sich lediglich die SED-nahe FDJ an den Schulen und Universitäten betätigen durfte. Um den Liberalen trotzdem ihr Engagement zu ermöglichen, wirkte Esch in der FDJ-Hochschulgruppe mit und versuchte diese mit Gleichgesinnten zu unterwandern. 1948 rückte Arno Esch in die Geschäftsführung des Landesvorstandes der LDP auf und saß ab 1949 im Zentralvorstand der ostdeutschen Liberalen. Arno Esch galt als brillanter und konsequenter Denker innerhalb seiner Partei und – angesichts seines jungen Alters – als einer der wichtigsten Nachwuchstalente. So arbeitete er am Parteiprogramm der Liberalen mit und gründete im November 1948 8 Zit. nach: Andreas Köhn: Der Neutestamentler Ernst Lohmeyer (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament; 180), Tübingen 2004, S. 151. 9 Protokoll der Gerichtsverhandlung, Archiv der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, UAG, PA 347, Bd. 4, o. Pag. 10 Rautenberg, Mathias: Franz Wohlgemuth – »Wie sieht sein wahres Gesicht aus?«. In: Zr. 4 (2000) 1, S. 49–59.

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mit Freunden in Rostock die Radikal Soziale Freiheitspartei. Jene verstand sich offiziell als Strömung innerhalb der LDP und bot jenen ein Forum, die sich den Bestrebungen der SED, die anderen Parteien zu Erfüllungsgehilfen zu degradieren, aktiv entgegenstellen wollten. Tatsächlich plante Arno Esch mit Hilfe der Radikal Sozialen Freiheitspartei, dem Liberalismus neue Geltung zu verschaffen. Nach einer möglichen Vereinigung der Besatzungszonen in Deutschland sollte die Idee des Liberalismus über die des Nationalen und den Nationalismus gestellt, einer freien kosmopolitischen Gesellschaft zum Durchbruch verhelfen. »Ein liberaler Chinese steht mir näher als ein deutscher Kommunist« lautet ein Ausspruch, der von Arno Esch überliefert ist. 11 Arno Esch verfasste in jenen Jahren eine Reihe von programmatischen und politischen Essays und Artikeln. In ihnen focht er für seine liberalen Ideen, frei von Bevormundung und Zwang, und bekannte sich zur demokratischen Rechtsstaatlichkeit und zum radikalen Pazifismus. Mehrere dieser Artikel erschienen in der Rostocker »Norddeutschen Zeitung«, dem »Organ« der LDP im Norden, deren Redakteur Karl-Hermann Flach zu den Anhängern und Freunden von Arno Esch zählte. Karl-Hermann Flach konnte sich später nur durch Flucht seiner unmittelbar bevorstehenden Festnahme entziehen. 12 Als einer der Vorläufer des 1950 gegründeten Staatssicherheitsdienstes trat die Deutsche Verwaltung des Inneren bald in Aktion. Anfang 1949 forderte deren Präsident, Kurt Fischer, von seinen Länderkollegen einen Bericht über alle »Jugendleiter der LDP« an. In der Konsequenz fragte Fischer nach, welche Liberaldemokraten der SED in den Ländern gefährlich werden könnten: Über Arno Esch berichtete der Leiter des Landeskommissariats der Politischen Abteilung, Roßner, aus Schwerin, dass er »als Gegner der SED bezeichnet« werden müsse. Weiter ergab die Rücksprache mit den Verantwortlichen in der FDJ, dass Esch »durch Redegewandtheit und geschickte Themenbehandlung versucht [...] die Zuhörer für seine Partei zu gewinnen. Er »missbilligt«, hieß es weiter, den SED-nahen Kurs des Studentenrates und könne »trotz seiner Jugend [...] als die treibende Kraft in der LDP-Jugend bezeichnet« werden. 13 11 Wiese, Friedrich-Franz: Arno Esch. In: Fricke, Karl Wilhelm; Steinbach, Peter; Tuchel, Johannes (Hg.): Opposition und Widerstand in der DDR. München 2002, S. 173–180, hier 175. Weiterhin: Bernitt, Hartwig; Köpke, Horst; Wiese, Friedrich-Franz: Arno Esch. Mein Vaterland ist die Freiheit. Dannenberg 2010; Fricke, Karl Wilhelm: Arno Esch. In: Kowalczuk, Ilko-Sascha; Sello, Tom (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 47–49; Gerhold, Kirsten: Widerstand und Opposition in der ehemaligen DDR, dargestellt am Beispiel der Oberschüler in Güstrow und der Studenten in Rostock 1949–1953. Kassel 2010. 12 Wiese: Arno Esch, ebenda, S. 177–180. 13 Schreiben des Präsidenten der Deutschen Verwaltung des Innern der sowjetischen Besatzungszone, K. Fischer, an den Hauptabteilungsleiter Chefinspekteur Mayer, betr.: Überprüfung der Jugendleiter der LDP im Lande Mecklenburg und im Lande Sachsen, Berlin-Wilhelmsruh, 7.2.1949, im Anhang Abschrift des Berichtes des Leiters der LKPA Mecklenburg, Roßner, Schwerin, 2.2.1949: BStU, MfS, AS 1251/67, Bl. 4–10, hier 9.

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Zunächst folgten die offenkundige Überwachung durch die Politische Abteilung der Polizei, die K 5, Aussprachen und ein Disziplinarverfahren gegen Mitglieder der LDP-Hochschulgruppe an der Universität. Arno Esch wertete dies als Einschüchterungsversuche, von denen man sich nicht von seinem Engagement abbringen lassen sollte. Im Oktober kam es schließlich zur Festnahme. Nach seiner Inhaftierung wurden Arno Esch und die anderen Liberaldemokraten im Kellergefängnis in der Rostocker John-Brinckman-Straße verhört. Schlafentzug, Einschüchterungen und Schläge waren an jenem Ort an der Tagesordnung. Insgesamt wurden in jenen Tagen in Mecklenburg und Vorpommern 14 Liberaldemokraten verhaftet. Später überstellte man Esch und die anderen in die Untersuchungshaftanstalten des Sowjetischen Innenministeriums in Schwerin am Demmlerplatz. Am 20. Juli 1950 verurteilte das Sowjetische Militärtribunal in Schwerin Arno Esch und drei weitere Angeklagte unter dem Vorwurf der »Verschwörung gegen die Staatsgewalt« zum Tode. Dabei berief sich das Gericht auf Artikel 58.2 des Strafgesetzbuches der Russischen Sozialistischen Föderativen Republik. Zwar galt die Todesstrafe zum Zeitpunkt der Inhaftierung der Angeklagten in der Sowjetunion als abgeschafft. Doch wurde diese »auf Wunsch der sowjetischen Werktätigen« Anfang 1950, während die Angeklagten in Untersuchungshaft saßen, wieder eingeführt. Sie wurden so nach einem Passus verurteilt, den es so zum Zeitpunkt der ihnen zur Last gelegten »Taten« gar nicht gab. Nach einer Zwischenstation im Zuchthaus Bautzen verschleppte man Arno Esch nach Moskau. Am 26. Mai 1951 wurde er hier abermals durch das Militärtribunal des Moskauer Wehrkreises zum Tode verurteilt und am 24. Juli 1951 erschossen. In einem weiteren Prozess wurden Reinhold Posnanski und Kurt Kieckbusch, zwei führende Liberale aus Anklam, die mit Esch verhaftet worden waren, ebenso zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet. Karl-Heinz Neujahr aus Stralsund, ein weiteren inhaftierter Liberaler, kam unter ungeklärten Umständen nach seiner Ankunft in Moskau ums Leben. 14 Im Jahr 1950 floh der Mitbegründer der CDU in Rostock, der Industrielle und ehemalige Wirtschaftsminister des Landes Mecklenburg (ab 1946), Siegfried Witte, in den Westen und entzog sich der drohenden Verhaftung. 15 14 Wiese, Friedrich-Franz: Arno Esch. In: Fricke, Karl Wilhelm; Steinbach, Peter; Tuchel, Johannes (Hg.): Opposition und Widerstand in der DDR. München 2002, S. 173–180; Bernitt, Hartwig; Köpke, Horst; Wiese, Friedrich-Franz: Arno Esch. Mein Vaterland ist die Freiheit. Dannenberg 2010; Karl-Wilhelm Fricke: Arno Esch. In: Kowalczuk, Ilko-Sascha; Sello, Tom (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 47–49. 15 Keipke, Bodo: Siegfried Witte. Die biographische Skizze. In: Zr. 2 (1998) 1, S. 51–56; Schwießelmann, Christian: Zwischen Fremdsteuerung und Mitverantwortung: Innenansichten der CDU im Norden der DDR. In: Historisch-politischen Mitteilungen. Hg. v. der Konrad-AdenauerStiftung, Köln 2009, S. 109–153; Ders.: Die Christlich-Demokratische Union Deutschlands in

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Vorher war es zu massiven Drohungen gekommen. Witte wurde Opfer einer von der SED im großen Stil angelegten Verleumdungskampagne, die mit einer »Säuberungswelle« innerhalb der CDU im Norden einherging. Am 31. Januar 1950 sah er sich genötigt, sein Amt aufzugeben. Vom von der SED dirigierten Landesvorstand unter Reinhold Lobedanz wurde er anschließend aus der CDU ausgeschlossen. 16 Zwischenzeitlich geriet Witte einige Tage in Untersuchungshaft. Dabei galt Siegfried Witte als jemand, der sich lange bemühte hatte, sich den politischen Gegebenheiten anzupassen: Noch 1946 hatte sich der populäre CDU-Politiker zugunsten eines »Sozialismus aus christlicher Verantwortung« ausgesprochen. Als er mehr Demokratie einforderte, fiel er bei der SED in Ungnade. Jene verstand dies als eindeutiges Votum gegen eine Umgestaltung der DDR nach sowjetischem Vorbild. 17 Zudem weigerte er sich als Wirtschaftsminister, die Frage der Enteignung und Verstaatlichung pauschal über das von der SED bemühte Schein-Argument der Entnazifizierung zu legitimieren. Witte forderte demgegenüber eine Einzelfallprüfung. Vom Staatssicherheitsdienst inhaftiert wurde auch Willy Jesse,einer der führenden Rostocker Sozialdemokraten. Trotz Behinderungen baute Jesse die Sozialdemokratische Partei in Mecklenburg nach 1945 mit auf und bekleidete das Amt des Landesgeschäftsführers und zweiten Vorsitzenden. Befreundet war er mit dem Vorsitzenden der West-SPD, Kurt Schumacher, mit dem er sich gelegentlich heimlich in West-Berlin traf. Schumacher riet ihm »in Funktion und Amt zu verbleiben, solange [ihm] [...] nichts zugemutet werde, dessen sich ein Sozialdemokrat schämen müsste«. 18 Jesse beharrte auch noch nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD auf sozialdemokratischen Positionen. Er übernahm das Amt des paritätischen Landessekretärs der SED in Mecklenburg und rückte in den Parteivorstand der SED auf. Durch seine Mitarbeit in den Leitungsgremien der SED versuchte Jesse, den Sozialdemokarten einen Einfluss in der SED zu sichern – er wurde der erste prominente SED-Politiker, der für viele Jahre spurlos verschwand. 19 Am 13. Juli 1946 wurde er von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet. Ohne Anklage und Urteil saß er bis 1950 im Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen in Haft. Als vermeintlicher »Schumacher-Agent« wurde er im Sommer 1950 zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt und nach Sibirien deportiert. Später behauptete der SED-Funktionär Wilhelm Pieck, Jesse habe für den britischen GeheimMecklenburg und Vorpommern. Von der Gründung bis zur Auflösung des Landesverbandes (1945– 1952) (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 58). Düsseldorf 2011, S. 216, 335–376. 16 SBZ von 1945 bis 1954. Die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands in den Jahren 1945– 1954. Hg. v. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn, Berlin (West) 1964, S. 47, 120. 17 Keipke, Bodo: Siegfried Witte. Die biographische Skizze. In: Zr. 2 (1998) 1, S. 51–56. 18 Zit. nach: Stunnack, Grit: Willy Jesse. In: Zr. 1 (1997) 2, S. 35–38, hier 36. 19 Zu Willi [sic!] Jesse. In: Wer war wer in der DDR? Bd. 1, Berlin 2010, S. 610; Bouvier, Beatrix : Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der SBZ und in der DDR 1945–1953. Bonn 1996.

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dienst gearbeitet. 1954 kehrte Jesse nach Rostock zurück und ging, da er in der DDR nichts mehr meinte ausrichten zu können, noch im selben Jahr in die Bundesrepublik. 20 Inhaftiert und verschleppt wurde 1950 ebenso der Bäckermeister und Stellvertretende Wolgaster Bürgermeister Walter Kolberg. 21 Er wurde zusammen mit zwei leitenden Usedomern CDU-Mitgliedern, einer Frau Margarete Müller aus Zinnowitz, und einem Mann aus Karlshagen verhaftet. Kolberg zählte zu den Mitbegründern der CDU in Wolgast, saß im Kreistag in Greifswald und gehörte seit Oktober 1946 dem Mecklenburger Landtag in Schwerin an. Als Stellvertretender Bürgermeister kümmerte er sich in Wolgast um den Bereich Handel und Versorgung. Walter Kolberg übernahm nicht nur Verantwortung in der schweren Zeit nach dem Krieg und engagierte sich leidenschaftlich in der CDU. Zugleich wandte er sich gegen die »Gleichschaltung« seiner Partei durch die SED. 22 Mehrmals nahm er an Treffen der CDU in Berlin teil und kannte so auch die Parteivorsitzenden Jakob Kaiser und Otto Nuschke, die ihn ihrerseits in Wolgast besuchten. Mehrfach hatte es im Vorfeld der Verhaftung Warnungen gegeben. Doch glaubte Kolberg, dass sein Abgeordnetenmandat ihn schützen würde. Während der noch halbwegs offenen Landes- und Kreistagswahlen im Oktober 1946 errang die CDU in Wolgast die Mehrheit der Stimmen. Aus Verärgerung und um ihn einzuschüchtern, schütteten eifrige SED-Mitglieder des Nachts einen Misthaufen vor den Bäckerladen Walter Kolbergs. Nach seiner Festnahme am 20. September 1950 bezichtigte man ihn der »Spionage« und unterstellte ihm, einer illegalen Gruppe anzugehören. Als Vorwand dienten den Vernehmern seine gelegentlichen Gespräche mit einem Wolgaster Ingenieur. Jener hatte den Auftrag, die im April 1945 gesprengte Peenebrücke wiederherzurichten. Walter Kolberg als Stellvertretenden Bürgermeister und Ressortchef für Handel und Versorgung interessierte hingegen, wann Wolgast und die Insel Usedom wieder über eine feste Verbindung verfügen würden. Das Sowjetische Militärtribunal in Schwerin verurteilte ihn im Mai 1951 zu 25 Jahren Haft. Anschließend wurde er zur Zwangsarbeit in ein Kohlenbergwerk in die Sowjetunion nach Workuta verschleppt.

20 Stunnack, Grit: Willy Jesse. In: Zr. 1 (1997) 2, S. 35–38. Beatrix Bouvier geht hingegen davon aus, dass Willy Jesse direkt von der Haft in die Bundesrepublik ging. 21 »Auf den Spuren von Bürgermeister Walter Kolberg. Jugendliche aus Vorpommern präsentieren ihre Forschungen beim zweiten Jugendgeschichtstag«. In: MPKZ, 61. Jg., Nr. 49, 3.12.2006, S. 8; »Walter Kolberg (3. März 1899 – ca. 1954). In: Mecklenburg, 47 (2005) 11, S. 19; »Zur ›Klärung eines Sachverhaltes‹ verhaftet und nie wiedergesehen: Wolgaster Bürgermeister bittet um Bürgerbeteiligung bei der Entscheidung zur Ehrenbürgerschaft Walter Kolbergs«. In: Ostsee-Zeitung, Nr. 48, 2.11.2000, S. 17. 22 »Auf den Spuren«, ebenda.

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Seit man Walter Kolberg im September 1950 zu später Stunde noch in die sowjetische Kommandantur einbestellt hatte, galt der Bürgermeister als verschwunden. Selbst die Familie ließ man im Unklaren. Wie ein Lauffeuer sprach es sich in der Stadt daher herum, als im Januar 1954 ein erstes Lebenszeichen von ihm auftauchte. In einer Briefkarte, die vermeintlich aus Moskau stammte und die Nummer 5110/36 trug, übermittelte der in die Sowjetunion Verschleppte einen kurzen Gruß. Die Nummer 5110/36 stand für den berüchtigten Lagerkomplex Workuta nördlich des Polarkreises am Ural. Auf dem eng bemessenen Platz, der ihm zum Schreiben zur Verfügung stand, teilte er mit, dass es ihm den Umständen entsprechend gehe. Mit der Briefkarte erhielt die Familie anonym einen Blumenstrauß: Viele Wolgaster bekundeten im privaten Gespräch gegenüber den Angehörigen ihre Solidarität und äußerten sich erleichtert über das erste Zeichen nach gut drei Jahren quälender Ungewissheit. Die Tochter des Inhaftierten berichtete von vielfältigen Formen der Solidarität. Diese waren mehr als nur eine Ermutigung. Darüber hinaus standen sie für mehr als nur dies in einer Zeit, in der die Solidarisierung mit Opfern des SED-Regimes als politisch unerwünscht betrachtet werden musste. Wer davon ausgehen konnte, dass dies nicht unentdeckt bleiben würde, äußerte hiermit zugleich wahrnehmbar seine Ablehnung gegenüber dem SED-Staat. Im September 1954 erreichte die Familie die letzte Briefkarte. Wie ein Mithäftling in einem später anonym bei der Familie eingeworfenen Brief berichtete, starb Walter Kolberg 1954 infolge der unmenschlichen Haftbedingungen. Seine Kameraden gruben ihm ein Grab und nahmen von ihm Abschied. 23 Die fünf Biographien werden häufig angeführt, um zu verdeutlichen, wie sowjetische Stellen und die deutschen Kommunisten mit prominenten Gegnern verfuhren, um ihren Machtanspruch im Norden Ostdeutschlands durchzusetzen. Sie stehen exemplarisch für die Widerstandsgeschichte in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR im Norden. Doch unterscheiden sich die Biographien, trotz des vergleichbaren Risikos, dem sich die Betreffenden aussetzten, in nicht unwesentlichen Punkten voneinander. Gemeinsam war allen eines: Sie widersprachen, stellten sich der Sowjetisierung Ostdeutschland in irgendeiner Form entgegen oder lehnten bestimmte Forderungen der Sowjets oder deutschen Kommunisten ab. Ernst Lohmeyer wurde Opfer einer gezielten Denunziation, um ihn aus seinem Amt zu entfernen. Er mochte als unbequemer, eloquenter und bürgerlicher Vertreter gelten und stand deshalb in den Augen einiger kommunistischen Karrieristen und Aufwiegler einer politischen Neuordnung in der Sowjetischen Besatzungszone im Wege. Aus Verantwortungsgefühl gegenüber den ihm unterstellten Mitarbeitern und aus Sorge um die Arbeitsfähigkeit der universitären Einrichtungen hatte er sich zudem einer Forderung der Sowjets entgegengestellt, was ihn in den Augen 23

Gespräch mit der Tochter von Walter Kolberg, Wolgast, 23.10.2012.

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seiner Widersacher verdächtig machte. Lohmeyer hatte nicht Widerstand im engeren Sinne des Wortes geleistet. Anders verhielt es sich bei Arno Esch, der aufgrund seines Widerstandes inhaftiert wurde. Siegfried Witte und Willy Jesse stellten sich ebenso der Sowjetisierung Ostdeutschlands entgegen, indem sie öffentlich einzelnen Maßnahmen des Regimes infrage stellten: Sie erhoben Widerspruch und versuchten, im begrenzten Rahmen weiter politisch eigenständig zu sein. Sie ließen sich auch auf Kompromisse ein, galten aber bereits als nonkonform. All dies reichte bei beiden zur Inhaftierung aus. Auch Walter Kolberg versuchte die Eigenständigkeit der Ost-CDU zu bewahren: Die Stärke der CDU in Wolgast und seine Gradlinigkeit gerieten ihm zum Verhängnis. Obwohl er ebenfalls keinen Widerstand im engeren Sinne geleistet hatte und, indem er sich politisch betätigte, lediglich das tat, was an sich nicht untersagt war, geriet er als Gegner der SED in Haft. Auch Willy Jesse und Walter Kolberg harrten wie Ernst Lohmeyer an ihren Plätzen aus und hielten am Recht als solchem fest, dem die SED keine Bedeutung mehr beimaß. Allein dies war gefährlich genug und reichte der SED, um sie als politische Gegner zu verfolgen. Sie ließen sich zum Teil, um politisch zu überleben, auf Kompromisse ein, widersprachen der SED aber auch eindeutig in bestimmten Fragen. Mit Denunziationen, gezielten Einschüchterungen und konstruierten Vorwürfen, Verurteilungen, deren politische Zielsetzung eindeutig war, und Inhaftierung, bei denen die Angehörigen lange Zeit im Unklaren über die erhobenen Vorwürfe blieben, gelang es der SED, ihre politischen Konkurrenten ins Abseits zu drängen. Die Opposition wurde so ihrer führenden Köpfe beraubt. Unter den gegebenen restriktiven Bedingungen gelang es den verbliebenen bürgerlichen, liberalen Vertretern wie den Sozialdemokraten nicht mehr, sich neu zu konstituieren. Der hiermit aufgerissenen Lücke, verstärkt durch die Flucht vieler regimekritischer Einflusspersonen in den Westen, ging einher mit dem Verlust um das Wissen oppositioneller Traditionen, der sich auch auf das Erscheinungsbild von Opposition in der DDR in den folgenden Jahrzehnten erschwerend auswirken sollte. Nachfolgende Oppositionsgruppen sahen sich auf der Suche nach praktikablen Bezügen und inhaltlichen Anleihen. Den Dissidenten in anderen Ostblockstaaten, der Sowjetunion, Polen und der Tschechoslowakei kam dabei eine wichtige Rolle zu. 2.1.2 SED-Kirchenkampf zwischen Boltenhagener Bucht und Stettiner Haff Andere Inhaftierungen im Norden erfolgten im Zusammenhang mit dem Kirchenkampf Anfang der fünfziger Jahre. Verdächtig erschienen die Kirchen der SED allein schon aufgrund des Umstandes, dass sie sich als letzte verbliebene unabhängige Großinstitution den politischen Normenvorgaben entzog.

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Nicht wenige Christen lebten zudem einen bewussten Nonkonformismus, indem sie sich im Alltag anders verhielten, als es die SED erwartete, oder indem sie offen der SED widersprachen. Innerhalb wie außerhalb der Kirche praktizierte man vielerorts eine Kultur des beharrlichen Widerstehens. Als ein solches Zeichen konnte schon ein Herrnhuter Adventsstern als Bekenntnis zur Kirche gelten. Es war zugleich ein Plädoyer für das Festhalten an einer anderen Kultur als der offiziell ausgegebenen. Sie wies den, der den in den kirchlichen Werkstätten der Oberlausitz gefertigten Stern für jedermann sichtbar in der Adventszeit in sein Fenster hängte, als kirchenverbundenen Andersdenkenden in einer sich atheistisch gebenden Parteidiktatur aus. Im Wissen um die Brisanz dieser Zeichensetzung, nutzte manch einer den Stern, um mit ihm ein politisches Statement gegen den SED-Staat abzulegen und seine Distanz zum gesellschaftlichen System kundzutun. Auch andere Formen zeugten von dieser Kultur des Andersseins. In vielen Fällen unterliefen die Pfarrer vor Ort die restriktiven Anmelde- und Veranstaltungsvorgaben der SED, gestalteten ihre Schaukästen mit zumindest doppeldeutigen Texten und hielten trotz staatlichem Verbot Rüstzeiten in ihren Pfarrhäusern ab. Die Eltern, die ihre Kinder hierhin fahren ließen und die Jugendlichen, die diese Angebote in Anspruch nahmen, waren sich bewusst, dass sich gegebenenfalls mit Benachteiligungen bei der Bewerbung zur Oberschule und Ähnlichem zu rechnen hatten. Sie nahmen dies in Kauf. Der von der SED angezettelte Kirchenkampf gestaltete sich vielschichtig. Zum einen gab es Christen, die aufgrund ihres Widerstandes, der sich gegen die Begrenzung der kirchlichen Rechte richtete, inhaftiert wurden. Ebenso, weil sie ihre Mitmenschen zur Solidarität mit Inhaftierten aufgefordert hatten oder – wie die 1953 inhaftierte Katechetin Margarete Reuter – vor dem Gefängnis in Schwerin Choräle sangen. 24 Nicht wenige Pfarrer, Diakone und Katecheten gerieten in Haft, weil sie Dinge taten, die sie im Rahmen ihres seelsorgerischen Dienstes meinten tun zu müssen. Andere Christen waren sich zum dritten durchaus ihrer Andersartigkeit im atheistisch sich gebenden SEDStaat bewusst, rechneten jedoch nicht mit Repressionen wie zum Beispiel dem Verweis von der Oberschule, weil sie sich keineswegs als Staatsfeinde sahen. Erschrocken nahmen sie wahr, dass sie in den öffentlichen Kampagnen der FDJ zu ebensolchen abgestempelt wurden. In der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember 1950 wurde in Wismar der Pfarrer Robert Lansemann als »Spion, Provokateur und Klassenfeind« verhaftet. In der NS-Zeit hatte sich Lansemann den Bekennenden Christen angeschlossen. Weil er sich »dem Versuch einer ideologischen Gleichschaltung durch das NS-Regime« widersetzte, wurde er von der Gestapo verhört. Nach 24 Margarete Reuter wurde zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Wegener, Margarete: Gedenket der vorigen Zeiten! In: Mecklenburgische und Pommerische Kirchenzeitung, Nr. 24, 16.6.2013, S. 2.

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1945 kümmerte sich der Pfarrer um die Flüchtlinge, half ihnen bei Nachforschungen nach ihren Angehörigen und wandte sich öffentlich gegen das neue Unrechtsregime. Als besonders erfolgreich galt seine Arbeit unter der christlichen Jugend. 25 Eine eher bizarre Beschwerde über eine Äußerung während des Konfirmandenunterrichts diente der Stasi und der SED als willkommene Gelegenheit, den Pfarrer festzunehmen und seine Wohnung zu durchsuchen. Bei der zehnstündigen Hausdurchsuchung konfiszierte man in der DDR nicht lizenzierte Schriften des Theologen Helmuth Thielicke und des Berliner Bischofs Otto Dibelius. Letzterer galt den DDR-Behörden als Regimekritiker schlechthin, wer mit ihm in Zusammenhang gebracht werden konnte, galt bereits als verdächtig. Gefunden wurden zudem laut Haftbeschluss »12 Flugblätter ›Proletarier‹, herausgegeben vom christlichen Zeitschriftenverlag BerlinDahlem, von der amerikanischen Militärregierung lizensiert«. 26 Robert Lansemann befand sich schon seit geraumer Zeit im Fokus der Staatssicherheit. Im Festnahmebericht hieß es, »L. wird seit dem 17.10.1950 [...] auf Grund von provokatorischen Reden gegen die DDR im ›Gottesdienst‹ operativ bearbeitet.« 27 In der ersten Vernehmung ging es so maßgeblich um die »politischen Beispiele aus dem Alltagsleben«, die der Beschuldigte verwandte, um seine Predigten den »Zuhörern verständlich zu machen«. 28 Vorgehalten wurde ihm so, dass er »die heutige Zeit mit den Nazis und dem 1000jährigen Reich [...] verglichen« habe. 29 »Durch seine provokatorischen Predigten«, hieß es dementsprechend im Untersuchungsbericht, habe Lansemann »den Aufbau der DDR gestört und gehemmt«. Vorgehalten wurde ihm vom Staatssicherheitsdienst auch sein Engagement zugunsten der in Wismar untergekommenen Flüchtlinge. Aus seinen Nachfragen beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes in West-Berlin konstruierten die Vernehmer den Vorwurf der Spionage: Pastor Lansemann hieß es im Bericht, sei »geständig [...] Spionage betrieben zu haben, indem er Heimkehrer ausfragte über Lager in der SowjetUnion. Er erstellte darüber Berichte und gab dieselben der Suchdienststelle Berlin-Dahlem (amerikanischer Sektor) zur weiteren Auswertung.« 30 Lanse25 Wiaterek, Norbert: Das Glaubenszeugnis wach halten. Gedenkgottesdienst an Pastor Robert Lansemann am 27. Juli in Heiligen Geist Wismar. In: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung, 63. Jg., Nr. 30, 27.7.2008, S. 4. 26 Haftbeschluß, ausgestellt durch den VP-Meister Doege, Wismar, 12.12.1950: BStU, MfS, BV Rostock, AU 293/50, HA, Bd. 1, Bl. 6. 27 Verwaltung für Staatssicherheit, Abt. Wismar, Festnahmebericht, Wismar, 12.12.1950: BStU, MfS, BV Rostock, AU 293/50, HA, Bd. 1, Bl. 9. 28 Verwaltung für Staatssicherheit, Abt. Wismar, Vernehmung, Wismar, 13.12.1950: BStU, MfS, BV Rostock, AU 293/50, HA, Bd. 1, Bl. 30–34. 29 Verwaltung für Staatssicherheit, Abt. Wismar, Vernehmung, Wismar, 13.12.1950: BStU, MfS, BV Rostock, AU 293/50, HA, Bd. 1, Bl. 35–39. 30 Verwaltung für Staatssicherheit, Abt. Wismar, Bericht: U-Vorgang 227/50, Lansemann, Robert, Wismar, 11.1.1951: BStU, MfS, BV Rostock, AU 293/50, HA, Bd. 1, Bl. 41 f.

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mann verglich die Angaben, so der Vorwurf, »mit seinem Lagerverzeichnis und falls [...] [ein] Lager [...] noch nicht enthalten war, übersandte er dieselben in einem kurzen Bericht an den Suchdienst in Westberlin«. Zugleich »zeichnete er« die Lager in eine »Karte ein«, die er zuhause aufbewahrte. 31 Am 22. Februar 1951 übergab der Staatssicherheitsdienst Pfarrer Lansemann nebst den »Ermittlungsergebnissen«, unter anderem auch die »sichergestellte Karte«, den sowjetischen Stellen. 32 Er kam in das Schweriner Untersuchungsgefängnis am Demmlerplatz. Hier verliert sich seine Spur. Es kam nie zu einer öffentlichen Anklage oder zu einer Gerichtsverhandlung. Über Jahre blieb das Schicksal des auf Medikamente angewiesenen Häftlings ungeklärt. Lediglich ein Schreiben des Hohen Kommissars der Sowjetunion, Wladimir Semjonow, an die Kanzlei der Evangelischen Kirche vom 13. März 1953 enthielt den Hinweis, dass Lansemann nicht mehr am Leben sei. Nach 1990 nannte der Oberste Militärstaatsanwalt in Moskau als Todesdatum den 19. April 1951. 33 Der Ort der Beisetzung ist bis heute unbekannt. 34 1952 ließ die SED den Pastor von Hohenkirchen bei Wismar, Walter Meyer, verhaften. 35 In seinen Predigten hatte er die SED wegen ihrer kirchenfeindlichen Politik kritisiert. Ab dem Frühjahr 1953 verschärfte sich die Situation für die Kirche zusehends. Betroffen waren hiervon vornehmlich die Jungen Gemeinden und die Evangelischen Studentengemeinden. Als kirchliche Arbeitszweige erfreuten sie sich eines regen Zulaufs. Hier konnte man ungezwungen diskutieren und frei von ideologischer Bevormundung die Freizeit gestalten. Die kirchlichen Jugendgruppen wurden so zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz zur von der SED protegierten FDJ und ihren Jugendgruppen. In ihren Glaubensgrundsätzen widersprachen die kirchlichen Gruppen dem von der FDJ beanspruchten weltanschaulichen Deutungsmonopol. Mit ihren vielfältigen Aktivitäten – überregionalen Jugendtreffen, Wanderungen, Diskussionsabenden – etablierte sich in ihren Reihen eine Kultur des Widerspruchs und Beharrens gegen die Allgegenwart der SED. Zum Treffen der mecklenburgischen Jungen Gemeinden im Juni 1950 reisten so gut 5 000 Jugendliche nach Güstrow; da nicht alle im Dom unterkamen, musste ein 31 Verwaltung für Staatssicherheit Mecklenburg, Abschlussbericht, Schwerin, 7.2.1951: BStU, MfS, BV Rostock, AU 293/50, HA, Bd. 1, Bl. 48–50. 32 Verwaltung für Staatssicherheit Mecklenburg, Bericht, Schwerin, 6.4.1951: BStU, MfS, BV Rostock, AU 293/50, HA, Bd. 1, Bl. 51. 33 Rathke, Heinrich: Lansemann, Robert. In: Schultze, Harald; Kurschat, Andreas (Hg.): Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Leipzig 2006, S. 634–636, hier. 633 f. 34 Wiaterek, Norbert: Das Glaubenszeugnis wach halten. Gedenkgottesdienst an Pastor Robert Lansemann am 27. Juli in Heiligen Geist Wismar. In: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung, 63. Jg., Nr. 30, 27.7.2008, S. 4. 35 Liste der verhafteten evangelischen Pfarrer und Amtsträger, Stand 31. März 1952, Evangelisches Archiv Zentrum Berlin, Archiv der Kirche Berlin-Brandenburg, K 23, Az. 323, Bd. III, o. Pag.

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Parallelgottesdienst in der Pfarrkirche abgehalten werden. 36 In einem Bericht bezifferte die Stasi die Größe der Jungen Gemeinden in Mecklenburg auf »etwa 10-15 000 Jugendliche«. 37 Die SED und mit ihr die FDJ und die Stasi mochte dies nicht länger hinnehmen. Im Frühsommer 1952 verbot die SED das Landesjugendtreffen in der Rostocker Marienkirche. Nur unter der Auflage, dass die Jugendlichen unverzüglich abreisten, durfte die Eröffnungsveranstaltung nun als »Abschlussgottesdienst« stattfinden. Landespastor Wellingerhof verkündete den Angereisten das polizeiliche Verbot und ermutigte die Jugendlichen in eindrucksvoller Weise, an ihren Überzeugungen festzuhalten. Im November 1952 kam es zu den ersten Relegationen entlang der Ostseeküste. In Stralsund mussten sechs Oberschüler die Schule verlassen, weil sie das Bekenntniszeichen – ein Kreuz über der Erdkugel – öffentlich trugen und sich so zur Jungen Gemeinde bekannten. 38 In Greifswald wurden im August 1952 etwa sechzig Studenten vom Studium ausgeschlossen und von der Universität verwiesen. Man entzog ihnen die Studienerlaubnis, um – wie es offiziell hieß – »die Universität von Feinden, Agenten und Faulenzern zu säubern«. Unter ihnen befanden sich zwölf Theologiestudenten. Sie hatten sich allesamt nicht von der Studentengemeinde distanzieren wollen und legten gegen ihre Suspendierung Widerspruch ein. 39 Am 2. Januar 1953 verhaftete die Stasi in Wismar den Diakon und Jugendwart Herbert Büdke und läutete damit über den Bezirk Rostock hinaus eine weitere Phase des Kirchenkampfes in der DDR ein. Büdke galt als einer der führenden Köpfe der Jungen Gemeinde in Mecklenburg. 40 Was ihm vorgeworfen wurde, mutete nahezu grotesk wie konstruiert an. In den von Büdke als »unmenschlich lange« beschriebenen Verhören hielt man ihm vor, die DDR, was »den totalen politischen Anspruch und den dogmatischen Charakter« betrifft, »mit dem Dritten Reich« gleichgesetzt zu haben. Auch habe er in den Jungendstunden behauptet, dass »der Materialismus nicht alles klären kann«. Zur Anklage gereichten ihm letztlich drei »Vergehen«: So habe er behauptet, dass die SED »gegen die Kirche eingestellt« sei und »der Friede in der Welt nur erhalten werden kann in Verbindung mit Gott«. Zum zweiten wies er während die Jugendlichen in einer Diskussion darauf hin, »dass ein bewusster Christ nicht Funktionär der Freien Deutschen Jugend sein kann«. Zum dritten habe er 1952 in West-Berlin an einer Tagung kirchlicher Jugendmitar36 »5000 auf dem kirchlichen Jugendtreffen in Güstrow«. In: Potsdamer Kirche, H. 30, 23.6.1950, S. 230. 37 MfS, Abt. V/E, Bericht betr.: Franz Wellingerhof, Landesjugendpastor, Schwerin, 24.11.1952, MfS, AP 12428/92, Bl. 13. 38 Onnasch, Martin: »Sie sollen uns fürchten wie die Pest«. Zum sogenannten »zweiten Kirchenkampf« in der pommerschen Kirche 1952/53/Teil II. In: MPKZ, Nr. 27, 6.7.2003, S. 5. 39 Ebenda. 40 SBZ von 1945 bis 1954. Die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands in den Jahren 1945– 1954. Hg. v. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen. Bonn, Berlin (West) 1964, S. 247.

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beiter teilgenommen und »hierbei Einkäufe an Lebensmitteln und Genussmitteln getätigt«. Bei der Hausdurchsuchung fand man bei ihm zudem kirchliche Abreißkalender, die in West-Berlin gedruckt worden waren. 41 Das Verfahren erwies sich als reiner Schau- und Abschreckungsprozess. Im Plädoyer behauptete der Staatsanwalt, »dass einige Verantwortliche der ›Jungen Gemeinde‹ der verlängerte Arm [einer] [...] Spionage- und TerrorOrganisation« seien. Staatsanwalt Piehl forderte, den Angeklagten »mit einer gebührenden Strafe« zu belegen, »um [...] Seinesgleichen zu warnen und vorbeugend« gegen sie vorzugehen. Schließlich, so die simple Logik, übe die Junge Gemeinde »unter unserer Jugend« eine »zersetzende Tätigkeit« aus. Auch die bislang zum Prozess erschienenen Presseartikel wären, so Piehl weiter, »viel zu mager gewesen«. Zusammen mit dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung sei jedoch bereits ein härteres Vorgehen vereinbart worden. 42 Das Bezirksgericht Rostock verurteilte den Diakon am 16. Mai 1953 wegen »falscher Auslegung der christlichen Lehre« zu acht Jahren Zuchthaus. Man mochte angesichts der Begründung glauben, dass es in der DDR nie ein Trennung von Staat und Kirche gegeben habe: Die Partei der Atheisten befand über die Auslegung der Heiligen Schrift. In der Pressekampagne der OstseeZeitung wurde Büdke zugleich als »Wallstreet-Agenten der ›Jungen Gemeinde‹« diffamiert. 43 1955 wurde die Haftzeit des im Zuchthaus Waldheim Inhaftierten auf fünf Jahre herabgesetzt. 44 Ein auf den 27. Januar 1953 datierter Beschluss des SED-Politbüros schuf mittlerweile den Rahmen für die DDR-weit geführte und von den DDRZeitungen flankierte Kampagne. 45 Im April erschien die »Junge Welt« mit einer Sonderausgabe. In großen Lettern verkündete das »Organ des Zentralrates der Freien Deutschen Jugend« hier, die »Junge Gemeinde« sei eine »Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage im USA-Auftrag«. 46 Viele, die sich zur Jungen Gemeinde hielten, zeigten sich trotz der zunehmenden Spannungen zwischen Staat und Kirche schockiert angesichts der Diffamierung. Wie überall in der DDR wurden nun auch entlang der Ostseeküste 41 Anklage der Staatsanwaltschaft des Bezirks Rostock: BStU, MfS, BV Rostock, MF AOP 85/53; Strafsenat; Schreiben der Staatsanwaltschaft an das Bezirksgericht Rostock, MF AOP 85/53. 42 Bericht des Staatsanwaltes des Bezirks Rostock, an den Generalstaatsanwalt der DDR, betr. Strafsache gegen den Diakon Herbert Büdke, Rostock, 18.5.1953: BStU, MfS, BV Rostock 43 »Acht Jahre Zuchthaus für einen Wallstreet-Agenten der ›Jungen Gemeinde‹«. In: OstseeZeitung, 2. Jg., Nr. 113, 18.5.1953, S. 2. 44 Liste der verhafteten und verurteilten kirchlichen Amtsträger, Stand vom 1. März 1955, Evangelisches Archiv Zentrum Berlin, Archiv der Kirche Berlin-Brandenburg, K 23, Az. 323, Bd. IV, o. Pag. 45 Goerner, Martin Georg: Die Kirche als Problem der SED. Strukturen kommunistischer Herrschaftsausübung gegenüber der evangelischen Kirche 1945 bis 1958 (Studien des Forschungsverbundes SED-Staat). Berlin 1997, S. 99. 46 Extrablatt. Junge Welt. April 1953, S. 1.

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an den Schulen tribunalartige Versammlungen einberufen und Schüler gedrängt, sich öffentlich von der Jungen Gemeinde zu distanzieren. Wer dem nicht Folge leistete, wurde von der Oberschule, der Fachhochschule und Universität suspendiert. Mitunter reichte selbst dies den Inquisitoren nicht: Am 14. Mai 1953 bestätigte die SED-Kreisleitung Stralsund-Land den Beschluss der Oberschule in Franzburg, vier Schüler auszusperren, weil ihre »schriftlichen Austrittserklärungen aus der ›Jungen Gemeinde‹ formal und voller Widersprüche und [...] [in einem Fall] unwahr« seien. Bei einem der Schüler fand man im Ranzen sechs Hefte der inzwischen verbotenen evangelischen JugendZeitschrift »Die Stafette«. 47 Die SED schuf sich analog zu ihrer Kampagne hier die in ihr Weltbild passenden Staatsfeinde. Nur ein Teil der Jugendlichen verstand die »Junge Gemeinde« hingegen als »Stoßtrupp« zur Zurückweisung des kommunistischen Allmachtsanspruchs. Andere sahen die »Jungen Gemeinde« als Form eines jugendgemäßen wie bekenntnisorientierten Aufbruchs, der ihnen ein Leben im Glauben alternativ zu den Vorgaben der SED und FDJ eröffnete. Grade sie traf die Kampagne unvermittelt, da sie trotz ihrer Distanz zum System sich kaum als Staatsfeinde betrachteten. Allein der Vorwurf des Agententums, den die »Junge Welt« erhob, zeigte, dass die FDJ und die SED bei der Diffamierung der Jugendlichen jegliches Maß verloren hatte. Die Verfolger disqualifizierten sich mit der offenkundig böswilligen Unterstellung selbst. Der Kampf um die Junge Gemeinde entpuppte sich im Bezirk Rostock nicht nur als eine Geschichte der Repression und Verfolgung. Er zeugte zugleich vom Mut vieler Schüler, die nicht nachgaben und die Erklärung nicht unterschrieben. Auch ist es eine Geschichte des mutigen Bekennens und Widerstehens. In Rostock verfassten die Pastoren auf Anregung von Landessuperintendent Heinz Pflugk am 30. März eine Erklärung, in der es hieß: »wer die Junge Gemeinde antastet, greift die Kirchen an«. Noch deutlichere Worte fanden sie im Absatz zuvor, wo sie erklärten: »Die Angriffe, die eine staatsfeindliche Tätigkeit der Jungen Gemeinde behaupten, weisen wir zurück. Behauptungen sind keine Beweise. Schon in den ersten Jahrhunderten in den Christenverfolgungen ist der Kampf [...] so geführt worden, daß man die Christen als Staatsfeinde verfolgte [...]. Auch in den dreißiger Jahren [...] wurden die Christen in Deutschland der Staatsfeindschaft beschuldigt.« Die Erklärung sorgte bereits am drauf folgenden Tag an der Großen Stadtschule I – einer Oberschule – für einen Eklat. Während einer Vollversammlung zum Ausschluss der noch »uneinsichtigen« Junge-Gemeinde-Mitglieder las einer der Schüler die Erklärung unter »übergroßem Beifall von einem Teil 47 Landesarchiv Greifswald, BPA IV/2/9.02/1.128. Nach: Onnasch, Martin: »Sie sollen uns fürchten wie die Pest«. Zum sogenannten »zweiten Kirchenkampf« in der pommerschen Kirche 1952/53/Teil II. In: MPKZ, Nr. 27, 6.7.2003, S. 5.

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der Schülerschaft« unaufgefordert vor. Er wurde ebenso suspendiert. Darauf ließen es die Unterzeichner der Protest-Erklärung nicht beruhen. Am 16. Mai, kurz vor acht Uhr, erschienen, wie der Direktor der SED-Kreisleitung umgehend berichtete, »ca. 15 Angehörige der Evangelisch-Lutherischen Kirche, geführt von Propst [Dietrich] Timm und Landessuperintendent Pflugk« und forderten, alle Schulverweise sofort aufzuheben. Im Weiteren kam es zu einer lautstarken verbalen Auseinandersetzung. Mit Vehemenz traten die fünfzehn dem Direktor entgegen und verwahrten sich gegen den Versuch, die Übergriffe mit dem von der SED ausgegebenen Propagandafloskeln im Nachhinein zu rechtfertigen. 48 Im März 1953 geriet im Bezirk Rostock ein weiteren Kirchenmitarbeiter in Haft: Am 5. März inhaftierte die Stasi Pastor Günther Lüdke aus Binz auf Rügen wegen seiner Kritik am SED-Staat. Er wurde zu einem Jahr und vier Monaten Zuchthaus verurteilt. 49 Der von der SED auf Moskauer Druck hin im Juni 1953 verkündete »Neue Kurs« versprach zunächst eine Mäßigung im Umgang mit den Kirchen. Tatsächlich konnten relegierte Junge-Gemeinde-Mitglieder wieder an die Oberschulen und Universitäten zurückkehren. 50 Manch einer entschied sich, hiervon keinen Gebrauch zu machen: Zu offensichtlich schienen das taktische Kalkül und die fortbestehende Unsicherheit, nicht doch bald wieder Opfer einer politischen Verfolgung zu werden. Ein Teil von ihnen hatte es inzwischen vorgezogen, in den Westen zu gehen; andere wiederum entschieden sich für eine kirchliche Ausbildung. Als überproportional vertretener Jahrgang in den Pfarrämtern hielten sie die Erfahrungen der »frühen Jahre« im kollektiven Gedächtnis der DDR-Protestanten wach. Tatsächlich währten die Versprechen des »Neuen Kurses« nicht lange. Die Inhaftierten wurden nur bedingt begnadigt. Auch kehrten die Schikanen, Verbote und erneute Festnahmen bald in den Alltag zurück. In einem Bericht listete der Oberkirchenrat in Schwerin 1955 sieben Vorfälle entlang der Ostseeküste auf, bei denen mecklenburgische Pfarrer vorgeladen und mal durch Bürgermeister, mal durch SED-Funktionäre und Volkspolizisten befragt und eingeschüchtert worden waren. Zumeist hatten sich die Betroffenen gegen die Jugendweihe ausgesprochen. So der Propst von Rerik, 48 Henschel, Martin: Kirchliches Leben und religiöses Brauchtum in Rostock – einige Beispiele von Anfechtung und Behauptung in der Zeit von 1945 bis 1989, Leben in der DDR, Leben nach 1989 – Aufarbeitung und Versöhnung: zur S. 233–250, hier 238 f. Vgl. hierzu auch: Bispinck, Henrik: Bildungsbürger in Demokratie und Diktatur. Lehrer an höheren Schulen in Mecklenburg (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 79). München 2011, S. 268–270. 49 Liste der verhafteten Pfarrer und kirchlichen Amtsträger, Stand 30. Mai 1953, Evangelisches Archiv Zentrum Berlin, Archiv der Kirche Berlin-Brandenburg, K 23, Az. 323, Bd. III, o. Pag. 50 Goerner, Martin Georg: Die Kirche als Problem der SED. Strukturen kommunistischer Herrschaftsausübung gegenüber der evangelischen Kirche 1945 bis 1958 (Studien des Forschungsverbundes SED-Staat). Berlin 1997, S. 111–123, 161–167.

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Heinrich Hamann, der am 26. März »um 22 Uhr« von einem Volkspolizisten »aus dem Bett geholt und unter Gewaltandrohung aufgefordert« wurde, »mit ihm in das Polizeidienstgebäude nach Rerik zu fahren.« Von hier aus brachte man ihn nach Bad Doberan, wo ihn zwei Vernehmer bis nachts um drei verhörten. Schließlich »wurde ihm mitgeteilt, daß das Verfahren gegen ihn eingestellt werde und er entlassen sei«. Während der Vernehmungspausen und auf dem Hin- und Rücktransport wiesen ihm die Polizisten stets ungeheizte und zugige Plätze zu; anscheinend, um so die abschreckende Wirkung der nächtlichen Tortur zur erhöhen. 51 Die Evangelischen Studentengemeinden standen immer wieder im Fokus von Auseinandersetzungen. Aufgrund der in ihren Reihen praktizierten offenen Diskussionskultur fühlten sich viele Studenten von den Treffen der ESG angezogen. Hier verwirklichte sich nicht nur eine Art Gegengesellschaft der Offenheit im doktrinären SED-Staat; immer wieder wurde hier auch Kritik an den Verhältnissen in der DDR geübt und zur Solidarität mit von Repressalien betroffenen Studenten aufgerufen. Aber allein schon die Existenz der Studentengemeinden galt der FDJ bereits als ein kaum hinzunehmendes Ärgernis: Die christlichen Gemeinschaften stellten die Zukunftsvision der SED, an den Universitäten eine neue, ihr verbundene kommunistische Elite zu formen, elementar infrage. Wie schon beim Widerspruch der regimekritischen Bekennenden Kirche im NS-Staat, machte die ESG der SED ihren »Anspruch auf die Zukunft streitig«. 52 Kam es zu Unmutäußerungen unter den Studenten, fiel der Verdacht meist auf die ESG, etwas damit zu tun zu haben. Die ESG wurde zum Hauptschuldigen erklärt, zum einen, weil sie den staatlicherseits Verantwortlichen grundsätzlich suspekt erschien, und zum anderen, weil sich ein Teil der kritischen Studenten in den Räumen der ESG traf. Doch traf der Vorwurf nur bedingt zu: Der Kirche wurde angelastet, dass in ihren Räumen frei über vieles diskutiert werden konnte. Doch zeichnete sie nach dem bürgerlichen Rechtsverständnis als Institution nicht für alles, was sich daraus ergab, verantwortlich. Und auch wenn sich viele politisch unangepasste Studenten zur ESG hielten, bedeutete dies nicht, dass jeder regimekritische Student ein Mitglied der ESG war. Der SED-Staat sah dies anders. Der ESG wurde auch der Vorlesungsstreik an der Greifswalder Universität 1955 angelastet. Der Protest richtete sich gegen die Umwandlung der Medizinischen Fakultät der Universität Greifswald in eine Militärmedizinische Ausbildungsstätte. Nachdem die Studenten am 30. März demonstrativ mehreren Vorlesungen fern geblieben wa51 Bericht des Oberkirchenrates in Schwerin, ohne Datum: BStU, BV Schwerin, AOP 694/59, Bl. 151–158. 52 Steinbach, Peter: Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Ders.; Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 323). Bonn 1994, S. 15–26, hier 22.

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ren, versammelten sie sich am Abend im Hof der Medizinischen Klinik. Hier fand grade eine außerordentliche Fakultätssitzung statt. Ihr Versuch in der Aula, wo die FDJ eine Informationsveranstaltung abhielt, mehr zu erfahren, endete mit der Festnahme von 211 Studenten. Die Studenten wurden in das nahe Gefängnis transportiert, in die wenigen engen Zellen gesperrt und die Nacht über verhört. Der Großteil der Festgenommenen gelangte am folgenden Tag wieder auf freien Fuß. Zu einer weiteren Zuspitzung kam es, als gegen Mittag der Kirchturm der Jacobikirche im Flammen stand und dichte Rauchschwaden die Kirche umhüllten. Im Jacobikirchturm befanden sich die Räume der Studentengemeinde. Bereits während der nächtlichen Verhöre meinte die Staatsmacht, in ihr Urheberin des Vorlesungsstreiks gefunden zu haben. Unruhe breitete sich in der Stadt aus. Gegenüber vom Jacobiturm lag die StasiKreisdienststelle und Augenzeugen berichteten, drei unbekannte Männer in den Vormittagsstunden beobachtet zu haben, die sich Zugang zum Turm verschafft hatten. Sie gaben sich als interessierte Zimmerleute aus, obwohl keine Firma mit Reparaturarbeiten beauftragt worden war. Zu den Ungereimtheiten zählte auch ein im Turm aufgefundener Blechkanister. Die Staatsanwaltschaft verwarf jene Spuren und klagte den Pfarrer und den Inhaber eines Baugeschäftes wegen der Nichteinhaltung von Bauauflagen an: Im Turm hätte die ESG ihre Räume nicht in dieser Form errichten dürfen. Ebenso wurde ein von kirchlicher Seite in München in Auftrag gegebenes Gutachten, das die Brandstiftung eindeutig nachwies, von den ostdeutschen Stellen verworfen. Von den festgenommenen Studenten verblieben fünf in Haft. Sie wurden zu Gefängnisstrafen zwischen zehn und zwei Jahren Haft verurteilt. Man bezichtigte sie unter anderem, Spionage für westliche Stellen geleistet zu haben. 53 Eine Kommilitonin saß zudem vier Monate – davon zwei in Einzelhaft – in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Rostock ein. »Aus Mangel an Beweisen« wurde die in der ESG aktive Studentin schließlich entlassen. Wie sie nach ihrer Freilassung erfuhr, hatten sich prominente Kirchenvertreter, unter anderem der Bevollmächtigte der EKD für die Beziehungen zur DDR-Regierung, für sie verwandt. Der Studentenpfarrer berichtete ihr auch, dass die Studentengemeinde täglich ein Fürbittengebet für die inhaftierten Mitglieder durchführte. 54 53 Schmiedebach, Heinz-Peter; Spiess, Karl-Heinz: Studentisches Aufbegehren in der frühen DDR (Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald; 2). Stuttgart 2001; Nitzsche, Raimund; Glöckner, Konrad (Hg.): Geistige Heimat ESG – In Freiheit leben aus gutem Grund. Erinnerungen an 60 Jahre Evangelische Studentengemeinde Greifswald. Greifswald 2006; Nitzsche, Raimund: Vorlesungsstreik im Kalten Krieg. Vor 50 Jahren protestierten Studenten gegen die Ausbildung von Militärmedizinern. In: MPKZ, Nr. 13, 27.3.2005, S. 7; Schlagen, Udo: Studenten gegen Militärmedizin in Greifswald – Kirchturmbrand von St. Jacobi. Was geschah am 30./31. März 1955. In MPKZ, 7.7.2010. 54 Winde, Eva-Brigitte: Vertrauen auf Gottes Güte. Bericht über meine 4-monatige Untersuchungshaft durch die Staatssicherheit der DDR als Folge des beabsichtigten Streikes der Medizinstu-

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Ab Mitte der fünfziger Jahre kam es in der DDR vermehrt wieder zur Inhaftierung kirchlicher Mitarbeiter, die die SED und ihrer Machtanspruch kritisierten. Am 21. Mai 1958 verhaftete die Stasi den Diakon Hans-Egon Gurke aus Bisdamitz auf Rügen und am 2. Juli 1958 Margot Lissau, eine Heimleiterin aus Greifswald. Hans-Egon Gurke wurde zu 9 Monaten und Margot Lissau zu 1 ½ Jahren Gefängnis verurteilt. 55 2.1.3 Der 17. Juni 1953 an der Küste Die Ereignisse rund um den 17. Juni 1953 stehen im Norden – wie in der DDR andernorts – für die Geschichte des Widerstands im engeren Sinne des Wortes. Nach dem Protestmarsch der Arbeiter der Berliner Stalinallee zum Haus der Ministerien am Abend des 16. Juni und der Verweigerung der Arbeitsaufnahme auf der Großbaustelle in der Stalinallee am Morgen des 17. Juni brachen innerhalb von wenigen Stunden in der gesamten DDR Streiks aus. Den Anlass boten die von der SED beschlossenen Normerhöhungen, was in der Praxis einer Lohnabsenkung gleich kam. Für Empörung sorgte bei den Arbeitern, dass die Normen mit dem »Neuen Kurs«, der die Abkehr von der stalinistischen Innenpolitik versprach, nicht zurückgenommen wurden. Aus dem Kampf um eine angemessene Entlohnung und vertretbare Arbeitsbedingungen erwuchs innerhalb kürzester Zeit ein Aufstand, bei dem es bald um weit mehr ging. Gefordert wurden der Rücktritt der Regierung, freie Wahlen und die Wiedervereinigung Deutschlands. Der Aufstand erfasste die gesamte DDR. Die Zentren des Aufstandes lagen jedoch in Berlin, im mitteldeutschen Industrierevier und im Süden des Landes. Zunächst hatte es den Anschein, als würde die Streikwelle den Norden kaum erreichen, doch traten auch hier Betriebe in den Ausstand. Die schlechte Informationsweitergabe und die periphere Lage des Bezirks Rostock sorgten jedoch dafür, dass häufig erst im Nachgang bekannt wurde, wo es entlang der Ostsee zu Streiks, Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen gekommen war. Im Ostseebezirk streikten rund um den 17. Juni die Belegschaften mehrerer Betrieben in Rostock, Warnemünde, Wismar, Wolgast, Stralsund, Barth, Bobbin, Glowe, Langenhansheide, Peenemünde und Greifswald. In Glowe auf Rügen ließen neben denten in Greifswald am 30. März 1955. In: Nitzsche, Raimund; Glöckner, Konrad (Hg.): Geistige Heimat ESG – In Freiheit leben aus gutem Grund. Erinnerungen an 60 Jahre Evangelische Studentengemeinde Greifswald. Greifswald 2006, S. 86–89. 55 Liste der verhafteten und verurteilten kirchlichen Amtsträger, Stand vom 1. März 1959, Evangelisches Archiv Zentrum Berlin, Archiv der Kirche Berlin-Brandenburg, K 23, Az. 323, Bd. IV, o. Pag. Liste der verhafteten und verurteilten kirchlichen Amtsträger, Stand vom 1. März 1955, Evangelisches Archiv Zentrum Berlin, Archiv der Kirche Berlin-Brandenburg, K 23, Az. 323, Bd. IV, o. Pag.

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den 10 000 hier zum U-Boot-Hafenbau angeheuerten Arbeitern 5 000 Häftlinge die Arbeit ruhen. In neun weiteren Orten kam es zudem zu Demonstrationen. 56 Die ersten »Blitzmeldungen« über Arbeitsniederlegungen im Bezirk liefen bei der SED und der Stasi in den Vormittagsstunden des 17. Juni ein. 57 Demnach weigerte sich in einem Landwirtschaftsbetrieb in Barth, dem LBH 58, in der Zeit von 7 bis 9 Uhr, dreißig Angestellte, die Arbeit aufzunehmen. Sie forderten neben der Aussetzung der Normenerhöhung eine gewerkschaftliche Vertretung, die ihre Interessen wahrnimmt. 59 Um 12 Uhr folgten ihnen dreißig Beschäftigte in der Reparaturwerkstatt der Rostocker Seebaggerei, die für neunzig Minuten die Arbeit aussetzten. 60 Ebenso ruhte seit 10 Uhr im Rostocker Dieselmotorenwerk die Arbeit. Der Betrieb mit seinen etwa 2 200 Beschäftigten sollte sich zum Schwerpunkt des Protestes an der Küste entwickeln. Das Dieselmotorenwerk wurde, wie es beim MfS hieß, in den Vormittagsstunden »vollständig« bestreikt. Ein Teil der Belegschaft nahm die Arbeit gegen 16 Uhr zwar wieder auf. Doch dauerten die Diskussionen und die Arbeitsniederlegung in der Abteilung Mechanik bis nach 22 Uhr an. Es wurde eine Delegation, bestehend aus fünf Arbeitern, gewählt, »die sich an die Direktion wandte und verlangte, dass die Normerhöhung [...] zurückgesetzt« wird. Auch noch »in der Morgenschicht« des 18. Juni diskutierten die Arbeiter der Mechanischen Werkstatt und blieben der Arbeit fern. Erst im Laufe des Vormittags beruhigte sich die Lage. 61 Auf der Volkswerft in Stralsund legten am 56 Kowalczuk, Ilko-Sascha: 17.6.1953: Volksaufstand in der DDR. Ursachen, Abläufe, Folgen. Bremen 2003, S. 177 f., 288; SBZ von 1945 bis 1954. Die Sowjetische Besatzungszone in den Jahren 1945–1954. Hg. v. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn, Berlin (West) 1964, S. 346–348. Vgl. hierzu auch: Schmidt, Heike: Der 17. Juni 1953 in Rostock. Berlin 2003; Schwabe, Klaus: Aufstand an der Küste. Ursachen, Verlauf und Ereignisse des 17. Juni 1953. Schwerin 2003; Ders.: Der 17. Juni 1953 in Mecklenburg und Vorpommern (Geschichte Mecklenburg-Vorpommern; 4). Schwerin 1993; Vierneisel, Beatrice: Der 17. Juni 1953 in Mecklenburg und Vorpommern. Begleitheft zur Ausstellung des Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Schwerin 2003. 57 MfS, BV Rostock, Abt. VI, an das MfS Abteilung VI, Berlin, Rostock, 17.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 396, Bl. 71–73; MfS, BV Rostock, Einzelmeldungen vom 17. Juni 1953 zur Seebaggerei Rostock, DERUTRA, Volkswerft Stralsund: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 396, Bl. 18; MfS, BV Rostock, Abt. VI, Bericht [Arbeitsniederlegung im Dieselmotorenwerk, LPH Barth], Rostock, 17.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 40. 58 Teilbetrieb der Vereinigung Volkseigener Betriebe Land-, Bau- und Holzbearbeitungsmaschinen (VVB LBH). 59 MfS, BV Rostock, Abt. VI, [Meldung] an das MfS Abt. VI, Berlin, Rostock, 17.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 396, Bl. 72. 60 Ebenda, Bl. 71; MfS, BV Rostock, Abt. Hafen, Meldung, Rostock, 17.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 37. 61 MfS, BV Rostock, Abt. VI, [Meldung] (ebenda), S. 71; MfS, BV Rostock, Leitung, an das MfS Berlin, z. Hd. Staatssekretär Mielke, Rostock, 29.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV,

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17. Juni, kurz nach 13 Uhr, fünfundzwanzig Schlosser die Arbeit nieder. An einem fast fertigen Schiff, an dem »ein Transparent [...] mit dem Namen Walter Ulbricht« hing, wurde der Schriftzug »von den Arbeitern durchgestrichen«. 62 Die Streikenden wählten eine Delegation. Um 14.15 Uhr wandte sich diese an die Betriebsleitung, die in die Forderungen einwillige. Die Arbeit wurde daraufhin wieder aufgenommen. Ebenfalls eine Delegation verhandelte in der Rostocker DERUTRA [Deutsch-Russische Transport A.G.] 63 mit der Betriebsleitung und erzwang hier verbesserte Arbeitsverhältnisse. 64 Auch auf der Bootwerft in Rostock-Gehlsdorf wurde am 17. Juni diskutiert, so dass es hier ebenso zu Beeinträchtigung im Arbeitsablauf kam: In der Abteilung Bordmontage forderten die Arbeiter, eine Delegation zu bilden, die an den zuständigen Minister in Berlin herantreten sollte. Gefordert wurde die Angleichung des Stundenlohns an den der Schwerpunktbetriebe. 65 Zum eigentlichen Aufstand kam es im Bezirk Rostock erst am 18. Juni 1953. Ab 7 Uhr wurde die Volkswerft in Stralsund bestreikt. An die tausend Beschäftigte legten ihre Arbeit nieder und bildeten einen Demonstrationszug, der über die Werft zum Werkstor in Richtung Stadt zog.66 Parallel hierzu legte die »1 800 Mann starke Belegschaft« der benachbarten Schiffsbau- und Reparatur-Werft ebenso die Arbeit nieder. Um sich mit den Arbeitern auf der Volkswerft zusammenzuschließen, brachen sie zum Werkstor der Volkswerft auf. In den Mittagstunden verschärfte sich die Situation: »Nachdem die Kreisverwaltung den Befehl erhalten hatte, mit Gewalt den Widerstand zu brechen«, beorderte man zwei Kompanien der Seepolizei zu den Werften. Mit Schüssen, die in die Luft abgegeben wurden, gelang es der Seepolizei, den Demonstrationszug auf das Gelände der Reparaturwerft zurückzudrängen; ebenso ging die Polizei gegen den Demonstrationszug am Werkstor der Volkswerft vor. Mittels ihrer bewaffneten »Arbeitermacht« und mit vorgehalRep. 2, Nr. 396, Bl. 6–19, hier 6 f.; Einzelmeldung vom 17.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 56. 62 MfS, BV Rostock, Fernschreiben der MfS-Bezirksbehörde Rostock, Operativstab, betr. Streik in der Volkswerft Stralsund, 17.6.1953, 14.45 Uhr: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 396, Bl. 77. Zwar wurde jene Meldung zunächst mit dem handschriftlichen Vermerk »Fehlmeldung« versehen, jedoch anschließend wieder bestätigt. So in: Ministerium für Staatssicherheit, Bezirksverwaltung Rostock, Abteilung VI, [Meldung] an das Ministerium für Staatssicherheit Abt. VI, Berlin, Rostock, 17.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 396, Bl. 71. 63 Adressbuch des Landes Mecklenburg. Ortsteil. Bezugsquellen, Industrie, Handel, Gewerbe, Ausgabe 1951, hg. vom Berliner Adressbuchverlag. Berlin (Ost) 1951, S. 147. 64 MfS, BV Rostock, Abt. VI, [Meldung] an das MfS Abt. VI, Berlin, Rostock, 17.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 396, Bl. 71. 65 MfS, BV Rostock, Bericht: Lage in den Objekten der Abteilung II des Kreises Rostock, Rostock, 17.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 51–54, hier 51. 66 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, [Meldung] an die BV Rostock, z.Hd. Leiter Operativ, Bericht über die Streiks im Kreise Stralsund, Stralsund, 18.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 70–75.

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tenen Gewehren verlangte die SED, »dass die Arbeiter an ihre Arbeit gehen sollen«. Sollte jemand den Streik weiterführen, so lautete die Drohung, würde man »mit der Waffe gegen« ihn vorgehen. 67 Zwar gelang es so, den Aufstand der Werftarbeiter niederzuschlagen. Zu den folgenden Schichten erschien jedoch nur ein Teil der Arbeiter in den Werkstätten. Zur Nachtschicht am Abend des 18. Juni meldeten sich auf der Reparaturwerft nur zwei von siebzig Arbeitern; auf der Volkswerft fehlte mit zweihundertsechzig mehr als die Hälfte der fünfhundert Angestellten. 68 Am 19. Juni blieben noch zwanzig Prozent der auf beiden Werften Beschäftigten, also 560 Arbeiter, zuhause und kamen ihrer »Arbeitspflicht« nicht nach. 69 Trotz aller Bekundungen seitens der SED waren die Arbeitsniederlegungen keineswegs beendet. Ebenfalls in den Streik traten am 18. Juni um 10 Uhr die zweihundert Arbeiter der Bau-Union (Küste) in Stralsund. In ihrem Streikmanifest, dass sie mittags der Betriebsleitung übergaben, forderten sie unter anderem »1. [den] Rücktritt der Regierung« und »2. [die] Bildung einer gesamtdeutschen Regierung«. 70 Das gesamte Streikkomitee wurde wenig später vom MfS festgenommen, inhaftiert und anschließend verurteilt. Dem Streik schlossen sich in Stralsund zudem noch die Verkehrsbetriebe an, deren Straßenbahnen in der Zeit von 15.30 bis 18.00 Uhr in den Depots blieben. 71 Kaum weniger dramatisch entwickelte sich die Lage am 18. Juni auf den Werften in Rostock. Spätestens seit dem frühen Vormittag befand sich die gesamte Schicht auf der Warnow-Werft, die Belegschaft zählte 8 000 Arbeiter, im Aufstand. 72 Auf dem Werksgelände bildete sich ab acht Uhr ein etwa 600 Arbeiter starker Demonstrationszug, dem sich weitere Teilnehmer anschlossen. Auch hier ernannte man eine Delegation, die mit der Werksleitung in Verhandlungen treten sollte. Verhandeln wollte man zudem mit dem auf dem Werftgelände weilenden Sekretär für Wirtschaftsfragen des SED-

67 Ebenda, Bl. 70 f. 68 Ebenda, Bl. 72. 69 MfS, BV Rostock, Abt. XIII Greifswald, Referat Stralsund, betr.: Abschlussbericht des Einsatzstabes Ref. Stralsund, Stralsund, 25.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 120 f. 70 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, [Meldung] an die BV Rostock, z.Hd. Leiter Operativ, Bericht über die Streiks im Kreise Stralsund, Stralsund, 18.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 70–75, hier 71 f. 71 Ebenda, Bl. 73–75. 72 MfS, BV Rostock, Leitung, [Meldung] an das MfS Berlin, z.Hd. Staatssekretär Mielke, betr.: zusammenfassender Bericht über die Ereignisse am 17. und 18. Juni 1953 in der BV Rostock, Rostock 29.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 396, Bl. 6–19, hier 8. Ebenfalls zu den Ereignissen und zur »Belegschaftsstärke« auf der Werft: MfS, BV Rostock, Leitung, [Meldung] an das MfS Berlin, z.Hd. Staatssekretär Mielke, betr.: Vorkommnisse am 18.6.1953, Rostock 2.7.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 396, Bl. 96–108, hier 96.

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Zentralkomitees, Adalbert Hengst, und Minister Bernhard Weinberger. 73 Zu dem, was die Delegation im Namen der Arbeiter vortrug, zählten auch politische Ziele. So die Forderung nach dem »Sturz der Regierung und [die] Hissung der schwarz-rot-goldenen Fahne auf Halbmast für die Berliner Opfer.« 74 Im Anschluss an die Gespräche wurde ein 33 Punkte umfassendes Protokoll unterzeichnet, in dem die zwei politischen Forderungen fehlten. Unterzeichnet wurde der 33-Punkte-Katalog auch von Minister Weinberger und Werftdirektor Druf. Das Protokoll erhielt hochoffiziell den Charakter einer verbindlichen Vereinbarung. 75 Doch hielt sich der SED-Staat nicht an das, was seine Vertreter unterschrieben hatten. Man brach den Vertrag und ignorierte das zuvor Zugesagte. Adalbert Hengst und Bernhard Weinberger sollten am 14. Juli 1953 zudem wegen »Kapitulantentums« von allen ihren Funktionen entbunden und aus der SED ausgeschlossen werden. 76 Vor dem Haupttor der Warnow-Werft bildete sich parallel zu den Verhandlungen »eine Ansammlung von ca. 600 Arbeitern«. Die Stasi berichtete, dass Teilnehmer »die Aktivistentafel zertrümmerten, die Sichtwerbungen umwarfen und vom Haupttor den Sowjetstern entfernten [und] [...] eine schwarz-rot-goldene Fahne hissten«. 77 Vor dem Tor postierte sowjetische Soldaten sollten verhindern, dass der Demonstrationszug mit den Streikenden Richtung Stadt zog. Zwar setzte die Verhandlungsdelegation durch, dass die Rote Armee abgezogen wurde. Man ersetzte sie jedoch durch Kasernierte Volkspolizei. Mit mehreren »Salven aus Maschinenpistolen [...] räumten« die Volkspolizisten nachfolgend den Vorplatz und verhinderten, dass es zum Protestmarsch kam. Mit vorgehaltener Waffe verwehrten die Kasernierten Volkspolizisten zugleich den Arbeitern der zweiten Schicht, das Werksgelände zu betreten. Nachdem die erste Schicht in kleinen Gruppen zum Feierabend das Werkstor passieren durfte, befanden sich ab 16.30 Uhr keine Arbeiter mehr auf der Werft. 78 Ebenfalls am 18. Juni trat die Rostocker Neptun-Werft in den Aufstand. Nach der Frühstückspause um 9.30 Uhr nahmen mehrere Abteilungen die

73 MfS, BV Rostock, [Meldung] betr.: Warnow-Werft, Warnemünde: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 28–31, hier 29. 74 MfS, BV Rostock, Leitung, [Meldung] an das MfS Berlin, z.Hd. Staatssekretär Mielke, betr.: zusammenfassender Bericht über die Ereignisse am 17. und 18. Juni 1953 in der Bezirksverwaltung Rostock, Rostock 29.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 396, Bl. 6–19, hier 8. 75 [Protokoll der] Festlegungen, Warnemünde, 18.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 33–36. 76 Zu Adalbert Hengst: Wer war wer in der DDR? Bd. 1, Berlin 2006, S. 396 f. 77 MfS, BV Rostock, betr.: Warnow-Werft, Warnemünde: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 28–31, hier 28. 78 Ebenda.

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Tätigkeit nicht mehr auf. 79 In einem Demonstrationszug zogen zweihundert, später eintausend Arbeiter über die Werft zum Verwaltungsgebäude und von hier zum Werkstor, um in die Stadt zu gelangen. Am Tor verhinderten auch hier sowjetische Soldaten, dass die mehrheitlich jugendlichen Demonstranten weiterzogen. Die als »Wortführer« der Streikenden von den deutschen Helfern Festgenommenen wurden »den Freunden« bzw. »der sowj[etischen] Armee übergeben«. Zur anstehenden Spät- und Nachtschichten erschien auf der Werft lediglich knapp ein Viertel der Arbeiter. Der Arbeitskampf dauerte de facto bis in die Nachtstunden an. 80 Gestreikt wurde am 18. Juni in Rostock auch in verschiedenen Zulieferbetrieben: Um 13.20 Uhr ging bei der Staatssicherheit die Meldung ein, »daß in der Schiffmontage Rostock soeben 500 Mann in der Streik getreten sind«. 81 Anderen Meldungen zufolge hätten sich lediglich sechzig Arbeiter an der Arbeitsniederlegung beteiligt, die demnach neunzig Minuten lang andauerte. 82 Um 14.40 Uhr befanden sich noch vierzig Angestellte im Aufstand, die »den Abzug der Roten Armee« forderten.83 Seit neun Uhr bestreikt wurde am 18. Juni ebenso das Konstruktionsbüro des Zulieferbetriebes »Schiffselektrik«. 84 Die etwa neunzig Streikenden erklärten »sich solidarisch mit den Werften«, bildeten eine »Delegation von drei Mann« und drängten auf »die Aufhebung des Aufnahmezustandes«. 85 Zudem verlangten die Schiffselektriker in einer VierPunkte-Resolution unter anderem die »Durchführung freier gesamtdeutscher Wahlen« und die »Herbeiführung der Einheit Deutschlands«. 86 Erneut wurde in den Mittagstunden eine Arbeitsniederlegung aus der Werkstatt der Seebaggerei Rostock, die diesmal neunzig Minuten dauerte, vermeldet. 87 Auch in Wismar, dem zweiten wichtigen Hafen- und Werftenstandort im Ostseebezirk, kam es am 18. Juni zu Arbeitsniederlegungen. Betroffen waren hiervon das Preß- und Schmiedewerk »Hein Fink«, der VEB Stahlbau und die 79 MfS, BV Rostock, betr.: Neptun-Werft, Rostock, 18.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 24–26; MfS, BV Rostock, Bericht aus der Neptun-Werft um 11.45 Uhr: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 27. 80 Ebenda. 81 MfS, BV Rostock, Anruf des Genossen Stüdemann um 13.20 Uhr: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 13. 82 MfS, BV Rostock, betr.: Lage in der VEB Schiffsmontage/VEB Schiffs-Elektrik: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 21. 83 MfS, BV Rostock, Anruf des Genossen Heimbach, Abteilung III, um 14.40 Uhr: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 57. 84 MfS, BV Rostock, Anruf v. Genossen Heimbach aus der Abteilung III: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 46. 85 MfS, BV Rostock, Anruf des Genossen Heimbach, Abteilung III, um 14.40 Uhr: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 57. 86 MfS, BV Rostock, betr.: Lage in der VEB Schiffsmontage/VEB Schiffs-Elektrik: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 21. 87 MfS, BV Rostock, Leiter der BV, an das MfS Berlin, z.Hd. Staatssekretär Mielke, Rostock, 29.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 396, Bl. 6–19, hier 7.

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Mathias-Thesen-Werft. 88 Während beim Stahlbau 50 von 250 Beschäftigten die Arbeit ruhen ließen, streikten bei »Hein Fink« in der Frühschicht 150 Arbeiter, erst nach der Mittagspause schloss sich der Rest der 400 Mann starken Belegschaft dem Aufstand an. Auf der Mathias-Thesen-Werft streikten die 130 für den Bau des für die Sowjetunion bestimmten PassagierTurbinenschiffes »Aleksandr Mozhajskij« eingesetzten Arbeiter. 89Auch aus der Peene-Werft in Wolgast, die für das Militär produzierte, lagen besorgniserregende Meldungen vor: Am Vormittag tauchte hier ein Flugblatt auf, in dem ein »Streik-Komitee« für 12 Uhr zur Arbeitsniederlegung aufrief. 90 Doch scheint es nicht dazu gekommen zu sein. 91 Auch noch am 19. Juni schien sich die Lage im Küstenbezirk nicht vollständig beruhigt zu haben. Auf der Volkswerft in Stralsund fehlten zur Frühschicht immerhin noch 150 Arbeiter, die allesamt »aus dem Kreisgebiet Ribnitz« stammten, meist aus der Stadt Barth. In Rostock legten ab 9.30 Uhr hundertfünfzig Arbeiter der Bootswerft in Gehlsdorf die Arbeit nieder, um ihre Solidarität mit der Neptun-Werft zu bekunden. Zugleich bildeten sie eine Delegation und stellten einen Katalog mit sieben Forderungen auf. Unter anderem verlangten sie, die Regierung abzulösen. Die sowjetischen und ostdeutschen Stellen griffen inzwischen wieder rigoros durch: Die »fünf Rädelsführer«, so steht es in einer handschriftlichen Notiz, »wurden im Auftrag der Militärkommandantur in Haft genommen«. 92 Gegen Mittag nahm die Belegschaft schrittweise wieder die Arbeit auf. 93 Am 18. Juni kam es noch zu einem weiteren Arbeitskampf: »Gegen 10.00 Uhr legte die gesamte Belegschaft des Objektes Isolier- und Kältetechnik Rostock die Arbeit nieder.« 94 Der Streik, der als Solidaritätsstreik mit den Streikenden auf der Neptun-Werft begann, endete gegen 12 Uhr. Eine zur Neptun-Werft entsandte Delegation hatte feststellen müssen, dass auf der Neptun-Werft wieder gearbeitet wurde. 95 Währenddessen meldeten sich an der Universität »immer wieder Stimmen«, die forderten, »mit den Arbeitern [...] sprechen« zu dürfen, um sie zu überzeugen, dass die Streiks »den Klassengegner unterstützen«.

88 Ebenda. 89 Ebenda, Bl. 11 f. 90 MfS, BV Rostock, Meldung v. Genossen Konrad, MfS, BV Rostock, KD Wolgast, aufgenommen: 18.6.1953, 10.15 Uhr: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 104. 91 MfS, BV Rostock, Anruf des Genossen Heimbach, Abteilung III, um 14.40 Uhr: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 57. 92 MfS, BV Rostock, Abt. VI, Fernschreiben, an das MfS Berlin, z.Hd. Staatssekretär Mielke, Rostock, 20.6.1953, betr.: Situationsbericht BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 396, Bl. 109 f. 93 Ebenda. 94 Ebenda, Bl. 110. 95 Ebenda.

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Wie überall in der DDR wurden die Proteste mit dem Ausnahmezustand am 17. Juni und dem Einsatz sowjetischer Panzer niedergeschlagen. Von der Volkspolizei und der Staatssicherheit sollten noch am selben und in den darauffolgenden Tagen die vermeintlichen Rädelsführer verhaftet und später abgeurteilt werden. Obwohl, wie Ilko-Sascha Kowalczuk feststellte, »die Mehrzahl der Urteile relativ gering ausfiel«, wurden auch mehrjährige Zuchthausstrafen und vereinzelt Todesurteile verhängt. 96 Im Bezirk Rostock sollten im Zusammenhang mit den Ereignissen rund um den 17. Juni laut den vorliegenden Protokollen 81 Menschen festgenommen werden. 97 Gegen 38 Untersuchungshäftlinge erging bis zum 25. Juni 1953 der Haftbefehl; vier Teilnehmer des Aufstandes waren bereits in einem Schnellverfahren abgeurteilt worden. Gegen sie ergingen Zuchthausstrafen von »8, 4, 4 und 2 Jahren«. 98 2.1.4 Spionage, Diversion, Sabotage: Motive und Hintergründe Spionage, Diversion, Sabotage: So lauteten die geläufigsten Anschuldigungen vor allem in den fünfziger, aber auch in späteren Jahren. Was verbarg sich konkret dahinter? Um Widerstand gegen das SED-Regime zu leisten, griffen mit den Verhältnissen unzufriedene Menschen auch auf das Mittel der Sabotage zurück. Andere sammelten Informationen und stellten diese westlichen Stellen zur Verfügung, die keineswegs, wie von der DDR grundsätzlich behauptet, geheimdienstlich tätig sein mussten. Die Stasi, die Sabotage (mitunter als »Diversion« bezeichnet) und Spionage als »politische Straftatbestände« verfolgte, sah sich vor allen in den ersten beiden Jahrzehnten der DDR hiermit konfrontiert. Als Widerstandstaten unterschieden sich Sabotage, Diversion und Spionage grundlegend von den spontanen Fahnenabrissen und Sicht-AgitationsBeschädigungen. Häufig basierten sie auf Vorüberlegungen und »tatbegünstigenden« Voraussetzungen, die es vorab zu erkunden galt. Die Informationssammlung und Weitergabe ging einher mit den entsprechenden Kontakten. Hinzu kamen Vorsichtsmaßnahmen, um in diesem sensiblen Bereich nicht von vornherein als Urheber in Verdacht zu geraten: Schließlich bestand in der DDR ein allgemeines Verbot, Verkehrsanlagen wie Brücken, Bahnanlagen und Häfen ohne behördliche Genehmigung »bildlich darzustellen«.

96 Kowalczuk, Ilko-Sascha: 17.6.1953: Volksaufstand in der DDR. Ursachen, Abläufe, Folgen. Bremen 2003, S. 251. 97 MfS, BV Rostock, Leiter der BV, an das MfS Berlin, z.Hd. Staatssekretär Mielke, Rostock, 29.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 396, Bl. 6–19, hier 18. 98 MfS, BV Rostock, Leiter der BV, an das MfS Berlin, Abt. IX/3, Rostock, 25.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 396, Bl. 25 f.

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Die, die so Widerstand leisteten, verbanden hiermit die Hoffnung, etwas zur Schwächung oder Destabilisierung des SED-Regimes beitragen zu können. Aus moralischer Verantwortung meinten sie, Widerstand gegen den Unrechtsstaat leisten zu müssen. Sechs 1955 in Rostock inhaftierte Jugendliche, die der Sabotage überführt werden sollten, gaben laut Staatssicherheit zu Protokoll, dass sie mit ihren Taten beabsichtigten, der DDR-Wirtschaft »einen möglichst großen Schaden zuzufügen«. 99 Insgesamt hofften sie, so die vom Staatssicherheitsdienst protokollierte Aussage, hiermit auf die »Beseitigung der Volksmacht [...] hinarbeiteten« zu können. 100 Daneben gab es auch einfache Begründungen zur Erklärung des Geschehens: Neben dem Grund, aus persönlicher Verärgerung gehandelt zu haben, wurde die Willkür von einzelnen Funktionären als auslösender Faktor genannt. So führte ein beschäftigungsloser Landarbeiter, der 1958 im Kreis Ribnitz-Damgarten nach einem Kneipenbesuch mit einem Bekannten eine Scheune in Brand gesetzt hatte, als Grund seine Enttäuschung an: Als freiwilliger Rekrut der Kasernierten Volkspolizei (KVP), der im Berliner Raum am 17. Juni 1953 an der Niederschlagung des Aufstandes mitwirkte, schied er wenig später nach einer Tbc-Erkrankung aus dem Dienst aus. 101 Zwar konnte er die Krankheit in verschiedenen Heilstätten auskurieren. Doch kam ihm anschließend nicht die erhoffte Unterstützung zuteil. Daraufhin ging er zunächst nach West-Berlin. Nachdem er zwei Wochen im Notaufnahmelager Marienfelde verbracht und dort laut MfS »interne dienstliche Angelegenheiten der KVP verraten« hatte, kehrte er wieder in die DDR zurück. 102 Fortan schlug er sich als Gelegenheitsarbeiter durch. In Gresenhorst, wo er fortan lebte, nahmen ihn die zuständigen Funktionäre als landlosen Bewohner nicht in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft auf. Veranlasst durch die eigene Misere, kam es schließlich zur Brandstiftung. Am 20. März 1959 erging vor dem Ersten Strafsenat des Bezirksgerichtes Rostock der Urteilsspruch gegen den Arbeitslosen und seinen Bekannten: Während der ehemalige Kasernierte Volkspolizist »wegen Spionage [...] und wegen Diversion [...] zu einer Gesamtstrafe von [...] sechs Jahren Zuchthaus« verurteilt wurde, erhielt sein Bekannter »wegen Nichtanzeige eines Verbrechens« eine Gefängnisstrafe von neun Monaten. 103 Persönliche Motive und politische Überzeugung bedingten häufig einander. Konkret erfahrenes Unrecht, Benachteiligungen aufgrund der »falschen« sozia99 Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV Rostock, Schlussbericht, Rostock, 3.3.1955: BStU, MfS, AU 27/55, GA, Bd. XI, Bl. 152–169, hier 165. 100 Ebenda, Bl. 156. 101 Urteil des I. Strafsenates des Bezirksgerichtes Rostock, Sitzung am 20.3.1959, Strafsache gegen 1. den Landarbeiter [Name], und 2. den Traktoristen [Name], Rostock, 24.3.1959: BStU, MfS, BV Rostock, AU 4/59, GA, Bd. III, Bl. 272–285, hier 272 f., 279, 280. 102 Ebenda, Bl. 280. 103 Ebenda, Bl. 272, 280, 282.

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len Zugehörigkeit oder des fehlenden Parteibuches oder die persönliche Perspektivlosigkeit in der DDR waren die Ursache oder fungierten als Auslöser. Sie verdeutlichten den Betroffenen den Charakter des Systems, das die Chancenverteilung auf jene reduzierte, die sich den politischen Normen unterwarfen. Nicht fern lag da die Erkenntnis, dies als Resultat der SEDAlleinherrschaft, fehlender demokratischer Strukturen sowie vorenthaltener Grundrechte anzusehen. Auf diesen Zusammenhang verwies auch ein 1959 wegen Spionage vom Bezirksgericht Rostock zu acht Jahren Zuchthaus Verurteilter. Er hatte Informationen über die auf der Warnow-Werft gebauten Schiffe an westliche Stellen weitergeben. Während der Verhöre durch das MfS gab der aus der Gegend rund um Magdeburg Stammende als Motiv den Verlust »seiner Großbauernstelle« an. 104 Staatliche Schikanen, ein nur schwer erfüllbares Abgabesoll und die Benachteiligung gegenüber den Produktionsgenossenschaften führten in den Jahren vor der Zwangskollektivierung zu einem Sterben der mittelgroßen Bauernhöfe. 105 Nach dem Bankrott seines Hofes stand der Bauer nicht nur ohne Einkommen da. Aufgrund des fehlenden Arbeitsrechtsverhältnisses setzte er sich der Gefahr der Strafverfolgung aus. Von der staatlichen Arbeitslenkung, auf der er sich, um nicht als »asozial« zu gelten, zu melden hatte, wurde er 1954 auf die Warnow-Werft »entsandt«. 106 1959 erfolgte seine Inhaftierung unter dem Vorwurf der Spionage. In der MfS-Untersuchungshaftanstalt in Rostock betonte der Verdächtige, er habe mit seinem Tun dazu beigetragen wollen, »daß die Wiedervereinigung Deutschlands auf kapitalistischer Grundlage erfolgt«. 107 Das System des Westens schien ihm, nach den Erfahrungen, die er in der DDR machen musste, anstrebenswerter, als die diktatorischen Kommandowirtschaften des Ostens. Ob es sich in jedem Fall, in dem es zur Verurteilung kam, um Spionage handelte, lässt sich bezogen auf die Nachkriegsjahre nur bedingt sagen. 108 Das Geschehen, wie es in den Stasi-Akten übermittelt wurde, muss stets mit der gebotenen Distanz betrachtet wurden; doch fehlt es zumeist an einer anderen Form der Überlieferung. Die Hintergründe bleiben so häufig ungeklärt. Wie Anne Drescher und Werner Pankow am Beispiel von Hans-Jürgen Below aufgezeigt haben, gilt dies insbesondere für die von der sowjetischen Seite verantworteten Ermittlungen. Hans-Jürgen Below war unter dem Vorwurf, im 104 MfS, HA IX, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten [Name], [Vorname], Berlin, 29.6.1959: BStU, MfS, AU 600/59, Bd. III, Bl. 214–216, hier 215; MfS, BV Rostock, Abt. IX, Rostock, 21.5.1959: BStU, MfS, AU 600/59, Bd. III, Bl. 104–109, hier 108. 105 Hierzu gezählt werden konnten Bauernhöfe in einer Größenordnung von 20 bis 99 Hektar, von denen es insbesondere im mitteldeutschen Raum viele gab. 106 MfS, HA IX, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten [Name], [Vorname], Berlin, 29.6.1959: BStU, MfS, AU 600/59, Bd. III, Bl. 214–216, hier 215. 107 Ebenda, Bl. 216. 108 In der Abteilung Bildung und Forschung des BStU läuft hierzu seit 2013 das Forschungsprojekt »Geheimdienstkonfrontation im Kalten Krieg. MfS contra BND 1950–1972«.

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Wismarer Hafen spioniert zu haben, 1948 zu zwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt worden. 109 Der grade mal 18-Jährige wurde zu Unrecht der Spionage bezichtigt und verurteilt. 110 Politische Willkür bestimmte in jenen Jahren das Handeln der sowjetischen und ostdeutschen Stellen. Die Leidtragenden gerieten in das Räderwerk der politischen Verfolgung, zum Beispiel, weil sie aus mitmenschlichen Motiven handelten. Sie sahen sich, obwohl sie sich »keiner Schuld bewusst waren«, mit schwerwiegenden Vorwürfen konfrontiert. So auch die dreiundzwanzigjährige Wendelgard Schacht aus Wismar. 111 Schacht, Mutter einer zweijährigen Tochter, war im Sommer vor ihrer Haustür von einem deutschen Kriminalpolizisten zum Mitkommen aufgefordert und von diesem einige Straße weiter an einen Offizier des sowjetischen Geheimdienstes übergeben worden. In den folgenden nächtelangen Verhören warf man der schwangeren Frau vor, eine Liebesbeziehung zu einem russischen Offizier zu unterhalten. Hinzu kam die Anschuldigung, sie habe, da sowjetischen Militärangehörigen eine solche Beziehung untersagt sei, mit ihm nach West-Berlin fliehen wollen. Missgunst und Verrat aus der unmittelbaren Nachbarschaft lieferten sie im Weiteren an die sowjetischen Stellen aus. Ein Sowjetisches Militärtribunal verurteilte sie schließlich am 18. November 1950 unter dem Vorwurf »Verleitung zum Landesverrat« zu zehn Jahren Arbeitslager. 112 Auch in den frühen fünfziger Jahren beteiligten sich sowjetische Berater an den vom Staatssicherheitsdienst durchgeführten Untersuchungen, leiteten die Ostdeutschen an und nahmen Einfluss auf die Ermittlungsmethoden und deren Ergebnisse. 113 Die Ostdeutschen ihrerseits hielten in den von den sowjetischen Stellen als wichtig erachteten Angelegenheiten, hierzu zählte auch die Spionage, Rücksprache mit den »Freunden«. »Rücksprache mit ›F‹ in Rostock und Stralsund durchgeführt«, hieß es auch im Fall eines Kommandeurs, der 1951 in den Verdacht geriet, »Zersetzungsarbeit innerhalb der Seepolizei« in Kühlungsborn betrieben zu haben. 114 Der Betreffende wiegle als Zugführer, so der Vorwurf, die Kursanten in der 4. Kompanie gegen ihre Offiziere auf. Sieht man sich konkret die dem Kommandeur zur Last gelegten Äußerungen an, so 109 Drescher, Anne; Pankow, Werner: Inhaftiert am Demmlerplatz – zwei lebensgeschichtliche Erinnerungen. In: Zr. 3 (1999) 1, S. 73–77. 110 Ebenda. 111 Kuschel, Sabine: Die Niederlage ist verschlungen in den Sieg. In: Glaube und Heimat. Mitteldeutsche Kirchenzeitung, Nr. 20, 15.5.2011, S. 11; Schacht, Ulrich: Vereister Sommer. Auf der Suche nach meinem russischen Vater. Berlin 2011, S. 54, 62 f. 112 Kuschel, Sabine: Die Niederlage, ebenda 113 Vgl. hierzu die Ermittlungen gegen Superintendent Siegfried Ringhandt und seine Zeit in der MfS-Untersuchungshaft: Halbrock, Christian: Evangelische Pfarrer der Kirche BerlinBrandenburg 1945–1961. Amtsautonomie im vormundschaftlichen Staat? Berlin 2004, S. 284. 114 MfS, Abt. VII c, Haftbeschluß, Berlin, 11.8.1951, bestätigt: Mielke: BStU, MfS, AU 198/51, Bd. I, Bl. 11; MfS, Land Mecklenburg, Dienststelle der Staatssicherheit Stralsund, Bericht, Stralsund, 8.8.1951: BStU, MfS, AU 198/51, Bd. I, Bl. 15–17, hier 17.

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findet der ungeheure Vorwurf kaum seine Bestätigung. Der Angeklagte spielte sich vielmehr durch sein übersteigertes Auftreten und großmäuliges Gehabe in den Vordergrund; politisch suspekt mochte lediglich sein, dass er den Kursanten politische Witze erzählte. 115 Trotzdem stand er nun im Verdacht, sich im Dienste »feindlicher« und geheimer Kräfte als Agent zu betätigen. 116 Vom 10. August 1951 stammte die Notiz, »die Angelegenheit wurde mit Freund besprochen«. Am darauffolgenden Tag wurde der Verdächtige festgenommen und saß seitdem in der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Stralsund ein. 117 Der »Verdacht auf Spionage«, so hieß es nach fünf Wochen Haft und etlichen Verhören am 27. September, habe sich zwar nicht bestätigt. Der Betreffende arbeite vielmehr »für ›F‹ [die Freunde] und hat sich dekonspiriert«, lautete das abschließende Fazit. 118 Was ihm bei den Ostdeutschen in der Not zur Entlastung diente, gereichte ihm bei deren sowjetischen Mentoren zum Verhängnis: »Wegen Punkt 2 [der Dekonspiration, Ch. H.] wurde« der Kommandeur »am 26.9.1951 von ›F‹ Rostock abgeholt und zu ihm [...] überführt«, hieß es im Schlussbericht. 119 Auf den 3. Oktober datiert eine letzte Eintragung, in der man die beteiligten »Abteilungen E u[nd] S« um eine Löschung des betreffenden Vorganges ersuchte: In der Begründung ist zu lesen, der Delinquent sei »von den Freunden [...] übernommen« worden, »die sich alle weiteren Entscheidungen vorbehalten haben«. 120 Die Vorwürfe der »Diversion« und »Spionage« erwiesen sich in der Konsequenz zwar als unzutreffend. Doch führte die Entlastung nicht zur Haftentlassung des Kommandeurs. Er befand sich bereits zu tief im Räderwerk der ostdeutschen und sowjetischen Geheimpolizei. In anderen Fällen ließen sich die Hintergründe, die zur Inhaftierung und Anklage führten, nicht aufhellen. Anfang Juni 1950 verhaftete die Verwaltung für Staatssicherheit des Landes Mecklenburg in Rostock einen Fünfundzwanzigjährigen unter dem »Verdacht der Spionage und Sabotagetätigkeit«. Er sollte wenig später in einem nicht öffentlichen Verfahren zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt werden. 121 115 Ebenda, Bl. 15–17. 116 Gemeint ist hiermit die »Dienststelle der Staatssicherheit Stralsund«. MfS, Land Mecklenburg, Schreiben der Dienststelle Stralsund, Abt. VII c, an MfS Berlin, Abt. VII c, Berlin [sic!], 8.8.1951: BStU, MfS, AU 198/51, Bd. I, Bl. 14. 117 Ebenda. 118 MfS, Land Mecklenburg, Dienststelle der Staatssicherheit Stralsund, Schlußbericht, Stralsund, 27.9.1951: BStU, MfS, AU 198/51, Bd. I, Bl. 98. 119 Ebenda. 120 Schreiben [das betr. Schriftstück wurde von einem VP-Inspekteur unterzeichnet, auch enthalten die Unterlagen in Berlin die Aufschrift »Ministerium des Inneren«, ergänzt wurde diese jedoch durch einen Stempel »MfS«, Abteilung VII c, an die Abteilung E u. S., betr.: U-Vorgang 260/51 [Name], Berlin, 3.10.1951: BStU, MfS, AU 198/51, Bd. I, Bl. 99. 121 MfS, Land Mecklenburg, Schreiben der Verwaltung für Staatssicherheit, an das MfS, Berlin, z. Hd. Staatssekretär Mielke, Schwerin, 25.9.1950: BStU, MfS, AS 19/51, Bl. 131–138, hier 132.

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Spionage, so lautete der Vorwurf ebenso, wenn jemand in den Verdacht geriet, in West-Berlin oder der Bundesrepublik Informationen über die Verhältnisse in der DDR weitergegeben zu haben. Betroffen waren hiervon häufig Sozialdemokraten oder Vertreter der bürgerlichen Parteien. Jeder, der Kontakt zu den Ostbüros der SPD oder der CDU in der Bundesrepublik unterhielt, galt als hinreichend verdächtig. Unter diesem und anderen Vorwürfen wurden 116 Menschen aus Mecklenburg und Vorpommern, die von sowjetischen Militärtribunalen verurteilt worden waren, in den Jahren zwischen 1950 und 1953 in Moskau hingerichtet. Ihre Asche verstreute man anonym auf dem Moskauer Donskoje-Friedhof. 122 Insbesondere in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren ergingen durch die Sowjetischen Militärtribunale und nachfolgend durch ostdeutsche Gerichte immer wieder hohe Haftstrafen. 1948 verhaftete man in Greifswald so einen zwanzigjährigen Reichsbahnmitarbeiter. Man warf ihm vor, ein »Agent des ›Ostbüros der SPD‹« zu sein. Zum Verhängnis gereichte ihm der Umstand, dass er in seinem Betrieb nach wie vor für seine sozialdemokratischen Überzeugungen eintrat. Man legte ihm das als »Spionage und antisowjetische Propaganda« aus. Ein Sowjetisches Militärtribunal verurteilte ihn am 3. Juni 1949 zu 25 Jahren Arbeitslager; ein Schuldspruch, der später, wie es hieß, auf zehn Jahre »gemindert« werden sollte. 123 Knapp zwei Monate nach seiner vorzeitigen Entlassung, die nach einem Gnadenersuchen am 1. Juni 1956 aus der Strafvollzugsanstalt Torgau erfolgte, verließ der inzwischen Achtundzwanzigjährige »illegal die DDR«. 124 Der Spionage bezichtigte und zu 25 Jahren verurteilt werden sollte im Dezember 1949 ein Referent der Rostocker Stadtverwaltung. Seine vermeintliche Straftat bestand in der unerwünschten Informationsweitergabe: Er hatte das SPD-Ostbüro in West-Berlin über »alle ihm bekannt gewordenen internen Angelegenheiten« in Kenntnis gesetzt. Aus seiner wie aus der Perspektive derer, die so wie er handelten, war dies legitim: Deutschland war aus ihrer Perspektive zwar in verschiedene Zonen gespalten. Der Osten war für sie der Teil des Landes, in dem sie für ihre demokratischen Ziele mit den ihnen zur Verfügung stehen Mitteln kämpften. 125 Die SED und ihre Geheimpolizei sahen dies anders und beschuldigten alle, die am gesamtdeutschen Konzept und den entsprechenden Kontakten festhielten, der »Informationsweitergabe« oder sahen in ihnen Spione. Ausgenommen davon waren die gesamtdeutschen Verbindungen der SED und der FDJ und jene

122 Mothes, Jörn: Dimensionen des Todes. Die Rückholung der Erinnerung in Moskau-Butovo. In: MPKZ, 60. Jg., Nr. 46, 13.11.2005, S. 5. 123 MfS Mikrofilmkarte, M 1658: BStU, MfS, AS 11/59, Bd. I, Bl. 107. 124 Strafvollzugsnachricht Torgau, Strafnachricht (A), Torgau, 1.6.1956: BStU, MfS, KK/01 Sonderkartei »ehemalige SMT-Verurteilte« sowie BStU, MfS, AS 11/59, Bd. I., Bl. 124. 125 MfS, Mikrofilmkarte, M 1850: BStU, MfS, AS 11/59, Bl. 158.

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Aktivitäten unter anderem von Künstlern, Antifaschisten oder staatsloyalen Wissenschaftlern und Theologen, die den Kommunisten nützlich erschienen. Wer sich aufgrund der herrschenden Willkür und wirtschaftlichen Unsicherheit in den Westen begeben hatte, sich jedoch entschied, wieder zurückzukehren, geriet ebenso in Verdacht. So ging das MfS davon aus, dass die Betreffenden das Notaufnahmelager Marienfelde aufgesucht hatten. Dort durchliefen die Ankommenden das obligatorische Flüchtlingsnotaufnahmeverfahren. In diesem Rahmen galt es, auch Fragen der westlichen alliierten Stellen zu beantworten. Der Erste Strafsenat des Bezirksgerichtes Rostock verurteilte am 15. Februar 1961 eine 19-jährige Stenotypistin, die im September 1960 nach einem Zerwürfnis mit ihrer Mutter ihrem Vater nach West-Berlin gefolgt war. Sie wurde nach ihrer Rückkehr in die DDR unter dem Vorwurf der Nachrichtenübermittlung nach § 15 des Strafergänzungsgesetzes und »wegen Beihilfe zum Passvergehen« zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und drei Monaten Zuchthaus verurteilt. Zur Strafverbüßung und Zwangsarbeit wies man sie in das Haftarbeitslager Himmelmühle im Süden der DDR ein. 126 Das MfS wusste durchaus, dass sich die Verurteilte, wenn sie in West-Berlin als Flüchtling anerkannt werden wollte, dem Aufnahmeverfahren kaum entziehen konnte. Vor allem die Umstände ihrer Festnahme warfen Fragen auf. Wie den Unterlagen der Rostocker Bezirksstaatsanwaltschaft zu entnehmen ist, konnte, wie es vage hieß, die Frau am 11. November 1960 »anlässlich eines unbeabsichtigten Aufenthaltes [...] im demokratischen Sektor [...] [in Ost-] Berlin festgenommen werden«. 127 Da »sie, wie üblich, sämtliche im Lager existierende ausländische Sichtungsstellen durchlaufen« haben musste, wurde sie umgehend dem Haftrichter vorgeführt. 128 Aufgrund ihrer früheren Anstellung interessierte sich das MfS besonders für sie. Als Stenotypistin und Sekretärin arbeitete sie »vor dem illegalen Verlassen« der DDR bei der »Hafenpolizei in Rostock«. 129 Sie zählte somit zum Personal eines aus sicherheitspolitischen Erwägungen als sensibel eingestuften Bereiches innerhalb der DDR. Endlose Verhöre folgten. Glaubt man den Ausführungen der »Untersuchungsabteilung« der MfS-Bezirksverwaltung in Rostock, so verstieß die Angeklagte während ihres Aufenthaltes in West-Berlin gegen die ihr einst in der DDR aufer126 Schreiben des Staatsanwaltes des Bezirkes Rostock (Az. I 5/61), an das Bezirksgericht Rostock, I. Strafsenat, Rostock, 12.6.1962: BStU, MfS, BV Rostock, AU 10/61, Bd. I, Bl. 171; Beschluss des I. Strafsenates des Bezirksgerichtes Rostock, Rostock, 14.6.1962: BStU, MfS, BV Rostock, AU 10/61, Bd. I, Bl. 172. 127 MfS, BV Rostock, Abt. I, an den Haftrichter der Abt. I, Antrag auf Erlass des Haftbefehl gegen die Stenotypistin [Name], [Vorname], Rostock, 12.11.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 10/61, Bd. I, Bl. 13 f., hier 14. 128 Ebenda, Bl. 13. 129 Ebenda.

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legte Schweigepflicht. 130 Entscheidend seien dabei ihre Aussagen gegenüber den alliierten Stellen und der dortigen Polizei gewesen. Zur Last gelegt werden sollte ihr im Einzelnen, »Angaben über die Struktur und Bewaffnung, den Fahrzeugpark sowie über den Stab der Hafenpolizei in Rostock« getätigt und »über die Bautätigkeit am Hochseehafen Rostock berichtet« zu haben. 131 Zudem habe sie die alliierten Stellen über zwei Brände im Überseehafen, die als Sabotage eingestuft wurden, informiert. 132 Da sie ihre Freundin vor ihrer Fahrt fragte, »ob sie mitkommen würde«, beschuldigte man sie darüber hinaus der Beihilfe zur Flucht und erweiterte dementsprechend die Anklage. 133 Die zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung noch 18-Jährige geriet so in die Mühlen der OstWest-Konfrontation, ohne dass ihr der Wille zur Spionage ernsthaft unterstellt werden konnte. Ähnlich erging es einem Transportpolizisten aus Greifswald, der sich nach seiner Flucht 1957 wieder in die DDR begab. Das Bezirksgericht Rostock verurteilte ihn am 13. Mai 1958 unter dem Vorwurf der Spionage nach viermonatiger Untersuchungshaft zu drei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus. 134 Die Strafverfolgung diente der Abschreckung. Darüber hinaus aber auch der Vergeltung: Dass sich Waffenträger, die dem System einst ihre Treue geschworen hatten, von diesem abwandten, wertete die SED nicht nur als Fahnenflucht. Sie sah darin eine ihr geltende eklatante Form des Liebesentzugs. Dies verweist auf den Minderwertigkeitskomplex, unter dem das SEDSystem litt. Mit seinem ostdeutschen Teilstaat fühlte es sich gegenüber der Bundesrepublik stets zurückgesetzt. Man wusste auch, dass das Staatswesen von vielen als solches nicht akzeptiert wurde. Auch deshalb schien die Fahnenflucht bis 1961 so einfach zu sein. In anderen Fällen war die Informationsweitergabe und Sabotage durchaus evident. Ende 1954 verhaftete die Staatssicherheit in Rostock sechs Arbeiter des Fischkombinates in Marienehe unter dem »Verdacht der Diversionstätigkeit« und Spionage. 135 Die Staatssicherheit sah die jungen Männer als hinläng130 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Schlußbericht, Rostock, 3.1.1961: BStU, MfS, BV Rostock, AU 10/61, Bd. I, Bl. 162–168, hier 165. 131 Ebenda, Bl. 162. 132 Ebenda, Bl. 165. 133 Protokollnotiz des Kreisgerichtsdirektors, Verkündung des Haftbefehls, Rostock, 12.11.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 10/61, Bd. I, Bl. 16. 134 Erster Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock, AZ. I 44/58, Sitzung am 13.5.1958, in der Strafsache gegen [Name], Rostock, 3.6.1958: BStU, MfS, BV Rostock, AU 71/58, HA, Bd. I, Bl. 135–142, hier 135; MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Schlussbericht, Rostock, 1.4.1958: BStU, MfS, BV Rostock, AU 71/58, HA, Bd. I, Bl. 145–152. 135 Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV Rostock, Einlieferungsanzeige[n], Rostock, 11.12.1954: BStU, MfS, AU 27/55, GA, Bd. XI, Bl. 5–7 sowie 50–52; Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV Rostock, Schlussbericht, Rostock, 14.3.1955: BStU, MfS, AU 27/55, HA, Bd. IV, Bl. 146–151, hier 146; Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV Rostock, Schlussbericht, Rostock, 3.3.1955: BStU, MfS, AU 27/55, GA, Bd. XI, Bl. 152–169, hier 152 f.

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lich überführt an, in dem umgangssprachlich »FiKo« genannt Betrieb Sabotageakte begangen zu haben. Zugleich hätten sie Informationen gesammelt und diese an westliche Stelle weitergereicht. So an den Hörfunksender RIAS und den – wie es hieß – »berüchtigten Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen« in West-Berlin. Im Laufe der Ermittlungen bestätigten sich die Vorwürfe. Die Gruppe, die mehrere Monate unerkannt Widerstand gegen das SEDRegime leistete und der mancher Coup gelang, schien zum Schluss vom Unglück verfolgt: Bei einem der Verdächtigen fanden die StaatssicherheitsdienstMitarbeiter einen »Bericht [...] über die Strafvollzugsanstalt Bautzen« sowie »eine Liste der gesamten Flotte des Fischkombinates«. Die Berichte entstanden auf eine Anfrage des »Untersuchungsausschusses freiheitliche Juristen« hin und sollten per Kurier nach West-Berlin gelangen. In den Monaten zuvor zeichnete die Gruppe dafür verantwortlich, dass mehrere Informationen zur »Bewaffnung und Stärke sowjetischer Einheiten« rund um Rostock und »Berichte über die Stimmung der Bevölkerung« West-Berlin erreichten. 136 Hinzu kam eine Aufstellung mit den Schiffsnamen und dazugehörigen Reedereien aus den nichtsozialistischen Ländern, die den Rostocker Hafen anliefen. Die Liste, die man ebenfalls im Auftrag des »Untersuchungsausschusses« erstellte, diente offensichtlich dem Zweck, »ausländische und westdeutsche Reeder unter Druck zu setzen«, keine weiteren Geschäfte mit dem SED-Regime zu tätigen. 137 Als Husarenstück konnte die Übergabe eines Fahndungsbuches der Deutschen Volkspolizei gelten, dass einer der Beschuldigten zuvor »bei einer Vernehmung im V[olks]P[olizei]K[reis]A[mt] Rostock [...] zu stehlen« vermochte und das anschließend auf verschlungenen Pfaden seinen Weg nach West-Berlin fand. 138 Neben der Informationsweitergabe leistete die Gruppe Widerstand, indem sie im Fischkombinat gezielt Sabotageakte verübte. »Bewußt«, so setzte das MfS die Tatzeit in Kombination zum politischen Hintergrund, »wählte« die Gruppe in einem Fall »den 17. Juni 1954 als Zeitpunkt ihres Anschlages« aus, um an die Streiks im Jahr zuvor zu erinnern. Die Täter hätten, so die Staatssicherheit weiter, ihre Kollegen »zu deren Wiederholung« aufstacheln wollen. 139 Ihr Ziel sei es gewesen, »Unruhe unter der Bevölkerung hervorzurufen« und »zu zeigen, daß es noch Personen gibt, die für die Ziele der Provokateure vom 17. Juni 1953« einträten. 140 In der Nacht vom 17. auf den 18. Juni entnahmen zwei der Angeklagten Sand vom Spielplatz einer nahen Kinderkrippe und füllten diesen in die Achs136 Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV Rostock, Schlussbericht vom 3.3.1955: BStU, MfS, AU 27/55, GA, Bd. XI, Bl. 156, 160. 137 Ebenda, Bl. 156, 161. 138 Ebenda, Bl. 160. 139 Ebenda, Bl. 155. 140 Ebenda.

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buchsen von mit Frischfisch beladenen Waggons. Die anstelle von Öl nun auf Sand laufenden Achslager versagten nach ihrer Abfahrt bald den Dienst und blieben als sogenannte Heißläufer auf offener Strecke stehen. Den Saboteuren »gelang« es, wie die Staatssicherheit einräumen musste, nicht nur die »zwei Kühlwagen unbrauchbar zu machen«: Neben dem Fisch im Wert von »20.000,- DM«, dessen Geruch bald vom gelungenen Sabotageakt kündete, blieb der gesamte Güterzug liegen und blockierte die Durchfahrt auf der eingleisigen Verbindung. 141 Darüber hinaus beschädigten Mitglieder der Gruppe 1954 »mehrfach die Traktoren des Fischkombinates und entwendeten Ersatzteile. 142 Zuungunsten der wenig später inhaftierten wirkte es sich aus, dass sie auf der Arbeit ihre Ablehnung gegenüber dem SED-System nicht verbargen. Offen sprachen sich die Mitglieder gegen die SED-Herrschaft aus. In den Vernehmungen hielt man ihnen die politischen Witze vor, die sie in der Werkstatt erzählt hatten. Einer dieser eher situationsbedingt als komischen Mehrzeiler handelte von einer Inspektionsreise der Parteifunktionäre Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl. Auf Anfrage seien sie bereit gewesen, Geld für ein im Bau befindliches Zuchthaus auszugeben, jedoch nicht für ein von ihnen zuvor besuchtes Sanatorium. Als Pointe legte der Erzähler Pieck den Ausspruch in den Mund, »meinst Du vielleicht wir landen eines Tages im Sanatorium?«. 143 Nicht nur der Witz offenbarte, was viele DDR-Bewohner über die SEDFührung nicht nur insgeheim dachten: »Diese Verbrecher«, lautete so eine umgangssprachliche Floskel, die auf dem Gelände des Fischkombinates hinlänglich bekannt schien, wenn erneut politische Fragen zur Erörterung gelangten. Der Staatssicherheitsdienst warf hingegen den sechs Arbeitern vor, »gemeine Verbrechen« 144 begangen zu haben, weil sie es gewagt hatten, sich gegen die SED-Herrschaft aufzulehnen. Am 1. Juli 1955 erging vor dem Ersten Strafsenat des Bezirksgerichtes Rostock das Urteil gegen vier der Angeklagten. Auf der Grundlage des »Boykotthetze«-Vorwurfes nach Artikel 6 der DDRVerfassung und unter Missbrauch der Alliierten Kontrollratsdirektive 38 145, wurde einer der Angeklagten »zu lebenslangem Zuchthaus« verurteilt. Die anderen drei erhielten Strafen von fünfzehn, zehn bzw. sechs Jahren. 146 Gegen die verbleibenden zwei Angeklagten sprach der Erste Strafsenat in einem ge141 Ebenda, Bl. 165 f. 142 Ebenda, Bl. 167. 143 Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV Rostock, handschriftliche Niederschrift aus der Vernehmung von [Name], [Vorname], ohne Datum: BStU, MfS, AU 27/55, GA, Bd. VIII, Bl. 265–269, hier 266. 144 Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV Rostock, Schlussbericht, Rostock, 3.3.1955: BStU, MfS, AU 27/55, GA, Bd. XI, Bl. 152–169, hier 166. 145 Vgl. hierzu: Werkentin, Falco: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht (Forschungen zur DDR-Geschichte; 1), Berlin 1995, S. 172. 146 Bezirksgericht Rostock, I. Strafsenat, Vollstreckbare Ausfertigung (I Ks. 41/55), Rostock, 4.7.1955: BStU, MfS, BV Rostock, AU 27/55, GA, Bd. IV, Bl. 156.

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sonderten Verfahren am 8. Juli 1955 seine Urteile: Beide erhielten »je zwei Jahre Zuchthaus«, weil sie, wie es hieß, »im Jahre 1954 auf ihrer Arbeitsstelle, dem VEB Fischkombinat Rostock Diversions- und Spionagehandlungen betrieben«. 147 In den Verdacht der Spionage geriet 1958 eher zufällig ein Umschlagarbeiter aus dem Fischereihafen Warnemünde. Zuvor war dem Staatssicherheitsdienst mitgeteilt worden, dass dieser, wie man meinte, für seinen sozialen Stand untypisch, »einen guten Fotoapparat besitzt«. 148 Während der »Einweihung der neuen Hafeneinfahrt« zum Überseehafen – ein an sich öffentliches wie festliches Ereignis – habe er hiermit »ein ganz Teil Aufnahmen gemacht«.149 Die MfS-Abteilung VIII wurde damit betraut, Näheres, das hieß vor allem Belastendes, über den Hafenarbeiter in Erfahrung zu bringen. 150 Zugleich ging ein entsprechender Hinweis von einem Westberliner Informanten ein. In der Folge wurde der Hafenarbeiter am 13. Mai 1959 festgenommen, in die Untersuchungshaftanstalt am Schwaanschen Tor eingeliefert und dort verhört. 151 Im Juli 1959 erfolgte die Verlegung in die MfSUntersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen. 152 Zunächst waren der Abteilung Postkontrolle wiederholt in Rostock aufgegebene und »mit Geheimtinte geschriebene Briefe, [adressiert] an eine Deckadresse in Westdeutschland« aufgefallen, die »nur Zahlen« enthielten. 153 Die Postschnüffler leiteten die Briefe zwar weiter. Zugleich übernahm die Spionageabwehr den Vorgang und ermittelte gegen »Unbekannt«. Der Dechiffrierdienst fand schließlich heraus, dass der Verfasser der Briefe »an einem bestimmten [...] [Tag] nach Berlin [...] fährt« und zu diesem Zweck Urlaub beantragt hatte. Die Bezirksverwaltung in Rostock überließ im Weiteren nichts dem Zufall: An dem im Brief erwähnten Tag, »wurden sämtliche Personen, die von Rostock aus nach Berlin fuhren, 147 Bezirksgericht Rostock, Der Vorsitzende des I. Strafsenates, Beschluß (I Ks 63/55), Rostock, 24.2.1956: BStU, MfS, BV Rostock, AU 27/55, GA, Bd. XI, Bl. 96 f. 148 MfS, BV Rostock, Abschlussbericht zum Überprüfungsvorgang Nr. 97/58 der Abteilung Hafen, Rostock, 12.5.1959: BStU, MfS, AU 600/59, Bd. III, B. 101–103, hier 102. 149 Ebenda, Bl. 103. 150 Ebenda. 151 Oberstes Gericht der DDR, 1. Strafsenat, 1 Zst (I)2/59, Eröffnungsbeschluß, Berlin, 23.7.1959: BStU, MfS, AU, Nr. 600/59, Bd. II, Bl. 185–187; MfS, BV Rostock, Abt. Hafen, Abschlussbericht zum Überprüfungsvorgang Nr. 97/58, Rostock, 12.5.1959: BStU, MfS, AU, Nr. 600/59, Bd. III, Bl. 101–103; MfS, BV Rostock, Abt. IX, Sachstandsbericht, betr. Untersuchungsvorgang [Name], [Vorname], Rostock, 21.5.1959: BStU, MfS, AU, Nr. 600/59, Bd. III, Bl. 104–109, hier 104. Vgl. hierzu auch: MfS, HA IX, (Bericht) betr.: Liquidierung feindlicher Stützpunkte auf dem Gebiet der DDR im Mai 1959, Berlin, 9.6.1959: BStU, MfS, HA IX, MF, Nr. 11188, S. 1–14, hier 6. 152 MfS, HA IX, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten [Name], Berlin, 29.6.1959: BStU, MfS, AU, Nr. 600/59, Bd. III, Bl. 214–216. 153 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Sachstandsbericht, betr. Untersuchungsvorgang [Name], Rostock, 21.5.1959: BStU, MfS, AU, Nr. 600/59, Bd. III, Bl. 104–109, hier 105.

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personalausweisnummermäßig [sic!] erfaßt«. 154 Über einen Abgleich der erhobenen Daten und den Schriftenvergleich, für den die betreffenden Betriebe die Kaderunterlagen an das MfS herausgaben, wurde man fündig. 155 Die Verhöre in Rostock und Berlin-Hohenschönhausen erbrachten weitere Hintergrundinformationen. Allem Anschein nach arbeitete der Hafenarbeiter als Informant für den Bundesnachrichtendienst. Unter dem Decknamen »Kindermann«, ab Mitte 1957 »Kunert«, lieferte er an verschiedene Deckadressen in der Bundesrepublik und in West-Berlin seit Mitte 1956 Informationen über »Waffenund Truppentransporte« im Großraum Rostock. 156 Hinzu kamen Berichte über »Reparatur[en] [...] an Kriegsschiffen, über [...] Schiffe der Nationalen Seestreitkräfte und der Deutschen Grenzpolizei See, über [die] Kennzeichen von Militärfahrzeugen und über die Kasernen in Rostock und Umgebung«. Der Bundesnachrichtendienst erhielt über seinen Kontaktmann Kenntnis von der Auftragslage auf der Warnow-Werft und deren Produktion, »über Engpässe bei der Materialbeschaffung«, kaderpolitische Veränderungen sowie über »die Stimmung [in] der Bevölkerung«. 157 Insgesamt lieferte der Beschuldigte an die dreißig Einzelberichte. 158 Am 7. Mai 1959, knapp eine Woche vor seiner Inhaftierung, stattete ihn der Bundesnachrichtendienst, der den Informanten durch die Reisen nach West-Berlin nicht weiter gefährden wollte, mit einem Kurzwellen-Konverter aus. Zugleich vereinbarte man, »tote Briefkästen« anzulegen. 159 Der Ernstfall trat wider Erwarten und noch schneller als befürchtet ein. Die letzte West-Berlin-Reise führte zur Inhaftierung. Der Erste Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR in Berlin verurteilte den Hafenarbeiter am 29. August 1959 »zu lebenslangem Zuchthaus«; 160 1968 wandelte man die Reststrafe um in »eine Bewährungszeit von drei Jahren«. 161 Am 23. Mai 1959 ergingen vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts in Rostock in einem anderen Spionagefall die Urteile: Unter dem Vorwurf, im Auftrag des französischen Geheimdienstes Hafen- und Werftanlagen ausgekundschaftet zu haben, wurden insgesamt fünf Rostocker verurteilt. 162 Gegen den 154 Ebenda. 155 Ebenda. 156 Ebenda, Bl. 107 f. 157 Ebenda, Bl. 106 f. 158 Oberstes Gericht der DDR, 1. Strafsenat, 1 Zst (I)2/59, Eröffnungsbeschluß, Berlin, 23.7.1959: BStU, MfS, AU, Nr. 600/59, Bd. II, Bl. 185–187, hier 187; 159 Oberstes Gericht, Eröffnungsbeschluß (ebenda), Bl. 187; Der Generalstaatsanwalt der DDR, Az. I – 12/59, an das Oberste Gericht der DDR, 1. Strafsenat, Anklage, Berlin, 20.7.1959: BStU, MfS, AU, Nr. 600/59, Bd. II, Bl. 188–238, hier 231 f. 160 Oberstes Gericht der DDR, 1. Strafsenat, 1 Zst (I)2/59, Urteil in der Strafsache: BStU, MfS, ASt 143/84, GA, Bd. I, Bl. 257–294, hier 257. 161 Oberstes Gericht der DDR, 1. Strafsenat, 1 Zst (I)2/59, Beschluß in der Strafsache gegen den Landwirt [Name], [Vorname], Berlin, 4.3.1968: BStU, MfS, AU, Nr. 600/59, Bd. III, Bl. 438. 162 MfS, HA IX, (Bericht) betr.: Liquidierung feindlicher Stützpunkte auf dem Gebiet der DDR im Mai 1959, Berlin, 9.6.1959: BStU, MfS, HA IX, MF, Nr. 11188, Bl. 1–14, hier 13 f.; »Spionage-

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Hauptangeklagten verhängte das Gericht eine lebenslängliche Zuchthausstrafe. Zusätzlich zum Spionagevorwurf legte man ihm einen »Überfall auf zwei sowjetische Staatsbürgerinnen« im Jahre 1947 zu Last und unterstellte ihm obendrein, er habe »als Krönung seiner Verbrechen das Schwimmdock der NeptunWerft sprengen wollen«. 163 Wie er das anstellen wollte, blieb hingegen offen. Auf sieben bzw. fünf Jahre Zuchthaus sowie drei Jahre und sechs Monate bzw. acht Monate Gefängnis lauteten die Urteile bei den anderen Angeklagten. Im September 1964 verfügte der Strafsenat, der, wie die Ostsee-Zeitung schrieb, zuvor die »hohen Zuchthausstrafen« verkündete, deren Umwandlung in Bewährungsstrafen. 164 Die lebenslängliche Zuchthausstrafe des Hauptangeklagten verwandelte sich in eine Bewährungszeit von fünf Jahren; in den anderen Fällen erfolgte die Umwandlung in fünf bis zweijährige Bewährungsfristen. 165 Jene Staatsanwälte und Richter, die das Exempel einst statuierten, plädierten nun für eine differenzierte Sicht und sprachen sich für einen milderen Umgang aus. Verantwortlich hierfür war eine kosmetische Änderung in der DDRInnenpolitik, der Rechtspflege-Erlass vom 17. April 1963. Mit ihm sollten die Härten in der Strafzumessung abgemildert werden. Allein 1958 und 1959 inhaftierte das MfS im Ostseebezirk laut einer Aufstellung, die der Leiter der Bezirksverwaltung erstellen ließ, 41 Menschen unter dem Verdacht der Spionage. 166 Die meisten Festnahmen basierten auf Meldungen, die von der Abteilung II, der Spionageabwehr, und aus den Kreisdienststellen in Rostock und Wolgast stammten. Auf beiden Orten ruhte aufgrund ihrer Häfen und weil hier wichtige Zentren des Schiffbaues lagen – in Wolgast produzierte man Kriegsgerät – das Augenmerk der Abwehr. Ob es in diesem Umfang hier tatsächlich zur Spionage kam oder sich die »revolutionäre Wachsamkeit« zur Hysterie steigerte und man nach geeigneten Opfern Ausschau hielt, lässt sich hingegen nicht sagen. prozeß in Rostock eröffnet. Fünf Agenten des französischen Geheimdienstes vor Gericht. Spionage auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiet«. In: Ostsee-Zeitung, 8. Jg. Nr. 116, 20.5.1959, S. 1; »Hohe Zuchthausstrafen beantragt. Zweiter Verhandlungstag im Prozeß gegen fünf Spione des französischen Geheimdienstes«. In: Ebenda, Nr. 117, 21.5.1959, S. 2; »Urteile im Spionageprozeß gefällt. Fünf Spione des französischen Geheimdienstes erhielten gerechte Strafe«. In: Ostsee-Zeitung, Nr. 120, 25.5.1959, S. 2; Der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts in Rostock, Urteil, Rostock, 25.5.1959: BStU, MfS, BV Rostock, AU 19/59, Bl. 248. 163 »Hohe Zuchthausstrafen beantragt. Zweiter Verhandlungstag im Prozeß gegen fünf Spione des französischen Geheimdienstes«. In: Ostsee-Zeitung, Nr. 117, 21.5.1959, S. 2; MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Schlussbericht, Rostock, 18.3.1959: BStU, MfS, Bl. 1–77, hier 39, 42. 164 Ebenda. 165 Erster Strafsenat des Bezirksgerichts in Rostock, Beschluß in der Strafsache gegen [Name], [Vorname]: BStU, MfS, BV Rostock, AU 12/59, Bl. 326. Analog hierzu in den anderen Fällen: Erster Strafsenat des Bezirksgerichts in Rostock, Beschluß in der Strafsache gegen [Name], [Vorname]: BStU, MfS, BV Rostock, AU 12/59, Bl. 327–329. 166 MfS, BV Rostock, Aufstellung nach Delikten und Diensteinheiten die Jahre 1958/59 betr., ohne Datum und Ort: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter der BV, Nr. 10, T. 1, Bl. 95.

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Auffallend häufig wurde von den Häftlingen, die 1958/59 der Spionage bezichtigt wurden, die Franzosen als Kooperationspartner genannt (18 x), gefolgt von den englischen (6 x) und amerikanischen (5 x) Diensten. 167 Nicht auszuschließen ist, dass manch einer nach kräftezehrenden Verhören, angesichts unmenschlicher Haftbedingungen und der Aussichtslosigkeit, in der er sich sah, gestand. Er belastete sich, wie vom MfS verlangt, so selbst – zu Recht oder zu Unrecht – und hoffte möglicherweise durch den Verweis auf den französischen Geheimdienst auf ein milderes Urteil. Dies mochte ihm günstiger erscheinen, als wenn er den amerikanischen Geheimdienste oder den Bundesnachrichtendienst ins Spiel brachte. Mitunter herrschte bei jenen, die die Informationen sammelten und an Kontaktadressen weiterleiteten, Unklarheit darüber, mit wem sie es zu tun hatten. Der zu acht Jahren Zuchthaus verurteilte Hafenarbeiter aus Warnemünde ging während seiner Vernehmung davon aus, dass sein Kontaktmann für den englischen Geheimdienst tätig sei. Der DDR-Staatssicherheitsdienst, der auch in West-Berlin über willige Zuträger verfügte, wusste zu diesem Zeitpunkt bereits mehr. Er identifizierte den Kontaktmann als Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes. 168 Vier der Bezichtigten hatten der Aufstellung zufolge »andere westdeutsche Spionageorg[anisationen]« kontaktiert. 169 Gemeint waren hiermit zumeist die Ostbüros der SPD, CDU oder FDP und Menschenrechts- und Gefangenenhilfsorganisation in der Bundesrepublik. Damit die Staatssicherheit tätig wurde, reichte es aus, jemanden in der Bundesrepublik zu kennen, den die DDR bezichtigte, mit einer dieser Einrichtungen zu verkehren. Zu den vom MfS 1958 Verhafteten zählte so ein Mann aus Greifswald, den man »wegen [seiner] Verbindung zu einem R[epublik]-flüchtigen« verhörte. Zugleich warf man ihm vor, Kritik an den Verhältnissen in der DDR geübt zu haben. Neun Monate Haft lautete das Urteil, das gegen den Zweiundzwanzigjährigen im Folgenden erging. 170 Auch in den folgenden Jahrzehnten erhob die DDR-Staatssicherheit den Vorwurf der Spionage. Auch sah man sich immer wieder mit Vorfällen konfrontiert, die auf Sabotage hindeuteten. Nicht in jeden Fall lässt sich nachvollziehen, wie evident die Vorwürfe tatsächlich waren. Geheimpolizeilicher Über167 Ebenda. 168 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Sachstandsbericht, betr. Untersuchungsvorgang [Name], Rostock, 21.5.1959: BStU, MfS, AU, Nr. 600/59, Bd. III, Bl. 104–109, hier 105. 169 Zur Annahme, dass es sich um den englischen Geheimdienst handelt: MfS, BV Rostock, Aufstellung nach Delikten und Diensteinheiten die Jahre 1958/59 betr., ohne Datum und Ort: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter der BV, Nr. 10, T. 1, Bl. 95. Benannt wurden die Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes mit »Groß« und »Werner«: Oberstes Gericht der DDR, 1. Strafsenat, 1 Zst (I)2/59, Berlin, 23.7.1959: BStU, MfS, AU, Nr. 600/59, Bd. II, Bl. 185 f.; Der Generalstaatsanwalt der DDR, AZ I – 12/59, an das Oberste Gericht der DDR, 1. Strafsenat, Anklage, Berlin, 20.7.1959, Bl. 188–234, hier 229. 170 MfS, BV Rostock, Deliktekartei Spionage/Diversion/Sabotage.

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eifer und das allgegenwärtige Misstrauen gegen jedermann schienen sich mitunter in den Ermittlungsergebnisse niedergeschlagen zu haben. Im September 1978 verurteilte das Bezirksgericht in Rostock einen Ökonom zu zwölf Jahren Haft und einer Geldstrafe von 10 000 Mark. Angeblich hatte dieser »die planmäßige Tätigkeit« mehrerer »Betriebe auf dem Gebiet der Schiffreparaturen« desorganisiert, eine Abhängigkeit zu westlichen Anbietern angestrebt sowie »die planmäßige Zusammenarbeit mit Werften der VR Polen bei Reparaturen von Schiffen sabotiert.« 171 Entstanden sei, so ergaben die Untersuchungen des MfS, ein »materieller Schaden von 2,4 Mio. Mark sowie 0,6 Mio. VM/NSW und 0,2 VM/SW«. 172 Hinzu kämen die in ihrem Ausmaß noch nicht abzuschätzenden »Folgeschäden«. 173 Handelte es sich hier um einen Fall von Inkompetenz oder stand mehr dahinter? Aus heutiger Sicht lässt sich dies kaum abschätzen. Die Staatssicherheit unterstellte dem seit dem 23. August 1977 in der Untersuchungshaftanstalt Einsitzenden, das »Ziel der Schädigung der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung« gezielt verfolgt zu haben. 174 Demgegenüber stand die Vermutung, dass man nur einen Schuldigen suchte, der für die Ineffizienz und Managementfehler büßen sollte. So unterstützen die meisten den Staatssicherheitsdienst nur widerwillig bei seinen Ermittlungen gegen das »Sabotageverbrechen [in der] [...] Seewirtschaft«. In ihrer Abschlussinformation monierte die Bezirksverwaltung, dass bei den »Voruntersuchungen« die Befragten häufig eine »abwartende und liberale Haltung« offenbarten. Zustimmung und Unterstützung erhielt der Staatssicherheitsdienst zwar von den Funktionären in der SED-Kreisleitung des Kombinats Seeverkehr und in der Hafenwirtschaft. Jene belasteten den Beschuldigten möglicherweise aus nicht ganz uneigennützigen Motiven – schließlich hätten auch sie belangt werden können. Die im technischen Bereich tätigen Kollegen verwiesen das MfS hingegen auf die Probleme, die es im Arbeitsprozess in der alltäglichen Praxis fortwährend gab. »Die feindliche Position und Gefährlichkeit der Handlungen«, schlussfolgerte das MfS vollends betriebsblind für das Dilemma des auf dem internationalen Markt tätigen DDRBetriebes, »wurden unterschätzt«. 175

171 MfS, BV Rostock, Information Nr. 60/78 über den Verlauf des Gerichtsverfahrens in der Strafsache [Name], [Vorname] und über notwendige Maßnahmen zur Auswertung des Verfahrens mit dem Ziel der weiteren Beseitigung festgestellter straftatbegünstigender Umstände und Bedingungen sowie anderer Mängel und Mißstände im VEB Kombinat Seeverkehr und Hafenwirtschaft Rostock, 26.9.1978: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 17214, Bl. 15–21, hier 17; Bericht auch enthalten in: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 173, Bd. I, T. 1, Bl. 48–54. 172 MfS, BV Rostock, Information Nr. 60/78 (ebenda), Bl. 17. VM/NSW = Valutamark/Nichtsozialistisches Währungssystem, VM/SW = Valutamark/Sozialistisches Währungssystem. 173 Ebenda. 174 Ebenda, Bl. 15, 17. 175 Ebenda, Bl. 16.

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Eindeutig gelagert schien ein anderer Fall von Sabotage: Am 14. Juli 1978 »kniffen«, wie es die Vorfallskartei der Bezirksverwaltung vermerkt, »unbek[annte] Täter« bei Zingst auf der Halbinsel Darß an den Fahrzeugen einer dort abgestellten Erntekomplexeinheit »bei 25 Schläuchen die Ventile ab und beschädigten 3 Rückleuchten«. 176 Und aus dem Kreis Wismar, aus Gallentin, ereilte die Volkspolizei am 19. Mai 1979 vom dortigen Sommerlager des FDJZentralrates die Meldung, dass Jugendliche aus dem Dorf die »elektrischen Zuleitungen zu den 45 [...] Wohnwagen des Lagers« gleich zweifach durchgeschnitten und die Reifen eines Reisebusses zerstochen hatten. 177 Hier hatten eher persönliche Motive den Ausschlag für die Widerstandstat geliefert: Vor Ort sei man, so gab der 18-jährige Haupttäter an, verärgert gewesen, weil »die Jugendlichen des Dorfes nicht an [den] Veranstaltungen des Sommerlagers teilnehmen durften«. 178 Die »in Form einer Wagenburg zusammengestellten« und so gegenüber der Außenwelt abgrenzenden Wohnwagen und das Gebaren der FDJ-Jungfunktionäre, insbesondere ihres Lagerleiters, 179 reizten die Täter. Man fühlte sich gegenüber der protegierten Hauptstadt zurückgesetzt. Zu einem Zwischenfall, der an die Sabotage im Rostocker Fischkombinat von 1954 erinnerte, kam es 1984 auf der Mathias-Thesen-Werft in Wismar. Wie das MfS konstatiere, füllten Unbekannte »in der Zeit vom 7.9. bis 20.11.1984 eine größere Menge Strahlkies in das Schmierölsystem der Hauptmaschine« eines für die Sowjetunion bestimmten Kühl- und Fangschiffes vom Typ Kristall. 180 Der Sabotageakt verursachte einen erheblichen materiellen Schaden – das MfS sprach von 200 163 Mark – und bewirkte, dass das Schiff erst dreizehn Tage nach Ablauf der Vertragsfrist an den Auftraggeber ausgeliefert werden konnte. Trotz des Einsatzes von zehn Inoffiziellen Mitarbeitern und der »Durchleuchtung« von neun verdächtigten Werftarbeitern vermochte es das MfS nicht, die Urheber zu ermitteln. 181 Eine vom MfS angefertigte Täteranalyse (»Täterversion«) zum »Vorkommnis- und Havariegeschehen« ergab, dass sich seit 1967 auf der Mathias-Thesen-Werft allein neun ähnliche Vorfälle ereignet hatten. Beim Stahlkies-Anschlag 1984 seien demnach auffällige Analogien zu den vorangegangenen »Havarien« zu verzeichnen gewesen. 182

176 MfS, BV Rostock, Meldung, Kerblochkartei: BStU, MfS, HA IX, Nr. 4134, Bl. 167. 177 Meldung des Volkspolizeikreisamtes Wismar, Abt. K, Kerblochkartei: BStU, MfS, HA IX, Nr. 4125, Bl. 47, 49. 178 Ebenda. 179 Ebenda. 180 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Abschlussbericht zum OV »Stahl«, Wismar, 12.11.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 3004/87, Bl. 239. 181 Ebenda. 182 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Abschlussbericht zum Operativ-Vorgang »Stahl«, Wismar, 12.11.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 3004/87, Bd. I, 239–243, hier 239 f.

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Der Sabotage bedienten sich keinesfalls nur Menschen in den fünfziger Jahren. Auch in den folgenden Jahrzehnten stellte dies eine Option des Widerstandes gegen das SED-Regime dar.

2.2

Die sechziger Jahre

Auch in den sechziger Jahren reagierten Menschen mit Widerspruch, Aufbegehren und Widerstand zuallererst auf die Anmaßungen des Systems. Mit der Kollektivierung griff die SED in die Eigentumsverhältnisse auf den Dörfern massiv ein. Durch den Mauerbau von 1961 wurden die Freiheitsrechte der Menschen weiter beschnitten. Die Forderung der SED, dieses noch in Form von abverlangten Zustimmungserklärungen öffentlich gutheißen zu sollen, musste demgegenüber von den Betroffenen als Akt der organisierten Unterwerfung und Demütigung empfunden werden. Der Einmarsch der Warschauer Pakt Truppen 1968 in die Tschechoslowakei und die Niederschlagung des Prager Frühlings lösten abermals Frustration, Wut und Empörung aus. Mit den Reformbestrebungen in der Tschechoslowakei verbanden viele Menschen auch in der DDR die Hoffnung auf etwaige Verbesserungen auch in der DDR. Nach der Unterdrückung der Selbstbehauptungsbestrebungen der letzten verbliebenen Sozialdemokraten und der bürgerlichen Parteien und den Inhaftierungen der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre schien jedweder Versuch, sich zu einer Opposition zusammenzufinden, riskant und kaum durchführbar. Dessen ungeachtet gab es auch im Norden vereinzelt entsprechende Überlegungen und den Versuch, oppositionell tätig zu werden. In den sechziger Jahren waren die Erlebnisse der fünfziger Jahre, die willkürlichen Verhaftungen, verbunden mit dem Verschwinden von Personen noch vielerorts präsent. Viele von der Kollektivierung betroffene Bauern verweigerten ihre Zustimmung und sprachen sich damit gegen die Zwangsmitgliedschaft in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften aus. Ihre Verweigerung mochte im eigentlichen Sinne noch nicht als Widerstand gelten; in der aufgeheizten Stimmung der Kollektivierungskampagne wurde dies jedoch mit Widerstand gleichgesetzt. Im Grunde beharrten sie nur darauf, an der bisherigen Produktionsform festhalten zu können. Zugleich gab es Menschen, die Widerstand »im engeren Sinne« leisteten, indem sich offen gegen die SED aussprachen. Notgedrungen taten dies aber schon jenen Bauern, die sich der Kollektivierung in den von der SED anberaumten öffentlichen Versammlungen widersetzten. So blieben auch in den sechziger Jahren die Übergänge zwischen den einzelnen Formen des politisch abweichenden Verhaltens fließend und von den Zeitumständen abhängig: Wer sich der Kollektivierung öffentlich widersetzte, andere auf seine Seite zu ziehen versuchte oder gar

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später wieder aus der LPG austrat, musste sich des Risikos bewusst sein, dass ihm dies als Widerstand ausgelegt werden würde. Er riskierte, mit den entsprechenden Konsequenzen konfrontiert zu werden. Viele widersetzten sich trotzdem. Zum einen, weil sie den Willen des SED-Staates, sich durch Vergeltung Genugtuung verschaffen zu wollen, unterschätzten. Andere handelten zum anderen schlichtweg aus Verzweiflung. Ebenso gab es in den sechziger Jahren den Widerstand der sich definitorisch klar fassen lässt: Flugblattaktionen, Losungen, Sabotageakte und Spionage. Die bewusste Nonkonformität, das Beharren am Althergebrachten entgegen den von der SED stammenden Vorgaben, die Ablehnung von Loyalitätsbekundungen und die symbolische Zeichensetzung der Andersartigkeit praktizierten vor allem Menschen, die den bildungsbürgerlichen und kirchlichen Milieus zuzurechnen waren. Sie standen für den kleinen »Widerstand im Alltag«, der sich besser als Nonkonformität, Verweigerung oder Ablehnung umschreiben lässt. 2.2.1 Widerstand gegen die Kollektivierung in der Landwirtschaft und im Fischereigewerbe Mit weiteren und von vielen als Anmaßung empfundenen Neuerungen strebte die Staatspartei danach, den Alltag im Land umzugestalten. Alte Traditionen sollten verschwinden und durch neue obligatorische, sozialistische Riten ersetzt werden. Der Anspruch des Systems griff in immer weitere Bereiche ein. Hiermit einher gingen die Entindividualisierung und die Kollektivierung in vielen Lebensbereichen. Wie Jens Schöne mit Bezug auf die Situation in der gesamten DDR aufgezeigt hat, gab es verschiedene Formen der Gegenwehr. Sie reichten laut Schöne vom passiven Protest – der wechselseitigen Hilfe der nicht kollektivierungswilligen Bewohner im Dorf, attraktiven Lohnangeboten für Landarbeiter, die nicht mitmachen wollten und der Gründung von Scheinzusammenschlüssen – über die passive Verweigerung bis zum aktiven Widerstand. Zu letzteren zählt Schöne auch die vielen gelegten Brände, Zerstörungen von Maschinen und die hohe Zahl der Viehverendungen. 183 Sowohl das Motiv der Abwehr als auch das Verlangen nach Selbstverteidigung und Selbstbehauptung traten beim Widerspruch und Widerstand hervor: Deutlich wurde dies bei den Protesten gegen die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft in den fünfziger und sechziger Jahren. Dabei ging es um nichts 183 Schöne, Jens: Das sozialistische Dorf. Bodenreform und Kollektivierung in der Sowjetzone und DDR (Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen; 8). Leipzig 2008, S. 134. Ders.: Frühling auf dem Lande? Die Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft. Berlin 2007. Ders.: Landwirtschaftliches Genossenschaftswesen und Agrarpolitik in der SBZ/DDR 1945–1950/51. Stuttgart 2000.

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Geringeres als den Eigenbesitz. 184 Zudem rangen die Betroffenen darum, an den bewährten Produktions- und Lebensformen im Dorf festhalten zu können. Die Bauern sanken, trotz der scheingenossenschaftlichen Verträge, in den Status von abhängigen Lohnarbeitern herab. In ihren Augen wurde der SEDStaat hier selbst zum Dieb. Dass sich Widerstand dagegen regte, mochte nur allzu verständlich sein. Lediglich massiver Druck und Einschüchterungsmaßnahmen und die Präsens der Polizei und der Staatssicherheit konnten die Kollektivierung voranbringen. Die Freie Deutsche Jugend stellte Drücker- und Agitationstrupps, die übers Land fuhren und den Bauern Gewalt androhten. Auch hier trat zum staatlich organisierten und ideologisch begründeten Diebstahl die Lüge dazu. Mit den Worten, »das hat uns als Tschekisten Spaß gemacht«, berichtete der erste Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Alfred Kraus, vom Vorgehen gegen die Bauern. Konkret ging es darum, den Widerstand gegen die LPG-Gründung in Karlshagen auf Usedom zu brechen. 185 Die Bauern in Karlshagen widersetzten sich der Kollektivierung in passiver Form, indem sie sich weigerten, in die Kooperative einzutreten. »Den Hauptwiderstand leistete hier«, so Kraus in seinen Lebenserinnerungen eines »Antifaschisten«, »der Gastwirt«. Bei ihm »kamen die Bauern zusammen, der hat sie [...] aufgeklärt, nicht einzutreten in die LPG«. Dies war der Staatssicherheit nicht entgangen. Nach einem ausgiebigen Trinkgelage im Winter urinierten die Gäste vor der Kneipe; der Gastwirt habe dabei, so wurde es der Staatssicherheit »sofort gemeldet«, »ein großes Hakenkreuz hineingepinkelt in den Schnee.« Man habe, so Alfred Kraus, daraufhin »den Gastwirt eingesperrt und ihn zum Faschisten gemacht«. Letztlich gelang es so, das Dorf zum Eintritt in die LPG zu zwingen. 186 Auch in der Fischerei drängte die SED, wie Susanne Raillard in ihrer Dissertation »Die See- und Küstenfischerei Mecklenburgs und Vorpommerns 1918 bis 1960« dargelegt hat, auf den Zusammenschluss der Fischer in Genossenschaften. Raillard spricht hier vom »politischem Wandlungsdruck«, der ab 1954 schrittweise das traditionelle Gewerbe erfasste. Viele Fischer versuchten sich ihre Selbstständigkeit zu bewahren und wehrten sich, den Produktionsgenossenschaften werktätiger Fischer oder, wie sie vereinfacht bald hießen, den Fischereiproduktionsgenossenschaften der See- und Küstenfischer (FPG) beitreten zu müssen.

184 Es ging um den Besitz, also um das Recht, über den Grund und Boden, die Tiere, Ställe und Maschinen selbst verfügen zu können. All dieses blieb zwar de jure in der Genossenschaft weiterhin das Eigentum der Bauern, doch konnten sie hierüber nicht mehr eigenständig verfügen. 185 Flocken, Jan v.; Jurtschitsch, Erwin: »Das hat uns als Tschekisten Spaß gemacht«. Im Einsatz gegen Bauern, Pfarrer und Studenten. Tagebuchaufzeichnungen eines alten Stasi-Generals. In: Der Morgen, Nr. 141, 20. 6.1990, S. 14. 186 Ebenda.

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Ähnlich wie in der Landwirtschaft ersannen die Fischer ein ganzes Spektrum von Reaktionsmöglichkeiten, um sich dem Kollektivierungsdruck entgegenzustellen. Diese reichten von der passiven Verweigerung, dem gemeinsamen Entschluss, nicht einzutreten über den offenen Protest bin hin zur Scheinmitgliedschaft. 187 Erpresst zum Eintritt in die Fischereigenossenschaft wurden auch die Fischer von Spantowerhagen. Auch sie widersetzten sich lange Zeit in passiver Form dem auf sie ausgeübten Druck und wehrten sich nach wie vor gegen die Kollektivierung. Die SED und das MfS suchte nach einer Möglichkeit, um gegen die Verweigerung in dem Fischerdorf bei Lubmin vorgehen zu können. Als Vorwand diente dem MfS der Verkauf von einigen Kisten Fisch an einen westdeutschen Händler »von Bord zu Bord« auf offener See. Die Fischer wurden daraufhin festgenommen und stundenlang verhört. Der MfS-Bezirkschef griff direkt in die Vernehmungen ein und setzte die Fischer gezielt unter Druck. Schließlich traten sie, so beschrieb Alfred Kraus das seiner Ansicht nach »freudige Ereignis«, der Fischereigenossenschaft bei. Ebenso verfuhr man in Levenhagen. Hier hatten sich die Bauern noch im Februar 1960 geweigert, eine LPG zu gründen. Am 23. Februar wurden sieben Bauern vom MfS festgenommen und deren Wohnungen durchsucht. Nach knapp drei Tagen Einzelhaft unterzeichneten die Bauern am 25. Februar das Protokoll zur Gründung der Kolchose. »Ziel« der vorübergehenden Festnahme sei es gewesen, schrieb die Kreisdienststelle Greifswald rückblickend, »die Einzelbauern für die Genossenschaft zu gewinnen«. 188 In einem »Feindtätigkeit im Staatsapparat« überschriebenen Bericht führte Alfred Kraus im Juli 1959 zugleich all jene Kommunalvertreter und Bürgermeister auf, die die Anstrengungen zur Kollektivierung konterkarieren würden. 189 Ein Stadtverordneter in Schönberg bei Wismar weigere sich »konsequent«, schrieb Kraus, »Einzelbauern für die LPG zu gewinnen«. 190 Angezählt wurde ferner ein Mitarbeiter des Rates des Kreises in Grimmen, der behauptet hatte, dass der polytechnische Unterricht in der tierischen Produktion (UTP) an den DDR-Schulen »staatlich organisierte Kinderarbeit« sei. Durch den UTP-Unterricht sollten die LPG, die nach der Flucht vieler Bauern unter Arbeitskräftemangel litten, unterstützt werden. In Elmenhorst bei Grimmen wandte sich ein Einzelbauer, der als Gemeindevertreter von der CDU aufgestellt worden war, gegen die Bildung der LPG. 191 Auch kümmerte sich der 187 Raillard, Susanne: Die See- und Küstenfischerei Mecklenburgs und Vorpommerns 1918 bis 1960. Traditionelles Gewerbe unter ökonomischem und politischem Wandlungsdruck (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 87). München 2012, S. 327–415. 188 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Abschlussbericht, Greifswald, 28.7.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 184/60, Bl. 169–172. 189 MfS, BV Rostock, Leiter der BV, Bericht betr.: Feindtätigkeit im Staatsapparat, Rostock, 28.7.1959: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter der BV, Nr. 97, T. 2, Bl. 449–456. 190 Ebenda, Bl. 449. 191 Ebenda, Bl. 450.

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CDU-Bürgermeister von Krummien, Kreis Wolgast, nicht um die »sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft«; sein Kollege in Zwedorf im Kreis Doberan, so Kraus weiter, trete sogar öffentlich dagegen auf. 192 In der Gemeindevertretung der Stadt Klütz, Kreis Grevesmühlen, distanzierte sich »die Fraktion der CDU« von der Kollektivierungskampagne; in Babelin, im Kreis Wismar, lehne inzwischen die gesamte Gemeindevertretung »geschlossen und wiederholt den Perspektivplan zur sozialistischen Entwicklung in der Landwirtschaft ab«. 193 Trotz der Intervention der Kreisleitung und anderer Funktionäre seien die Babeliner bei ihrem Nein geblieben; es sei bislang »nicht gelungen«, die Gemeindevertreter umzustimmen. 194 Die Verweigerung beinhaltete oft mehr als nur die Nichterfüllung bestimmter Anforderungen, so die Zustimmung zur oder Mitwirkung bei der Kollektivierung, und ging oft mit dem offenen Widerspruch einher. Geschah dies in kollektiver Form, erreichte der Widerspruch eine neue Qualität. In vielen Dörfern regte sich Widerstand: In Groß Lüdershagen, Neu Lüdershagen sowie in Lüssow bei Stralsund verfügte die SED mit zweiundzwanzig Mitgliedern zwar über eine beachtliche Ortsgruppe. Doch vertraten deren Mitglieder kaum die Linie der Partei: In einer Versammlung plädierten die pommerschen Genossen für einen »Sozialismus wie er in Jugoslawien besteht, [...] wo es keine LPG´n gibt«. Im Falle einer Zwangsgründung drohten sie, ihre Parteibücher zurückzugeben. Die Versammlung votierte zugleich gegen den Ausschluss eines in die Bundesrepublik geflüchteten Bauern; dieser, so die Begründung, »könne ja auch in Westdeutschland als Genosse arbeiten«. 195 Erst nach massiven Einschüchterungen und der Flucht zweier weiterer LPG-Verweigerer ging es in Neu-Lüdershagen im März 1960 mit der Kollektivierung voran. 196 Zu diesem Zeitpunkt vermeldete Rostock bereits, als erster DDR-Bezirk »vollgenossenschaftlich« zu sein. 197 Die SED-Bezirksleitung um Karl Mewis forcierte die Erfolgsmeldung mit Blick auf ihrer Wirkung beim Politbüro in Berlin. Ausschlaggebend war, dass in allen Orten Genossenschaften bestanden. Im Wettstreit der Bezirke geflissentlich übergangen wurde hingegen die Frage, ob tatsächlich schon alle Bauern in diesen organisiert waren. In Groß Lüdershagen und Neu Lüdershagen pflegte man fortan eine 192 Ebenda, Bl. 453 f. 193 Ebenda, Bl. 453, 455. 194 Ebenda, Bl. 455. 195 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Abschrift, Bericht des GI »Willi Blaumeise«, Stralsund, 18.9.1957: BStU, MfS, BV Rostock, AU 1769, Bd. I, Bl. 12. 196 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Abschlussbericht, betr.: Vorlaufakte 298/59, Stralsund, 20.5.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 1769/62, Bd. I, Bl. 119 f. 197 Der Bezirk Rostock vermeldete am 4. März, »vollgenossenschaftlich« zu sein. Nach: Weber, Hermann: DDR. Grundriß der Geschichte 1945–1990. Neuaufl., Hannover 1991, S. 303. Problem über den 4. März hinaus gab es auch im Nordteil der Insel Rügen: Zeitzeugengespräch mit Helmut Eikermann, Berlin, 10.2.2010.

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eigene Sicht auf die Dinge: Im März 1974 regte sich in den Dörfern abermals Widerstand. Zuvor hatte die Kreisverwaltung beschlossen, dass sich die LPG dem Volkseigenen Gut in Lüssow anschließen müsse. 198 Bei dem Vorstoß bezog sich der Kreis auf das prosperierende landwirtschaftliche Nebengewerbe in den Dörfern. Zuvor hatten Kontrolleure moniert, dass fünfzehn Bauern seit Jahren eine mit dem Genossenschaftswesen »nicht vertretbare individuelle Hauswirtschaft« betrieben. »Teilweise«, hieß es im Bericht der staatlichen Prüfer, »übersteigt der jetzige Viehbestand den Bestand vor dem Eintritt in die LPG«. Die Einschätzung mochte kaum verwundern. Schließlich mästete einer der Bauern 31 Schweine, ein anderer verfügte über 29 Stück, zudem über 120 Hühner und 7 Ponys. Die anderen Bauern standen hierbei kaum nach, so dass fünfzehn Bauern privat auf insgesamt 308 Schweine, ein paar Dutzend Kühe und mehrere hundert Hühner kamen. 199 Die »Belange der LPG« seien, so hieß es in dem Bericht, für die Betreffenden hingegen nebensächlich; sie kümmerten sich vor allem um ihre »individuellen« Bestände. 200 Auch kam es im Bezirk Rostock in der ersten Zeit immer wieder zu Austritten aus der LPG. Die Bauern stellten sich vor allem dann der Neuordnung entgegen, wenn der Eindruck entstand, der staatliche Druck würde in der bisherigen Form nicht aufrechtzuerhalten sein. Deutlich wurde dies im Zusammenhang mit dem Volksaufstand am 17. Juni 1953. So lief beim Operativ-Stab in Ribnitz die Meldung ein, dass »sich die LPG ›Glückauf‹ in Kribo II ab [dem] 16. Juni [...] schlagartig aufgelöst« habe. Zudem drohten die Bauern in der LPG »Junger Pionier« in Ahrenshagen sowie in Altenhagen bei Velgast, Langenhagen und Grul mit ihrem Austritt. 201 Als »vollgenossenschaftlich« galt ab Ende Februar 1960 auch Hinrichshagen bei Greifswald. De facto löste sich die kurz vor Ultimo gegründete LPG »Heimatland« vom Typ I kurz danach wieder auf. Insgesamt 23 Mitglieder erklärten am 24. Juni 1960 »schriftlich ihren Austritt« aus der LPG. 202 Sie beriefen sich darauf, dass sie der Satzung entsprechen das »Recht haben, zu kündigen«. 203 Erst zwei Wochen später, Anfang Juli 1960, nach dem »Eingreifen der Sicherheitsorgane«, änderte sich die Lage erneut. Die »weitere Entwicklung und Festigung der LPG« sei, so ist es dem MfS-Protokoll zu entnehmen,

198 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Bericht: die Situation in der LPG Wendorf und in der LPG Groß Lüdershagen, Stralsund, 22.3.1974: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 44, Bd. I, Bl. 249–251. 199 Ebenda, Bl. 249 f. 200 Ebenda. 201 MfS, BV Rostock, KD Ribnitz-Damgarten, Meldung vom Operativ-Stab Ribnitz, Wachmeister Neumann, Rostock, 17.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 93. 202 Ebenda. Austrittserklärungen in: BStU, MfS, BV Rostock, AU 91/60, Bd. I, Bl. 257–275. 203 MfS, BV Rostock, Vernehmungsprotokoll des Vorsitzenden der LPG »Heimatland«, wohnhaft in Neu-Ungnade: BStU, MfS, BV Rostock, AU 91/60, Bd. II, Bl. 152–159, hier 157.

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wieder gesichert. 204 Am 1. Juli nahm der Staatssicherheitsdienst zwei der Bauern fest. Sie hatten schon am 15. Juni auf einer Versammlung ihren Austritt aus der LPG erklärt. 205 Bereits vor dem 15. Juni schien die Situation zu eskalieren. Anwesend war an jenem Abend neben dem in Neu Ungnade wohnende LPG-Vorsitzende so vorsorglich auch Staatsanwalt Blaurock aus Greifswald. Beide versuchten vergeblich, den Zerfallsprozess aufzuhalten. Nach der Abgabe der 23 Erklärungen, so die beiden Funktionäre, war die Existenz »der LPG in Frage gestellt«. 206 Staatsanwalt Blaurock glaubte nach dem Abend, die »Rädelsführer« der »offensichtlich organisierte[n] Massenabgabe der Austrittserklärungen« in der LPG »Heimatland« benennen zu können. Unter dem Vorwurf der »staatsgefährdenden Hetze« sollten beide inhaftiert und angeklagt werden. 207 Nach vier Monaten Untersuchungshaft verurteilte sie das Bezirksgerichts Rostock am 4. November zu je sechs Monaten Haft. Am 18. November wurden diese in eine Bewährungsstrafe von zwei Jahren umgewandelt. Der Strafsenat zeigte sich in seiner widersprüchlichen Begründung einerseits davon überzeugt, dass »die bisherige Strafverbüßung zur Umerziehung des Verurteilten ausreichend« sei. Andererseits würde, führte man aus, der Rat der Gemeinde Hinrichshagen »die Gewähr dafür« geben, dass man sich vor Ort »um die weitere Umerziehung des Verurteilten kümmern wird«. 208 So blieben die beiden Aufrührer vom Wohlwollen jener Funktionäre abhängig, denen sie sich entgegengestellt hatten. Auch kam es entlang der Küste immer wieder zu Aktionen des offenen aktiven Widerstands gegen die forcierte Kollektivierung. Neben verschiedenen Scheunen, Viehställen und Wirtschaftsgebäuden, die in jener Zeit aus Protest in Flammen aufgingen, wehrten sich einzelne Bauern auch mit Flugblättern und Losungen gegen die Zwangsmaßnahme. In Klein Zastrow bei Greifswald fand das MfS bei einer ihrer Erkundungsfahrten »im Februar 1960 [...] an einer Milchrampe eine Hetzlosung, welche gegen die Gründung einer LPG gerichtet war«. 209 Bereits seit 1950 waren in dem Dorf anonyme Karten und 204 MfS, BV Rostock, Vernehmungsprotokoll des Vorsitzenden der LPG »Heimatland«, wohnhaft in Neu Ungnade: BStU, MfS, BV Rostock, AU 91/60, Bd. II, Bl. 152–159, hier 158. 205 Schreiben des Staatsanwaltes des Bezirkes Rostock, an den Haftrichter der Abt. I, Rostock, Rostock, 2.7.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 91/60, Bd. II, Bl. 10; Schreiben des Kreisgerichtes Rostock/Land, in der Ermittlungssache gegen den [Name] wegen Staatsgefährdender Propaganda und Hetze, Rostock, 2.7.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 91/60, Bd. II, Bl. 12. 206 Schreiben Staatsanwalt des Bezirkes Rostock, an das Bezirksgericht Rostock, I. Strafsenat, Rostock, 11.7.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 91/60, Bd. II, Bl. 41–42, hier 41. 207 Ebenda, Bl. 42. 208 Beschluß des 1. Strafsenates des Bezirksgerichtes Rostock, in der Strafsache gegen den Landwirt [Name], I 143/60, Rostock, 14.11.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 91/60, GA/ASt, Bd. III, Bl. 140 sowie ebenso, gegen den Landwirt [Name]: BStU, MfS, BV Rostock, AU 91/60, GA/ASt, Bd. III, Bl. 142. 209 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Abschlussbericht, Betr.: Operativ-Material Klein Zastrow, Greifswald, 28.7.1960: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 402, Bl. 83.

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Briefe, die sich gegen die SED wandten, aufgetaucht. In Niepars im Kreis Stralsund verfasste eine Bäuerin mit ihrer Tochter von Ende April bis Juni 1957 mehrere Flugblätter gegen die Zwangskollektivierung. 210 In Versform verpackt, übten sie darüber hinausgehend Kritik an den Verhältnissen in der DDR. In einem der Flugblätter hieß es: »(…) Wir wollen ein Deutschland frei und rein, da gehört kein Pieck und Genossen hinein. Gebt freie Wahlen [...] Der 17. Juni ist nicht weit, haltet aus, wir haben die Waffen bereit. Es lebe der 17. Juni. Fortsetzung folgt.« 211 Nach längeren Ermittlungen erfolgte kurz vor Weihnachten die Festnahme durch die Kreisdienststelle Stralsund. Am 20. Dezember 1957 wurden sie in die MfS-Untersuchungshaftanstalt nach Rostock verbracht. Der Erste Strafsenat des Bezirksgerichts verurteilte die zwei Landarbeiterinnen in seiner Sitzung am 24. März 1958 »wegen staatsgefährdender Hetze« und »Anstiftung zu Verbrechen« zu drei Jahren Zuchthaus bzw. zu neun Monaten Gefängnis. 212 2.2.2 Widerspruch und Widerstand nach dem Mauerbau Widerspruch und Protest gegen den Mauerbau regten sich an der Küste in vielfältiger Weise. Die SED und die Stasi reagierten hierauf unmissverständlich und schöpften die geheimpolizeilichen und strafrechtlichen Möglichkeiten voll aus. Diejenigen, die ihrem Unmut trotz der drohenden Strafe freien Lauf ließen, beschränkten sich nicht nur auf den Mauerbau. Sie kritisierten zumeist die SED insgesamt, empörten sich über die Sowjetunion, die das Regime am Leben erhielt, und sprachen abfällig über den »Spitzbart« – Walter Ulbricht –, den Vorsitzender der SED und Moskaus Statthalter in der DDR. Bis zum 19. September inhaftierte die Stasi im Ostseebezirk 92 Personen, 59 von ihnen unter dem dringenden Tatverdacht der »staatsgefährdenden Hetze«. 213 Am 14. August nahm die Stasi eine Kellnerin im Ostseebad Sellin fest, die am Tag zuvor ihrem Unmut über die Grenzschließung kundgetan hatte. Das Bezirksgericht Rostock verurteilte sie nach elf Tagen Untersuchungshaft am 25. August zu acht Monaten Haft. Von einem Urlauber angezeigt wurde zudem ein Frisör auf Hiddensee, der sich im Strandkaffee laut vernehmbar gegen den Mauerbau ausgesprochen hatte. Zwei Jahre Haft lautete das Urteil, das das 210 Erster Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock, Urteil, Sitzung am 24.3.1958, Rostock, 31.3.1958: BStU, MfS, BV Rostock, AU 29/58, Bl. 161–169, hier 162; MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Schlussbericht, Rostock, 13.2.1958: BStU, MfS, BV Rostock, AU 29/58, Bl. 171– 177. 211 Ebenda, Bl. 164. 212 Ebenda, Bl. 161. 213 Heinz, Michael; Krätzner, Anita: Verurteilt wegen »staatsgefährdender Hetze«. Reaktionen im Bezirk Rostock auf den Mauerbau 1961. In: Zr. 15 (2011) 2, S. 39–49, hier 47.

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Bezirksgericht am 14. September gegen ihn verhängte. 214 In Zinnowitz gerieten ein Rettungsschwimmer und ein Kellner in das Visier der Staatssicherheit. Sie hatten sich in einer Kneipe gegen die Schließung der Sektorengrenze ausgesprochen. Dem Rettungsschwimmer wurde zudem vorgeworfen, über den Strandlautsprecher westliche Schlager abgespielt zu haben. Nach ihrer Inhaftierung verurteilte das Bezirksgericht beide zu je 3 ½ Jahren Haft. 215 Ähnlich erging es einem Elektriker der Altenpleener Landmaschinenstation bei Stralsund. Er wurde zu vier Jahren und drei Monaten Zuchthaus verurteilt. Vorgeworfen wurden ihm nicht nur seine kritischen Äußerungen zum Mauerbau. Als Hörer des West-Radios, dessen Empfang bekämpft wurde, nahm er neben Musiksendungen mehrere Reden bundesdeutscher Politiker und Kommentare nach dem 13. August auf und spielte sie im Bekanntenkreis vor. 216 Die technischen Neuerungen, deren Vermarktung Anfang der sechziger Jahre auch in der DDR anlief, nutzten zwei Lehrlinge in Rostock, um ihrer Unzufriedenheit mit den Verhältnissen auszudrücken. Auf einem Spulentonband produzierten sie eine fiktive Rundfunkaufnahme, in der neben der Sowjetunion und dem Mauerbau der Schusswaffengebrauch an der Grenze verurteilt wurde. Zufällig fand ein Lehrer die Bänder und zeigte sie an. Am 27. Februar 1962 verhängte das Bezirksgericht gegen beide eine Freiheitsstrafe von je einundzwanzig Monaten Haft. 217 Nicht bei allen Taten gelang es der Stasi und der Volkspolizei, die Urheber ausfindig zu machen. Im Kreis Greifswald tauchten bis zum 29. September 1961 148 Flugblätter auf und auch rund um den Seehafen Rostock galt es vermehrt Losungen zu entfernen. 218 In einem in Stralsund am 20. August aufgefundenen Flugblatt fragte der Verfasser »Ulbricht und Genossen! Warum laßt ihr Flüchtlinge wie Raubtiere erschießen? Diese Verbrechen wird [...] nie vergessen. [...] Wie lange könnt ihr es noch verantworten. Handelt menschlich. [...]«. 219 Auf der Insel Hiddensee tauchte am 14. August eine wohl von Studenten aus Rostock und Greifswald abgefasste Resolution auf. In ihr for214 BStU, MfS, BV Rostock, AU 77/61, GA, Bd. II, Bl. 83. 215 MfS, BV Rostock, Einlieferungsanzeige, Wolgast, 9.8.1961: BStU, MfS, BV Rostock, AU 133/61, Bd. II, GA, Bl. 5 f.; Bezirksgericht Rostock, 1. Strafsenat, Urteil, 30.10.1961: BStU, MfS, BV Rostock, AU 133/61,Bd. VI., GfA, Bl. 7–12. 216 MfS, BV Rostock, UHA, Übersichtsblatt: BStU, MfS, BV Rostock, AU 148/61, Bd. III, GA/ASt, Bl. 36–38; Bezirksgericht Rostock, 1. Strafsenat, Urteil vom 14.12.1961: BStU, MfS, BV Rostock, AU 148/61, Bd. III, GA/ASt, Bl. 42–52. 217 BStU, MfS, BV Rostock, AU 435/61; Bezirksgericht Rostock, 1. Strafsenat, Urteil, Rostock, 27.2.1962: BStU, MfS, AU 574/62, Bd. IV, GA/ASt, Bl. 78–86; MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Schlußbericht, Rostock, 19.12.1961: BStU, MfS, AU 574/62, Bd. IV, GA/ASt, Bl. 87– 102. 218 Heinz, Michael; Krätzner, Anita: Verurteilt wegen »staatsgefährdender Hetze«. Reaktionen im Bezirk Rostock auf den Mauerbau 1961. In: Zr. 15 (2011) 2, S. 39–49, hier 43. 219 MfS, BV Rostock, Abt. V/2, Einschätzung, betr.: Hetzlosung vom 26.7.1962 in der Volkswerft Stralsund, Stralsund, 22.8.1962: BStU, MfS, BV Rostock, AS 264/81, Bl. 44 f., 48.

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derten die Verfasser: »Wir wollen unsere Freiheit haben, wir sind erwachsene Menschen und müssen selbst wissen, wohin wir zu gehen haben oder nicht«. 220 Es gab vielfältige Formen, seine Missbilligung auszudrücken. Die StasiKreisdienststelle in Doberan sammelte verdeckt belastendes Material gegen mehrere Schüler einer Abiturklasse der Kreisstadt. Gleich drei Spitzel informierten die Geheimpolizisten zuvor darüber, dass die Betreffenden seit Mitte August 1961 »passiven Widerstand in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern leisteten und im Unterricht provokatorisch auftraten«. Von den Schülern würden unerwünschte Fragen gestellt, auf den »Widerspruch zwischen Wort und Tat« in der DDR hingewiesen und die Schüler, die »gut mitarbeiteten [...] durch verächtliche Bemerkungen bedacht«. Da die Schüler nach Ablegen des Abiturs die Schule verließen, stellte die Stasi die »Bearbeitung« ein. In einem Fall sorgte man dafür, dass dem Betreffenden ein Ausbildungsplatz bei der Marine verwehrt wurde. 221 In Bergen auf Rügen tauchte in einem Raum der Oberschule nach dem Mauerbau die Kreidelosung auf, »es wird doch einen 3. Weltkrieg geben«. Der Spruch stammte allem Anschein nach von einem Schüler der 7. Klasse. 222 Zwei Monate später – im Oktober 1961 – schrieben »unbekannte Täter in Blockschrift und mit Kreide die Losung ›Freiheit ohne Kommunismus‹« an die Erweiterte Oberschule. Die herbeigerufenen Einsatzkräfte fanden an einem weiteren Gebäude die Losung »Freiheit für die DDR«. Bezeichnenderweise hatten am Abend zuvor 26 Schüler unter Aufsicht im Fernsehraum der Schule den Film »Gewissen in Aufruhr« ansehen müssen. Ob einer von ihnen seine eigenen Schlüsse hieraus zog und selbstständig handelte, blieb ungeklärt. 223 Nicht gegen alle Äußerungen vermochte die SED vorzugehen. Eine Ausnahme bildete auch hier der kirchliche Bereich. Zum Teil erfolgten die eindeutig zu verstehenden Anspielungen verklausuliert genug, um strafrechtlich nicht geahndet werden zu können. Zum anderen hätte man die Namen derjenigen, die die Gottesdienste im Auftrag der SED überwachten, nennen müssen. Zum dritten glaubte man angesichts der angespannten Situation, nicht noch mit der Kirche in Konflikt geraten zu wollen. Auch über den August 1961 hinaus blieb die Kritik am Mauerbau virulent. Auf einem bei den Einheitslisten-Wahlen am 17. September 1961 in Kröpelin in die Urne eingeworfenen Wahlschein hieß es, »Ich wähle Willi [sic!] Brandt

220 Eisenfeld, Bernd; Engelmann, Roger: 13.8.1961: Mauerbau. Fluchtbewegung und Machtsicherung. 2. Aufl., Bremen 2001, S. 75. 221 MfS, BV Rostock, KD Doberan, Abschlussbericht, Doberan, 7.7.1962: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1565/62, Bl. 71 f. 222 MfS, HA XX, Nr. 6187, Bl. 317. 223 MfS, BV Rostock, KD Rügen, Sachstandsbericht, Bergen, 10.11.1961: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1269/63, Bl. 15–18.

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– Berlin gehört zu ganz Deutschland – Weg mit dem Stacheldraht«. 224 Während in einem Greifswalder Wahllokal ein Jugendlicher versuchte, »seinen Stimmzettel zu zerreißen«, wurde im nahen Radlow bei Züssow die schwarzrot-goldene Fahne »ohne Emblem angebracht«. Der Leiter der LPG und der Vorsitzende des Wahlvorstandes, der Parteisekretär vor Ort, erklärten übereinstimmend, »dass Radlow neutral sei und kein Emblem braucht«. 225 Für sie sei ganz Deutschland das Vaterland. Erst im Oktober 1959 waren Hammer, Zirkel und Ährenkranz als Emblem in die Fahne eingefügt worden. Auch später noch kam der Mauerbau zur Sprache. So auf einer Veranstaltung im September 1965, zu der der Rat des Bezirkes christliche Amtsträger nach Züssow geladen hatte. Auf dem Treffen, das an sich dem Zweck dienen sollte, die Pfarrer für die Politik der SED zu gewinnen, betonte Rostocks Landessuperintendent Heinz Pflugk, »daß er mit den Maßnahmen vom 13.8.1961 nicht einverstanden sei«. 226

2.2.3 Das Jahr 1968. Volksbefragung und Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 marschierten Kampfverbände der Warschauer Vertragsstaaten in die Tschechoslowakei ein. Sie besetzten strategisch wichtige Kreuzungen und Gebäude, wie das von Demonstranten umstellte Rundfunkgebäude in Prag-Žižkov. Offiziell sprach die Propaganda davon, dass man einer Bitte aus Prag um brüderliche Hilfe nachgekommen sei; als Kronzeugen sollten einige Parteikader benannt werden. De facto kam der Einmarsch, auch wenn diese zunächst offiziell im Amt blieb, einer Entmachtung und Absetzung der bisherigen Reformregierung unter Alexander Dubček und Ota Sik gleich. Niedergeschlagen und im Keim erstickt wurden somit alle Versuche, den Sozialismus zu reformieren und ihm ein, wie es hieß, menschliches Antlitz zu verleihen. Verfolgt wurden die als »Prager Frühling« bekannt gewordenen Reformbestrebungen auch von vielen Menschen in den anderen Ostblockstaaten – so auch der DDR – die auf eine Änderung der Verhältnisse in ihren Ländern hofften. Am Radio verfolgten sie seit längerem die zunehmenden Spannungen und die Versuche der Sowjetunion, die Prager Reformer 224 MfS, BV Rostock, Leiter der BV, Oberst Kraus, an das MfS, Stellvertreter des Ministers, Generalmajor Beater, Bericht, betr.: Aktion »Hammerschlag«: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter der BV, Nr. 109, T. I, Bl. 218–229, hier 223. 225 Ebenda, Bl. 221 f. 226 MfS, ZAIG, Ablage, Information über eine Veranstaltung des Rates des Bezirkes Rostock mit Christen am 6.9.1965 in den Diakonie-Anstalten Züssow/Greifswald: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 1088, Bl. 1–4, hier 2.

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einzuschüchtern. Über Nacht zerschlugen sich mitten im Sommer die Hoffnungen auf ein erträglicheres Leben im Staatssozialismus der Einparteiendiktatur. Während die östlichen Rundfunkanstalten am Morgen des 21. August ein vorgefertigtes Pamphlet verbreiteten, berichteten die westlichen Sender laufend über die neuesten Entwicklungen, die Proteste und den Widerstand in Prag und wurden so zur bevorzugten Informationsquelle. Die Meldung vom Einmarsch im Prag erreichte viele DDR-Einwohner während ihres Urlaubes am Ostseestrand sowie auf den Inseln Hiddensee, Rügen und Usedom. In den überfüllten Ostseebädern wurden die sowjetischen Panzer in Prag – wie andernorts in der DDR – für Tage zum dominierenden Thema; Unverständnis, Frustration, Ohnmacht und Wut waren vielerorts spürbar. Hinzu kam, dass an den Ostseestränden viele Urlauber aus der Tschechoslowakei weilten, die die Nachricht vom Einmarsch in ihr Heimatland besonders hart traf. Zum einen stellten sie ein Sicherheitsrisiko dar; zum anderen saß ein Teil von ihnen im Bezirk Rostock fest, da eine Rückkehr in die Tschechoslowakei in den ersten Tagen nicht möglich war. Die staatlichen Stellen richteten im Bezirk »für die Zurückhaltung ausländischer Bürger [...] zwölf Sammelräume« ein. Am 23. August meldete die Stasi nach Berlin, dass in ihnen »1 167 Tschechen«, 92 Ungarn, 7 Bulgaren und 4 Rumänen untergebracht seien. 227 Derweilen bemühten sich die SED, die FDJ, die Einheitsgewerkschaft FDGB und die Stasi nicht nur, jedwede Unmutäußerung im Keim zu unterdrücken. Gleichzeitig drängte man in den Betrieben und Kultureinrichtungen die Angestellten dazu, Zustimmungserklärungen zum Einmarsch und zur Niederschlagung des »faschistischen Putsches« abzugeben und zu unterschreiben. Jene füllten in den darauffolgenden Tagen die Partei- und Tageszeitungen der DDR und suggerierten, dass der Einmarsch auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stoße. 228 Die hohe Zahl von »Widerstandsdelikten« legte etwas anderes nahe. In der Regel bezogen sich die von der Stasi intern erstellten Angaben zum »Widerstandsgeschehen« auf das Jahr 1968 insgesamt. Da sich 1968 mehrere Widerstandshandlungen gegen die neuen DDR-Verfassung und die zum Schein im April abgehaltene, kaum demokratische Volksbefragung richteten, ist eine Ausdifferenzierung nur zum Teil möglich. Die vielen Widerstandshandlungen markieren jedoch einen quantitativen Sprung, der sich so vor und nach dem August des Jahres 1968 in dieser Form nicht nachweisen lässt. Erst 1976 nach der Biermann-Ausbürgerung und im Herbst 1989 kam es zu einem vergleichbaren Anstieg. Bis Ende Juni 1968 inhaftierte die Staatssicherheit im Ostseebezirk 11 und im zweiten Halbjahr – nach dem Einmarsch 227 MfS, BV Rostock, Stellvertreter Operativ, Meldung an das MfS, Arbeitsgruppe des Ministers, Rostock, 23.8.1968: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter der BV, Rep. 2, Nr. 393, Bl. 14. 228 Lübke, Katharina: 1968 – Aktionen und Reaktionen zum Einmarsch in die ČSSR im Bezirk Rostock. In: ZdF (2010) 28, S. 142–157.

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in die ČSSR – nochmals 34 Menschen unter dem Vorwurf der »staatsgefährdenden Propaganda und Hetze«. Zudem sollten von der Volkspolizei im Jahr 1968 insgesamt, wie es in einem Bericht hieß, »168 Bürger wegen Staatsverleumdung zur Verantwortung gezogen« werden. Auch sie hatten Kritik an den politischen Verhältnissen geübt. Im gesamten Jahr tauchten entlang der Ostseeküste an Wände, Zäune, Bushaltestellen und an ähnlichen Stellen 72 »Hetzlosungen« auf. Wie bei den nachfolgenden Aktionen auch, richteten sich die meisten gegen die Volksbefragung oder den Einmarsch in die ČSSR. In Greifswald, so erzählten sich die Leute in der Stadt, hatte jemand Unbekanntes ein großes NEIN nachts vor der Volksabstimmung auf die Straße gemalt. 229 Doch erwies sich die Aufklärungsquote im Fall der Losungen, so räumte selbst die Stasi intern ein, als »äußerst mangelhaft«. Inhaftierte man im 1. Halbjahr grade mal zwei der Urheber, so blieben die 48 Aktionen des zweiten Halbjahres mehrheitlich unaufgeklärt. Hinzu kamen im Bezirk 1968 acht Flugblattaktionen: In Dranske auf Rügen nahm man daraufhin einen dreißigjährigen Arbeiter und in Rostock einen fünfzehnjährigen Elektrohelfer der Neptun-Werft fest. Letzterer hatte am Abend des 24. Oktober 1968 insgesamt 56 Flugblätter, wie die Stasi monierte, »an sehr belebten Orten im Stadtgebiet von Rostock abgelegt«. 230 In Greifswald tauchten im April 58 Flugblätter, die sich laut MfS »gegen den Volksentscheid richteten«, auf. 231 Der Einmarsch der Warschauer-Pakt Truppen in der ČSSR ging für die Verantwortlichen im Bezirk Rostock mit einer erhöhten Sicherheitsstufe einher. Dabei wurden die an den Stränden des Bezirks weilenden Tschechen und Slowaken von der SED und der Stasi als besonderes Sicherheitsrisiko betrachtet. So erreichte den Einsatzstab die Meldung, dass Autotouristik-Reisende aus der ČSSR auf dem Thälmannplatz in Rostock »Gruppen bilden und diskutieren«. Nicht ohne Grund befürchtete man Unruhe durch lautstark geäußerte Kritik und eine Solidarisierung mit den Landsleuten zu Hause. Mehrere Aktionen sollten in den folgenden Tagen diese Befürchtung bestätigen. Offensichtlich schienen bei ihnen Tschechen bzw. Slowaken die Urheber zu sein. Auf dem Zeltplatz Lobbe auf Rügen fand man ein Transparent mit der Losung »Hände weg von der ČSSR«. Im Saßnitzer Fischwerk torpedierte zugleich eine ČSSR-Studentengruppe die Arbeit. Die als Aushilfskräfte im »Studentensommer« eingesetzten Hochschüler stellte die Forderung, mit ihrer Botschaft in Verbindung gesetzt zu werden und kündigten eine Resolution an. 232 In der 229 MfS, KD Greifswald, Operativplan zur VA »Falle«, Greifswald, 22.4.1968: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 47/70, Bd. I, Bl. 60–71, hier 69. 230 MfS, BV Rostock, AIG, Einschätzung der feindlichen Tätigkeit im Jahre 1968, Rostock, 9.1.1969: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter der BV, Nr. 20, Bd. I, Bl. 24–52. 231 Ebenda, Bl. 36. 232 MfS, BV Rostock, Einsatzstab, Lagefilm: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter der BV, Rep. 2, Nr. 393, Bl. 19–28.

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folgenden Nacht zum 22. August kam es zu einer weiteren Widerstandsaktionen tschechischer bzw. slowakischer Urlauber. An der sowjetischen Kaserne in Saßnitz hatten Unbekannte am Eingangstor den Sowjetstern entfernt und stattdessen ein Plakat mit dem tschechoslowakischen Wappen angebracht. Auf einem Pappschild stand daneben zu lesen, »gehen sie nach Hause aus der Tschechoslowakei« und »weg aus der Tschechoslowakei«. 233 Auch an anderen Orten entlang der Küste blieb es nicht ruhig. Am 23. August zogen vier Studenten aus der Tschechoslowakei mit einem Transparent durch Kühlungsborn. Auf Tschechisch konnte man lesen »Abberufung eurer Armee aus der ČSSR. Die ganze Welt wird ihnen dafür dankbar sei.« »Ganze Welt hinter ihr dankbares Widerruf seines Heer aus ČSSR. Sie morden klein Kinder« hatten die Studenten auf Deutsch hinzugefügt. Sie wurden von einem Volkspolizisten gestoppt und verwarnt. Gleichzeitig endete hiermit ihr Aufenthalt als Gaststudenten im Rahmen des Urlauberaustausches zwischen der ČSSR und der DDR. 234 In den folgenden Tagen trafen beim vierköpfigen Einsatzstab in Rostock weitere Meldungen aus Saßnitz ein. Am 24. August übergab der Leiter der Fischereiproduktionsgenossenschaft »Frischer Wind« der Volkspolizei ein Plakat, das anscheinend Gäste aus der ČSSR an einem Zaun befestigt hatten. »Russen schämt euch nicht? Die unschuldigen Kinder der ČSSR erschiessen?«, stand hier auf Packpapier. In der Nähe des Fischkombinats fand die Polizei ein weiteres Plakat, auf dem die Frage lautete, »Erlaubt ihr nicht? Daß das Blut von euren Söhne für die UdSSR vergießen würde«. Am 26. August meldeten »aufmerksame Bürger«, das im Kurpark jemand »Sowjetunion weg aus der ČSSR« und »Go home« auf eine Bank geschrieben hatte. Am Leuchtturm war am Tag zuvor auf Tschechisch und auf Deutsch die Losung »Es lebe Dubcek« aufgetaucht.235 Auch aus dem Seemannsheim galt es einen Vorfall zu vermelden: »Achtung – Nieder mit den Aggressoren in der ČSSR« lautete die Losung, die von jemandem mit einem spitzen Gegenstand in den Putz geritzt worden war. 236 Trotz der gesicherten Spuren, etlicher Verdächtigungen, dem verstärkten Streifeneinsatz und dem Einsatz von »Fährtenhund ›Alf aus dem Fliederweg‹« gelang es der Polizei und der Stasi nicht, die Verfasser zu ermitteln. 237 Aber auch viele Deutsche wandten sich mit mutigen Aktionen gegen den Einmarsch. Wie bei den Losungen in Saßnitz blieben nach dem 21. Au233 MfS, BV Rostock, Einsatzstab, Lagefilm: BStU, MfS, Leiter der BV, Rep. 2, Nr. 406, Bl. 5 f. 234 BDVP, Abt. K, Dezernat I, 12. Informationsbericht, Rostock, 24.8.1968: BStU, MfS, BV Rostock, StvOp. Nr. 21, Bl. 99 f. 235 VPKA Rügen, VP Revier Saßnitz, Protokoll, Saßnitz 26.8.1968: BStU, MfS, Leiter der BV, Rep. 2, Nr. 406, Bl. 24 f. 236 MfS, BV Rostock, Einsatzstab, Lagefilm: BStU, MfS, Leiter der BV, Rep. 2, Nr. 406, Bl. 40. 237 VPKA Stralsund, Bericht, Saßnitz, 24.8.1968: BStU, MfS, Leiter der BV, Rep. 2, Nr. 406, Bl. 20.

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gust 1968 mehr als die Hälfte dieser Widerstandstaten im Bezirk Rostock unaufgeklärt. Trotz aller Anstrengungen gelang es der Stasi nicht, die Urheber zu ermitteln. Zu hoch war der »Anfall« von Losungen und Flugblättern innerhalb kürzester Zeit. Nur bei der verbal geäußerten Kritik, den von der Stasi »mündliche Hetze« genannten Vorkommnissen, lag die Aufklärungsrate höher. Wenn eine solche eine Denunziation die Stasi erreichte, wurde die Person, die Kritik geübt hatte, in der Regel namentlich gleich mitgenannt. Auf den Asphalt der vielbefahrenen Fernverkehrsstraße 96 sowie auf ein Verkehrsschild schrieben Unbekannte in der Nacht zum 28. August an vier Stellen zwischen Rambin auf Rügen und Bandelin bei Gützkow mit weißer Farbe mehrere Losungen: »Bravo ČSSR«, »Es lebe Dubček«, »Achtung – Radio DDR lügt« lauteten die Sprüche. 238 Auch andernorts im Bezirk fanden die Polizei und die Staatssicherheit Losungen. In Tribsees schrieben zwei Jugendliche an drei Stellen in der Kleinstadt ihren Protest an die Wand. 239 Ebenso hatte jemand an ein Buswartehäuschen an der Fernverkehrsstraße 105 bei Wismar den Slogan »Russen raus – Freiheit für die ČSSR« angebracht. In Barth tauchte am 7. September ein DIN-A5-großes Flugblatt auf, in dem es unter anderem hieß, »Hakenkreuze für die Panzer [...] /Nieder mit den Ulbricht-Landsern/ [...] Auch bei uns wird es einmal knallen [...]«. 240 Von denen, die nach dem 21. August in Haft gerieten, hatte manch einer nur seinen Unmut in allzu deutlicher Form geäußert. In Wismar inhaftierte die Staatssicherheit am 28. August auf der Mathias-Thesen-Werft zwei Elektriker. Dem MfS galten sie als Rädelsführer der seit längerem in mehreren Brigaden virulenten Diskussionen, in denen sich zwei Dutzend Arbeiter mehr oder weniger offen gegen die SED aussprachen. Am 18. November verurteilte sie das Bezirksgericht wegen »staatsgefährdender Hetze« und »Staatsverbrechen, die gegen einen verbündeten Staat gerichtet sind« zu zwei bzw. drei Jahren Haft. Im August, so hielten ihnen die Richter unter anderem vor, hätten sie »die Hilfsmaßnahmen der soz[ialistischen] Bruderländer mit der faschistischen Okkupation 1938 gleich« gesetzt. Seit längerem verweigerten sie zudem, »10 % ihres FDGBBeitrages für das vietnamesische Volk zu spenden«, weil der Krieg »durch neue Waffenkäufe verlängert« würde. 241 Ähnlich erging es einer Kellnerin eines Strandkaffees, die mit einem tschechischen Barkeeper verlobt war. Zum Zeitpunkt der Invasion hielt sie sich bei 238 MfS, BV Rostock, Einsatzstab, Lagefilm: BStU, MfS, HA IX, MF 1239, Bd. II. 239 MfS, BV Rostock, [Bericht über] die Reaktionen der Bevölkerung auf die Hilfsmaßnahmen der fünf sozialistischen Länder gegenüber der CSSR, Rostock, 11.9.1968: BStU, MfS, Leiter der BV, Bd. III, Bl. 266–283. 240 MfS, BV Rostock, Einsatzstab, Lagefilm: BStU, MfS, HA IX, MF 1239, Bd. II. 241 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Bericht, Rostock, 2.9.1968: BStU, MfS, BV Rostock, AS 637/70, Bd. III, Bl. 22–27, sowie MfS, BV Rostock, Abt. IX, Abschlussbericht: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 150/69, Bl. 58–62.

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ihm in der ČSSR auf. Nach ihrer Rückkehr an die Ostsee berichtete sie ihren Kollegen ausführlich über das, was sie in der ČSSR hautnah miterlebter musste. Die Stasi sprach anschließend davon, dass sie ihre Erlebnisse vor ihrem Arbeitskollektiv auswertete und gegen die »Hilfsmaßnahme hetzte«. Ihre Schilderungen ließen keine Zweifel an den Vorgängen im Nachbarland zu. Sie berichtete, dass Soldaten auf Demonstranten schossen und Panzer Menschen überrollten. Am 26. Oktober verhafteten Stasi-Mitarbeiter die Kellnerin. Wie auch andere Kritiker sperrte man sie in die MfS-Untersuchungshaft in der August-Bebel-Straße. Am 29. November verurteilte sie das Bezirksgericht zu einem Jahr und sechs Monaten Haft. 242 Am 31. August 1970 nahm man in Greifswald einen achtzehnjährigen Schüler fest und verurteilte ihn nach sieben Monaten in der Untersuchungshaft zu zwei Jahren Freiheitsentzug. Nach dem Einmarsch in die ČSSR schrieb er einen anonymen Brief an eine Deckadresse der Radiosendung »Briefe ohne Unterschrift« der britischen BBC. Er schilderte in dem Brief, dem weitere folgenden sollten, nicht nur seine Erlebnisse im August 1968. Exakt beschrieb er zugleich, warum viele Abiturienten und Studenten vor einer kritischen Stellungnahme zurückschreckten. Zwar seien fünf weitere Schüler in seiner Klasse seiner Meinung und verurteilten den Einmarsch in die Tschechoslowakei. In der hierzu von den Lehrern angesetzten Diskussion würde er »seine wahre Meinung nicht« preisgeben, weil er befürchten müsse, »daß eine gegenteilige Meinung seinen Ausschluß von der Schule zur Folge haben könnte«. Nach mehreren abgefangenen Briefen fand die Schriftenfahndung schließlich den Schüler und inhaftierte ihn. 243 Anders als an den meisten Schulen und Universitäten sah die Situation in den Betrieben aus. Häufig wurde hier gegen den Einmarsch eindeutig Stellung bezogen. Offen wurde in jenen Tagen, obwohl dies als nicht statthaft galt, an vielen Arbeitsplätzen West-Radio gehört. So im »Gastmahl des Meeres« und im benachbarten Ostsee-Druck in Rostock. Nicht wenige Arbeiter und auch ganze Brigaden verweigerten die ihnen abverlangten Zustimmungserklärungen. Ihre Unterschrift verwehrten unter anderem sechs Mitarbeiter von Rügen-Radio und sechs Ingenieure des Fischkombinates Rostock und die, wie es hieß, »Jugendlichen« im Milchkombinat Stralsund. Selbst einzelne Lehrer, so in Kühlungsborn und an der 15. Oberschule in Rostock, ließen sich nicht 242 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Bericht, Rostock, 5.11.1968: BStU, MfS, BV Rostock, AS 637/70, Bd. I, Bl. 298–301; Urteil des 1. Strafsenates des Bezirksgerichts Rostock, Rostock, 27.3.1969: BStU, MfS, BV Rostock, AU 99/69, GA/ASt, Bd. IV, Bl. 52–63, hier 52. 243 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Sachstandsbericht, Greifswald, 20.3.1970: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 939/71, Bl. 51–53; MfS, BV Rostock, Beschluß: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 939/71, Bl. 155; MfS, BV Rostock, Beurteilungsblatt: BStU, MfS, HA IX Mr. 17216, Bl. 39; MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Abschlussbericht, Greifswald, 16.8.1984: BStU, MfS, HA XX/AKG Nr. 2391, Bl. 1.

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vereinnahmen. Drei Lehrer in Rethwisch wiesen ihren Parteisekretär in aller Öffentlichkeit darauf hin, dass sie »gezwungen [seien], westliche Rundfunkund Fernsehsender zu empfangen, um richtig informiert zu sein«. Die Tschechen, argumentierten die Lehrer weiter, »wollten [...] nur einen freiheitlichen Sozialismus, der jedoch von der Sowjetunion abgelehnt werde, was letzten Endes der Grund für den Einmarsch der Truppen sei«. 244 Auch einige Künstler verweigerten die Unterschrift unter die Zustimmungserklärung. Während einige, wie der Usedomer Maler Otto NiemeyerHolstein, vorschoben, »daß sie keine Zeit hätten, sich um Politik zu kümmern«, sprachen sich andere gegen den Einmarsch aus. Von Jo Jastram erfuhren die von der SED ausgesandten Agitatoren, dass er »bis auf die Knochen Antimilitarist« sei und »daher [...] mit [den] Zwangserklärungen nicht einverstanden« sein könne. Der Einmarsch, so Jastram weiter, wäre »mit der amerikanischen Aggression in Vietnam und der Besetzung der ČSSR durch die Faschisten zu vergleichen«. 245 Die Proteste gegen den Einmarsch hielten über den August hin an. Am 9. September fand die Transportpolizei in Wismar einen Kesselwagen der Deutschen Reichsbahn auf dem in kyrillischen Buchstaben »Russki schlecht – Russki nach Haus« stand. 246

2.3

Die siebziger Jahre

Verglichen mit den Sechzigern mit dem folgenschweren Mauerbau und dem Einmarsch 1968 in Prag erscheinen die siebziger Jahre vielen Zeitzeugen im Rückblick wie die langen Jahre der DDR. Ende der sechziger Jahre suggerierte die Neubebauung des Leninplatzes und des Alexanderplatzes mit dem Fernsehturm in Ost-Berlin abermals den »Aufbruch nach Utopia«. 247 Die Regionen gerieten demgegenüber im Lauf der Jahre ins Hintertreffen. 1967 eröffnete in Rostock noch das Interhotel Warnow – ursprünglich sollte hier ein Arbeiterwohnheim entstehen. Die DDR hielt Ausschau nach Devisen und verbannte die Arbeiterunterkünfte in die Neubaugebiete am Rande der Stadt. In

244 MfS, BV Rostock, [Bericht über] die Reaktionen der Bevölkerung auf die Hilfsmaßnahmen der fünf sozialistischen Länder gegenüber der CSSR, Rostock, 11.9.1968: BStU, MfS, Leiter der BV, Bd. III, Bl. 266–283. 245 Ebenda, Bl. 282. 246 MfS, BV Rostock, Einsatzstab, Lagefilm: BStU, MfS, HA IX, MF 1239, Bd. I. 247 Wolle, Stefan: Aufbruch nach Utopia. Alltag und Herrschaft in der DDR 1961–1971. Berlin 2011.

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Warnemünde erbaute von 1969 bis 1971 die schwedische SIAB-Gruppe das nach internationalem Standard ausgestattete imposante Neptunhotel. 248 Die Außendarstellung der DDR erfolgte in den folgenden Jahren vorzugsweise über den Ausbau Ost-Berlins. Selbst Verkehrswegweiser im entfernten Ostseebezirk wiesen die östliche Stadthälfte, die nach westalliiertem Verständnis nicht hätte zur DDR gehören dürfen, als »Hauptstadt der DDR« aus. Mit dem Ende der Ostseewochen, die seit 1958 im Bezirk Rostock stattfanden, entfiel 1975 jene Attraktion, die jeweils für vierzehn Tage für einen Hauch von Weltoffenheit an der Küste sorgte. Mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit fast allen westlichen und blockfreien Staaten verlor die Veranstaltung ihre Funktion im Ringen um die internationale Anerkennung. Innenpolitisch kam es 1971 mit der Ablösung von Walter Ulbricht und der Einsetzung Erich Honeckers zu einem Wechsel an der Spitze der DDR. Propagiert wurden nun weniger, wie noch in der Ulbricht-Ära, industrielle und infrastrukturelle Großprojekte. An ihre Stelle trat als Kernstück der Wirtschaftspolitik die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik«. Auch der Weiterbau der Autobahn von Berlin nach Rostock schien 1971 zur Disposition gestellt. Nicht nur aus ökonomischen Gründen hielt die SED doch daran fest: Zu groß wäre der Ansehensverlust gewesen. Nach acht Jahren Bauzeit wurde der letzte Bauabschnitt am 4. Oktober 1978 freigegeben. 249 Die gelegentlich bestehenden Illusionen auf eine innenpolitische Liberalisierung zerschlugen sich schnell. Noch bestehende private Kleinbetriebe und besonders erfolgreiche Produktionsgenossenschaften des Handwerks wurden verstaatlicht; 250 zugleich forcierte die SED die Militarisierung der Gesellschaft. Spätestens mit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann schien klar, dass auch im kulturellen Bereich mit keiner Besserung zu rechnen war. Noch ein anderes Ereignis weckte Hoffnungen, die im Alltag nicht selten enttäuscht wurden. Am 6. März 1978 traf sich eine Delegation des Bundes der evangelischen Kirchen mit Erich Honecker zu einem Spitzengespräch in Berlin. Was sich als Zäsur in den Staat-Kirche-Beziehungen ausnahm, sollte durch die Einführung des Wehrkundeunterrichtes im gleichen Jahr schon weniger später eine Ernüchterung erfahren. Gerade viele Jugendliche aus christlichen

248 Pohlmann, Friedericke: Hotel der Spione. Das »Neptun« in Warnemünde. 2. Aufl., Schwerin 2009; Brockhaus Reisehandbuch. Ostseeküste mit Rostock, Stralsund, Greifswald, Wismar, Kühlungsborn und Saßnitz. Leipzig 1974, S. 383; Piltz, Georg: Kunstführer durch die DDR. 9. Aufl., Leipzig, Jena, Berlin (Ost) 1982, S. 43. 249 Doßmann, Axel: Begrenzte Mobilität. Eine Kulturgeschichte der Autobahn in der DDR. Essen 2003, S. 350–357. 250 »Zum mercklichen Vortheil des Publici ...« Aus der Geschichte der Industrie- und Handelskammern Neubrandenburg, Rostock und Schwerin. Hg. v. der Landesarbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern in Mecklenburg-Vorpommern. Rostock 2003, S. 179 f.

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Elternhäusern begehrten gegen die Militarisierung der Gesellschaft auf. 251 Auch in den siebziger Jahren kam es mit den immer wieder auftauchenden Flugblättern und Losungen zu Widerstandstaten ›im eigentlichen Sinne‹. Zugleich gärte es vielerorts: Nonkonformismus, Verweigerung, Widerspruch und Aufbegehren gab es wie in den Jahren zuvor. Doch wuchs auch mit Teilen der Jugend eine neue Kohorte von Regimegegnern heran, die mit den Codes der frühen DDR, der Klassenkampfrhetorik und dem ideologischen »Für und Wider« nicht mehr viel anzufangen wusste oder wollte. Sie drängten – auch um sich von ihren zaudernden Eltern abzugrenzen – auf Konsequenzen und verweigerten sich dem System, indem sie im Staate DDR keinerlei Karriere mehr anstrebten und sich als Hilfsarbeiter verdingten und in besetzten Wohnungen einrichteten. Ein Teil von ihnen entschied sich, der DDR den Rücken zu kehren und nahm – im Falle eines Ausreiseantrages – Schikanen oder – bei der Flucht – ein hohen persönliches und gesundheitliches Risiko in Kauf. Auch wer aus der DDR floh, verletzte bewusst gewollt die Gesetze der DDR und leistete in diesem Punkt Widerstand. Seine Flucht war zudem ein unmissverständliches Misstrauensvotum gegenüber dem SED-Staat, auch wenn hinter dem Entschluss, zu fliehen, »nur« der Wunsch nach Freizügigkeit stand. Die Einsperrung der arbeitsfähigen Untertanen zählte als integraler Bestandteil zum politischen Konzept der SED. Die Umerziehung zum neuen Menschen sollte notfalls auch unter Zwang legitim sein; wer sich dem kommunistischen Jahrhundertexperiment durch Flucht entzog, stellte der SED ihren »Anspruch auf Zukunft« infrage. 2.3.1 Widerspruch, Aufbegehren und Widerstand gegen die BiermannAusbürgerung Das innenpolitische Klima war 1976 und 1977 bestimmt durch die Mangelsituation im Versorgungsbereich. Vielerorts in der DDR sprach man von der sogenannte Kaffeekrise. Ebenso für Gesprächsstoff sorgten die unbeholfenen Versuche der SED, dem etwas entgegenzusetzen. Neben einem ErsatzkaffeeGemisch aus DDR-Produktion, dem Kaffee-Mix, das den devisenaufwendige Bohnenkaffeeimport verringern sollte und verdeckten Preisanhebungen, sprach man vielerorts über die neuen Exquisit-Läden, in denen ansonsten knappe DDR-Waren zu höheren Preisen zu erwerben waren. Hinzu kamen die Intershop-Läden, in denen DDR-Einwohner mit der Währung des »Klassenfeindes« einkaufen konnte und die verstohlen selbst von so manch einem Partei-

251 Mau, Rudolf: Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945–1990) (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen; IV/3). Leipzig 2005, S. 228.

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gänger der SED aufgesucht wurden. 252 Innenpolitisch bestimmte die Tristesse den DDR-Alltag in der »entwickelten sozialistischen Gesellschaft«. Zwei Ereignisse sorgten jedoch für Unruhe: die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz sowie die Zwangsausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann. 253 Nach seinem Konzertauftritt in Köln am 13. November 1976 und der Veröffentlichung des Ausbürgerungsbeschlusses am 17. November im Neuen Deutschland durfte Biermann nicht mehr in die DDR zurückkehren. 254 Die Ausbürgerung machte die letzten noch bestehenden Hoffnungen auf eine Lockerung im Kulturbereich zunichte. Manch einer hatte gehofft, dass sich in der DDR, wie in anderen Ostblockstaaten, wahrnehmbar eine kulturoppositionelle Szene herausbilden würde und war nun ernüchtert und enttäuscht. Nicht wenige Proteste richteten sich daher gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, auch wenn vielen der Liedermacher nun erst durch die Berichterstattung im Westen zum Begriff wurde. Die Ausbürgerung eines sich kritisch vom Sozialismus überzeugt gebenden Künstlers und die anlaufende Kampagne im »Neuen Deutschland« mussten als Bankrotterklärung der SEDFührung verstanden werden. Auch wenn die kulturoppositionelle Szene sich vor allem auf Berlin und Leipzig und einige andere Städte beschränkte, erreichte das Geschehen über die Exklusivberichterstattung westlicher Rundfunkanstalten auch den Bezirk Rostock und den Norden der DDR. Am Stralsunder Volkstheater bezeichnet ein Schauspieler für jedermann vernehmbar die Ausbürgerung als »ein Zeichen der Schwäche [...], weil man Angst vor solchen Leuten wie Biermann habe«. Er sprach damit offen aus, was viele insgeheim dachten. 255 Kritisch äußerten sich zudem fünf Studenten der Ingenieurhochschule für Seefahrt in Warnemünde

252 MfS, ZAIG, Hinweise über Reaktionen verschiedener Bevölkerungskreise der DDR zur Erweiterung des Handelsnetzes der Intershop-Läden und des in diesem Handelsnetz eingesetzten Warensortiments: BStU, MfS, ZAIG 4108, Bl. 1–5. In: Die DDR im Blick der Stasi 1977. Die geheimen Berichte an die SED-Führung. Bearbeitet von Henrik Bispinck, Göttingen 2012, S. 92–94. 253 MfS, HA IX, Statistik: Hetzerische und feindlich-negative Aktivitäten. Vergleich 1976 zu 1977. Deliktanfall nach Bezirken, keine weiteren Angaben: BStU, MfS, HA IX, Nr. 13530, Bl. 2. Vgl. hierzu die Aufstellung in: MfS, HA VII, Information gemäß Weisung des Genossen Minister vom 16.11.1976 über festgestellte feindliche Aktivitäten, Stimmungen und Meinungen im Zusammenhang mit den Maßnahmen der DDR gegen Biermann, Berlin, 22.11.1976: BStU, MfS, HA XX/AKG, Nr. 6826, Bl. 26–33, hier 29. 254 Jäger, Manfred: Kultur und Politik in der DDR 1945–1990. Köln 1994, S. 165–171; Berbig, Roland; Karlson, Holger Jens: »Leute haben sich eindeutig als Gruppe erwiesen«. Zur Gruppenbildung bei Wolf Biermanns Ausbürgerung. In: Dies.; Krusche, Dorit (u. a.): In Sachen Biermann. Protokolle, Berichte und Briefe zu den Folgen einer Ausbürgerung (Forschungen zur DDRGeschichte; 2). Berlin 1994, S. 11–28 und 389. 255 MfS, BV Rostock, Bericht über negative und feindliche Reaktionen zu Maßnahmen der Regierung gegen Biermann, Havemann und Kunze und Einschätzung des Standes der operativen Bearbeitung und Kontrolle, Rostock, Rostock, 2.2.1977: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 1479, Bl. 2–48, hier 18 sowie BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 1254/77, Bd. I, Bl. 1, 4–6.

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und Wustrow – zwei von ihnen waren Mitglied der SED. 256 »Daran sieht man«, so wird einer der Studenten zitiert, »die Demokratie in der DDR, wer nicht regimetreu ist, wird abserviert«. Einer seiner Kommilitonen ergänzte ihn mit den Worten »im Prinzip tat Biermann nur das, was die Masse machen müsse«. Von einem weiteren Studenten stammten die Sätze: »Biermann hatte in vielen Sachen recht und deshalb wurde er unserem System unbequem. [...] Der einfachste Weg war, ihn [...] auszusperren, weil man nicht weiter wusste.« 257 Die Staatssicherheit sammelte nach dem Vorfall insgeheim weiteres belastendes Material über die Studenten. In einem Fall sorgte das MfS dafür, dass der Betreffende nicht das von ihm beantragte Seefahrtsbuch erhielt; einer der Studenten wurde später, 1982, bei einem Fluchtversuch festgenommen und am 29. März 1982 zu zwanzig Monaten Haft verurteilt. 258 Für Unruhe sorgte die Ausbürgerung auch an anderen Studienorten: In einem Studentenwohnheim in Greifswald verfassten vier Studenten einen schriftlichen Protest gegen die Aberkennung der Staatsbürgerschaft und baten ihre Kommilitonen, ihn zu unterzeichnen. Bekannt wurde der Vorfall während eines Seminars. Die anwesenden SED-Kandidaten bzw. -Mitglieder meldeten den Vorgang umgehend weiter, so dass das MfS hiervon erfuhr. 259 Auch andernorts an der Universität beschäftigte man sich mit dem nun von Hamburg aus »so oder so, die Erde wird rot« textenden Liedermacher: Ein weiterer Student verteilte unter seinen Kommilitonen dreizehn Biermann-Gedichte. Er war dem Rektorat bereits als Mitglied der Evangelischen Studentengemeinde aufgefallen. Das Rektorat gab die Meldung, ergänzt durch die entsprechende Einschätzung, an das MfS weiter. Dieses meinte nun zu wissen, dass der Student eine »negative politische Einstellung zur DDR« besäße. Das von ihm verteilte Gedicht sollte der Seminargruppe als Diskussionsgrundlage dienen. Verwirrung herrschte beim MfS angesichts des Herkunft des Gedichtes: Der DeutschKunstgeschichte-Student gab an, »die Gedichte [...] Ende 1975 in der UniBibliothek Leipzig abgeschrieben [zu] haben«. 260 Zugleich sprach er sich in der Universität gegen die Ausbürgerung von Biermann und den Ausschluss von Reiner Kunze aus dem Schriftstellerverband aus. »In Absprache mit dem stellv[ertretenden] KD [Kreisdienststellen]-Leiter« legte man fest, für den 10. Februar 1977 »ein Disziplinarverfahren« anzusetzen. Das »Ziel« sei es, so die 256 MfS, Bericht über negative und feindliche Reaktionen (ebenda), Bl. 41 sowie BStU, MfS, BV Rostock, AP 1385/79. 257 Ebenda. 258 Ebenda. 259 MfS, BV Rostock, Informationen Nr. 1596/76 über negative und feindliche Reaktionen zu Maßnahmen der Regierung gegen Biermann, Rostock, 29.11.1976: BStU, MfS, HA IX, MF/12799. 260 MfS, BV Rostock, Bericht über negative und feindliche Reaktionen zu Maßnahmen der Regierung gegen Biermann, Havemann und Kunze und Einschätzung des Standes der operativen Bearbeitung und Kontrolle, Rostock, 2.2.1977: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 1479, Bl. 2–48, hier 7.

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Vereinbarung, den Studenten »zu exmatrikulieren«. 261 Das Prorektorat für Studentenangelegenheiten verwies ihn daraufhin auftragsgemäß von der Universität. 262 In das Visier des MfS geriet ebenso ein Facharzt aus dem Medizinischen Zentrum in Stralsund: Auch er wandte sich gegen die Ausbürgerung und – so hieß es weiter – »solidarisierte sich mit dem Auftreten Biermanns«. Zugleich ergaben die Nachforschungen des MfS, dass der Arzt plane, sich mit bundesdeutscher Unterstützung aus der DDR »ausschleusen« zu lassen. Nach der Festnahme und Monaten der Ungewissheit in der MfSUntersuchungshaftanstalt verurteilte ihn das Bezirksgericht Rostock im Dezember 1979 zu vier Jahren Haft. 263 Nach der Vernehmung eines an der Universität Rostock exmatrikulierten Physikstudenten klärte sich ein weiterer Vorfall auf. Er hatte nach seinem Rausschmiss zunächst als Hilfspfleger gearbeitet. Am Bahnhof BerlinFriedrichstraße legte er wenig später demonstrativ seinen Ausweis vor und forderte die Ausreise ein. Bei seiner Vernehmung im Dezember 1976 gab er an, »ein anonymes Schreiben an die [...] ›Ostseezeitung‹« gesandt zu haben, in dem er gegen die Ausbürgerung Biermanns protestierte. 264 Der »Fall Biermann« stand im Mittelpunkt eines weiteren Vorgangs, über den die Abteilung XX die vorgesetzten Stellen in Berlin umgehend informierte. Während einer Lesung im Literaturklub der Universität Rostock am 27. Oktober 1977 kritisierte der Schriftsteller Joachim Seyppel vor etwa vierzig Studenten die Ausweisung in unmissverständlich deutlichen Worten. 265 Joachim Seyppels Hauptwohnsitz befand sich zwar in Ost-Berlin. In der Nähe von Neubukow besaß er ein Bauernhaus, woraus sich vor Ort viele Kontakte im Norden ergaben. 266 Nachdem Seyppel bei seinem Auftritt die DDR261 Ebenda. 262 Ebenda. 263 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Information über ein eingeleitetes Ermittlungsverfahren mit Haft: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 39, T. 1, Bl. 129; MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Abschlussbericht zum OV »Boje«, Reg.-Nr. I/2401/78, Stralsund 30.10.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2040/80, Bd. I, Bl. 492 f. 264 Die Veranstaltung fand im Klub der Sektion Sozialistische Betriebswirtschaft im Studentenwohnheim am Wilhelm-Pieck-Ring statt. MfS, HA XX, Tagesmeldung Nr. 270/76 der HA IX vom 22.12.1976, Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung, BStU, HA XX/9, Nr. 89, Bl. 74 f. 265 MfS, BV Rostock, Information Nr. 65/77 über das Auftreten des Schriftstellers Joachim Seyppel in einer Literaturveranstaltung vor Studenten der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, Rostock, 25.11.1977: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 604, Bd. I, Bl. 578–581. 266 »Nur die Wahrheit muß man fürchten«. Spiegel-Interview mit dem DDR-Schriftsteller Joachim Seyppel (mit den Redakteuren Romain Leick und Fritz Rumler im Münchner Spiegel-Büro). In: Der Spiegel, Nr. 32/1979, S. 75–78, hier 77. Vgl. zu Joachim Seyppel auch: König, Jan Vaclav: Der Buchverlag Der Morgen in den siebziger Jahren (wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister Artium M.A.), Manuskript. Leipzig 2011, S. 101–103; MfS,

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Berichterstattung eingehend kritisiert hatte, die für das »Duckmäusertum« im Land verantwortlich sei, benannte er seine Alternative. Gegenüber den erstaunten Studenten und zukünftigen Kadern räumte er freimütig ein, dass er »sich selbst gern in der Presse der BRD« informiere. 267 Im Weiteren kritisierte der Schriftsteller die Ausbürgerung von Wolf Biermann: Seyppel betonte, dass »er über die Ausweisung Biermanns schockiert gewesen sei«. 268 Zudem hätte »man Biermann nicht ausweisen dürfen, sondern sich mit ihm auseinandersetzen müssen«. Darüber hinaus informierte er die Studenten über den Protest der Künstler und berichtete von den Berufsverboten und Ausschlüssen aus dem DDR-Schriftstellerverband. Besonders »empört sei er über die ›schweinische‹ Behandlungen von Sarah Kirsch gewesen«. Da sich die DDR-Zeitungen geweigert hätten, seinen Protest abzudrucken, habe er, so Seyppel vor den Studenten, »ein Exemplar an die ›Frankfurter Rundschau‹ gesandt«. 269 Alarmiert zeigte sich das MfS nicht nur angesichts des selbstbewussten Auftretens von Joachim Seyppel. Man verstand auch nicht, dass ihm an der Universität ein Forum geboten wurde. Als ebenso besorgniserregend stufte der Berichterstatter die positive Reaktion der Studenten ein. Bei ihnen, so das Fazit eines Studenten, sei »der Gast mit seinen Aufführungen gut [...] ›angekommen‹«; Seyppel »habe es verstanden«, so das einhellige Echo, »Dinge anzusprechen, die die Studenten bewegen«. Auch käme es nicht sehr häufig vor, dass die von einem Prominenten aus dem DDR-Kunstbetrieb auf solch einem Forum »gemachten Ausführungen« auch »seiner persönlichen Meinung entsprechen«. Bei Joachim Seyppel wäre dies einmal der Fall gewesen. 270 Dem eloquenten Schriftsteller erging es nicht viel anders als Wolf Biermann. Von seinem Kollegen Dieter Noll wurden er, Stefan Heym und Rolf Schneider in einem offenen Brief an Erich Honecker im »Neuen Deutschland« am 22. Mai 1979 als »kaputte Typen [...], die da so emsig mit dem Klassenfeind kooperieren«, denunziert. Im Juni 1979 wurde Seyppel aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Im Juli begab er sich ausgestattet mit einem Dreijahres-Arbeitsvisum in die Bundesrepublik nach Hamburg. Von seiner Ausbürgerung erfuhr er Anfang Dezember 1982 aus der Presse. 271

BV Rostock, Quelle: IME »Ralf«, Information, Rostock, 9.7.1979: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1441/85 (OV »Kreuz«), Bd. IV, Bl. 194. 267 MfS, BV Rostock, Information Nr. 65/77 über das Auftreten des Schriftstellers Joachim Seyppel in einer Literaturveranstaltung vor Studenten der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, Rostock, 25.11.1977: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 604, Bd. I, Bl. 578–581, hier 579. 268 Ebenda, Bl. 580. 269 Ebenda. 270 Ebenda. 271 Offener Brief an Erich Honecker. In: Neues Deutschland, 22.5.1979. Nach: Jäger, Manfred: Kultur und Politik in der DDR. 1945–1990. Köln 1994, S. 169; Zu Joachim Seyppel: Wer war wer in der DDR? Bd. 2, Berlin 2010, S. 1228 f.

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Andere Vorfälle trugen 1976/77 eher allgemeinen Charakter. Aus aktuellem Anlass bezogen sich die, die hier widersprachen und aufbegehrten, aber ebenso auf die Ausbürgerung: Das Militärgericht Rostock verurteilte am 15. Januar 1978 einen Soldaten zu sechs Monaten »Strafarrest«, weil er sich 1977 in »diversen Äußerungen« ungebeten über die Zustände in der Armee ausgelassen hatte. Zugleich verglich er die DDR und die Sowjetunion mit der Bundesrepublik und kam zu dem Schluss, dass das Leben in einer Demokratie besser sei. 272 Seine Kommentare stufte man als Verunglimpfung und Herabwürdigung der sozialistischen Verhältnisse bzw. – was die Bundesrepublik betraf – als Verherrlichung der imperialistischen Ausbeutergesellschaft ein. 273 Verurteilt werden sollte ebenso ein Matrose, weil er mehrere SED-Mitglieder aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit beschimpfte: Er erhielt am 15. November 1977 vor dem Militärgericht in Rostock einen »Strafarrest« von ebenfalls sechs Monaten. 274 Nach der Urteilsverkündung überstellte man ihn vorsorglich in die MfS-Untersuchungshaft, um ihn von dort aus direkt »in die Militärarrestanstalt« nach Schwedt überführen zu können: Zuvor hatte ein Zimmerkollege und Zuträger des MfS behauptet, dass sich der Angeklagte »mit dem Gedanken trägt, den Zeitraum zwischen Verurteilung und Strafantritt zu nutzen, um fahnenflüchtig zu werden«. 275 Am 26. September nahm die Staatssicherheit einen weiteren Volksmatrosen fest und »überstellte« ihn in die MfSUntersuchungshaftanstalt in Rostock. 276 Der aus Wolgast stammende und auf dem Armeegelände in Trassenheide eingesetzte Matrose bezeichnete die CDU als »Mitläufer« und stufte alle SED-Mitglieder als »Rote« und »Hemmschuhe der gesellschaftlichen Entwicklung« und »Nichtskönner« ein. 277 Mehr als zehn Seiten umfasste die von den Spitzeln zusammengetragene Zitatensammlung, die ihm zum Verhängnis werden sollte. 278 Bezogen auf die Ereignisse vom 272 MfS, HA I/Volksmarine, Unterabteilung 6. Flottille, Abschlussbericht zur operativen Personenkontrolle, Dranske, 25.1.1978: BStU, MfS, HA I, Nr. 103, Bl. 46–49, hier 49. 273 MfS, HA I/Volksmarine, Unterabteilung 6. Flottille, Sachstandsbericht zur Einleitung einer operativen Personenkontrolle, Dranske, 14.11.1977: BStU, MfS, HA I, Nr. 103, Bl. 36–40. 274 MfS, HA I/Volksmarine, Unterabteilung 6. Flottille, Sachstandsbericht zum Anlegen einer operativen Personenkontrolle, Dranske, 8.8.1977: BStU, MfS, HA I, Nr. 103, Bl. 123–127, hier 124 f.; ebenda, Abschlussbericht zur operativen Personenkontrolle, Dranske, 27.10.1977: BStU, MfS, HA I, Nr. 103, Bl. 101–105, hier 104. 275 Ebenda. 276 Ministerium für Nationale Verteidigung, Militärobergericht Neubrandenburg, 1. Strafsenat (Az.: BS–1-02/78 MOG-Ne.; IA–13/77), Urteil in der Strafsache gegen den Soldaten der Nationalen Volksarmee [Name], [Vorname], Neubrandenburg, 7.3.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AU 1423/78, Bd. II, Bl. 95–104; MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Schlußbericht, Rostock, 17.11.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AU 1423/78, Bd. II, Bl. 139–154. 277 Militärobergericht Neubrandenburg, 1. Strafsenat (Az.: BS–1-02/78 MOG-Ne.; IA–13/77), ebenda, Bl. 148. 278 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Aufstellung verleumderischer Äußerungen des Soldaten der Nationalen Volksarmee, [Name], (Zeitraum vom 1.7.1977 bis 13.9.1977), Rostock, 10.11.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AU 1423/78, Bd. I, Bl. 14–25.

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August 1968 sprach er öffentlich davon, dass die Sowjetunion »den ›Freiheitswillen‹ der ČSSR-Bevölkerung mit Waffengewalt unterdrückt« habe. Die Kampfverbände der sowjetischen Armee seien seiner Ansicht nach nichts weiter als »slawisch-asiatische Horden«. 279 Immer wieder äußerte er sich zu aktuell-politischen Fragen und torpedierte so die Polit-Erziehung in der Kaserne: Ein flüchtiger Grenzsoldat, 280 der auf dem Weg in den Westen zwei seiner Kameraden erschoss, habe so in Notwehr gehandelt und die Ausbürgerung von Wolf Biermann sei ungerecht. 281 Die Selbstverbrennung von Pfarrer Brüsewitz, so der Matrose weiter, wäre trotz aller »›Lügen‹ sowie der ›Verdummung‹« der SED-Propaganda eine »Manifestation [...], die darauf gerichtet gewesen sei, die Weltöffentlichkeit auf die ›undemokratischen‹ Zustände in der DDR aufmerksam zu machen«. 282 Nicht immer deckte sich die von dem Matrosen gewählte Protestformen inhaltlich mit dem, was sein »Vorbild« Biermann im Sinn hatte: »Während eines Marschliedtrainings im Juli 1977«, so berichteten die Zeugen übereinstimmend, »sang der Angeklagte provozierend die ersten Zeilen des ›Deutschlandliedes‹«. 283 Das MfS leitete seine Ermittlungsergebnisse schließlich der Militäranklage zu. Vom Ersten Strafsenat des Militärobergerichts Neubrandenburg wurde der Matrose, so wie es Militärstaatsanwalt Oberleutnant Berg zuvor gefordert hatte, zu drei Jahren Haft verurteilt. 284 Ebenfalls vom Staatssicherheitsdienst erfasst werden sollte ein Autoschlosser im Faserplattenwerk in Ribnitz-Damgarten. Man warf ihm vor, er »hetzt[e] ständig gegen die DDR« – unter anderem bezeichnete er Parteimitglieder als »Kommunistenschweine« und »Radieschenkommunisten«. Schließlich nötigte man ihn zur Selbstkritik. Darüber hinaus setzte ihn die Betriebsleitung als Werkstattmeister ab. 285 Ebenso erging es einem Bereichsleiter im Volkseigenen Betrieb Stadtwirtschaft Ribnitz. Seiner Ansicht nach solle sich die SED »nicht 279 Ministerium für Nationale Verteidigung, Militärobergericht Neubrandenburg, 1. Strafsenat (Az.: BS–1-02/78 MOG-Ne.; IA–13/77), Urteil in der Strafsache gegen den Soldaten der Nationalen Volksarmee [Name], Neubrandenburg, 7.3.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AU 1423/78, Bd. II, Bl. 95–104, hier 100. 280 Gemeint war die Flucht von Werner Weinhold. Hierzu: Roman Grafe: Die Grenze durch Deutschland – eine Chronik von 1945 bis 1990. Berlin 2002, S. 235–238. 281 Ministerium für Nationale Verteidigung, Militärobergericht Neubrandenburg, 1. Strafsenat (Az.: BS–1-02/78 MOG-Ne.; IA–13/77), Urteil in der Strafsache gegen den Soldaten der Nationalen Volksarmee [Name], Neubrandenburg, 7.3.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AU 1423/78, Bd. II, Bl. 95–104, hier, Bl. 97–99. 282 Ebenda, Bl. 145. 283 Ebenda, Bl. 101. 284 Ebenda, Bl. 95. 285 MfS, BV Rostock, Bericht über negative und feindliche Reaktionen zu Maßnahmen der Regierung gegen Biermann, Havemann und Kunze und Einschätzung des Standes der operativen Bearbeitung und Kontrolle, Rostock, Rostock, 2.2.1977: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 1479, Bl. 2–48, hier 12 sowie BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 1343/77, Bl. 32–35.

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so empört über den Auftritt von B[iermann] in Köln« echauffieren. Die Einheitspartei würde sich ebenso »freuen, wenn BRD-Bürger in der DDR politische Lieder singen«. Gemeint waren jene Liedermacher, die auf den Agitationsveranstaltungen der FDJ wie dem »Festival des politischen Liedes« als Bundesbürger stets harsche Kritik an den Verhältnissen im Westen übten und die SED in ihrem Weltbild bestärkten. Hingegen, so merkt der Arbeiter an, werde »ein DDR-Bürger«, der in der Bundesrepublik »offen seine Meinung sagt«, von der DDR »bestraft«. Insgesamt hätte es der SED nicht geschadet, so seine Meinung, dass Biermann sie »hereingelegt« habe. In subtiler Form folgten auch hier die Sanktionen: Der Kritiker wurde vom Betrieb von der Leitung der Abteilung »Park und Grün« entbunden und als Beifahrer in den Bereich »Müll und Fäkalien« zwangsversetzt. 286 In das Visier des MfS geriet zudem ein Arbeiter der Mathias-Thesen-Werft in Wismar. Man bezichtigte ihn, »mehrfach« mit »staatsfeindlichen Äußerungen« hervorgetreten zu sein. Er habe behauptet, so erfuhr es die Stasi von einem IM, dass es »in der DDR keine Freiheit und Demokratie gäbe, weil das Ministerium für Staatssicherheit unter der Bevölkerung ein ›Spitzelsystem‹ unterhalte«. 287 Um seine Aussage wirkungsvoll zu widerlegen, sperrte ihn das MfS am 27. Januar 1977 in der Untersuchungshaft in der Rostocker AugustBebel-Straße ein. Nicht alle »negativen Diskussionen« oder »Verunglimpfungen« erschienen der Staatssicherheit relevant genug, um dagegen vorgehen zu wollen. Auch beschränkte man sich häufig auf das ›Monitoring‹ der politisch abweichenden Aussagen. So mochte zwar manch eine Äußerung – als ärgerliches Vorkommnis eingestuft – den Weg in die Stimmungsberichterstattung der Stasi finden. Doch lag der Aussagewert oft unterhalb der Schwelle, an der die strafrechtliche Verfolgung in den siebziger Jahren einsetzte. Dies mochte auch die in einem Bericht vom 2. Dezember 1977 enthaltenen Äußerungen zutreffen. 288 Nicht jeder, der auf dem Verteiler stand, sah dies ebenso: Ein mit dem Kürzel »Ti.« zeichnender Funktionär echauffierte sich über den »Reaktionen der Bevölkerung des Bezirkes« überschriebenen MfS-Stimmungsbericht aus Rostock und forderte Konsequenzen. Bei »Ti.« handelte es sich allem Anschein 286 MfS, BV Rostock, Bericht über negative und feindliche Reaktionen zu Maßnahmen der Regierung gegen Biermann, Havemann und Kunze und Einschätzung des Standes der operativen Bearbeitung und Kontrolle, Rostock, 2.2.1977: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 1479, Bl. 2–48, hier 11; MfS, BV Rostock, KD Ribnitz-Damgarten, Eröffnungsbericht, Ribnitz, 12.11.1976: BStU, MfS, AOPK 1990/77, Bl. 7–13. 287 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Schlußbericht, Rostock, 23.3.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1208/77, Bl. 233–240; MfS, BV Rostock, KD Wismar, Beschluß, Wismar, 7.1.1977 bzw. Beschluß, Wismar 4.4.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1208/77, Bl. 241 f. 288 MfS, BV Rostock, Information Nr. 68/77 über die Reaktionen der Bevölkerung des Bezirkes zum 7. Plenum des ZK der SED, Rostock, 2.12.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 203, Bl. 49–53.

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nach um den Ersten Bezirkssekretär, Ernst Timm. 289 »Das ist keine ›Reaktion der Bevölkerung‹, sondern [...] Stimmen von nicht immer vertrauensvollen Leuten. So leicht kann man sich das nicht machen«, lautete »Ti.«'s Kritik. 290 Dem Empfänger der Ermahnung, dem Chef der MfS-Bezirksverwaltung »Gen. Mittag«, schickte »Ti.« nicht nur den Bericht zurück. Er versah ihn handschriftlich mit weitergehenden Kommentaren: »Wer hat hier die Initiative? Die Vertreter der feindlichen Ideologie«, »warum lässt man solche Lügen noch verbreiten« oder auch »antisowjetische Hetze – Gegner« ereiferte sich »Ti.« an den Seitenrändern des knapp fünfseitigen Textes. 291 Wie dem Bericht zu entnehmen war, hatten Arbeiter im Atomkraftwerk Lubmin, angesprochen auf die jüngste ZK-Tagung, durchweg »nur negativ diskutiert«. In der DDR sei alles nur »›graue Theorie‹, wenn man in die Geschäfte geht, bekommt man nichts.« Mit eindeutigen Äußerungen fielen ebenso Arbeiter im Wohnungsbaukombinat Rostock und Angestellte der Bezirksplankommission auf. Auch sie kritisierten die desolaten Verhältnisse in der DDR. 292 Insgesamt verzeichneten die Diensteinheiten des MfS in den Wochen nach dem Kölner Konzert bis zum 21. Januar 1977 im Bezirk Rostock 162 Vorfälle der unterschiedlichsten Art, die als »negative und feindliche Reaktionen« eingestuft werden sollten. 293 Als Urheber der »mündliche Hetze« wurden unter anderem ein Lehrer einer Oberschule in Stralsund bzw. einer Berufsschule in Rostock, ein Grafiker in Warnemünde und zwei freischaffende Künstler aus Stralsund bzw. Rostock, ein Jugendlicher aus Grevesmühlen und ein Lagerverwalter aus Wolgast sowie ein Arzt, ein Pädagogikstudent, ein Landwirt und zwei Kraftwerksarbeiter aus Greifswald benannt. Einer der Angeführten war Kandidat, ein weiterer Mitglied der SED. 294 Aus »operativ-taktischen Gründen« verzichtete die Stasi hier zumeist auf eine Ahndung. In der Konsequenz leitet man Operative Personenkontrollen ein oder trat mit sogenannten Vorbeugegesprächen an die so in das Blickfeld des MfS Geratenen heran. Als relevante Vorfälle weitergemeldet nach Berlin wurden von der Rostock Bezirksverwaltung insgesamt jedoch nur 6 mündliche Proteste. Nach welchen Kriterien hier vorgegangen wurde und ob dem Meldeverhalten der einzelnen Bezirke dasselbe Muster zugrunde lag, ließ sich hingegen nicht ermitteln. So 289 Von 1961 bis 1975 war Harry Tisch 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung. Vgl. hierzu: Harry Tisch. In: Wer war wer in der DDR? Bd. 2, Berlin 2010, S. 1324. 290 MfS, BV Rostock, Information Nr. 68/77 über die Reaktionen der Bevölkerung des Bezirkes zum 7. Plenum des ZK der SED, Rostock, 2.12.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 203, Bl. 49–53, hier 49. 291 Ebenda, Bl. 51 f. 292 Ebenda. 293 Ebenda. Bl. 2. 294 MfS, BV Rostock, Bericht über negative und feindliche Reaktionen zu Maßnahmen der Regierung gegen Biermann, Havemann und Kunze und Einschätzung des Standes der operativen Bearbeitung und Kontrolle, Rostock, 2.2.1977: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 1479, Bl. 5–48.

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bleiben in quellenkritischer Hinsicht beim Bezug auf die vom MfS erstellten Statistiken wichtige Fragen offen. In anderen Bezirken war die Zahl der als »mündliche Hetze« umschriebenen relevanten Unmutäußerungen, stellt man die Bedenken hinten an, ungleich höher: im Bezirk Karl-Marx-Stadt gab es 59, in Gera 53 und in Erfurt 18 derartige »Delikte«. 295 Tabelle 4: Zahl der gemeldeten mündlichen Proteste nach der BiermannAusbürgerung in den einzelnen DDR-Bezirken und in Ost-Berlin Bezirk Rostock Neubrandenburg Schwerin Potsdam Frankfurt/Oder Magdeburg Berlin Halle Leipzig Cottbus Dresden Karl-Marx-Stadt Gera Erfurt Suhl

Zahl der mündlichen Proteste 6 15 20 48 23 22 367 61 62 20 26 59 53 18 23

In den drei Nordbezirken, die im Vergleich zum Süden vorwiegend agrarisch geprägt waren und urban als weniger erschlossen galten, kam es in der Summe zu 41 Vorfällen. Insgesamt lag der Norden, in dem annähernd so viel Menschen lebten wie im Bezirk Karl-Marx-Stadt, mit anderen Gebieten der DDR in etwa gleichauf. Eine hohe Urbanität – also eine hohe Verkehrserschließung und das Leben vieler Menschen auf engem Raum – beflügelte 1976/77 aber offensichtlich den mündlichen Protest – den Widerspruch und das Aufbegehren. Deutlich wird dies anhand der 367 »Delikte«, die in Ost-Berlin registriert wurden. Andere Menschen leisteten Widerstand indem sie politische Losungen an Wände schrieben oder Flugblätter verteilten. Auch in diesen bezogen sie sich auf die Zwangsausbürgerung von Wolf Biermann und dessen Sozialismuskritik. Die Ausbürgerung gab meist nur den Anlass, um sich endlich Luft zu 295 MfS, HA IX, Statistik: Hetzerische und feindlich-negative Aktivitäten. Vergleich 1976 zu 1977. Deliktanfall nach Bezirken, keine weiteren Angaben: BStU, MfS, HA IX, Nr. 13530, Bl. 2.

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verschaffen. Der lang aufgestaute Frust brach sich Bahn. Vier Tage nach der Bekanntgabe der Ausbürgerung, am 21. November, erhielt »die Einsatzgruppe der K des VPKA« [Volkspolizeikreisamtes] in Rostock die Nachricht, dass am Doberaner Platz, einem der frequentierten Plätze der Stadt, eine Losung gesichtet worden sei. »Unbekannt« hatten an die Fensterscheibe einer Sparkasse »Soli für Biermann« geschrieben. 296 In der Nacht auf den 23. November 1976, gegen 3 Uhr, schrieben Unbekannte in der Fußgängerunterführung am Wilhelm-Pieck-Ring, in unmittelbarer Nähe der Studentenheime, die Losung »Sozialismus auch mit Biermann! Es lebe die D« mit roter Ölfarbe an die Tunnelwand. 297 Und in einer Kaufhalle im Stadtteil Rostock-Reutershagen fand sich ein Zettel, dessen Inhalt die Staatsschützer ebenso auf den Plan rief. Mit einer »Schreibmaschine unbekannten Typs« hatte man hier folgendes zu Papier gebracht: »W. Biermann ist ein wahrer soz. Held, er ist der einzigste [sic!], der sich gegen das Betrügertum in der DDR aufgeregt hatte und seine Meinung ehrlich sagte. Helft mit, ihn wieder in die DDR zu bekommen. Dann seid ihr soz. Helden.« 298 Auf seinem Weg zum Dienstort erblickte ein Wachmeister der Transportpolizei am 29. November, korrekt »um 05.29 Uhr«, in der Stadtbahn Rostock-Warnemünde des Weiteren die Aufschrift »Okay Biermann«. In einer Breite von 80 Zentimeter prangte sie auf einer der Sitzlehnen. Die Abteilung K der Transportpolizei trennte den Kunststoffbelag heraus und leitete Ermittlungen gegen »Unbekannt« ein. 299 Neben der Unruhe, die die Biermann-Ausbürgerung auslöste, behielten auch andere Themen ihre Brisanz: An der Fassade eines Wirtschaftsgebäudes des Instituts für Kartoffelforschung der Akademie der Landwirtschaft in Groß Lüsewitz bei Rostock konnte man eines Morgens 1977 die Forderung lesen, »Russen raus aus Deutschland«. 300 Der »Staatsverleumdung« überführt wurde anschließend eine Achtzehnjährige, die eine Ausbildung zur Chemielaborantin absolvierte. Als Grund gab sie angesichts der drohenden Strafe an, dass sie »lediglich« darüber »verärgert« gewesen sei, dass im Kulturhaus statt des ange296 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, Vorkommensmeldung, Sammelkartei (Hetzschmierereien »Solidaritätsbekundungen« für Biermann), LMN 126: BStU, MfS, BV Rostock, Bestand Delikte-Kerblochkartei, schriftliche Hetze, unbekannt. Ebenso wiedergegeben in: MfS, BV Rostock, Meldungen: BStU, MfS, BV Rostock, AS 294/81, Bl. 2. 297 MfS, BV Rostock, Kerblochkartei Vorkommensmeldung, BStU, HA IX, Nr. 4147, Bl. 190. Ebenso wiedergegeben in: MfS, BV Rostock, Meldungen: BStU, MfS, BV Rostock, AS 294/81, Bl. 2. 298 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, Vorkommensmeldung, Sammelkartei (Hetzschmierereien »Solidaritätsbekundungen« für Biermann), LMN 126: BStU, MfS, BV Rostock, Bestand Delikte-Kerblochkartei, schriftliche Hetze, unbekannt. 299 Ebenda. 300 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei Vorkommensmeldung der VP/KD/SK Rostock, AB v. 8.11.1977, BStU, HA IX, Nr. 4149, Bl. 179; MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, »schriftliche Hetze Bekannt«, »Anschmieren von Hetzlosungen«, Meldung vom 3.11.1977, (Tatort: Groß Lüsewitz. Verwaltungsgebäude des Instituts für Kartoffelforschung), Sammelkartei, L-MN 12.

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kündigten »Abenteuerfilms« ein Agitations-Film lief: Der DEFA-Film »Die alte neue Welt« von 1977. 301 Dem marxistischen Geschichtsbild entsprechend, so der Film, folgen in der Menschheitsgeschichte verschiedene Gesellschaftsformen aufeinander. Er »kommt zu dem Schluss, dass nur […] im Kommunismus die Grundlage für ein menschenwürdiges Leben gegeben ist« und galt an den Schulen und Lehreinrichtungen der DDR als Pflichtprogramm. 302 Einige der zum Zuschauen Genötigten versuchten während der Vorstellung, dem Schauspiel zu entkommen, indem sie sich aus dem Kinosaal schlichen. Am 9. Dezember 1977 beschäftigten das MfS in der Bezirksstadt gleich zwei Flugblattaktionen: In der Südstadt bestückte ein Ausreiseantragsteller insgesamt 20 Hausbriefkästen mit einem Schreiben, in dem er gegen die Ablehnung seines Ausreisebegehrens protestierte. 303 Zudem verschickte er vier der Flugblätter an mehrere Institutionen in der Hansestadt. In der MendelejewStraße, einem Wohngebiet der NVA, fand man zudem dreizehn »handgeschriebenen Hetzschriften«, die die Aufforderung enthielten: »Bürger von Rostock, denkt heute am 10. Dezember 1977 an die Weltamnestie und wie viel Unschuldige noch in den Gefängnissen der DDR eingesperrt sind.« 304 Der Urheber, ein achtundzwanzigjähriger Kellner aus Warnemünde, wurde vom MfS ermittelt und kam in die Untersuchungshaft. 305 Über sein weiteres Schicksal liegen keine weiteren Informationen vor. Von vornherein nicht mit aufgenommen werden sollte in die Statistik die Losung »Wählt Hitler! Willi Stoph«. Sie tauchte am 16. Oktober 1976 an einer Sichtwerbung an der Ecke Wilhelm-Pieck-Ring/Patriotischer Weg – gegenüber vom Interhotel »Warnow« auf. Allem Anschein nach hatten Kinder einer benachbarten Schule den Spruch aufgebracht. 306 Sie hatten sich hiermit wohl einen Streich erlaubt und dies als Mutprobe angesehen oder wollten hiermit ihre Lehrer provozieren. Was die Schule daraufhin unternahm, ist nicht bekannt.

2.4

Die achtziger Jahre

In den Achtzigern schien sich die Tristesse der siebziger Jahre im DDR-Alltag weiter zu verstetigen. Der Titel des im reformorientierten Ungarn entstande301 Ebenda. 302 http://defa-stiftung.de/DesktopDefault.aspx?TabID=412&FilmID=Q6UJ9A003BPT&qpn=0 (14.07.2014). 303 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »schriftliche Hetze Bekannt«, »Anschmieren von Hetzlosungen«, Meldung vom 9.12.1977, Bl. 173. 304 MfS, HA I/IAK, Fernschreiben 68, 10.12.1977, BStU, HA I, Nr. 103, Bl. 4. 305 Ebenda. 306 MfS, BV Rostock, Kerblochkartei Vorkommensmeldung: BStU, MfS, HA IX, Nr. 4147, Bl. 198.

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nen Films »Die Zeit bleibt stehen« fing anschaulich das sich unter Jugendlichen in der DDR breitmachende Gefühl ein. 307 Zugleich entstanden Anfang der achtziger Jahre im kirchlichen Schutz auch im Norden der DDR Friedensund Umweltgruppen. Auf Seminaren in Rostock, Kessin, Schwerin, Stralsund und Greifswald kritisierten sie die innenpolitischen Missstände und vernetzten sich untereinander auch mit anderen Gruppen aus der DDR. Eine Verbreiterung erfuhr die Protestszene infolge der Auseinandersetzung an den Schulen und Berufsschulen um den pazifistischen Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen« im Jahre 1982. Jugendliche, die diesen trugen, wurden zwischenzeitlich von den Schulen suspendiert und zu »Aussprachen« einbestellt. Die Polizei und der Staatssicherheitsdienst suchten parallel auf den Straßen und öffentlichen Plätzen nach den Symbolträgern und beschlagnahmten das Friedenszeichen. Zunehmend gewann in den achtziger Jahren die Ausreisebewegung an Bedeutung. Angesichts der steigenden Zahl der Anträge und des politisch offensiveren Auftretens dieser Protestgruppe entwickelte sich die Ausreisefrage zum wohl größten Unruhefaktor, mit dem sich die SED konfrontiert sah. Trotz wiederholter Inhaftierungen und dem Fortzug von wichtigen Mitstreitern aus dem Norden Richtung Berlin wuchsen das Selbstbewusstsein und die Ungeduld in den Friedens- Umwelt- und Ausreisekreisen. In der Folge kam es so immer wieder zu Widerstandsaktionen, bei denen des Nachts Losungen angemalt und Flugblätter verteilt wurden oder gegen die SED öffentlich demonstriert wurde. Darüber hinaus bildeten sich mit der »Umweltbibliothek« in Wismar – dem »Ökumenischen Zentrum Umwelt« – dem »Turmtreff« in Stralsund und unter anderem den Kreisen Altefähr, Middelhagen und Greifswald so etwas wie ein oppositionelle Infrastruktur heraus. Hierfür standen nicht zuletzt die von diesen Gruppen neben den Anstecker und Aufnäher gedruckten und vertriebenen Samisdat-Zeitschriften, so das »Turmblatt« in Stralsund und das mecklenburgische »Friedensnetz«. 2.4.1 Widerstand und bezirksübergreifende Fahndung oder Unmut kennt keine Bezirksgrenzen Der Küstenbezirk, der sich von der Ost- bis zur Westgrenze der DDR erstreckte, war an einigen Stellen kaum breiter als zwanzig Kilometer. Nur wenige Kilometer südlich von Rostock befand man sich bereits im Bezirk Schwerin 307 Titel: »Die Zeit bleibt stehen« (Megáll az idö), Regie: Péter Gothár, Drehbuch: Géza Bereményi und Péter Gothár. Mit Pál Hetényi, Sándor Söth u. a., Ungarn 1982, 103 Minuten. 1963. Handlung: Eine Mutter erzieht ihre Söhne allein, da der Vater 1956 das Land verlassen hat. Gábor möchte Arzt werden, Dini ist eher orientierungslos, da er sieht, wie verlogen die Welt um ihn herum ist. Wegen eines Skandals wird sein Freund Pierre der Schule verwiesen. Daraufhin brechen Dini, Pierre und ein Mädchen mit einem gestohlenen Wagen gen Westen auf.

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bzw. Neubrandenburg. Hier lag das »Dreiländereck« der drei Nordbezirke. Dies stellte für die ansonsten schwerfällig auf die Bezirksterritorien orientierte Stasi eine Herausforderung dar. Für die, die Widerstand leisteten, war es hingegen unerheblich, wo sie sich konkret befanden: Gegebenenfalls konnten sich die Vielgliedrigkeit und Kompetenzabgrenzungen auf staatlicher Seite als Vorteil erweisen. Immer wieder kam es zu Widerstandsaktionen, die die StasiBezirksverwaltungen im Norden zur Kooperation zwangen. Ein Grund mochte die »Schwere« der Protestaktion sein. Ebenso konnte der Umstand, dass es sich anscheinend um auswärtige Urheber handelte, den Ausschlag geben. In Teterow, im Nordwesten des Bezirkes Neubrandenburg, fand man 1985 eines Morgens politisch unerwünschte pazifistische Losungen und Symbole. Die Neubrandenburger erkundigten sich daraufhin bei ihren Nachbarn, ob es von dort Ähnliches zu berichten gäbe. 308 In der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober 1985 hatten zwei Jugendliche am Milchhäuschen auf dem Schulkamp einen blumengießenden Panzer und die Losung »Frieden schaffen ohne Waffen« mit rotbrauner Fassadenschutzfarbe angebracht. Etwa einen halben Kilometer hiervon entfernt schrieben sie an die Gewichtheberhalle in derselben Nacht den Spruch »Sterben für was?«. Mit einem Peace-Zeichen in Form eines zerbrochenen Gewehres vollendete sie ihren Protest. 309 Die nächtlichen Urheber hatten das Glück auf ihrer Seite: Das MfS kam mit der Fahndung nicht recht voran. Eigens wurde eine Fährtenhundestaffel aus Neustrelitz hinzugezogen. Doch noch bevor das MfS Kenntnis von dem Vorfall erhielt, setzte Nieselregen ein, der bis zum Folgetag anhielt. Die Autoren der Losung versenkten geistesgegenwärtig Pinsel und Farbe in einem nahegelegenen Teich, wo sie nie gefunden wurden. Auch vermochte das MfS lediglich die Losung und die Spuren an der Gewichtheberhalle zu dokumentieren. Vom Vorfall am Milchhäuschen erhielt das MfS laut Aktenlage keinerlei Kenntnis. Der auf dem Schulkamp wohnende Hausmeister, der die Tat entdeckte, entschloss sich, den Vorfall nicht wie vorgeschrieben zu melden. Noch im Morgengrauen überstrich er die Spuren der vergangenen Nacht. Über die Dienstpflichtverletzung schwieg er hartnäckig, so dass sich die Angelegenheit erst nach 1989 aufklärte. 310 308 MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, Abspracheprotokoll, Neubrandenburg, 30.10.1985: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, Nr. 607, Bl. 4 f. 309 Fernschreiben der Kreisdienststelle der Deutschen Volkspolizei Teterow, an die Bezirksverwaltung der Volkspolizei Neubrandenburg, Sofortmeldung gem. 1.6. (7), 28.10.1985: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, Nr. 607, Bl. 1; MfS, BV Neubrandenburg, Stellv. Operativ, Oberst Klaus, Verteiler: Abt. XX, Berichterstattung zum Stand der Aufklärung des Vorkommnisses »Anbringen einer Losung mit pazifistischen Inhalt« an der Giebelwand der Gewichtheberhalle Teterow: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, Nr. 607, Bl. 3 f. 310 Erst eine Recherche vor Ort und eine Befragung von Zeitzeugen förderte im Jahre 2010 das Verhalten des Hausmeisters zutage.

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Da man in dem Fall nicht vorankam, baten die Neubrandenburger um Amtshilfe im Rahmen der bezirksübergreifenden Fahndung: Die – wie es hieß – Nachfrage »in den angrenzenden Bereichen (Schwerin/Rostock)«, erbrachte den Verweis auf ein vergleichbares »Vorkommnis« in der Nachbarschaft. 311 Die Bezirksverwaltung Schwerin teilte den Kollegen mit, dass sich in Laage, 312 im Kreis Güstrow, Ähnliches ereignet habe. Auch hier sprächen der Inhalt und die Begleitumstände dafür, dass es sich um eine Tat mit »pazifistischem« Hintergrund handele. Konkret wiesen die Schweriner ihre Kollegen auf zwei »Vorfälle« hin, die sich an der Zufahrt zum Rollfeld des Flughafens Laage ereignet hatten. Der Airport entstand ab 1979 als Militärflughafen der NVA nahe Kronskamp bei Rostock, lag jedoch schon im Bezirk Schwerin. Mit seiner Start- und Landebahn, dem Rollweg Nord, dockte das Flugfeld im rechten Winkel an die Autobahn Rostock–Berlin an. Wer die östlich der Autobahn gelegene Zufahrt Richtung Norden passierte, erreichte Rostock in der Regel nach fünf Minuten Fahrzeit. Im Jahr 1984 ging der Militärflughafen mit der Stationierung von hochmodernen MIG 29 und SU-22 M 4 Kampfflugzeugen als Standort des NVA-Jagdbombergeschwaders 77 als »Objekt 801« in Betrieb. Anders als von den Planern beabsichtigt, sollte sich die verkehrsgünstige Lage an der Autobahn nicht nur als Vorteil erweisen. Weihnachten 1984 nutzten mehrere Fahrzeuge einer US-Patrouille der alliierten Militärverbindungsmission, die sich auf den Straßen der DDR laut Potsdamer Abkommen – von Ausnahmen abgesehen – frei bewegen konnten, diesen Umstand. Weder ein Sperrtor noch ein Posten versperrten zu jenem Zeitpunkt die Zufahrt von der Autobahn aus. Die alliierten Soldaten machten sich diesen Umstand zunutze und fuhren – von der Objektbewachung lange Zeit unentdeckt – das mit neuester sowjetischer Militärtechnik ausstaffierte Rollfeld ab. 313 Als Reaktion entschloss sich die NVA, die Zufahrt mit Betonblöcken – in ihren Abmessungen 60 x 240 cm – zu blockieren. »Die Absperrung bestand«, so die Bezirksverwaltung in Schwerin, »aus insgesamt drei übereinandergesetzten Betonquaderreihen«. Man stellte die »einzelnen Quader« so, »daß von Quader zu Quader ein Abstand« von ca. einem Meter entstand. 314 In der Nacht vom 21. auf den 22. April 1984 schrieben Unbekannte hier eine Losung an. Es gelang ihnen »mittels rotbrauner Farbe und einem Rundpinsel« jeden der Betonblöcke auf seiner vollen Fläche mit je einem Buchsta311 MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, Abspracheprotokoll, Neubrandenburg, 30.10.1985: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, Nr. 607, Bl. 4 f. 312 Die Entfernung beträgt 27 Kilometer. 313 Nach: http://www.franckowiak.de/bluecher/ig/sonstiges/laage/jbg77.htm (14.07.2014). 314 MfS, BV Schwerin, Diensteinheit XX, Schreiben an MfS, BV Rostock, Abt. XX, OSL Klawuhn, Auskunft betr.: Schmierereien am Flugplatzobjekt Laage – Material »Piste«, Schwerin, 31.7.1986: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 526, Bl. 2–11, Bl. 7–11.

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ben zu versehen. »Für unser Land frei von Atomraketen« lautete der Spruch schließlich zusammengesetzt. Nebst einem Peace-Logo kam er für jene, die auf der Autobahn benutzten, im Morgengrauen gut leserlich zum Vorschein. Trotz mehrerer Farbspuren in der Nähe und des sofortigen Einsatzes eines Fährtenhundes blieb die Fahndung im Ansatz stecken. Der Tatort, so stellte man analytisch scharfsinnig fest, konnte mit einem »fahrbaren Untersatz [...] oder zu Fuß« erreicht worden sein«. 315 In der Nähe, »in ca. 1 000 m Entfernung« vom »Ereignisort« entfernt, überquerte eine Landstraße die Autobahn. Zudem gab es einen schwer einsehbaren Feldweg, der von denen, die hier Widerstand leisteten, genutzt worden sein konnte. In einer weiteren Variante zum Tathergang ging das MfS davon aus, dass die Urheber der Losung direkt über die Autobahn zum Flughafen gelangt sein mussten. Demnach hatten sie wahrscheinlich »das Fahrzeug in kurzer Entfernung am Ereignisort abgeparkt«. 316 Tatsächlich fand sich ein SED-Genosse, der zu berichten wusste, hier zu nächtlicher Stunde einen Pkw erblickt zu haben. Doch hatte er sich das Kennzeichen nicht gemerkt. Es kam durchaus häufiger vor, dass Fahrzeuge am Autobahnrand liegen blieben. Jener verfügte über keinerlei Notrufsäulen. 317 Erschwerend hinzu kam, dass in der unmittelbaren Nähe eine »illegale Autobahnauf- bzw. -abfahrt« existierte, die »täglich« von einem größeren »Personenkreis« aus den Ortschaften rund um Laage genutzt wurde. 318 Schließlich fand sich eine Spur. Doch ließ sich diese, wie sich schnell herausstellte, kaum auswerten. Die Nachricht stammte aus Alt Kätwin, einem Dorf in der Nähe des Flugplatzes, unmittelbar an der Grenze zum Bezirk Rostock. »Im Herbst 1984« entdeckte die Bürgermeisterin, als »sie in den Morgenstunden mit einem Fahrrad« ins Nachbardorf fuhr, an einer Kastanie ein selbstgefertigtes Plakat. 319 Der Inhalt deckte sich, soweit sich dies noch rekonstruieren ließ, weitgehend mit der nächtlichen pazifistischen Losung am Flugplatz. Über den konkreten Wortlaut vermochte das MfS hingegen nur Vermutungen anzustellen. Da das Plakat, so das MfS, »keinen Druckvermerk enthielt, riß« die Bürgermeisterin »es kurzerhand herunter und verbrannte es später zu Hause«. Auch könne sie sich, wie sie zu Protokoll gab, im Nachhinein nicht allzu ge-

315 MfS, BV Schwerin, KD Güstrow, Abt. XX, Operative Erkenntnisse zum Tatgeschehen »Piste II« vom 5. Mai 1986, Güstrow, 7.7.1986: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 1708, Bl. 185–189, hier 187. 316 Ebenda. 317 Zum Autobahnbau und zur Projektierung der Autobahn Rostock-Berlin: Karge, Wolf: Autobahnplanung und -bau im Norden der DDR. In: Zr. 13 (2009) 2, S. 39–48. 318 MfS, BV Schwerin, KD Güstrow, Bearbeitungsplan zum op. Material »Piste II«, Güstrow, 29.5.1986: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 1708, Bl. 203–207, hier 204. 319 MfS, BV Schwerin, KD Güstrow, Protokoll über die Befragung der DDR-Bürgerin [Name], [Vorname], Schwerin, 23.7.1986: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 1708, Bl. 222.

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nau an den Text erinnern. 320 Die Ermittlungen verliefen dementsprechend im Sande. In Laage-Kronskamp am Flughafen entfernte die Armee die Betonwürfel umgehend. Sie wurden durch eine ca. 25 Meter lange und 2,09 Meter hohe, aus mehreren Stahlsegmenten bestehende Sichtschutzwand ersetzt. 321 1986 wurde an dieser Stelle zu nächtlicher Stunde erneut eine Losung angeschrieben. Nun ersuchte die Bezirksverwaltung Schwerin ihre Nachbarn um Amtshilfe: Der Leiter Abteilung XX in Schwerin, Oberstleutnant Röbke, bat seine Kollegen in Rostock und Neubrandenburg um »die Einleitung von Maßnahmen zur Mitfahndung im Verantwortungsbereich«. 322 Übersandt wurden zugleich die »Kopien des operativen Materials« in sechsfacher Ausführung. Abschließend erging die Bitte, »um eine sofortige telefonische Information«, falls dort Dinge bekannt sein sollten, die zur Aufklärung führen könnten. 323 In der Nacht vom 4. auf den 5. Mai 1986 hatten Unbekannte die Stahlwand mit der Losung »Sei brav, sag ja – tu nichts dagegen« versehen. Den Anlass bildete offensichtlich die bevorstehenden Volkskammerwahlen am 8. Juni 1986. 324 Die Losung füllte die Stahlwand in ihrer vollen Höhe aus. Im Ergebnis war die Flughafenabsperrung am Autobahnkilometer 158 in der »Gesamtlänge [...] mittels weißer Farbe [...] [mit] Druckbuchstaben« beschrieben worden. 325 »Zwischen dem Wort ›Ja‹ und dem Bindestrich« befand sich laut MfS »weiterhin ein Kreis mit einem Kreuz«. 326 Nach ausgiebiger Recherche gelang es den Stasi-Ermittlern den Spruch inhaltlich zuzuordnen: Die sich in skurril-poetischer Form sowohl gegen die Einheitswahl als auch das Mitmachverhalten der Bevölkerung wendende Losung war einer Liedzeile einer Westberliner Punk-Rock-Gruppe entlehnt. Für die Stasi Grund genug, alle geheimpolizeilich als aufsässig bekannten Punks der drei Nordbezirke einer verdeckten Überprüfung zu unterziehen. Als potenziell verdächtig stufte die Stasi aber weit mehr Menschen ein: Allein in den Bezirken Schwerin und 320 Ebenda. 321 MfS, BV Schwerin, Leiter der KD Güstrow, Zepezauer, Chiffriertes Fernschreiben Nr. 53, an MfS, BV Schwerin, Stellvertreter Operativ, Oberst Kralisch, sowie die Abt. IX und XX, Bericht zur Schmiererei an der Autobahn A 15 Berlin-Rostock im Kreis Guestrow in Hoehe des Kilometers 158,0, 5.5.1986: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 1708, Bl. 165–169, hier 166. 322 MfS, BV Schwerin, Diensteinheit XX, Schreiben an MfS, BV Rostock, Abt. XX, OSL Klawuhn, betr. Schmierereien am Flugplatzobjekt Laage – Material »Piste«, Schwerin, 31.7.1986: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 526, Bl. 2. 323 Ebenda. 324 Weber, Hermann: DDR. Grundriß der Geschichte 1945–1990. Neuaufl., Hannover 1991, S. 337. 325 MfS, BV Schwerin, Leiter der KD Güstrow, Zepezauer, Chiffriertes Fernschreiben Nr. 53, an MfS, BV Schwerin, den Stellvertreter Operativ, Oberst Kralisch sowie die Abt. IX und XX, Bericht zur Schmiererei an der Autobahn A 15 Berlin-Rostock im Kreis Guestrow in Hoehe des Kilometers 158,0, 5.5.1986: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 1708, Bl. 165–169, hier 165. 326 Ebenda.

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Rostock sollten im Folgenden dreihundertfünfzig Einwohner anhand von Schriftproben überprüft werden. 327 Unter ihnen befanden sich »22 Personen« aus dem Kreis Güstrow. Nachdem man die Personalausweisunterlagen »alle[r] männlichen Personen des Kreisgebietes [...] der Geburtsjahrgänge von 1925 bis 1970« durchgesehen und, wie es hieß, »ausselektiert« hatte, sollten sie »in der weiteren Folge anhand von Kaderakten [...] überprüft« werden. 328 In das Visier der Fahnder gerieten zudem acht »Bausoldaten des Objektes, die wegen Arreststrafen erst am 2.5.1986 ihren Dienst« beendete hatten. 329 Auch bei den »Bungalowbesitzern an den Seen« rund um Laage, die »aus dem Stadt- und Landkreis Rostock« stammten, schien man eine Urheberschaft nicht ausschließen zu wollen. Weitere »120 Personen« wurden daher durch die Volkspolizei in Rostock überprüfen. Zudem sichtete man die »Kaderakten« der 175 Zivilbeschäftigten des »Flugplatzobjektes Laage«. 330 Die Fahndung der Bezirksverwaltung in Rostock beschränkte nicht nur auf die Bezirkshauptstadt und deren Umgebung. Zugleich gerieten drei politisch unangepasste Jugendliche aus dem Kreis Wolgast in das Visier der Ermittler. 331 Verdächtigt und zum Teil »zur Klärung eines Sachverhaltes« vorgeladen und vernommen wurden auch acht Jugendliche aus Greifswald und Klein Zastrow. Sie waren den Behörden entweder als Punks negativ aufgefallen oder wurden zu den »Initiator[en] der Besetzung des Abrißhauses [...] Wiesenstr. 24« in Greifswald gezählt. 332 Abermals verlief die Suche ergebnislos. Zu den von der Untersuchungsabteilung in Neubrandenburg überprüften Personen zählte ein auf dem Flugplatz tätiger Kraftfahrer, der in Samow bei Gnoien im Kreis Teterow wohnte. 333 Aufgrund einer Protestaktion, die er drei Monate später durchführte, geriet er in das Visier der Fahnder. Den Auslöser bildete der Jahrestag des Mauerbaues von 1961. »In den späten Abendstunden« des 12. August 1986, schrieb er, wie es dem Bericht zu entnehmen ist, »mittels roter ›Fluoxana‹-Farbe und Rundpinsel 327 MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Schreiben an MfS, BV Rostock, KD Rostock, betr. Beschaffung von Vergleichsmaterial zur Schriftenfahndung, Schwerin, 24.10.1986: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 1708, Bl. 16. Ein ebensolche Schreiben ging an die MfS-Kreisdienststelle Wolgast (ebenda), Bl. 18. 328 MfS, BV Schwerin, Abt. XX/AGS, Bericht über bisher durchgeführte Fahndungsmaßnahmen zum Vorkommnis des Anschmierens einer Losung am Flugplatzobjekt Laage – Autobahn – Autobahnfahrtrichtung Berlin-Rostock vom 5.5.1986, Schwerin, 10.7.1986: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 1708, Bl. 190–194, hier 191. 329 Ebenda, Bl. 192. 330 Ebenda. 331 MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Schreiben an MfS, BV Rostock, KD Wolgast, betr. Beschaffung von Vergleichsmaterial zur Schriftenfahndung, Schwerin, 24.10.1986: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 1708, Bl. 18 f. 332 MfS, BV Schwerin, Auszüge aus der Personenauskunfts-Datei KK, handschriftliche Aufstellung zu den Überprüften und Vernommenen: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 1708, Bl. 31– 73. 333 MfS, BV Schwerin, Untersuchungsabteilung, Aktenvermerk, Schwerin, 4.9.1986: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 1708, Bl. 133.

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[...] mehrere Losungen wie ›25 Jahre Mauer‹, ›Verrat‹ und ›Solidarität‹ auf [einen] Stoff« und »befestigte [...] diese Losungen mit Reißzwecken [...] in der Ortslage Samow«. 334 Am 18. August nahm man den Sechsundzwanzigjährigen fest. Obwohl er angab, vor der Tat »mindestens 10–12 doppelte Schnäpse verschiedener Sorten getrunken« zu haben, überstelle man ihn in die MfSUntersuchungshaft nach Neustrelitz. 335 Das Kreisgericht Neustrelitz verurteilte ihn am 4. November 1986 »zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten«. 336 Die Protestaktionen vom Flugplatz wurden hingegen, wie die Urheberschaft der Losungen in Teterow, nicht aufgeklärt. Dass die Stasi alles wüsste und stets imstande sei, alle »Vorkommnisse« aufzuklären, war einer der großen Irrtümer, die in der DDR bestanden. Der Mythos vom allwissenden »Sicherheitsorgan« wurde nicht zuletzt aus naheliegenden Gründen von der Stasi selbst genährt. Intern wusste man hingegen, dass man keineswegs imstande war, eine flächendeckende und umfassende Überwachung der Bevölkerung zu garantieren. Beim Widerstand blieben von den Losungen und Flugblattaktionen mitunter bis zu vierzig Prozent der »Vorkommnisse« unaufgeklärt und wurden in den Karteisystemen unter der Rubrik »schriftliche Hetze unbekannt« ergebnislos erfasst. In einer Zeit, in denen die Proteste kulminierten, wie 1953, nach dem Mauerbau 1961 und dem Einmarsch in Prag 1968 sowie 1989 erreichte die Quote der nichtaufgeklärten Fälle den Wert von an die sechzig Prozent. Um nicht die Nachahmung zu begünstigen, zählte dies mit zu den gut gehüteten Geheimnissen der DDR. Zwar gab es immer wieder Denunziation, Verrat oder – wie man will – mitteilsame Bürger, die die »Sicherheitsorgane« informierten. Zu beobachten ist an den zuvor dargestellten Fällen aber auch das Phänomen, dass Menschen ihre Beobachtung »unter den Tisch kehrten« oder gar Beweismittel verschwinden ließen, um Ärger aus dem Weg zu gehen. Jener schien unausweichlich, sofern die Stasi mit den Ermittlungen, einschließlich der Befragungen, begann. Der Entschluss des Hausmeisters in Teterow und der Bürgermeisterin in Alt Kätwin, das »Corpus delicti« stillschweigend verschwinden zu lassen, zeugt von dieser Einstellung. Dies kann nicht als politisch abweichendes oder gar widerständiges Verhalten bezeichnet werden. Schließlich entfernten sie sogar politisch missliebige Losungen. Doch begingen sie eine Dienstpflichtverletzung, indem sie sich über die Meldepflicht hinwegsetzten. Nicht zuletzt behinderte dies die Arbeit der Staatssicherheit. Neben den vernichteten Beweisen, die nun nicht mehr kriminaltechnisch ausgewertet werden konnten, zeichneten sie 334 Ebenda. 335 Kreisgericht Neustrelitz, RS 147/86, Strafsache gegen [Name], wegen öffentlicher Herabwürdigung, Neustrelitz, 19.8.1986: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 1424/86, Bd. I, Bl. 319 f.; MfS, BV Neubrandenburg, Einlieferungsanzeige, Neustrelitz, 19.8.1986 (ebenda), Bl. 17. 336 Kreisgericht Neustrelitz, Az. S 210/86, Urteil, Hauptverhandlungen am 3./4.11.1986: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 1424/86, Bd. I, Bl. 314 f.

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dafür verantwortlich, dass die Fahndung verspätet einsetzte oder ganz entfiel. Für die Stasi ging so wertvolle Zeit verloren, die ihr bei der Verfolgung derjenigen, die Widerstand geleistet hatten, fehlte. Auch warum die beiden sich so verhielten, lässt sich nicht mehr ergründen: Ihre Unterlassung mochte aus Sympathie, mitmenschlichen Erwägungen, fehlender Einsicht oder auch nur Bequemlichkeit erfolgt sein. Allem Anschein nach wollten sie so unnötigen Ärger vermeiden. Vor allem belasteten sie so ihr Gewissen nicht unnötig. Bei einem von ihnen unterstützen Fahndungserfolg hätte sich dies grundsätzlich geändert. 2.4.2 Kirchliches und unabhängiges Friedensengagement Wie überall in der DDR fanden sich im Norden ab den achtziger Jahren auch mehrere Friedens- und Umweltgruppen. Die Schwerpunkte dieser noch kleinen Protestbewegung, die sich gegen die Militarisierung im DDRBildungssektor, den Autobahnbau nach Wismar und andere SEDEntscheidungen wandte, lagen im Bezirk Rostock in Wismar, Rostock, Stralsund und Greifswald. In Kessin fand zudem auf Initiative des Pfarrers Dieter Nath ein Friedensseminar statt, zu dem Interessierte aus der gesamten DDR anreisten. Die Gruppen standen zugleich für den oppositionellen Aufbruch im Norden. Zu jenen, die der neu entstandenen Protestszene innerhalb der Kirche Rückhalt und eine Stimme gaben, zählte von Beginn an der RibnitzDamgartener Jugenddiakon Ingo Barz. Mit seinen selbstgeschriebenen Liedern und der Gitarre trat er vor allem in den Kirchen Mecklenburgs auf. Der Einladung zu seinen Konzerten folgten in der Regel einige Dutzend Jugendliche. Auch wenn die Zahl von fünfzig oder sechzig Teilnehmern rückblickend nicht besonders hoch erscheinen mag, so stellte dies Anfang der achtziger Jahre – zumal im ländlich geprägten Bezirk Rostock – einen Erfolg dar. Mit seinen Konzerten, die sich von der traditionellen kirchlichen Arbeit abhoben, setzte der Pazifist und Liedermacher eindrucksvoll ein Zeichen im öffentlich Raum und half, auch fernstehende Jugendliche für die Kirche zu interessieren: »Die Lieder des B. richten sich in religiös verbrämter Weise [...] gegen die Verteidigungspolitik der DDR«, schrieb die Stasi vielsagend in einer Einschätzung über den Kreisjugendwart. 337 Man warf Barz die »Verbreitung pessimistischen Gedankengutes« vor – so wenn er bei »Lied vom Haß« das Wort »Friedensstaat« besonders merkwürdig betonte und dazu provokatorisch in die Zu337 MfS, BV Rostock, KD Ribnitz-Damgarten, Eröffnungsbericht zum Anlegen des Operativen Vorganges »Prediger«, Ribnitz, 18.5.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1885/88, Bd. I, Bl. 11–18, hier 12.

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schauermenge blickte. 338 »Der größte Teil der Lieder« habe, befand man, »einen politischen Inhalt«; zur »strafrechtlichen Bewertung« schrieb das MfS, es handele sich im Kern um »Staatsfeindliche Hetze« umgesetzt durch »die Begehungsweisen ›Angreifen‹ und ›Aufwiegeln‹«. 339 Zu einem leicht anderen Befund gelangte ein Wissenschaftler der Universität Rostock, der als IME »Thilo« für das MfS ein Gutachten über die »Aufwach-Lieder« von Ingo Barz verfasste. »Die Dinge, die er kritisiert«, stellte »Thilo« fest, »sind sicher wahr und kritikwürdig. Im Einzelfall hat er jeweils recht«. Doch, so fügte der Gutachter umgehend an, sei die »Tendenz« entscheidend, die »sich erst in der Gesamtsicht« zeige und es für gerechtfertigt erscheinen lasse, ihm eine »pessimistische Grundtendenz« zu attestieren, die zu seinen »Angriffen« führten. 340 Für Ärger beim Staat sorgte zugleich die Jugendarbeit des Diakons. Im November 1981 führte die Junge Gemeinde in Ribnitz-Damgarten mit seiner Unterstützung eine »Unterschriftensammlung gegen den Diskussionsbeitrag [von] [...] Werner Walde auf der 3. Tagung des ZK der SED« durch. 341 Werner Walde hatte auf der Sitzung gegen die kirchliche Initiative für einen Wehrersatzdienst, den »Sozialen Friedensdienst« [SoFd], lautstark polemisiert. Im Neuen Deutschland ließ sich nachlesen, was das ZK-Mitglied und zugleich der 1. SED-Bezirkssekretär von Cottbus vom kirchlichen Friedensengagement hielt: »Der Feind«, so Walde, habe »keine Chance mit der Phrase des sogenannten sozialen ›Friedensdienstes‹ Front zu machen, gegen die [...] militärische Sicherung des Sozialismus«. Der SoFd sei eine »friedens-, sozialismusund verfassungsfeindliche« Aktion, »diese Leute« hätten hingegen »vergessen [...], daß unsere ganze Republik sozialer Friedensdienst ist«. 342 Darüber hinaus erstellte man eine »Arbeitshilfen« genannte Materialsammlung zur Friedensarbeit und fertigte »etwa 200 Ansteckplaketten«. »Die Plaketten«, schrieb das MfS, bestünden »aus einer Stahlscheibe (Durchmesser 35 mm), auf deren Rückseite eine Sicherheitsnadel geklebt wurde«. Sie zeigten in stilisierter Form vor der Weltkugel einen Menschen, »der über seinem Kopf

338 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Bericht Liederabend mit Ingo Barz am 1.11.1981, Rostock, 12.11.1981: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1885/88, Bd. I, Bl. 55. 339 MfS, BV Rostock, KD Ribnitz-Damgarten, Zwischenbericht zum Operativen Vorgang »Prediger«, Ribnitz, 29.7.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1885/88, Bd. I, Bl. 198–204, hier 203; MfS, BV Rostock, KD Ribnitz-Damgarten, Bericht, 18.5.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1885/88, Bd. I, Bl. 151–153, hier 151. 340 MfS, BV Rostock, KD Ribnitz-Damgarten, Abschrift, Quelle IME »Thilo«, Einschätzung des Textheftes von Barz, Ingo (erf. im OV »Prediger«)»Aufwach-Lieder«, Ribnitz, 1.8.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1885/88, Bd. II, Bl. 61 f. 341 MfS, BV Rostock, KD Ribnitz-Damgarten, Eröffnungsbericht zum Anlegen des Operativen Vorganges »Prediger«, Ribnitz, 18.5.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1885/88, Bd. I, Bl. 11–18, hier 12. 342 »Großes Vertrauen zu unserem guten Kurs«. In: Neues Deutschland, 21./22. 11.1981, S. 3.

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ein Gewehr [...]« zerbricht. 343 Weiterhin wurden »ca. 200–300 Briefumschläge und Karten mit Symbolen – [...] mit pazifistischer Aussage« bedruckt und von den Jugendlichen in Umlauf gebracht. 344 Aus seiner Passion als Singer-Songwriter heraus begründete Ingo Barz das Jugendtreffen Kirch-Kogel, das erstmals am 18.7.1985 stattfand. Etwa 300 Teilnehmer trafen sich hier auf dem Pfarrhof und hörten den angereisten staatskritischen Bands und Solisten zu: Hier spielte laut einem Spitzelbericht auch die Gruppe »Was« aus Rostock auf, die »schon zum Friedensgottesdienst am 28. Juni in Erscheinung trat« und »ein Lied zum ›Tag der Volkspolizei‹« vortrug, das, so hieß es weiter, eine ziemlich radikale Kritik an der Polizei in der DDR« enthielt. Kritisiert wurden in dem Lied unzutreffende »Beschuldigungen« und die »Gesinnungsschnüffelei«. 345 Doch gab es ebenso Bestrebungen, außerhalb des kirchlichen Schutzraumes tätig zu werden. Der oppositionelle Findungsprozess auf den kirchlichen Friedensseminaren, zu denen ebenso Regimekritiker kamen, die sich in Hauskreisen, auf subkulturellen Schriftstellerlesungen und Konzerten außerhalb der Kirche ab Mitte der siebziger Jahre gefunden hatten, verlangte nach mehr. Opposition sein zu wollen, hieß immer auch, den Versuch zu unternehmen, öffentlich sichtbar zu sein. Wie weit man dabei gehen sollte, blieb umstritten. Während Intellektuelle aus den Debattierzirkeln immer wieder auf die Notwendigkeit der konzeptionellen Fundierung der Arbeit verwiesen, drängten vor allem die Jüngere, die über die Auseinandersetzung um den Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen« zum oppositionellen Aufbruch hinzugestoßen waren, auf die demonstrative Zeichensetzung. Dies sollte auch im öffentlichen Raum und außerhalb der Kirche geschehen. Beide Positionen waren ebenso berechtigt, wie sie die Erfahrungen, die die Betreffenden jeweils gemacht hatten, widerspiegelten. Ab Mitte der Siebziger gab es jene verhaltene Euphorie, dass sich in der DDR »endlich etwas tat«; etwas, was man im nach hinein als oppositionellen Aufbruch bezeichnen könnte. Mit ihm stand zunächst die konzeptionelle Auseinandersetzung über das Selbstverständnis der Zusammenkünfte an, zu denen man sich in Wohnungen und anderswo traf. Inhaltliche Bezugspunkte, die man in den Schriften und Konzepten der Dissidenten anderer Ostblockstaaten fand – vor allem der Sowjetunion, Polens und der Tschechoslowakei – wurden ausgewertet und adoptiert. Die Jüngeren, die an diesem Diskussions343 MfS, BV Rostock, KD Ribnitz-Damgarten, Eröffnungsbericht zum Anlegen des Operativen Vorganges »Prediger«, Ribnitz, 18.5.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1885/88, Bd. I, Bl. 11–18, hier 16. 344 MfS, BV Rostock, KD Ribnitz-Damgarten, Leiter, Information Nr. 30/83 an die AKG der BV Rostock, Ribnitz, 3.6.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1885/88, Bd. I, Bl. 280. 345 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Quelle: IMS »Spieler«, Tonbandabschrift, Bericht zum Kirchentreffen in Kirch-Kogel am 29. und 30. Juni, Rostock, 18.7.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1885/88, Bd. II, Bl. 56 f.

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prozess nicht mehr teilgenommen hatten und ab 1982 erlebten, wie man an den Berufsschulen gegen die Symbole der unabhängigen Friedensbewegung vorging, knüpften an eine andere Erfahrung an. Sie schöpften aus der Nervosität des Staates, mit dem dieser auf den Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen« reagierte, die Hoffnung, dass sich was durch die Zeichensetzung im öffentlichen Raum etwas bewirken lasse. Zugleich zeigten sie sich beeindruckt von der in Polen erstarkenden Protestbewegung um die unabhängige Gewerkschaft Solidarność und sahen diese als Vorbild für ihr Handeln. Die Diskussion der siebziger Jahre zwischen Sozialismusreformansätzen und oppositioneller Selbstfindung war ihnen nicht nur fremd, sondern erschien ihnen als eine Vertagung der von ihnen erwünschten Provokation ins Ungewisse. Sie wollten jetzt handeln und drängten zum öffentlichen Protest. Schon 1982 überlegten unangepasste Jugendliche in Rostock, sich den von der FDJ-Bezirksleitung ausgegebenen »Demonstrationsaufruf an alle Jugendfreunde« zu eigen zu machen. Sie planten zu Pfingsten mit eigenen Plakaten auf dem Ernst-Thälmann-Platz zu erscheinen. Doch nahmen die Initiatoren 1982 wieder Abstand von ihrem Vorhaben. Zu sehr fürchteten sie die Reaktionen der Ordnungskräfte; auch glaubten sie, dass sich kaum jemand aus der Bevölkerung im Falle des staatlichen Zugriffs mit ihnen solidarisieren würde. Im Mai 1983 hielten etwaige Bedenken die Demonstranten nicht mehr von ihrem Vorhaben ab. Ähnlich wie in Potsdam, Schwerin und Berlin beteiligten sich Jugendliche in Rostock mit eigenen Transparenten an der FDJ-PfingstManifestation. 346 Den Anstoß lieferte, wie sich Christian Utpatel, einer der Beteiligten erinnerte, »nicht zuletzt der Bericht aus Jena« auf dem Kessiner Friedenseminar (vom 13. bis 15. Mai 1983). 347 In Jena hatten Jugendliche am 14. November 1982 bei einer unangemeldeten Demonstration und am 18. März 1983 während der offiziellen Gedenkmanifestation zum Jahrestag der Bombardierung mit eigenen Plakaten protestiert. Mit Losungen wie »Verzich346 Zu Jena: Neubert, Ehrhart; Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht. Ohnmacht. Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR (Analysen und Dokumente; 21). Bremen 2001, Bildtafeln 3.IV, 5.III. Zu Schwerin: Pfarrer Matthias Burkhardt (1. Pfarrstelle der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde St.-Petrus Großer Dreesch) »nahm an der Provokation feindlichnegativer klerikaler Kräfte im Verlauf der Friedensmanifestation der FDJ zu Pfingsten 1983 teil.« Nach: MfS, BV Schwerin, Abt. XX/4, Abschlussbericht zur OPK »Janus«, Schwerin, 8.12.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 3976/91, Bd. I, Bl. 29–34, hier 31. 347 Genutzt wurden im Weiteren zudem folgende Materialien: Zeitzeugengeninterview mit Christian Utpatel am 29. Juni 2011 in Klein Gievitz, Landkreis Müritz; Fotodokumentation zur Demonstration auf dem Ernst-Thälmann-Platz Pfingsten in Rostock, 21. Mai 1983 (Fotos: Hans Krischer); Durchschlag des Briefs an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Herrn Erich Honecker, Rostock, den 26.5.1983 (Privatbesitz Christian Utpatel); Gedächtnisprotokoll Christian Utpatel vom 22.12.1992. Hier zit. nach: Gedächtnisprotokoll, ebenda Der Kessiner Vorgang ist auch zum Teil überliefert in: MfS, BV Rostock, Abt. XX, Bericht über das Kessiner »Friedensseminar 1983« vom 13. bis 15.5.1983, Rostock, 15.5.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. I, Bl, 44– 50, hier 48.

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tet auf Gewalt«, »Militarisierung raus aus unserem Leben« und »Schwerter zu Pflugscharen« bekundeten sie ihren Unmut über die Verhältnisse in der DDR. 348 Für den 19. Mai plante die Jenaer »Friedensgemeinschaft« erneut mit eigenen Plakaten an einem FDJ-Meeting teilzunehmen. 349 Spontan fand sich noch auf dem Kessiner Seminar, so Christian Utpatel, »eine Gruppe von zunächst neun Leuten mit dem Ziel zusammen, auf dem Pfingsttreffen [in Rostock] am darauffolgenden Samstag (21. Mai 1983) ebenfalls mit eigenen Plakaten zu erscheinen«. 350 Am 21. Mai 1983 trafen sich zwanzig Teilnehmer vor dem Rathaus auf dem Ernst-Thälmann-Platz, um ihren Protest am Rande des FDJ-Meetings zu bezeugen. Zu der Gruppe zählten Thomas Abraham, Jürgen Gernentz, Hans Krischer, Thomas Möller, Christian Utpatel und Ines Wiersbitzky. Sie trugen selbstgefertigte Losungen wie »Ohne Frieden keine Zukunft«, »Entrüstet Euch« sowie Bilder mit dem »Gewehrzerbrechenden«, »einem Kind, das ein Gewehr zertritt«, eine aus Stacheldraht herauswachsende Rose, ein Plakat mit einem zu einem Traktor umgewandelten Panzer und an ihrer Kleidung den unerwünschten Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen«. 351 Wie in Jena wussten die FDJ auf die nicht genehmigten Transparente nur mit Einschüchterungen und Gewalt zu reagierten. Die Gruppe wurde von FDJOrdnern umringt und auf den Seitenmarkt vor der Marienkirche abgedrängt. Aus Protest stimmten sie hier den Friedenskanon »Herr, gibt uns Deinen Frieden« sowie die inoffizielle Hymne der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung »We shall overcome« an. Zuvor waren den Teilnehmern die Plakate entrissen oder diese beschädigt worden. Zivilisten, die sich nicht auswiesen, fotografierten die Anwesenden fortwährend. Doch konnten die unabhängig des Kirchenraums agierenden Jugendlichen den Überraschungsmoment für sich verbuchen. Die Bezirks-Administration schien mit der Angelegenheit insgesamt überfordert zu sein. Zunächst stellte sich die Frage, wie sie mit den unabhängigen Demonstranten umgehen solle. Diese erklärten, sie hätten die in den Zeitungen abgedruckten »FDJ-Aufrufe anders verstanden« und betonten obendrein »die Wichtigkeit von eigenständigen Meinungen und Plakaten«. 352 In Rostock verblüffte im Nachgang die Unbeholfenheit, mit der man offiziell den Zwischenfall auszuwerten suchte. Nach einem Offenen Brief, den die 348 Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 346). 2. Aufl., Bonn 2000, S. 486 f. sowie Bildtafel VII/11; Ders.; Auerbach, Thomas: »Es kann anders werden«. Opposition und Widerstand in Thüringen 1945–1989. Köln 2005, S. 156–158. 349 Vgl. hierzu: ebenda 350 Gedächtnisprotokoll Christian Utpatel vom 22.12.1992, Privatbesitz Christian Utpatel, S. 6. 351 Fotodokumentation zur Demonstration auf dem Ernst-Thälmann-Platz Pfingsten 21. Mai 1983 in Rostock (Fotos: Hans Krischer); Durchschlag des Briefs an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Herrn Erich Honecker, Rostock, den 26.5.1983, Privatbesitz Christian Utpatel. 352 Vgl. hierzu die Ausführungen in: Durchschlag des Briefs an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Herrn Erich Honecker, Rostock, den 26.5.1983, Privatbesitz Christian Utpatel.

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Gruppe an Erich Honecker gerichtet hatte, lud der Erste Sekretär der FDJBezirksleitung, Ulrich Peck, die Unterzeichner zu einem Gespräch ein. Peck, so ein Teilnehmer, »entschuldigte sich dafür, dass sie von der Kundgebung abgedrängt« worden seien. Dies sei, so Peck, ein »Fehler« gewesen. Jedoch betonte der FDJ-Sekretär, dass es grundsätzlich »besser sei, nicht in einer eigenen Gruppe, sondern gemeinsam zu gehen«. Man sollte sich zukünftig in den Block der Freien Deutschen Jugend einreihen. 353 Zugleich berichtete die bundesdeutsche Tageszeitung »Die Welt« in einem Beitrag über den Rostocker Kirchentag 1983 über die Aktion auf dem Ernst-Thälmann-Platz. Die Sache sollte, so Christian Utpatel, anschließend »noch einmal aufgerollt« werden. Der Direktor der Medizinischen Fachschule in Rostock, bestellte Utpatel und einen Kommilitonen, der ebenfalls an der Aktion teilgenommen hatte, zu einer Aussprach in das Sekretariat ein. Jene verlief ergebnislos. 354 Aus eigenem Antrieb schaltete sich Professor Olaf Klohr von der Ingenieurhochschule für Seefahrt Warnemünde-Wustrow ein. 355 Zusätzlich unterrichtete er an der benachbarten Medizinischen Fachschule im Fach Marxismus-Leninismus. Während einer von Klohr angesetzten »Auswertung« innerhalb der Seminargruppe verurteilte der Atheismusexperte »das Verhalten« der beiden Medizinschüler »als politisch falsch und drohte« Christian Utpatel »praktisch den Rausschmiss aus der Schule an«. 356 Derlei Aussprachen und Drohungen in den Berufsschulen und Ausbildungsstätten mochten einen gewissen Eindruck hinterlassen und von den Betroffenen als belastend empfunden werden. Man signalisierte, dass beim nächsten Mal mit einschneidenden Konsequenzen zu rechnen sei und brachte den Lehrvertrag ins Spiel. Eine nachhaltige Disziplinierung garantierte all dies nicht. Das Verfahren verlangte nach einer bürokratisch abgesicherten Form der Ahndung. Mit der Novellierung der Ordnungswidrigkeiten-Verordnung von 1984, die derlei unter Strafe stellte, entsprach die SED diesem Anliegen. Wieder einmal hatte man einen Weg ersonnen, eine an sich »legalistische« Beteiligungsform zu kriminalisieren und zu ahnden. 357

353 Gedächtnisprotokoll Christian Utpatel vom 22.12.1992, Privatbesitz Christian Utpatel, S. 6. 354 Ebenda, S. 8. 355 Ab 1964 hatte Olaf Klohr an der Universität Jena den dort neueingerichteten Lehrstuhl für »Wissenschaftliche Atheismus« inne. Vgl. hierzu: Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 346). 2. Auflage, Bonn 2000, S. 182. »Später« wurde Olaf Klohr »an die Hochschule für Seefahrt in Warnemünde abgeschoben.« Nach: Goeckel, Robert F.: Thesen zu Kontinuität und Wandel in der Kirchenpolitik der SED. In: Vollnhals, Clemens: Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz (Analysen und Dokumente; 7). Berlin 1996, S. 29–58, hier 49. 356 Gedächtnisprotokoll Christian Utpatel vom 22.12.1992, Privatbesitz Christian Utpatel, S. 8. 357 Verordnung zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten – OWVO – vom 22.3.1984. In: Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 14, Berlin, den 15.5.1984, S. 173–177.

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Sowohl bei der Aussprache an der Medizinischen Fachschule als auch gegenüber den abgedrängten Gegendemonstranten verhielten sich die, die dies miterlebten, abwartend distanziert. Zur offenen Solidarisierung kam es ohnehin nicht. Anders verhielt es sich auf dem Kirchentag 1983. Die Gegendemonstranten präsentierten hier ihre Aktion am Stand des Friedenskreises auf einer Tafel in der Marienkirche. Lebhafte Diskussionen entspannten sich hier, viele Besucher bekundeten ihre Sympathie. Das Interesse an der Tafel wuchs noch weiter, als der Vorsitzende des Kirchentagsausschusses sie eindringend darum bat, ihren »Offenen Brief« an Erich Honecker zu entfernen. Pragmatisch überklebten sie den Brief mit weißem Papier und weckten nun erst Recht die Neugier der Anwesenden. Jene Menschen, die den Kirchentag besuchten, mochten zwar nicht dieselben sein, die als einbestellte Teilnehmer den Demonstrationen der SED und FDJ beiwohnten. Doch musste dies nicht unbedingt zutreffen. Manch einer, der hier im »Schutzraum der Kirche« seine Anschauung als Andersdenkender offen vertrat oder denen, die dies taten, beipflichtete, erfüllte im Alltag seine »staatsbürgerlichen« Pflicht und lief am 1. Mai und zu Pfingsten in den Marschblöcken mit. Auszuschließen ist daher ebenso nicht, dass sich Menschen je nach Situation so verhielten, wie der Rahmen, in dem sie sich bewegten, ihnen vorzugeben schien. Zur Sympathiebekundung kam es dann lediglich dort, wo dies ohne etwaige Nachteile zu riskieren möglich war. Aus manch einem diskussionsfreudigen Kirchentagsbesucher wurde im Alltag im Betrieb, an der Universität oder Schule wieder der unauffällige Zeitgenosse, der seine ideologischen Pflichten geflissentlich erfüllte. Die Demonstrationsbeteiligung mit eigenen Plakaten und Losungen Pfingsten 1983 in Rostock sollte nicht der einzige öffentliche oppositionelle Protest in der Hansestadt bleiben. Am 1. September 1983 versammelten sich dreizehn systemkritische Jugendliche am Mahnmal für die Opfer des Faschismus auf dem Karl-Marx-Platz in Rostock zu einem Schweigekreis. 358 Ein solcher Schweigekreis war zuvor schon in anderen Städten der DDR, so in Berlin am Märchenbrunnen oder in Potsdam am Brandenburger Tor, durchgeführt worden. Neben der nicht unwichtigen oppositionellen Selbstvergewisserung verbanden man hiermit bestimmte Ziele: Neben dem Protest gegen die Militarisierung und Aufrüstung in der DDR ging es auch darum, den Alleinvertretungsanspruch der SED infrage zu stellen. Während es in Potsdam am 25. November 1983 nach einem drei Tage in Folge durchgeführten Kreis zur Inhaftierungen von Roland Radow und Tobias Philipp kam, kontrollierte man

358 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Meldung an MfS, ZOS, HA XX, betr.: Festgestellte Personenansammlung am Mahnmal für die Opfer des Faschismus auf dem Karl-Marx-Platz in Rostock, Rostock, 1.9.1983; MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 235, Bl. 2–5.

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in Rostock die Personalien und fotografierte die »Demonstrativhandlung«. 359 Die so Erfassten zählten, wie die Stasi bei der Auswertung feststellte, zum kirchlichen Friedenskreis »Nord-West«, beteiligten sich an der Vorbereitung der Rostocker Friedensgottesdienste, waren als »Träger pazifistischer Symbole« und Wehrdienstverweigerung aufgefallen und rechneten zum Teil zu Ausreiseantragstellern in der Stadt. 360 Auch hier zeigten die ausnahmslos jugendlichen Regimekritiker in der Öffentlichkeit Präsenz. Eine Präsenz, die vom oppositionellen Aufbruch im Land zeugte. Außenstehende und die zufällig vorbeikommenden Passanten verhielten sich auch hier abwartend distanziert. Während die Stasi auffällig unauffällig die Teilnehmer des Schweigekreises fotografierte und spätestens damit belegte, dass es sich bei der Zusammenkunft um etwas Unerlaubtes handeln müsse, passierten die Vorbeikommenden eilig den Ort des Geschehens. Auch in den Gesprächen zwischen Staat und Kirche gewann der Oppositionsbegriff an Gewicht. Gemeint waren hier die unabhängigen Gruppen unter dem »Dach der Kirche«. Der Greifswalder Bischof Horst Gienke stand jenen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Mit einer entsprechenden Passage, in denen er die Gruppen als oppositionell charakterisierte, ist er so überliefert. Zwar mag es aus quellenkritischer Sicht nicht auszuschließen sein, dass seine Worte nicht originalgetreu wiedergegeben worden sind. Doch zeigt die Niederschrift von 1988, was sein Gegenüber, der Ersten Sekretär der SEDBezirksleitung Rostock, Ernst Timm, den Worten entnahm. 361 Von Nuancen abgesehen, schienen an der Intension – sprich der »guten Absicht« des Bischofs – keine Zweifel zu bestehen. Oberste Priorität hatte für Gienke im Dezember 1988 der Plan, Erich Honecker als obersten Repräsentanten der DDRFührung zur Wiedereinweihung des Greifswalder Doms 1989 einzuladen. In dem Gespräch, das der Bischof am 21. Dezember 1988 mit dem Ernst Timm führte, ging er auf die Spannungen im Staat-Kirche-Verhältnis ein. Seiner Meinung nach wären hierfür die Gruppen verantwortlich. Anschließend informierte Timm am 30. Dezember 1988 Honecker über das Gespräch und die bevorstehende Einladung. Timm schrieb an Honecker: »Der Bischof hob hervor, daß die [Greifswalder] Landeskirche nicht bereit ist, oppositionellen Kräften oder Übersiedlungsersuchenden ihr Dach für demonstrative oder destruktive Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen.« 362 Trotz der Zusiche359 MfS, BV Potsdam, Untersuchungsabteilung, Schlussbericht, Potsdam, 23.2.1984: BStU, MfS, BV Potsdam, BKG, ZMA 1986, Bl. 8 f. 360 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Meldung an MfS, ZOS, HA XX, betr.: Festgestellte Personenansammlung am Mahnmal für die Opfer des Faschismus auf dem Karl-Marx-Platz in Rostock, Rostock, 1.9.1983; MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 235, Bl. 2–5. 361 Garbe, Irmfried: Die Bischofsfrage in der Greifswalder Landeskirche 1989. Zwei Dokumente der damaligen Herbstsynode. In: Zr. 13 (2009) 2, S. 49–61, hier 51 sowie Fußnote 26. 362 Ebenda sowie Brief des Ersten Sekretärs der SED-Bezirksleitung Rostock, Ernst Timm, an den Generalsekretär der SED, Genossen Erich Honecker, Landesarchiv Greifswald, Rep. IV/E/2.14,

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rungen kam es am Rande der Domeinweihung am 11. Juni 1989 zu Protesten. Parallel zur Festveranstaltung im Dom führte Pfarrer Reinhard Glöckner in der nur zweihundert Meter entfernten Marienkirche einen Friedensgottesdienst durch. Vorbereitet hatten diesen der Friedenskreis und die Evangelische Studentengemeinde. Vor den etwa 120 Teilnehmern des Protestmeetings »bezeichnete« Glöckner laut MfS-Mitschrift »die Domeinweihung als ein ›einziges Spektakulum‹«. 363 Notwendig sei kein »Spektakel, sondern Besinnung« angesichts der »Unruhe in der Welt«. Als Beispiele nannte Glöckner die aktuelle Lage in »China, Rumänien [...] Südafrika und in den Sowjetrepubliken«. 364 Zudem forderte er die Beseitigung der »Mauer«, die die »Ursache für eine Abgrenzung zwischen den Menschen« sei und »Leidende hüben wie drüben« schaffe und beklagte den »Einsatz von Wissenschaftlern in der Rüstungsindustrie [...] [...] [...] in der DDR«. 365 Eine Gruppe von 26 Antragstellern, die »geschlossen« an der Domeinweihung teilnahmen und ein »öffentlichkeitswirksames Auftreten« planten, verhielt sich hingegen, wie das MfS befand, »gesellschaftsgemäß«. 366 Zuvor waren sie vorgeladen bzw. an ihren Wohnorten vom MfS belehrt und eingeschüchtert worden. Ebenso verfuhr man bei mehreren Jugendlichen, von denen man wusste, dass sie den Festakt gezielt »stören« wollten. Die Jugendlichen planten »ein Plakat mit der Aufschrift ›Kein Geld für Protz aus Ost und West‹« zu entrollen und während der Ansprache des Bischofs einen »Lachsack« abzuspielen. Angesichts des Drohszenariums schreckten sie vor der Ausführung der Tat zurück. 367 Während der Festveranstaltung torpedierte vor allem Dompfarrer Joachim Puttkammer den wirklichkeitsfremden »Burgfrieden« in Anwesenheit von Erich Honecker. Entgegen den Absprachen ließ er es sich nicht nehmen, in der Fürbitte »für eine Entspannung« in der Volksrepublik China zu beten. 368 Die kommunistischen Machthaber hatten in Peking die Studentenproteste blutig niedergeschlagen. Nr. 615, Bl. 219 f., wiedergegeben in: Garbe, Irmfried; Nixdorf, Wolfgang (Hg.): Dom St. Nikolai Greifswald. Gemeindekirche zwischen Politik und Polemik. Studien zur Greifswalder Landeskirche und zur Wiedereinweihung des Domes 1989. Schwerin 2005, S. 358 f. 363 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Bericht über bedeutsame Aspekte der Wiedereinweihung des Greifswalder Doms am 11. Juni 1989: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, Bl. 311–314, hier 312. 364 Ebenda. 365 Ebenda. 366 Ebenda sowie MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Bericht über einige Aspekte der politischen Situation im Vorfeld der Wiedereinweihung des Greifswalder Doms, Greifswald, 2.6.1989: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 279, T. 2, Bl. 327–330. 367 Ebenda. 368 Unterschiede gibt es hier hinsichtlich der Wiedergabe der Äußerungen: Laut MfS lauteten die Worte von Puttkammer, »wir bitten für die Volksrepublik China, daß Frieden im Land einzieht und alles ein gutes Ende findet«, der oben angeführte Zitat gibt den Wortlaut entsprechend den Aufzeichnungen des DDR-Fernsehens wieder. Vgl. hierzu Garbe, Irmfried: Die Bischofsfrage in der Greifswalder Landeskirche 1989. Zwei Dokumente der damaligen Herbstsynode. In: Zr. 13 (2009) 2, S. 49–61, hier 51 und Fußnote 32.

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Die SED ihrerseits bekundete ihre Solidarität mit der Führung in China. Die Fürbitte erfolgte auch vor den laufenden Kameras des DDR-Fernsehens, die das Ereignis live übertrugen. 369 Rene Kleinert von der Stralsunder »ÖkoGruppe« im Jakobitreff »nutze« zudem die Unruhe während der Kollektensammlung«, um an Erich Honecker heranzutreten. Kleinert übergab Honecker laut MfS eine »Eingabe zum Reinst-Siliciumwerk in Gittersee« bei Dresden, ein Thema, das zu jenem Zeitpunkt die Umweltgruppen in der DDR stark beunruhigte. 370 Auch vor dem Dom, am Eingangsportal, sollte es zu einem weiteren Zwischenfall kommen. Von »einer unbekannten männlichen Person«, so die MfS-Bezirksverwaltung, wurden hier »nach dem Festgottesdienst« etwa 150 Handzettel, deren Inhalt sich gegen das Schauspiel richtete, »an Passanten verteilt«. Eine weitere »unbekannte männliche Person« entrollte zudem kurzzeitig beim Verlassen des Domes ein einmal ein Meter großes »weißes Tuch« mit der Aufschrift »Statt rote Teppiche – neue Wege in die Zukunft« und im Schaukasten der Studentengemeinde entdeckten Mielkes Schnüffler ein Foto mit einem der in Greifswald häufig anzutreffenden Abbruchhäuser. »Von vorne hui – von hinten pfui – heute in göttlichen Farben«, lautete der Text. 371 Ältere Zeitgenossen dachten an den von vielen Christen als systemloyal abgelehnten Bischof Moritz Mitzenheim und seinen innerkirchlich kritisierten »Thüringer Weg« in den fünfziger und sechziger Jahren. Trotz des Versuchs, diesen Weg nochmals aufleben zu lassen, wurde schnell klar, dass sich die Zeiten selbst im verspäteten Norden grundlegend gewandelt hatten. Der sich verstärkende Protest gegen Horst Gienke, der am 5. November 1989 in seiner Absetzung durch die pommersche Synode in Züssow mündete, war zugleich nicht nur ein innerkirchlicher Vorgang. 372

369 Ebenda sowie Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 342. 370 MfS, BV Rostock, Information Nr. 47/89 über den Verlauf der festlichen Wiedereinweihung des Domes St. Nikolai in Greifswald und damit im Zusammenhang stehend Ereignisse, BStU, HA XX/AKG, Nr. 829, Bl. 55–63, hier 58. 371 MfS, BV Rostock, Information Nr. 47/89, Bl. 59; Foto hiervon in: Noack, Arndt: Studentenpfarrer in der Zeit der Wende. In: Nitzsche, Raimund; Glöckner, Konrad (Hg): Geistige Heimat ESG. In Freiheit leben aus gutem Grund. Erinnerungen an 60 Jahre Evangelische Studentengemeinde in Greifswald. Greifswald 2006, S. 217–226, hier 221. Der Text ist demnach in dem MfS-Bericht mit »vorne hui – hinten pfui – und das in göttlichen Fragen« im Wortlaut nicht korrekt wiedergegeben worden. 372 Garbe, Irmfried: Die Bischofsfrage in der Greifswalder Landeskirche 1989. Zwei Dokumente der damaligen Herbstsynode. In: Zr. 13 (2009) 2, S. 49–61.

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2.4.3 Das Jahr 1989 im Bezirk Rostock: Aufbruch zu neuen Ufern Der vierzigste Jahrestag sollte zugleich der letzte der DDR werden. Zwar rumorte es vielerorts, so auch im Norden der DDR. Vermehrt tauchten seit Mitte September einzelne Losungen und Flugblätter auf. 373 Im Bezirk Rostock sichteten die Polizei und das MfS mehrfach den Aufruf des verbotenen »Neuen Forums« und entfernten ihn: So aus dem Treppenhaus des Verwaltungstrakt der Staatlichen Forstwirtschaft in Wolgast sowie gleich mehrmals aus dem Hauptgebäude der Wilhelm-Pieck-Universität und im Stadtgebiet von Rostock. 374 Am 5. Oktober, kurz nach 8 Uhr, fand sich in Plattenbaugebiet Rostock-Schmarl an drei Häuserwänden die Losung »SED no, Neues Forum, ja«. Auf der nahen oberirdischen Fernheizungsleitung, die parallel zu den Gleisen der Rostocker S-Bahn verlief, hatte jemand »mit roter Farbsubstanz« auf zehn Metern Länge in 50 Zentimeter großen Buchstaben die Losung »Neues Denken – Neues Forum« angebracht. 375 Auf der Mathias-ThesenWerft in Wismar nutze ein Arbeiter die Mittagspause um »Honni raus« in das Treppenhaus des Sozialgebäudes zu schreiben. 376 In den folgenden Tagen verzeichnete die Stasi einen merklichen Anstieg der Widerstandsaktionen. 377 »An Schaufenstern, Garagenwände und [auf] Fahrbahnen« tauchte abermals den Schriftzug »Neues Forum« auf. Hinzu kamen die Losungen »DDR – SOS – wir sind nicht allein«, »Freiheit für Dich und mich« sowie der Slogan »Von der SU lernen, heißt Siegen lernen«. 378 Irgendjemand meinte zudem, dass es an der Zeit sei, mit weißer Farbe »Freiheit Mecklenburg« zu fordern. 379 Am Baugerüst an der Heiliggeistkirche in Rostock, in 12 Meter Höhe, entdeckte die Volkspolizei am Morgen des 9. Oktober ein zwei Meter großes Plakat mit der Aufschrift »Freiheit, Reformen 373 MfS, ZOS, 1. Tagesbericht zur politisch-operativen Lage und Wirksamkeit der Sicherungsmaßnahmen aus Anlaß des 40. Jahrestages der Gründung der DDR – »Jubiläum 40«, 7.10.1989: BStU, MfS, Nr. 2274, Bl. 44; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 386–401. 374 Ebenda sowie MfS, ZOS, Bedeutsame Handlungen, Vorkommnisse und Erscheinungen. Rapportzeitraum vom 5.10.1989 bis zum 6.10.1989: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2273, Bl. 15. Vgl. hierzu: Mellies, Dirk; Möller, Frank (Hg.): Greifswald 1989. Zeitzeugen erinnern sich. Marburg 2009; Langer, Kai: »Ihr sollt wissen, daß der Norden nicht schläft…«. Zur Geschichte der »Wende« in den drei Nordbezirken der DDR (Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommern; 3). Bremen/Rostock 1999; Probst, Lothar: »Der Norden wacht auf«: zur Geschichte des politischen Umbruchs in Rostock 1989–1991. Bremen 1993. 375 MfS, ZOS, Bedeutsame Handlungen (ebenda), Bl. 30 sowie MfS, ZOS, Information Nr. 1397/89, 5.10.1989, 20.00 Uhr: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2273, Bl. 67. 376 Ebenda, Bl. 30. 377 MfS, ZOS, Aufstellung: Hetzerische bzw. herabwürdigende Äußerungen im Zusammenhang mit Aktivitäten oppositioneller Gruppierungen in der DDR, Darstellungszeitraum 20.9.1989 bis 10.10.1989, 06.00 Uhr: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2277, Bl. 49. 378 Ebenda, Bl. 70. 379 Ebenda.

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ohne Gewalt«. 380 Unbekannte bemalten in Samtens auf Rügen in der folgenden »Nacht vom 9. zum 10. Oktober 1989« den für den Früheinsatz nach Stralsund abgestellten Gelenkbus. Mit schwarzem Nitrolack aufgetragen wurde hier auf fünf Metern Länge und in fünfzig Zentimeter großen Buchstaben die Losung »Neues Forum«. 381 Bestimmt wurde das Geschehen im Bezirk Rostock ab dem 12. Oktober verstärkt durch die Friedensgottesdienste und Versammlungen, auf den sich das »Neue Forum« in den Kirchen präsentierte. 382 Nachdem ein Initiativkreis bereits am 5. Oktober zu einer »Fürbittenandacht [...] für die Betroffenen der Leipziger Ereignisse« in die Petrikirche eingeladen hatte, traf man sich am 7. Oktober zu einem weiteren Friedensgottesdienst. Ausgelegt wurde hier eine Protestresolution an das Zentralkomitee der SED, die Volkskammer und den Bezirkstag unter der sich schließlich 600 Unterschriften fanden. Am 9. Oktober überreichte eine Delegation den Protest im Rathaus der Stadt. 383 Am 11. Oktober fand die erste Informationsveranstaltung des Neuen Forums in der Michaeliskirche statt. Am 12. Oktober versammelten sich etwa 3 000 Teilnehmer zu einer Fürbittenandacht für die Inhaftierten in der Rostocker Marienkirche. 384 Auch hier informiert man über das »Neue Forum« und die »Sozialdemokratischen Partei der DDR«. Berichtet wurde zudem über die Proteste und die polizeilichen Übergriffe in Berlin und Leipzig. Zugleich fand eine Spendensammlung für die in anderen Städten Inhaftierten statt. 385 Dem Aufruf zur Fürbittenandacht am 19. Oktober folgten bereits 2 000 bzw. 7 000 380 MfS, ZOS, Aufstellung: Hetzerische bzw. herabwürdigende Äußerungen im Zusammenhang mit Aktivitäten oppositioneller Gruppierungen in der DDR, Darstellungszeitraum 20.9.1989 bis 10.10.1989, 06.00 Uhr, Einzelmeldungen aus den Bezirken: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2277, Bl. 4. 381 MfS, ZOS, Aufstellung: Hetzerische bzw. herabwürdigende Äußerungen im Zusammenhang mit Aktivitäten oppositioneller Gruppierungen in der DDR, Darstellungszeitraum 20.9.1989 bis 10.10.1989, 06.00 Uhr, Einzelmeldungen aus den Bezirken: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2279, Bl.16. 382 Vgl. hierzu die Ausführungen von Joachim Gauck, der allerdings vernachlässigt, dass es in Rostock am 7. Oktober schon zu »Protesthandlungen und Sprechchören« auf der Kröpeliner Straße gekommen war: »Riss durch den Osten. Joachim Gauck kritisiert die ›Angst vor der Freiheit‹«. In: Ostsee-Zeitung, 22.10.2009, S. 2. 383 MfS, ZOS, Information Nr. 1488/89 vom 9.10.1989: Übergabe einer »Erklärung aus der Gebetsnacht in der Petrikirche« durch Vertreter der Kirche an den Referenten für Kirchenfragen des Rates der Stadt Rostock: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2277, Bl. 31–33. 384 Während Lothar Probst von 3 000 Teilnehmern ausgeht, benannte das MfS deren Zahl mit 2 000. Vgl. hierzu: Probst, Lothar: »Der Norden wacht auf«. Zur Geschichte des politischen Umbruchs in Rostock im Herbst 1989. Bremen 1993, S. 39 f.; MfS, ZOS, Politisch-operativ bedeutsame Handlungen, Vorkommnisse und Erscheinungen im Zusammenhang mit der operativen Aktion »Jubiläum 40« gemäß dem Befehl Nr. 14/89 und der Weisung des Genossen Minister vom 8.10.1989 (Berichtszeitraum: 12. bis 13.10.1989), Berlin, 13.10.1989: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2280, Bl. 27. 385 MfS, ZOS, Politisch-operativ bedeutsame Handlungen, Vorkommnisse und Erscheinungen im Zusammenhang mit der operativen Aktion »Jubiläum 40« gemäß dem Befehl Nr. 14/89 und der Weisung des Genossen Minister vom 8.10.1989 (Berichtszeitraum: 12. bis 13.10.1989), Berlin, 13.10.1989: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2280, Bl. 27 f.

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Menschen in die Petri- bzw. Marienkirche. 386 Anschließend formierten sich spontan die ersten Demonstrationszüge, die auch in Rostock den Protest auf die Straße trugen: Von der Marienkirche aus zogen mehrere tausend Menschen über die Kröpeliner Straße, vorbei am Kröpeliner Tor hin zur Bezirksbehörde der Staatssicherheit. Die aus dem Komplexinneren mit dem Megaphon vorgetragene Aufforderung »Verlassen Sie den Platz! Lösen Sie die Demonstration auf!« ging im Pfeifkonzert unter. Bevor der Zug Richtung Rathaus zog, forderten Sprechchöre »Stasi raus!« und »Stasi in die Produktion!«. 387 Eine weitere »Gebetsandacht«, so meldete es die Bezirksbehörde per chiffriertem Funkschreiben nach Berlin, »mit anschließendem Sternmarsch von mehreren Kirchen [aus] zum Ernst-Thälmann-Platz« fand am 26. Oktober statt. 388 Nach der Andacht in vier Rostocker Stadtkirchen bildete sich erneut ein Demonstrationszug, diesmal mit etwa 10 000 Teilnehmern, Richtung MfS-Bezirksverwaltung. Erneut forderten man »Stasi in die Produktion!«, »Stasi raus!«, »Stasi weg, hat keinen Zweck!« und »Wir sind das Volk, schließt euch an«. Auf den Fensterbrettern im Erdgeschoss und auf dem Vorplatz wurden Kerzen abgestellt. 389 Am 25. Oktober traf man sich in Greifswald im Dom und in der Jakobikirche sowie im Bad Doberaner Münster zu Friedensgebeten, bei denen man etwa 2 700 (Greifswald insgesamt) bzw. 2 000 Teilnehmer zählte. In Greifswald beteiligten sich anschließend an die 3 500 Einwohner an einem Demonstrationszug quer durch die Innenstadt. Das MfS erspähte dabei mehrere »Plakate mit den [auch ihm inzwischen] bekannten Texten«. 390 Auch vor der MfS-Kreisdienststelle in Doberan versammelten sich am 25. Oktober etwa 400 Menschen, stellten dort Kerzen ab und riefen, wie schon zuvor in Rostock, »Stasi raus« und »Stasi in die Produktion«. 391 Eine Beruhigung der Lage schien mit den Mitteln, die der SED angesichts des Erosionsprozesses ihrer Macht zur Verfügung standen, kaum mehr zu bewerkstelligen zu sein.

386 Probst: »Der Norden wacht auf« (ebenda), S. 40. 387 Ebenda, S. 43. 388 MfS, ZOS, Cfs 2523 vom 22.10.1989 der BV Rostock: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2294, Bl. 3. 389 MfS, ZOS, Politisch-operativ bedeutsame Handlungen, Vorkommnisse und Erscheinungen im Berichtszeitraum vom 26.10.1989–27.10.1989, Berlin, 27.10.1989: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2294, Bl. 21. 390 MfS, ZOS, Politisch-operativ bedeutsame Handlungen, Vorkommnisse und Erscheinungen im Berichtszeitraum vom 24.10.1989–25.10.1989, Berlin, 25.10.1989: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2294, Bl. 18. Bericht auch enthalten in: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2293, Bl. 8 sowie Hinweis hierauf in: MfS, ZOS, Hinweise auf beachtenswerte Veranstaltungen/Aktivitäten am 25. Oktober 1989: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2292, Bl. 53. 391 Ebenda.

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Formen des Widerspruchs und des Widerstands

3.1

Politisch abweichendes Verhalten

Im Folgenden, systematisch angelegten Abschnitt wird nach den Charakteristika der einzelnen Formen des politisch abweichenden Verhaltens gefragt. Verbunden ist dies mit der Suche nach praktikablen Kriterien, nach denen sich die einzelnen Erscheinungs- und Äußerungsformen sinnvoll definieren und ebenso kategorisieren lassen. Anhand von Beispielen soll die Theoriebildung zugleich hinsichtlich ihrer Praxistauglichkeit hinterfragt werden. Die empirische Verdichtung geht hier somit der weiteren Theoriebildung voran. Zugleich steht auch immer die Frage nach der Bedeutung der entsprechenden Kategorien für das »Widerstandsgeschehen« insgesamt im Mittelpunkt des Interesses. Aber ebenso geht es um die Handlungsmotive und Folgen für diejenigen, die sich der Staatsgewalt entgegenstellten. Nicht alles von dem, was eifrige Denunzianten dem MfS meldeten, muss automatisch als Widerstand gelten. Manch ein eher harmloser Vorfall wurde nachfolgend vom MfS als Ausdruck einer »staatsfeindlichen« Haltung oder »Hetze« eingestuft. Dies mag manches, was als widerständig aktenkundig wurde, relativeren. Oft lässt sich den Akten wiederum nur wenig über die Motive, konzeptionellen Vorstellungen der Handelnden entnehmen. Die sich hier findenden Aussagen der Beschuldigten unterlagen nicht selten dem Kalkül, sich nicht über das gegebene Maß hinaus selbst zu belasten. Doch gab es allen »Vorkommnissen« einen substanziellen Kern, der sich bei aller gebotenen Quellenkritik aus dem Niedergeschriebenen herausfiltern lässt. Selbst dort, wo die Staatssicherheit ihrer eigenen Suggestion folgte, wie es mitunter bei den Vorwürfen der Diversion und des Rowdytums geschah, lässt sich dies, trotz der diffamierenden und dramatisierenden Sprache, nachvollziehen. 3.1.1 Absicht und Wirklichkeit Wann und aus welchen Gründen wurde aus insgeheim gehegter Systemkritik wahrnehmbar Aufbegehren und Widerspruch und wann konnte man von Widerstand sprechen? Warum entschieden sich Menschen, nicht länger schweigen zu wollen und welche Möglichkeiten boten sich ihnen, ihren Unmut und ihre Kritik zu äußern? In welcher Weise leisteten sie Widerspruch,

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für welche Form des Widerstandes entschieden sie sich aus welchen Gründen? Wie sahen sie ihr Handeln selbst und wie bewerteten sie die damit zu erzielende Wirkung angesichts der ihnen gegebenenfalls drohenden Konsequenzen? Die hiermit einhergehenden Einschätzungen unterlagen zunächst der subjektiven Sicht des Einzelnen sowie der von ihm getroffenen Beurteilung. Doch vollzog sich dies nie im wertfreien Raum: Ebenso entscheidend war, wie das Umfeld, in dem jemand lebte, sein Verhalten bewertete und wie die Institutionen des Systems, die Schulen, Betriebe, kommunalen wie staatlichen Vertreter sowie der Staatssicherheitsdienst, auf sein politisch abweichendes Verhalten reagierten. In der Konsequenz ist daher auch zu fragen, welche Intention über die Absicht des Handelnden hinaus in eine Tat hineininterpretiert wurde, was möglicherweise nur unterstellt oder als anstößig stigmatisiert werden sollte, um Widerspruch und Widerstand im Frühstadium zu unterdrücken. Dies blieb nicht ohne Konsequenzen: Die strafrechtliche Ahndung von bereits »niederschwelliger« Kritik mochte, wo dies hinlänglich rigoros geschah, die Sicht auf das, was schon als Widerspruch und Widerstand anzusehen sei, verändern. Ebenso beeinflusste ein Nachlassen im Verfolgungsdruck, Inkonsequenzen bei der Stigmatisierung politisch abweichenden Verhaltens oder das Unvermögen der Geheimpolizei, weiterhin in gewohntem Maße durchgreifen zu können, das Widerstandsverhalten. »Grübeln an sich war schon ungünstig. Wenn einer anfängt zu grübeln, dann ist er schon fast automatisch ein Systemkritiker« 1. So äußerte sich der MfS-Mitarbeiter Werner Stiller zu seinen Beweggründen, als lange Zeit überzeugter SED-Parteigänger mit dem DDR-System zu brechen. Dieser euphorischen Sicht, die manchen zu dem Schluss verleiten könnte, er wäre angesichts der gehegten Bedenken damals ebenso »systemkritisch« gewesen, ist ein anderes Zitat entgegenzustellen. »Die Wirklichkeit der Absicht«, so schrieb Georg Wilhelm Friedrich Hegel, »ist nur die Tat selbst«. 2 Hegel verwies darauf, dass ethische Grundsätze zugleich im jeweiligen Handeln ihren Ausdruck finden sollten. Beide Zitate, das des Überläufers Stiller und das des Philosophen Hegel stehen für jenen Spannungsbogen, der in die Diskussion um Resistenz, Dissidenz, Verweigerung, Widerstand und Opposition ein Rolle spielt. Benannt werden zwei Eckpunkte. Zum einen der Ausgangspunkt, an dem jemand auf Distanz zum politischen System ging. Zweifel, Unzufriedenheit, Menschen, 1 Vgl. hierzu die Filmdokumentation »Mielkes Rache«, gesendet auf dem Fernsehkanal arte am 8.10.2008, hier: 2. Interview mit Werner Stiller (nach ca. 7 min. Laufzeit); Stiller, Werner: Im Zentrum der Spionage. 4. Auflage, Mainz 1986, S. 298. 2 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (1807). In: Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Sämtliche Werke), Bd. 2, Nachdruck, Stuttgart 1949, S. 132.

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die murrten und innerlich dem System widersprachen, gab es in der DDR zu allen Zeiten. Aufgeworfen wird zum anderen die Frage nach den sich hieraus ergebenden Konsequenzen im Handeln. 3.1.2 Nonkonformität, Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition Im Folgenden geht es nicht nur um den »Widerstand im engeren Sinne«, der nach Detlev Peukert »auf die Beseitigung des Systems abzielte«, sondern ebenso um den »Widerstand im Alltag«. Also um jenes politisch abweichende Verhalten und den Widerstand, der sich im Alltag vollzog und der nicht durch die hinlänglich bekannten Ereignisse abgedeckt wird. Die Widerstandsgeschichte vollzieht sich häufig allgemein entlang der Wegmarken »17. Juni 1953«, Robert Havemann, Wolf Biermann, Oskar Brüsewitz, dem Herbst 1989 und anderer Ereignisse. Sie stehen für den eindeutigen Widerstand gegen die SEDDiktatur. Hier soll aber auch nach anderen, weniger spektakulären Formen der Gegnerschaft gefragt werden. Bereits Detlev Peukert hat 1978 mit Bezug auf den Arbeiterwiderstand im Nationalsozialismus darauf hingewiesen, dass eine Abgrenzung zwischen beiden Bereichen nur bedingt sinnvoll ist. Einer Trennung, so Peukert, zwischen einem bewusst politischem Handeln, dem »Widerstand im engeren Sinne«, und dem unangepasstem Alltagsverhalten, Verweigerung und Protest, stehe ein gewichtiges Argument entgegen. 3 Da in einer Diktatur die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft aufgehoben sei und der von der Partei dominierte Staat den Alltag politisiere und seinem Diktat unterwerfe, erhalte der »Großteil des alltäglichen Konflikthandelns« eine politische Dimension. Das Festhalten an Traditionen und überkommenen Produktionsformen sei nun ebenso wie der Streik eine Form des politischen Aufbegehrens. Wie weit dies, so Peukert, von den Betroffenen beabsichtigt war oder so gesehen wurde, lässt sich demgegenüber nur schwer sagen. Hier liegt, solange die Analyse nicht durch eine spekulative Interpretation ersetzt werden soll, eine der Schwierigkeiten der nachfolgenden Betrachtung. Detlev Peukert hierzu ferner: »Wie weit sich diese Konfrontation aber auch im Denken und Verhalten der Betroffenen ausdrückt und somit als bewußter Widerstand begriffen werden kann, ist nur schwer verallgemeinernd zu bestimmen.« 4 Dies gilt ebenso für den »Widerstand im Alltag« der DDR und dem, was die MfS-Akten dazu hergeben. Häufig enthalten die Aufzeichnungen – außer schablonenhaften ideologischen Phrasen – nichts, was die Beweggründe und 3 Peukert, Detlev: Der deutsche Arbeiterwiderstand 1933–1945. In: Bracher, Karl Dietrich; Funke, Manfred; Jacobsen, Hans-Adolf (Hg.): Nationalsozialistische Diktatur 1933–1945. Eine Bilanz (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 192). Bonn 1986, S. 633–654, hier 636. 4 Ebenda.

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Motive der Handelnden erhellt. Ebenso oft legte das MfS dem Geschehen seine eigene Interpretation zugrunde oder die, die festgenommen wurden, führen in den Verhören ebensolche Erklärungen für ihr Handeln an, von denen sie sich ein möglichst mildes Strafmaß erhoffen. Mehrheitlich versuchten sie im Nachhinein angesichts der Strafverfolgung ihre Tat zu entpolitisieren und verwiesen auf ihre Verärgerung über rein Persönliches, ihre Trunkenheit und Ähnliches. Somit vermögen die hier hinzugezogenen MfS-Quellen häufig nur bedingt etwas zur Aufklärung der angesprochenen Frage beizutragen. Das politisch abweichende Verhalten in seinen Vorformen des Widerstandes streifte anscheinend den Randbereich des »bewussten Widerstandes« und war auch immer wieder ein Teil von ihm. Anders als bei den klassischen Beispielen des Widerstandes, dem »Widerstand im engeren Sinne« mit seinen Flugblattaktionen und Losungen, fällt hier die Einordnung und Unterteilung schwieriger. Um zu zeigen, dass es sich hierbei – trotz des geringeren Risikos – um ein gegen das Regime gerichtetes Tun handelte, sollen hier insbesondere jene Beispiele angeführt werden, die auf eine eindeutige politische Intension schließen lassen. Ähnlich wie bei der NS-Widerstandsforschung wird hier die Typenbildung anhand konkreter Beispiele erfolgen. Die Theoriebildung soll – wie es Karl-Wilhelm Fricke forderte – und anderes als es mitunter zuvor geschehen ist, mit der Verbreiterung der materiellen Basis einhergehen. 5 Wie lässt sich nun das Spektrum des politisch abweichenden Verhaltens in seiner Gesamtheit erfassen und zugleich begrifflich unterteilen? Geschehen soll dies im Folgenden anhand der Begriffe Nonkonformismus, Verweigerung, Widerspruch und Aufbegehren sowie Widerstand und Opposition. Das hier verwandte Schema stützt sich so auf eine Struktur, die sich in anderen Arbeiten zum Widerstand zum Nationalsozialismus oder auch SED-Staat bereits wiederfinden lässt. In einem Punkt weicht die Zuordnung jedoch von der in anderen Arbeiten ab: Während andernorts – so in der NS-Forschung bei Detlev Peukert – »die Bezeichnung ›Widerstand‹ im engeren Sinne dem bewußten Handeln, das den Sturz des Regimes wollte, vorbehalten« bleiben sollte 6, wird hier ein anderer Zugang für nötig erachtet. Der Begriff Widerstand gelangt hier wie die Begriffe Nonkonformismus, Verweigerung, Widerspruch und Aufbegehren entsprechend seiner Erscheinungs- und Aktionsformen zur An5 Fricke, Karl Wilhelm: Dimensionen von Opposition und Widerstand in der DDR. In: Henke, Klaus-Dietmar; Steinbach, Peter; Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand und Opposition in der DDR (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; 9). Köln, Weimar, Wien 1999, S. 20–43, hier 21. 6 Peukert, Detlev: Der deutsche Arbeiterwiderstand 1933–1945. In: Bracher, Karl Dietrich; Funke, Manfred; Jacobsen, Hans-Adolf (Hg.): Nationalsozialistische Diktatur 1933–1945. Eine Bilanz (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 192). Bonn 1986, S. 633–654, hier 637.

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wendung. Gewählt wird so kein intentionalistischer, sondern ein phänomenologischer Zugang: Nicht nur, dass die Intention der Handelnden sich nur schwer anhand von Quellen sicher ermitteln lässt. Entscheidend ist vielmehr, dass es gar nicht so sehr darauf ankam, ob jemand mit seiner Flugblattaktion, Losung oder Sabotagehandlung bewusst den Sturz des Regimes herbeiführen wollte. Angesichts des kaum veränderbar erscheinenden Status quo der DDR schien vielen eine solche Perspektive als illusorisch. Trotzdem sahen sie sich verpflichtet zu handeln. Bei denen, die ihrem Gewissens folgten und bei denen sich das Motiv auf das bekannte Credo, »das Gewissen steht auf«, verdichten lässt, lag dem Handeln bereits eine andere Logik zugrunde. Für sie ging es um die Notwendigkeit, dass grundsätzlich etwas getan werden muss, schon weitgehend losgelöst von Effizienzerwägungen, dass ihr Handeln tatsächlich zum Ende des Regimes führen könne. Dies heißt nicht, dass es eine solche, wenn auch versteckte Hoffnung nicht gegeben hätte. Ausschlaggebend war jedoch vielmehr die Frage der eigenen Selbstachtung sowie die des Anstandes – sich frühmorgens im Spiegel noch ansehen zu können. Ebenso mochte es zum Beispiel nach einer staatlichen Willkürmaßnahme zum Widerstand im Affekt oder aus Verärgerung, die das System nicht bewusst infrage stellte, kommen. Ehrhart Neubert verweist in der »Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989« auf drei Richtungen des Widerstandes: »Widerstandshandlungen zielten auf eine Schwächung oder Beseitigung der SED-Macht und deren öffentliche Diskreditierung« ab. 7 Vor allem nach den Ohnmachtserfahrungen nach dem Volksaufstand 1953, dem niedergeschlagenen Aufstand in Ungarn 1956, dem Mauerbau 1961 und der daraufhin einsetzenden ›Generalabrechnung‹, schien die Effizienz kaum mehr als Handlungskriterium des Widerstands der Realität zu entsprechen. Folgt man Heinrich August Winkler, so unterschied ihn dies von den weitverbreiteten Vorstellungen des Widerstandes im NS-Staat und wohl auch im ersten Jahrzehnt der DDR. 8 Trotzdem leisteten Menschen weiterhin Widerstand und forderten den SED-Staat immer wieder heraus, trotz der ungleichen Verhältnisse. Darüber hinaus mochten Menschen auch mit anderen Formen des politisch abweichenden Verhaltens, zum Beispiel dem offenen Widerspruch, das System bewusst und beabsichtigt infrage stellen. Im Grunde genommen ließ sich dies bereits durch »niederschwellige« Formen des politisch abweichenden Verhaltens erreichen. Die Ursache lag in der hohen Störanfälligkeit eines auf keine Abweichung eingestellten, statischen politischen Systems – kurz in seiner 7 Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 346). 2. Aufl., Bonn 2000, S. 31. 8 Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933–1990 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 463). Bonn 2004, S. 98.

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Inflexibilität, mit Abweichungen und Widerspruch umzugehen. Da bereits fast jede unerwünschte Abweichung, sofern sie nicht geahndet wurde, das Sicherheitsreglement des Systems konterkarierte und dies auch bekannt war, ließen sich mit bereits »geringen« Taten »große« Effekte erzielen. 3.1.3 Schwierigkeiten der Begriffsbestimmung – Die »Dienstpflichtverletzung« 9 – zwischen mitmenschlicher Kulanz, abweichendem Verhalten und Widerspruch Wie schwierig es ist, die Begriffe Widerstreben, Widerspruch und Widerstand in ihrem Bezug auf den Alltag in einer Diktatur zu fassen, wird häufig erst am konkreten Fall deutlich. Nicht wenige Handlungen erschließen sich erst über ihren Kontext. Hierzu zählt auch die Dienstpflichtverletzung. Konnte eine Pflichtverletzung, so ist im Folgenden zu fragen, die in der Ausübung des Dienstes erfolgte, als ein Akt des Widerstandes gelten? Grade an diesem Beispiel wird deutlich, dass eine genaue Zuordnung nicht immer einfach ist. Quellen, die einen Aufschluss über die Motive vermitteln, sind zumeist rar. Die Intention der Handelnden bleibt so im Dunkeln. Sie musste von den Betreffenden angesichts von staatspolizeilichen Ermittlungen aus naheliegenden Gründen »kaschiert«, umgedeutet oder auch abgestritten werden. Nur so konnten sie der drohenden Bestrafung entgehen. Auf der anderen Seite steht demgegenüber die den Handelnden unterstellte Absicht seitens der Ermittlungs- und Verfolgungsbehörden. Zwar ist die Dienstpflichtverletzung im bürokratischen Sinne klar definiert. Von ihren Beweggründen her entzieht sie sich in einer Diktatur jedoch häufig einer verlässlichen Wertung. Aus welchen Gründen kam es – so ist zum einen zu fragen – zu einer Pflichtverletzung? Erfolgte die Nachlässigkeit zum Beispiel aus Sympathie oder aus Mitleid gegenüber einem von politischer Repression bedrohten Mitmenschen, dem andernfalls, sofern der Vorschrift gemäß gehandelt worden wäre, die Festnahme gedroht hätte? Stand hinter der Pflichtverletzung eine klare politische Absicht; das Motiv, sich den Verhältnissen entgegenzustellen? Und was beinhaltete eine Pflichtverletzung in einem System, dessen Funktionsfähigkeit sich nicht nur über die gewissenhafte Dienstausführung vollzog, sondern den vorauseilenden Gehorsam der Verantwortlichen einforderte? Die in einer bestimmten gesellschaftlichen Funktion anzuwendenden Verhaltensnormen waren von politischen Vorgaben abhängig und entzogen sich dem klassischen Dienstaufsichtsrecht. Doch galten sie im Alltag als »gesetzt«. 9 Vgl. zur »Dienstpflichtverletzung«: Münkler, Herfried: Widerstand. In: Wörterbuch Staat und Politik, S. 874 f., hier 874.

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Herfried Münkler vertritt die Ansicht, dass »nicht jede Verweigerung [...] als Widerstand« bezeichnet werden könne. Im strengen Sinne, so Münkler, kann von Widerstand nur die Rede sein, »wenn der Widerstandsleistende die Gefahr einer Benachteiligung oder Bestrafung bewusst in Kauf nimmt und sich in seiner Weigerung, Befehle, Anweisungen oder Gesetze zu befolgen, mit Gründen auf sein Gewissen oder ein höheres Recht berufen kann.« Laut Münkler unterscheidet sich Widerstand »somit von der bloßen Dienstverletzung, Befehlsverweigerung oder Gesetzesübertretung«. 10 Doch trifft dies auch auf die Verhältnisse der Diktatur zu, in denen bekannte Zuordnungen hinfällig wurden, da das vordem Gültige »auf den Kopf« gestellte wurde? Der politische Umbruch schuf neue Normen, die den Alltag in seiner bisherigen Form durchdrangen. Vordem rechtsgebundene Zustände wurden nun instrumentalisiert, Kritik und Widerspruch im Amt demgegenüber kriminalisiert. Dienstpflichtverletzung war im Alltag der Diktatur nicht mehr gleich Dienstpflichtverletzung. Charakteristisch für die Dienstpflichtverletzung im herkömmlichen Sinne war, dass der säumige Vollstrecker mit seiner Unterlassung frei von jeglicher politisch-abweichender Intention handelte. Hierin unterschied sie sich von der darüber hinausgehenden Dienstpflichtverletzung in der Diktatur, die in den Bereich des Politischen eingriff und damit, was abhängig war vom jeweiligen Fall, ein Risiko einging. Die von den Vorgaben abweichende Person handelte hier aus Sympathie, menschlichem Mitgefühl für einen ansonsten vom Staat Bedrängten oder auch, weil sie sich dessen Ziele zu eigen machte. Zuzustimmen ist Münkler hingegen in seinem Anliegen, nicht grundsätzlich jede Tat, die in einer Diktatur die Kritik der Herrschenden auf sich zog, nachträglich als eine Form des Widerstands zu überhöhen. Doch woran lässt sich der Unterschied festmachen? Als Akt der Kulanz und als ein Versäumnis aus menschlichem Mitgefühl konnte jene »Fahrlässigkeit« im Dienst gelten, die den aufsichtsführenden Oberrichter am Amtsgericht Rostock, Ernst August Klingenstein, 1950 selbst zum Verdächtigen werden ließ. 11 Den Hintergrund bildete eine Nachlässigkeit im Dienst. Aus Sicht des sich im Aufbau befindlichen Staatssicherheitsdienstes handelte es sich um mehr als nur das. Ein als Rechtspfleger eingesetzter Abteilungsleiter des Amtsgerichtes Rostock und seine Büroangestellte hatten mehrfach Schiffszertifikate, die vor 1945 gedruckt und noch »mit dem faschistischen Hoheitszeichen« versehen waren, verschickt. Wie in solchen Fällen üblich, überklebten sie die Hakenkreuze und benutzten die Formulare weiterhin. Ihnen blieb auch keine andere Wahl. Wie der Staatssicherheitsdienst intern einräumte, gab es vor Ort keine nach 1945 gedruckten Formulare, auch 10 Münkler, Herfried: Widerstand. In: Wörterbuch Staat und Politik, S. 874 f. 11 Ernst August Klingenstein, geb. 4.6.1900; Vernehmungsprotokoll aufgenommen vom VPOberkommissar K., Rostock, 31.7.1950: BStU, MfS, BV Rostock, AU 70/50, HA, Bd. I, Bl. 28.

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weil »bis zum heutigen Tage durch die zuständige Verwaltung noch keine neuen Vordrucke entwickelt worden« waren. 12 Dessen ungeachtet nahm das MfS beide Amtsgerichtsmitarbeiter Ende Juli 1950 in Haft – vermutlich ließen sich die Hakenkreuze noch mit einigem Geschick hinter den aufgeklebten Papierabdeckungen erkennen. Bereits zuvor lag eine Anzeige vor, die jedoch ohne Konsequenzen blieb. In diesem Zusammenhang hatten sowohl der aufsichtsführende Richter am Amtsgericht als auch wenig später der Oberstaatsanwalt aus Güstrow die beiden Verantwortlichen der Zertifikationsabteilung angehört. Übereinstimmend stuften beide den Vorgang als »Fahrlässigkeit« ein. Sie entschieden, dass jener »keine Ahndung« nach sich ziehen solle. 13 Zwar räumte Richter Kinkenstein in seiner späteren Zeugenvernehmung ein, dass das Handeln der Mitarbeiter »jur[istisch] [...] nicht« ganz »einwandfrei« gewesen wäre. Doch bezog er sich in seiner Entscheidung, Kulanz walten zu lassen, auf die »Verfügung der Justizverwaltung Schwerin, Akt.Z. 3851/5/9 vom 20.9.48, nach welcher alte Formulare in Grundbuchsachen usw. durch Aufkleben einer Marke auf das faschistische Hoheitszeichen« weiter »verwandt« werden könnten. 14 Erst als das Justiz-Ministerium in Berlin von der Anzeige Kenntnis erhielt, wurde daraus mehr. Kurz nach einer weiteren Anhörung durch eine Berliner Ministeriumsmitarbeiterin erfolgte die Inhaftierung der Amtsgerichtsmitarbeiter durch das MfS. Fortan trug man alle nur erdenklichen belastenden Informationen zusammen. So sollte der Beweis erbracht werden, dass sie vorsätzlich gehandelt haben. Hierbei unterstellte man den Festgenommenen eine DDRfeindliche Gesinnung, recherchierte deren Lebensläufe und suchte nach einer möglicherweise »faschistischen« Vergangenheit. 15 Zugleich nutzte das MfS den Vorfall anderweitig: Man zwang eine der beiden Mitarbeiterinnen zu unterschreiben, zukünftig als GI (Geheimer Informator) arbeiten zu wollen. Wie es hieß, willigte sie »erst nach stundelanger Diskussion« ein. 16 Vier Wochen nach ihrer Verpflichtung floh sie nach West-Berlin: »Der GI wollte nicht mehr mit dem SfS [Staatssekretariat für Staatssicherheit] zusammenarbeiten«, lautet das Fazit ihres Führungsoffiziers. Der Aktennotiz ist weiter zu entnehmen: »Ob-

12 MfS, Schreiben der Verwaltung für Staatssicherheit, Land Mecklenburg, an das MfS, z.Hd. Staatssekretär Mielke, Schwerin, 29.7.1950: BStU, MfS, BV Rostock, AGI 512/54, Bd. I, Bl. 15–17, hier 16. 13 Ebenda. 14 Ernst August Klingenstein, geb. 4.6.1900; Vernehmungsprotokoll aufgenommen vom VPOberkommissar K., Rostock, 31.7.1950: BStU, MfS, BV Rostock, AU 70/50, HA, Bd. I, Bl. 28. 15 MfS, Schreiben der Verwaltung für Staatssicherheit, Land Mecklenburg, an das MfS, z.Hd. Staatssekretär Mielke, Schwerin, 29.7.1950: BStU, MfS, BV Rostock, AGI 512/54, Bd. I, Bl. 15–17, hier 16. 16 Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV Rostock, Abt. V/A, betr.: Durchgeführte Werbung eines GI, Rostock, 25.5.1954: BStU, MfS, BV Rostock, AGI 512/54, Bd. I, Bl. 24.

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wohl sie hätte Angaben machen können, hat sie es nicht getan.« Notgedrungen erging der »Beschluß über das Abbrechen der Verbindung«. 17 Ob sich für den nachlässigen Oberrichter am Amtsgericht Rostock aus dem Vorgang weitere Konsequenzen ergaben, ist, da es keine weiteren Unterlagen hierüber gibt, nicht bekannt. Anders sah es mit einer Dienstpflichtverletzung aus, die man 1957 auf der Warnow-Werft in Warnemünde beanstandete: Beschuldigt wurde hier die »Parteiorganisation der Helling«. Aufgrund ihres fehlenden Engagements sei es offensichtlich, dass sie nicht den von der SED vorgegebenen Zielen folge. Dies legte die suggestiv anmutende Frage im Neuen Deutschland vom 24. November 1957, »Loyal zur Republikflucht«, nahe. 18 Zwei Monate zuvor war mit dem Beschluss des Politbüros vom 3. September über »Die sozialistische Erziehung der Jugend und die Aufgaben der Grundorganisation der Partei« die Linie vorgegeben worden. Es handelte es sich um einen der zahlreichen Beschlüsse, mit denen die SED ihre Anhängerschaft zur verschärften politischen Agitation aufrief und den Mobilisierungsdruck im Land erhöhte. Nach wie vor war die Zahl der jugendlichen Flüchtlinge aus der DDR hoch. Jene flohen nicht nur aus materiellen Erwägungen. Sie verließen die DDR auch, um der politischen Daueragitation zu entkommen, mit der man paradoxerweise ihr Hierbleiben erzwingen wollte. Ursula Rebetky beklagte in ihrem Artikel, dass sich die Parteiorganisation und die Leitung der Werft demgegenüber weitgehend neutral verhielten. Die zuständigen Stellen, so Ursula Rebetky, ergriffen trotz der hohen Zahl der »Schiffsbauer, die im letzten Jahr nach Westdeutschland« gegangen sind, »nicht Partei«; »die Parteiorganisation«, lautete ihr ernüchterndes Fazit, »lenkt nicht die sozialistische Erziehung der Jugend«. 19 Die Autorin monierte das Verhalten der Verantwortlichen auf der Werft insgesamt. Diese hätten öffentlich erklärt, »es sei der natürliche Drang der Jugend zu wandern und einen noch größeren Betrieb kennenzulernen«. 20 Hamburg sei nun mal die natürliche Metropole im Norden und schon immer seien Menschen aus Mecklenburg dorthin zur Arbeit abgewandert. Das Desinteresse an der von Ost-Berlin ausgerufenen Kampagne sollte nun nicht mehr nur als Nachlässigkeit betrachtet werden. Äußerungen wie, »die Republikflüchtigen« seien zuallererst »›Wanderer zwischen zwei Welten‹«21, sollten als Weigerung, alles was aus Berlin kommt, in Rostock widerspruchslos mitmachen zu müssen, verstanden und dementsprechend geahndet werden. Ob es hierzu kam und welche Konsequenzen sich hieraus ergaben, ließ sich anhand der vom MfS 17 Ebenda, Bl. 25. 18 Rebetzky, Ursula: Loyal zur Republikflucht? Die Parteiorganisation der Helling lenkt nicht die sozialistische Erziehung der Jugend. In: ND, 12. Jg., Nr. 278, B-Ausgabe, 24.11.1957, S. 3. 19 Ebenda. 20 Ebenda. 21 Ebenda.

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übermittelten Akten nicht klären. Allzu sehr fiel der Vorgang in den Bereich der SED und deren Parteigliederungen, die über »Auswertungen« – in der Praxis tribunalähnliche Versammlungen – und die hier eingeforderte »Selbstkritik« für eine Disziplinierung zu sorgen hatten. Als Provokation empfunden wurde die Dienstpflichtverletzung an Bord eine Grenzbootes 1966. Die Besatzung zog auf ihrem Schiff anstelle der vorgeschriebenen Beflaggung »zu Ehren des 1. Mai« soeben »gewaschene Socken« am Fahnenmast auf. 22 Die Besatzung des Grenzbootes Nr. 95 ließ es hierbei nicht bewenden. Sie grüßte ein vorbeifahrendes Boot der Fischereigenossenschaft, das die DDR-Flagge und die rote Fahne vorschriftsmäßig »über die Toppen geflaggt hatte« und »rief den Fischern zu, ›ihr seht ja aus wie ein Zirkusdampfer‹«. Die Fischer zeigten sich empört und ereiferten sich über die ausgelassen Stimmung an Bord des Grenzbootes: »Beleidigt« rief einer von ihnen bei den Sicherheitsorganen an und denunzierte die »Genossen der Grenze«. Die pflichtwidrig nicht aufgezogenen Flaggen sowie die »Grenzüberschreitung« blieben nicht ohne Nachspiel, auch wenn über die konkreten Folgen und die Motive der Matrosen nichts bekannt ist. 23 Der Vorfall zeigt aber auf, wie leicht aus einer Nachlässigkeit oder einem gedankenvergessenen Spaß in einer Diktatur bitterer Ernst werden konnte. Als klare Dienstpflichtverletzung sollte 1987 das Verhalten einer Pädagogischen Mitarbeiterin im »Haus der Pioniere« in Rostock bewertet und dementsprechend sanktioniert werden. Die als Diplom-Staatsbürgerkundelehrerin ausgebildete Betreuerin ging nicht, wie man es von ihr erwartet »gegen das Tragen von klerikal-pazifistischen Symbolen im Haus der Pioniere« vor. 24 Sie verstieß damit, wie man monierte, eindeutig gegen die »Festlegung der Abteilung Volksbildung«, dass Jugendliche mit dem Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen« und mit ähnlichen als kirchlich eingestuften Symbolen mit Hausverbot zu belegen seien. 25 Obwohl sie die »Arbeitsgruppe Friedenskampf« und somit für die FDJ-Kampagne zur Zurückdrängung der kirchlichen Friedensarbeit verantwortlich zeichnete, missbilligte sie diese nicht. Vielmehr äußerte sie im »Haus der Pioniere«, dass die »Aussage ›Schwerter zu Pflugscharen‹ nur bedingt zu verurteilen« sei, »da die Idee an sich gut wäre«. 26 Auch als Leiterin der »Arbeitsgruppe Friedenskampf« zeigte sie mehr Realitätssinn als ihre Vorgesetzten von der Abteilung Volksbildung beim Rat der Stadt Rostock. So verstieß sie abermals gegen den ihr angetragenen »Kampfauftrag« der Freien 22 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkarteien, Karteibestand »mündliche Hetze Bekannt«, Meldung vom 1.5.1966, Ablage 8125: BStU, MfS, BV Rostock. 23 Ebenda. 24 MfS, BV Rostock, Abt. XX/2, Einleitungsbericht zur OPK »Zirkel«, Rostock, 12.2.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1256/87, Bd. I, Bl. 25–28, hier 27. 25 Ebenda. 26 Ebenda.

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Deutschen Jugend. Die Diplom-Staatsbürgerkundelehrerin sei, so meldete es ein Spitzel dem MfS, »der Auffassung, das Informationsblatt der Arbeitsgruppe ›Friedenskampf‹ ohne FDJ-Emblem herauszugeben, da es ansonsten keiner lesen würde«. 27 Zunehmend suchte sie den Kontakt zu kritisch denkenden und an den politischen Vorgaben in der DDR zweifelnden Jugendlichen. Sie verkehrt innerhalb der Rostocker Aussteigerszene. Ebenso wie sie stammten ihre Gesprächspartner aus Funktionärshäusern und waren mit ihren systemkonformen Eltern irgendwann in Konflikt geraten. Mit den kirchlich orientierten Kreisen der Stadt wussten sie nur bedingt etwas anzufangen. Als sie im Oktober 1985 damit begann, Jugendliche aus diesem Umfeld zu einem »Literaturzirkel« in ihre Wohnung einzuladen, entschlossen sich ihre Vorgesetzten und das MfS zum Handeln. Die Treffen dienten, so hatte es die Abteilung 26 beim Abhören ihrer Wohnung erlauscht, zwar »ausschließlich dem zwanglosen Austausch von Gedanken«. Doch zeigte sich das MfS überzeugt, dass es an solchen Abenden »feindlich-negativ« zugehe. 28 »Über den Stadtschulrat«, so hieß es weiter, »werden notwendige Maßnahmen zur Disziplinierung der B[...] eingeleitet« 29 Schließlich fand man eine so geräuschlose wie effiziente Lösung: Der Leiter des »Hauses der Pioniere [...] wirkte dahingehend« auf die DiplomStaatsbürgerkundelehrerin ein, dass sie »nach Beendigung des Babyjahres nicht mehr im Bereich der Volksbildung tätig« wurde. 30 Sie arbeitete fortan in einer Dokumentationsabteilung eines DDR-Kombinates. Dort bekleidete sie nominell eine »leitende Funktion«, 31 de facto handelte es sich jedoch um eine Abschiebung in einen aus sicherheitspolitischer Perspektive unbedeutenden Bereich. Von Bedeutung war in der DDR so auch immer, was in einer gesellschaftlich sensiblen Position von jemandem gemeinhin erwartet wurde – und aus Sicht der SED auch erwartet werden konnte. Schließlich gelangte ein Kulturhausleiter, Journalist oder Historiker als Sachwalter des DDR-Systems nicht zufällig auf seinen Posten. Er schaffte es vor allem deshalb, weil er zuvor bewiesen hatte, dass er die geltenden Normen und Prinzipien akzeptierte und konsequent umsetzte. Zumeist war der Betreffende Mitglied der SED oder einer der Blockparteien, hatte in seiner Ausbildung und später an den paramilitärischen Übungen der Kampfgruppen oder der Zivilverteidigung teilgenommen und erfüllte auch sonst gewissenhaft seine politische Loyalitätspflicht. Aus27 MfS, BV Rostock, Bericht in Auszügen, abgelegt ohne weitere Angaben, handschriftlicher Vermerk: Rostock 1/85, XX/2: BStU, MfS, HA XX, Nr. 6059, Bl. 112 f. 28 MfS, BV Rostock, Abt. XX/2, Abschlussbericht zum OV »Zirkel«, Rostock, 25.3.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1256/87, Bd. I, Bl. 331–336, hier 334 f. 29 MfS, BV Rostock, Bericht in Auszügen, abgelegt ohne weitere Angaben, handschriftlicher Vermerk: Rostock 1/85, XX/2: BStU, MfS, HA XX, Nr. 6059, Bl. 112 f. 30 MfS, BV Rostock, Abt. XX/2, Abschlussbericht zum OV »Zirkel«, Rostock, 25.3.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1256/87, Bd. I, Bl. 331–336, hier 335. 31 Ebenda.

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nahmen bestätigten lediglich die Regel. Zu Irritationen konnte es im Kulturbereich oder im Journalismus kommen. Der notwendigen Kreativität standen die Loyalität und Parteilichkeit entgegen. Die meisten Stelleninhaber entschieden sich für letzteres. So konnten sie ohne Probleme, dem, was man von ihnen erwartete, entsprechen. Doch gab es immer wieder, wie das Beispiel der Diplom-Staatsbürgerkundelehrerin im »Haus der Pioniere« zeigte, Ausnahmen. Ebenso wenig gebunden an das, was man von ihm erwartete, sah sich der künstlerische Leiter der Galerie in der Orangerie in Putbus auf Rügen, Walter Goes. In den vom Rat des Kreises eingerichteten Ausstellungsräumen plante der Maler und Graphiker im Januar 1987, eine »Mail-Art« Ausstellung mit Künstlern sowohl aus dem Osten als auch aus dem Westen zu präsentieren. 32 »Progressive Kräfte« vor Ort wiesen die Kreisverwaltung und das MfS nach dem Aufbau der Exponate »vertraulich« darauf hin, dass die Ausstellung »nicht den Zielen der Kulturpolitik der Partei« entspreche. Die Ausstellung dürfe, so die »progressiven Kräfte« weiter, aufgrund ihres anstößigen Inhaltes »nicht eröffnet werden«. 33 Zugleich monierte man, dass der »Inhalt der Ausstellung [...] auch den Absprachen zur Konzeption, die zwischen Goes und Genossen Ullmann, Abteilung Kultur beim Rat des Kreises [vorab] geführt worden sind«, widerspreche. Zwar lege ein »Protokoll über diese Absprache [...] nicht vor«, doch wisse der künstlerische Leiter sehr wohl, was man von ihm erwarte und was an sich seine Aufgabe sei. 34 Schließlich habe Walter Goes bereits 1986 »eine solche Ausstellung [...] im Kulturhaus geplant«, die in der Konsequenz erst »durch die Einflussnahme« der MfS-Kreisdienststelle Rügen verhindert werden konnte. 35 Die Kreisdienststelle des MfS in Bergen forderte vom Rat des Kreises die für den 11. Januar 1987 angesetzte Ausstellungseröffnung »aus ›technischen Gründen‹ zu unterbinden«. Um zukünftig Ähnliches im Vorfeld zu verhindern, sollte die Abteilung Kultur zudem »eindeutige Regelungen für die Genehmigung von Veranstaltungen im Bereich Kunst/Kultur [...] schaffen«, da das informelle System, bestehend aus Erfordernissen und Erwartungen, nicht effizient funktioniere. Die zu erlassenden »Regelungen« seien nicht nur schriftlich zu fixieren, sondern, hierauf legte das MfS besonderen Wert, in der Konsequenz auch »durchzusetzen«. 36 Wohl aus Nachlässigkeit erfolgten zwei Dienstpflichtverletzungen, die sich in der Ostsee-Zeitung ereigneten, dem »Organ der Sozialistischen Einheitspar32 MfS, BV Rostock, KD Rügen, Information Nr. 1/87, betr. die am 11.1.1987 geplante Eröffnung einer »Mail-Art« Ausstellung »Künstlerbriefe, Briefaufzeichnungen« in der Orangerie Putbus, Bergen, 9.1.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 258, T. 1, Bl. 619 f. Vgl. hierzu auch: Röder, Kornelia: Mail Art – ein neues Sammelgebiet im Staatlichen Museum Schwerin. In: Zr. 4 (2000) 4, S. 24–29, hier 25 f. 33 MfS, BV Rostock, KD Rügen, Information Nr. 1/87 (ebenda), Bl. 619. 34 Ebenda. 35 Ebenda, Bl. 620. 36 Ebenda.

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tei« im Ostseebezirk. 37 Da ihnen anscheinend keine Absicht zugrunde lag, mochten sie als »bloße Dienstpflichtverletzungen« gelten. Trotzdem sorgten sie für hinreichend Unruhe, in einem Fall ergaben sich hieraus schwerwiegende Konsequenzen. Der erste Vorfall bescherte der Ostsee-Zeitung fast eine »redaktionelle Panne«: Über die Hintergründe ist wenig bekannt. Nachlässigkeit, fehlende Sensibilität oder auch ein fatales Autoritätsempfinden mochten hierbei eine Rolle gespielt haben. Registriert wurde von der MfSBezirksverwaltung, dass eine Journalistin »politisch-negative« Ausführungen in einem Interview nicht als solche erkannt und zur Veröffentlichung vorgelegt hatte. Geistesgegenwärtig lehnte der verantwortliche Redakteur die Veröffentlichung ab. Die Journalistin war beauftragt worden, in Greifswald ein Interview mit Reinhard Glöckner, dem Pfarrer der evangelischen Marienkirche zu führen. Glöckner war Mitglied in der Ost-CDU. Als Abgeordneter der Stadtverordnetenversammlung 38 sollte er ein beredtes Zeugnis vom vielbeschworenen vermeintlich guten Verhältnis zwischen Christen und Marxisten in der DDR ablegen. So lautete der Auftrag für eine der folgenden Ausgaben der Ostsee-Zeitung: »Es war vorgesehen, in Vorbereitung des 35. Jahrestages der DDR eine Seite in der ›Ostsee-Zeitung‹ mit Porträts von Personen aus dem Bezirk Rostock zu gestalten«. 39 Doch kam es anders. Pfarrer Reinhard Glöckner gab der Journalistin zwar offenherzig Antwort. Doch enthielt das Interview nicht das, was man zur Gestaltung der Seite benötigte. Reinhard Glöckner führte unter anderem aus, »die DDR« lobe »sich ständig selbst und ein Mensch, der sich selbst lobt, ist krank, demzufolge ist die DDR ebenfalls krank«. 40 Weiterhin war von ihm zu vernehmen: »In der DDR existiert eine ›obere Schicht‹ mit Privilegien, die anordnet, die gesamte DDR auszuplündern, um in Berlin eine Scheinwelt zu errichten«. Hinzu kam die Feststellung, »in der DDR werden die primitivsten Menschenrechte nicht ausreichend verwirklicht«. Glöckner bezeichnete die Plattenbaugebiete zudem als »Betonsilos«, in denen »Menschen zusammengepfercht« würden und sprach sich unmissverständlich gegen die Raketenstationierung in der DDR aus. 41 Warum die nach Greifswald entsandte Journalistin dennoch das Interview zum Druck einreichte, ist nicht bekannt. Offensichtlich war nur, dass sie ihren Dienstauftrag grob fehlerhaft ausgeführt hatte. Allzu sehr ließ sie sich wohl von der 37 Zur Geschichte der Ostsee-Zeitung: Reinke, Helmut: Weil wir hier zu Hause sind. 50 Jahre OZ. Die zwei Leben einer Zeitung, Rostock 2002. 38 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Missionar«, Bearbeitungsrichtlinie §§ 106, 107 StGB, Greifswald, 12.7.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1191/89, Bd. I, Bl. 7–11. 39 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Politisch-negative Äußerungen des Pfarrers Dr. Glöckner aus Greifswald im Zusammenhang mit dem 35. Jahrestag der DDR: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1191/89, Bd. I, Bl. 209. 40 Ebenda. 41 Ebenda.

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Annahme leiten, dass sie das, was ein DDR-Abgeordneter und eine Person des politisch-gesellschaftlichen Lebens sagte, nicht infrage zu stellen hatte. Da Glöckner von ihren Vorgesetzen für das Interview ausgewählt worden war, schien sich ihre Verantwortung auf die Ausführung des Auftrages zu reduzieren. Das den Journalisten anerzogenen Dienstverständnis, dass sie das, was andere für sie entschieden, nicht zu hinterfragen hatten, führte hier zur Verantwortungsabgabe und kehrte sich gegen das System der Zensur selbst. Ohne dass dem eine Absicht zugrunde liegen musste, kam es hier zur Disfunktionalität im System. Ausgelöst wurde der zweite »Störfall« durch einen Artikel des Rostocker Professors Peter Voigt 42 in der Wochenendausgabe der Ostsee-Zeitung vom letzten Märzwochenende 1984. Der Artikel erschien unter der Überschrift »Sozialistische Sozialpolitik geht auf Dauer nur, wenn gut gearbeitet wird«. 43 Der Titel nahm den Inhalt des Beitrages bereits vorweg. Voigt benannte in ihm eine Selbstverständlichkeit, die in der DDR jedoch keine war und als solche nicht benannt werden durfte. Der Verweis auf die Realität stellte nicht nur die ideologischen Wunschvorstellungen und Heilsversprechen der SEDFührung infrage. Der Artikel erschien zudem zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt: Der Reformprozess in der Sowjetunion unter Michael Gorbatschow erhöhte die Nervosität, die ein solcher Artikel auszulösen vermochte. Der »Störfall« basierte auf einem Missverständnis. Ohne die geläufige »Schere im Kopf« entschied sich der Soziologe Voigt, der zuvor von der OstseeZeitung um den Artikel gebeten worden war, dafür, das aufzuschreiben, was er schon immer mal ansprechen wollte. Schließlich würde das Lektorat wie üblich die zu provokanten Passagen wieder herausstreichen und den Artikel einkürzen. Daher erschien es Voigt angebracht, vorausschauend einige pointierte Aussagen in den Text mit einzubauen, wohl wissend, dass sie wieder herausgenommen werden würden. Erhalten blieben so zumindest einige seiner Grundaussagen, die dem Zensor weniger anstößig vorkamen. Voigt äußerte sich in diesem Sinne rückblickend: Es ging für ihn schon darum, »ein Stückchen weiter nach vorn zu gehen, um auszuloten: Wie weit kannst du gehen. [...] erst mal anbieten, nachlassen kannst du immer«. Zugleich, so Voigt weiter, war es damals »eine Zeit, wo man den Eindruck hatte, jetzt kann man den Stachel ein klein bisschen weiter nach hinten setzen, nicht viel, aber ein klein bisschen«. 44 42 Prof. Dr. Peter Voigt war außerordentlicher Professor der Sektion Marxismus-Leninismus der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, Leiter des Problemrates »Lebensweise und Territorium« des Wissenschaftlichen Rates für soziologische Forschungen in der DDR und Mitglied des Arbeitskreises marxistisch-leninistische Soziologie beim Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen. Nach: Niemann, Mario: Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952–1989. Paderborn 2007, S. 264. 43 Voigt, Peter: Sozialistische Sozialpolitik geht auf Dauer nur, wenn gut gearbeitet wird. In: Ostsee-Zeitung, 33. Jg., Nr. 78, 31.3./1.4.1984, Beilage, S. 3. 44 Zit. nach: Niemann, Mario: Die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 1952–1989. Paderborn 2007, S. 266.

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Der Artikel erschien wider Erwarten in seiner ganzen Länge. Die Lektorin hatte den Text zum Druck weitergereicht. Meinte sie, dass es ihr nicht zustehe, in den Artikel eines renommierten Professors eingreifen zu dürfen? Voigt hatte seinerseits darauf vertraut, dass die Lektorin hinreichend Bescheid wüsste, »was im Moment auf gar keinen Fall gewünscht wird«. 45 Diese Passagen würde sie, so erinnert sich Voigt, »ohnehin raus streichen und mir [dies] sagen«. Die Lektorin führte ihre Nachlässigkeit rückblickend darauf zurück, dass die gesamte Redaktion »den Artikel eigentlich gut« fand, weil er »die gleichen Fragen« enthielt, die auch die Zeitungsmitarbeiter bewegten. 46 Tatsächlich etwas »Schlimmes«, befand die verantwortliche Lektorin, war in dem Artikel »nicht drin«. Wie sich bald herausstellen sollte, hatte sie ihre Dienstpflicht damit grob verletzt. Für Voigt war vor allem eines klar, als er der Artikel ungekürzt vor ihm lag: »Au, dieses Mal wird es Ärger geben«, will der Soziologe zu seiner Frau gesagt haben, nachdem er sich zuvor darauf eingestellt hatte, dass sein Beitrag »ganz abgelehnt und gar nicht genommen« werden würde. 47 Der Artikel verfehlte seine Wirkung nicht. Auch nicht bei Erich Honecker, der auf der Insel Vilm zum Urlaub weilte und angeblich aus dem Westfernsehen von dem Artikel erfuhr. 48 Eine Reaktion aus Berlin ließ nicht lange auf sich warten. Am darauffolgenden Tag meldete sich Horst Dohlus, Sekretär des Zentralkomitees der SED und zuständig für die Parteiorgane, in der Rostocker SED-Bezirksleitung und verlangte unverzüglich den »Bezirkschef« zu sprechen. Ernst Timm, Rostocks Erster Sekretär, befand sich auf Kur; geistesgegenwärtig entgegnete Timms Stellvertreter, dass er wüsste, warum er angerufen werde. In der Rostocker Parteileitung sei man bereits dabei, über Konsequenzen zu beraten. »Das stimmte natürlich so nicht«, so ein Zeitzeuge aus der Bezirksleitung, nahm jedoch ein Stück weit die Rostock SED-Funktionäre aus der »Schusslinie«. Umso mehr traf der Zorn die verantwortliche Redaktion. Hinzu kam, dass »Die Welt« in Hamburg am 3. April unter der Überschrift »›DDR‹: Probleme mit Überqualifizierten« über Voigts Artikel berichtete. 49 Alle sechs Sekretäre der Rostocker SED-Bezirksleitung wurden am 11. April 1984 nach Berlin zitiert und mussten vor dem Sekretariat des SED-Zentralkomitees Rede und Antwort stehen. Nachdem sie eingehend Selbstkritik geübte hatte, erhielt Siegfried Unverricht, der Agit-Prop-Sekretär der Rostocker Bezirksleitung, als »Parteierziehungsmaßnahme« eine »Missbilligung«. 50 Die Bezirksleitung verstand die Botschaft durchaus. Sie hatte ihren »Kopf« nochmal retten können. Dies vor allem, weil man von ihr erwarten konnte, 45 46 47 48 49 50

Ebenda, S. 266 f. Ebenda. Ebenda, S. 267. Ebenda. Ebenda, S. 267 f. Ebenda, S. 271 f.

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dass sie den auf sie in Berlin ausgeübten inquisitorischen Druck in Rostock effektiv weitergeben würden. Untersuchungen, Einzelbefragungen, Mitgliederversammlungen und Parteistrafen folgten dementsprechend an der OstseeZeitung und der Wilhelm-Pieck-Universität in Rostock. Der Chefredakteur der SED-Bezirkszeitung erhielt als Parteistrafe eine »Rüge«, weil er seiner Verantwortung nicht nachgekommen sei. Bestraft wurden ebenso die Lektorin und ein seit längerem als aufmüpfig geltender Redakteur, wegen der »Verletzung der politischen Wachsamkeit«. Letzterer stimmte unter Druck seiner Versetzung zur Betriebszeitung der Bagger-, Bugsier- und Bergungsreederei zu. Der Leiter des »Lesedienstes«, der die Zeitung am Abend vor ihrem Erscheinen nochmals zu prüfen hatte, kam mit einer »Missbilligung« davon. 51 Ebenso mit einer »Rüge« sollte Peter Voigt an der Wilhelm-Pieck-Universität bestraft werden. Die folgenden Aussprachen und die Infragestellung seiner beruflichen Kompetenz und Lehrbefähigung führten bei ihm zu einem Nervenkollaps, der Einweisung in die Nervenklinik und zur langfristigen Krankschreibung. Er wurde de facto beruflich kaltgestellt. 52 Ernst Timm, Rostocks Erster SED-Sekretär, hatte während einer Versammlung in der Ostsee-Zeitung am 17. April 1984 zuvor noch einmal klar benannt, was das Versäumnis der Redakteure gewesen war und was man zukünftig erwarte: Bei der »Darlegung und Erläuterung der Parteibeschlüsse« seien laut Timm »›interessanter‹ Journalismus und vermeintliche Originalität [...] völlig fehl am Platze«. Dieses, so Timm, »muß man ausmerzen«. 53 Trotz des Aufsehens, das Voigt mit seinem Artikel auslöste, und der Reaktionen der SED-Führung lässt sich nur schwer beurteilen, wie die »Tat« zu bewerten ist. Den Redakteuren, denen ihre Dienstpflichtverletzung vorgeworfen wurde, zeigten sich von den späteren Strafen überrascht. Hatte hier lediglich das System des vorauseilenden Gehorsams und der Pflichterfüllung versagt? Die Lektorin glaubte, dass der Artikel vertretbar sei, da er keine staatskritischen Aussagen enthielt. Dies, obwohl Voigt sich durchaus des Umstandes bewusst war, dass seine Äußerungen als unerwünscht gelten mussten. Doch rechnete er auch nicht mit ihrem Abdruck, sondern meinte, mit ihnen lediglich seinen Handlungsspielraum erweitern oder den bestehenden verteidigen zu können. Seine Frage, ob »nicht unter Umständen garantierte soziale Sicherheit zu Leichtfertigkeit im Leistungsverhalten« führen könne oder die Feststellung, dass »gegenwärtig in der DDR etwa 25 Prozent der Hoch- und Fachschulkader nicht qualifikationsgerecht eingesetzt« seien 54, ließ sich kaum als Widerstand gegen die SED missverstehen. Voigts hatte sich zumindest dem 51 Ebenda, S. 275 f. 52 Ebenda, S. 279 f. 53 Ebenda, S. 276. 54 Voigt, Peter: Sozialistische Sozialpolitik geht auf Dauer nur, wenn gut gearbeitet wird. In: Ostsee-Zeitung, 33. Jg., Nr. 78, 31.3./1.4.1984, Beilage, S. 3.

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Diktat der »Normalität« nicht unwidersprochen unterwerfen wollen und wurde so, da solche Aussagen in einer Bezirksparteizeitung der SED »nichts zu suchen hatten«, zum Delinquenten. Letztlich avancierte der überzeugte Marxist infolge seines Taktierens und begünstigt durch eine Dienstpflichtverletzung in der Redaktion zum »Problemfall« – er wurde zu einem Dissidenten wider Willen. Vielleicht war es seine These, dass »schon eine entsprechende ›Problemsicht‹ [...] [den] Ansatz zum Fortschritt« in sich trage, die dem im Stillstand verharrenden Politbüro anstößig genug erschien, um gegen die Veröffentlichung vorzugehen. In einer von ideologischen Normen bestimmten Gesellschaft musste ein politischer Verstoß, sofern es im Amt dazu kam, der klassischen Dienstpflichtverletzung gleichkommen. Dabei spielte es keine Rolle, ob dem ein arbeitsrechtliches Dienstverhältnis zugrunde lag oder der Fehltritt, den es zu ahnden galt, in Ausübung einer politischen Funktion erfolgte. Häufig waren Amt und Parteifunktion miteinander verzahnt und die Parteimitgliedschaft eine Grundvoraussetzung zur Ausübung des Amtes. Dies traf für den Rektor einer Hochschuleinrichtung ebenso zu wie für einen Funktionsträger in der Kommunal-, Kreis- oder Bezirksverwaltung. Dass es zu einer Unachtsamkeit im Amt kam und der Betreffende von der allseits eingeforderten Parteilichkeit abwich, konnte auch hier unterschiedliche Gründe haben. Dies, weil der Betreffende den von ihm zu Meldenden persönlich kannte, er mit dem Anderen mitfühlte oder Freunde oder Familienmitglieder unter den Repressionen zu leiden gehabt hätten. So verhielte es sich wohl auch in Greifswald 1985. Ein Medizinstudent, der an einem Kunst-Happening teilnahm, auf dem eine DDR-Fahne verbrannt worden war, wurde für drei Jahre vom Studium ausgeschlossen. Das MfS berichtete hierzu im seinem Abschlussbericht: »Unter Mißbrauch seiner angesehenen Position als stellv[ertretender] Kreisschulrat und Nomenklaturkader der SED-Kreisleitung versuchte der Vater [des Delinquenten] [...] durch Eingaben an die SED-Kreisleitung [...] und die [...] Universität sowie durch persönliche Einflussnahme die Entscheidung rückgängig zu machen.« 55 Besonders pikiert zeigte man sich angesichts des Umstandes, dass der Vater versucht hatte, »das Verhalten SEINES Sohnes« als jugendlichen Streich »zu bagatellisieren.« 56 Für den Vater, einen vom katholischen Glauben abgefallenen, überzeugten Kommunisten, sprach nicht nur, dass er seine menschlichen Empfindungen über das ideologische Prinzip stellte. Auch zeigte er Größe, weil er angesichts der politischen Differenzen, die er mit seinem Sohn seit Jahren am heimischen Abendbrottisch ausgefochten hatte, auch anders hätte

55 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Ref. 2, Abschlussbericht zur OPK »Lyrik«, Greifswald, 23.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 2783/85, Bl. 313–319, hier 319. 56 Ebenda.

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reagieren können. 57 Umso mehr verdiente das Engagement des Vaters Respekt, zumal andere Parteifunktionäre in vergleichbarer Situation von ihren Kindern abrückten und sich von deren Handlungen distanzierten. Doch reichte der Mut des Vaters nicht (oder die einmal angenommene Überzeugung oder die Angst vor dem beruflichen Absturz wog zu schwer), um mit dem System insgesamt zu brechen. Auch wurde der Beschluss der Disziplinärkommission der Ernst-Moritz-Arndt-Universität nicht revidiert. Vielmehr schaltete sich die SED-Kreisleitung ein und führte mit ihrem Nomenklaturkader »ein disziplinierendes Gespräch«. Man wies ihn unmissverständlich auf sein Fehlverhalten und etwaige Konsequenzen hin. 58 Zu einer in den Augen des Staatssicherheitsdienstes hiermit vergleichbaren »Anmaßung« im Amt kam es Mitte der siebziger Jahre in Waren an der Müritz im Bezirk Neubrandenburg. Anstoß erregte hier diesmal der Erste Sekretär der FDJ-Kreisleitung. Sein Sohn hatte ihm erzählt, dass er vom Staatssicherheitsdienst aufgrund eines nichtigen Anlasses per Schweigeerklärung zur inoffiziellen Mitarbeit verpflichtet worden war. Der Kreisfunktionär suchte daraufhin das Gespräch auf der politischen Ebene. 59 Gegenüber dem Ersten Kreisvorsitzenden der SED zeigte er sich nicht nur irritiert, einen erst Achtzehnjährigen zur Zusammenarbeit zu verpflichten. Zugleich bemühte er sich darum, den Kreissekretär davon zu überzeugen, »daß sein Sohn für eine Zusammenarbeit ungeeignet sei«. Er selbst halte seinen Sohn für viel zu »unzuverlässig«. 60 Die Nachricht von der Dekonspiration erreichte wenig später die MfSKreisdienststelle. Sie erfüllte ihren Zweck. Die Familie des FDJ-Sekretärs galt den Sicherheitsstellen schon vor dem besagten Ereignis als ausgewiesener Problemfall. Anfang der siebziger Jahre erfuhr das Staatssicherheitsministerium »inoffiziell«, dass sich die Frau des Funktionärs entgegen den bestehenden Vorschriften in Ost-Berlin heimlich mit ihrem in der Bundesrepublik lebenden Bruder getroffen habe. 61 Die Frau wurde von ihren Aufgaben als Kaderleiterin eines volkseigenen Betriebes entbunden. Schwer wog der Vorwurf, mit dem sie hernach konfrontiert wurde. Wegen »konspirativer Verbindungsauf-

57 Wohlrab, Lutz: Bildende Kunst unter dem Dach der Kirche in der ESG Greifswald. In: Nitzsche, Raimund; Glöckner, Konrad (Hg.): Geistige Heimat ESG – In Freiheit leben aus gutem Grund. Erinnerungen an 60. Jahre Evangelische Studentengemeinde Greifswald. Greifswald 2006, S. 191– 204, hier 191 f. 58 Ministerium für Staatssicherheit, Bezirksverwaltung Rostock, Kreisdienststelle Greifswald, Referat 2, Abschlussbericht zur OPK »Lyrik«, Reg.-Nr. I/1431/84, Greifswald, 23.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 2783/85, Bl. 313–319, hier 319. 59 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Auskunft zur Person [Name], [Vorname], Rostock, 15.11.1985: BStU, MfS, BV Halle, AIM 2234/86, Bl. 92–94, hier 93. 60 Ebenda. 61 Ebenda, Bl. 92.

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nahme« sei sie in dem Betrieb ein Sicherheitsrisiko und in ihrer Funktion nicht mehr tragbar. 62 Als Widerspruch oder Aufbegehren im eigentlichen Sinne mochte dies keinesfalls gelten. Nicht mal als Widerspruch gegen das den Funktionärsfamilien von der SED und dem MfS auferlegte Sicherheitsreglement. Und doch handelte es sich um eine Pflichtverletzung, die sich aus einer nur allzu menschlichen Regung ergab und – wäre sie nicht bekannt geworden – folgenlos geblieben wäre. Mit ihrem Eigensinn hatte die Frau des Funktionärs die Regeln des Gefolgschaftsprinzips verletzt und das mitachtet, was das SED-System im Inneren zusammenhielt. In diesem Sinne war es nur konsequent, dass ihre Mitmenschlichkeit und Prinzipienvergessenheit als Pflichtverletzung gerügt und bestraft wurde. Ob eine Dienstpflichtverletzung in der Diktatur mehr war als eine »bloße« Nachlässigkeit, bleibt in der Konsequenz abhängig von zwei Faktoren. Zum einen von der schwer nachweisbaren Intention. Neben der »eigentlichen Absicht« stand zum anderen die konkrete Tat, mit der der Betreffende, wenn es sich mehr als um eine Nachlässigkeit handelte, bewusst das Risiko einer Maßregelung oder auch darüber hinausgehenden Bestrafung mit einkalkulierte. 3.1.4 Nonkonformismus – Verweigerung Bestimmte Formen des politisch abweichenden Verhaltens ergaben sich häufig aus ein und demselben Handlungszusammenhang und gingen im weiteren Verlauf ineinander über. Anhand eines Eskalationsmodells, das von den Formen des weniger riskanten politisch abweichenden Verhaltens über verschiedene Zwischenschritte zum offenen bewussten Widerstand reicht, soll hier in systematischer Form eine Kategorisierung vorgenommen werden: Verwandt werden dabei die Begriffe Nonkonformität (Beharren), Verweigerung, Protest (Widerspruch, Aufbegehren) sowie Widerstand und Opposition. In einem gedachten Diagramm ließen sie sich entlang einer von links nach rechts ansteigenden Achse in der genannten Reihenfolge anordnen. Entsprechend dem Verlauf, in dem die Grade das Diagramm durchschreitet, nähmen analog mit ihnen die Parameter persönliches Risiko und Herausforderung des Regimes zu. Der Begriff Nonkonformismus steht dabei für eine Kultur der betonten Andersartigkeit, die sich vom System abgrenzte, wie für eine Reihe von Äußerungsformen im Alltag, mit denen die Betreffenden auf ihre Systemferne hinwiesen. Hierzu mochten als nicht mehr politisch-gesellschaftlich zeitgemäß angesehene Umgangsformen, ein Engagement an beargwöhnter Stelle in der Kirchengemeinde oder die provokante Zeichensetzung zählen. Auch das Be62

Ebenda.

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harren auf traditionell Überliefertem, das sich mit der von der SED ausgerufenen neuen Zeit nicht mehr vereinbaren ließ, kann dazugerechnet werden. Abhängig blieb dies, was die Möglichkeiten und die hiermit heraufbeschworene Konflikte betraf, auch immer von der Position des jeweils Handelnden. Von Angestellten in kommunalen und staatlichen Positionen und im Bildungsbereich wurde eine höhere Form der Loyalität und Anpassung eingefordert als von den übrigen Staatssubjekten. Dementsprechend musste ein hier nicht mehr geduldetes Engagement, das andernorts weniger auffiel, eher als Nonkonformismus auffallen und zum Konflikt führen. Als sichtbares Votum gegen den SED-Staat und als Ermutigung für diejenigen, die sich zu den Andersdenkenden rechneten, kam dem Nonkonformismus eine wichtige Rolle zu. Er diente nicht nur der Verständigung unter Gleichgesinnten. Die, die sich so positionierten, wurden nicht selten zum Vorbild für andere, auch wenn sich diese möglicherweise nicht dazu durchringen konnten, ebenfalls so zu handeln. Doch dies betraf wiederum den Alltag und die Solidarität im Alltag, auf die an späterer Stelle eingegangen werden soll. Die bewusste Nonkonformität, hierauf hat Peter Steinbach mit Blick auf den Widerstand im Nationalsozialismus hingewiesen, war so stets mehr als nur als die latente Resistenz, die sich viele, die innerlich die Diktatur ablehnten, bewahrten. 63 Häufig ging der bewusste Nonkonformismus mit der Verweigerung konkreter Systemanforderungen einher oder mündete angesichts der Dynamik der Ereignisse in einer solchen Verweigerung. Im Folgenden soll auf das, was unter Nonkonformismus verstanden werden soll und die Dynamik, die sich aus dem Geschehen ergab und die in den angeführten Fällen letztlich zur Verweigerung führte, eingegangen werden. Zunächst ist hier das Schicksal des Wolgaster Gymnasiallehrers und Studienrates Oskar Tennigkeit anzuführen. Tennigkeit konnte als »ein Lehrer« gelten, der, wie die Mecklenburgische und Pommerische Kirchenzeitung im Jahr 2004 schrieb, im SED-Staat »›Nein‹ sagte«. 64 Oskar Tennigkeit, der sich gleichermaßen großer Beliebtheit bei den Eltern wie Schülern erfreute, passte schwer in das Bild, das sich die SED von jemandem machte, der mit der Erziehung von Jugendlichen in der DDR betraut worden war. In der Zeit, in der die SED die Kirche und die christliche Religion immer wieder massiv bekämpfte, wie zum Beispiel ab 1956 in der Auseinandersetzung um die Konfirmation und die Jugendweihe, gehörte der Lehrer nach wie vor gleich mehreren kirchlichen Gremien an. So dem Gemeindekirchenrat der St. Petri-Kirche in Wolgast und der Lehrer- und Lehrerinnenfraktion der Pommerischen Lan63 Steinbach, Peter: Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Ders.; Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 323). Bonn 1994, S. 15–26, hier 18. 64 Bringt, Irmfried: Ein Lehrer, der ›Nein‹ sagte. Zum Geburtstag von Oskar Tennigkeit. In: MPZK, Nr. 45, 7.11.2004, S. 8.

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dessynode. Die bewusste Nonkonformität, mit der sich Tennigkeit Ansehen bei Eltern und Schülern, die seine Gradlinigkeit bewunderten, erwarb, mündete 1961 im Akt der offenen Verweigerung. Immer neue von ihm als anmaßend empfundene Forderungen an die Lehrer, Dinge zu tun, die mit dem beruflichen Auftrag nichts zu tun hatten, ließen ihm kaum eine andere Wahl. Ansonsten hätte er jene Nonkonformität aufgegeben, die er seit Jahren praktizierte. So führte die Dynamik der Ereignisse direkt in die Verweigerung hinein. Eine Nische, in der sich die bewusste Nonkonformität und Andersartigkeit im Lehrerberuf über eine längere Zeit verwirklichen ließ, existierte de facto nicht. Obwohl Tennigkeit wie die anderen Lehrer der Erweiterten Oberschule in Wolgast ausdrücklich dazu angehalten worden war, weigerte er sich, Schüler für den Dienst in der Nationalen Volksarmee zu werben. 65 Am 12. September 1961 wurde er daraufhin, noch unter dem Eindruck einer verschärften innenpolitischen Gangart nach dem Mauerbau vom 13. August 66, im Rahmen einer eigens hierfür anberaumten Lehrerversammlung, »öffentlich [...] zur Rede« gestellt. 67 Die Abteilung Volksbildung, die zu dem Tribunal in der Schule am Wolgaster Lustwall aufgerufen hatte, beschuldigte Tennigkeit, sich nicht eindeutig zu den Zielen des Sozialismus bekannt zu haben. Nachdem es dem Versammlungsleiter nicht gelungen war, Tennigkeit ein »›Ja‹ zu den Zielen des Sozialismus abzuringen«, wurde der unbequeme Gymnasiallehrer wenige Tage später an eine Wolgaster Grundschule zwangsversetzt. Am 12. Oktober 1961 sollte er »gänzlich aus dem Schuldienst entfernt« werden. 68 Tennigkeit, der sich fortan mithilfe verschiedener Anstellungsverhältnisse durchschlagen musste, so unter anderem als Arbeiter des VEB Minol-TankLagers am Wolgaster Hafen, starb am 30. November 1968 im Alter von nur 59 Jahren. Wenige Monate zuvor waren bei ihm eine akute Herzschwäche und drohendes Herzversagen diagnostiziert worden. 69 Von der Sympathie, die Eltern und Schüler Tennigkeit entgegenbrachten, zeugt der Umstand, dass sich auch noch 2011 ehemalige Schüler und Zeitzeugen fanden, die mit Hochachtung über den Lehrer sprachen. 70 Die Annahme, dass sich diejenigen, die sich der SED verweigerten, kaum mit Rückhalt in der Bevölkerung rechnen konnten, scheint sich hier nicht zu bestätigen. Im Wolgast der späten fünfziger Jahre gab es in Teilen der Bevölkerung noch jene konservative Grundstimmung, die Menschen wie Tennigkeit in ihrem Han65 Ebenda. 66 Halbrock, Christian: Versteck in der Kirchturmspitze. Zwei Funde geben Zeugnis von verstärkter politischer Verfolgung in den Monaten nach dem Mauerbau. In: HuG 20 (2011) 1, Nr. 71, S. 24–29. 67 Bringt, Irmfried: Ein Lehrer, der ›Nein‹ sagte. Zum Geburtstag von Oskar Tennigkeit. In: MPZK, Nr. 45, 7.11.2004, S. 8. 68 Ebenda. 69 Ebenda. 70 Gespräch mit Waltraut Mesing, Wolgast 23.10.2012.

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deln bestätigte. Noch allzu frisch war hier die Erinnerung an die Inhaftierung und Verschleppung des Bürgermeisters Walter Kolberg 1950, der als Bäckermeister zu den stadtbekannten Persönlichkeiten zählte. 71 Tennigkeit begriff sein Beharren und seine Verweigerung als »Aufstand des Gewissens« und bestätigt damit das klassische Motiv der Widerstandsforschung. Es sei »eines Mannes unwürdig«, so Tennigkeit, »die alten christlichen Gebote zu verlassen, um sich künftig nach den 10 Geboten der sozialistischen Ethik und Moral zu richten«. 72 Die Stasi-Akten berichten hingegen nur wenig über den Rückhalt, den es für Tennigkeit in Wolgast gab. Vermerkt wird, dass neben ihm an der Schule noch vier weitere politisch unangepasste Lehrer arbeiteten, von denen drei bis 1959 in den Westen flohen. Die Fluchtbewegung sorgte so auf ihre Weise für ein Abebben des Widerspruchs im Inneren. Tennigkeit stellte sich, so vermerkte es die Stasi, zudem schützend vor vier jüngere Schulkollegen, die innerlich gegen die ideologische Bevormundung rebellierten. 73 Mit der Empfehlung, die SED solle sich der Sache annehmen, eine »Auswertung« durchführen und Tennigkeit »als Lehrer [...] entfernen«, bricht die Überlieferung der Stasi ab. Auf die Bedeutung, die der erkennbaren Regimegegnerschaft aus christlicher, liberaler, bürgerlicher oder sozialdemokratischer Tradition trotz ihrer Schwächung in der Diktatur zukam, hat Peter Steinbach am Beispiel der nationalsozialistischen Herrschaft hingewiesen. So motivierte sie »immer wieder neu Regimegegner«, gab »ihnen Kraft oder« hielt »jenen Überlebenswillen« wach, der ihren Zukunftsoptimismus und ihr Selbstbewusstsein, sich nicht mit den Verhältnissen abzufinden, stärkte. 74 Im Fall von Oskar Tennigkeit kann diese Wirkung als unbestritten gelten. Ob sich dies bei anderen im konkreten Handeln niederschlug, lässt sich nur schwer beantworten. Doch prägte Tennigkeit das Denken und die Einstellung einer Reihe von Menschen, die ihn kannten und die sich fortan insgeheim an ihm orientierten, auch wenn ihnen selbst der Mut fehlte, aufzubegehren.

71 »Auf den Spuren von Bürgermeister Walter Kolberg. Jugendliche aus Vorpommern präsentieren ihre Forschungen beim zweiten Jugendgeschichtstag«. In: MPKZ, 61. Jg., Nr. 49, 3.12.2006, S. 8; »Walter Kolberg (3. März 1899 – ca. 1954). In: Mecklenburg, 47 (2005) 11, S. 19; »Zur ›Klärung eines Sachverhaltes‹ verhaftet und nie wiedergesehen: Wolgaster Bürgermeister bittet um Bürgerbeteiligung bei der Entscheidung zur Ehrenbürgerschaft Walter Kolbergs«. In: Ostsee-Zeitung, Nr. 48, 2.11.2000, S. 17. 72 MfS, BV Rostock, KD Wolgast, Abschlussbericht über die VA 172/58, Wolgast, 24.2.1960: BStU, MfS, AOP 132/60, Bl. 62–65, hier 64. 73 MfS, BV Rostock, KD Wolgast, Information: EOS Wolgast, Wolgast, 15.12.1959: BStU, MfS, AOP 132/60, Bl. 49. 74 Steinbach, Peter: Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Ders.; Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 323). Bonn 1994, S. 15–26, hier 22.

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Zwar blieb ein Lehrer, der sich der SED verweigerte, im DDR-Schulsystem stets die Ausnahme. Davon, dass es jene Ausnahmen gab, zeugen weitere Vorfälle, in denen sich Erzieher und Pädagogen ihre persönliche Integrität zu behaupten versuchten. Unter den besonders widrigen Bedingungen im Bildungssektor kam ihrem Beharren und ihrer Verweigerung eine besondere Bedeutung zu. Diejenigen, die dies in der ideologisch aufgeladenen Atmosphäre des Schulalltags taten, sahen sich dabei vor Herausforderungen gestellt, denen sie häufig mit Kompromissen in anderen Bereichen zu begegnen versuchten. Eine Russischlehrerin, so berichtet die Kreisdienststelle Wolgast 1974, lasse in den Gesprächen, die der Direktor und das Lehrerkollektiv mit ihr an der Schule führten, »größere politische Unklarheiten erkennen«. 75 Zum einen sei sie bestrebt, sich »aus allen politischen Diskussionen herauszuhalten«; zum anderen wurde sie Mitglied der CDU und »als Volksvertreterin gewählt«. Vor allem aber, und dies veranlasste das MfS, den Vorgang an die SEDKreisleitung weiterzumelden, sorge sie dafür, dass »ihre Kinder nicht an der Jugendweihe teilnehmen«. 76 Eine »ähnliche Haltung«, so hielt es die Kreisdienststelle im selben Bericht fest, zeige ein ebenfalls in der CDU organisierter Lehrer der Polytechnischen Oberschule »Ernst Schneller« in Wolgast. Da er »sehr religiös eingestellt« sei, weigere er »sich als Klassenleiter einer 8. Klasse in Vorbereitung der Jugendweihe Jugendstunden durchzuführen«. Die Jugendweihe stehe »seiner Meinung nach«, so ist es im Bericht nachzulesen, »im Gegensatz zur Konfirmation«. Seinen eigenen Kindern habe er schließlich auch verboten, in die FDJ einzutreten und an der Jugendweihe teilzunehmen. 77 Über etwaige Konsequenzen lässt sich den MfS-Akten nichts entnehmen. Ein weiterer Vorgang aus Vorpommern vermag den fließenden Übergang vom Nonkonformismus und der Verweigerung zum Widerspruch und Aufbegehren verdeutlichen. Auf die turbulenten Zeiten der Staat-KircheAuseinandersetzungen der fünfziger Jahre reagierte die Kirchengemeinde Kemnitz bei Greifswald auf ihre Weise. »Mit unverhohlener Freude« erinnerte sich Pfarrer Eckehard Staak anlässlich seiner Pensionierung 2010 an die Jahre des SED-Kirchenkampfes, als man sich entschloss, nach außen hin gut sichtbar, den Spruch »Gott ist unsere Zuversicht« an die Kirche zu schreiben. 78 Natürlich wäre es verfehlt, hierin lediglich eine politische Tat erblicken zu wollen. Der religiöse Gehalt des Bibelspruches entsprach der inneren Überzeugung der Gläubigen; doch erhielt der Satz infolge des Druckes, den die SED 75 MfS, BV Rostock, KD Wolgast, Bericht, betr.: Die Situation an einigen Schulen des Kreises Wolgast, Wolgast, 5.6.1974: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 44, Bd. 1, Bl. 3. 76 Ebenda. 77 Ebenda. 78 Kiesewetter, Nicole: »Wir sollten keine Grenzen ziehen«. Pfarrer Eckehard Staak geht in den Ruhestand. In: MPKZ, Nr. 10, 7.3.2010, S. 11.

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auf die Kirche ausübte, einen tieferen Sinn. Zugleich signalisierte man mit dem am Westwerk neu angebrachten Spruch, dass man keinesfalls bereit wäre, von seinen Glaubensgrundsätzen und kirchlichen Traditionen abzurücken. »Das war zu DDR-Zeiten anders als heute«, so Pfarrer Staak rückblickend, »wir wollten schon auch provozieren«. 79 Wie die Tat der Kirchengemeinde im Dorf insgesamt aufgenommen wurde und wie die Bevölkerung im Einzelnen hierüber dachte, lässt sich angesichts der fehlenden Überlieferung nur erahnen. Trotz des bald einsetzenden Mitgliederschwunds der Kirche mochte eine solche Aktion wohl bei den meisten Bewohnern und Reisenden, die hier vorbeikamen, als mehr als nur ein gelungener Schabernack gelten. Die Kirche als letzte verbliebene eigenständige Großinstitution in der DDR zeigte hier auf ihre Weise Präsenz. Viele von denen, die sich in der DDR der Kirche entfernt hatten, mit ihr aber weiter insgeheim sympathisierten, schätzten sie, weil Pfarrer und Kirchenmitarbeiter vor Ort immer wieder Wege fanden, sich gegen die Verhältnisse zu stellen. Hier zeigte sich auch das Dilemma von weiten Teilen der DDR-Gesellschaft: Zwar sympathisierte manch einer insgeheim mit der Kirche, weil sie dem Staat weiterhin Paroli zu bieten verstand. Persönlich wandten sie viele von denen, die dies taten, jedoch von der Kirche ab und traten aus ihr aus, um beruflich voranzukommen oder die Aufstiegschancen ihrer Kinder nicht zu gefährden. Sich zur Kirche öffentlich weiter zu bekennen, hatte in der DDR, sofern man beruflich in bestimmten Bereichen vorankommen wollte, seinen Preis; einen Preis, den die meisten nicht zahlen wollten. Diese Muster zog sich wie ein roter Faden auch durch andere Bereiche der DDR-Gesellschaft: Man begrüßte den Protest und den Widerstand, sofern andere dies taten, schloss für sich selbst dies jedoch aus. Schwerer wog jedoch, dass die, die dies taten, sich häufig von jenen, die Widerstand leisteten, sofern es von ihnen gefordert wurde, öffentlich distanzierten und ihnen jedwede Solidarität versagten. Entscheidend dafür, dass die Kirche, wie soeben beschrieben, wahrgenommen werden konnte, war, dass es kreative und zur Provokation entschlossene Pfarrer gab. Jene bildeten jedoch innerhalb der Kirche stets eine Ausnahme. Ebenso gab es Amtskollegen, die sich einer kritischen Stellungnahme enthielten, ein solches Verhalten in den Pfarrkonventen kritisierten oder gar für ein einvernehmliches Übereinkommen mit dem Staat warben. So Staaks Amtskollege im benachbarten Lubmin, Pfarrer Johannes Görlich, der sich als CDUMitglied hierfür einsetzte. 80 79 Ebenda. 80 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Bericht zu Pfarrer Görlich, Greifswald, 19.6.1979: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2679/84, Bl. 82 f. Es handelt sich bei der Akte um einen IM-Vorlauf, der ohne dass es überhaupt zu einer »Kontaktaufnahme kam«, abgeschlossen wurde. MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Abschlußvermerk zum IM-Vorlauf, Greifswald, 11.9.1984, ebenda, Bl. 202.

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Weitere Beispiele ließen sich anführen. Verweigerung und Widerspruch schienen im Umfeld der sich institutionell behauptenden Kirchen und der sich hier findenden Gesprächskreisen häufig einfacher als andernorts. Außerhalb der Kirche drohten möglicherweise empfindliche Konsequenzen. Dies galt zum Beispiel bei den Auseinandersetzungen um die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft ab Ende der fünfziger Jahre. Vorbehalte und Widerstände gab es in fast allen Dörfern. Um die SED zu unterstützen, schritt das MfS ein, um den Prozess der »sozialistischen Umgestaltung« weiter voranzutreiben. So im Februar 1960 in Levenhagen bei Greifswald. Zuvor war dem MfS von der SED mitgeteilt worden, dass »die Genossen unserer Partei in der Ortschaft Levenhagen große Schwierigkeiten bei der Werbung von Einzelbauern für die Genossenschaft« hätten. 81 Das MfS fand schnell einen Anlass, um dagegen vorzugehen. Man entschied sich, aus dem Dorf »insgesamt 7 Personen zur Dienststelle des MfS zuzuführen«, die anschließend »dort vernommen« werden sollten. Der Kreisdienststelle in Greifswald lagen mehrere Meldungen vor, nach denen sich die Bauern »negativ« über die Kollektivierung geäußert hatten. »Andere Bauern« seien so »vom Eintritt in die LPG« abgehalten worden. Zugleich beschuldigte man vier der zur Vernehmung vorgeführten Einzelbauern, gemeinsam nach West-Berlin gefahren zu sein. Dort seien von ihnen Einkäufe – unter anderem Ersatzteile, die es in der DDR kaum oder in unzureichender Qualität gab – erledigt worden. 82 Unter dem Druck willigten die Bauer schließlich ein. Für das MfS heiligte der Zweck die Mittel: Ziel der gesamten Aktion sei es gewesen, so die Kreisdienststelle in ihrem Abschlussbericht, »die Einzelbauern für die Genossenschaft zu gewinnen«. 83 In der Meldung über den Vollzug der LPG-Gründung hieß es dementsprechend: »Der Vorgang wurde zur sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft liquidiert. Eine [...] Inhaftierung fand nicht statt«. Die aus taktischen Gründen vernommenen Dorfbewohner sollten lediglich weiterhin observiert – und wie es technokratisch-bürokratisch im Jargon der Staatspolizei hieß – »unter operativer Kontrolle gehalten« werden. 84 Der Nonkonformismus des Beharrens und die Verweigerung mündeten häufig im Widerspruch und Aufbegehren. Verantwortlich hierfür zeichnete die Dynamik der Auseinandersetzungen – und die Konsequenz, in welche die, die sich behaupten wollten, durch die politischen Stellen gedrängt wurden. Ihnen blieb nur die Möglichkeit, sich unter Aufgabe ihrer bisherigen Position, selbst zu verleugnen. Taten sie dies nicht, so forderten sie den Staat, der sie durch »Selbstkritik« zur Abbitte drängte, weiter heraus. Dieser Mechanismus griff 81 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Abschlußbericht, Greifswald, 28.7.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 184/60, Bl. 170. 82 Ebenda. 83 Ebenda, Bl. 171. 84 Ebenda, Bl. 172.

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insbesondere dann, wenn der SED-Staat die Grenze zwischen dem politischen und privaten Bereich aufhob und auch in diese Sphäre eindrang. Für diese Dynamik und den oft fließenden Übergang von der einen Form des politisch abweichenden Verhaltens zur nächsten, konsequenteren Eskalationsstufe steht auch ein Vorgang aus den achtziger Jahren: Er beschäftigte im März 1980 die SED-Kreisleitung und die Kreisdienststelle des MfS in Wismar. Hier und in der Region gäbe es, so lautete die Meldung, hinreichend »Widerstände in der FPG [Fischereiproduktionsgenossenschaft] Typ I [...] gegen die weitere Kollektivierung« im Fischereigewerbe. 85 Ähnliche Erkenntnisse lagen aus Stralsund vor. Ebenso wie in der FPG »Insel Vilm« und auf der Insel Rügen war auch hier »eine abwartende Haltung zu verzeichnen«. Aus Thiessow an der Südspitze der Halbinsel Mönchgut wurde vermeldet, dass der Vorsitzende der FPG Typ I »mit zwei weiteren FPG-Mitgliedern [...] einzelne Mitglieder« beeinflusste, »sich gegen die Umbildung zur FPG II zu wenden«. Die Opponenten würden derzeit noch »über einen größeren Privatbesitz an Grundmitteln [...] (Boote, Netze, Slipanlage) verfügen« und »bisher hohe Fangergebnisse« erzielen. 86 Hier bestand die Form des Widerstehens weniger im rebellischen Aufruhr gegen die bestehende Ordnung. Vielmehr ging es darum, einen Vorstoß abzuwehren, der den sorgsam verteidigten Status quo infrage stellte. Widerspruch und Aufbegehren begannen, so ließe sich in Anlehnung an den Militärtheoretiker Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz sagen, mit der Abwehr des Eindringlings und der Verteidigung des eigenen Rechts gegenüber dem »wahre(n) Aufrührer«. 87 Demgegenüber gab sich die Bezirksparteileitung nicht mit der für die kollektivierungsunwilligen Fischer und Landwirte Anfang der sechziger Jahre gefundenen Zwischenlösung, den Genossenschaften vom Typ I, zufrieden. Beim Typ I verblieben wichtige »Produktionsmittel« wie Fischereiund Landwirtschaftsfahrzeuge oder die Tiere bei den Einzelmitgliedern. Immer wieder drängte die SED hingegen ab den sechziger Jahren auf ein Ende dieser in ihren Augen unvollkommenen »Kompromisskooperativen«. 88 Zugleich stießen die von der SED ausgesandten Agitatoren und Kreisfunktionäre 85 MfS, BV Rostock, AKG, Bericht über Reaktionen von Mitgliedern der FPG des Typ I auf den Beschluß über die Bildung leistungsfähiger Fischereiproduktionsgenossenschaften des Typ II, Rostock, 6.3.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 167, T. 1, Bl. 25–27, hier 26. 86 Ebenda. 87 Clausewitz, Carl Philipp Gottlieb von: Vom Kriege VI, S. 7. Zit. nach: Münkler, Herfried: Widerstand. In: Wörterbuch Staat und Politik, S. 874–875. 88 Vgl. hierzu auch: Heinz, Michael: Im Zeichen der Industrialisierung. Landwirtschaftliche Entwicklung im Kreis Doberan in den 1970er Jahren. In: Zr. 8 (2004) 2, S. 41–49, hier 41; Krambach, Kurt; Kuntsche, Siegfried; Watzek, Hans: Wirtschaftliche Entwicklung in den drei Nordbezirken. Agrarwirtschaft, Agrarpolitik und Lebensverhältnisse auf dem Lande. In: Aufarbeitung und Versöhnung. Leben in der DDR. Leben nach 1989, hg. von der Enquetekommission des Landtages Mecklenburg-Vorpommern, Bd. V (Wirtschaft und Alltagsleben). 2. Aufl., Schwerin 1998, S. 63– 163, hier 101; Ilona Bruchsteiner: Bodenreform und Agrarwirtschaft der DDR. In: Aufarbeitung und Versöhnung (ebenda), S. 9–63, hier 51.

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dabei auf den Unwillen einzelner Fischer, die dem auf sie ausgeübten Druck widerstanden. Andere, die zu den so Bedrängten zählten, bemühten sich, der endgültigen Enteignung möglichst lange zu entgehen. So die Mitglieder der FPG »Insel Vilm«, die 1980 – auch in der Hoffnung auf etwaige Änderungen in der Wirtschaftspolitik – »den Übergang zum Typ II bis zum Jahre 1985 hinauszuzögern« verstanden. 89 Die Fischer, so lautete das Fazit des Staatssicherheitsdienstes, verhielten sich in vielen Orten besonders auf der Insel Rügen der Voll-Vergenossenschaftlichung »skeptisch gegenüber«. Sie konnten dabei auf gewichtige Argumente verweisen. So ist es auch in einem Bericht von 1980 nachzulesen. »Durch die höherer Form der genossenschaftlichen Arbeit« und die Abgabe des bislang sorgsam gepflegten privaten Eigentums ging »die persönliche Freiheit verloren«. In einer Vollkooperative fehle zudem das Verantwortungsgefühl, was sich zuungunsten der Materialpflege auswirke. Um die bestehenden Widerstände zu brechen, beraumten die SED-Kreis- und Bezirksleitung für den 7. Februar 1980 »eine Parteiaktivtagung der See- und Küstenfischer des Kreises Rügen« an. Auch hier erzielte man keine Fortschritte bei der angestrebten Deprivatisierung. 90 Im Westen des Bezirks traten ebenso Widerstände bei der Zusammenfassung der noch halb-privaten Fischer auf. Den Schwerpunkt bildete hier die FPG Typ I »V. Parteitag« des Kreises Wismar mit ihren etwa achtzig angeschlossenen Fischern. Im Widerspruch zur egalisierenden sozialistischen Zukunftsutopie nannten jene nach wie vor »einen hohen Privatbesitz an Grundmitteln wie Fischerkutter und Netze« ihr Eigen. Trotz verschiedener Agitationsveranstaltungen, Aussprachen und »aufklärende[r] Gespräche« kam auch hier die SED in der Sache nicht voran. Bei einem Großteil der Fischer, so konstatierten Agitatoren und die staatspolizeilichen Überwacher einmütig, sei »bisher nicht die Bereitschaft zur Umbildung in Typ II und für den Zusammenschluß mit der FPG Typ II Wismar vorhanden«. 91 Ähnliche Meldungen wie aus dem Fischereigewerbe lagen aus der Landwirtschaft vor. So aus der Gemeinde Wilhelmsfelde im Kreis Wolgast, wo eine der wenigen noch verbliebenen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften vom Typ I fortbestand. Noch im Dezember 1985 weigerten sich die Bauern trotz der sich jährlich wiederholenden Vorstöße, ihre Halbkooperative in eine LPG vom Typ II oder III umzuwandeln. 92 Die Wilhelmsfelder Bauern verteidigten ihr Recht, weiterhin eine eigenständige »individuelle Tierhaltung besit89 MfS, BV Rostock, AKG, Bericht über Reaktionen von Mitgliedern der FPG des Typ I auf den Beschluß über die Bildung leistungsfähiger Fischereiproduktionsgenossenschaften des Typ II, Rostock, 6.3.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 167, T. 1, Bl. 25–27, hier 26. 90 Ebenda, Bl. 25 f. 91 Ebenda, Bl. 26. 92 MfS, BV Rostock, KD Wolgast, Bericht über die Stimmung und Reaktion der Genossenschaftsbauern der LPG Typ I Wilhelmsfelde zur geplanten Umbildung in eine LPG Typ III, Wolgast, 27.11.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 255, T. 2, Bl. 741–743.

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zen« zu dürfen. Auch hier ging es nicht nur darum, am Bewährten festzuhalten. So fürchteten die Bauern, zu reinen Lohnempfängern degradiert zu werden. Zugleich bewahrte man sich auch ein Stück Sonderbewusstsein, sich bislang erfolgreich der »sozialistischen Umgestaltung« in Teilen entgegengestellt und »die Politik« aus dem Dorf draußen gehalten zu haben. Doch spürten die Bauern auch hier den auf sie ausgeübten Druck. Für das Jahr 1986 war vom Rat des Kreises bereits die nächste »Vollversammlung« angekündigt worden; einige Bauern äußerten daher die Sorge, »daß nach dreimaliger Einberufung [...] die LPG Typ I durch Beschluß des Rates des Kreises in eine LPG Typ III umgebildet« werden könnte. Gestützt wurde diese Befürchtung durch das Auftreten zweier Kreisfunktionäre aus Wolgast, den SED-Genossen Schüler und Breymann, im Ort. Beide erklärten unumwunden, dass trotz der bestehenden Bedenken und Widerstände nun »die Zeit der Umbildung herangereift« sei. 93 Daneben gab es andere Bereiche, in denen es zur Verweigerung kam. Insbesondere anlässlich der in der DDR obligatorischen Massenaufmärsche und Manifestationen kam es immer wieder zu Unmutäußerungen und Verweigerungen. Von den etwa 220 Mitarbeitern des Volkseigenen Betriebes Polstermöbel in Ribnitz erschienen am 1. Mai 1980 nur »ca. dreißig zur Demonstration«. Davon, so konstatierten die Staatsschützer ernüchtert, »war niemand bereit, Fahnen zu tragen«, so dass die »Fahnen im KfZ verbleiben mußten«. 94 Von ähnlichen Schwierigkeiten wusste die Kreisdienststelle der DDRStaatssicherheit in Grevesmühlen zu berichten. Den Anlass bildete ein FDJMarsch am 29. Mai 1982 quer durch die Kreisstadt zum dortigen KapArkona-Denkmal parallel zum Pfingsttreffen der Freien Deutschen Jugend in Ost-Berlin. Während aus einigen Betrieben des Kreises »überhaupt niemand vertreten« war, waren von den anwesenden »FDJ-Mitgliedern [...] kaum einige«, wie es hieß, »bereit, sich als Fahnen- und Transparentträger zur Verfügung zu stellen«. 95 Bei der Ankunft am Kap-Arkona-Denkmal hatten mehrere Teilnehmer den Demonstrationszug verlassen; während der Veranstaltung »entfernten sich weitere Jugendliche vom Kundgebungsort«. 96 Auch hier paarte sich Unmut und politische Ablehnung sowie der Widerwille gegen die als politisches Theater und aufgenötigte Pflichtübung empfundene Veranstaltung und wurden zur Verweigerung. Auch in den anderen Fällen waren es immer wieder die Anmaßungen des Systems, die zur Verweigerung führten. Geschah dies, was selten genug vor93 Ebenda. 94 Ebenda, Bl. 502. 95 MfS, BV Rostock, KD Grevesmühlen, Information Nr. 14/82 über Mängel bei der Vorbereitung und Durchführung des Pfingsttreffens der Jugend am 29.5.1982 in Grevesmühlen, Grevesmühlen 10.6.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 61, Bd. 1, Bl. 241. 96 Ebenda.

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kam, in kollektiver Form, wurde dem eine besondere Brisanz beigemessen. So meldete die MfS-Kreisdienststelle Greifswald, dass ihr mitgeteilt worden sei, »daß am 24.5.1988 dreizehn von zweiundzwanzig Schülern einer 9. Klasse das Schießen mit dem Luftgewehr im Wettbewerb ›Goldene Fahrkarte‹« verweigert hätten. 97 Neben der »kollektiven« Komponente gab es noch mehr Anlass zur Besorgnis. So handelte es sich nicht um eine neunte Klasse an einer gewöhnlichen Oberschule, sondern um Abiturienten. Da die Delegation an eine Erweiterte Oberschule als politische Auszeichnung zu verstehen war, glaubte man von den Schülern eine besondere Loyalitätspflicht einfordern zu können. Die Verantwortlichen sahen sich jedoch vor ein Dilemma gestellt. Zum einen schreckten sie davor zurück, gleich mehr als die Hälfte einer Klasse relegieren zu müssen. Zum anderen gab es keinerlei administrative Handhabe, die Teilnahme an der Schießübung einfordern zu können. Anders verhielt es sich bei den per Vertrag zur vormilitärischen Ausbildung verpflichteten Lehrlingen an den Berufsschulen der DDR. So schlug das MfS der SED-Parteileitung an der Schule ein anderes Vorgehen vor. Die EOS solle die Schüler lediglich, dafür umgehend, »auf ihre Versäumnisse [...] aufmerksam [...] machen«, es hierbei dann aber belassen. 98 Dies sei, beklagte das MfS, zwar inkonsequent. Doch sei es zu Fehlern bei der politischen Erziehung bereits im Vorfeld der Verweigerung gekommen. Nach Ansicht des MfS schien die Schulleitung für den Vorfall mitverantwortlich zu sein: Schon anlässlich eines »Kampfappells der FDJ zur Eröffnung des Pfingsttreffens der Jugend am 20.5.88« habe sie es versäumt, gegen Unmutäußerung vorzugehen und somit die Kollektivverweigerung am Schießstand begünstigt. Über den Kampfappell vom 20. Mai wusste die Staatssicherheit zu berichten, »daß die zur Teilnahme verpflichteten FDJler der EOS [...] widerwillig, gelangweilt und teilweise undiszipliniert an dieser Veranstaltung teilnahmen«. Unbedingt wären, so die Schlussfolgerung des MfS, beizeiten etwaige »Wiederholungsfälle auszuschließen«. 99 Als ein Konfliktfeld, das Jugendliche immer wieder in Bedrängnis und Gewissensnöte brachte, konnte die obligatorische Teilnahme aller männlichen Lehrlinge am vormilitärischen Lager der Gesellschaft für Sport- und Technik (GST) gelten. Im April 1983 weigerten sich gleich »sieben Lehrlinge von hundert« 100 aus Greifswald, an der Schießausbildung im GST-Lager in Prerow

97 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Information Nr. 30/88 über einige Aspekte der politischideologischen Situation an der Erweiterten Oberschule, Greifswald, 5.7.1988: BStU, MfS, KD Greifswald, Nr. 108, T. 2, Bl. 310. 98 Ebenda. 99 Ebenda. 100 Information der Kommunalen Berufsschule Greifswald mit ZBS »Adolf Hennecke, gez. Erich, 21.6.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2207/85, Bl. 3.

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teilzunehmen. 101 Entscheidend wären dabei »religiösen und Gewissensgründen« gewesen. Alle sieben Verweigerer besuchten die Kommunale Berufsschule »Adolf Hennecke«; drei von ihnen strebten einen Berufsabschluss als Elektromonteur an, die anderen vier wollten Drogisten werden. Die angehenden Drogisten sprachen sich grundsätzlich dagegen aus, im GST-Lager zu erscheinen. Die drei Elektromonteurslehrlinge befanden sich hingegen bereits im Lager in Prerow. Hier wurden sie aufgefordert, mit dem Luftgewehr und mit einer Kleinkaliberwaffe auf Attrappen in Menschengestalt zu zielen. Alle drei Jugendlichen wehrten sich gegen den Auftrag. Zuvor waren sie der Lagerleitung bereits negativ aufgefallen. Jene berichtetet, dass sie den Lagerablauf »regelmäßig zu stören« versuchten, so »durch [eine] betont nachlässige Anzugsordnung, Schrittstörungen beim Marsch [und] Undiszipliniertheiten«. 102 Bei ihrer Weigerung, auf die Menschenattrappen zu zielen, bezogen sie sich auf ihre christliche Glaubensüberzeugung. Einem der Verweigerer, einem Punk aus Klein Zastrow bei Greifswald, wurde eine darüber hinausgehende Motivlage unterstellt. Ausschlaggebend seien bei ihm, so ist es dem Abschlussbericht des Operativvorganges »Junior« zu entnehmen, »pazifistisches Gedankengut und Oppositionsverhalten«. 103 Man glaubte erfahren zu haben, dass der Punk eine »lose Verbindungen zur ›Jungen Gemeinde‹« der evangelischen Kirche besitzen würde. Daher müssten oppositionelle Kreise für sein Verhalten verantwortlich sein müssten. 104 Es folgten intensive Aussprachen mit dem Direktor und dem Klassenleiter, der zugleich der Parteisekretär der Schule war, sowie ein Gespräch mit den Eltern der Betroffenen. Nach der Drohung, das Lehrverhältnis zu beenden, lenkten zwei der Verweigerer ein, beharrten jedoch auf »der Bedingung, daß sie auf eine Ringscheibe schießen können«. 105 Der Dritte Lehrling blieb bei seiner Weigerung, ohne dass sich hieraus Konsequenzen ergaben. Dabei mochte ihm der Umstand zugutegekommen sein, dass sein Vater Pfarrer war und unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Vorfalls bei Rat der Stadt und in der Berufsschule zugunsten seines Sohnes intervenierte. 106 101 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Eröffnungsbericht zum OV »Junior«, Greifswald, 14.6.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2207/85, Bl. 5–10, hier 5. 102 Kommunale Berufsschule Greifswald mit ZBS »Adolf Hennecke«, Beurteilung [Name], Greifswald, 28.3.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2207/85, Bl. 37. 103 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Referat 2, Abschlussbericht zum OV »Junior«, Reg.-Nr. 1119/84, Greifswald, 22.8.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2207/85, Bl. 265–270, hier 267. 104 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Eröffnungsbericht zum OV »Junior«, Greifswald, 14.6.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2207/85, Bl. 5–10, hier 6. 105 Abschrift. Schreiben Rat der Stadt Greifswald, Berufsbildung/Berufsberatung, Direktor Papke, Adressat nicht ausgewiesen, Information zur GST-Ausbildung der Lehrlinge des 1. Lehrjahres/Elektroinstallateure, 25.4.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2207/85, Bl. 25. 106 Information der Kommunalen Berufsschule Greifswald »Adolf Hennecke«, 7.6.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2207/85, Bl. 24.

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Die angehenden Drogisten schienen sich demgegenüber grundsätzlich nicht der Anordnung, ins Lager fahren zu müssen, unterwerfen zu wollen. Ihnen drohte der Ausschluss vom Lehrverhältnis. 107 Als Hardliner tat sich hier insbesondere der Leiter der Abteilung Inneres der Stadtverwaltung von Greifswald, Dr. Schulz, hervor. Dr. Schulz »ermunterte die verantwortlichen Gen[ossen] und Koll[egen]« laut einer Protokollnotiz »zur Härte und Standhaftigkeit«. 108 Seiner Anweisung wurde jedoch nur halbherzig entsprochen. Anstatt, wie von Schulz gefordert, »schriftlich den Antrag auf Lösung des Lehrverhältnisses« zu stellen, setzte man sich »telefonisch mit der Abt[eilun]g in Pasewalk« in Verbindung. In Pasewalk, dem Entsendekreis eines der Jugendlichen, zeigte man sich widerwillig, der Lösung des Lehrverhältnisses zuzustimmen. Dementsprechend parteilich-unmotiviert fiel die Antwort, sprich das »Ergebnis [aus] Pasewalk« aus: »Wir haben ein Interesse daran, daß in Jatznick eine Drogerie bestehen bleibt. Der Junge soll auslernen« 109 – lautete die Auskunft aus der pommerschen Kreisstadt. Das klang nach einem elementaren Eigeninteresse. Zugleich konnte es aber auch mehr sein: Eine Form der mitmenschlichen Solidarisierung, die, da sie nicht politisch argumentierte, den Greifswaldern nicht als Dienstpflichtverletzung suspekt erscheinen musste. Dr. Schulz von der Abteilung Inneres in Greifswald schien von der Position seiner Pasewalker Kollegen überrascht worden zu sein und fügte sich in die neuen Gegebenheiten: »Jetzt schweigt er jedoch« protokollierte der Leiter der Berufsschule, »und erscheint bei den Koll[egen] als unglaubwürdig«. 110 Immer wieder wird in der Diskussion über die Verhältnisse in der DDR angeführt, dass das unangepasste Auftreten in der Öffentlichkeit, das Tragen langer Haare und abgewetzter Kleidung ab den sechziger Jahren und später das Verhalten der Blueser, Tramper und Punks als »passiv Form« des Nonkonformismus oder sogar der Verweigerung anzusehen ist. Eine Antwort hierauf fällt schwerer, als es zunächst scheint. Sich der Gesellschaft, dem Elternhaus oder der Schule allgemein zu verweigern oder ganz bestimmte Anforderungen des Systems wie die Schießübungen oder den Wehrdienst abzulehnen, war zweierlei. Bei der Verweigerung als politischem Akt des Widerstehens ging es aber um die Konsequenzen, die jemand zu tragen bereit war. Dies galt in Teilen aber auch für die öffentlich zur Schau gestellte Andersartigkeit. Dass die »Gammler«, Langhaarigen und Blueser durch intolerante Lehrer, Lehrmeister, Eltern und Nachbarn schikaniert wurden und letztere das SED-System als Obrigkeitsstaat so auf ihre Weise stützten, war das eine. Doch tat der Außenseiter auch den Schritt und lehnte die Mitgliedschaft in der FDJ, die Schieß107 108 109 110

Ebenda, Bl. 31. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

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übungen oder anderes ab? Vielen Langhaarigen oder Punks wurde nach dem Aufbruch in die Andersartigkeit schnell klar, dass Langhaarig- oder Punksein allein nicht reichte. Es reichte zwar dazu, um der Mehrheitsgesellschaft den Spiegel ihrer Borniertheit vorzuhalten (was diese wiederum wohl kaum so sah). Auch fühlten sich die Außenseiter einer Gemeinschaft zugehörig, deren westliche Wurzeln außerhalb der DDR lagen. Dies irritierte die Partei, die Polizei und das MfS. Einzelne, die inhaltlich wie politisch mehr wollten, waren des Herumziehens, der Partys und der Trinkgelage jedoch irgendwann überdrüssig, dachten darüber hinaus und wagten mehr. Dies auch, weil es sich beim Leben in der Freizeitkultur der Langhaarigen mit ihren freitags beginnenden Ausflügen in die Kreiskulturhäuser der Provinz und Landgaststätten, wo »die Mucke stieg«, oder dem Boofen im Elbsandsteingebirge ebenso um eine Form der inneren Emigration handeln konnte. Vereinfachend ließe sich sagen, dass viele, die in dem System widersprachen, sich auch lange Haare wachsen ließen oder die Nietenlederjacke anzogen. Dies heiß im Umkehrschluss aber nicht, dass jeder Langhaarige oder Nietenjackenträger sich als Nonkonformist oder Aufwiegler begriff. Auch die FDJ hatte bald ihre Langhaarigen, die aus Überzeugung Werbung für die Sache des Sozialismus machten. Da es sich zuallererst um eine Erscheinung des Alltags in der DDR handelte, soll auf die Aussteigerkultur im Kapitel, das den Alltag ebenso wie die für den Protest förderlichen wie hinderlichen Faktoren problematisiert, gesondert eingegangen werden. 3.1.5 Protest: Von der Weigerung zum Widerspruch Zur Verweigerung kam es nicht zuletzt im repressiven Schulalltag der DDR. Hier waren die Zwänge und die von vielen als Anmaßungen empfundenen Anforderungen besonders eklatant. Da die Weigerung nach einer entsprechenden Begründung verlangte, Schüler, die sich weigerten, zur Rede gestellt wurden und die, die lediglich schwiegen, die sich nicht zu rechtfertigen trauten, von den Vorgesetzten als Versager und Feiglinge diffamiert wurden, blieb die verbale Auseinandersetzung meist nicht aus. Die so provozierten Schüler verhielten sich unterschiedlich. Während sich manche einschüchtern ließen und nachgaben, blieben andere unkommentiert bei ihrer Weigerung und verwiesen gegebenenfalls auf das ablehnende Votum ihre Eltern oder Religionsgemeinschaft. Wieder andere begründeten ihre Weigerung, widersprachen öffentlich und leisteten somit in der Konsequenz Widerspruch. Entsprechend rigoros reagierten häufig Direktoren und Lehrer auf die Verweigerung und den Widerspruch von einzelnen Schülern, denen sie vorwarfen, damit gegen die DDR aufzubegehren. Die Auseinandersetzung vollzog sich im Schulalltag: Was sich tatsächlich abspielte, welche Ängste die Schüler hatten,

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wie häufig sie in das Lehrerzimmer einbestellt wurden und mit welchen Drohungen die Lehrer sie einzuschüchtern versuchten, all dies ist in den Akten nicht nachzulesen. Häufig handelte es ich um vergleichsweise geringfügige Verstöße. Da hiermit gegen die eingeforderte politische Pflichtübung verstoßen wurde, kam ihnen jedoch eine größere Bedeutung zu. Hierzu zählten die obligatorischen Fahnenappelle an den Schulen, die Teilnahme an den wehrsportlichen Übungen oder auch die Pflicht, an Demonstrationen im Klassenverband teilzunehmen. Bei letzteren gab es im Laufe der Jahre zusehends Probleme, die Disziplin aufrechtzuerhalten: Die Motive der Schüler, sich nicht zu fügen, mochten unterschiedlicher Natur sein. Zur Kernfrage der Widerstandsforschung, was das ethische oder politische Motiv der Handelnden war, geben die Akten des MfS kaum eine befriedigende Antwort. Erfasst wurden lediglich das Phänomen und die vernehmbaren Äußerungen. Wenn jene gegenüber den Lehrern oder Dozenten erfolgten, die über das weitere Fortkommen entschieden, werden diese zumeist mit Bedacht gewählt worden sein. Da es sich zugleich noch nicht um Widerstand im eigentlichen Sinne handelte, lag für die Stasi noch kein Grund vor, hier aktiv zu werden. Dafür war das Vorkommnis wiederum zu gering. So finden sich die Vorfälle lediglich in den Stimmungsund Informationsberichten der Stasi wieder. Gelegentlich findet sich der Vermerk über eine Aussprache und disziplinarische Konsequenzen. Der tiefergehende Grund der Verweigerung blieb dabei im Unklaren. Neben der offenen, so aber zumeist doch nicht klar geäußerten politischen Ablehnung, kamen andere Gründe ebenso in Betracht. Möglichweise war es ebenso die Penetranz der politischen Agitation, die als anmaßend empfunden wurde, die bei jenen politischen Manifestationen zur Disziplinlosigkeit führte. Und nicht jeder, der die Gefolgschaft verweigerte, musste, auch wenn übereifrige Lehrer ihm dies unterstellten, ein Gegner der politischen Ordnung sein. Vom Wunsch, sich vor den anderen Kommilitonen nicht lächerlich zu machen, mochte die Entscheidung mehrerer Studenten an der Fachschule für Angewandte Kunst in Heiligendamm inspiriert gewesen sein. Sie weigerten sich, 1980 »zur Demonstration am 1. Mai [...] Fahnen [...] tragen« zu müssen. 111 Zusätzlich zweifelten die Studenten den »Sinn der Maidemonstration« an. Unter ihnen befand sich auch »ein Mitglied der FDJ-Leitung«. Der betreffende Student erklärte, er sehe es zwar ein, »daß die Kommunisten in der BRD am 1. Mai gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse und den Staat demonstrierten«. 112 Da es in der DDR »dazu keine Veranlassung gebe, sei eine Maidemonstration nicht notwendig«. 113 111 MfS, BV Rostock, AKG, Lagebericht, Rostock, 1.5.1980, BStU, AKG, Nr. 167, T. 2, Bl. 501–507, hier 507. 112 Ebenda. 113 Ebenda.

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In den Jahren 1977/78 machte sich einmal mehr Unmut breit an den Schulen der DDR. Eltern und Schüler klagten darüber, dass neben den vormilitärischen Hans-Beimler-Wettkämpfen ein obligatorisches Schulfach »Wehrkunde« eingeführt werden sollte. Das vielfach geäußerte Unverständnis ließ befürchten, dass es zu einer hohen Zahl von Verweigerungen kommen könnte. Dementsprechend gab es vorbeugend Aussprachen und Elternabende. Tatsächlich verweigerten sich nur wenige Schüler dem neuen Unterrichtsfach: Wer zu den nachmittags angesetzten Stunden nicht erschien, musste damit rechnen, von Lehrern oder systemloyalen Schülern zuhause aufgesucht zu werden. Fast alle, die dem Unterricht trotz der angedrohten Konsequenzen fernblieben, stammten aus christlichen Elternhäusern. Sie folgten ihrem Gewissen und ihren Glaubensansichten. Das Thema, wie man sich dem Unterricht verweigern könne, war vorrangig ein Thema, mit dem man sich in den evangelischen Kirchen beschäftigte. 114 Im Frühsommer 1981 ergriff die Schulleitung der Polytechnischen Oberschule in Rostock-Brinckmansdorf »disziplinarische Maßnahmen« gegen drei Schüler aufgrund ihrer »Nichtteilnahme [...] am Wehrkundeunterricht«. 115 Der Vorfall sorgte auf der 11. Tagung der IX. Ordentlichen Landessynode der Lutherischen Kirche Mecklenburgs vom 19. bis 22. März 1981 in Schwerin für erhitzte Diskussionen. Berichtet wurde hier von »betreffenden Eintragungen seitens der Schule«, die »bisher nicht korrigiert worden« seien. In einzelnen Redebeiträgen wurde der Staat an seine Verpflichtungen erinnert. Jene ergäben sich aus der Unterzeichnung des KSZEVertrages und konkret aus »den Vereinbarungen …, die 1978 zwischen dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Seigewasser, und der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen getroffen worden wären«. 116 Auch in der Vorlage des Berichtsausschusses der Synode ging man auf die Ereignisse in Brinckmansdorf und die nicht eingehaltene Zusage ein: »Die Synode«, hieß es hier, »hat mit Befremden zur Kenntnis genommen, dass [...] die am 22. November 1978 vom Staatssekretär für Kirchenfragen gemachten Zusicherungen zu den Fragen der Nichtteilnahme am Wehrkundeunterricht in der 6. POS in RostockBrinckmansdorf nicht eingehalten und als nicht existent angesehen worden

114 Judt, Matthias (Hg.): DDR-Geschichte in Dokumenten. 2. Aufl., Berlin 1998, S. 223 f. Vgl. hierzu auch: Koch, Michael: Der Wehrunterricht in den Ländern des Warschauer Paktes. Eine Untersuchung im historischen und schulpolitischen Kontext unter besonderer Berücksichtigung der UdSSR und der DDR. Jena 2006; Sachse, Christian: Aktive Jugend – wohlerzogen und diszipliniert. Wehrerziehung in der DDR als Sozialisations- und Herrschaftsinstrument (1960–1973), (Studien zur DDRGesellschaft; 7). Bochum 1998. 115 MfS, HA XX/4, Bericht über die 11. Tagung der IX. ordentlichen Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburg vom 19.–22.3.1981, 26.3.1981: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 3472, Bl. 7–11, hier 8. 116 Ebenda.

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sind«. 117 Auf »Anregung« von Präses Siegfried Wahrmann, der mit dem MfS seit 1967 unter dem Decknamen IME »Lorenz« verkehrte und glaubte, so »zwischen Staat und Kirche vermitteln« zu können, wurde der Text abgeschwächt. 118 Die Kernaussage blieb jedoch bestehen. Dies war auch als ein Verdienst des mecklenburgischen Bischof Heinrich Rathke, der sich mit den Schülern und ihren Eltern solidarisierte. 119 Während die Stasi Rathkes Engagement akribisch registrierte, schien für sie die Reaktionen vor Ort in der Schule in Brinckmansdorf weniger interessant zu sein. Die ausbleibenden Meldungen legen nahe, dass es hier nicht zur offenen Solidarisierung kam. Einzelne Äußerungen würden, sofern es dazu kam, hiervon konnte die Stasi ausgehen, von den Lehrern geahndet und politisch undisziplinierte Schüler eingeschüchtert werden. Die Mehrheit selbst derer, die das Fach noch anfangs abgelehnt hatten, wartete nun ab und fügte sich in die Verhältnisse. Einzelne brachten das Argument vor, dass sich Kinder aus Pfarrhäusern die Verweigerung ja leisten könnten, weil sie, aufgrund der Haltung der Kirche privilegiert seien. Richtig war, dass die, die über jenen Hintergrund nicht verfügten, sich noch stärker auf sich allein gestellt sahen. Die Kaschierung der eigenen Angst ging hier einher mit dem Neid auf die, die es trotzdem wagten. Auch verkannten sie, dass die, die sich verweigerten, sich hier um ihre Studien- und Aufstiegschancen brachten. Dem Widerspruch ging meist die Verweigerung, dem Widerstand der Widerspruch voraus. Nicht wenige Menschen widersprachen in politisch unmissverständlicher Form den Forderungen des Regimes. Sie mussten dabei nicht unbedingt gleich das System als solches infrage stellen. Oft widersprachen sie einzelnen Maßnahmen oder politischen Vorgaben. Aber oft begehrten sie damit bereits gegen das dahinter stehende politische Konzept und dessen ideologischen Rahmen auf. Andere ließen sich von individuellen Erwägungen leiten, widersprach, ohne das System als Ganzes zu meinen und machten doch wieder nur die Erfahrung, dass ihnen dies als Widerspruch gegen das System als solches ausgelegt wurde. Die staatlich Verantwortlichen, Angestellten in den Ausbildungseinrichtungen und Verwaltungen, in der FDJ, Polizei und im MfS produzierten die Staatsfeinde, die sie zu bekämpfen sich anschickten, 117 MfS, BV Schwerin, an das MfS, Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe und die HA XX/AKG, [Bericht über] die 11. Tagung der IX. Ordentlichen Landessynode der EvangelischLutherischen Landeskirche Mecklenburgs vom 19.–22.3.1981, Schwerin, 31.3.1981: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 3472, Bl. 12–16, hier 14 f. 118 Ebenda, Bl. 15; Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser?« Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 256. 119 MfS, BV Schwerin, an das MfS, Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe und die HA XX/AKG, [Bericht über] die 11. Tagung der IX. Ordentlichen Landessynode der EvangelischLutherischen Landeskirche Mecklenburgs vom 19.–22.3.1981, Schwerin, 31.3.1981: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 3472, Bl. 12–16, hier 15.

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ohne Unterscheidung der Motive selbst. Dessen ungeachtet gab es diese aber auch tatsächlich. Dies hieß aber nicht, dass jeder, der als ein solcher gebrandmarkt werden sollte, von Beginn an auch ein solcher war. Nach den einschlägigen Erfahrungen der Diskriminierung und Sanktionierung lag die Einsicht jedoch nahe, sich gegen das Regime zu wenden. Der Protest vermochte sich sowohl individuell wie kollektiv vollziehen, beinhaltete aber auf jeden Fall eine neue Qualität, indem das »Opfer« zum Akteur wurde. Wer sich als Einzelperson oder mit anderen gemeinsam einer der gesellschaftlichen Umgestaltungsaktionen widersetzte, indem er dem Regime die Gefolgschaft versagte, eine unabdingbar zu leistende Unterschrift verwehrte oder nicht in eine der neuen Zwangsvergemeinschaftungen eintrat, verweigerte sich nicht nur oder widersprach. In seinem Protest begehrte er gegen das Regime und seinen Anspruch, die Gesellschaft insgesamt umzugestalten, effektiv auf. Empfindlich reagierte die Stasi besonders bei sozialistischen Prestigeobjekten wie der Kollektivierung. Der Widerspruch stellte in den Augen der SED ihren Anspruch, eine neue Gesellschaft aufzubauen, insgesamt infrage. Aus einer anfangs rein persönlich motivierten Widerrede wurde so ein politisch höchst missliebiges Bekenntnis. Für die SED subsumierte sich die Abweichung, unabhängig von den persönlichen Motiven, in der Aussage, ihren Vorgaben nicht folgen zu wollen. Auch hier bewegte sich der Widerstand im Alltag von seiner Motivlage her fern ab von der noch in der frühen NSWiderstandsforschung erkenntnisleitenden Annahme, beim Widerstand »stehe« vor allem und zuallererst »das Gewissen auf«. 120 Das heißt nicht, dass hier nicht auch ethische Erwägungen eine Rolle spielten. Wer sich der Kollektivierung in der Landwirtschaft und im Fischereigewerbe verweigerte, dem ging es nicht einzig um seinen Besitzstand. Den Betroffenen war ihre Arbeitsethik im Umgang mit den von ihnen gehaltenen Tieren und betreuten Äckern ebenso wichtig. Hinzu kam die Selbstständigkeit, die verloren zu gehen drohte. Selbstständigkeit hieß auch Eigenverantwortung und ein nachhaltiger Umgang mit den Produktionsmitteln, für deren schonenden Einsatz sich in der Kollektivwirtschaft langfristig niemand verantwortlich fühlte. Das Resultat des Systems der in den Kollektiven so organisierten Verantwortungslosigkeit schien hinlänglich bekannt: Misswirtschaft und sinkende Arbeitsproduktivität waren eine der Folgen. Die Stasi und die SED fürchteten bei jener Form des Widerstands im Alltag besonders den Nachahmeffekt einer einmal auftretenden Abweichung. Widerspruch und Aufbegehren galt es daher bereits im Keim zu ersticken, bevor aus ihnen mehr werden konnte und es zum offenen Widerstand kam.

120 Steinbach, Peter: Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Ders.; Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Bonn 1994, S. 15–26, hier 15.

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So leitete das MfS 1959 Ermittlungen gegen viele Bauern in Groß Lüdershagen und Neu Lüdershagen bei Stralsund ein, die sich der LPGGründung verweigerten. Zu ihnen zählte, was als besonders anstößig galt, der Parteisekretär der SED-Grundorganisation in Groß Lüdershagen. 121 Vergleichbare Beispiele, die den fließenden Übergang von der Verweigerung zum Widerspruch markieren, ließen sich anführen. So die in ihrer Zahl nicht unerheblichen Wahlverweigerungen, die, sofern sie mit unmissverständlichen öffentlichen Äußerungen einhergingen, zum Widerspruch wurden. Hinzu kamen als Form des Protestes die Gegenstimmen. Hierzu zählte auch die Praxis, den Wahlschein ungültig zu machen, indem die Kandidaten durchgestrichen oder unerwünschte Kommentare an den Rand geschrieben wurden. So erklärten im Bezirk Rostock »etwa 900 Personen« vor der Kommunalwahl am 20. Mai 1975 öffentlich, dass sie »nicht an der Volkswahl teil[zu]nehmen« gedenken. Als Ursachen und Motive sollten dabei auch die persönliche Verärgerung über kommunale Missstände und die Probleme bei der Versorgung mit Wohnraum oder Krippenplätzen angeführt werden. 122 Die Wirkung war, bedingt durch die hohe Bedeutung, die die SED dem störungsfreien Ablauf der Wahl zuwies, stets ein politische. Jede Abweichung von der Norm, rechtzeitig zur Wahl zu erscheinen und den Stimmzettel gefaltet ohne Benutzung der Kabine einzuwerfen, beinhaltete in den Augen der SED bereits einen Widerspruch. Dies konnte zutreffen, musste aber nicht in jedem Fall so sein. Die Rolle, die der Loyalitätsübung zukam, übertrug sich auf die nachgeordneten kleinen Systemträger vor Ort, die nicht selten auf ein an sich nicht zu beanstandendes Auftreten am Wahltag nervös und angespannt reagierten und alles, was ihnen verdächtig vorkam, registrierten. Doch gab es auch Menschen, die bewusst Widerspruch leisteten und sich gegen den Einheitswahlvorschlag der von der SED angeleiteten Nationalen Front, die die CDU, NDPD, LDPD und Bauernpartei mit in die politische Verantwortung für die Verhältnisse in der DDR einband, stellten. 1974 verfasste die MfS-Kreisdienststelle Rostock einen mehrseitigen Bericht zum Wahlverhalten des Leiters eines Krankenhauses. 123 Jener sei »stark westlich orientiert«, nehme an »gesellschaftlichen [d. h. politischen] Veranstaltungen [...] grundsätzlich nicht« teil, sei »katholisch gebunden« und habe es verstanden, »um sich streng katholische Bürger zu scharen, auf die er [...] seinen ideologischen Einfluß ausüben kann«. Der Chefarzt habe, so ist es dem Bericht weiter zu entnehmen, bei der Wahl »im Jahre 1967 [...] seinen Wahlschein durchgestrichen und diesen mit ›nein‹ 121 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Bericht des GHI »Hans Otto«, Lüssow, 26.7.1957: BStU, MfS, BV Rostock, AOP, Nr. 122/60, Bl. 10. 122 MfS, BV Rostock, Information 25/79 über negative Reaktionen in Vorbereitung der Wahlen am 20.5.1979, Rostock 19.5.1979: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 39, T. 2, Bl. 320. 123 MfS, BV Rostock, KD Rostock, [Bericht über] Dr. [Name], Leitender Arzt, Krankenhaus Gelbensandes, Rostock, 29.1.1974: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 44, Bd. 2, Bl. 86.

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unterschrieben«. Man schlussfolgerte, dass er damit »generell seine Ablehnung gegen alle aufgestellten Kandidaten zum Ausdruck bringen wollte«.124 1979 begehrten am Theater in Stralsund mehrere Schauspieler auf. Den Ausgangspunkt bildete auch hier eine Verweigerung, die in einem handfesten Protest mündete. Als treibende Kraft wirkte hier die Empörung, über eine als Anmaßung empfundene Forderung. Gleich drei Schauspieler des Theaters der Hansestadt setzten sich im September 1979 dagegen zur Wehr, am »Festprogramm ›30 Jahre DDR‹« mitwirken zu müssen. 125 Dass es Murren und Unmut angesichts der alljährlich angesetzten Pflichtübung zum Republikgeburtstag vielerorts gab, war hinlänglich bekannt. Doch nur in Stralsund eskalierte die Situation laut Aktenlage in dieser Form. Verantwortlich hierfür zeichneten nicht nur die als besonders angespannt beschriebene Stimmung am Theater und der Übereifer ihres Leiters. Hinzu kam, dass sich ein Mitarbeiter hinter dem geschlossenen Vorhang auf der Bühne das Leben nahm. Aber auch die Rebellen schienen sich bereits innerlich vom sozialistischen Theateralltag verabschiedet zu haben. Was war in Stralsund 1979 konkret passiert: Die Schauspielerin Helga Häntsch-Schubert wandte sich mit den Worten, dass es sich dabei um »Phrasendrescherei und Heuchlerei« handeln würde, grundsätzlich gegen das Festprogramm. Unterstützt wurde sie von zwei ihrer Kollegen. Ihr Mann, Wolfgang Häntsch, erklärte der Theaterleitung, »das ist mir egal, wie Sie das mit der Kreisleitung machen. Diesen Schnee verantworte ich nicht vor dem Publikum.« 126 Allem Anschein nach hatte sich auch der Intendant auf höhere Zwänge, die ihn zur Ansetzung der Jubelshow veranlassten, bezogen. Hinter ihm stand wiederum der Parteisekretär des Theaters – eben jener Mann, der die Information an die SED-Kreisleitung weitergab, die ihrerseits das MfS unterrichtete. Den Schauspielern schien es zugleich darum gegangen zu sein, ihr Ansehen beim Publikum nicht aufs Spiel zu setzen zu. Auch hier mischten sich so verschiedene Handlungsmotive. Schließlich übergab einer der Kritiker dem Parteisekretär im Namen aller Schauspieler einen Brief, der »keine Unterschriften trug«. In dem Protestschreiben wurde verlangt, »die Gedichte ›Wir sind 30 Jahre jung‹, ›Lied von der Köchin‹, ›Verlegenheitsargument‹ und ›Wir grüßen die Republik‹ abzusetzen und dafür [das Gedicht] ›Solange auf Erden noch die Mörder gehen‹ von Jewtuschenko in das Programm aufzunehmen«. 127 Das MfS schlussfolgerte, dass es sich bei dem Vorstoß nur um eine Provokation handeln könne. Allenfalls unternähmen die Schauspieler hier den Versuch, mit ›Bauernschläue‹ und Schalk dem Pro124 Ebenda. 125 MfS, BV Rostock, Information Nr. 60/79 über die Situation am Theater Stralsund, Rostock, 1. 10.1979: BStU, MfS, AKG, Nr. 39, T. 1, Bl. 76–78. 126 Ebenda. 127 Ebenda, Bl. 77 f.

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gramm eine vom Auftraggeber nicht erwünschte Intention zu verleihen. 128 In dem Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko, so stellte Generalmajor Rudolf Mittag, der Leiter der MfS-Bezirksverwaltung fest, sei »allgemein von Unterdrückung und Freiheit die Rede«. Der Auftritt könnte daher »von negativen Kräften politisch falsch ausgelegt werde..« Zugleich äußerte der Intendant, »Gen[osse] Unruh«, dass er bei der »gegenwärtigen Schauspielerbesetzung [...] keine Gewähr« mehr für einen »störungsfreien Ablauf des Festprogramms« übernehmen werde. 129 Der Protest der Stralsunder Theaterleute mochte daher als erfolgreich angesehen werden. Wenig später, im März 1980, verweigerte sich Wolfgang Häntsch gänzlich dem offiziellen DDR-Kulturbetrieb. In Carlsdorf in der Mecklenburgischen Schweiz plante er daraufhin zusammen mit anderen unzufriedenen Künstlern, unter anderem Frieder Venus aus Neustrelitz, ein heruntergekommenes Gutshaus zu beziehen. 130 Gemeinsam träumten sie davon, hier eine »Künstlerkolonie« nach dem Vorbild des Werkbundes des Weimarer Bauhauses, 131 »ohne staatliche Zwänge« 132 gründen zu können. Als »Künstlergemeinschaft Mecklenburg«, kurz »KüGeMeck«, nahmen sie ihr Vorhaben in Angriff. Doch schaltete sich auch hier die Stasi ein. Zusammen mit den Räten der zuständigen Bezirke und Kreise gelang es ihr, das ambitionierte Projekt zu verhindern. 133 Die Bevölkerung reagierte, sofern sie es überhaupt wahrnahm, unterschiedlich auf die neuen Landhausbewohner. Mit ihnen ließen sich ab Ende der siebziger Jahre auch andere Aussteiger – vor allem Künstler aus Berlin und dem Süden der DDR – in der als verschlafen geltenden Mecklenburgischen Schweiz nieder. Während sich viele distanziert bis abwartend verhielten, schöpften vor allem kritisch eingestellte Jugendliche Mut angesichts der neuen Siedler, die neue Ideen, mitunter Unruhe und alternatives Leben in einige Dörfer brachten. Einige nahmen Kontakt mit den Aussteigern auf und besuch128 Als missverständlich eingeschätzt wurde vor allem die zweite Strophe des Gedichtes: »Die Hölle ist schon vollgepfercht mit Sündern, | Doch fehlt dort manche zünftige Figur, | Da ruft mein Lied die Opfer jener Schinder | und bringt sie den Verbrechern auf die Spur | Geht fahnden durch Gedränge und Gewimmel | geht ahnden rasch, von heißem Haß erfüllt, | Wie kannst Du ruhig leuchten, blauer Himmel, | Solang die Mörder leben noch auf der Welt! | Zit. nach: Busch, Ernst: Der heilige Krieg – Frieden der Welt. Berlin (Ost)1967. 129 MfS, BV Rostock, Information Nr. 60/79 über die Situation am Theater Stralsund, Rostock, 1. 10.1979: BStU, MfS, AKG, Nr. 39, T. 1, Bl. 76–78, hier 78. 130 Morgner, Martin: Deckname »Maske«. Die Künstlergemeinschaft Mecklenburg 1980/81. Eine Dokumentation (Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs; 2). Berlin 1995, S. 34 f., 60 f., 54. 131 Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; Bd. 346). Bonn 1997, S. 351. 132 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Zwischeneinschätzung zum OPK »Maske«: BStU, MfS, AOP 1272/82, Bl. 238–240. 133 Morgner, Martin: Deckname »Maske«. Die Künstlergemeinschaft Mecklenburg 1980/81. Eine Dokumentation (Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs; 2). Berlin 1995, S. 96–143.

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ten diese von Zeit zu Zeit. Am grundsätzlichen Verhalten der Ansehenspersonen vor Ort aus den »aufgeklärten« Berufen – den Ärzten und Lehrern – änderte dies jedoch nur wenig. Zum DDR-Jahrestag 1979 trat im benachbarten Teterow zum Festprogramm im Kreiskulturhaus auch der im Bildungsbürgertum verankerte Madrigalchor auf. Zusammen setzte er hier mit dem in FDJBlusen blau eingekleideten »Großen Chor der EOS [...] zum gemeinsamen Gesang des Friedensliedes« an. 134 Protest und Aufbegehren konnten häufig von Eigeninteressen geleitet sei. Der von der SED öffentlich bekundete Anspruch, für quasi alles in der Gesellschaft verantwortlich sein zu wollen, offenbarte hier die andere Seite der Medaille. Gab es wie so häufig Defizite in gesellschaftlichen Teilbereichen wie in der Wohnraumsituation oder der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumund Lebensmitteln, griffen nicht nur Regimekritiker gerne hierauf zurück. Schließlich lag es nahe, dass die SED mit ihrer rigorosen Steuerungspolitik den Zustand mit herbeigeführt hatte. Das Private wurde nun auf diese Weise politisch. Dessen waren sich in der Regel auch die bewusst, die sich über den konkreten Missstand empörten. Auch sie wussten, dass das Regime ihre Loyalität in Form von Wohlverhalten und Ergebenheitsadressen einforderte und ihr Protest nicht erwünscht war. Mitunter sah man hier die Möglichkeit, sich im versorgungsbedingten, vermeintlich unpolitischen Protest für die Bevormundung des Regimes zu revanchieren. Im Ergebnis lief es – ob nun beabsichtigt oder rein reaktiv geschehen – so oder so darauf hinaus. Wurde zudem eine nicht mehr legitime Form des Protestes zur Meinungsäußerung gewählt, wie im folgenden Fall, so fand man zwischenzeitlich nicht nur zu einem neuen Selbstbewusstsein, etwas ohne Erlaubnis »von oben« und gegen das geltende Reglement »auf die Beine gestellt zu haben.« Zugleich liegt es nahe, dass denen, die sich empörten, bewusst gewesen sein muss, was sie taten. So war zwar die Einzeleingabe in Form der devoten Beschwerdevorlage als Ventil zur Kanalisierung des Unmuts in der DDR gesetzlich gestattet worden. Jegliche Sammeleingabe und Unterschriftensammlung verletzten jedoch die vom Regime erlassenen »Spielregeln« zwischen Herrschenden und Beherrschten, da die gesellschaftliche Mobilisierung selbst im Kleinen »verstaatlicht« worden war. Im Kern ging es somit auch nicht um den Inhalt der Beschwerde, sondern die Eigenmächtigkeit, mit der die Betreffenden hier agierten und den Gestaltungsanspruch des Einparteienstaates in seiner Absolutheit ignorierten. Im Protest erlangten die Bürger, wenn auch nur für einen Moment und inhaltlich begrenzt, ein Stück ihrer politischen Mündigkeit zurück. Im August 1986 wandten sich mehrere Einwohner von Gremersdorf bei Grimmen mit einer Eingabe an den Rat des Kreises Stralsund, in der sie sich 134 »Überall im Kreis schlägt der Puls des Sozialismus. Veranstaltung des Kreises. Walter Steinau hielt Festrede. Sowjetische Freunde gratulierten.« In: Freie Erde, Nr. 235, 5.10.1979, S. 8.

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über die ihrer Meinung nach unhaltbaren Zustände bei der Versorgung mit Obst, Gemüse und vor allem Südfrüchten beklagten. 135 An sich unterschied sich die Versorgungssituation in Gremersdorf nicht von der in anderen Orten in der DDR. Das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen brachte hier ein anderer Umstand. So erhielten lediglich die – wie es in der DDR hieß – an die »Erntefront« entsandten Bauern des Volkseigenen Gutes Pflanzenproduktion VEG (P) »Pfirsiche, Bananen, Melonen«. 136 »Zweimal wöchentlich mit Südfrüchten versorgt« wurden ebenso die Mitglieder einer vor Ort ansässigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft Pflanzenproduktion LPG (P), die ebenfalls bei der Ernte mithalfen. 137 Die Beschwerdeführer verdienten sich ihr Auskommen hingegen in der Tierproduktion. Sie waren, da sie nicht auf dem Felde mitwirkten, von der Sonderversorgung abgeschnitten. Aber selbst dies gab nicht den alleinigen Ausschlag für die Empörung. »Ihrer Auffassung nach sei es ungerecht«, lautete die Beschwerde, dass, während der »gesamte Bereich [der Tierproduktion] [...] nicht berücksichtigt« werde, die Bürokräfte, staatliche Leiter und Parteisekretäre an dem Privileg, das den auf dem Feld Tätigen vorbehalten war, partizipierten. Die Unterzeichner der Eingabe schlugen vor, »wenn es nicht möglich« sei, »die ganze Gemeinde zu versorgen«, die Sonderversorgung »an die Kindergärten [...] sowie an die Krippe und Schule zu verteilen«. So erhielten, wie es weiter heißt, »die Kinder der ganzen Gemeinde die Möglichkeit im Kindergarten die Obstpause zu nutzen«. 138 Hier, in den gemeinsam genutzten Kinder- und Schülereinrichtungen, schien sich die Ungleichbehandlung augenfällig verdichtet zu haben: Während die Kinder der Kleinfunktionäre, der Büroarbeiter und der in der Pflanzenproduktion Tätigen in der »Obstpause« ihre Südfrüchte auspackten, stärkten sich die Kinder der übrigen Bauern mit Selbstangebautem aus dem heimischen Obstgarten. Die von der MfS-Kreisdienststelle Stralsund durchgeführte »Überprüfung zur Unterschriftensammlung« ergab, dass insgesamt 48 Gremersdorfer den Protest unterzeichnet hatten. Zuvor war die Unterschriftenliste gegen alle geltenden Vorschriften öffentlich im Ort ausgelegt worden; die Beschwerdeführer behielten es sich zudem vor, ihren Protest »an höhere Institutionen

135 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Information Nr. 36/86 betr.: Unterschriftensammlung Gremersdorf zur Ernteversorgung, Stralsund, 21.8.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 255, T. 1, Bl. 350 f. 136 Eingabe, 48 Unterschriften, eingegangen bei Rat des Kreises Stralsund am 20. 8.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 255, T. 1, Bl. 353. 137 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Information Nr. 36/86 betr.: Unterschriftensammlung Gremersdorf zur Ernteversorgung, Stralsund, 21.8.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 255, T. 1, Bl. 350 f. 138 Eingabe, 48 Unterschriften, eingegangen bei Rat des Kreises Stralsund am 20. 8.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 255, T. 1, Bl. 353.

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weiterzugeben«. 139 Auch wenn in diesem Fall das Eigeninteresse bzw. die Sorge um das Wohl der eigenen Kinder überwog, so enthielt auch diese Form des Aufbegehrens eine politische Komponente. Zudem konnte derlei Protest zu weiterer Unruhe führen. Das kollektive Vorgehen verstieß wie die gewählte Form der öffentlich ausgelegten Sammeleingabe zudem gegen in der DDR geltende gesetzliche Normen. Dementsprechende Konsequenzen waren so nicht ausgeschlossen. 3.1.6 Widerstand Immer wieder kam es zu eindeutigen Widerstandshandlungen, die, um eine zuvor benutzte Umschreibung wieder aufzugreifen, als »Widerstand im engeren Sinne« (Peukert) bezeichnet werden können. Die Urheber stellten mit ihren Widerstandstaten das System zumeist insgesamt infrage, ohne dass sie jeweils effektiv auf eine Beseitigung des Regimes hoffen konnten. Zwar mochte dies den Handelnden in den frühen Jahren der DDR – wie übrigens auch beim Widerstand im NS-Staat – meist noch realistisch erscheinen. Doch indem die in der DDR etablierten Verhältnisse trotz aller Vorhersagen fortbestanden, schwand auch diese Hoffnung. Selbst im landwirtschaftlich geprägten Bezirk Rostock registrierte das MfS eine hohe Zahl an Flugblattaktionen. Hinzu kamen die systemkritischen Losungen, die immer wieder an den verschiedenen Orten im Bezirk auftauchten. Sie wurden von der Bezirksverwaltung zumeist in den Delikte-Kerblochkarteien (DKK) erfasst. 140 Mittels dieser Karteien erfasste die Staatssicherheit nicht nur Flugblattaktionen, Losungen und systemkritische Äußerungen in komprimierter Form. Das System diente auch der Fahndung nach denen, die Widerstand leisteten. 141 Anders als bei den zuvor angeführten Formen des »Widerstands im Alltag« trat hier beim »Widerstand im engeren Sinne« das klassische Motiv der Widerstandsforschung als Impuls hervor: »Das Gewissen steht auf«, dieser Grundsatz ließ sich so als ein wesentliches Leitmotiv bei den Flugblattaktionen und Losungen ausmachen. Weniger war es nun die Abwehr einer als anmaßend emp139 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Information Nr. 36/86 betr.: Unterschriftensammlung Gremersdorf zur Ernteversorgung, Stralsund, 21.8.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 255, T. 1, Bl. 350 f. 140 Delikte-Kartei/Delikte-Kerblochkartei. In: Das MfS-Lexikon. Berlin 2012, S. 70. 141 Anhand der sich an den Rändern befindenden Lochstreifen konnten über die jeweils vorgenommenen Ausstanzungen »Täterprofile« abgefragt und nach vergleichbaren Vorkommnissen gesucht werden. Das System unterteile sich in einzelne Teilbereiche wie die Karteien mündliche Hetze Bekannt oder mündliche Hetze Unbekannt. Die Losungen und Flugblattaktionen sind in den Teilkarteien schriftliche Hetze Bekannt und schriftliche Hetze Unbekannt dementsprechend registriert und nach analytischen Vorgaben beschrieben worden.

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fundenen Forderung des Systems oder die persönliche Betroffenheit, die die Handelnden antrieb. Vielmehr schien es die grundsätzliche Betroffenheit angesichts des Unrechtes zu sein, die hier zur Widerstandstat führte. Beim MfS hieß es lakonisch zur Motivlage, der Betreffende verfüge zum Beispiel über eine »ausgeprägte feindliche Einstellung« oder stehe »der sozialistischen Entwicklung negativ bzw. ablehnend gegenüber«. Auch andere phrasenartige Zuschreibungen durchziehen die von der Stasi stammende Überlieferung, die so nur wenig über die tatsächlichen Motive der Handelnden auszusagen vermag. Lediglich in den eher seltenen Fällen, in denen die Handelnden die Gründe für ihren Widerstand offenlegten und die Aussagen nicht durch die protokollierenden Vernehmer entstellt worden sind, mögen die Stasi-Akten eine Aufschluss hierzu zu liefern. Auch beim »Widerstand im engeren Sinne« ließen sich die Urheber der Aktionen in den Verhören allem Anschein nach von taktischen Motiven leiten. Sofern die Stasi sie ermitteln konnte, führten sie häufig Erklärungen für ihr Handeln an, von denen sie sich ein geringeres Strafmaß erhofften. Doch häufig gelang es der Stasi nicht, die Widerstandstaten aufzuklären. Das Diktum von der allumfassenden Überwachung blieb ein vor allem auch von der Stasi selbst genährter Mythos. Drei Jugendliche aus Rostock, die in Flugblättern freie Wahlen und demokratische Rechte eingefordert hatten, wurden 1950 der »antisowjetischen Propaganda« bezichtigt: Als technischer Lehrling, Elektriker sowie Elektromaschinenbauer arbeiteten sie in verschiedenen Betrieben der Stadt. Am 11. November 1950 verurteilte ein Sowjetisches Militärtribunal sie zu je 25 Jahren Straflager. Später revidierte man das Urteil und setzte es auf acht bzw. sechs Jahre herab. Während des Deutschlandtreffens der FDJ in Ost-Berlin waren die drei gemeinsam in den Westteil der Stadt gefahren. In einem Büro der SPD hörten sie sich einen Vortrag an und nahmen »anschließend 400 Hetzschriften« – sprich Flugblätter – in ihrem Gepäck nach Rostock mit. Anfang Juni 1950 klebten sie diese an mehrere Häuser und Litfaßsäulen am Doberaner Platz, in der Wismarschen Straße, in der Stalinstraße (der späteren Langen Straße) sowie am Neuen Markt. 142 Am 20. November 1960 vermeldete der Operativ-Stab des Volkspolizeikreisamtes Rostock an den Staatssicherheitsdienst den Fund eines Flugblattes in Warnemünde. Mittels einer Schreibmaschine war die Forderung »Nieder mit dem Kommunismus, weg mit Ulbricht, es lebe die Freiheit« erhoben worden. 143 Bereits zwei Monate zuvor hatte man in Warnemünde achtzehn Flugblätter gefunden, die an mehreren Stellen im Ort abgelegt und mit einem 142 MfS, Mikrofilmkarte, M 1658: BStU, MfS, AS 11/59, Bl. 107; MfS, Mikrofilmkarte, M 2994: BStU, MfS, AS 11/59, Bl. 148; MfS, BV Rostock, Schlussbericht (Operativ-Vorgang Nr. 141/50), Rostock, 28.9.1950: BStU, MfS, BV Rostock, AU 103/51, HA, Bd. I, Bl. 55. 143 VPKA Rostock, Spitzenmeldung, betr.: Hetzlosung in Warnemünde, Rostock, 20.11.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1474/60, Bl. 16 und (Flugblatt) Bl. 21.

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Kinderdruckkasten angefertigt worden waren. 144 Das Flugblatt nahm Bezug auf die Teilamnestie vom 1. Oktober 1960. 145 Im Text erklärten die Verfasser: »Achtung Flugblatt. Ulbricht ließ 12 000 raus, etwa aus Mitleid? Nein! Nur um die Zuchthäuser freizubekommen für neue gefährlichere Gegner!!!« 146 Trotz intensiver Fahndung gelang es dem MfS nicht, die Urheber zu finden. Häufig gelang dies jedoch. In Wismar stellte sich am 1. März 1979 ein Arbeiter des Schlachthofes, weil er glaubte, sich nicht länger dem Fahndungsdruck entziehen zu können. Zuvor hatte er in mehrere Briefkästen der Altstadt etwa vierzig Zettel eingeworfen, deren »Inhalt«, wie es in der Kartei heißt, »sich gegen die Volkswahlen am 20. Mai 1979« richtete. 147 »Bürger! Sabotiert die Arbeit, indem ihr Sand ins Getriebe werft. Sagt nein zur Wahl am 20. Mai, indem ihr die Wahl sabotiert oder mit nein stimmt. Wehrt euch gegen den Zwang zur Wahl. [...] Stellt Anträge zur ›Ausweisung aus der DDR‹. Ihr schwächt das Ansehen des Staates. Verantwortlich. Grüne Grenze« – so lautete der Text auf zwei Flugblättern, die aufmerksame Bürger den »Sicherheitsorganen der DDR« übergaben. 148 Der »Umstand der Selbststellung« fand bei der »Würdigung« des Falles keinerlei Berücksichtigung: Schließlich, so konstatierte man, habe sich an der »staatfeindlichen Grundeinstellung« des Beschuldigten in der Untersuchungshaft nichts geändert. 149 Am 11. Juli 1979 verurteilte ihn der 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock »wegen staatsfeindlicher Hetze« zu »einer Freiheitsstrafe von [...] drei Jahren und [...] sechs Monaten«. 150 Der Beschuldigte hätte, so wurde ihm strafverschärfend vorgehalten, mit der Aktion die »Verbindung zu Gleichgesinnten« gesucht, um mit diesen »gemeinsam ähnliche oder andere Aktionen [...] durchführen« zu können. 151 Das Signal, 144 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Spitzenmeldung, betr.: Flugblattfund in Warnemünde, Bezug: Meldung des Op.-Stabes des VPKA Rostock, Rostock 14.10.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1474/60, Bl. 32 und (Flugblatt) Bl. 91. 145 Art. Amnestie. In: SBZ von A bis Z. Ein Taschen- und Nachschlagebuch über die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands. Hg. v. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen. 8. Aufl., Bonn 1963, S. 24; Weber, Hermann: DDR. Grundriß der Geschichte 1945–1990. Neuauflage, Hannover 1991, S. 303. 146 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Spitzenmeldung, betr.: Flugblattfund in Warnemünde, Bezug: Meldung des Op.-Stabes des VPKA Rostock, Rostock 14.10.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1474/60, Bl. 32 und (Flugblatt) Bl. 91. 147 MfS, HA IX, Kerblochkartei der HA IX: BStU, MfS, HA IX, Nr. 4125, Bl. 63; Der Staatsanwalt des Bezirks Rostock, Abt. I A, Strafakte [Name]: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2084/79, Bd. 2, Bl. 5. 148 Der Staatsanwalt des Bezirks Rostock, Abt. I A, Untersuchungsvorgang [Name]: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2084/79, Bd. 1, Bl. 110–119. 149 Der Staatsanwalt des Bezirks Rostock, Abt. I A, Strafakte [Name]: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2084/79, Bd. 2, Bl. 43. 150 Ebenda, Bl. 36 sowie MfS, BV Rostock, KD Wismar, Abschlussbericht, Wismar, 18.6.1981: BStU, MfS, HA IX, Nr. 15992, Bl. 215. 151 Der Staatsanwalt des Bezirks Rostock, Abt. I A, Strafakte [Name]: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2084/79, Bd. 2, Bl. 10.

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das er meinte, hiermit ausgesandt zu haben, blieb jedoch ohne erkennbare Resonanz. Andererseits wusste er, dass es in seiner Heimatstadt ähnlich denkende Menschen wie ihn geben müsse. Bereits am 13. September 1972 war er vom Kreisgericht Wismar-Stadt wegen »ungesetzlichen Grenzübertritts« zu einer »Freiheitsstr[afe von] 1 Jahr und 3 Monaten« verurteilt worden. 152 Während der Haft in der Justizvollzugsanstalt Bützow-Dreibergen wurde er nicht nur Zeuge massiver gewaltsamer Übergriffe des Gefängnispersonals und des militärischen Drills, mit dem man die Häftlinge zur Arbeit antrieb. Zugleich traf er auf Menschen, die ebenfalls einsaßen, weil sie sich gegen die Verhältnisse in der DDR aufgelehnt hatten. In der Anklageschrift des Bezirksstaatsanwaltes in Rostock fand dieser Umstand in den entsprechenden Passagen zum Werdegang des Beschuldigten seinen Niederschlag: »Durch Hinweise anderer Mithäftlinge angeregt«, hieß es in diffamierenden Ton der Anklage, »reifte in ihm die Vorstellung, durch die Verbreitung hetzerischer Losungen eine Veränderung [...] der DDR nach BRD-Vorbild anzustreben und Gleichgesinnte zum aktiven Handeln [...] zu gewinnen.« 153 Nach gut 28 Monaten – nach zwei Drittel der Haftzeit – wurde der Urheber des Flugblatts über die MfSUntersuchungshaftanstalt Karl-Marx-Stadt am 9. Juli 1981 in die Bundesrepublik entlassen. 154 Enthalten ist in den Kerblochkarteien zudem eine große Anzahl von politischen Losungen, von denen hier drei angeführt werden sollen: Ebenfalls in Warnemünde, »in der Nähe des Leuchtturms«, streuten Unbekannte im Juni 1960 »auf die Straßendecke [...] mit Sand die Losung [...] ›Wir fordern Freiheit‹«. 155 Die ungewöhnliche Vorgehensweise unterband zugleich alle Bestrebungen nach den Urhebern erfolgreich zu fahnden: Schließlich ließ sich das Corpus delicti vor Ort nur schwer kriminaltechnisch sichern. Das MfS dokumentierte die Losung und entfernte stillschweigend den Sand und verzeichnete die Tat in der Kartei schriftliche Hetze Unbekannt. Auch in anderen Jahrzehnten gab es entsprechende Vorfälle: In der Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1987 schrieben Unbekannte mit weißer Ölfarbe an eine Trafohäuschen an der Fernverkehrsstraße 105 bei Wismar die Losung »Tod dem Linksfaschismus in der DDR 17.06.« und nahmen somit Bezug auf den Volksaufstand von 17.

152 Der Staatsanwalt des Bezirks Rostock, Abt. I A, Untersuchungsvorgang [Name]: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2084/79, Bd. 1, Bl. 4. 153 Der Staatsanwalt des Bezirks Rostock, Abt. I A, Strafakte [Name]: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2084/79, Bd. 2, Bl. 8. 154 MfS, HA IX/BfS, an die MfS BV Rostock, BKG, Leiter, betr.: Durchführung zentraler Maßnahmen zur Übersiedlung Strafgefangener, Berlin, 25.6.1981: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2084/79, Bd. 1, Bl. 243. 155 MfS, BV Rostock, Übersicht über Vorkommnisse und feindliche Handlungen im Stadtteil Rostock-Warnemünde im Jahre 1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 46/60, Bl. 39–41, hier 39.

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Juni 1953. 156 Und in Rostock wurden, wie es im Rapport der MfSKreisdienststelle hieß, »in den Nachtstunden des 30.11.1987 bis 1.12.1987« gleich mehrere Losungen »im Bereich des Schulgebäudekomplexes der 41. Oberschule ›Pawel Beljajew‹« in der Satower Straße angebracht. In »60 bis 80 cm großen Druckbuchstaben und [in einer] Schriftlänge von ca. 6 m« war dort zu lesen »DDR – Knast«, »Wir wollen raus«, »Meinungsfreiheit?«, »Razzia in Kirchen wie 33« und »Zion wehrt euch!«. 157 Die Inschriften mussten als Anspielung auf die Aktion des Staatssicherheitsdienstes vom 25./26. November 1987 in Ost-Berlin verstanden werden. Staatsanwalt Ludwig Gläßner war mit einem MfS-Kommando in der Nacht in die Räume der UmweltBibliothek in der Zionskirchgemeinde eingedrungen, hatte mehrere Personen festgenommen und Druckmaschinen beschlagnahmt. 158 Während die Tat am Trafohäuschen bei Wismar unaufgeklärt blieb, wurde als Urheber der Losungen ein Zwanzigjähriger ermittelt. Den Beweis erbrachte die konspirative Wohnungsdurchsuchung. Erstellt wurde dabei eine »Geruchskonserve«, die man, wieder in die Räume der Bezirksverwaltung zurückgekehrt, »erfolgreich [...] mit der am Tatort gesicherten Geruchsspur« verglich. 159 Doch kam es weder zur »Zuführung« noch zu einer Inhaftierung. Vielmehr herrschte Verwirrung, wie man im betreffenden Fall verfahren solle. Wie man in der Bezirksverwaltung schnell herausfand, war ein Inoffizieller Mitarbeiter, den man auf die kirchliche Jugendarbeit angesetzt hatte, außer »Kontrolle geraten«. Am 19. August 1982 hatte die Kreisdienststelle Rostock den Delinquenten auf »der Basis der Einsicht in die politische Notwendigkeit im Alter von 15 Jahren« angeworben. 160 Als »Sven Werder« sollte er die Jungen Gemeinden in der Rostocker Südstadt und an der Johanniskirche bespitzeln. Um ihn besser innerhalb der Jungen Gemeinden platzieren zu können, kam man mit ihm überein, dass er sich »1983 taufen lassen« solle. Zudem erklärte er 1985 »in Abstimmung mit dem MfS« auf dem Wehrkreiskommando, »nur als Spatensoldat ohne Waffe seinen Wehrdienst« ableisten zu wollen. 161 Bald konnten die ersten Erfolge vermeldet werden: 1986 wurde er in 156 MfS, BV Rostock, AKG, ODH, Rapport Nr. 168/87 vom 17.6.1987, gemeldet durch die KD Wismar: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 557, Bl. 7. 157 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Ref. III, Eröffnungsbericht zur Anlegung des Operativvorganges »Maler« gegen Unbekannt, Rostock, 4.12.1987: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 232, Bl. 40–43. 158 Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 257. 159 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat III, Abschlussbericht zum OV »Maler«, Rostock, 14.7.1988: BStU, MfS, AOP 1728/88, Bl. 170–175, hier 172. 160 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Kurzauskunft zum AIM »Sven Werder«, Archiv-Nr. 2932/87, der zur Übersiedlung in die BRD vorgesehen ist, Rostock, 29.12.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1728/88, Bl. 126–129, hier 126. 161 Ebenda.

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den Kirchengemeinderat der Südstadtgemeinde, die als Anlaufpunkt viele politisch-unzufriedene Schüler und Lehrlinge anzog, gewählt. Zugleich wurde er mit der Jugendarbeit betraut. Die Strategie des MfS schien aufgegangen zu sein. Doch täuschte dieser Eindruck. Schrittweise »entzog« sich »Sven Werder« in den folgenden Monaten, verstärkt ab März 1987, der »inoffiziellen Zusammenarbeit«. Bei den im August und September 1987 mit ihm »geführten Aussprachen« zeigte er sich »nicht mehr bereit [...], mit dem MfS zusammenzuarbeiten«; unvermittelt sah sich das MfS mit der Dysfunktion des von ihm erdachten Überwachungsinstrumentariums konfrontiert. 162 Zwei Ursachen schienen hierfür den Ausschlag geliefert zu haben: Zum einen führte man den Misserfolg auf eine »längere Krankheit des operativen Mitarbeiters« zurück. In dieser Zeit fielen die Treffen aus, weil man es versäumte, hierfür Vorsorge zu treffen. 163 Zum anderen blieb der Aufenthalt in der von ihm bespitzelten Umgebung, in der er sich zunehmend heimisch und aufgehoben fühlte, nicht ohne Auswirkungen. Indem sich einst taktisch motivierte Bekanntschaften in ernst gemeinte Freundschaften verwandelten, trat ein Wandel ein. Anstatt seine Gesprächspartner weiter auszuhorchen, übernahm »Sven Werder« deren politische Ansichten; nach Ansicht des MfS eine schlichtweg »feindlich-negative politische Haltung«. 164 Die MfSBezirksverwaltung verlor so einen ihrer wichtigsten Spitzel zur Überwachung der kirchlichen Jugend- und Friedensarbeit in der Hansestadt. Obendrein stellte er noch einen Ausreiseantrag. 165 Zugleich stand in der August-Bebel-Straße eine schwerwiegende Entscheidung an. Als Problem entpuppte sich plötzlich der Umstand, dass man sich einst nach Kräften darum bemühte hatte, den IM innerhalb der kirchlichen Strukturen zu platzieren. Schließlich wollte man nicht, ohne Rücksprache in Berlin zu nehmen, »ein gewähltes Mitglied des Kirchgemeinderates« inhaftieren und nachfolgend für etwaige Komplikationen verantwortlich gemacht werden. 166 »Auf Grund zentraler Entscheidungen« und »um das Verhältnis Staat-Kirche nicht zu belasten«, verfügte man, dem Urheber der Losungen sofort die Ausreise in die Bundesrepublik zu gewähren. 167 Man entschied zudem, den Delinquenten »in dem Glauben« zu lassen, »daß er als Täter der o[ben] g[enannten] Schmiererei unerkannt geblieben ist«. 168

162 Ebenda. 163 Ebenda. 164 Ebenda. 165 Ebenda. 166 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Ref. III, Abschlussbericht zum OV »Maler«, Rostock, 14.7.1988: BStU, MfS, AOP 1728/88, Bl. 170–175, hier 172. 167 Ebenda. 168 Ebenda.

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Eine Reihe weiterer Handlungen zeugte ebenso vom Willen zum Widerstand. Das Spektrum reicht von in den Akten immer wieder genannten Demonstrativhandlungen und Fahnenabrissen über die Beschädigung von Propagandatafeln und Sichtagitation bis hin zu den vergleichsweise eher seltenen gewaltsamen Aktionen. So ging beim Kriminalamt des Landes Mecklenburg in Rostock am 28. Oktober 1948 die Meldung aus Neubrandenburg ein, dass am Tag zuvor »gegen 22.00 Uhr auf das Haus der SED [...] ein Sprengkörperanschlag verübt worden ist«. 169 Es handelte sich bereits um den »dritten Anschlag dieser Art in Neubrandenburg innerhalb kurzer Zeit«. Aufgrund technischer Problem zündeten die Sprengsätze jedoch nicht. 170 Hinzu kommen als weitere Widerstandstaten Sabotageakte und das Sammeln von Informationen, um diese nachfolgend westlichen Stellen zukommen zu lassen und über die Situation in der DDR aufzuklären. Dies musste nicht, auch wenn die SED automatisch dies unterstellte, Spionage sein. So gab es Menschen, die westliche Pressestellen oder auch kirchliche Institutionen wie die Kanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland in Hannover und kirchliche Arbeitsgruppen wie »Licht im Osten« informierten. All dies war unter Strafe verboten. Widerstand leisteten auch jene Menschen, die in den fünfziger Jahren den Kontakt zu den Ostbüros der SPD, CDU und FDP oder den Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen in West-Berlin und der Bundesrepublik hielten und jene mit Nachrichten versorgten; zumeist wurden sie der Spionage bezichtigt und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Aber auch jene Menschen sind hierzu zu zählen, die im Dienste westlicher Nachrichtendienste in der DDR Spionageaufträge erledigten und dieses Engagement als ihre Form des Widerstands gegen die SED-Diktatur begriffen. Darüber, wie die Bevölkerung auf die Widerstandstaten reagierte, ist nur wenig bekannt. Die von der Stasi häufig verwandte Formel, es »wäre keine Öffentlichkeitswirksamkeit« erzielt worden, verweist nur darauf, dass der Ort, an dem Flugblätter auftauchten oder an dem es eine Losung zu lesen gab, nicht von überall einsehbar war oder die Tat rechtzeitig entdeckt werden konnte. Nur selten gibt es eine unabhängige Quelle, die etwas über die Reaktionen der zufällig Vorbeikommenden zu berichten weiß. Eine Ausnahme stellt diesbezüglich ein Vorfall in Rostock im Oktober 1987 dar. Hier tauchte an einer Mauer unweit des Fähranlegers in Gehlsdorf die Losung »Wieder Mord an der Mauer!« auf. 171 Schnell fanden sich nicht wenige Schaulustige ein, neugierig darauf, wann und wie die Staatsmacht reagieren würde. Als Vertreter 169 Bericht von der Inspektionsfahrt zum LKA Mecklenburg, zu den KA Schwerin, Rostock, Greifswald und zur KD Neubrandenburg vom 27. bis 30.10.1948, Berlin, 1.11.1948, (keine weiteren Informationen zum Urheber und Empfänger des Schreibens, aber offensichtlich Schriftverkehr innerhalb der K 5): BStU, MfS, Nr. 364/66, Bl. 160. 170 Ebenda. 171 MfS, BV Rostock: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 10/87, Bl. 240.

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derselben traf als erster ein Volkspolizist – der Abschnittsbevollmächtige – vor Ort ein. Nach kurzem Zögern ergriff er den Pinsel, den die Urheber samt Farbe hatten stehen lassen. Aus dem Kreis der Schaulustigen, sah er sich mit mehreren Unmutäußerungen konfrontiert: Rufe wie »Finger weg« und »Pfüh« schallten im entgegen. Die eintreffende Stasi, die die Ansammlung sofort auflöste, befreite den Volkspolizisten aus der peinlichen Situation. 172 Im Kapitel »Alltag« wird später an weiteren konkreten Beispielen auf die Reaktion der Bevölkerung auf einzelne Widerstandstaten eingegangen. 3.1.7 Opposition Um die Abgrenzung des Oppositionsbegriffs zum Begriff Widerstand ist in der Vergangenheit gerungen worden. 173 Rainer Eckert, der sich für eine präzise Abgrenzung aussprach, untergliedert Opposition in drei Äußerungsformen. 174 Dabei bezeichne Opposition zunächst »die relativ offene« und »zumindest zeitweilig« die Ablehnung des SED-Systems. Im Weiteren wird die »teilweise legale Ablehnung des Realsozialismus« als Charakteristikum angeführt. Dies muss hinterfragt werden: Ließ sich eine wie auch immer geartete Opposition, auf der Grundlage einer »teilweise legale[n] Ablehnung« zum SED-System bewerkstelligen? Hätte die Staatssicherheit, als sie gegen jene Bestrebungen vorging, dann nicht gegen die Gesetzeslage in der DDR verstoßen? Wo lässt sich Opposition in einer Diktatur verorten? Entscheidend waren die ideologieabhängigen Handlungsbedingungen im SED-Staat. Dem entsprachen die Opportunitätserwägungen der Herrschenden, die sich nur, wenn es ihnen nutzte, an gesetzliche Normen gebunden sahen. Ausschlaggebend war, wem das »Recht« zukam, zu Veränderungen aufzufordern und wer öffentlich in diesem Sinne das Wort ergreifen durfte. Die Initiative zur Gestaltung des Landes und zur Führung von Staat und Gesellschaft hatte –aus Sicht der SED – stets bei der SED selbst zu verbleiben. Außerhalb wie innerhalb der SED hatte es demnach keinerlei Opposition zu geben. Niemand durfte initiativ werden, indem er sich eigenständig mit Gleichgesinnten zusammenschloss. Nur die Partei selbst durfte zur Kritik und zur Forenbildung auffordern. Seit dem X. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion 1921 galt das von Lenin eingeführte Verbot jeglicher Fraktions- und Oppositionsbildung als

172 Zeitzeugengespräch mit Matthias Finger, Kühlungsborn. 173 Eckert, Rainer: Widerstand und Opposition. Umstrittene Begriffe der deutschen Diktaturgeschichte. In: Neubert, Ehrhart; Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht, Ohnmacht, Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR (Analysen und Dokumente; Bd. 21). Bremen 2001, S. 27–36, hier 35 f. 174 Ebenda, S. 36.

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unerschütterliches Grundprinzip aller marxistisch-leninistischen Parteien und so auch für die SED. 175 Lediglich mittels Anfragen, Eingaben und Verbesserungsvorschlägen, mit denen sich Einzelne, Brigaden und Kollektive an die DDR-Leitungsorgane bis hin zur SED-Führung wenden durften, konnten Neuerungen angeregt werden. Vermutete man hierhinter abermals eine »Gruppenbildung«, war dies zu unterbinden und der »Missbrauch« des an sich legalen Petitionsinstruments zu ahnden. Dass in den späten Jahren nicht mehr jeder »Missbrauch« wie die Sammeleingabe bestraft wurde, hatte mit der »Legalisierung« oppositioneller Protestformen nichts gemein. Die Nachlässigkeit resultierte aus der machtpolitischen wie legimitatorische »Erschöpfung« des Systems. Letztlich blieb eine Ablehnung des Systems in ihrer individuellen wie kollektiven Form stets illegal. So musste selbst aus einer von den Initiatoren als systemkonform verstandenen Opposition eine Fundamentalopposition wider Willen werden. Dem Reformargument haftete sogleich der Vorwurf an, aus taktischen Erwägungen bemüht worden zu sein, um später weitergehende politische Forderungen erheben zu können. All diese Kriterien sind in dieser oder einer ähnlichen Form vom Staatssicherheitsdienst fixiert worden. Verdächtig sei jeder Versuch, die Verhältnisse in der DDR ungefragt zu verändern. Geschehe dies gemeinschaftlich in konzeptioneller Form, so das Fazit des MfS, sei dies als Opposition zu begreifen und entsprechend zu unterbinden. Im Kern gehe es den Initiatoren, so ist einer Dissertation der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam-Eiche von 1989 zu entnehmen, um eines: Die »Suche, Sammlung geeigneter Kräfte und deren Zusammenführung in feindlich-negativen Personenzusammenschlüssen«. 176 Weiter ist hier zu lesen: »Unter ›innerer Opposition‹ im Sozialismus« verstehe man »eine im Widerspruch zur Gesetzmäßigkeit der bewußten Teilnahme [...] und der prinzipiellen Interessenübereinstimmung bei der Gestaltung der [...] sozialistischen Gesellschaft stehende Gesamtheit antisozialistischer politischer Bewegungen, Zusammenschlüsse und Kräfte«. 177 Diese hätten »einen bestimmten Grad der Organisiertheit und der Wechselbeziehungen untereinander« aufzuweisen; »ihr Handeln« richte sich »auf die Destabilisierung der sozialistischen Machtverhältnisse« und habe in der Konsequenz »deren Beseitigung zu Ziel«. Zugleich verfolgten die Gruppen das Ziel, als »selbstständige politische Kraft« wahrgenommen und »anerkannt zu werden«. 178 175 Portisch, Hugo: Hört die Signale. Aufstieg und Fall des Sowjetkommunismus. München 1991, S. 136 f.; Rauch, Georg von: Geschichte der Sowjetunion, 8. Aufl., Stuttgart 1990, S. 156. 176 MfS, Juristische Hochschule, Dissertation: »Das aktuelle Erscheinungsbild politischer Untergrundtätigkeit in der DDR und wesentliche Tendenzen seiner Entwicklung«, Potsdam, 20.12.1988, MfS JHS-Nr.: 230/89: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 8317, Bl. 120. 177 Ebenda. 178 Ebenda.

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Trotz der gelegentlich vorgebrachten Einwände 179 soll der Begriff der Opposition im Folgenden Verwendung finden. Wichtig war dabei nicht nur der kollektive Aspekt der Gruppenbildung. Also der Versuch, sich mit Gleichgesinnten zusammenzutun, um seinem Protest gegen das System Ausdruck zu verleihen. Hinzu trat das Bestreben, sich konzeptionell wie inhaltlich mit den Verhältnissen und dem eigenen Dasein in der Gesellschaft auseinander zu setzen. Die konzeptionellen wie inhaltlichen Zugänge mochten dabei von Fall zu Fall unterschiedliche sein, was sowohl von den jeweiligen Zeitumständen als auch dem erreichten Organisationsgrad abhing. Eine Rolle spielten ebenso die verfügbaren Ressourcen. Also, ob es Räume gab, in denen man sich vom Zugriff der staatlichen Geheimpolizei ungestört wähnte oder welche Impulse und Schriften verfügbar waren. Nur so konnte es zum Gruppenfindungsprozess kommen und ließen sich die notwendigen Debatten anstoßen. Hinzu kamen eine Reihe subjektiver Faktoren, die angefangen vom Selbstbewusstsein der handelnden Personen, »Opposition« sein zu wollen, bis hin zu den notwendigen Sozialkontakten reichten. Letztere entwickelten sich in Abhängigkeit zu den jeweiligen kommunikativen Fähigkeiten, Gleichgesinnte ansprechen zu wollen und der Bereitschaft, offen für Außenstehende zu sein. Hingegen ist der Begriff Opposition von den damals Beteiligten, den Akteuren, gemieden worden. Dies hatte auch taktische Gründe. Man wollte die Strafverfolgung erschweren. Entscheidend ist hier, dass sich der Begriff Opposition in den letzten Jahren zur Beschreibung der unabhängigen Friedens-, Umwelt- und Menschrechtsgruppen in der Forschung weitgehend etabliert hat.180 Ende der achtziger Jahre gewann der Oppositionsbegriff, bezogen auf die unabhängigen Gruppen unter dem »Dach der Kirche« an Gewicht und lässt sich in der zeitgenössischen Überlieferung vermehrt nachweisen. So in einer Niederschrift über ein Gespräch, das der Greifswalder Bischof Horst Gienke im Dezember 1988 mit dem Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung Rostock, Ernst Timm, führte. Zwar mag es aus quellenkritischer Sicht nicht auszuschließen sein, dass Gienkes Worte nicht originalgetreu wiedergegeben 179 Vgl. unter anderem hierzu: Jander, Martin: Opposition in einer totalitären (Um-)Erziehungsdiktatur. In: Neubert, Ehrhart; Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht, Ohnmacht, Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe der BStU; 21), Bremen 2001, S. 77–87, hier 79. 180 Vgl. unter anderem hierzu: Lenski, Katharina; Merker, Reiner: Zwischen Diktat und Diskurs. Oppositionelle Handlungsräume in Gera in den 80er Jahren, Erfurt 2006; Jander, Martin: Die besondere Rolle des politischen Selbstverständnisses bei der Herausbildung einer politischen Opposition in der DDR außerhalb der SED und ihrer Massenorganisationen seit den siebziger Jahren. In: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Bd. VII, 1. Baden-Baden 1995, S. 896–987; Neubert, Ehrhardt: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; Bd. 346). Bonn 1997; Nooke, Maria: Für Umweltverantwortung und Demokratisierung. Die Forster Oppositionsgruppe in der Auseinandersetzung mit Staat und Kirche. Berlin 2008.

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worden sind. Doch zeigt die Niederschrift, was sein Gegenüber, Ernst Timm, den Worten entnahm. 181 Timm schrieb nach dem Gespräch an Staats- und Parteichef Erich Honecker: »Der Bischof hob hervor, daß die [Greifswalder] Landeskirche nicht bereit ist, oppositionellen Kräften oder Übersiedlungsersuchenden ihr Dach für demonstrative oder destruktive Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen.« 182 Die Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen unter dem »Dach der Kirche« als auch die Diskussionszirkel und Gruppen außerhalb der Kirche sollen hier als Opposition bezeichnet werden. Schwierig gestaltet sich die Zuordnung bisweilen auf der regionalen Ebene. Hier blieben die Findungs- und Verständigungsprozesse häufig im Ansatz stecken und gelangten infolge staatlicher Interventionen oder des staatspolizeilichen Zugriffs nicht über eine bestimmte Phase hinaus. Doch soll der Oppositionsbegriff mehr als nur die benannten Gruppen der achtziger Jahre umfassen. Hierzu zählen sollen auch die Netzwerke der verbliebenen Sozialdemokraten der fünfziger Jahre. Ebenso jene Freundeskreise der sechziger, siebziger und achtziger Jahre, die das System von »links« kritisierten. Zur Opposition gerechnet werden auch die sich ab den siebziger Jahren organisierenden Ausreiseantragsteller und deren Gruppen in Greifswald, Stralsund, Rostock, Wismar und Wolgast. Jene verfolgten zwar ein singuläres Ziel, nämlich das, aus der DDR ausreisen zu können. Häufig ist ihnen vorgeworfen worden, durch ihren Weggang das kritische Potenzial in der DDR zu schwächen. 183 Doch erreichten sie mit ihren gleichfalls illegalen Gruppen einen Organisationsgrad, den es ebenso zu würdigen gilt. Darüber hinaus standen sie, indem sie die in der DDR vorenthaltene Rechte wie Rede- und Demonstrationsfreiheit für sich in Anspruch nahmen, gemeinschaftlich auftraten und das Solidarprinzip in ihren Kreisen etablierten, für ein die Gesellschaft veränderndes Konzept. Ferner soll auf die von außen in die DDR einwirkende »externe« Opposition 184 von in der Bundesrepublik oder auch in Skandinavien lebenden ehemaligen DDR-Bewohnern verwiesen werden.

181 Grabe, Irmfried: Die Bischofsfrage in der Greifswalder Landeskirche 1989. Zwei Dokumente der damaligen Herbstsynode. In: Zr. 13 (2009) 2, S. 49–61, hier 51 sowie Fußnote 26. 182 Ebenda sowie Brief des Ersten Sekretärs der SED-Bezirksleitung Rostock, Ernst Timm, an den Generalsekretär der SED, Genossen Erich Honecker, Landesarchiv Greifswald, Rep. IV/E/2.14, Nr. 615, Bl. 219 f., wiedergegeben in: Grabe, Irmfried; Nixdorf, Wolfgang (Hg.): Dom St. Nikolai Greifswald. Gemeindekirche zwischen Politik und Polemik. Studien zur Greifswalder Landeskirche und zur Wiedereinweihung des Domes 1989. Schwerin 2005, S. 358 f. 183 Vgl. hierzu unter anderem: Hänisch, Gottfried (Hg.): Wenn der Morgen einen neuen Tag verspricht. Weggeh- und Bleibe-Geschichten. 2. Aufl., Weimar 2002. 184 Kowalczuk, Ilko-Sascha: Verschiedene Welten. Zum Verhältnis von Opposition und »SEDReformern« in den achtziger Jahren. In: Neubert, Ehrhart; Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht, Ohnmacht,

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Opposition: fünf Gehversuche

3.2.1 Opposition in den fünfziger Jahren? Orientierungspunkte und Überlegungen Wer in den späten vierziger und fünfziger Jahren Widerstand leistete, musste mit drakonischen Strafen rechnen. Nicht wenige bezahlten ihr Engagement für ein demokratisches Deutschland und mehr Freiheit mit dem Leben. Nicht viel anderes erging es jenen, die sich oppositionell betätigten, indem sie sich in den noch zugelassenen anderen Parteien gegen die SED stellten. Mit Einschüchterungen, Inhaftierungen und Terrorurteilen gelang es der SED, die aus taktischen Gründen nach dem Zweiten Weltkrieg noch zugelassenen bürgerlichen Parteien zu unterwerfen. Eingebettet in die Nationale Front taten ihre Mitglieder in der Regel fortan das, was die SED von ihnen verlangte. Nicht selten bestimmte der vorauseilende Gehorsam das Handeln. In kirchlichen Kreisen war die Ansicht weit verbreitet, dass die Ost-CDU – die die Christen enger an das System binden sollte – »noch schlimmer« als die SED selbst sei. Bürgerliche Werte und Bezugspunkte entfielen als Orientierungspunkte und mussten andernorts gesucht werden. In den noch stabilen bildungsbürgerlichen Milieus oder auch durch die in den bundesdeutschen Radio- und Fernsehsendern medial präsenten bürgerlichen und liberalen Parteien blieb die Wertorientierung weiterhin erkennbar. Doch wurde ihre Ausstrahlungs- und Vorbildwirkung durch das Fehlen einer eigenständigen politischen Kraft innerhalb der DDR wesentlich geschwächt oder war für jene – denen ein entsprechender Zugang fehlte – kaum mehr erkennbar. Ein Teil der durch die Fusion mit der SED in die Illegalität abgedrängten Sozialdemokratie traf sich weiterhin insgeheim oder stand in Kontakt mit dem Ostbüro der SPD. Letzteres agierten von West-Berlin und der Bundesrepublik aus. Mit ihnen zu korrespondieren oder die Geschäftsstellen aufzusuchen, war bei strengster Strafe untersagt und wurde mit dem Vorwurf der Spionage belegt. Die Stasi-Kreisdienststelle Ribnitz-Damgarten meldete auf Nachfrage 1957, dass »im Zuge der Parteiüberprüfung 1950-51 [...] 150 ehem[alige] SPD-Leute« aus der SED wegen »parteischädlicher Tätigkeit« ausgeschlossen wurden. Siebzig davon stammten allein aus der Kleinstadt Barth. Im dortigen Zuckerwerk träten ehemalige Sozialdemokraten, einer von ihnen sei der Parteisekretär der SED, in »negativer Form« auf und machten sich »zum Fürsprecher der negativen Elemente«. Kritisiert würden von ihnen die Normen und die Lebenssituation der Arbeiter. Auch im Landmaschinenbau und auf der BootsGegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR (Analysen und Dokumente; 21). Bremen 2001, S. 49–75, hier 56.

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werft wiegelten ehemalige Sozialdemokarten die Belegschaft auf und sorgten für ein SED-feindliches Klima. Ähnliche Meldungen lagen auch aus den anderen Kreisen an der Küste vor. 185 Die Kreisdienststelle Greifswald berichtete ebenfalls, dass die meisten ehemaligen Sozialdemokraten inzwischen aus der SED ausgeschlossen worden seien. Unter ihresgleichen hielten sie am »Sozialdemokratismus« fest, betrieben »Hetze gegen die Sowjetunion«, verleumdeten die »Funktionäre der SED« und verbreiteten »revisionistische Theorien«. Kurzum, sie stellten sich gegen die Verhältnisse in der DDR. So lautete auch die Einschätzung über den ehemaligen SPD-Landtagsabgeordneten und Landrat des Kreises Greifswald (19461948), Walter Freese. Nach der Zwangsfusion bekleidete er das Amt des paritätischen Sekretärs der SED in Greifswald, wurde jedoch wenig später unter anderem »wegen [...] volksschädigenden Verhaltens« aus der SED ausgeschlossen. Nach den Erkenntnissen der Stasi treffe sich Freese in seiner Freizeit seit 1950 weiterhin mit »Gleichgesinnten [...], die in Opposition zur Partei und zur Regierung stehen [und] hetzerische Reden gegen die Funktionäre der Partei und des Staatsapparates« führen. 186 Die verbliebenen Sozialdemokraten verhielten sich zumeist so, dass die SED sie nicht unmittelbar belangen konnte. Sie brachten sich mit ihren Positionen in die Diskussionen im Betrieb ein und standen häufig im Verdacht, heimlich die Verbindung mit den Ostbüros im Westen aufrechtzuerhalten. Zu mehr reichten die Kräfte und logistischen Möglichkeiten kaum aus. Den verbliebenen Sozialdemokarten fehlten die organisatorischen Strukturen, um hierüber hinaus, zum Beispiel mittels eines Streiks, in Erscheinung treten zu können. Angesichts der Überwachung und des Verfolgungsdrucks, dem sie ausgesetzt waren, sahen sie sich gezwungen, sich vermehrt auf ihre eigenen Kreise zu beschränken. Sie verloren damit die Chance, mit ihren Ideen in die Gesellschaft hineinwirken zu können. Schließlich drohten ihnen bei einem allzu offenkundigen Engagement die Festnahme, Verhöre und Haft. Den klassischen deutschen Parteien – den Bürgerlichen, Liberalen und Sozialdemokraten – wurde von der SED in der Konsequenz eine eigenständige politische Betätigung verwehrt. Die von ihnen vertretenen Positionen galten offiziell als revisionistisch oder revanchistisch. Wer sich trotzdem hiermit identifizierte wurde mit den entsprechenden Attributen gebrandmarkt und als politischer Gegner wortgewaltig angegriffen und ausgegrenzt. Um sich dem zu entziehen, gab es – wollten Andersdenkende sich trotzdem ihre Eigenständigkeit bewahren und gleichzeitig Kritik am System üben – nicht allzu viele Op185 MfS, BV Rostock, KD Ribnitz-Damgarten, Bericht über Konzentrationen ehemaliger SPDMitglieder sowie Erscheinungsformen der Tätigkeit des SPD-Ostbüros im Kreis Ribnitz-Damgarten. Ribnitz, 4.9.1957: BStU, MfS, BV Rostock, Rep. 2, Nr. 104, Bl. 13–21, hier 17. 186 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Auskunftsbericht, 10.8.1960: BStU, MfS, BV Rostock, Rep. 2, Nr. 104, Bl. 66–72, hier 67.

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tionen. Neben dem Rückzug und der Beschränkung auf den Kreis der Gleichgesinnten, einer Art inneren Emigration, stand das Engagement im kirchlichen Milieu, wo eine offene Diskussionskultur begrenzt Freiräume eröffnete. In den fünfziger Jahren ließ sich gleichzeitig beobachten, dass es zu den ersten Gehversuchen oppositionellen Denkens auf der Grundlage sozialistischer Vorgaben kam. Angetrieben wurden die, die sich in solchen Zirkeln trafen, ebenfalls vom Wunsch nach einer Besserung der Zustände in der DDR. Dies einte sie mit anderen kritischen Geistern. Doch standen sie den traditionellen und kirchlichen Milieus fern, meinten durch den Bezug auf einen verbesserten Sozialismus etwas bewegen zu können oder glaubten tatsächlich, dass der Sozialismus im Grund die bessere Gesellschaft sei. Jener sei, so ihre Überzeugung, in der DDR in einer pervertierten Form umgesetzt worden und bedürfe einer grundlegenden Reform. Auch in Rostock fand sich eine entsprechende Gruppe. Den Anlass lieferte anscheinend der von einigen kommunistischen Regierungsmitgliedern mitgetragene Aufstand im Oktober 1956 in Ungarn und dessen anschließende gewaltsame Niederschlagung durch die Sowjetunion. Als wichtiger Impuls kam die Liberalisierung in der Kunst und in der Wissenschaft in Polen nach dem Aufstand von Poznań hinzu. In Rostock taten sich Ende 1956 mehrere Künstler, unter ihnen auch der Bildhauer Jo Jastram, zu einem »Club junger Künstler« zusammen. 187 Mit dem Club und einer von ihnen geplanten Plakatausstellung Deutscher, Polnischer und Schweizer Grafiker, berichtete der StasiSpitzel Eisenhardt, wollten sie »die ›Kulturbonzen‹ provozieren [...] und [...] die Masse der intellektuellen Jugendlichen aufrütteln«. In ihrem Club und bei privaten Treffen kritisierten sie laut »Eisenhardt« in »beißender Schärfe unsere Regierung, die Partei« und unterzogen das DDR-System »einer vernichtenden Kritik«. »Eisenhardt« berichtete von Äußerungen wie »Hier wird jede freie Meinungsäußerung brutal niedergeknüppelt«, »unser System ist faschistischer als es je ein anderes gewesen ist« und »es gibt [hier] keine Gesellschaft im marxistische Sinne. [...] [...] die Führer sind unfähig! Darum müssen sie beseitigt werden«. 188 Die Stasi zeigte sich alarmiert und ermittelte. Tätig wurden auch die FDJ und die SED. In »Aussprachen« und mit einer »Auswertung« erreichten sie, dass der »Club junger Künstler« sich der FDJ-Bezirksleitung unterstellte. Nach und nach zerfiel die Gruppe Anfang 1957. 189 Auch in anderer Form setzte sich Jastram ein, um der Tristesse der fünfziger Jahre in der DDR etwas entgegenzusetzen. Während der Jazz als »dekadente 187 MfS, BV Rostock, Referat V/3, Bericht, Rostock, 20.12.1956: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 168/61, Bd. I, Bl. 32–34. 188 MfS, BV Rostock, Referat V/3, Abschrift, Rostock, 28.12.1956: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 168/61, Bd. I, Bl. 37–39. 189 MfS, BV Rostock, Referat V/3, Einschätzung zur op. Vorlaufsakte, Reg.-Nr. 7771/60, Rostock, 17.5.1961: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 168/61, Bd. II, Bl. 224–230.

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Musik« bei SED-Kulturfunktionären noch auf Ablehnung stieß, richtete Jastram mit anderen Jazz-Begeisterten im Oktober 1957 in einem Keller in der Stalinstraße (später Langen Straße) einen »Jazz-Keller« ein. Ein ihm zugetaner und zum »Club junger Künstler« sich zählender Korrespondent platzierte die Meldung geschickt in den Neuesten Norddeutschen Nachrichten der NDPD. Dem Vorgang verlieh dies zugleich etwas Halboffizielles. Selbstverständlich solle hier, hieß es in der Meldung, »ein guter Jazz gepflegt werden« und »dadurch den dekadenten Strömungen dieser Musik entgegengearbeitet« werden. 190 Die Gründer machten sich das Argument der SED-Ideologen scheinbar zu eigen, um es mit Mut und Bauernschläue auszuhebeln. 3.2.2 »Externe« Opposition Im Bezirk Rostock blieb das Engagement von außen, der »externen« Opposition von in der Bundesrepublik oder auch in Skandinavien lebenden ehemaligen DDR-Bewohnern, nicht ohne Folgen: In den fünfziger und sechziger Jahren band eine ›Folgenbeseitigung‹ der besonderen Art die Kräfte der Staatssicherheit und wurde zeitweilig zur Dauerbeschäftigung im Tagesbetrieb. In hoher Stückzahl gelangten immer wieder »Balloneinflüge« mit Informationsmaterialien von Niedersachsen und Schleswig-Holstein aus auf das Territorium der DDR. Sie enthielten unter anderem Fälschungen des »Neuen Deutschland«, der »Armeerundschau« oder auch Flugblätter mit der »Überschrift: ›Was nicht im Neuen Deutschland stand‹«. Allein im Kreis Doberan wurden am 14. April 1964 12 050 Flugblätter aufgefunden. 191 Auch andere »Trägersysteme« gelangten in kreativer Form zum Einsatz. Von Mitte August bis Ende September 1964 schwemmte die Ostsee in Warnemünde »1 750 rote Gummibälle mit schwarz aufgedruckten Hetzlosungen« an. Auf ihnen war zu lesen, »der NVA mehr Urlaub, den Urlaubern mehr Strand«. 192 Fünf weitere Bälle wurden im November 1964 bei Zingst angespült. 1967 beobachtete ein Polizeihelfer auf der Halbinsel Wittow auf Rügen, »daß Kinder in den Gemeinden Altenkirchen und Putgarten mit Gummibällen spielen, die ca. 5 cm Durchmesser haben und rot sind«. Auch sie enthielten den die Volksarmee diffamierenden Spruch. 193 Auch wenn an den Aktionen bundesdeutsche Stellen attestierend wie finanzierend mitwirkten, so waren es doch aus der DDR stammende Systemgegner, die sich hier betätigen. Sie nahmen die Unterstützung dankbar in Anspruch, um ihren Landsleuten in der DDR zu helfen. Als Ausgangspunkt 190 S. 5. 191 192 193

»Jazz-Keller« in Rostock?. In: Neueste Norddeutsche Nachrichten, Nr. 247, 23.10.1957, BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »schriftliche Hetze Unbekannt«.L-MN 191. Ebenda. Ebenda.

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einer Aktion wurde ein »Minensuchboot« der Bundesmarine geortet. 194 Die Besatzung stand in Verbindung zu mehreren aus der DDR desertierten Soldaten. Am 10. Juli 1965 beobachtete ein Vorposten des Grenzkommandos Küste der Volksmarine so abermals »ein westdeutsches Minensuchboot«, wie es »in der Zeit von 19.40-20.55 Uhr [...] Ballons in Kopfkissenform 50 x 45 cm in der Boltenhagener Bucht« aussetzte. »Gegen 23.30« schwemmte die See zwanzig dieser Luftkissen an den westlich von Wismar gelegenen Strand, wo sie »aufgefischt und der HA I/VM übergeben« werden sollten. Wie man bei der Untersuchung der »Tatwerkzeuge« feststellte, enthielten sie in aufgedruckter Form die »Namen von ehemaligen NVA-Angehörigen (Fahnenflüchtigen)«. 195 Auch nutzten »externe« Systemgegner den grenzüberschreitenden Transitgüterverkehr mit seinen Fährhäfen und transnationalen Routen, um auf ihre Anliegen hinzuweisen. Vor allem Güterwaggons, die aus Trelleborg in Schweden oder Lübeck via Herrnburg in die DDR einfuhren, wurden über einen längeren Zeitraum mit Losungen, die sich gegen die Verhältnisse in der DDR richteten, beschrieben. An einem mit dem Fährschiff »Saßnitz« in Rügen ankommenden Waggon der Schwedischen Bahn stand so am 19. November gut sichtbar zu lesen: »Sind 24 Jahre deutsche Teilung nicht genug?«. Flankiert wurde die Frage von einem »Jawohl«. 196 3.2.3 Gehversuch zwischen Widerstand und oppositionellem Aufbegehren Der Mauerbau vom 13. August 1961 lieferte den Anstoß für den Versuch einer Gruppenbildung, der über das Stadium des Findungsprozesses nicht hinauskam. Damit scheiterte zugleich eine der frühen Bestrebungen, sich zu einer Opposition vor Ort zusammenzufinden. Der Gehversuch und Lernprozess fand hier schnell seine Grenzen angesichts des kompromisslosen Einschreitens der DDR-Geheimpolizei. Zugleich bot die Form, mit der sich die Regimegegner der SED hier entgegenstellten, keinerlei Schutz vor der legalisierten Rache des Regimes. Im Grunde genommen war bereits der Versuch, sich zu einer wie auch immer gearteten Opposition zusammenzufinden, strafbar. Da Opposition, um Opposition im eigentlichen Sinne zu sein, einer zumindest bedingt öffentlichen Darstellung bedurfte, schien dies beinahe undurchführbar. Erst in den späten siebziger Jahren fanden Regimegegner eine Antwort auf diese Frage, die es ihnen ermöglichte, sich als wahrnehmbare Opposition in der DDR zusammenzufinden. Eine Rolle spielten dabei auch die Lernprozesse in den ersten drei Jahrzehnten der DDR. Die Initiative in 194 Ebenda. 195 Ebenda. 196 Ebenda.

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Rostock ging 1961 von einem zwanzigjährigen Studenten aus. Im September sprach er einen Studenten der Arbeiter- und Bauernfakultät Rostock und einen fünfundzwanzigjährigen Lehrer aus Tessin an, um mit ihnen gemeinsam Widerstand zu leisten. Nach dem Mauerbau genüge es nicht mehr, so gibt der Ermittlungsbericht ihre Überlegung wieder, »nur zu reden«. Es sei vielmehr an der Zeit, »aktive Handlungen gegen die DDR zu unternehmen [...], um die bestehenden Verhältnisse [...] zu verändern«. Intern nannten sie sich »Intelligenzclub«. Dem lag eine tiefergehende Überlegung zugrunde: »Die intellektuellen Bürger« verfügten »in jedem Staat, also auch in der DDR«, über »viel Einfluß« und sollten sich daher »zusammenschließen«, um die Verhältnisse zu verändern. Bereits zuvor hatte sich der Initiator bemüht, als Intellektueller in der Gesellschaft in irgendeiner Form Einfluss zu nehmen. Dies war ihm mit den bisherigen Mitteln nicht gelungen: Er engagierte sich anfangs in der FDJ und bekleidete im Internat des Instituts für Pflanzenzucht in Groß Lüsewitz von 1960 bis 1961 das Amt des »FDJ-Sekretärs« der »Grundeinheit«. 197 Von 1959 »bis zum Sommer 1961« betätigte er sich »als ›Volkskorrespondent‹ der ›Ostsee-Zeitung‹«. Seit Juli 1961 gehörte er als Kandidat der SED an. 198 Zunächst kamen die drei überein, »dass jeder in seinem Bekanntenkreis neue Mitglieder wirbt«. Nach der Konsolidierung der Gruppe wollte man »Flugblätter [...] verbreiten, [...] [die] sich gegen die Beschlüsse und Maßnahmen von Partei und Regierung« richten, »um somit Unruhe unter der Bevölkerung hervorzurufen«. 199 Insgesamt achtmal trafen sich die drei konspirativ, um die Pläne zu diskutieren. Schließlich rückten sie davon ab, sofort mit den Widerstandsaktionen zu beginnen. Zuvor wollten sie ein oppositionelles Konzept entwickeln, das dazu dienen sollte, die »Bevölkerung« anzusprechen, um diese »gegen die Verhältnisse in der DDR zu mobilisieren«. Dabei orientierten sie sich stark an der zu jener Zeit von sowjetischen Dissidenten vertretenen Konvergenzlehre: Es gehe zunächst darum, »die Theorie der sozialistischen und bürgerlichen Weltanschauungen durchzuarbeiten und etwas Neues aus ihnen zu erarbeiten, was schriftlich fixiert werden sollte«. 200 Da Flugblattaktionen und Losungen »zu einer schnellen Inhaftierung führen könnte[n]«, wolle man, so die neue Strategie, »zunächst erst innerhalb der Gruppe geistig arbeiten, um mit einer neuen Theorie aufzuwarten«. 201 Zugleich entwarf man ein 197 Institut für Pflanzenzüchtung Groß Lüsewitz, Beurteilung der Parteileitung und der Betriebsleitung, 29.3.1962: BStU, MfS, BV Rostock, AU 23/63, Bd. I, HA, Bl. 98. 198 MfS, BV Rostock, Vernehmungsprotokoll, Rostock, 12.2.1962: BStU, MfS, BV Rostock, AU 23/63, Bd. I, HA, Bl. 93–97, hier 96. 199 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Ergänzung zum Sachstandsbericht des Untersuchungsvorganges [Name], Rostock, 10.4.1962: BStU, MfS, BV Rostock, AU 23/63, Bd. I, HA, Bl. 53–58. 200 MfS, BV Rostock, Vernehmungsprotokoll, Rostock, 28.2.1962: BStU, MfS, BV Rostock, AU 23/63, Bd. I, HA, Bl. 145–151, hier 148. 201 MfS, BV Rostock, Vernehmungsprotokoll, Rostock, 8.3.1962: BStU, MfS, BV Rostock, AU 23/63, Bd. I, HA, Bl. 160–165, hier 163.

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23-Punkte-Programm, um weitere Mitglieder zu werben. »Wir wollen gegen die Diktatur der SED kämpfen, weil wir wissen, dass jede Diktatur schlecht ist«, hieß es in der Präambel. Und weiter: »Nach den Maßnahmen der Regierung der DDR vom 13.8.1961 haben sich die Fronten in Deutschland für jeden Einzelnen klar herausgebildet. Jeder muß sich entscheiden!«. Erwähnt wurden in den 23 Punkten die verschiedensten Dinge – von der zu wahrenden Konspiration, der zu führenden mündlichen wie schriftlichen »Agitation« bis hin zu der Überlegung, dass man im »Fall eines militärischen Konfliktes der NATO mit der DDR im Hinterland in der Lage sein« wolle, »durch Partisanenkämpfe die Truppen der DDR zu binden«. Insbesondere dieser Punkt und eine alte im Garten des Hauptinitiators vergrabene alte Weltkriegspistole sollten der Gruppe später zum Verhängnis werden. Für die Stasi, die dies über Maßen ausschlachtete, bestätigte sich hiermit, es mit einer besonders gefährlich Untergrundgruppe zu tun zu haben. Einstweilen beschäftigten sich die drei damit, Gleichgesinnte für die Gruppe zu gewinnen. Sie gingen dabei nach einem festen Plan vor. Während einer den potenziellen Unterstützer in seiner Wohnung aufsuchte und das Gespräch mit ihm führte, sicherte ein zweiter die Aktion ab, indem er vor dem Haus Ausschau hielt und wartete. Zum Fiasko geriet letztlich die misslungene Werbung eines Studenten der Universität Rostock, der sich eindeutig gegen die Gruppe aussprach und mit Konsequenzen drohte. Es schien nun nur noch eine Frage der Zeit, bis die SED und die Stasi von ihr Kenntnis erhielten. Im Januar 1962 erließ die Stasi Haftbefehl gegen den Initiator der Gruppe und beschuldigte ihn, »Hetzschriften [...] in Rostock verbreitet« zu haben, in denen »gegen die Maßnahmen vom 13.8.1961 gehetzt wird«. 202 Ähnliches habe er mit den politischen Witzen bezweckt, die er in Vilz – seinem Wohnort bei Rostock – und auf der Arbeit in Groß Lüsewitz erzählte. 203 Nach und nach gelang es der Stasi, die Strukturen der Gruppen offenzulegen und die anderen Mitglieder zu verhafteten. Bereits während ihrer Konstituierung war die Gruppe so zerschlagen worden. Nach neun Monaten Untersuchungshaft verurteilte das Bezirksgericht Rostock den Hauptangeklagten am 14. September 1962 zu fünf Jahren Zuchthaus. Bei den beiden Mitangeklagten lautete das Urteil zwei Jahre und sechs Monate bzw. ein Jahr und neun Monate Gefängnis. 204 202 MfS, BV Rostock, Verfügung, Rostock, 19.1.1962: BStU, MfS, BV Rostock, AU 23/63, Bd. I, HA, Bl. 9. 203 MfS, BV Rostock, Abt. I, Antrag an den Haftrichter der Abt. I, 20.1.1962: BStU, MfS, BV Rostock, AU 23/63, Bd. I, HA, Bl. 15; MfS, BV Rostock, Abt. IX, Sachstandsbericht, betr.: Untersuchungsvorgang [Name], [Vorname], Rostock, 26.1.1962: BStU, MfS, BV Rostock, Au 23/63, Bd. I, HA, Bl. 48–52, hier 49. 204 Urteil des I. Strafsenats des Bezirksgerichts Rostock, Rostock, 14.9.1962: BStU, MfS, BV Rostock, AU 23/63, Bd VIII, GA/ASt, Bl. 195–236, hier 195 f.

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3.2.4 Oppositionell: mehr als nur reaktiv Die wenigen Gesprächskreise, die in den sechziger Jahren in der DDR nach gangbaren Wegen suchten, um ein oppositionelles Votum zu äußern, trafen sich meist noch außerhalb der Kirche. Seit Juni 1968 observierte die Stasi in Rostock fünf Wissenschaftliche Assistenten. An der Universität fielen sie bereits durch ihr Anderssein auf. Verdeckt ging das MfS mittels des OperativVorganges »Matte« im Weiteren gegen Universitätsmitarbeiter vor. Der Hauptverdächtige, ein Diplom-Physiker, galt den Staatsorganen als kein Unbekannten. Bereits vor seiner Versetzung nach Rostock protestierte er 1966 in Halle mit anderen Studenten gegen die Absetzung des DEFA-Spielfilms »Spur der Steine«. 205 In Halle schien seine Karriere damit beendet zu sein. Da sich ein befreundeter Professor in Rostock für ihn verwandte, konnte er schließlich, trotz der drohenden disziplinarischen Konsequenzen, in Rostock eine Promotionsstelle übernehmen. 206 Auch hier folgte der Aspirant nicht dem gültigen Verhaltenskodex. Offen sagte er weiterhin seine Meinung: In den obligatorischen Politschulungen wandte er sich gegen den Einmarsch der WarschauerPakt-Truppen in die ČSSR, sprach sich für die »Öffnung der Grenzen« und Pressefreiheit aus und monierte »die ›einseitige Information‹ unserer Presse«. 207 Zugleich traf er an der Universität auf Gleichgesinnte. Die Berichterstatter der Stasi beobachten sie nicht nur aufgrund ihres Bartwuchses und ihrer legeren Kleidung. Insgesamt hielt man die Gruppe für auffällig: Mal »führten« die Verdächtigen »eine angeregte Unterhaltung«, ein andermal sah man, »dass sie in der Mensa heftig miteinander diskutierten«. 208 Schon von ihrem Erscheinungsbild »strahle«, so war man sich sicher, im Universitätsalltag »ein negativer Einfluß auf andere Menschen« aus. 209 Auch sonst erwiesen sich die fünf Verdächtigen nicht als Kind von Traurigkeit: Auf einer von ihnen organisierten Ausstellung hängte einer der Observierten, »obwohl genügend Platz vorhanden war, [...] eine Zeichnung eines Wisents neben das Bild von Gen[osse] Stoph, so dass der Eindruck entstand, als wolle der [...] Wisent nach dem [...] Ministerpräsidenten stoßen«. 210 Für die Stasi verdichteten sich die Verdachtsmomente. Wie man erfuhr, trafen sich die Verdächtigen einmal »wöchentlich [...] zu einer Diskussionsrunde« in einer Privatwohnung, um über philosophische und politische Fragen zu 205 MfS, BV Rostock, Abt. XX/3, Abschlussbericht, Rostock, 6.10.1971: BStU, MfS, AR 3, AOP 4857/74, TV 1, Bd. I, Bl. 6–49, hier 9. 206 Ebenda, Bl. 12. 207 Ebenda, Bl. 14. 208 Ebenda, Bl. 35. 209 Ebenda, Bl. 47. 210 MfS, BV Rostock, KK-Erfassung (KK – ungesetzliches Verlassen der DDR), Bl. 4, Eintrag vom 5.8.1971.

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debattieren. 211 Gegenüber einem Kollegen räumte einer der Teilnehmer ein, dass »er einem Freundeskreis angehört, in dem sich Theologen und junge Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete vereinigen«. 212 Diskutieren würde man hier auch über politische Problem und die Frage, welche Möglichkeiten es gibt, gegen die Verhältnisse aufzubegehren. Man meine auch, dass es notwendig sei, sich in sozialen Belangen für andere einzusetzen. Kritisiert wurde unter anderem der Abriss von Teilen der Altstadt rund um den Schröderplatz – jener sei, lautete das Fazit, »unverantwortlich, [...] die Altbauten sollte man stehen lassen.« Man kam überein, dass »es nur nützlich sein könne, wenn jemand Opposition zu dieser Wohnraumpolitik und zur Bauplanung der Stadt Rostock machen würde«. 213 Die Stasi sah dies naturgemäß anders: »In diesem Kreis« würden von den Verdächtigen »Diskussionen geführt, die sich gegen die marxistischleninistische Ideologie, die sozialistische Kultur und Wirtschaft wenden.« 214 Zugleich standen die Verdächtigen im engen Kontakt mit Gleichgesinnten in Berlin, Halle und Ilmenau. Bei den gemeinsamen Treffen und in der regen Korrespondenz, die man miteinander pflegte, »wurde [...] die monatliche Herausgabe eines ›Informationsblattes‹« erwogen. Zugleich schien seit Herbst 1968 im Kreis auch über ein politisches Strategiepapier diskutiert worden zu sein. Durch ein später inhaftiertes Mitglied erfuhr das MfS mehr: Es existierten »drei schriftliche Konzeptionen über die Bildung und Tätigkeit der staatsfeindlichen Gruppe an den Hochschulstandorten Halle, Ilmenau, Berlin und Rostock.« In den Konzeptionen gehe es, hieß es, um die politische »Zielstellung der staatfeindlichen Gruppe« sowie um organisatorische Fragen der oppositionellen Tätigkeit. 215 Ziel der Gruppe sei es, so fasste das MfS die Ermittlungsergebnisse zusammen, »die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR zu verändern«. 216 Die Stasi wandelte den Einzelvorgang »Matte« umgehend, am 10. November 1970, in einen Zentralen Operativvorgang, den ZOV »Prix«, um. 217 Bereits seit längerem observierte das MfS nicht nur die Gruppenmitglieder. Man kontrollierte und öffnete zudem deren Post und führte in den Wohnungen »konspirative Durchsuchungen« durch. 218

211 Ebenda, Eintrag vom 18.3.1970 sowie MfS, BV Rostock, Abt. XX/3, Abschlussbericht, Rostock, 6.10.1971: BStU, MfS, AR 3, AOP 4857/74, TV 1, Bd. I, Bl. 6–49, hier 17, 31. 212 MfS, BV Rostock, Abt. XX/3, Abschlussbericht, ebenda, Bl. 34. 213 Ebenda, Bl. 31. 214 Ebenda, Bl. 17. 215 Ebenda, Bl. 48. 216 Ebenda, Bl. 47. 217 Ebenda, Bl. 49, sowie MfS, BV Rostock, Abt. XX/3, an das MfS, HA XX/3, Vermerk zum ZOV »Prix«, Rostock, 18.12.1970: BStU, MfS, AR 3, AOP 4857/74, TV 1, Bd. I, Bl. 5. 218 MfS, BV Rostock, Abt. XX/3, Abschlussbericht, Rostock, 6.10.1971: BStU, MfS, AR 3, AOP 4857/74, TV 1, Bd. I, Bl. 6–49, hier 16, 18.

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Auch die Universität blieb nicht untätig: Am 7. April 1971 bestellte die Leitung der Sektion Mathematik den Hauptverdächtigen zu »einem Kadergespräch« ein. Man nötigte ihn, »ein Schreiben zu unterzeichnen«, aus dem hervorging, »daß er wegen seiner polit[ischen] Haltung nicht zum Erzieher an der Universität geeignet ist und [diese] nach seiner Promotion [...] zu verlassen« habe. 219 Auch die Übernahme der anderen Gruppenmitglieder sollte durch die Universität negativ beschieden werden. 220 Zunehmend fühlten sich die Teilnehmer des Gesprächskreises unter Druck gesetzt. Spätestens Anfang 1973 fiel die Gruppe auseinander. Nach der Festnahme eines Kollegen fahndete das MfS ab Anfang Dezember 1972 nach dem Hauptverdächtigten. Angesichts des Observationsdrucks war er anscheinend »abgetaucht«. Die Spuren, die das MfS in Form von Postkarten und Banküberweisungen noch nachverfolgen konnte, erwiesen sich allesamt als »vorsätzlich gelegt«. Im Januar 1973 meldete sich der Gesuchte postalisch aus Hannover. Über eine »Schleusung« hatte er es vermocht, in die Bundesrepublik zu gelangen. 221 Die anderen Gruppenmitglieder empfanden den auf sie lastenden Druck als zu hoch und blieben den Treffen fern. Der Versuch, den Sozialismus auf der Grundlage einer am Marxismus orientierten Kritik verbessern zu wollen, scheiterte an dem zu kritisierenden Gegenstand selbst. Trotz der 1968 in Prag niedergeschlagenen Reformen diskutierte der Kreis in Rostock, wie andere Intellektuelle in der DDR, über diese Idee. Auch in den sich als links begreifenden Kreisen der Bundesrepublik pflegte man eine kulturalisierte Affinität zu einem wie auch immer gearteten Sozialismusmodell. In einem von der Abteilung Postkontrolle abgefangenen Brief des in die Bundesrepublik Geflüchteten berichtete dieser von der der DDR andernorts zuteilwerdenden Verehrung. Mit seinen einschlägigen DDR-Erfahrungen stieß der Flüchtige in den dortigen Studentenkreisen hingegen auf Unverständnis. 222 Seinen konkreten Erfahrungen konnte dies keinen Abbruch tun. Wohl nicht ohne Hintergedanken hatte ein Jugendlicher 1986 an eine Wand der Rostocker Bar »Szczecin« den Spruch geschrieben: »Der Sozialismus fezt, Scheiße ist bloß, daß wir ihn haben.« 223

219 MfS, BV Rostock, KK-Erfassung (KK – ungesetzliches Verlassen der DDR), Eintrag vom 7.4.1971, Bl. 2. 220 Ebenda. 221 Ebenda, Eintrag vom 16.1.1973, Bl. 4. 222 Ebenda, Eintrag vom 14.3.1973, Bl. 1. 223 MfS, BV Rostock, Meldung der KD Rostock vom 8.6.1986: BStU, MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei »schriftliche Hetze bekannt/unbekannt«, Laufzeit 1986.

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3.2.5 Gruppenfindungsprozesse und Handlungsoptionen: der OV »Michael« der BV Rostock Auf der regionalen Ebene blieben die Findungs- und Verständigungsprozesse häufig im Ansatz stecken und gelangten infolge staatlicher Interventionen nicht über eine bestimmte Phase hinaus. Hierfür steht ein im Operativvorgang »Michael« in Rostock durch die MfSBezirksverwaltung observierter Kreis von Jugendlichen. Die Mitglieder wurden schließlich festgenommen und zum Teil inhaftiert. Zugleich zeigen die Ereignisse, wie fließend die Übergänge zwischen Widerstand und Opposition waren. Am 26. Mai 1977 wandte sich der Leiter der Berliner Hauptabteilung XX/4, Franz Sgraja, an die Bezirksverwaltung in Rostock und teilte der Abteilung XX mit, dass es laut vorliegenden Erkenntnissen »in Rostock eine feindlich tätige Gruppe [...] geben« müsse. 224 Jene hätte sich mit anderen »feindlichen Gruppierungen des politischen Untergrundes« 225 in anderen Orten der DDR, in Leipzig, Dresden, Jena und Naumburg, 226 vernetzt. Ermittelt würde daher auch in anderen Bezirken – in Berlin lief der OV »Mühle« unter anderem gegen Ludwig Mehlhorn, 227 im Süden der DDR der OV »Neptun« und der OV »Spinne«. 228 In Rostock führte das MfS ab den 21. Juni 1977 zunächst den OPK, dann ab 7. September 1977 den OV »Michael« zur Aufdeckung der entsprechenden Aktivitäten: Eindeutig schien nun erwiesen zu sein, dass »eine feindliche Gruppierung des politischen Untergrundes« (OPK) bzw. »eine negativ-feindliche Gruppierung« (OV) in der Hansestadt existiert. 229 Mit Hilfe von Kurieren, »die mit konspirativen Methoden die Verbindung aufrechterhalten«, würden, so hatte es bereits Franz Sgraja beschrieben, oppositionelle Ma224 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Information des Genossen Oberstltn. Skraja [richtig: Sgraja], Leiter der HA XX/4 über eine feindliche Gruppierung des politischen Untergrundes, Rostock, 3.6.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 292/79, Bl. 41–44, hier 42. 225 Ebenda, Bl. 41. 226 Vgl. hierzu Ehrhart Neubert, der eine der in diesem Zusammenhang Genannten und den Vorgang erwähnt: »[...] Rainer Alisch, der wegen Weitergabe von westlicher Literatur 1978 verhaftet wurde.« Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 346). 2. Aufl., Bonn 2000, S. 320. 227 Vgl. hierzu: Bickhardt, Stephan (Hg.): In der Wahrheit leben. Texte von und über Ludwig Mehlhorn (Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen; 13). Leipzig 2012. 228 MfS, HA IX, Bericht über die Ergebnisse durchgeführter politisch-operativer und strafprozessualer Maßnahmen zur Zersetzung feindlich-negativer Gruppierungen, Berlin, o. Datum: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 3432, Bl. 280–296, hier 280. 229 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Eröffnungsbericht über eine feindliche Gruppierung des politischen Untergrundes, Rostock, 16.6.1977: BStU, MfS, HA XX/AKG, Nr. 5535, Bl. 1–9, hier 1, sowie MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Eröffnungsbericht zum OV »Michael«, Rostock, 7.9.1977: BStU, MfS, HA XX/AKG, Nr. 5535, Bl. 9–18, hier 9.

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terialien in der DDR ausgetauscht. 230 Innerhalb der Gruppen liefen intensive Diskussionen. Im Mittelpunkt standen gesellschaftlich-philosophische Fragen. Diskutiert wurde ebenso die Frage nach den Chancen und Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Veränderung in der DDR. Im Kern ging es nicht zuletzt um die Suche nach adäquaten Formen der Kritik am politischen System, mit der dem von der SED behauptete Anspruch, das Fortschrittliche, Linke und Gute insgesamt zu vertreten, wirkungsvoll entgegen getreten werden konnte. So dachte man daran, die SED unter Zuhilfenahme einer Kritik, die von Links kam und marxistische Anleihen bemühte, zu hinterfragen. Auf der Basis ihrer eigenen Argumentation sollte die DDR-Staatspartei so bloßgestellt werden. Dementsprechend kursierten in der Rostocker Gruppe eine »Abschrift [...] einer Ausarbeitung Robert Havemanns ›Freiheit als Notwendigkeit‹«, der Artikel von Havemann »›Unfreiheit – der Klotz am Bein des Kommunismus‹«, erschienen in der Hamburger »Zeit« am 29. Oktober 1976, »sechs Seiten aus dem Kommuniqué Nr. 3« des Komitees zur Verteidigung der Rechte der Arbeiter in Warschau, eine »vierseitige Information über die Situation in der VR Polen nach dem Junistreik [am] 18.7.76«, ein »Brief und [eine] Erklärung zu einem Brief von Lutz Rathenow, Jena, [den] 23.2.76«. 231 Hinzu kamen weitere Schriften, die man als DDR-Bewohner nicht sein eigen nennen durfte. Auch hatte man diese nicht an andere weiterzugeben, so wie es die Gruppe gegenüber Freunden und Bekannten praktizierte. Verbotene Texte, die man aus Leipzig von dem 1978 inhaftierten Theologiestudenten Rainer Alisch bezogen hatten, wurden in Rostock auf der Schreibmaschine vervielfältigt und erneut in Umlauf gebracht. 232 Den Mitgliedern gehe es darum, so lautete die Analyse des MfS, in der DDR eine »sogenannte innere Opposition zu schaffen«. 233 In der Konsequenz wolle man, so das Worst-Case-Szenarium des MfS, in der Lage sein, Gleichgesinnte um sich zu sammeln und mit diesen gemeinsam »die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung angreifen«. 234 Weiter hieß es: »Die Verdächtigen vertreten [...] die Meinung, daß die eigentliche Ursache für die Verletzung der Menschenrechte das totalitäre System in den sozialistischen Staaten ist. Daher gäbe es in diesen Ländern auch keine Frei-

230 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Information des Genossen Oberstltn. Skraja [richtig: Sgraja], Leiter der HA XX/4 über eine feindliche Gruppierung des politischen Untergrundes, Rostock, 3.6.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 292/79, Bl. 41–44, hier 41. 231 MfS, BV Rostock, Abt. XX/3, Abschlussbericht zum OV »Michael«, Rostock, 21.11.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 292/79, Bl. 245–250, hier 248. 232 Zur Inhaftierung von Rainer Alisch: Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 346). 2. Aufl., Bonn 2000, S. 320; MfS, BV Rostock, Abt. XX/3, Abschlussbericht zum OV »Michael«, Rostock, 21.11.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 292/79, Bl. 245–250. 233 MfS, BV Rostock, Abt. XX/3, Abschlussbericht zum OV »Michael«, ebenda, Bl. 247. 234 Ebenda.

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heit.« 235 Dementsprechend liefen die verdeckten Ermittlungen an. Die Ausgangsinformation hatte ihren Ursprung jedoch nicht in der Ostberliner Zentrale in der Normannenstraße. Vielmehr war das MfS »durch Informationen der polnischen Sicherheitsorgane« darauf hingewiesen worden, »daß auch Bürger der DDR Aktionen der sogen[annten] ›Arbeiterschutzkomitees‹ in der VR Polen unterstützen« und für das oppositionelle Komitee zum Schutz der Rechte der Arbeiter (KOR) Geld sammelten. 236 Wie die Staatssicherheitsabteilung des polnischen Innenministeriums, MSW, 237 weiter vermeldete, fand »im Sommer 1977 in Kraków ein »Protestmeeting« statt, an dem sich verschiedene oppositionelle Gruppen beteiligten, unter anderem »etwa 10-15 Personen [...] aus der DDR«. Man vermutete, dass sich »darunter auch Personen aus Rostock« befanden. 238 Auch innerhalb der DDR spielte das Solidaritätsmotiv, neben der intellektuellen Auseinandersetzung und der Suche nach politischen Alternativen, eine zentrale Rolle. 239 Mitglieder der Rostocker Gruppe sammelten unter »Vertrauenspersonen« – so für das Komitee zum Schutz der Rechte der Arbeiter – Geld, das über Ost-Berlin nach Polen gelangte; eine Sammlung zugunsten der Inhaftierten in Jena erbrachte zusätzlich 200 Mark. 240 Dem MfS gelang es, in Rostock neun Namen dem Kreis zuzuordnen. 241 Drei der Verdächtigen arbeiteten auf dem Michaelshof in Gehlsdorf, einer evangelischen Pflegeeinrichtung der Inneren Mission für geistig Behinderte. MfS-intern nannte man den Operativvorgang daher »Michael«. Die drei stammten aus anderen Berufen. Sie hatten sich bei der Kirche beworben, um sich in einem in der DDR allgemein vernachlässigten Bereich für Schwächere zu engagieren. 235 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Information des Genossen Oberstltn. Skraja [Sgraja], Leiter der HA XX/4 über eine feindliche Gruppierung des politischen Untergrundes, Rostock, 3.6.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 292/79, Bl. 41–44, hier 43. 236 Ebenda, Bl. 41 und 43. 237 Ministerstwo Spraw Wewnetrznych 238 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Information des Genossen Oberstltn. Skraja [Sgraja], Leiter der HA XX/4 über eine feindliche Gruppierung des politischen Untergrundes, Rostock, 3.6.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 292/79, Bl. 41–44, hier 41 und 43. 239 Ebenda, Bl. 43. 240 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Sachstandsbericht, Rostock, 17.2.1978: BStU, MfS, AU 2445/78, HA, Bd. 3, Bl. 227–240, hier 230. Am 19.11.1976 wurden in Jena der Diakon Thomas Auerbach, der Elektriker Marian Kirstein und der Schriftsteller Bernd Markowski festgenommen. Am 20.11.1976 folgte die Festnahme der Krankenschwester Kerstin Graf, des Hilfspflegers Gerd Lehmann und des Transportarbeiters Walfried Meier. Am 11.12.1976 nahm das MfS den Schriftsteller Wolfgang Hinkelday fest. Sie wurden am 2.9.1977 ohne Prozess aus der MfS-U-Haft nach West-Berlin abgeschoben. Nach: Passens, Katrin: MfS-Untersuchungshaft. Funktion und Entwicklung von 1971 bis 1989. Berlin 2012, S. 160, Fußnote 266. 241 MfS, HA IX, Bericht über die Ergebnisse durchgeführter politisch-operativer und strafprozessualer Maßnahmen zur Zersetzung feindlich-negativer Gruppierungen, Berlin, o. D.: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 3432, Bl. 280–296, hier 295 f. Zwei der in Berlin geführten Verdächtigen hatten zudem ihren Geburtsort im Bezirk Rostock, eine davon ihren Hauptwohnsitz im Ostseebezirk: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 3432, Bl. 289 f.

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Zugleich hofften sie so dem sozialistischen Arbeitsalltag mit seinen Unzulänglichkeiten wie Missmanagement, fehlender Sinnerfüllung und ideologischer Bevormundung entfliehen zu können. »Wegen gesellschaftspolitischer Differenzen mit ihrem Betrieb und unter dem Einfluß der Kirche«, so schätzte es das Mielke-Ministerium ein, »kündigte« einer der beiden Hauptverdächtigen seine alte Arbeitsstelle, »und begann am 1.9.1975 in der ev[angelischen] Pflegeanstalt ›Michaelshof‹ [...] zu arbeiten«. 242 Einer der Verdächtigen studierte Theologie in Rostock, wo er der Universitätsleitung als »heftiger Diskutierer« und Unruhestifter negativ ausgefallen war: »Während seines Studiums versuchte er wiederholt«, so hatte es das Sicherheitsministerium in Erfahrung gebracht, »politische Problemdiskussionen auf der Grundlage von westlichen Publikationsquellen anzustiften«. Seine »negativ-feindliche Einstellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR« schien den Wächtern der reinen Lehre an der Universität hinlänglich bekannt. 243 In ihrer Lehrzeit kamen die inzwischen Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen in Kontakt mit der evangelischen Kirche. Zuvor waren sie mitunter »im Rahmen der FDJ aktiv tätig« gewesen waren, hatten sich aufgrund der bestehenden Widersprüche und der ideologischen Überfrachtung aber vom SEDStaat abwand. 244 Diskontinuität gab es in jedem Lebenslauf. Der Hauptinitiatorin attestierte man, dass sie in ihrer Schulzeit in der FDJ-Arbeit noch andere Schüler anzuspornen und mitzureißen wusste. 245 Während ihrer Lehrzeit fand sie zur Jungen Gemeinde. Es war der Ort, an dem sie sich mit anderen, ebenfalls kritisch denkenden Gleichaltrigen über die sie beschäftigenden Sinn- und Lebensfragen auszutauschen wusste. Sie engagierte sich fortan in der evangelischen Jugendarbeit, nahm an den »Domstationen«, den überregionalen Treffen der mecklenburgischen Jungen Gemeinde in Doberan und Schwerin, teil und sang in einer kirchlichen Rockband mit. 246 Einer der Beteiligten sah sich, so das MfS, »seit seiner Jugendzeit als ›Ausgestoßener‹ bzw. ›am Rande der Gesellschaft Lebender‹«. Man unterstellte ihm in der Schule solange ein nonkonformes Verhalten, bis er dieser Rolle entsprach. 247 Ein weiteres Mitglied des Kreises stammte aus einem, wie es offiziell hieß, »gesellschaftspolitisch positiven Elternhaus«. Sein Vater galt in der DDR als anerkannter »Verfolgter der Naziregimes«; seine Mutter arbeitete als »Zollsekretärin beim PZA [Postzollamt] Ludwigslust« und somit an der sicherheits242 MfS, BV Rostock, Abt. XX/3, Abschlussbericht zum OV »Michael«, Rostock, 21.11.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 292/79, Bl. 245–250, hier 246. 243 Ebenda, Bl. 247. 244 Ebenda, Bl. 246. 245 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Sachstandsbericht, Rostock, 7.6.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 292/79, Bl. 45–48, hier 46. 246 Ebenda. 247 Ebenda, Bl. 245.

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politisch als sensibel eingestuften Westgrenze. Als 18-Jähriger entschied er sich, endgültig mit der DDR zu brechen. An jener Grenze, die seine Mutter abzusichern half, wurde er 30. Oktober 1970 »festgenommen und inhaftiert, als er gemeinschaftlich handelnd den Versuch unternahm, die DDR [...] zu verlassen.« Während seiner Haftzeit im »StVK Schwarze Pumpe«, einem unter widrigen Verhältnissen betriebenen Arbeitslager, sah er sich unvermittelt im ›Inneren‹ der DDR angekommen: Der »Verdächtige«, so stellte man lapidar fest, ohne nach den Gründen zu fragen, »entwickelte [...] sich weiterhin negativ«. Hier wurden die Grundlagen für seinen weiteren Lebensweg nach den sechs Monaten Haft gelegt: »Aufgrund seiner Kontakte zu christlich gebundenen Häftlingen während des Strafvollzuges fühlte sich K. nach seiner Haft stark zur Kirche hingezogen und knüpfte entsprechende Kontakte« und kam so 1974 zum Michaelshof. 248 Widerstand und Opposition lassen sich in diesem Fall nur schwer voneinander trennen. Neben dem Engagement in der Gruppe trafen sie sich zu verschiedenen Einzelaktionen. Bereits in der Operativen Personenkontrolle »Mühle« hieß es, dass die verdächtigten Personen als »feindliche Gruppierung, abgestimmt und gemeinschaftlich handelnd« zu Veranstaltungen der Evangelischen Studentengemeinde, in den Studentenkeller der Universität und den Rostocker Literaturclub gehen würden. 249 Ihr Ziel sei es, »mit gezielten negativen Diskussionen Einfluß auf Inhalt und Ablauf der Veranstaltung zu nehmen«. 250 Als Beispiel führte der Untersuchungsbericht eine Veranstaltung am 9. Juni 1977 mit Professor Olaf Klohr von der Ingenieurhochschule für Seefahrt Warnemünde an. Klohr galt als führender marxistischer Atheismusforscher der DDR, der, wie Ehrhart Neubert schreibt, »die Operationen der SED gegen die Kirchen ideologisch begleitete«. 251 Klohr beabsichtigte, im Studentenkeller zum Thema »Atheismus und Kirche« zu sprechen. Wie es im Bericht heißt, »organisierte« einer der später Festgenommenen »negative Personen«, um »ihn gegen Kloor [sic!] zu unterstützen«. 252 Insgesamt fanden sich fünf Wagemutige, die Klohr im Studentenkeller Paroli boten. Obwohl sie gegen die 248 Ebenda, Bl. 246. 249 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Eröffnungsbericht über eine feindliche Gruppierung des politischen Untergrundes, Rostock, 16.6.1977: BStU, MfS, HA XX/AKG, Nr. 5535, Bl. 1–9, hier 8. 250 Ebenda. 251 Ab 1964 hatte Olaf Klohr an der Universität Jena den dort neueingerichteten Lehrstuhl für »Wissenschaftliche Atheismus« inne. Vgl. hierzu: Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; Bd. 346). 2. Aufl., Bonn 2000, S. 182. »Später« wurde Olaf Klohr »an die Hochschule für Seefahrt in Warnemünde[-Wustrow] abgeschoben.« Nach: Goeckel, Robert F.: Thesen zu Kontinuität und Wandel in der Kirchenpolitik der SED. In: Vollnhals Clemens (Hg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz (Analysen und Dokumente; 7). Berlin 1996, S. 29–58, hier 49. 252 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Eröffnungsbericht über eine feindliche Gruppierung des politischen Untergrundes, Rostock, 16.6.1977: BStU, MfS, HA XX/AKG, Nr. 5535, Bl. 1–9, hier 8.

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Studenten aus den geisteswissenschaftlichen Fächern der Universität kaum ankamen, werteten die fünf »Störer« ihre Aktion als Erfolg. Mit ihrem Erscheinen hätten sie sich deutlich in der Öffentlichkeit positioniert und seien der zur Norm erhobenen marxistisch-atheistischen Ideologie entgegengetreten. Die Diskussion wäre nur deshalb nicht zu unterlaufen gewesen, da, so wird einer der »Störer« zitiert, »zu viele Leute gekauft waren«. 253 Zwar passten sie sich in ihrer Kritik an die im Uni-Klub herrschenden Bedingungen an. In der öffentlichen Runde sprachen sie sich für eine Reform des Sozialismus aus. Zugleich wusste einer der zahlreichen Studentenspitzel zu berichten, dass einer der Störer anschließend davon sprach, daß es »für sie trotzdem nur ein Ziel gäbe, die Kommunisten zu vernichten und die DDR nicht anzuerkennen«. 254 Die Suche nach reformsozialistischen Ansätzen war unter den Gegebenheiten aus taktischen Erwägungen naheliegend. Doch schien dies nicht das non plus ultra gewesen zu sein. Die von der Gruppe vertretenen Positionen reichten laut Erkenntnis des MfS dementsprechend »vom Maoismus bis zum Sozialdemokratismus« – auch meinte man erfahren zu haben, dass einer der Verdächtigen »bei früheren Zusammenkünften einen CDU-Kurs (West) vertrat«. 255 Was der Betreffende tatsächlich dachte, erfuhren die Sicherheitshüter am 17. Mai 1977 ausgerechnet über das Westfernsehen: Während einer Umfrage, die »die Sendung Kennzeichen D. des ZDF« unter Passanten durchführte und die anschließend über den Äther ging, »bezeichnete K. [...] in Gegenwart dreier weiterer Personen Genossen Honecker als Verbrecher«. 256 Die Anzeige eines hochrangigen FDJ-Funktionärs bot dem MielkeMinisterium schließlich den willkommenen Anlass, offen gegen die Gruppe vorzugehen. Den Hintergrund bildete eine verbale Auseinandersetzung am 5. November 1977. Kurz nach Mitternacht, begegneten sich am Taxistand am Rostock Universitätsplatz der später inhaftierte S. und der Erste Sekretär der FDJ-Kreisleitung Rostock-Stadt, Rau. Letzterer kam unmittelbar von der offiziellen Jubelfeier anlässlich des sechzigsten Jahrestages der sowjetischen Oktoberrevolution. Da er zuvor bei der Veranstaltung mit auf der Tribüne zugegen war, trug er an jenem Abend einen FDJ-Anorak mit dem am Ärmel angebrachten Emblem der DDR-Jugendorganisation. Am Taxi-Stand kam es dann zu den später beanstandeten Äußerungen. S. habe den FDJ-Sekretär provoziert, so das Protokoll der Untersuchungsabteilung, »indem er ausrief: Das, was ihr jetzt feiert, ist sowieso Humbug. Wir werden dafür sorgen, daß 253 Ebenda. 254 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Eröffnungsbericht über eine feindliche Gruppierung des politischen Untergrundes, Rostock, 16.6.1977: BStU, MfS, HA XX/AKG, Nr. 5535, Bl. 1–9, hier 8. 255 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Eröffnungsbericht (ebenda), Bl. 6; MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Eröffnungsbericht zum OV »Michael«, Rostock, 7.9.1977: BStU, MfS, HA XX/AKG, Nr. 5535, Bl. 9–18, hier 16. 256 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Eröffnungsbericht zum OV »Michael« (ebenda), Bl. 16.

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das vergeht. Ihr braucht euch gar nicht so sicher fühlen. Wir werden dafür sorgen, daß die Sonne mal untergeht.« 257 Das von S. verwandte »Wir« deutete das MfS nachfolgend als Ausdruck kollektiv oppositionellen Bewusstseins, als »Hinweis darauf, daß er auch im Namen anderer spreche«. 258 Noch am selben Tag erfolgte nach der Anzeige von Rau die Inhaftierung und Einweisung von S. in die Untersuchungshaftanstalt des MfS. 259 Neben seinem Engagement in der oppositionellen Gruppe sollte S. noch eine weitere Widerstandstat nachgewiesen werden: Ende Februar sowie in der Nacht vor dem 1. Mai 1977 beschädigte er die Wandzeitung der übereifrigen Hausgemeinschaftsleitung in seinem Mietshaus, riss die Bilder und Agitationsmaterialien ab und ließ sie zerrissen im Hausflur liegen. 260 Oppositionell konzeptionelles Handeln einerseits und Widerstand andererseits, der auf die direkte Tat der Gegnerschaft setzt, ließen sich hier nachweisen. Sie waren – so wurde es auch vom MfS bewertet – in einem Handlungszusammenhang als Ausdruck von Interaktion und der Dynamik des politisch abweichenden Verhaltens zu verstehen. Einen Monat nach dem Vorfall ging das MfS gegen weitere Mitglieder des Kreises vor: »In Gegenwart des Staatsanwaltes« wurden die Verdächtigen am 6. Dezember 1977 festgenommen. Es folgten Verhöre, »die an mehreren Tagen durchgeführt wurden« und Wohnungsdurchsuchungen, begleitet von fortwährenden »Kontrollmaßnahmen«, durch die die Reaktion der anderen Verdächtigen ermittelt werden sollte. 261 Die Anweisung, dass von einer Inhaftierung abzusehen sei, kam schließlich aus der MfS-Zentrale in Berlin. »Auf der Grundlage zentraler Festlegungen wurde«, wie es heißt, »von der Einleitung strafrechtlicher Maßnahmen« abgesehen. 262 Aufgrund der Anzahl der Beschuldigten und ihrer Kontakte in das westliche Ausland sowie ihrer kirchlichen Einbindung schien eine solche Maßnahme eine Reihe von schwer kalkulierbaren Risiken in sich zu bergen. Vermutet wurde so, dass eine der Beschuldigten briefliche Verbindungen zur internationalen Gefangenenhilfsorganisation »Amnesty international« unterhalten würde. 263 Die Aufmerksamkeit, die 257 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Schlußbericht, Rostock, 17.2.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2445/78, GA, Bd. 4, Bl. 176–187, hier 180. 258 Ebenda, Bl. 181. 259 MfS, BV Rostock, [Name], UV-Kartei Nr. 71/77: BStU, MfS, BV Rostock, UV-Kartei Nr. 71/77 260 Ebenda. 261 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Sachstandsbericht, Rostock, 17.2.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2445/78, HA, Bd. 3, Bl. 227–240, hier 237. 262 MfS, BV Rostock, Leiter BV, Nr. 21/78, Information über die Ergebnisse der Prüfungsverfahren gegen negative Personen, welche in der evangelischen Pflegeanstalt Michaelshof RostockGehlsdorf tätig sind, Rostock, 29.3.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2445/78, HA, Bd. 3, Bl. 227– 240, hier 237. 263 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Sachstandsbericht zur Person [Name], Rostock, 7.6.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 292/79, Bd. 1, Bl. 45–48, hier 47.

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der Prozess in der westlichen Öffentlichkeit auf sich ziehen würde, könnte unter Umständen, wie das MfS meinte, seine disziplinierende und abschreckende Wirkung im Inland überlagern. In diesem Punkt hatten sich das konzeptionell abgestimmte Vorgehen der Gruppe und das Bestreben zur Vernetzung durchaus ausgezahlt. Auf Berliner Geheiß bemühte sich die Bezirksverwaltung dem Vorgang den Anschein einer Einzeltat zu verleihen. Aufrechterhalten wurde so noch die Anklage gegen den »Provokateur« vom Taxistand. Aus, wie es hieß, »rechtspolitischen Gründen« 264 sollten nun ein vermeintlicher Bücher-Diebstahl und ein fingierter Fahrschein dem Untersuchungshäftling zur Last gelegt werden. 265 In ihrer Urteilsbegründung vermied es die Strafkammer des Kreisgerichtes Rostock-Stadt am 21. April 1978 so auch auf den oppositionellen Zusammenschluss einzugehen. Lediglich der Passus, »der Angeklagte« suche »überhaupt nur Umgang mit Personen, die zumindest eine ähnliche Haltung« wie er zeigten, ließ die ursprüngliche Intention des Verfahrens erahnen. 266 Der Angeklagte wurde wegen »öffentlicher Herabwürdigung« nach § 220 StGB zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. 267 Selbstzufrieden stellte das MfS fest, dass es durch das konzertierte Vorgehen – durch Abschreckung, Einschüchterungen und die subtile Kriminalisierung des Angeklagten – gelungen sei, die Gruppe zu zerschlagen. Die Gruppe sei, so der Abschlussbericht zum OV »Michael«, über die »Anfangsphase der Formierung« nicht hinausgelangt. 268 S. wurde, nachdem er im Gefängnis Cottbus einen Ausreiseantrag gestellt und die Bundesregierung ihn freigekauft hatte, am 13. September 1978 in die Bundesrepublik abgeschoben. 269 Zwei der in der Bezirksverwaltung im Dezember 1977 vernommenen Gruppenmitglieder wurden Anfang 1978 nochmals »auffällig«. In den frühen Abendstunden des 24. Februar trafen sie unverhofft »in Höhe des Schröderplatzes« auf den Vernehmer. Im »angetrunkenen Zustand«, so berichtete Leutnant Riege umgehend seiner Dienststelle, sprachen sie ihn »derart aufdringlich« an, dass er sich in die Defensive gedrängt fühlte. 270 Übertrieben »überhöflich« und wild gestikulierend fragte sie den Vernehmer, »wie 264 MfS, BV Rostock, Abt. XX/3, Abschlussbericht zum OV »Michael«, Rostock, 21.11.1978, Bl. 245–250, hier 249. 265 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Schlußbericht, Rostock, 17.2.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2445/78, GA, Bd. 4, Bl. 176–187, hier 177 266 Strafkammer des Kreisgerichtes Rostock-Stadt, S 220/78, Im Namen des Volkes, Urteil, ausgefertigt, Rostock, 28.4.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2445/78, GA, Bd. 5, Bl. 37–40, hier 40. 267 Ebenda, Bl. 38. 268 MfS, BV Rostock, Abt. XX/3, Abschlussbericht zum OV »Michael«, Reg. Nr. I/800/77, Rostock, 21.11.1978, Bl. 245–250, hier 249. 269 Kreisgericht Rostock Stadt, S 220/78, Beschluß, Rostock, 7.9.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2445/78, GA/ASt, Bd. 5, Bl. 56; MfS, BV Rostock, [Name], UV-Kartei Nr. 71/77: BStU, MfS, BV Rostock, UV-Kartei Nr. 71/77. 270 MfS, BV Rostock, Abt. IX/2, Leutnant Riege, Bericht, 28.2.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2445/78, HA, Bd. 3, Bl. 252.

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es denn so in der August-Bebel-Straße geht und ob die Arbeit läuft«. 271 Einer der beiden wies ihn darauf hin, dass »wir uns ja bei meinem Aufenthalt bei Ihnen [...] verstanden« hätten, auch wenn es eine Ausnahme gäbe, und zwar die »Szene, wo Sie etwas härter mit mir sprachen«. Hektisch versuchte der Vernehmer den Doberaner Platz zu erreichen. Die beiden folgten ihm dichtauf, wünschten ihm »weiterhin gute Erfolge in der August-Bebel-Straße« und baten ihn Grüße an seine Ehefrau ausrichteten. 272 Ob der Versuch zum oppositionellen Aufbruch über die Grenzen der Gruppe hinaus erfolgreich sein hätte können, lässt sich nur schwer sagen. Gespräche mit Gleichgesinnten, verbunden mit der Überlegung, was gegen die Verhältnisse in der DDR konkret getan werden könne, ergaben sich für die im Operativ-Vorgang »Michael« erfassten Gruppenmitglieder an den verschiedenen Orten. So im Jazz-, Literatur- oder Studentenclub in Rostock sowie während der überregionalen Jazztreffen in Peitz oder anlässlich des Jazz Jamboree in Warschau. Auffällig häufig kamen solche Kontakte bei kirchlichen Treffen zustande – so in der Evangelischen Studentengemeinde oder auf Kirchentagen. Der Kontakt zwischen dem Leipziger Kreis um Rainer Alisch und der maßgeblichen Initiatorin der Rostocker Gruppe ergab sich nach den Erkenntnissen der Untersuchungsbehörde 1975, »nachdem sie Alisch, Rainer auf einem Kirchentreffen [...] kennen gelernt hatte«.273 Die auffallend vielen Kontakte, die sich über kirchliche Bezüge ergaben, spiegelten sich zugleich in den Biographien der hier Aktiven wider. Von den vierzig in diesem Zusammenhang DDR-weit registrierten Personen engagierte sich zwei in der kirchlichen Aktion Sühnezeichen (u. a. Ludwig Mehlhorn), acht arbeiteten in kirchlichen Anstellungsverhältnissen und neun studierten Theologie (u. a. Bernd Albani). 274 Die Gruppe in Rostock löste sich nach den Festnahmen Ende 1977 auf. Eine Beteiligte, die zu den Initiatoren gerechnet werden kann, verzog im Oktober 1979 nach Ost-Berlin. Sie nahm am Stephanusstiftung in Weissensee erneut eine Arbeit im kirchlichen Pflegedienst auf. Ende 1983 zählte sie zu den Mitbegründerinnen der oppositionellen Gruppe »Frauen für den Frieden« und beteiligte sich an der Friedenswerkstatt 1982 und 1983 rund um die Berliner Erlöserkirche. 275 Am 5. April 1985 reiste sie mit ihrem Ehemann, der ebenfalls

271 Ebenda. 272 Ebenda. 273 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Sachstandsbericht, Rostock, 17.2.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2445/78, HA, Bd. 3, Bl. 227–240, hier 228. 274 MfS. HA IX, Bericht über die Ergebnisse durchgeführter politisch-operativer und strafprozessualer Maßnahmen zur Zersetzung feindlich-negativer Gruppierungen: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 3432, Bl. 280–296, hier 289–296. 275 Westendorff, Elke: Das war schon exklusiv. Die frühen Jahre der Friedenswerkstatt. In: HuG 16 (2007) 1, Nr. 57, S. 17–19; Hildebrand, Gerold: Erzählwerkstatt Friedenswerkstatt. Wider die Militarisierung in der Gesellschaft. In: HuG 16 (2007) 1, Nr. 57, S. 1–3; Bärbel Bohley: Wir wollten

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aus dem Norden stammte und sich im Ökologiekreis der Evangelischen Studentengemeinde engagierte, nach West-Berlin aus. 276 Einer anderer Beteiligter wurde am 13. November 1984 an der österreichisch-ungarischen festgenommen und nach fünf Monaten Untersuchungshaft am 17. April 1985 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Sechs Monate später und nach insgesamt elf Monaten Haft »entließen« ihn die Behörden am 23. Oktober 1985 aus der »DDR-Staatsbürgerschaft« und schoben ihn in die Bundesrepublik ab. 277

3.3

Fördernde und hemmende Faktoren von Widerstand und Opposition

3.3.1 Die Juristische Hochschule des MfS zu den Gruppen unter dem »Dach der Kirche« und Opposition im Bezirk Rostock Was dachte die Stasi über das, was unter dem »Schutz« und »Dach der Kirche« vor sich ging und wie stufte sie die Entwicklung ein? Finden sich in den Analysen des MfS ähnliche Zuordnungsmuster und Begrifflichkeiten wieder, wie man sie aus der Widerstands- und Oppositionsforschung kennt? Der Stasi war seit längerem klar, dass es sich bei der Friedens-, Umweltund Menschenrechtsarbeit unter dem »Dach der Kirche« um mehr als einen originär kirchlichen Arbeitszweig handelte. Entsprechend beschäftigte man sich in Expertisen, Jahresberichten sowie Diplom- und Doktorarbeiten hiermit. Getrieben durch den Eifer, eine drohende Gefahr aufdecken und mögliche Hintermänner benennen zu müssen, mag manches, was dort geschrieben wurde, überzogen erscheinen. Cum grano salis lässt sich den an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam-Eiche entstandenen Arbeiten ebenso viel Zutreffendes entnehmen. Schließlich lieferte eine effektiv vorhandene geheimpolizeilich-sicherheitspolitische Herausforderung den Anlass für die vorgelegten Abhandlungen. In diesem Zusammenhang entstand in PotsdamEiche 1988 auch die Kollektiv-Dissertation: »Das aktuelle Erscheinungsbild politischer Untergrundtätigkeit in der DDR und wesentliche Tendenzen seiner Entwicklung.« 278 Als Ausgangspunkt diente der Befund, dass es dem MfS schlau sein wie die Schlangen. In: Dies.; Praschl, Gerald; Rosenthal, Rüdiger (Hg.): Mut. Frauen in der DDR. München 2005, S. 13–73. 276 MfS, BV Rostock, [Name], VSH Abteilung XX: BStU, MfS, BV Rostock, [Name], VSH Abt. XX. 277 MfS, BV Rostock, [Name], VSH Kreisdienststelle Rostock: BStU, MfS, BV Rostock, [Name], VSH KD Rostock. 278 MfS, Juristische Hochschule, Dissertation zum Thema: »Das aktuelle Erscheinungsbild politischer Untergrundtätigkeit in der DDR und wesentliche Tendenzen seiner Entwicklung«, MfS JHSNr. 230/89, Potsdam, 2012.1988: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 8317, Bl. 1–287, hier 1.

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in den zurückliegenden Jahren nicht gelungen sei, die »Schaffung der [...] Basis einer inneren Opposition‹« 279 innerhalb der DDR zu unterbinden. Zukünftig sei daher mit den verschiedensten »Aktivitäten« in diesem Bereich zu rechnen. Die sechs Aspiranten der MfS-Hochschule, unter ihnen ein leitender Mitarbeiter der für die Verfolgung politisch abweichenden Verhaltens zuständigen Hauptabteilung XX, Oberstleutnant Siegmund Quitschau, führten in ihren Abschlussarbeit weiter aus: »Die Kirchen [...] verfügen über eine eigenständige Weltanschauung [...] eigene materielle und technische Voraussetzungen.« 280 Diese »Möglichkeiten« dienten vermehrt »der Suche, Sammlung und Zusammenführung von Personen«, die das MfS dem Bereich des PUT – der Politischen Untergrundtätigkeit – zuordnete. »So können die Kirche«, schrieben die Autoren weiter, »feindlich-negativen Kräften, die [...] durch eigenen Antrieb in Widerspruch zum sozialistischen Staat geraten sind, für beabsichtigtes subversives Handeln ›materiellen und ideellen Schutz‹ gewähren«. Erschwert würde die Verfolgung etwaiger Aktivitäten seitens des MfS dadurch, dass diese den »Anschein kirchlicher Aktivitäten« trügen und sich politisch Unzufriedene in den Räumen der Kirche sammeln, treffen und konzeptionell abstimmen könnten. 281 Auch hier blieb die Begriffsabgrenzung letztlich vage: Neben »Opposition« wurde zur Umschreibung des Sachverhaltes die MfS-Schöpfung »PUT« [Politische Untergrundtätigkeit] verwandt und das hiermit einhergehende Handeln mal als »subversiv«, »feindlich« oder auch »feindlich-negativ« bezeichnet. 282 Zwei weitere Hochschularbeiten befassten sich mit den Verhältnissen im Bezirk Rostock. Während sich die erste auf den Kessiner Friedenskreis bezog, beschäftigte sich die zweite mit den nicht nur an rein kirchlichen Themen interessierten Jungen Gemeinden rund um Steffenshagen, Kühlungsborn und Bad Doberan. Erstellt wurde die erste Abhandlung vom MfS-Hauptmann Jürgen Fiedler, der in der Abteilung XX 283 in Rostock die praktische Vorlage für seine Expertise fand. Fiedler verwies in seiner Arbeit einführend und zunächst allgemein auf die im Bezirk bestehenden »Friedens- und Ökologiekreise«. Ein ominöser und im Verborgen bleibender »Gegner« schicke sich momentan an, jene zu »einer ›inneren Opposition‹ zu formieren«. 284 Im Fall des 279 Ebenda, Bl. 120. 280 Ebenda, Bl. 123. 281 Ebenda. 282 Ebenda. 283 Bekämpfung von politisch abweichendem Verhalten in staatlichen Institutionen, Kirche, Kultur und Sport. 284 MfS, Juristische Hochschule, 4. postgradualer Lehrgang, Abschlußarbeit im postgradualen Studium. Thema: »Erfahrungen beim Zusammenwirken mit staatlichen und gesellschaftlichen Kräften zur Realisierung wirksamer Zurückdrängungs- und Zersetzungsmaßnahmen gegen feindliche bzw. negative Personenkreise aus dem kirchlichen Bereich am Beispiel sogenannter Friedenskreise, Autor: Hauptmann Jürgen Fiedler, BV Rostock, Abt. XX, Abschluß der Arbeit: 11.11.1986, BStU, Za-JHS, Nr. 20903, S. 4, Bl. 1–24, hier 4.

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Kessiner Friedensseminare hätten der »Initiator«, so Hauptmann Jürgen Fiedler, die Idee verfolgt, »seine Vorstellungen zur Organisierung eines politischen Untergrundes unter Nutzung des ›Kessiner Friedenskreises‹ durchzusetzen«. 285 Schließlich trafen sich in Kessin nicht nur Oppositionelle aus den drei Nordbezirken. Neben Lutz Rathenow aus Berlin 1983 und fünf Mitgliedern der Jenenser »Friedensgemeinschaft«, die in einer Fotoausstellung die von ihnen in Jena durchgeführten Demonstrationen präsentierten, dann Hans-Joachim Tschiche aus Samswegen bei Magdeburg, 286 Ulrike und Gerd Poppe und Rüdiger Rosenthal aus Berlin, die 1983 und 1984 anreisten, dann 1984 Kerstin Launicke aus Naumburg oder auch Oliver Groppler aus Potsdam/Kleinmachnow 287 waren wichtige Integrationsfiguren der sich herausbildenden oppositionellen Szene aus anderen Teilen der DDR in Kessin anwesend. Kessin diente der Opposition somit über die Grenzen der drei Nordbezirke hinaus als Treffpunkt und als Ort, an dem konzeptionelle Überlegungen ihren Ausgangspunkt nahmen. Die zweite Arbeit, die sich mit »feindlich negativen Jugendlichen und Jungerwachsenen in Gruppierungen/Gruppen« beschäftigte, stammt von einem Oberleutnant der Kreisdienststelle Bad Doberan. Winfried Peltz wertet in seiner 1982 vorgelegten Diplomarbeit jene Materialien aus, die er bei der Observierung, Bespitzelung und Einschüchterung der kirchlichen Jugendszene westlich von Rostock seit Juni 1981 gesammelt hatte. 288 Im Mittelpunkt stand ein Pfarrdiakon, der als Kristallisations- und Anlaufpunkt für kritisch denkende Jugendliche angesehen werden konnte und gegen den das MfS bereits ermittelte. 289 Auch hier folgte das MfS seinen eigenen Wertvorstellungen und Weltdeutungen. Dem betreffenden Pfarrdiakon kam in dem durch den Urlauberverkehr geprägten Rostocker Umland zwar eine wichtige Rolle als »Führungsperson« zu. Die Jungen Gemeinden zwischen Bad Doberan und Kühlungsborn planten ihre Aktivitäten nicht selten aber auch aus eigenem Antrieb 285 Ebenda, Bl. 12. 286 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Bericht »Kessiner Friedensseminar 1983« vom 13. bis 15.5.1983, Rostock 15.5.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. I, Bl. 44–48 sowie MfS, BV Rostock, Abt. XX, Bericht »Besinnlicher Abend mit Lutz Rathenow«: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. I, Bl. 49 f., hier 50. 287 MfS, BV Rostock, Teilnehmerliste KFS 1984, Anmeldestand 22.05.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. III, Bl. 202–205. 288 MfS, Juristische Hochschule, 18. HSFL Lehrgang, Diplomarbeit, Thema: Die Entwicklung von Voraussetzungen für eine operativ nutzbare Methodik zur Analyse operativ interessierender sozialer Beziehungen zwischen feindlich negativen Jugendlichen und Jungerwachsenen in Gruppierungen/Gruppen, die in operativen Materialien, insbesondere OPK und OV bearbeitet werden, Autor: Oltn. Winfried Peltz, BV Rostock, KD Bad Doberan, Abschluß der Arbeit: 3.11.1982: BStU, MfS, JHS-Nr. 289/82, 89 Seiten. 289 MfS, BV Rostock, KD Bad Doberan, OV »Tonsur«: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 54/87; MfS, BV Rostock, KD Bad Doberan, Zwischenbericht zum OV »Tonsur«, Bad Doberan, 11.11.1981: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 54/87, Bl. 124–139.

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heraus. Zugleich zeichnete eine im Operativvorgang nur eher beiläufig erwähnte Vikarin für die Aktionen mitverantwortlich und inspirierte die Jugendlichen in ihrem Tun. Häufig war sie es, die den Pfarrdiakon erst dazu drängte, bestimmte Aktionen durchzuführen. 290 Die vermeintlich renitenten Jugendlichen organisierten 1983 und 1984 eine »Osterstation« in Bad Doberan, führten Baumpflanzaktionen durch und waren der Kreisdienststelle durch das Tragen von pazifistischen Aufnähern, dem Zeichen »Schwerter zu Pflugscharen«, aufgefallen. Die Kreisdienststelle zeigte sich zudem alarmiert, weil die Jugendlichen zusammen mit ihrem Pfarrdiakon im März 1981 zu einer Friedensrüste unter dem Leitsatz »Gefahren für den Frieden« aufbrachen. Im September 1981 luden sie unter dem Thema »Sozialer Friedensdienst« zu einer Rüste ein. 291 Sie fand aus Protest parallel zu einer in Bad Doberan angesetzten Zivilverteidigungsübung statt. 292 Erwogen wurde dabei auch, mit einem Schweigemarsch quer durch den Kurort gegen das martialische Schauspiel zu demonstrieren; ein Plan, der jedoch aufgrund der angedrohten »staatlichen Sanktionen« nicht zur Ausführung gelangte. 293 Notgedrungen beschränkte man sich auf eine »Andacht gegen die ZV-Übung [...], in der die Sinnlosigkeit von Schutzmaßnahmen nachgewiesen werden« sollte. 294 In diesem Zusammenhang ermutigte der Pfarrdiakon, wie Winfried Peltz von einem Spitzel erfuhr, die Anwesenden, »für den Frieden tätig zu werden«, indem sie die »Teilnahme an Lagern der ZV« und den »Wehrdienst [in der] NVA« verweigern. 295 Zeitgleich erging der »Aufruf an Lehrlinge zur Verweigerung« der »Schießübungen« im Rahmen der vormilitärischen Ausbildung. 296 Ferner führten die Jungen Gemeinden zwei Sendfahrten auf Fahrrädern quer durch den Bezirk Rostock durch. An etwa zehn Orten führten sie ein Programm auf. Während die erste Fahrt Ende Juli 1981 unter der Losung »Frieden schaffen ohne Waffen« stand, gab der Satz »Schwerter zu Pflugscharen« das Thema für die zweite Sendfahrt 1982 vor. 297 Hinzu kamen mehrere Ost-West-Treffen mit Jugendgruppen aus der Bundesrepublik in Wismar, Ost-Berlin und in der Tschechoslowakei, auf denen man über deutsch-deutsche Fragen, die deutsche 290 Zeitzeugengespräch mit Matthias Finger aus Kühlungsborn/Ost, Kühlungsborn, den 21.4.2009. 291 MfS, Juristische Hochschule, 18. HSFL Lehrgang, Diplomarbeit, Thema: Die Entwicklung von Voraussetzungen für eine operativ nutzbare Methodik zur Analyse operativ interessierender sozialer Beziehungen zwischen feindlich negativen Jugendlichen und Jungerwachsenen in Gruppierungen/Gruppen, die in operativen Materialien, insbesondere OPK und OV bearbeitet werden, Autor: Oltn. Winfried Peltz, BV Rostock, KD Bad Doberan, Abschluß der Arbeit: 3.11.1982: BStU, MfS, JHS-Nr. 289/82, Bl. 73, 75, 80. 292 Ebenda, Bl. 80. 293 Ebenda, Bl. 81. 294 Ebenda. 295 Ebenda, Bl. 83. 296 Ebenda. 297 Ebenda, Bl. 80, 87.

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Teilung und die Berliner Mauer diskutierte. 298 Bei den deutsch-deutschen Begegnungen wandten die Jugendlichen, so wollte es Winfried Peltz erkannt haben, »konspiratives Verhalten zur Absicherung der Treffen« an. 299 Winfried Peltzes Diplomarbeit entstand methodisch in enger Anlehnungen an die Arbeit der Ostberliner Autoren Harry Dettenborn und Hans-H. Fröhlich. Beide legten 1971 unter der Vorgabe, »die sozial-negative Gruppierung als sozialpsychologische Bedingung kriminellen Verhaltens Jugendlicher« zu erfassen, eine Publikation vor. 300 Dementsprechend gestaltete Winfried Peltz seine Fragestellung. In seiner Auftragsarbeit standen »altersspezifische Besonderheiten des genannten Personenkreises«, deren »Gruppenstruktur« sowie die »gemeinsame Ziel- und Aufgabenstellung [...] als Grundlage für die Existenz der Gruppe« im Mittelpunkt des Interesses. 301 Auch die Umschreibung »Opposition« fand hier ihre Verwendung. Der im Operativ-Vorgang »Tonsur« erfasste Pfarrdiakon hätte gleich »mehrfach«, so Winfried Petz, die »Auffassung« geäußert, dass er die »Kirche als einen Faktor« betrachte, der eine »Opposition in der DDR darstellen muß«. 302 Während des Ost-West-Treffens am 6. April 1981 in Ost-Berlin diskutiert man darüber, ob es in der DDR nicht möglich sein müsse, nach dem »Vorbild« Polens »zur Durchsetzung der Rechte« eigene Gruppen zu bilden. 303 Konkret ging es um das Demonstrationsrecht und das zur Gründung freier Gewerkschaften. 3.3.2 »Schutzdach« der Kirche? Anmeldepflicht, Verbote und Ordnungsstrafen für nichtreligiöse Veranstaltungen im Pfarrhaus Ab den späten siebziger Jahren entstanden in der DDR »sozialethische Gruppen«. 304 Der Erfolg dieses »Modells« blieb eng mit dem kirchliche »Schutzraum« verbunden. Er bildete für die Gruppenfindungsprozesse und die ersten politischen Aktivitäten einen »save harbour«, den es andernorts in der DDR in 298 Ebenda, Bl. 73, 75, 89. 299 Ebenda, Bl. 78. 300 Dettenborn, Harry; Fröhlich, Hans-H.: Psychologische Probleme der Täterpersönlichkeit. Berlin (Ost) 1971. 301 MfS, Juristische Hochschule, 18. HSFL Lehrgang, Diplomarbeit, Thema: Die Entwicklung von Voraussetzungen für eine operativ nutzbare Methodik zur Analyse operativ interessierender sozialer Beziehungen zwischen feindlich negativen Jugendlichen und Jungerwachsenen in Gruppierungen/Gruppen, die in operativen Materialien, insbesondere OPK und OV bearbeitet werden, Autor: Oltn. Winfried Peltz, BV Rostock, KD Bad Doberan, Abschluß der Arbeit: 3.11.1982: BStU, MfS, JHS-Nr. 289/82, Bl. 3, 12, 13, 14. 302 Ebenda, Bl. 71. 303 Ebenda, Bl. 76. 304 Rothe, Aribert: Bildungsbürger und alternative Protestanten. Hintergründe des gesellschaftlichen Umbruches und Aufbruches in der DDR. In: Die Kirche. Evangelische Wochenzeitung, Nr. 43, 26.10, 1997, S. 3.

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dieser Form nicht gab. Zunehmend ab den endsiebziger Jahren fanden sich hier systemkritische Gruppen, die als Opposition gelten konnten. Unter dem »Dach der Kirche« führten sie vom Staat weitgehend ungehindert Diskussionen und Abstimmungsprozesse durch und vermochten von hier aus ihre Netzwerke aufzubauen. Dabei konnte der »Schutzraum«, über den die Kirche verfügte, keineswegs als Selbstverständlichkeit gelten. Lange Zeit blieb er zwischen Kirche und Staat umstritten. Bis in die siebziger – mitunter auch noch in den achtziger Jahren – wurde er infrage gestellt. Zugespitzt ließe sich so sagen, dass es ein »Schutzdach der Kirche«, wie häufig angenommen, per se nicht gab. Es wurde der in dieser Frage langfristig überforderten SED abgetrotzt. Der Prozess, in dessen Verlauf es zu den weitgehend freien Betätigungsmöglichkeiten in den Kirchen ab Anfang der achtziger Jahre kam, war so bereits Teil eines oppositionellen Aufbruchs, der wesentlich früher, schon in den sechziger Jahren begann. In diesem Punkt zeigen sich Parallelen zur Entwicklung in der Tschechoslowakei und im sowjetischen Baltikum auf, wo der Kampf um die Freiheit der kirchlichen Betätigung bereits Teil der entstehenden Bürgerrechtsbewegung war. 305 Deutlich wird dies an der Veranstaltungsordnung der DDR in ihren drei Ausführungen von 1951, 1970 und 1980. 306 Bis in die siebziger Jahre hinein gab es immer wieder Verbote und Ordnungsstrafen bis zu 500 Mark gegen Laienschauspielaufführungen. Dies selbst bei christlichen Inhalten. Die staatlichen Instanzen wurden mitunter auch aktiv, wenn Filme in Pfarrhäusern gezeigte werden sollten, so über Albert Schweizer. Gelegentlich gingen die Anmeldebehörden bis in die siebziger Jahre gegen kirchliche Gesprächskreise vor, die von Laien geleitet wurden oder in privaten Räumen stattfanden. Von den Restriktionen betroffen waren auch Faschingsfeiern der Jungen Gemeinde, selbst wenn man sich im Pfarrhaus traf. 307 Noch 1989 sprach man in Kühlungsborn gegen Pfarrer Matthias Burkhardt eine Ordnungsstrafe aus, weil dieser, wie es hieß, der Jungen Gemeinde gestattet hatte, im Gemeindehaus 305 Simon, Gerhard: Kirchen und Religionsgemeinschaften. In: Länderbericht Osteuropa. Sowjetunion. Hg. v. Koordinierungsausschuss deutscher Osteuropa-Institute. München 1974, S. 322– 329, hier 324. 306 Verordnung über die Anmeldepflicht von Veranstaltungen vom 29.3.1951. In: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Nr. 40, Berlin, den 7.4.1951, S. 231; Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen vom 26.11.1970. In: Gesetzblatt (ebenda), T. II, Nr. 10, Berlin, den 22.1.1971, S. 69–71; Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen (Veranstaltungsordnung – VAVO). In: Gesetzblatt (ebenda), T. I, Nr. 24, Berlin, den 15.8.1980, S. 235–236. 307 Giering, Achim: Die DDR-Veranstaltungsordnung als kirchenpolitisches Instrument am Beispiel eines Prozesses am Jahre 1962. Bernau 2003, S. 5–8; Vgl. zur Situation in der Evangelischlutherischen Landeskirche Mecklenburg: Herbstritt, Georg: Die Lageberichte der Deutschen Volkspolizei im Herbst 1989. Eine Chronik der Wende im Bezirk Neubrandenburg. Mit einem Anhang: Studie über das Verhältnis von Volkspolizei und Ministerium für Staatssicherheit dargestellt am Beispiel des Kampfes gegen die mecklenburgische Landeskirche 1945–1989. Schwerin 1998, S. 235– 281.

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am 3. Februar eine »Faschingsveranstaltung« auszurichten. 308 Die Abteilung Erlaubniswesen der Volkspolizei in Bad Doberan stellte im Nachgang fest, dass kein »Antrag [...] zur Erlaubniserteilung« für die »Faschings-Diskothek im Gemeindehaus« vorlag und leitet das Ordnungsstrafverfahren ein. 309 Während einer Vorladung beim Rat des Kreises am 20. Februar wiesen die OrtsFunktionäre den Pfarrer nochmals auf den »Wortlaut der VO [Verordnung]« hin. 310 Bei der Feier habe es sich demnach um eine anmeldepflichtige Veranstaltung gehandelt. Auch hier blieb, wie häufig bei der Umsetzung der Veranstaltungsordnung in der Praxis, der Unterschied zwischen Anmelde- und Erlaubnispflicht vage. Zwar galt laut der Verordnung von 1980 lediglich eine Anmeldpflicht für Veranstaltungen mit nicht »ausschließlich religiösem Charakter«. 311 Durch die Bestätigung derselben auf dem angefügten Formular erfuhr der Vorgang hingegen einen genehmigungsrechtlichen Charakter. Zwar kam es am 6. März 1978 zum Staat-Kirche-Gespräch. Die »Großwetterlage« in den Staat-Kirche-Beziehungen versprach sich aufzuhellen. Doch hielt der vom Berliner Bischof Albrecht Schönherr favorisierte »Burgfrieden« nur bedingt, was er versprach. Bezüglich der praktischen Umsetzung der Veranstaltungsverordnung vor Ort blieb die Entspannung häufig aus. Hingegen berichteten Pfarrer nach wie vor von Behinderungen, so über die Untersagung eines Orgelkonzertes in der Kirche in Neuenhagen bei Berlin. Drei Jahre nach dem Treffen von 1978 war, wie ein Vertreter des Referates Kirchenfragen in Frankfurt/Oder ausführte, »festzustellen, daß es unter den verantwortlichen Funktionären [...] und auch bei den Bürgermeistern unterschied[liche] Auffassung zur Durchführung solcher Orgelkonzert« gibt.312 Zu Verboten kam es jedoch nur noch in Einzelfälle. Sie konnten von den Pfarrern als lästige Reminiszenzen der fünfziger und sechziger Jahre abgetan werden, in denen Verbote und Ordnungsstrafen an der Tagesordnung waren. Der Wandel im Veranstaltungsrecht kann als ein Erfolg der vor Ort tätigen Pfarrer bewertet werden. Er ging zurück auf die Eloquenz einer Reihe von 308 Volkspolizei-Kreisamt Bad Doberan, Offz. Erlaubniswesen, Protokoll zur Faschingsveranstaltung der Kirchgemeinde Rostock-Land Gemeindehaus in Kühlungsborn, W.-Pieck-Str. 128, Bad Doberan, 6.2.1989: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 3976/91, Bd. I, Bl. 169 f. 309 Ebenda, Bl. 170 sowie Volkspolizei-Kreisamt Bad Doberan, Offz. Erlaubniswesen, Protokoll zur Aussprache mit dem Pastor Burkhardt, Evangelische Kirchgemeinde Kühlungsborn, zur Durchführung von Veranstaltungen im Gemeindehaus Kühlungsborn, W.-Pieck-Str. 128: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 3976/91, Bd. I, Bl. 171. 310 Rat des Kreises Bad Doberan, Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres, Aktennotiz, Bad Doberan, 28.2.1989: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 3976/91, Bd. I, Bl. 177. 311 Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen (Veranstaltungsverordnung – VAVO) vom 30.6.1980. In: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Teil I, Nr. 24, Berlin, den 15.8.1980, S. 69–74, hier 71. 312 Schreiben Rat des Kreises Strausberg, Ref. Kirchenfragen, an den Rat des Bezirkes Frankfurt/Oder, Sektor Kirchenfragen, betr: Zur Klärung der Fragen Orgelkonzert in Neuenhagen, Strausberg 22.4.1981, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep. 601, Nr. 23495, o. Pag.

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Gemeinden, die sich in den vorangehenden drei Jahrzehnten wiederholt weigerten (oder es absichtlich versäumten) anmeldepflichtige Veranstaltungen anzumelden, Ordnungsstrafen in Kauf nahmen und es zum Prozess vor den Kreisgerichten kommen ließen. Die dadurch verursachte Unruhe wurde der um ihre internationale Reputation ringenden und an einer innerpolitischen Beruhigung interessierten DDR langfristig zur Bürde. Wiederholt hatte Formfehler den Ordnungsstrafen den Boden entzogen – so, weil man vor Ort nicht zwischen dem Veranstalter und dem Veranstaltungsakteur zu unterscheiden wusste. 313 Auch die Novellierung der »Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen (Veranstaltungsordnung – VAVO)« vom 30. Juni 1980 führte anfangs nur bedingt zu einer Lockerung. Unklare Formulierungen, die der Willkür Vorschub leisteten, fanden sich auch hier. Unter den sich verändernden Gegebenheiten eröffneten sich aber auch neue Spielräume. So fehlte in der Verordnung eine konkrete Auflistung, welche Betätigungsformen als rein religiöse Veranstaltungen anzusehen seien. Zugleich durften nun Laien als »Leiter von [...] nicht anmeldpflichtigen Veranstaltungen« in Erscheinung treten. 314 Angesichts der nun entstehenden Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen kam dem bald eine wichtige Bedeutung zu. Die Verordnung wurde nicht mehr in der lange Zeit üblichen restriktiven Form angewandt. Dennoch versuchten die staatlichen Stellen in den folgenden Jahren, mit dem Verweis auf die Veranstaltungsordnung von ihnen beargwöhnte Treffen und Seminare zu unterbinden. So stellte man das vom Rostocker Ökologiekreis 1984 geplanten Umweltseminar »Wir sägen an dem Ast, auf dem wir sitzen« in der Johanniskirche infrage. Wie die Abhörspezialisten der Staatssicherheit am Telefon des evangelischen Bischofs, Heinrich Rathke, in Schwerin mithörten, unternahm Roland Macht, der Referent für Kirchenfragen beim Rat des Bezirkes Rostock, am 22. Februar 1984 einen diesbezüglichen Vorstoß. 315 Da das Umweltseminar nicht religiöser Natur sei, schließlich würde hier über die »Kernkraft« debattiert, wäre die Veranstaltung »meldepflichtig, auch wenn sie in der Johanniskirche stattfinden sollte«. Zugleich stand für Roland Macht außer Zweifel, wie ein Bescheid, wenn um die Genehmigung nachgesucht werden würde, ausfallen müsste. Die Abteilung Erlaubniswesen der Volkspolizei und »andere staatliche Organe« hätten ihn bereits »dringend [darauf] aufmerksam gemacht, daß diese Veranstaltung nicht stattfinden kann«. Es gehe schließlich nicht an, so Macht, »daß die Kirche [...]

313 Giering, Achim: Die DDR-Veranstaltungsordnung als kirchenpolitisches Instrument am Beispiel eines Prozesses am Jahre 1962. Bernau 2003, S. 5–8. 314 Ebenda, S. 4. 315 MfS, BV Schwerin, Abt. 26/4, Nachricht an die BV Rostock, Abt. XX/4, Information A vom 22.02.1984, Bd. 730, Schwerin, 23.2.1984: BStU, MfS. BV Rostock, AOP 252/87, Bd. I, Bl. 124– 127, hier 124 f.

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[für] jede beliebige Veranstaltung zur Verfügung steht«. 316 Bischof Rathke reagierte zwar freundlich. Kühl und reserviert bat er zugleich um Zeit, um sich konsultieren zu können. 317 Bei seiner Nachfrage beim Pfarrer der Johannisgemeinde erfuhr er, dass jener nicht genau zu sagen wusste, was der Umweltkreis im Einzelnen plane. 318 Rathke kritisierte zunächst die Unbekümmertheit des Pfarrers. Zugleich stellte sich Rathke auf die Seite der Umweltaktivisten: Bei der Umwelt handele es sich wie bei der Atomkraft um ein die Kirche interessierendes Thema, was, so Rathke, in den Gesprächen mit dem Staat entsprechend herausgestellt werden müsste. Sorgfalt einerseits und eine Abgrenzung gegenüber den staatlichen Begehrlichkeiten andererseits seien hier unerlässlich. Sonst, so Rathke weiter, würde der Staat, wenn sich ihm einmal die Gelegenheit böte, demnächst »überall die Schrauben anziehen«. 319 Schließlich kam es auf Einladung von Roland Macht am 24. Februar zu einer »Aussprache« zwischen ihm und dem Pfarrer der Johanniskirche. Zwar kam Macht nicht umhin, zu konstatieren, dass die Kirche trotz aller Ermahnungen ihrer Meldepflicht »bei der Arbeitsgruppe – E – VPKA Rostock [...] nicht nachgekommen« sei. 320 Andererseits ließ es sich der Kirchenreferent beim Rat des Bezirkes nicht nehmen, sein »Einverständnis zur Durchführung dieser Veranstaltung« als Zeichen des guten Willens und der »Großzügigkeit unseres Staates gegenüber der Kirche« anzupreisen. 321 In der Praxis zeitigte das jahrzehntelange Bemühen um die Erweiterung der kirchlichen Freiräume Erfolge. Sie mündeten in den achtziger Jahren innerhalb weniger Jahre in einem Zustand, der Außenstehende zu der Ansicht verleitete, dass in der Kirche so gut wie alles möglich sei. Dies war nicht zuletzt auch ein Verdienst der Gemeindepfarrer, die die geltende Regelung seit Jahren ausgetestet und zum Teil unterlaufen hatten. Nicht zuletzt aus dieser Erfahrung heraus hielt sich in Teilen der Kirche das Bewusstsein, Bestandteil einer Institution zu sein, die um ihre Freiräume zu kämpfen wusste. Es etablierte sich eine Kultur und Praxis, die die gegebenen Handlungsräume hinterfragte. Auch zukünftig sollten diese daher erweitert werden. Die SEDAdministratoren vor Ort hatten die Pfarrer durch Willkür gepaart mit Inkonsequenz und vermeintlicher Großzügigkeit an diesen Zustand gewöhnt. Nicht wenige Pfarrer meinten so, dass es oft sinnvoll sei, die Reglementierungen erst einmal zu ignorieren und gegebenenfalls zu umgehen. Seitens der SED konsta316 Ebenda, Bl. 124. 317 Ebenda, Bl. 125. 318 Ebenda, Bl. 126 f. 319 Ebenda, Bl. 127. 320 Volkspolizei-Kreisamt Rostock, AG Erlaubniswesen, an die Kreisdienststelle des MfS, Genosse Stiehler, betr.: Winterseminar in der Johanniskirche Wochenende vom 24.2. bis 26.2.1984, Rostock, 25.2.1984: BStU, MfS. BV Rostock, AOP 252/87, Bd. I, Bl. 128. 321 Ebenda.

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tierte man dementsprechend, dass von Gemeinde- und Jugendpfarrern immer »›neue Formen‹ kirchlicher Veranstaltungen ›erprobt‹ würden«. 322 Dies gelte, so die SED in ihrem Befund, vor allem »für Veranstaltungen mit politisch negativem Charakter«. Weiter hieß es: »Durch diese ›Öffnung‹« erhielten »bestimmte Veranstaltungen [...] eine sich verstärkende Massenwirksamkeit insbesondere unter der Jugend«. 323 Dies kam nicht zuletzt den Gruppen unter dem »Dach der Kirche« zugute. Hinzu kam die Eloquenz einzelner mit ihnen sympathisierenden kirchlicher Mitarbeiter, Diakone und Pfarrer. Doch auch noch in den späten achtziger Jahren gab es Versuche, den einmal errungenen Freiraum wieder infrage zu stellen. Im Frühjahr 1988 stellte der Staat in Kühlungsborn das von der Kirche eingeforderte Recht, selbst über die inhaltliche Ausgestaltung seiner öffentlichen Präsenz zu bestimmen, abermals infrage. Es kam zum Konflikt um den kirchlichen Schaukasten. Auseinandersetzungen dieser Art waren hinlänglich bekannt: Bereits in den fünfziger Jahren ging der Staat gegen die kirchliche Öffentlichkeitsarbeit vor und stellte das »Schutzdach der Kirche« infrage. In den fünfziger Jahren waren es vor allem die Schaukästen der Jungen Gemeinde, die allein ihrer Existenz wegen den Missmut des Staates hervorriefen. In den sechziger und siebziger Jahren führten vor allem unkonventionelle Schaukastengestaltungen zum Konflikt mit dem Staat. Lokale SED-Funktionäre, die Volkspolizei und das MfS betrachteten die mühsam verteidigten Schaukästen als häufig ein Ärgernis. Grundsätzlich galten sie als neuralgische Punkte der erhöhten staatlichen Kontrolltätigkeit. An ihnen überschritt die kirchliche Arbeit – und sei es in Form von Veranstaltungsankündigungen – den den Gemeinden zugewiesenen Raum. Die Kirche stellte hier Öffentlichkeit her. Am 5. März 1988, um zwei Uhr nachts, meldeten, wie es aus der Operativinformation des Staatssicherheitsdienstes hervorgeht, »Kräfte der Schutzpolizei während der Streifentätigkeit« in Kühlungsborn-West dem Objektdiensthabenden des Volkspolizeikreisamtes Bad Doberan ein schwerwiegendes Vorkommnis. 324 Im Schaukasten des evangelischen Gemeindehauses hatte man mehrere Plakate mit »provokativen Inhalt« entdeckt. Zu sehen seien dort »eine Personengruppe mit [dem] Transparent ›Freiheit ist die Freiheit des Anderen‹, und eine Einzelperson mit [dem] Transparent ›Wir fordern Artikel 27‹«. 325 Bezug genommen wurde mit letzterem auf die laut DDR-Verfassung beste322 Staatssekretariats für Kirchenfragen, Bericht zur kirchenpolitischen Situation in Berlin, Hauptstadt der DDR, Februar/März 1982, Landesarchiv Berlin, C Rep. 104, Nr. 540, S. 4. 323 Ebenda. 324 MfS, BV Rostock, Gen. Generalmajor Mittag/ODH BV Rostock/Leiter Abteilung XX, Operativinformation über die Feststellung eines operativ-bedeutsamen Plakates in einem öffentlichen kirchlichen Schaukasten, ohne Datum, Eingangsstempel 5.3.1988, angegebene Uhrzeit 12.50 Uhr: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 3976/91, Bd. I, Bl. 47 f. 325 Ebenda.

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hende Meinungsfreiheit. 326 Die Volkspolizisten erkannt auf den Zeichnungen weiterhin »Gitterstäbe und ein Schloß«, »Menschen, die aufeinander einschlagen, um eine Demonstration aufzulösen«, einen erhängten Menschen an einer Wohnzimmerlampe, »ein Rohr aus dem Gülle fließt«, einen »Soldat[en] mit Stahlhelm« sowie »eine Einzelperson an einem Tisch in einem völlig verwüsteten Zimmer ratlos sitzend«. 327 Aufgrund der »schlechten Sichtverhältnisse« zu später Stunde, begünstigt durch die schlechte Straßenbeleuchtung und den nicht immer leicht zu entschlüsselnden Bilder, entschied man, die Dämmerung abzuwarten. Kurz nach Sonnenaufgang wurde ein »Operativer Mitarbeiter« der Volkspolizei nach Kühlungsborn beordert, um den Schaukasten in Augenschein zu nehmen. Mittags legte die MfS-Bezirksverwaltung dann ihren »Maßnahmenplan« zum weiteren Vorgehen vor: Die Plakate wären »unverzüglich aus dem Schaukasten zu entfernen«. 328 Später stellte sich heraus, dass es sich bei einem Teil der Zeichnungen um die Passionsmeditation der örtlichen Schaukastengruppe handelte. 329 Andere Bilder bezogen sich offensichtlich auf die Inhaftierungen am Rande der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Frühjahr 1988 in Ost-Berlin. Noch am selben Tage wurde der Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres, Fischer, als der mit Kirchenfragen Beauftragte des Rates des Kreises, eingeschaltet. In »Abstimmung mit der Abteilung XX der BV Rostock« 330 fuhr er am Spätnachmittag zum Pfarrer und wurde vorstellig. Pfarrer Burkhardt zeigte sich erstaunt angesichts der Forderung, die Plakate »unbedingt [...] mit aller Entschiedenheit« zu entfernen. Schließlich, so Matthias Burkhardt, hingen die Plakate unbeanstandet »schon mindestens 3 bis 4 Wochen im Kasten«. Bislang hatte sich noch niemand an ihnen gestört. Drei Stunden später meldete Fischer an die Bezirksverwaltung mündlich Vollzug in der Sache: Angesichts des auf ihn ausgeübten Drucks und der Drohung mit der Veranstaltungsordnung erklärte sich der Pfarrer bereit, »die Darstel-

326 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974 (GBl. I, Nr. 47, S. 432). In: Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik und Jugendgesetz. 3. Aufl., Berlin (Ost)1977, S. 20, § 27. 327 MfS, BV Rostock, Gen. Generalmajor Mittag/ODH BV Rostock/Leiter Abteilung XX, Operativinformation über die Feststellung eines operativ-bedeutsamen Plakates in einem öffentlichen kirchlichen Schaukasten, ohne Datum, Eingangsstempel 5.3.1988, angegebene Uhrzeit 12.50 Uhr: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 3976/91, Bd. I, Bl. 47 f. 328 Ebenda. 329 Rat des Kreises Bad Doberan, Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres, Aktennotiz über ein Gespräch mit Pastor Burghardt, Kühlungsborn am 5.3.1988, Bad Doberan, 7.3.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 3976/91, Bd. I, Bl. 46. 330 MfS, BV Rostock, Gen. Generalmajor Mittag/ODH BV Rostock/Leiter Abteilung XX, Operativinformation über die Feststellung eines operativ-bedeutsamen Plakates in einem öffentlichen kirchlichen Schaukasten, ohne Datum, Eingangsstempel 5.3.1988, angegebene Uhrzeit 12.50 Uhr: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 3976/91, Bd. I, Bl. 47 f.

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lungen [zu] entfernen«. 331 »Erl[edigt]« vermerkte die Auswertungs- und Kontrollgruppe der MfS-Bezirksverwaltung auf der ihr vom Stellvertreter für Inneres zugesandten Gesprächszusammenfassung. Anschließend heftete man sie in der neuangelegten Operativen-Personenkontrolle »Fuchs«, mit der Pfarrer bespitzelt wurde, ab. 332 Bei alledem handelte es sich um keinen Einzelfall: Im Januar 1989 nahm die Stasi-Bezirksverwaltung Anstoß an einer »nichtgenehmigten Veranstaltung am 31.12.1988 in den Räumen der ESG Greifswald«, die vom evangelischen Studentenpfarrer Arndt Noack und einem Ausreiseantragsteller organisiert worden war. 333 Bei der Silvesterfeier der kirchlichen Studenten und Ausreiseantragsteller gelangten auch politische Fragen zur Sprache. Wie sich Arndt Noack erinnert, hatten »ehemalige Studenten mit gestelltem ›Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft‹« die Feier organisiert. Als Studentenpfarrer plädierte Noack dafür, »dass Kirche in dieser Zeit auch Verantwortung für diese an den Rand der Gesellschaft gedrängte Gruppe hat.« 334 Im Weiteren beflügelte die Uneinigkeit auf kirchlicher Seite das restriktive Vorgehen. Hinzu kam die Kooperationsbereitschaft des Greifswalder Bischofs mit den staatlichen Stellen. So untersagte zunächst das Konsistorium von sich aus die Veranstaltung. In einer Aussprache am 5. Januar forderten die Oberkonsistorialräte Hans-Martin Harder und Siegfried Plath 335 vom Studentenpfarrer, zukünftig die Veranstaltungsordnung zu akzeptieren und drohten ihm mit einem Verweis. Noack zeigte sich hingegen unbeeindruckt: Wie das MfS aus zuverlässiger Quelle erfuhr, »vertrat er hartnäckig die Position, daß die ESG über ihre Räume ohne Einschränkungen [...] verfügen müsse«. 336 331 Rat des Kreises Bad Doberan, Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres, Aktennotiz über ein Gespräch mit Pastor Burghardt, Kühlungsborn am 5.3.1988, Bad Doberan, 7.3.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 3976/91, Bd. I, Bl. 46. 332 Ebenda. 333 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Schreiben an MfS Berlin, HA XX/4, Leiter, betr. Ergänzung zum FS 1082 vom 3.1.89 an den Leiter der HA XX zum geplanten Ordnungsstrafverfahren gegen den Studentenpfarrer Arndt Noack, Greifswald, Rostock, 10.1.1989: BStU, MfS, BV Rostock, Abteilung XX, Nr. 594, Bl. 251. 334 Noack, Arndt: Studentenpfarrer in der Zeit der Wende. In: Nitzsche, Raimund; Glöckner, Konrad (Hg): Geistige Heimat ESG. In Freiheit leben aus gutem Grund. Erinnerungen an 60 Jahre Evangelische Studentengemeinde in Greifswald. Greifswald 2006, S. 217–226, hier 224. 335 Zu Siegfried Plath und Hans-Martin Harder: Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 214. Lediglich zu Siegfried Plath: Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der EvangelischLutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 230. Zudem: »Kein Disziplinarverfahren gegen Harder. Beurlaubung des Greifswalder Konsistorialpräsidenten aufgehoben«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 13, 16.1.1993, S. 4; Schmoll, Heike: Plath in den Wartestand versetzt. Fast 30 Jahre lang als IM tätig. In: (ebenda), Nr. 44, 22.2.1993, S. 4. 336 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Schreiben an MfS Berlin, HA XX/4, Leiter, betr. Ergänzung zum FS 1082 vom 3.1.89 an den Leiter der HA XX zum geplanten Ordnungsstrafverfahren gegen den

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Aufgrund der »Uneinigkeit im Kollegium des Konsistoriums« sollte der Verweis schließlich nicht ausgesprochen werden. Die staatliche Antwort hingegen ließ nicht lange auf sich warten. Sie folgte noch am selbigen Tage: Am 5. Januar 1989 verhängte die Volkspolizei im Auftrag des Staatssicherheitsdienstes gegen Arndt Noack eine Geldstrafe von 300 und gegen den mitbeteiligten Ausreiseantragsteller von 500 Mark. 337 Zuvor war Bischof Horst Gienke vorsorglich in Kenntnis gesetzt worden. Gienke erhob keinen Einspruch. Laut Protokollnotiz des Staatssicherheitsdienstes, der sich hiermit auf eine Äußerung aus dem Konsistorium gegenüber dem Rat des Bezirkes bezog, wurde das Ordnungsstrafverfahren »befürwortete«. Es sei »aus ihrer Sicht« gerechtfertigt, sei aus dem Kreis Gienke, Harder und Plath zu vernehmen gewesen, damit der umtriebige Studentenpfarrer »einen Denkzettel« erhält. Schon seit Längerem belaste er mit seinen Aktivitäten das Verhältnis zwischen Staat und Kirche. 338 Noack hatte bei der Ordnungsstrafe das Gefühl, schrieb er rückblickend, »dass sie zwischen Staat und Kirche abgesprochen worden war«. 339 Horst Gienke, so Pfarrer Oswald Wutzke aus Gartz an der Oder in seiner fundamentalen Kritik vor der pommerschen Synode in Züssow am 2./3. November 1989, desertierte nicht nur aus Amt des Oberhirten und ließ »die Gemeinden [...] im Alltag mit [...] [ihren] Problemen, mit der Resignation, der Verzweiflung [...] allein«. 340 Zugleich sorgte er sich, so Wutzke weiter, um den Burgfrieden mit dem Staat. Um diesen zu erlangen, wollte er »nicht, daß die Stimmen der Kritik an die Ohren der staatlichen Organe kamen«. Kollegiale Solidarität sähe, wie es Pfarrer Oswald Wutzke in seinen Abwahlanträgen gegen Horst Gienke, Siegfried Plath und Hans-Martin Harder auf der Synode hervorhob, in der Tat anders aus. 341 Grade an diesen Beispiel zeigt sich, dass der Freiraum, den die Kirche für sich erkämpfte und den die Gruppen in den achtziger Jahren nutzen, nur unter einer bestimmten Bedingung dem Staat abgetrotzt werden konnte. Entscheidend war, dass in weiten Teilen der Kirche seit den fünfziger Jahren ein Grundkonsens darüber bestand, dass die Gemeinden sich mit den Behinderungen bei der Durchführung von Veranstaltungen, in der Öffentlichkeitsarbeit und beim Druck kirchlicher Veröffentlichungen nicht zufrieden geben würden. Einig waren sich viele Pfarrer, Diakone und Kirchenleitungsmitglieder darin, dass sie sich das, was ihnen hier verwehrt wurde, notfalls, und wenn Studentenpfarrer Arndt Noack, Greifswald, Rostock, 10.1.1989: BStU, MfS, BV Rostock, Abteilung XX, Nr. 594, Bl. 251. 337 Ebenda. 338 Ebenda. 339 Noack, Arndt: Studentenpfarrer in der Zeit der Wende. In: Nitzsche, Raimund; Glöckner, Konrad (Hg): Geistige Heimat ESG. In Freiheit leben aus gutem Grund. Erinnerungen an 60 Jahre Evangelische Studentengemeinde in Greifswald. Greifswald 2006, S. 217–226, hier 224. 340 Garbe, Irmfried: Die Bischofsfrage in der Greifswalder Landeskirche 1989. Zwei Dokumente der damaligen Herbstsynode. In: Zr. 13 (2009) 2, S. 49–61, hier 56. 341 Ebenda.

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sich die Gelegenheit hierzu ergab, nehmen würden. Dies auch unter dem Risiko von Verwarnungen und Ordnungsstrafen. Horst Gienkes Kollaboration blieb dabei erfreulicherweise eine der wenigen Ausnahmen. 3.3.3 Politische Gegnerschaft und Opposition unter dem »Dach der Kirche« Die »sozialethischen Gruppen« besetzten »keineswegs nur«, wie Aribert Rothe betonte, aus taktischen Gründen den Freiraum innerhalb der Kirche. Ein Teil der Gruppenmitglieder war, so Aribert Rothe weiter, geprägt durch eine »innere Nähe zu Kirche und christlichem Glauben«, verband Christsein und gesellschaftliches Engagement in seinem Tun und leitete den Widerspruch gegen das Regime aus christlich-ethischen Überzeugungen ab. 342 Ihr gesellschaftlichpolitisches Engagement reichte bewusst gewollt weit über den Raum der Kirche hinaus. Zusammen mit einigen wenigen Vertretern aus dem »Kreis protestantischer Bildungsbürger« und gemeinsam mit »alternativ eingestellten Protestanten« sowie einzelnen Pfarrern bildeten die oppositionell ausgerichteten Gruppen ein Konglomerat der besonderen Art. Ab Anfang der achtziger Jahre leiteten sie den Aufbruch zur Etablierung oppositioneller Strukturen ein. Hierzu kam es vor allem in den »größeren Städten«, in denen, wie Aribert Rothe in Anlehnung an Dieter Rink annimmt, der »›protestantische Rest des früheren bildungsbürgerlichen Milieus‹ zum Träger des progressiven Protestpotenzials in der DDR-Gesellschaft« aufstieg. 343 Doch ist dies zutreffend und auf die gesamte DDR so übertragbar? Korrekturen scheinen durchaus angebracht: Oppositionelle Bestrebungen gab es, wie der »Intelligenzclub« 1957 und der »Club der Intelligenz« 1961 in Rostock zeigten, schon frühzeitig. Und häufig vollzogen sich diese außerhalb der Kirche – wie bei den beiden angeführten Beispielen im Milieu der akademischtechnischen und künstlerischen Intelligenz. Wie anhand des ZOV »Prix« dargestellt wurde, gingen ab Ende der sechziger Jahre Regimegegner mit unterschiedlichen Überzeugungen aufeinander zu und überwanden ihre Ressenti342 Rothe, Aribert: Bildungsbürger und alternative Protestanten. Hintergründe des gesellschaftlichen Umbruches und Aufbruches in der DDR. In: Die Kirche. Evangelische Wochenzeitung, Nr. 43, 26.10, 1997, S. 3. 343 Ebenda sowie Rink, Dieter: Das Leipziger Alternativmilieu. Zwischen alten und neuen Eliten. In: Vester, Michael; Hofmann, Michael; Zierke, Irene (Hg.): Soziale Milieus in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Strukturen zwischen Zerfall und Neubildung. Köln 1995, S. 193–229, hier 199. Zum Bestand bildungsbürgerlicher Milieus im Bezirk Rostock: Brunner, Detlev: Stralsund. Eine Stadt im Systemwandel vom Ende des Kaiserreiches bis in die 1960er Jahre (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 80), München 2010; Matthiesen, Helge: Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich in Demokratie und Diktatur 1900–1990 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 122). Düsseldorf 2000.

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ments. Geeint in der gemeinsamen Haltung im Widerspruch gegen das Regime und um ihre Vereinzelung zu überwinden, bildeten sie, ähnlich wie zuvor Gegner des Nationalsozialismus nach einem oppositionellen Lernprozess Zirkel und, wie Peter Steinbach schreibt, Gesinnungsgemeinschaften. Wichtig war ebenso ihr gemeinsames Interesse an einer philosophischen Auseinandersetzung über die denkbaren Alternativen zur bestehenden Gesellschaft und, so Peter Steinbach weiter, das »Bemühen um eine geistige und moralische Erneuerung deutscher Politik«. 344 Jenes Muster oppositionellen Handelns fand sich, basierend auf einem entsprechenden Lernprozess, auch in der DDR wieder. In den siebziger Jahren wichen Regimegegner bei den oppositionellen Findungsprozessen und Gehversuchen, wie bei den Vorgängen rund um den OV »Michael« 1977, auch wenn die Betreffenden nicht unbedingt dem kirchlichen Milieu entstammten, verstärkt auf den kirchlichen Raum aus. Entscheidend hierfür waren nicht zuletzt die in Erzählungen tradierten Repressionserfahrungen, nach denen stets mit einem Fehlschlag der oppositionellen Bestrebungen, sofern sie öffentlich wurden und erst ihren Sinn erfüllten, in der DDR zu rechnen war. Entscheidend war auch keinesfalls die Größe der Stadt, wie mit Wismar und Greifswald zwei »Hochburgen« in Norddeutschland nahelegen. Mit 58 036 bzw. 68 113 Einwohnern im Jahre 1987 erwiesen sie sich als weitaus kleinere Oberzentren als zum Beispiel die Städte Cottbus mit 128 136, Dessau mit 103 831, Brandenburg/Havel mit 95 107, Frankfurt/Oder mit 87 123 oder Neubrandenburg mit 88 871 Einwohnern. 345 Zum anderen blieb das 344 Steinbach, Peter: Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Ders.; Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 323). Bonn 1994, S. 15–26, hier 16. 345 Statistisches Jahrbuch 1988 der Deutschen Demokratischen Republik. Hg. v. der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik. 33. Jg., Berlin (Ost) 1988, S. 9. In Brandenburg/Havel gab es ein vom Sozialdiakon Kuno Pagel mitbegründetes »Café Contakt« und ab 1988 einen Kreis der Wehrdienstverweigerer, der den Namen »Friedenskreis Weiße Taube« führte (Nach: MfS, HA XX/4, Aufstellung über Personenzusammenschlüsse, die politisch-operative Schwerpunkte darstellen, [rekonstruiertes Material, ohne Datum]: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 3687, Bl. 119–139, hier 122). In Neubrandenburg existierte ab Anfang der achtziger Jahre ein kirchlicher Friedenskreis, zunächst um Pfarrer Rabe, dann um Hennig Utpatel, Ulrich von Saß und Klaus Müller (Hierzu: Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 439–441. Nach den Ausführungen von Rahel Frank »erhielt die dortige Bezirksverwaltung erst 1986 einen Hinweis – von den Rostocker Kollegen – dass es diesen Kreis in der Stadt gäbe, konnte dies Information jedoch ihrerseits nicht bestätigen.«). In Cottbus bestand Anfang der achtziger Jahre eine Gruppe, deren Mitglieder zum Teil nach Protesten inhaftiert wurden. 1987 existierten nach den Erkenntnissen der HA XX in Cottbus ein »Ökologiekreis« und in Frankfurt/Oder eine »Jugendumweltgruppe«. Nach: MfS, HA XX/4, Einschätzung der Aktivitäten kirchlicher Ökologiegruppen, Berlin, 15.11.1987: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 3687, Bl. 72–79, hier 76. Ebenso verzeichnete eine Karte zu den »kirchlichen Umweltgruppen in der DDR der 80er Jahre« in Frankfurt/Oder und Cottbus »grünen Punkte«. Angegeben wurden auf dieser Karte aber auch die Wohnorte von »Einzelkämpfern«, so zum Beispiel Waren/Müritz (Hannes

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Protestpotenzial auch in den achtziger Jahren nicht auf den protestantisch geprägten Raum beschränkt. Zu den Faktoren, die die Herausbildung eines Unruhepotenzials vor Ort stärkten, zählten darüber hinaus größere Ausbildungseinrichtungen universitärer wie technischer Art und eine virulente alternative Jugendszene mit entsprechenden Anlauf- und Kristallisationspunkten. Dies waren zumeist Studenten- und Jazzclubs (Rostock) oder wie in Greifswald der Film-Club im Rubenow-Haus und der Amateur(experimental)filmzirkel, den die MfS-Kreisdienststelle »in den Räumlichkeiten des Stadtkabinetts für Kulturarbeit« lokalisierte. 346 Präsentiert wurden hier die mit Super-8-Kameras gedrehten Amateurfilmstreifen »Massaker« und »Rotkäppchen«, wobei sich letzterer, wie Oberleutnant Migge vom Spitzel »Erich Fried« erfuhr, »in ulkhafter Manier« über das »Volkskunstaufgebot des XI. Parteitages« lustig machte. 347 Hinzu kam in Greifswald die 1980 im Studentenklub »Kiste« im Anschluss an einen »Schallplattenabend« über Joe Zawinuls und Wayne Shorters »Weather Report« gegründete Arbeitsgruppe Jazz. Im Juli 1981 lud sie erstmals in die Klosterruine Eldena zu den dann jährlich stattfindenden »Eldenaer Jazz Evenings« ein. 348 Offiziell lautet ihre Bezeichnung »Arbeitsgruppe Jazz« beim Studentenklub »Kiste« der Hochschulgruppe der Freien Deutschen Jugend »Hans Beimler« der Ernst-Moritz-ArndtUniversität in Greifswald. Dies tat dem vermeintlich Suspekten, das dem Unternehmen von Beginn an anhaftete, keinen Abbruch. Es sorgte dafür, dass sich das Festival nicht wie beabsichtigt »Klosterjazz« nennen durfte. 349 Dies suggerierte eine gewisse Nähe zur Kirche. Obwohl das Kernkraftwerk Nord die »Eldenaer Jazz Evenings« im Rahmen seiner obligatorischen Kulturarbeit sponserte, bekannte der Sänger der Band »Klick und aus«, Thomas Rössler alias Tohm di Roes, während seines Auftritts im Sommer 1986 »nicht an die Segnungen der Atomkraft« glauben zu wollen. 350 Knapp) und Rambow (Eckart Hübener). In: Beleites, Michael: Pflanzzeit. Die kirchliche Umweltbewegung in der DDR. Impulse und Wirkungen. Wittenberg 1998, S. 7. 346 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Abschlussbericht zum Operativ-Vorgang »Sammler«, Bearbeitungsrichtung § 106 StGB, Greifswald, 5.10.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2430/87, Bd. I, Bl. 336–342, hier 337, 340; MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Information über die Jubiläums- und Informationsveranstaltung des Greifswalder Experimentalfilmzirkels, Greifswald, 19.1.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2430/87, Bd. I, Bl. 229 f. 347 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Ref. 2, Oberleutnant Migge, Bericht des IME »Erich Fried« am 14.11.1986, Greifswald, 14.11.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2430/87, Bd. I, Bl. 183. 348 Braune, Tilo: »Das sanfte Jazzfestival von der Küste«. 30 Jahre »Eldenaer Jazz Evenings«. In: Zr. 15 (2011) 1, S. 63–69, hier 63. 349 Ebenda, Bl. 67. 350 Ebenda. Vgl. hierzu auch: Löser, Claus: Strategien der Verweigerung. Untersuchungen zum politisch-ästhetischen Gestus unangepasster filmischer Artikulationen in der Spätphase der DDR. Berlin 2011, S. 365–372.

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Aber auch Hoffeste und Partys erschienen dem MfS in Greifswald suspekt: Während einer seiner in der Alternativ-Szene als legendär geltenden DiaVorträge bediente sich der vierundzwanzigjährige Robert Conrad nach Ansicht der Kreisdienststelle eines besonders perfiden Mittels, um seine Intension umzusetzen. Auf einer »Veranstaltung der Arbeitsgruppe Jazz am 16.1.86 im Caspar-David-Friedrich-Haus« beließ er, wie man analytisch scharfsinnig erkannt zu haben glaubte, die Dias »mit negativen gesellschaftlichen Aussagen [...] länger [als andere] im Projektor [...], um sie offensichtlich länger und eindeutiger auf die Zuschauer wirken zu lassen«. 351 Eine ebensolche Rolle spielten Wohnungsbesetzungen, wobei hier wiederum Greifswald 352 und Rostock mit der östlichen Altstadt rund um die Petrikirche 353 sowie in einzelnen Fällen auch Wismar zu nennen sind. Wichtig waren auch jene Einflusspersonen, um die herum sich das kritische Potenzial, das zumeist aus Freundeskreisen hervorging, zu sammeln vermochte. Häufig fiel Studenten-, (Jugend-) Pfarrern, Diakonen und kirchlichen Mitarbeitern diese Rolle zu. So den Studentenpfarrern Egbert Lippold (OV »Begegnung«) 354 und Michael Möller (OV »Bote«) 355 aus Wismar, Christoph Kleemann aus Rostock (OV »Luzifer«) 356, Harro Lucht (OV »Apostel«) und Arndt Noack aus Greifswald (OV »Pate«). Zu nennen wäre ferner der Pfarrer der Greifswalder Marienkirche, Reinhard Glöckner (OV »Missionar«). 357 Sein vom Staat als provokant gebrandmarktes Auftreten und sein systemkritisches Engagement in der Friedensarbeit sorgten sowohl bei der Ost-CDU, deren Mitglied er war, als auch der Stadtverordnetenversammlung, der er angehörte, für Irritationen. Hinzu kommen die Kreisjugendwarte Torsten Hennig und Johannes Düben in Stralsund (OV »Halbkreis« bzw. OV »Turm«) 358 und der Diakon Bernd Schröder in Greifswald (OV »Ableger«) sowie die Pfarrer Walther Bindemann (OV »Kanzel«) 359 und Arvid Schnauer (OV »Betreuer«) 360 in Rostock. Zur Integrationsfigur der unabhängigen Friedensgruppen wurde im mecklenburgischen Teil des Bezirks Rostock der Theologen Heiko 351 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Zwischenbericht zum Operativ-Vorgang »Sammler«, Greifswald, 25.6.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2430/87, Bd. I, Bl. 176–181, hier 178. 352 Vgl. hierzu: Conrad, Robert; Wohlrab, Lutz; Bernhardt, Martin: Zerfall & Abriß. Greifswald in den 1980er Jahren. 3. Aufl., Berlin 2002. 353 Körber, Harry: Im Keller schnarchte die Katze. Alternatives Altstadtleben vor der Wende. In: Ostpost. Das Magazin für die östliche Altstadt Rostocks, 10 (2010) 20, S. 16 f. 354 MfS, BV Schwerin, OV »Begegnung«, BStU, AOP 1317/85. 355 MfS, BV Rostock, OV »Bote«: BStU, MfS, AOP 1739/90. 356 MfS, BV Rostock, OV »Luzifer«: BStU, MfS, BV Rostock, Reg. I/460/81. 357 MfS, BV Rostock, OV »Missionar«: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1191/89. Reinhard Glöckner: 1989. Pfarrer, 56 Jahre. In: Mellies, Dirk; Möller, Frank (Hg.): Greifswald 1989. Zeitzeugen erinnern sich. Marburg 2009, S. 249–262. 358 MfS, BV Rostock, OV »Turm«: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2893/83. 359 MfS, BV Rostock, OV »Kanzel«: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 152/62. 360 MfS, BV Rostock, OV »Betreuer«: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1452/90.

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Lietz (OV »Hades«/OV »Zersetzer«) aus Güstrow. Er verdiente sich in den achtziger Jahren nach seinem Ausscheiden aus dem Pfarrdienst und zwischenzeitiger Arbeitslosigkeit sein Auskommen als Altenpfleger bei der Volkssolidarität und in kirchlichen Anstellungsverhältnissen. 361 Darüber hinaus gab es weitere Pfarrer, die sich engagierten. So der Stadtjugendpfarrer von Rostock (ab 1980), der in Evershagen tätige Pfarrer Joachim Gauck (OV »Larve«). 362 Als Vorsitzender des Kirchentagsausschusses der Lutherischen Landeskirche und Mitorganisator der Kirchentage in Rostock 1983 und 1988 363 kam ihm in der Hansestadt eine wichtige Rolle zu. Auch wenn manch einer sein dezidiertbürgerliches Auftreten als zu zurückhaltend empfand, so genoss er aufgrund seiner Beteiligung an den Friedensgottesdiensten seit 1982 in Rostock unter kirchlich-gebundenen Jugendlichen weitgehendes Vertrauen. 364 Trotz der unpopulären Kompromisse mit dem Staat in der Kirchentagsarbeit fand er immer wieder kritische Worte, die zeigten, auf wessen Seite er stand. Im Juni 1978 sprach sich Joachim Gauck in der Andreaskirche offen gegen die Wehrerziehung aus und forderte die anwesenden Eltern auf, ihre Kinder hiervon fernzuhalten. 365 Als Vorsitzender des Kirchentagsausschusses gab er im Mai 1988 seiner Entschlossenheit Ausdruck, »daß sich die evangelische Kirche von heute sich nicht mehr auf die Positionen der 50er Jahre zurückdrängen lasse, 361 Lietz, Heiko: Schlicht und gehaltvoll: das Friedensnetz. Erinnerung an das Informationsblatt der Friedensarbeit in der Landeskirche Mecklenburg. In: MPKZ, Nr. 42, 18.10.2009, S. 5; Wunnicke, Christoph: Die Mobilen Friedensseminare von 1981 bis 1989 in Mecklenburg. In: Zr. 5 (2001) 1, S. 30–39; Ders, »Mobile Friedensseminare«. Erinnerung an Politische Opposition im Norden der DDR. In: Zr. 4 (2000) 2, S. 54–56; Zu Heiko Lietz: Wer war wer in der DDR? Bd. 2, Berlin 2010, S. 798. 362 Zu Joachim Gauck: Wer war wer in der DDR? Bd. 1, Berlin 2010, S. 373 f.; Gauck, Joachim: Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen. München 2009. 363 In Rostock fanden 1976 (»Gottes Wege führen weiter«), 1983 (»Vertrauen wagen« im Rahmen des Lutherjubiläums) und 1988 Regionalkirchentage in Kooperation mit der pommerischen Kirche [offiziell dem Konsistorialbezirk Greifswald] statt. Hinzu kamen im Norden folgende Regionalkirchentage: Greifswald 1970, Stralsund 1974 (»... und ihr sollt auch leben«), Stralsund 1978 (»Auf der Suche nach Leben«). Landeskirchentage der pommerischen Kirche gab es zudem 1959 in Greifswald, 1962 in Stralsund und Pasewalk, 1964 in Greifswald, 1967 in Stralsund und 1970 in Greifswald. Zu den Regionalkirchentagen: Lent, Irmgard: Der Weg des Kirchentages in der DDR durch drei Jahrzehnte. In: Schröder, Otto; Peter, Hans-Detlef (Hg.): Vertrauen wagen. Evangelischer Kirchentag in der DDR, Berlin 1993, S. 159–197, hier 171–193. Zu den Landeskirchentagen: Weber, Hans-Joachim: Zwischen Ostsee und Oder. Bilder aus der Evangelischen Landeskirche Greifswald. 2. Aufl., Berlin (Ost)1973, S. 139. Zum Kirchentag 1978 in Stralsund: Wunnicke, Christoph: »Auf der Suche nach Leben«. Das MfS, die Westmedien, die CDU und auch ein wenig Friedensbewegung. Der Kirchentag in Stralsund vom 16. bis 18. Juni 1978. In: Zr. 8 (2004) 1, S. 72–76. 364 MfS, BV Rostock, Information Nr. 79/85 über einen sogenannten »Friedensgottesdienst« vom 25.10.1985 in der Heilig-Geist-Kirche Rostock, Rostock, 4.11.1985: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 501, T. 1, Bl. 68 f. 365 MfS, HA XX/4, Listen zu Personen, die unter Mißbrauch der Kirche eine unabhängige pazifistische Friedensbewegung in der DDR schaffen wollten (siehe Ministerbefehl vom 9./10.3.1982): BStU, MfS, HA XX/4 Nr. 132, Bl. 50.

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wie dies vom Staat gewünscht werde«. Die Kirche, so Gauck weiter, »müsse offen bleiben für die gesellschaftspolitischen Themen und Probleme.« 366 Während eines Friedensgottesdienstes der ESG in der Petrikirche 1982 schloss Joachim Gauck in seine Fürbitte jene mit ein, »die weiter als wir gegangen sind und etwaige Konsequenzen tragen«. 367 Bei der Eröffnung der Friedensdekade 1984 in Rostock kritisierte Gauck am 12. November zunächst die Ost-CDU: Dies sei »eine staatstragende Partei«, deren »Friedenspolitik [...] nicht seinen Vorstellungen« entspreche, da sie »nichts mit dem Friedensgebot von Jesus Christi zu tun« habe. Zugleich führte Gauck in seinen als »antisoz[ialistisch]« eingestuften Äußerungen aus, dass »es [...] Momente« gäbe, in denen man »antikommunistisch sein« müsse, es aber nicht sein darf. Trotz alledem sei er »antikommunistisch«. Er »lebe« so Gauck, »seit 1945 in einem diktatorischen Unterdrückungsstaat ohne demokratische Spuren mit stalinistischer Prägung«. Die »Mehrheit der anwesenden 60 Jugendlichen« zeigten sich von Gauck Äußerungen beeindruckt und erleichtert angesichts der deutlichen Worte. 368 Das MfS bewertet die Entwicklung, die sich ab Anfang der achtziger Jahre vollzog, unmissverständlich als »Parteinahme [...] kirchlicher Gremien und Personen für die politisch oppositionellen Kräfte«. 369 Durch die in ihrer Zahl zunehmend »indifferenten Erklärungen zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat« würden sich jene »Kräfte« ermutig sehen, die »›unter dem Schutzdach der Kirche‹« tätig werden wollten und dort »Gruppen mit klar erkennbarem oppositionellen Anspruch« etablierten. 370 Auch andere Dinge begünstigten den Prozess der Gruppenbildung: Eine alternative Kunstszene vor Ort ebenso wie kirchliche Pflegeeinrichtungen, die wie der Michaelshof in Rostock-Gehlsdorf jugendlichen Aussteigern eine Chance boten. Von Bedeutung war ebenso das Engagement von vor allem im medizinischen Bereich Tätigen und von Vertretern der technischen Intelligenz. 366 MfS, BV Rostock, Information Nr. 72/88 über die Vorbereitung des gemeinsamen Kirchentages 1988 in Rostock, Rostock, 24.5.1988: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 501, T. 1, Bl. 51– 56, hier 53. 367 MfS, BV Rostock, Information Nr. 17/82 über die bisher durchgeführten politisch rechtlichen Maßnahmen des MfS gegen feindlich-negative Kräfte, die unter dem Deckmantel des Eintretens für Frieden und Abrüstung in der DDR eine sogenannte staatlich unabhängige Friedensbewegung zu etablieren versuchen, Rostock, 6.5.1982: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 501, T. 1, Bl. 97–103, hier 103, sowie MfS, BV Rostock, Information Nr. 22/82 über Reaktionen und Auffassungen kirchlicher Kräfte nach der Einleitung von staatlichen Maßnahmen gegen den politischen Pazifismus: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 501, T. 1, Bl. 87–95, hier 91. 368 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Ref. III, Quelle »Sven Werder«, VSH-Meldung antisoz. Meinungsäußerung während der Friedensdekade, Rostock, 14.11.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2540/88, Bd. I, Bl. 72. 369 MfS, BV Rostock, Information Nr. 22/82 über Reaktionen und Auffassungen kirchlicher Kräfte nach der Einleitung von staatlichen Maßnahmen gegen den politischen Pazifismus, Rostock, 18.5.1982: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 501, T. 1, Bl. 87–95, hier 93. 370 Ebenda.

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Der Leiter der Rostocker Auswertungs- und Kontrollgruppe in der MfSBezirksverwaltung, Günter Oestreich, bezog sich in seinem Referat am 20. Dezember 1988 auf »22 Zusammenschlüsse feindlich-negativer Kräfte«, die an der Küste bestehen würden. Sechs davon wären Gruppen von Ausreiseantragstellern. Hinzu kamen einige von ihm im Referat nicht näher benannte »Zusammenschlüsse« mit nicht näher benannten Zielen. 371 Weiterhin gäbe es zwei Umweltkreise und fünf Friedenskreise. 372 Hierzu zählten in Rostock die Schalomgemeinschaft in der Christuskirche und der Friedenskreis Nordwest, die bereits seit Anfang November 1982 bzw. seit dem 6. Dezember 1982 bestanden. 373 In beiden Friedenskreisen kam Heiko Lietz eine zentrale Rolle zu. Ebenfalls seit September 1981 traf sich ein Friedenskreis und zudem seit 1983 ein Frauenfriedenskreis in der Rostocker Evangelischen Studentengemeinde. Letzterer fand sich regelmäßig in der Wohnung des Studentenpfarrers Christoph Kleemann bei dessen Frau ein. 374 Der Friedenskreis der ESG hingegen wurde vom Studentenpfarrer und dem Theologiestudenten Henning Utpatel (OV »Pazifist«) inhaltlich geprägt. 375 Ferner gründeten im September 1982 in Greifswald sieben Studenten innerhalb der ESG einen Friedenskreis. 376 An der Johanneskirche in Rostock existierte zugleich ein »Ökokreis«, der seit 1980 mit Baumpflanzaktionen 377 und Seminaren auf sich aufmerksam machte. Seit Ende 1987 gab es zudem das Ökumenische Zentrum Umwelt in Wismar. Günter Oestreich gab vor, zu wissen wie es sei, und berücksichtigte doch nicht alle der Bezirksverwaltung vorliegenden Erkenntnisse. Ansonsten hätte 371 Die Aussage blieb ohne Erläuterung: Möglicherweise rechnete er hierzu die Deutsche Panik Partei in Rostock (OV »Panik«), die Aussteiger- und Jugendszene in Greifswald, erfasst im OV »Sammler«, OV »Aussteiger« und OV »Stammtisch«, die verbotene Wachtturmgesellschaft der Zeugen Jehovas im Bezirk Rostock, eine Gruppe von Jugendlichen in Rostock, die sich in besetzten Wohnungen und im Literaturclub zu Diskussionen zusammenfand (OV »Sprecher«), die Besetzerszene in der östlichen Altstadt rund um die Petrikirche in Rostock und einzelne neofaschistische Kreise in Stralsund, Wolgast und Grimmen. Auszuschließen ist nicht, dass hierzu der Freundeskreis ehemaliger Stralsunder in der Bundesrepublik, der in Stralsund über enge Kontakt verfügt, oder auch die mit der Fritz-Reuter-Gesellschaft in Hamburg kooperierenden plattdeutschen Stammtische im Norden von ihm hinzugezählt wurden. Auch die sogenannte »Kellermafia«, eine informelles Netzwerk, das in den Gaststätten der Rostocker Altstadt vor allem unerlaubten kommerziellen Aktivitäten nachging, konnte hiermit gemeint sein. 372 MfS, BV Rostock, Ref. des Leiters der AKG auf der Dienstversammlung der AKG vom 20.12.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 52, Bd. 1, Bl. 55–65, hier 61. 373 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Bericht: Gründung des »Friedenskreises Nord-West« Rostock am 6.12.1982, Rostock, 15.12.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 192/91, Bd. I/1, Bl. 444. 374 Ministerium für Staatssicherheit, BV Rostock, Abteilung XX, Quelle: IMB »Torsten«, Rostock, 13.1.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90 Bd. II/3, Bl. 101–106. 375 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Abschrift des Tonbandberichtes des IMS »Heinz« vom 30.8.1981: BStU, MfS, BV Rostock, AIM, 192/91, Bd. I/1, Bl. 433–436. 376 BStU, MfS, HA IX, Nr. 4299, Bl. 166. 377 Beleites, Michael: Pflanzzeit. Die kirchliche Umweltbewegung in der DDR. Impulse und Wirkungen. Wittenberg 1998, S. 2.

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ihm nicht entgangen sein dürfen, dass es seit dem Dezember 1987 in Greifswald den »Ökologiekreis der evangelischen Stadtjugendarbeit« gab. 378 Mit einer »Protestbesichtigung« der technisch völlig veralteten und für Greifswald zu klein ausgelegten Kläranlage in Wampen machte der Ökologiekreis 1987 auf sich aufmerksam. Über die Anlage gelangten, wie das MfS einräumte, »Schwermetallbestandteile unbekannter Herkunft [...] aus den abwässernden Industriebetrieben« in den Bodden und führte »zu einer Verunreinigung« des Wassers. 379 Auch nicht im Referat erwähnte wurde der seit 1987 bestehende »Arbeitskreis Solidarische Kirche« in Rostock. 380 Keine Berücksichtigung fand zudem die im März 1986 »im Gemeindehaus der evangelischen Kirche in Grimmen [...] gegründete Ökologiegruppe«, über deren Gründung hinaus jedoch keine weiteren Meldungen vorlagen. 381 Bis zum Sommer 1989 kamen weitere Kreise hinzu. Das MfS sprach in diesem Zusammenhang abermals von »Formierungsbestrebungen feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Personen« oder auch vom »Wirksamwerden innerer feindlicher oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen« im Bezirk. 382 Eingeräumt werden sollte hiermit, was es nach den geläufigen Vorstellungen nicht zu geben hatte und anscheinend doch gab: Eine Opposition. Doch war so etwas überhaupt vorstellbar? Weder von den ideologischen Vorgaben noch von den institutionellen Gegebenheiten her ließen die Diktaturen im Ostblock, wie Klaus Schroeder schreibt, »prinzipiell [...] Raum für Opposition«. 383 Den Gruppen fehlten jene Entfaltungsmöglichkeiten, die als Handlungsvoraussetzung für die Opposition in den westlichen Staaten bestehen. Die Gruppen fanden sich zudem fernab 378 MfS, BV Rostock, Information Nr. 58/89 über Aspekte des Wirksamwerdens innerer feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen, Rostock, 4.7.1989: BStU, MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Nr. 210, Bl. 265–293, hier 268. 379 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Information Nr. 50/87 über Aktivitäten eines kirchlichen Ökologiearbeitskreises und zum Zustand der Kläranlage Wampen des VEB Wasserversorgung/Abwasserbehandlung Rostock, Betriebsteil 4, Greifswald, Greifswald, 4.12.1987: BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 108, T. 2, Bl. 490–492, hier 491. 380 MfS, BV Rostock, Information Nr. 101/87 über Reaktionen und Erscheinungen im Bezirk, die im Zusammenhang mit den Vorgängen um die Zionskirche ein Berlin stehen: BStU, MfS, AKG, Nr. 195, T. 1, Bl. 39–48, hier 44. 381 MfS, BV Rostock, KD Wolgast, Leiterinformation Nr. 19/86, Wolgast, 3.4.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 364/91, Bl. 93. 382 Ebenda sowie MfS, BV Rostock, Information Nr. 51/89 über Aspekte des Wirksamwerdens innerer feindlicher oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen: BStU, MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Nr. 210, Bl. 284–293. 383 Schroeder, Klaus: Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR. München 1998, S. 462. Vgl. auch hierzu: Eckert, Rainer: Widerstand und Opposition: Umstrittene Begriffe der deutschen Diktaturgeschichte. In: Neubert, Ehrhart; Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht. Ohnmacht. Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR (Analysen und Dokumente; 21), S. 27–36, hier 28.

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der Option, das Herrschaftsmonopol der kommunistischen Partei überwinden und somit – wie dann 1989 geschehen – »die Voraussetzung für ihre eigene legale Existenz herstellen« 384 zu können. Anders als in den westlichen Gesellschaften konnten daher kaum Effizienz und gesellschaftlicher Gestaltungsanspruch als Handlungsmotive gelten; als Ausgangspunkt fand sich hingegen immer wieder die Gewissensfrage. 385 Sie beinhaltete den Anspruch, wie der tschechische Dissident Václav Havel schrieb, in einer Gesellschaft voller Unwahrheiten mit anderen »in der Wahrheit [...] leben« 386 zu wollen. Verbunden blieb dies mit dem Motiv der Verantwortungsethik. Jene Opposition bestand im Dunstkreis der Illegalität und unter Verletzung der bestehenden Strafrechtsnormen. Ihre Existenz führt jenen politologischen Diskurs ad absurdum, nach denen es eine Opposition nur in nicht-diktatorisch verfassten Gesellschaften geben könne oder sich jene, so es sie doch gab, in der Diktatur stets »auf der Grundlage verbindlicher Normen und verbindlichen Rechts« betätigte. 387 Nach Ansicht des MfS handelte es sich sowieso um »gesetzeswidrigen Zusammenschlüsse«. Zugleich offenbarte ihr Auftreten ein Dilemma der kommunistischen Diktaturen in den späteren Jahren ihrer Existenz. Das nicht mehr zu leugnende Vorhandensein einer solchen Opposition führte die schleichenden Erschöpfungserscheinungen des System vor Augen. Nach wie vor war dessen Drohpotenzial real. Es fand seinen Ausdruck im geheimpolizeilichen Wirken und den Anklagen der Staatsanwaltschaften. Doch veränderte sich die Situation: Der Drang nach internationaler Anerkennung und wirtschaftlichem Vorankommen bewog das Regime, weniger offen vorzugehen. Zugleich verstanden die Gruppen es, kirchliche Räume und westliche Medien für sich zu nutzen und ihre Strategien der Situation jeweils kreativ anzupassen. Die tschechische Dissidentin Eva Kantůrková brachte dies im Untergrundblatt der Chartě 77 auf den Punkt, als sie 1986 schrieb, dass das System nicht mehr imstande wäre, die offene Diktatur durchzusetzen. Die Geheimpolizei wäre zwar nach wie vor in der Lage, die Dissidenten für eine gewisse Zeit zu inhaftieren und sie mit Repressalien zu überziehen. Doch könne man keinen der Inhaftierten wie in den fünfziger Jahren noch dauerhaft verschwinden lassen. Am Ende müsse er 384 Schroeder, Der SED-Staat (ebenda), S. 462. 385 Poppe, Ulrike: »Der Weg ist das Ziel«. Zum Selbstverständnis und der politischen Rolle oppositioneller Gruppen der achtziger Jahre. In: Dies.; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR (Forschungen zur DDR-Geschichte; 6), Berlin , 1995, S. 244–272. 386 In diesem Sinne ebenso der russische Schriftsteller und Dissident Alexander Solschenizyn: »Lebt nicht von Lügen!« Essay über die moralische Erneuerung Russlands 12. Februar 1974. In: Lautemann, Wolfgang; Schlenke, Manfred (Hg.): Geschichte in Quellen. Die Welt seit 1945. München 1980, S. 516–520. 387 Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 346). 2. Aufl., Bonn 2000, S. 29.

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wieder aus dem Gefängnis entlassen werden. 388 Unfreiwillig und nicht ohne einen Hauch von Tragikomik bestätigten gelegentlich selbst Gefolgsleute des Systems diesen Umstand. Sie beschwerten sich, dass nicht mehr entschlossen genug durchgegriffen werden würde. Erstaunt darüber, dass es in der DDR eine Opposition geben solle, zeigten sich mehrere »Mitarbeiter der Kaderabteilung [des] ZID [Zentrales Institut für Denkmalpflege] Karlsburg« im Kreis Greifswald. Den Anlass boten mehrere Meldungen in den DDR-Zeitungen im November 1987. Nach den Vorgängen in der Berliner Umweltbibliothek »zeigten« sich die Angestellten des Zentralen Instituts für Denkmalpflege verwundert darüber, »daß in der DDR das Drucken staatsfeindlicher Schriften möglich ist«. 389 Sie wären bisher der Ansicht gewesen, so die Zentralen Denkmalschützer weiter, »daß es in der DDR keinen politischen Untergrund oder eine Opposition« gäbe. 390 Nun wussten sie es besser. Zu den Gruppen, die sich bis zum Sommer 1989 im Bezirk Rostock fanden, zählten ein Friedens- und ein Umweltkreis in Stralsund. Letzterer schloss sich als Regionalgruppe dem Grün-Ökologischen Netzwerk Arche an. In Greifswald entstanden zudem der »Arbeitskreis für Frieden und Gerechtigkeit« und der Friedenskreis der Christuskirche sowie in Rostock die »Initiativgruppe ›Christsein im sozialistischen Alltag‹« und die Arbeitsgruppe »Gewaltfrei leben«. 391 3.3.4 Widerspruch und Opposition auf Landpartie Auch in weniger großen Orten und Landgemeinden kam es gelegentlich zu systemkritischen Veranstaltungen, Ausstellungen, Seminaren und Gruppengründungen. Als Anlauf- und Treffpunkte fungierten hier, neben einzelnen Wohnungen und Wochenendhäusern, vor allem die evangelischen Pfarrämter. Pfarrer Dieter Nath (erfasst vom MfS im OV »Kreis«) 392 begründete in Kessin bei Rostock im November 1981 zusammen mit Heiko Lietz einen Friedenskreis. Dieser lud zu einem über die Grenzen des Bezirkes hinaus bekannt ge-

388 Eva Kantůrková: O zdrojích nezávislosti našich aktivit. Informace o Chartě 77, 9 (1986) 8, S. 8–10, hier 10. 389 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Information Nr. 51/87 über die Reaktion der Bevölkerung auf die Ereignisse in der Zionskirche Berlin, Greifswald, 4.12.1987: BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 108, T. 2, Bl. 480–484, hier 483. 390 Ebenda. 391 MfS, BV Rostock, Information Nr. 58/89 über Aspekte des Wirksamwerdens innerer feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen, Rostock, 4.7.1989: BStU, MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Nr. 210, Bl. 265–293, hier 268 f. 392 MfS, BV Rostock, OV »Kreis«: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85.

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wordene Friedensseminar nach Kessin ein. 393 In Altefähr und Rambin, den ersten beiden Dörfern auf der Insel Rügen, fand sich ab Mai 1989 des Weiteren ein »Christlicher Arbeitskreis KSZE«. Zum festen Kern zählten der Rambiner Pfarrer Martin Stemmler 394, Pfarrer Bernd-Dietrich Krummacher und die Katechetin Sabine Düben aus Stralsund. An dem vom MfS im OV »Grund« erfassten, observierten und »bearbeiteten« Kreis beteiligten sich ferner zwanzig Ausreiseantragsteller aus dem nahen Stralsund, von denen zwei, um den Kreis zu verunsichern, am 10. Februar 1989 unter einem nichtigen Vorwand verhaftet wurden. 395 Zwar lagen Kessin und Altefähr im Umland größerer Städte. Mehrere Teilnehmer stammten von hier. Die Fahrt vor die Tore der Stadt erhielt hier eine eigene Funktion: Die Friedens- bzw. Menschenrechtsarbeit wurde hier, wie bei den Mobilen Friedenseminaren des Vipperower Kreises um Pfarrer Markus Meckel und Heiko Lietz seit 1982, 396 zur angenehmen, den Alltag unterbrechenden Landpartie. Verbunden war dies jeweils mit der Einkehr in Pfarrhäusern: Hier präsentierte man sich offen den Besuchern gegenüber und pflegte eine protestantische Diskussionskultur, die sich den Traditionen der Aufklärung verpflichtet sah. Unter den besonderen Bedingungen der DDR wurden die Pfarrhäuser zu Orten des Austausches und der Bewahrung einer andernorts verbannten Kultur. In Steffenshagen (mit Pfarrdiakon Hartmut Volmar, ab 1981 im OV »Tonsur« erfasst) 397 und im benachbarten Kühlungsborn 398 gab es vergleichbare Bestrebungen auf dem »platten Land«: Hier beschäftigte man sich neben Friedensfragen mit Umweltthemen und diskutierte während deutsch-deutscher Ost-West-Begegnungen über die Erziehungspolitik der DDR. In RibnitzDamgarten engagierten sich die Pfarrerin Astrid Gosch (OV »Club«) 399 und 393 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Quelle: IMB »Heinz«, Tonbandabschrift, Bericht: Sitzung des Kessiner Friedenskreises vom 26.4.1983, Rostock, 24.5.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. I, Bl. 30 f. 394 MfS, BV Rostock, Information Nr. 58/89 über Aspekte des Wirksamwerdens innerer feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen, Rostock, 4.7.1989: BStU, MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Nr. 210, Bl. 265–293, hier 282; MfS, BV Rostock, AKG, Übersicht über die im Bezirk Rostock anhängigen bzw. sich in Bearbeitung befindlichen OV im Rahmen der Bekämpfung von Erscheinungen des PIT/PUT, KD Rügen, Operativ-Vorgang »Versammlung«, Delikt § 219 StGB, Reg.-Nr. I/436/85: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 121, Bd. 1, Bl. 122–128, hier 126. 395 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Bericht zur Situation um die Gruppierung von Antragstellern auf ständige Ausreise (AStA) in Stralsund (OV »Grund«), Rostock, 6.3.1989: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 594, Bl. 219 f. 396 Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 346). 2. Aufl., Bonn 2000, S. 470. 397 MfS, BV Rostock, OV »Tonsur«: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 54/87. 398 MfS, BV Rostock, OV »Fuchs«: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 3976/91. 399 MfS, BV Rostock, OV »Club«: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 836/89.

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der Jugenddiakon Ingo Barz (OV »Prediger«) 400 in diesem Sinne. Als Liedermacher, der über den Bezirk Rostock hinaus Bekanntheit erlangte, wandte er sich Friedens- und Umweltthemen zu und kritisierte in seinen Liedern die Militarisierung und Bildungspolitik der DDR. Er verbreite, so warf man ihm vor, »pessimistische[s] Gedankengut [...] in Tateinheit mit Gitarrenspiel«. 401 Im Jahre 1987 legte die Kreisdienststelle Bergen auf Rügen die Operative Personenkontrolle »Kreuzweg« an, um belastendes Material gegen den evangelischen Pfarrer von Altenkirchen, Ulrich Coblenz, zu sammeln. Jener wäre durch häufige deutsch-deutsche Ost-West-Treffen mit politischem Charakter, das MfS sprach in solchen Fällen von »Partnerschaftsarbeit«, hervorgetreten. Auch sei er »im Sinne der SPD-Ostpolitik, dem Hereintragen von Gedankengut der ›Grünen‹« auffällig geworden. 402 In seiner Kirche hätte er die Ausstellung des Berliner Umwelt-Grafikers Manfred Butzmann gezeigt. 403 Übel nahm ihm das MfS 1986 zudem einen Aufruf während des Gottesdienstes, gerichtet an die »anwesenden Bausoldaten, ›zum langsamen Arbeiten und der Verweigerung von Befehlen‹ [...], da ihre Tätigkeit der Vorbereitung des Blutvergießens diene«. 404 Im April 1986 richtete Coblenz an die staatlichen Stellen eine »Eingabe gegen militärische Übungsflüge und deren ›schädigenden Einfluß‹ auf Umwelt, Bausubstanz und die menschliche Erholung«. 405 In Middelhagen, ebenfalls auf Rügen, entwickelte Pfarrer Frieder Jelen, wie die Kreisdienststelle im OV »Deponie« schrieb, ab 1981 verschiedene, ihr suspekt erscheinende »Umweltschutzaktivitäten«. 406 Jelen bemühe sich darum, bestehende Institutionen von innen »aufzuweichen« und mit neuen Inhalten zu besetzen. Ziel seines Vorstoßes sei der Kulturbund der DDR: Nachdem er zunächst ein »Aktiv für Natur- und Umweltschutz« in Middelhagen gründete und den Vorsitz übernahm, führte er ab 1985 »organisierte Vortragsreihen in den HOGaststätten ›Walfisch‹ und ›Strandhotel‹« durch. Wie das MfS konstatierte, wurden hier »Angriffe und offene Kritik an der Umweltpolitik der staatlichen

400 MfS, BV Rostock, OV »Prediger«: BStU, MfS: BStU, MfS, BV Rostock AOP 1885/88; MfS, BV Rostock, OV »Sänger«: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 773/81. 401 Barz, Ingo; Boddin, Jörg: »Knospen am Baum«. Liederleute ohne ›Spielerlaubnis‹ in Mecklenburg 1979 bis 1989. Lühburg 2000; Barz, Ingo: Verbreitung pessimistischen Gedankengutes in Tateinheit mit Gitarrenspiel, Lühburg 2005; Barz, Ingo: Muss denn der Junge andauernd Panzer malen. Lühburg 2010. 402 MfS, BV Rostock, OPK »Kreuzweg«: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 2514/89, Bl. 6–10. 403 Ebenda, Bl. 121. 404 Ebenda, Bl. 12. 405 Ebenda. 406 MfS, BV Rostock, KD Rügen, Eröffnungsbericht zum OV »Deponie«, Bergen, 14.9.1989: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1/92, Bd. I, Bl. 2–10, hier 5 f.; MfS, BV Rostock, AKG, Übersicht über die im Bezirk Rostock anhängigen bzw. sich in Bearbeitung befindlichen OV im Rahmen der Bekämpfung von Erscheinungen des PIT/PUT, KD Rügen, Operativ-Vorgang »Deponie«, Delikt § 218 StGB: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 121, Bd. I, Bl. 121.

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Organe« öffentlich lanciert. 407 Zudem bemühte sich Jelen, in der Dorfkirche eine »Umweltbibliothek« nach dem Beispiel der Berliner Zionskirche aufzubauen. Jelen verwies in der Öffentlichkeit auf Polen und die halbfreien Wahlen unter Beteiligung der oppositionellen Gewerkschaft Solidarność am 4. Juni 1989. Er betonte, dass dies Vorbildcharakter für ihn habe. 408 Trotzdem war der Pfarrer Mitglied in der Ost-CDU. Das MfS bezichtigte Frieder Jelen, den »Mißbrauch der Kirche« durch oppositionelle Aktivitäten seit Mitte der achtziger Jahre vorangetrieben zu haben. Zudem warb er ab September 1989 für die »Änderung des Charakters bestehender Blockparteien (insbesondere der CDU) und der Neugründung von Parteien [...] um, in der DDR die Machtverhältnisse zu ändern«. 409 3.3.5 »Legalistisch« oder »gesetzeswidrig«? Widerspruch und Opposition in Verboten-Land War »oppositionell« gleich »legalistisch« oder durch den Rahmen kirchlicher Arbeit grundsätzlich gedeckt? Die Anwendung des Oppositionsbegriffes, der dem Parlamentarismus ursächlich eigen ist, auf die Verhältnisse der DDR hat häufig zu Verwirrungen und unterschiedlichen Auslegungen geführt. Wer sich in der Opposition betätigte, schreibt Ehrhart Neubert in der Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, tat dies »auf der Grundlage verbindlicher Normen und verbindlichen Rechts«. 410 War die DDR, so ist vor dem Hintergrund der Unrechtstaatsdebatte zu fragen, nun doch ein Staat mit gesicherten Rechtsbereichen, in denen ein regimekritisches Engagement nicht verwehrt werden konnte? Neubert spricht so auch von »legaler Opposition« und macht vier Typen einer solchen Betätigung aus. Neben den Vertretern der früh von der SED bekämpften bürgerlichen Parteien, der Institution Kirche mit ihren Gremien und den sich in den Kirchen sammelnden »sozialethischen« Gruppen nennt er die Gründungen des Herbstes 1989. Doch ist diese Annahme zutreffend? Im Folgenden soll dieser Frage nachgegangen und der von Neubert aufgestellten These am Beispiel der sozialethischen Gruppen im Raum der Kirche widersprochen werden. Die DDR konnte sich bei ihren Vorgehen gegen unliebsame politische Aktivitäten in den Kirchen sogar auf ein histori407 Ebenda. 408 MfS, BV Rostock, KD Rügen, Zwischenbericht zur OPK »Deponie«: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1/92, Bl. 34–48, hier 36; MfS, BV Rostock, AKG, Übersicht über die im Bezirk Rostock anhängigen bzw. sich in Bearbeitung befindlichen OV im Rahmen der Bekämpfung von Erscheinungen des PIT/PUT, KD Rügen, Operativ-Vorgang »Deponie«, Delikt § 218 StGB: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 121, Bd. I, Bl. 121. 409 Ebenda. 410 Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 346). 2. Aufl., Bonn 2000, S. 29.

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sches Erbe stützen, das ihr die Kanzlerschaft Otto von Bismarcks in Form eines Strafrechtsparagraphen bescherte. Dass das Regime es trotzdem langfristig nicht vermochte, den oppositionellen Sammlungsprozess innerhalb der Kirchen zu unterbinden, hatte eine Reihe von Gründen. Neben den bereits im vorhergehenden Kapitel genannten – der Konfliktbereitschaft, dem Einfallsreichtum und der Querulanz vieler Diakone und Pfarrer – band die SED einen Teil ihrer repressiven Energien in ihrem Bestreben nach internationaler Anerkennung und einer bestmöglichen Außenreputation. Neben den Erschöpfungserscheinungen – trotz Repressionen und großzügig gewährten Ausreisen von Mitgliedern verschwanden die Gruppen nicht – kam hinzu, dass der an den Codes der frühen DDR orientierte Partei- und Geheimdienstapparat den neuen Bewegungen von Beginn an ratlos gegenüberstand. Geschickt entzogen sich die Gruppen, indem sie einen eigenen Wertekanon und eigene Codes entwickelten, dem lähmenden »Gegen und Für«, dem die SED in ihren ideologischen Propagandakämpfen folgte. Anders als die philosophischmarxistischen Debattierzirkel der siebziger Jahre waren die sozialethischen Gruppen im ideologischen Sinne für die SED zunächst keine vollwertigen Gegner, bis die Partei merkte, dass die Gruppen mit ihren neuen Symbolen und Inhalten jene gesellschaftliche Relevanz erlangten, die den nach außen abgeschotteten Kommunismusreform-Gruppen der siebziger Jahre verwehrt blieb. Blieben jenen noch im »für und wider« der DDR-Ideologie gefangen, so verließen die sozialethischen Gruppen der achtziger Jahre im ideellen Sinne über eine eigene Ästhetik, Formensprache und ein eigenes Lebensgefühl das in seiner ideologischen Borniertheit und Einfalt große, aber ansonsten viel zu kleine Land. Irreführend wäre es, selbst oppositionelles Handeln, das sich im kirchlichen Bereich verwirklichte, als »legalistisch« zu bezeichnen. Auch innerhalb der kirchlichen Räume, dieser Grundsatz galt auch im SED-Staat, bestand so etwas wie eine Öffentlichkeit. Sich dieses Umstandes bewusst war sich bereits Reichskanzler Otto von Bismarck. Im sogenannten Kanzelparagraph § 130 (a), den er 1871 nachträglich in das Reichsstrafgesetzbuch einfügen ließ, untersagte er, Angelegenheiten des Staates in einer »den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise« in den Kirchen zu erörtern oder entsprechende Schriftstücke hier zu verbreiten. 411 Den Anlass hierfür lieferte seine Verärgerung über die katholische Kritik an Teilen seiner Innenpolitik. Öffentlichkeit bestehe laut § 130 (a) dann, wenn dies »vor einer Menschenmenge« oder »in einer Kirche oder an einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte vor Mehreren« 411 Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Textausgabe mit kurzen Anmerkungen und Sachregister. Hg. v. K. Pannier. 7. Aufl., Leipzig 1896, S. 3, 41 f.; Art. Kanzelparagraph, Calwer Kirchenlexikon, Bd. II. Calw 1936, S. 1022; Halbrock, Christian: Evangelische Pfarrer der Kirche BerlinBrandenburg 1945–1961. Amtsautonomie im vormundschaftlichen Staat? Berlin 2004, S. 310.

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geschehe. 412 Mit der DDR-Strafrechtsreform vom 12. Januar 1968 entfiel im neuen Strafgesetzbuch der Kanzelparagraph. Er wurde durch andere Paragraphen wie den § 106 (»Staatsfeindliche Hetze«) ersetzt. Im Kern blieb jedoch eine Ansicht bestehen. Bereits seit 1871 schien klar, dass »innerkirchliches« zugleich auch »öffentliches« Handeln und Reden sein konnte und gegebenenfalls der Sanktionierung unterlag. 413 Deutlich wurde dies unter anderem bei der Bewertung der Arbeit der Friedenskreise durch das MfS. So auch in Stralsund. Seit 1981 führte der Kreisjugenddiakon Johannes Düben im ausgebauten Turm der kriegsbeschädigten Jakobikirche – dem Jakobitreff – Friedensgespräche und -seminare sowie Friedensgottesdienste durch. Zunächst erfolgte dies im Rahmen der regulären Jugendarbeit der evangelischen Kirche. Bereits hier ging es dem Jugenddiakon, wie es das MfS feststellte, keineswegs um religiös erbauliche Dinge. Während einer Veranstaltung im Jakobitreff mit dreißig Jugendlichen hielt der Kreisjugendwart, wie es die Spitzel berichteten, Fürbitte für alle zum Armeedienst Einberufenen. Düben betete »für diejenigen, die jetzt in Unfreiheit unter dem Befehl des antihumanistischen Militärregimes stehen«. 414 In »strafrechtlicher Hinsicht« – so konstatierte das MfS – käme es im Jakobitreff regelmäßig zu »Angriffe[n] gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR gemäß §§ 106 [Staatsfeindliche Hetze] bzw. 220 [Öffentliche Herabwürdigung] StGB«. 415 An der Tagesordnung wären »Äußerungen gegen die NVA, gegen den Warschauer Pakt und besonders gegen die SS-20-Raketen der UdSSR, gegen die [...] Grenzen« und »gegen alles ›was rot ist‹«. Behauptet würde zudem, dass der Jugend in der DDR »ein falsches Feindbild aufgezwungen« werde. 416 Die wiedergegeben Äußerungen, unter anderem die, dass der »Sozialismus [...] im Prinzip Faschismus« sei, bloß eben einer »unter der roten Fahne«, ließen kaum Interpretationen zu. 417 Hier verwirkliche sich, lautete die Einschätzung des Staatssicherheitsdienstes, nicht eine spezielle Form der Jugendarbeit, sondern kämen Widerspruch und Ablehnung gegenüber dem SED-Staat zum Tragen. In der Sprache des MfS hieß dies, dass sich hier ein »Stützpunkt [...] [zur] Schaffung eines politischen Untergrundes« im Prozess seiner Entstehung befand. 418 Der Staat war fortwährend bestrebt, die Arbeit der Gruppen zu kriminalisieren und zu behindern. Hierzu bediente er sich seiner Gesetzes- und Inter412 Ebenda. 413 Ebenda. 414 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Zwischenschätzung zur OPK »Turm«, Reg.-Nr. I/1662/81, Stralsund, 25.2.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2893/83, Bd. I, Bl. 91–95, hier 92. 415 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Zwischenschätzung zur OPK »Turm«, Stralsund, 22.10.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2893/83, Bd. I, Bl. 109–113, hier 113. 416 Ebenda. 417 Ebenda. 418 Ebenda, Bl. 112.

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pretationsmacht und der vorhandenen und neuerlassener Regelwerke. Kaum möglich war es daher, sich in der Praxis »legalistisch« zu verhalten. Um gegen die Protestformen der Anfang der achtziger Jahre entstehenden Gruppen effizienter vorgehen zu können, novellierte die SED 1983 die seit 1968 gültige »Verordnung über Ordnungswidrigkeiten«. 419 Das, ergänzend in den Titel eingefügte Wort »Bekämpfung«, schien zu signalisieren, dass man eine harte Gangart einzuschlagen beabsichtige. Den Anlass bot die zunehmende Zahl der »Kleindemonstrationen«. Mit Aufnäher, »Störungen« von offiziellen Veranstaltungen mit oppositionellen Plakaten und Sammeleingaben machten Andersdenkende auf sich aufmerksam. So diente die Verordnung dazu, den Behörden unterhalb des Strafgesetzbuches eine Handhabe zu geben, um schnell und unbürokratisch auf die neuen und flexiblen Protestformen der unabhängigen Gruppen reagieren zu können. Auch die Verordnung über Ordnungswidrigkeiten in ihrer Fassung vom 16. Mai 1968 und die Ergänzung von 1971 folgten bereits tagespolitischen Erwägungen. 420 Ihr Erlass ließ sich mit der Absicht in Verbindung bringen, einer auch im Osten Deutschlands virulenten Jugend- und Aussteigerkultur zu begegnen. Neben dem »Halbstarken-Problem« richtete sich der Erlass von 1968 in § 2 gegen die »Beschädigung öffentlicher Bekanntmachungen eines staatlichen oder gesellschaftlichen Organs, einer gesellschaftlichen Organisation«.421 Also gegen die Beschädigung und Umgestaltung von Wandzeitungen, Losungen und Aushängen und somit – neben dem »Volkssport Meckern« – gegen eine der häufigsten Formen, seinen Unmut in der DDR auszudrücken. Als »Störung des sozialistischen Zusammenlebens« wurden ab 1984 mit § 4 fortan solche »Verstöße gegen die öffentliche Ordnung und Sicherheit« aufgefasst, mit denen sich die neue Protestbewegung Gehör verschaffte. Wer nach § 4 Ziffer 1. eine »Zusammenkunft« organisierte, die »geeignet« erschien, »gesellschaftliche Interessen zu mißachten«, drohte man eine Geldstrafe bis zu 500 Mark an. 422 Der SED war nicht entgangen, dass Andersdenkende staatliche Aufmärsche nutzen, um sie mit eigenen Inhalten zu konterkarieren. Zumeist handelte es sich um Jugendliche aus dem Umfeld der neu entstandenen Friedensgruppen.

419 Verordnung zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten – OWVO – vom 22.3.1984. In: Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 14. Berlin, den 15.5.1984, S. 173–177. 420 Gesetz vom 12. Januar 1968 zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten – OWG. In: Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 3. Berlin, den 22.1.1968, S. 101–108. Verordnung über Ordnungswidrigkeiten vom 16. Mai 1968. In: Gesetzblatt der DDR, Teil II, Nr. 62. Berlin, den 26.6.1968, S. 359– 363; Zweite Verordnung über Ordnungswidrigkeiten vom 15.9.1971. In: Gesetzblatt der DDR, Teil II, Nr. 67, Berlin, 29.9.1971, S. 577. 421 Ebenda. 422 Verordnung zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten – OWVO – vom 22.3.1984. In: Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 14, Berlin, den 15.5.1984, S. 173–177, hier 173 f.

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Mit empfindlichen Geldstrafen bedroht wurden mit der Novellierung von 1984 all jene, die »Gegenstände, Symbole oder andere Zeichen in einer den staatlichen und gesellschaftlichen Interessen widersprechenden Weise« verwandten. 423 Die Zielrichtung dieses Absatzes schien unmissverständlich: Geahndet werden sollten jene kleinen politischen Bekenntniszeichen, wie sie vom Kessiner Friedenskreis, im Jakobitreff in Stralsund oder auch vom Friedenskreis Wismar als Anstecker oder Fliesaufnäher hergestellt und in Umlauf gebracht worden waren. Abschnitt (7) enthielt eine Pauschalbevollmächtigung, um gegen all nur erdenklichen kreativen Protestformen zukünftig gewappnet zu sein: Wer »andere Handlungen begeht«, hieß es hier ominös unkonkret, »die den allgemeinen Interessen [...] oder Gesetzlichkeit, Ordnung und Sicherheit widersprechen« sollte ebenfalls seiner Strafe nicht entgehen. 424 Paragraph 4 belegte zudem jene Informationserhebungen und Unterschriftensammlungen, wie sie die Friedensgruppen – unter anderem in der Nikolaikirche in Wismar – durchgeführten, mit Sanktionen: Zur Verantwortung gezogen werden könne, »wer [...] Erhebungen durchführt, schriftliche Erklärungen sammelt, verbreitet, veranlaßt oder daran mitwirkt«. 425 Der oppositionelle Findungsprozess ließ sich daher kaum von der Aktion des Widerstandes ablösen. Während des Jakobitreffs am 11. Juni 1982 rief man dazu auf, in der Öffentlichkeit der eigenen Position durch das »Tragen von Plaketten oder ähnlichen verbotenen Dingen« Geltung zu verschaffen. 426 Als »Eintrittsplaketten für 3,50 M« wurden an jenem Tage von der Friedensgruppe um Johannes Düben aus Fließ per Siebdruck angefertigte Aufnäher mit der Aufschrift »Disarmament East/West« bzw. »Schwerter zu Pflugscharen« ausgegeben. 427 Auch auf dem Kessiner Friedensseminaren 1983 und 1984 gelangten vergleichbare Anstecker in großer Zahl in Umlauf. Auch hier schien die Intension klar: Mit ihnen sollte in der Öffentlichkeit, auf den Straßen und Plätzen, in Berufsschulen und anderswo Protest und Präsenz signalisiert werden. 428 »Beide Seiten hatten ihre Sticker«, schrieb der Liedermacher und Jugenddiakon Ingo Barz aus Ribnitz-Damgarten rückblickend über jene kleinen Zeichen des op423 Verordnung zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten – OWVO – vom 22.3.1984. In: Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 14, Berlin, den 15.5.1984, S. 173–177, hier 173. 424 Ebenda, S. 174. 425 Ebenda. 426 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Abschrift, Bericht, Stralsund, 11.6.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2893/83, Bd. I, Bl. 228. 427 Ebenda. 428 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Bericht über das »Kessiner Friedensseminar 1983« vom 13. bis 15.5.1983, Rostock, 15.5.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. 1, Bl. 44–50, hier 48; MfS, BV Rostock, Abt. XX, Information an die Leiter der HA XX und Abt. XX in Schwerin und Berlin zum Verlauf des 2. Veranstaltungstages des »3. Kessiner Friedensseminars«, Rostock, 3.6.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. III, Bl. 222–225.

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positionellen Aufbruches Anfang der achtziger Jahre. 429 Die Anstecker und Aufnäher der Friedens- und Umweltgruppen stellten, wie bereits schon zuvor der kirchliche Aufnäher »Schwert zu Pflugscharen« 1981/82 ein öffentliches Gegenvotum dar. Sie standen im auffälligen Kontrast zu den politischideologischen Symbolen wie dem FDJ-Emblem, die als Zeichen der Systemloyalität den staatlichen Hoheits- und Deutungsanspruch in der Gesellschaft zu untermauern hatten. Während der Kessiner Anstecker von 1983 einen Mann mit einem zerbrochenen Gewehr vor der Weltkugel zeigte, basierend auf einer Grafik des Ostberliner Künstlers Gerhard Voigt, stand auf dem Sticker 1984 »für einen zivilen Ersatzdienst«. Eingerahmt wurde die Forderung von einem zerbrochenen Gewehr im Peace-Zeichen der internationalen Ostermarschbewegung. Der Sticker von 1983 bestand aus einem ausgestanzten Metallstück, an dem eine Sicherheitsnadel rücklings angelötet worden war. Er sollte nachfolgend in der Öffentlichkeit für Konfliktstoff sorgen. Am 13. April 1982, so hielt es die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit fest, »erschien die Tochter des Verdächtigen, Schülerin der 10. Klasse der 6. POS in Rostock[Brinckmansdorf], mit einer Plakette an ihrer Jacke mit dem Symbol des Plakates von Prof. Voigt zum Schulunterricht«. Die »Plakette wurde von der Schulleitung eingezogen und dem Stadtschulrat übergeben«, der dem MfS pflichtergeben Meldung erstattete. 430 Anders verhielte es sich mit den Ansteckern, die 1984 auftauchten. Sie waren in zwei Berliner Wohnungen in der Hufelandund Dunckerstraße in »Heimarbeit« in vierstelliger Höhe gefertigt worden. Obwohl sie auf verschiedenen kirchlichen Treffen zur Verteilung gelangten, konnten sie kaum als innerkirchliches Material gelten. Mit ihnen kam es zur alltäglichen Kleindemonstration im öffentlichen Raum außerhalb der Kirche. Zugleich erkannte man in ihnen ein wirksames Hilfsmittel bei der symbolischen Neubesetzung des öffentlichen Raums. Wirksam wurde hier die »Strategie der Klein-Sabotage« (Aleksander Kamiński) 431 am Wahrheits- und Deutungsmonopol der Einheitspartei.

429 Barz, Ingo: Verbreitung pessimistischen Gedankengutes in Tateinheit mit Gitarrenspiel. Lühburg 2005, S. 45. 430 MfS, BV Rostock, Abt. IX/XX, Vorschlag zur Durchführung offizieller Maßnahmen entsprechend der GVS 4/82 des Genossen Minister, Rostock, 16.4.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 27/84/85, Bd. II, Bl. 228–230, hier 229. 431 In Anlehnung an Kamiński, Aleksander: idei małego sabotażu. In: Biuletynie Informacyjnym, 1940 (11), S. 10–21.

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Exkurs: Friedensarbeit im Jakobitreff in Stralsund – Motive, inhaltliche Bezüge, Systemkritik Im Januar 1983 verließ Diakon Johannis Düben Stralsund – er ging zunächst nach Hiddensee und 1985 an die Hoffnungsgemeinde nach Berlin-Pankow. 432 Das MfS monierte in den folgenden Wochen nur noch gelegentlich Systemkritisches, das seinen Ausgang im Jakobitreff nahm. Die Lage schien sich beruhigt zu haben. Um den Vorgang zu den Akten legen zu können, führte das MfS getarnt als Brandschutzkontrolle im März 1983 abschließend eine Begehung im Jakobiturm durch. Hier entdeckte man jedoch »nach wie vor [...] Plakate und Bilder mit pazifistischem Inhalt«. 433 Die prognostizierte Ruhe währte nicht lange. Mit dem Dienstantritt des neuen Kreisjugendwartes Torsten Hennig 1984 setzten sich die beanstandeten Aktivitäten im Jakobiturm fort. Hennig hatte in der DDR Lehrer werden wollen und war an der Universität Greifswald zum Diplomlehrer für Kunsterziehung und Deutsch ausgebildet worden. Nachdem er sich anfänglich »aktiv in der FDJ und der GST« engagierte, fiel er in seiner Studienzeit bald durch »eine deutliche Hinwendung zur Evangelischen Kirche« auf. 434 Wenig später überraschte er die Universitätslehrkräfte mit seinem Entschluss, dass er »Pazifist« sei und »nicht bereit« sei, »den Schülern ein klares Motiv zur Verteidigung der sozialistischen Heimat mit der Waffe zu vermitteln«. 435 Torsten Hennig schied wenig später als Lehramtskandidat aus und wurde von der Kirche eingestellt. Zusammen mit dem Landespfarrer für Weiterbildung, Bernd-Dietrich Krummacher, und der Katechetin Sabine Düben führte er die Jugend- und Friedensarbeit im Jakobitreff weiter. 436 Aus der Friedensarbeit im Jakobiturm erwuchs ein politisches Engagement, das sich nicht mehr auf die Hansestadt beschränkte. Nach dem Einschreiten der Staatsmacht in Berlin Ende 1987 und Anfang 1988 solidarisierte man sich mit den betroffenen oppositionellen Gruppen. Die Ereignisse in Berlin gaben den letzten Anstoß, im Jakobitreff erneut einen Friedenskreis zu gründen. Dementsprechend hält es der Zwischenbericht zum Operativ-Vorgang »Halbkreis« der Kreisdienststelle Stralsund fest: »Im Januar 1988 wurde [...] als Auswirkung der negativ feindlichen Aktivitäten um die Zionskirche in Berlin und die Ereignisse am 17.1.1988 anläßlich der Gedenkkundgebung [Luxemburg/Liebknecht] und des Eingreifens staatlicher Machtorgane«, heißt es im 432 MfS, BV Rostock, Personenrecherche: BStU, MfS, Dokumentations-Kartei KD Stralsund, Bl. 2. 433 Ebenda. 434 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Eröffnungsbericht zur Einleitung des OV »Halbkreis«, Stralsund, 22.2.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 6–15, hier 7. 435 Ebenda. 436 Ebenda, Bl. 6.

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Behördendeutsch, »in Stralsund ein ›Friedenskreis‹ gebildet«. 437 Der Friedenskreis verstand sich als Teil des oppositionellen Aufbruchs, der sich in jener Zeit in der DDR vollzog. Bald folgten staatliche Abmahnungen. Sie hoben darauf ab, dass im Jakobiturm die DDR-Gesetze verletzt werden würden. Die Abgemahnten zeigten sich hingegen entschlossen, sich weiterhin zu engagieren. Auch die Zusammensetzung des Kreises änderte sich. Das systemkritische Engagement entsprang nur noch bei einem Teil der Aktiven einer ursächlich christlichen Motivlage. Wie die Abteilung 26 (B) [Abhörmaßnahmen in Räumen] 438 der MfS-Bezirksverwaltung meinte erkannt zu haben, waren unter den »Mitgliedern des ›Friedenskreises‹ [...] 50 % Christen und 50 % Nichtchristen«. 439 Hier bildete sich anscheinend etwas anderes heraus als ein nur rein kirchlicher Arbeitszweig. 440 In einem von Major Frankenstein abgefassten Bericht hieß es hingegen, dass sich der Friedenskreis im Jakobitreff »in erster Linie aus jungen evangelischen Christen zusammensetzt«. 441 Verwiesen werden sollte hiermit möglicherweise auf die fatale Wirkung, die von einem Kommentar der Samisdatzeitschrift »JG-Turmblatt« auszugehen drohte. Der Jugendwart schrieb hier, dass »der Staatsapparat« bei seinem Vorgehen gegen die Berliner Umweltbibliothek »mit ungerechtfertigter Härte gegen Christen« vorgegangen sei. Die Christen in der DDR würden sich angesichts des unverhältnismäßigen Vorgehens mit der Umweltbibliothek und den Gemeindemitgliedern in Berlin solidarisieren. Richtig war hieran zumindest eines: Die Ereignisse ließen die evangelischen Gemeinden in Vorpommern nicht unberührt. Der als »sehr zurückhaltend« beschriebene und ansonsten »beruhigend« auf Torsten Hennig einwirkende Stralsunder Superintendent Manfred Torkler stellte sich in dieser Situation vor den Friedenskreis und sein Engagement. 442 Torkler wurde von den staatlichen Stellen auch auf die »Gefahren«, die von den Berliner Ereignissen und der Solidarisierung im »Jakobitreff« ausgingen, angesprochen. Dies jedoch ohne Erfolg. Manfred Torkler verwies seine Gegenüber hingegen »auf das gute Verhältnis zur Berlin-Brandenburgischen Kirche«, dem in der pommerischen 437 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Zwischenbericht zum OV »Halbkreis«, Stralsund, 28.5.1988: BStU, MfS, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 333–339, hier 333. 438 Abteilung 26 (Telefonkontrolle, Abhörmaßnahmen, Videoüberwachung). In: Das MfSLexikon. Berlin 2012, S. 29 f. 439 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Eröffnungsbericht zum OV »Halbkreis«, Stralsund, 22.2.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl.6–15, hier 14. 440 Vgl. auch hierzu: Swoboda, Jörg: Der Klang der Revolution. In: Resing, Volker (Hg.): Kerzen und Gebete. Ein geistiges Lesebuch zur friedlichen Revolution 1989. Leipzig 2010, S. 10–17. 441 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Eröffnungsbericht zum OV »Halbkreis«, Stralsund, 22.2.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl.6–15, hier 13. 442 Rat der Stadt Stralsund. Stellvertreter des Oberbürgermeisters für Inneres, Heinlein, Niederschrift über ein Gespräch mit dem Superintendenten Torkler, Stralsund, 5.2.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 46–49, hier 47 f.

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Kirche traditionell ein hoher Stellenwert zukomme. 443 Bestätigt wurde so das Bild, dass man sich vom Superintendenten zurechtgelegt hatte. Zum einen galt er dem Staat als »geschickter Politiker«; zum anderen attestierte man ihm, dass er stets »bemüht« schien, »die Kirchenarbeit zu aktivieren« und gleichzeitig »die staatlichen Organe auszuspielen, was ihm«, so das Resümee der MfSBezirksverwaltung »zum Teil auch gelang.« 444 All dies sei, so Major Frankenstein, schon lange kein innerkirchlicher Vorgang mehr. Tatsächlich bestand die erste Ausgabe des im Januar 1988 mit einer Auflage von zweihundert Exemplaren gedruckten »JG-Turmblattes« hauptsächlich aus einer Zusammenstellung verschiedener Meldungen und Kommentare zu den Vorgängen rund um die Berliner Umweltbibliothek. Das sechs Seiten starke »JG-Turmblatt«, das sich im Untertitel »Rundbrief der Jungen Gemeinden Stralsund« nannte, begann mit einer nicht von politischen Anspielungen freien Bibeltextauslegung. 445 Weitere Ausgaben des »JGTurmblatt« erschienen im Februar (mit sieben Seiten) und März 1988 (mit insgesamt elf überlieferten Seiten). 446 Die Märznummer begann nun nicht mehr mit einer Bibeltextbetrachtung, sondern mit einem Auszug aus dem »Hinze und Kunze« Roman des als systemkritisch gehandelten Volker Braun. 447 Abermals lasen sich die Texte der Redaktion als, wie es in Heft 2 heißt, »eine sehr empfindliche Reaktion auf die Vorgänge in der Berliner Zionskirche«. Die Zeitschrift verstand sich als Ort des Gedankenaustausches und als Forum, um in der DDR-Gesellschaft »Sprechen üben!« zu lernen. 448 Ferner reagierte man auf die staatlichen Reaktionen, die nicht lange hatten auf sich warten lassen: »Gewiß wäre das Erschrecken über das neue, deutliche Engagement nicht so groß, wenn die Erschrockenen mehr Übung im Vernehmen unserer Meinung gehabt hätten«, hieß es mit Blick auf die staatlichen Interventionen. 449

443 Ebenda. 444 MfS, BV Rostock, Abt. XII, Auskunft über Torkler, Manfred, Rostock, 20.9.1982, sowie MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Zwischenbericht zur Person Torkler, Manfred, Rostock, 27.4.1973: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 1544/76, Abzüge aus Verfilmung, ohne Blattangabe. 445 »JG-Turmblatt. Rundbrief der Jungen Gemeinden Stralsund« 1 (1988) 1, S. 1. Nach: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 88–93, hier 88. 446 »JG-Turmblatt. Rundbrief der Jungen Gemeinde Stralsund« 1 (1988) 2, S. 1. Nach: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 120–126; »JG-Turmblatt. Rundbrief der Jungen Gemeinde Stralsund« 1 (1988) 3. Nach: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 161–172, hier Fehler in der Seitenzählung. 447 »JG-Turmblatt. Rundbrief der Jungen Gemeinde Stralsund« 1 (1988) 3. Nach: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 161; Braun, Volker: Berichte von Hinze und Kunze. Halle/Leipzig 1983. 448 »JG-Turmblatt. Rundbrief der Jungen Gemeinde Stralsund« 1 (1988) 2, S. 1. Nach: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 122. 449 Ebenda.

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Der für Kirchenfragen zuständige Stellvertretende Oberbürgermeister für Inneres, Heinlein, wies die kirchlichen Stellen nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe darauf hin, dass mit dem Druck und Vertrieb des Blattes eindeutig staatliche Gesetze verletzt würden. Dies gelte angesichts des Charakters und Inhaltes der hektographierten Seiten und obwohl die Exemplare die Aufschrift »nur für den innerkirchlichen Gebrauch« trügen. Die Grenzen der den Kirchen zugebilligten Sonderregelung seien im Fall des keineswegs mehr als kirchlich-religiös zu bezeichnenden »Turmblattes« überschritten. Erfüllt wäre hiermit vielmehr der Sachverhalt der »Herstellung und Verbreitung nicht lizenzierter Druckerzeugnisse«; 450 die hierfür erforderliche »staatliche Druckgenehmigung«, erklärte Heinlein in einer der folgenden Unterredungen, »liegt nicht vor«. 451 Moniert wurde von ihm zudem, dass das »JG-Turmblatt« mit »Angriffen gegen die Verteidigungspolitik, Wehrbereitschaft, Jugendpolitik, Umweltschutz« hervorgetreten sei. 452 Am 16. Februar erfolgte durch Heinlein während eines »Gespräches«, zu dem Torsten Hennig in den Rat der Stadt einbestellt worden war, die »Belehrung«, den unlizenzierten Druck umgehend einzustellen; eine Aufforderung, die am 2. Juni 1988 wiederholt werden sollte. 453 Bis zum Herbst 1989 erschienen noch fünf weitere Ausgaben des »Turmblattes«. Bei den letzten der insgesamt acht Hefte, die von 1988 bis 1989 herauskamen, betrug die Auflage bis zu 250 Stück. 454 Nicht nur die Texte im »JG-Turmblatt« mussten als klare Positionierung verstanden werden. Ebenso wiesen die inhaltlichen Akzentsetzungen des Friedenskreises darauf hin, dass man sich in solidarischer Gemeinschaft mit den oppositionellen Gruppen andernorts in der DDR wähnte und als Teil dieser Protestbewegung verstand. Während eines Fürbitte-Gottesdienstes am 5. Februar 1988 in der Stralsunder Heilig-Geist-Kirche, zu dem es nach den Festnahmen am Rande der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration in Berlin kam, bat man die Anwesenden, Geld für die Inhaftierten zu spenden. Die Sammlung erbrachte einen Betrag von 481,60 DDR-Mark, der anschließend 450 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Information Nr. 51/89 über Aspekte des Wirksamwerdens innerer feindlicher oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen, Stralsund, 11.7.1989: BStU, MfS, BV Rostock, KD Stralsund Nr. 210, Bl. 284–292, hier 286. 451 Ebenda sowie MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Eröffnungsbericht zur Einleitung des OV »Halbkreis«, Stralsund, 22.2.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 6–15, hier 13. 452 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Information Nr. 51/89 über Aspekte des Wirksamwerdens innerer feindlicher oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen, Stralsund, 11.7.1989: BStU, MfS, BV Rostock, KD Stralsund Nr. 210, Bl. 284–292, hier 286. 453 Rat der Stadt Stralsund, Stellvertreter des Oberbürgermeisters für Inneres, Niederschrift über ein Gespräch mit Jugendwart Torsten Hennig, Stralsund, 16.2.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 83–85, hier 83; Rat der Stadt Stralsund, Stellvertreter des Oberbürgermeisters für Inneres, Niederschrift über ein Gespräch mit Jugendwart Torsten Hennig, Stralsund, 9.6.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 232–236, hier 235. 454 Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985–1989 (Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs; 7). Berlin 2002, S. 72.

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»nach Berlin zur Unterstützung der Angehörigen der Inhaftierten überwiesen« wurde. 455 Der Jakobitreff schien Verschiedenes gleichzeitig gewesen zu sein: Zunächst ein Teil der evangelischen Jugendarbeit. Dann ein Ort, an dem sich Systemkritik äußerte und es zum Gruppenfindungsprozess »unter dem Dach der Kirche« kam. Schließlich erschien hier eine Samisdatzeitschrift. Oppositionelle Inhalte und das Bewusstsein, zu einer DDR-weiten Protestszene zu gehören, bestimmten den weiteren Verlauf. Auf jenen amorphen Charakter deutet auch eine von der Kreisdienststelle Stralsund stammende Textpassage hin. In der »Information über Aspekte des Wirksamwerdens innerer feindlicher oppositioneller und anderer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen« ging man näher auf den Jakobitreff ein. Hier im Jakobiturm treffe sich, so der Staatssicherheitsdienst, seit Dezember 1985 die »Rockformation der Jungen Gemeinde ›Turmband‹ [...] als Sammelbecken musikalisch interessierter, negativer, zur Opposition neigender Jugendlicher«. 456 Auch wenn man die Formulierung ›zur Opposition neigen‹ hier in seinem umgangssprachlichen Sinne verwendete, schien dies doch den fließenden Charakter zu unterstreichen. Ähnlich verhielt es sich mit dem Vorwurf, Torsten Hennig suggeriere »dem Leserkreis« im »JGTurmblatt« staatliches Fehlverhalten und erzeuge »dadurch eine gewisse Oppositionshaltung gegen den sozialistischen Staat, die Politik der Partei und staatliche Maßnahmen«. 457 Oder mit der an den Jugendwart am 9. Juni 1988 beim Rat der Stadt herangetragenen Empfehlung, er täte »besser« daran, »die Junge Gemeinde nicht als Opposition zu unserer sozialistischen Gesellschaft zu nutzen«. 458 Auch wenn »Opposition« hier abermals eine Haltung und nicht den politischen Zusammenschluss implizierte, so zeigen die Zitate, dass es sich hier um einen weitergehenden Prozess handeln mochte. Kirche war in der SEDDiktatur mehr als nur Kirche im engeren Sinne und die Gruppen unter ihrem »Dach«, von Ausnahmen abgesehen, nicht lediglich Gast in den Räumen einer ihnen ansonsten fremden Institution. Neben die Begründung des systemkritischen Handelns aus der christlichen Verantwortung heraus trat die Herkunft vieler Teilnehmer – unter ihnen viele Initiatoren – aus christlichen Elternhäusern. Hinzu kam der Umstand, dass die biblische Botschaft eine Antwort für die sich in einer Bedrängungssituation Sehenden bereithielt. Mehrere biblische 455 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Eröffnungsbericht zur Einleitung des OV »Halbkreis«, Stralsund, 22.2.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 6–15, hier 14. 456 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Information Nr. 51/89 über Aspekte des Wirksamwerdens innerer feindlicher oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen, Stralsund, 11.7.1989: BStU, MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Nr. 210, Bl. 284–286, hier 286. 457 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Eröffnungsbericht zum OV »Halbkreis«, Stralsund, 22.2.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl.6–15, hier 13. 458 Rat der Stadt Stralsund, Stellvertreter des Oberbürgermeisters für Inneres, Niederschrift über ein Gespräch mit Jugendwart Torsten Hennig, Stralsund, 9.6.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 232–236, hier 235.

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Metaphern entsprachen dem Anliegen des Aufbegehrens: Neben der zentralen Botschaft des Osterereignisses stand die alttestamentarische Mosesgeschichte, des Auszuges des jüdischen Volkes aus der ägyptischen Gefangenschaft, die im Gospel-Oratorium »Go down Moses« während der kirchlichen Greifswalder Bachwoche 1977 zum Tragen kam. 459 Hierzu zählte ebenso das auf kirchlichen Büchertischen, in Jugendliedtexten und in Predigtbezügen präsente Beispiel der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA um den Prediger Martin Luther King. 460 Bereits im Oktober 1956 trat in Halle/Saale in der Marktkirche die Jazzformation »Waschbrett 5« zusammen mit fünf Sängern aus Düsseldorf auf. Anschließend unterstrich der Dekan der Hallenser Theologischen Fakultät, Professor A. Lehmann, in seinem Vortrag »Jazz und Kirche praktisch«, dass »die Wurzeln der Jazzmusik in den geistlichen Liedern der nordamerikanischen Neger liegen«. 461 Gospel- und Bluesmusik, politischsozialer Protest und deren christliche Bezüge wurden hier zusammengeführt zu einer Denk- und Identifikationsfigur. Ihr Leitgedanke war, dass christliches Beharren verbunden mit politisch-gesellschaftlicher Kritik am System auch innerhalb der Kirche ihre Heimat hatten. Auf einer vielbeachteten Konzertreise der amerikanisch-dänischen Gospelsängerin Etta Cameron, die sie 1977 in den Kirchen der DDR absolvierte und die sie auch in den Norden, unter anderen nach Schwerin führte, unterstrich sie diesen Anliegen – und die evangelische Kirche in der DDR zugleich ihren Anspruch, sich auf diese »revolutionären« Wurzeln beziehen zu können. 462 Dies erfolgte in bewusster Abgren459 Ins Leben gerufen wurde die zumeist in den Monaten Mai und Juni stattfindende seit 1947 (hier im September) Bachwoche vom Kirchenmusiker Landeskirchendirektor Hans Pflugbeil, dessen Ehefrau Annelise (Deutsch) Pflugbeil, geb. Buss und dem Geiger Prof. Hermann Diener. Hierzu: Weber, Hans-Joachim: Zwischen Ostsee und Oder. Bilder aus der Evangelischen Landeskirche Greifswald. 2. Aufl., Berlin (Ost) 1973, S. 157; »Laß dir nicht grauen und entsetze dich nicht ...« – Kriegsende und Wiederaufbau 1945 aus dem Geist der Kirchenmusik. Interview von Irmfried Grabe mit Prof. Annelise Pflugbeil am 18. März 2005. In: Zr. 9 (2005) 1, S. 101–112, hier 110 f. Zur Neuausrichtung der Bachwochen ab 1974: »Gesichter der 65. Greifswalder Bachwoche: ›Was sich nicht erneuert, ist eigentlich tot.« In: MPKZ, 66. Jg., Nr. 24, 19.6.2011, S. 12. Vgl. hierzu auch das Gespräch, das Christian Stelzer mit dem Leiter des Martin-Luther-King-Zentrums in Werdau/Sachsen führte: »Eine Ermutigung zur Einmischung”. In: Nordkurier, 4.4.2008, S. 1. 460 Theo Lehmann führte 1971 in Karl-Marx-Stadt die ersten Blues-Jugendgottesdienste durch. Vgl. hierzu: Lehmann, Theo: Blues & Trouble. Das erste Bluesbuch der DDR. In: Rauhut, Michael; Kochan, Thomas (Hg.): Bye, bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR. Erweiterte Taschenbuchausgabe. Berlin 2009, S. 131–139; Lehmann, Theo: Blues and Trouble. Berlin (Ost)1966; Ders, Negro spirituals. Geschichte und Theologie. Berlin (Ost) 1965; Ders.: Nobody knows … Negro spirituals. Leipzig 1963. Zu Theo Lehmann: Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe für der Bundeszentrale für politische Bildung; 346). 2. Aufl., Bonn 2000, S. 289 461 »Jazz und Kirche«. In: Potsdamer Kirche. Sonntagsblatt für evangelische Gemeinden in der Mark Brandenburg, 11. Jg., 28.10.1956, S. 341. 462 Große, Ludwig: Einspruch! Das Verhältnis von Kirche und Staatssicherheit im Spiegel gegensätzlicher Überlieferungen. Leipzig 2009, S. 332 f. (Auftritt am 29.6. und 22.9.1972 in Saalfeld). Hannes Zerbe schreibt hierzu: »Etta Cameron und meine Band hatten Anfang der siebziger Jahre über

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zung zur SED-Propaganda. Zwar hatte die SED diese Musik einst missbilligt, später aber als Musik der amerikanischen Arbeiterklasse und Aufstandskultur linker Kräfte im Kapitalismus für sich zu vereinnahmen versuchte. 463 Vermittelt wurde das Protestmotiv auch auf den Jugendevangelisationen quer durch die DDR. So 1979 in der Rostocker Heilig-Geist-Kirche und dann im 1982 in der Heilig-Geist-Kirche in Stralsund durch den Pfarrer und Evangelisten Theo Lehmann aus Karl-Marx-Stadt. Auf der Stralsunder Evangelisationswoche im Oktober 1982 – zusammen mit dem Buckower Pfarrer Jörg Swoboda – ging es nicht nur um die Bekehrung von »Atheisten [zu] Christen«, sondern ein eindeutiges Bekenntnis in der DDR-Gesellschaft. 464 Auch dienten die nach dem Vorbild der amerikanischen Protest-Folk-Bewegung zur Gitarre komponierten Lieder keineswegs nur dem Zweck, »jugendgemäß« zu sein. 465 Gleich »mehrfach«, so meldete es die Kreisdienststelle in die Bezirksstadt, sei während der Veranstaltung »betont« worden, »daß Christen mit Marx nichts gemein haben«. Theo Lehmann wurde mit den Worten zitiert: »Wir sind weit von denen [Marxisten] entfernt, und sie von uns«. 466 Die offizielle Friedenskampagne der Freien Deutschen Jugend wurde als »primitiver« Versuch der ideologischen Vereinnahmung bezeichnet. Lehrer, die gegen das Tragen von christlichen Symbolen an den Schulen vorgingen, hätten sich ferner »strafbar gemacht«. Zur Sprache kamen zudem die Militarisierung an den Schulen, die Intershopläden, die Versorgungslage und andere heikle Themen der DDRInnenpolitik. 467 Ihm, so Swoboda rückblickend, sei es darum gegangen, entsprechend der Formel pro testare Zeugnis von seinem Glauben abzulegen, der, wenn er ernst genommen wurde, »den Anspruch eines totalitären Regimes auf den ganzen Menschen« infrage stelle. 468 »Ich«, so Swoboda weiter, »habe meine Stimme erhoben für christliche Friedfertigkeit und gegen die Militarisierung hundert Kirchenkonzerte in der DDR«. Nach: Zerbe, Hannes: Jazz und andere Künste und Einflüsse in der DDR. Ein (noch) aktiver Musiker und Komponist im Selbstinterview. In: Bratfisch, Rainer (Hg.): Freie Töne. Die Jazzszene in der DDR. Berlin 2005, S. 208–211. 463 Bratfisch, Rainer: Vier Jahrzehnte Jazz in der DDR: verfolgt, geduldet, gefördert ... In: Bratfisch, Rainer (Hg.): Freie Töne. Die Jazzszene in der DDR. Berlin 2005, S. 7–13. Lehmann, Theo: Bye & Trouble. Das erste Bluesbuch der DDR. In: Rauhut, Michael; Kochan, Thomas (Hg.): Bye, bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR. Erweiterte Taschenbuchausgabe, Berlin 2009, S. 131–139. 464 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Bericht 20/82: Verlauf der Evangelisationswoche 15. bis 20.10.1982 in der Heilig-Geist-Kirche Stralsund, Stralsund, 22.10.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 61, Bd. II, Bl. 298–300, hier 298. 465 Lehmann, Theo: Bye & Trouble. Das erste Bluesbuch der DDR. In: Rauhut, Michael; Kochan, Thomas (Hg.): Bye Bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR. Erweiterte Taschenbuchausgabe, Berlin 2009, S. 131–139. 466 Ebenda, Bl. 299. 467 Ebenda. 468 Swoboda, Jörg: Der Klang der Revolution. In: Volker Resing (Hg.): Kerzen und Gebete. Ein geistiges Lesebuch zur friedlichen Revolution 1989. Leipzig 2010, S. 10–17, hier 16.

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der Kindergärten und Schulen. Das machte mich und andere Liedermacher politisch gefährlich.« 469 Die Bezugnahme auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King ergab eine Aussage, die sich auf die Verhältnisse in der DDR übertragen ließ. Angesichts ihrer christlichen Wurzeln, verbunden mit der Ethik des Aufstehens und Widerstehens sowie dem Festhalten an der Hoffnung auf bessere Zeiten schien sie ein starkes Leitmotiv für die mit dem SED-Staat Unzufriedenen zu bieten. Der Blues und die Negrospirituals wirkten auf die, wie Theo Lehmann schrieb, die in der DDR an die allgegenwärtigen Grenzen gestoßen, behindert und »ausgebremst« worden waren oder »eins auf die Mütze« bekommen hatten, wie eine Art Befreiung, »als Aufschrei, von Sklaven, die durch Menschen geknechtet« werden. 470 Lehmann, dem es mit Beziehungen gelang, das »erste Bluesbuch der DDR« 1966 vorzulegen, verbuchte für sich einen Erfolg der besonderen Art. Ausgerechnet sein »Idol«, der »Anführer der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, Dr. Martin Luther King«, schrieb für sein Buch das Vorwort und trug so »einen Hauch von Internationalität in den DDR-Alltag« hinein. Maßgeblich geholfen hatten Lehmann dabei »Enthusiasten in England, Amerika [und] den Niederlanden«, die seinen dorthin gesandte Hilferuf »you people like to call ›behind the Iron Curtain‹« beherzigten. 471 Vieles befand sich somit im Stadium der Findung und Herausbildung. Politische Gegnerschaft erwies sich, sofern feste Strukturen angestrebt wurden, als fortwährender Lernprozess. Der »Jakobitreff« mit seinen »Turmrockern« und ihren kritischen Texten wurden mit dem »nichtlizenzierten [...] ›Turmblatt‹« vom MfS den »anhaltenden Sammlungs- und Formierungsbestrebungen feindlicher, oppositioneller und anderer Personen« zugerechnet. 472 Neben den Sammel- und Solidaritätsaktionen zugunsten der in Berlin Inhaftierten, ging aus dem »Jakobitreff« die Regionalgruppe des Grün-ökologischen Netzwerkes Arche, eine der oppositionellen Gruppe der DDR, hervor. Von hier aus erhielt auch der »KSZEArbeitskreis« Altefähr/Rambin personelle Verstärkung. Zum 7. Oktober 1989, dem vierzigsten Jahrestag der DDR, trat die Gruppe um Torsten Hennig der SED selbstbewusst entgegen. Am Vortag des »Republikgeburtstages« taten sie ihren Unwillen über die politische Propagandaveranstaltung auf ihre Weise kund. Während die Glocken der Stralsunder Marienkirche läuteten, brachte 469 Ebenda. 470 Lehmann, Theo: Bye & Trouble. Das erste Bluesbuch der DDR. In: Rauhut, Michael; Kochan, Thomas (Hg.): Bye Bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR. Erweiterte Taschenbuchausgabe. Berlin 2009, S. 131–139. 471 Ebenda, S. 137. 472 Rat der Stadt Stralsund, Stellvertreter des Oberbürgermeisters für Inneres, Niederschrift über ein Gespräch mit Jugendwart Torsten Hennig, Stralsund, 9.6.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 232–236, hier 235.

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der Jugendwart zusammen mit seinem Vikar gegen 14.30 Uhr »unmittelbar über dem Eingangsportal« der Kirche ein Transparent mit der Losung »Besinnung statt Jubel« an. 473 Im Inneren der Turmhalle hatten man zuvor eine Art Klagemauer – »eine längere weiße Wand [...] [der] [...] Besinnung« – errichtet. Sie sollte dazu dienen »seine Meinung schriftlich und anonym zu äußern«. 474 Das, was sich im Jakobitreff zutrug, konnte in der Summe kaum mehr als »legalistische« und als den Kirchen zugestandene Betätigung betrachtet werden. Dies sahen die Vertreter der SED vor Ort so. Aber auch die, die im Jakobitreff ihre Systemkritik äußerten, waren sich darin einig, dass sie sich mit dem, was hinlänglich geduldet wurde, nicht mehr zufrieden geben wollten. Die gezielte und notorische Gesetzesübertretung, um die Grenzen weiter aufzuweichen, wurde von ihnen gezielt einkalkuliert. Auch wenn sich das, was sich im Jakobitreff zutrug, im kirchlichen Rahmen ereignete, so kamen hier die verschiedensten Jugendlichen – sowohl aus kirchlichen wie nichtkirchlichen Elternhäusern – zusammen. Sie suchten den Kontakt untereinander und über die Stadtgrenzen von Stralsund hinaus, stellten den Kontakt zu den Gruppen in Berlin her und begriffen sich als Teil des oppositionellen Aufbruchs im Lande. 3.3.6 Strukturen, Netzwerke und Solidarität Mit dem »Ökumenischen Zentrum Umwelt« (ÖZU) entstand im Dezember 1987 in Wismar nicht nur eine weitere Gruppe unter dem »Dach der Kirche«: »In den letzten Wochen«, so vermeldete es die MfS-Kreisdienststelle Wismar in ihrem Dezember-Monatsbericht 1987, »wurde [...] mit dem Aufbau einer Umweltbibliothek in Wismar begonnen«. 475 Untergebracht war die Umweltbibliothek in den »Kellerräumen in der Bliederstr[aße] 40«, einem der evangelischen Kirche in der Hansestadt gehörenden Haus. 476 »Der Aufbau der Umweltbibliothek«, hieß es im Bericht weiter, sei »im Zusammenhang mit den Ereignissen um die Zionskirche in Berlin zu sehen«. 477 Die Gründung markierte zugleich auch eine neue Qualität im Prozess der oppositionellen Selbstfindung unter den Gruppen im Norden der DDR. 473 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, an den Leiter der BV Rostock, Generalleutnant Mittag, Fernschreiben: Operativinformation, Stralsund, 6.10.1989: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 430–433, hier 431. 474 Ebenda sowie MfS, BV Rostock, KD Stralsund, an den Leiter der BV Rostock, Generalleutnant Mittag, Operativinformation, Stralsund, 6.10.1989: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1402/91, Bd. I, Bl. 428 f. 475 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Wochenübersicht vom 25.12. bis 31.12.1987. Betr.: Aufbau einer Umweltbibliothek in Wismar: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 480, Bl. 235–237, hier 235. 476 Ebenda, Bl. 236. 477 Ebenda.

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Nicht zuletzt ging es darum, ein Konzept umzusetzen, das darauf setzte, durch den Aufbau eigener Einrichtungen, oppositionelles Handeln effektiver zu gestalten. Zum einen sollte ein fester Anlaufpunkt für Gleichgesinnte entstehen; zum anderen fanden Interessierte während der Öffnungszeiten – jeden Dienstag und Sonnabend – Ansprechpartner und konnten sich, was in der DDR schwer möglich war, mit aus dem Westen eingeschmuggelter Literatur und oppositionellen Inhalten vertraut machen. Vertrieben wurden hier ebenso die Samisdatzeitschriften »Grenzfall« und die »Umweltblätter« aus Berlin. Das »Ökumenische Zentrum Umwelt« begriff sich als Teil eines überregionalen oppositionellen Netzwerkes. Fortan gestalteten sich die Strukturen und Abläufe intensiver als zuvor. Mit der »Umweltbibliothek« in der Ostberliner Griebenowstraße verfügte man über eine beinahe permanent besetzte Anlaufadresse. Über den Verteilerschlüssel der dortigen Redaktion liefen Informationen aus den DDR-Bezirken zusammen. Zugleich gelangten Materialien von hier aus über ein Kuriersystem zurück an den Ausgangspunkt der Information. »Die jetzt in der Republik entstehenden Umweltbibliotheken werden«, wie es das MfS erfahren hatte, »an den Verteilerschlüssel für Literatur der Umweltbibliothek Berlin angeschlossen«. 478 Und weiter hieß mit Blick auf das, was hiervon zu erwarten war: »Diesbezüglich wird es eine enge Zusammenarbeit geben«. 479 Hieran partizipierten auch andere Gruppen im Norden der DDR. Neben dem ÖZU in Wismar verfügten auch Abnehmer in Greifswald und Ribnitz-Damgarten über eigene Fächer im Ostberliner Verteilersystem; auch in diese Orte bestanden feste Kurierverbindungen. 480 Auf dem Postwege, zum Teil über fiktive Absender und Tarnadressen, erreichten die »Umweltblätter« und der »Grenzfall« weitere Empfänger im Bezirk Rostock. Organisiert wurde so der Versand nach Kühlungsborn, Bad Doberan, Greifswald und Rostock. 481 Der Norden zeigte sich umgekehrt ebenso solidarisch: Nach dem Vorgehen des Staatssicherheitsdienstes gegen die Berliner »Umweltbibliothek« im November 1987 reisten vier Mitglieder des »Öko-Kreises« Wismar bzw. der dortigen ESG am 28. November nach Berlin und beteiligten sich dort mehrere

478 Ebenda. 479 Ebenda. 480 Eine Liste der Abnehmer existiert nicht. Bis heute steht eine Rekonstruktion des Verteilersystems aus. Unter den schätzungsweise fünfzig Fächern können nachfolgend aufgeführte Liefer-Orte als gesichert gelten. Im Norden der DDR (neben den bereits aufgeführten): Perleberg, Ludwigslust, Neustrelitz, Schwerin, Güstrow, Vipperow. In der DDR darüber hinaus: Naumburg, Halle, Magdeburg, Stendal, Erfurt, Gera, Frankfurt/Oder, 2 x Dresden, 3 x Leipzig, Rudolstadt, Zwickau, Großhennersdorf, Borna, Forst, Potsdam, Hoyerswerda, Luckenwalde, ca. 15 x Berlin. 481 Weitere Abnehmer im Norden der DDR lebten in Neubrandenburg, Ueckermünde, Schwaan, Tarnow, Schwerin, Waren/Müritz und Neuhaus/Elbe. Nach: Posteinlieferungsbuch der Umweltbibliothek Berlin (Eintragungen im Heft von März bis November 1989), Kopien im Besitz des Autors.

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Tage an der Mahnwache. 482 Neben zwei aus Rostock anreisenden Frauen stammten somit sechs Teilnehmer der Proteste aus dem Bezirk Rostock. Zudem stattete der in Rostock in zwei Friedenskreisen aktive und in Güstrow wohnende Heiko Lietz der Mahnwache am 27. November 1987 einen Besuch ab. 483 Die zunehmende Vernetzung versetzte das MfS in Unruhe: Die Rostocker Bezirksverwaltung bemühte sich dementsprechend, dies zu verhindern. »Um eine Reise [...] aus dem Bezirk nach Berlin zu unterbinden«, so ist es in der Information 101/87 der Bezirksverwaltung vom 6. Dezember 1987 nachzulesen, führten »staatliche Organe und Einrichtungen« mit sieben Personen »Vorbeugegespräche«, die einer Belehrungen gleichkamen. 484 Trotz der angedrohten Konsequenzen, »fuhren«, wie es weiter hieß, »S[...] und der ebenfalls belehrte [...] Sch[...] aus Wismar [...] nach Berlin und beteiligten sich an den Mahnwachen in der Zionskirche.« 485 Analog hierzu meldete die Kreisdienststelle Wismar nach Rostock: »S[...] und Sch[...] solidarisieren sich mit den in der Zionskirche in Berlin in Erscheinung getretenen feindlich-negativen Kräften«. 486 Sowohl in Stralsund als auch in Wismar gab es zugleich den Versuch, Mahnwachen zur Unterstützung der Berliner »Umweltbibliothek« durchzuführen. 487 In Greifswald gelangte in gleich vier kirchlichen Schaukästen eine Protestnote der Evangelischen Studentengemeinde und des Ökokreises zum Aushang; als gesondertes Informationsblatt lag diese zugleich in gedruckter Form vor. 488 Die staatliche Seite intervenierte umgehend und wandte sich an die Oberkonsistorialräte Siegfried Plath und Hans-Martin Harder. (Plath wurde vom MfS als IM »Winzer« geführt und 1980 mit einem Verdienstorden sowie Geld- und Sachgeschenken ausgezeichnet; Harder als IM »Hiller« »nicht wissentlich« vom MfS abgeschöpft). 489 »Durch sofortige abgestimmte Maß482 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Wochenübersicht vom 1.12. bis 25.12.1987, betr. OV »Berg« – KD Wismar: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 480, Bl. 244. 483 MfS, BV Rostock, Information Nr. 101/87 über Reaktionen und Erscheinungen im Bezirk, die im Zusammenhang mit den Vorgängen um die Zionskirche in Berlin stehen, Rostock, 6.12.1987: BStU, MfS, AKG, Nr. 195, T. 1, Bl. 39–48, hier 41. 484 Ebenda, Bl. 42. 485 Ebenda. 486 MfS, BV Rostock, KD Wismar, an das MfS, BV Rostock, AKG, Gen. Barnehl, Parteiinformation 26/87, Wismar, 7.12.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 258, T. 1, Bl. 145–147, hier 145. 487 MfS, BV Rostock, Information Nr. 101/87 über Reaktionen und Erscheinungen im Bezirk, die im Zusammenhang mit den Vorgängen um die Zionskirche in Berlin stehen, Rostock, 6.12.1987: BStU, MfS, AKG, Nr. 195, T. 1, Bl. 39–48, hier 46. 488 Ebenda. 489 Zu Siegfried Plath und Hans-Martin Harder: Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 214. Lediglich zu Siegfried Plath: Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der EvangelischLutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 230. Hierzu zudem: »Kein Disziplinarverfahren gegen Harder. Beurlaubung des Greifswalder Konsistorialpräsiden-

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nahmen der staatliche Organe«, hieß es anschließend nebulös beim MfS, gelang es, »die Aushänge aus den Schaukästen [zu] entfernt. Auch »die vorbereiteten Informationsblätter« konnten nicht in den Kirchen der Hansestadt verteilt werden. Ermöglicht hatten dies die Konsistorialräte. 490 Aus Wismar berichtete die Kreisdienststelle, dass Studentenpfarrer Michael Möller federführend »an der Vorbereitung der geplanten«, dann doch nicht durchgeführten »Mahnwache« beteiligt sei. Diese sollte am 4. Dezember 1987 »in der Neuen Kirche der St. Marien/St. Georgen Gemeinde« beginnen. 491 Möller fungiere in Wismar, schreib es das MfS geheimnisvollverschwörungsumwittert, »als Verbindungsperson zu den Ereignissen in der Zionskirche«. 492 Nachdem in Berliner die Mahnwache nach der Freilassung der Inhaftierten endete, entfiel auch in Wismar der Grund für die SolidaritätsAktion. Eine schwer durchschaubare Rolle spielte in Wismar Landessuperintendent Christoph Pentz, der dem MfS unter dem Decknamen »Gabriel Krenz« und »Buda« seit 1982 berichtete. 493 Pentz hatte sich »in einem Gespräch im Rat der Stadt Wismar von [...] [dem] Vorhaben« distanziert, in Wismar ebenfalls eine Mahnwache einzurichten. 494 Im Vorbereitungskreis sprach man hingegen davon, dass, wie es das MfS missmutig protokollierte, »ein ›kampfloser Sieg‹ errungen worden« sei. Man kam überein, in Wismar ebenfalls eine »Umweltbibliothek« zu gründen. Zukünftig strebe man laut MfS an, mit der Berliner ›Umweltbibliothek‹ und den Hetzschriften [...] zuarbeiten« zu wollen. Anfangs plante man noch, eine eigene Samisdat-Zeitschrift herauszugeben, die unter dem Namen ›Küstenwacht‹ oder ›Küstenschutz‹« erscheinen sollte. 495 Hierzu kam es jedoch nicht. Das »Ökumenische Zentrum Umwelt« beteiligte sich vielmehr mit eigenen Beiträgen an den »Umweltblättern« in Berlin. ten aufgehoben«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 13, 16.1.1993, S. 4; Schmoll, Heike: Plath in den Wartestand versetzt. Fast 30 Jahre lang als IM tätig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 44, 22.2.1993, S. 4; Vollnhals, Clemens: Zugleich Helfer der Opfer und Helfer der Täter? Gegenwärtige und historische Sperren für die evangelische Kirche bei der Aufarbeitung ihrer DDRVergangenheit. In: Ders. (Hg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz (Analysen und Dokumente; 7), Berlin 1996, S. 434–446, hier 436. 490 MfS, BV Rostock, Information Nr. 101/87 über Reaktionen und Erscheinungen im Bezirk, die im Zusammenhang mit den Vorgängen um die Zionskirche in Berlin stehen, Rostock, 6.12.1987: BStU, MfS, AKG, Nr. 195, T. 1, Bl. 39–48, hier 46. 491 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Bote«, Wismar, 12.4.1988: BStU, MfS, AOP 1739/90, Bl. 4–18, hier 8. 492 Ebenda. 493 Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 223. 494 MfS, BV Rostock, Information Nr. 101/87 über Reaktionen und Erscheinungen im Bezirk, die im Zusammenhang mit den Vorgängen um die Zionskirche in Berlin stehen, Rostock, 6.12.1987: BStU, MfS, AKG, Nr. 195, T. 1, Bl. 39–48, hier 42. 495 Ebenda.

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3.3.7 Ringen um Öffentlichkeit Opposition bedeutete zugleich auch immer das Ringen um Öffentlichkeit: Um Öffentlichkeit im eigenen Lande und den Zugang zu ausländischen Medien, um über diesen Umweg die Menschen zuhause erreichen und die Missstände im Lande benennen zu können. Die Frage nach der gesellschaftlichen Nützlichkeit, die eine Opposition erlangen müsse, um ihre Daseinsberechtigung in einer Diktatur zu begründen, blieb eng mit dieser Frage verbunden. Der Kontakt nach Berlin verbesserte in Wismar die Wirkungsmöglichkeit. So konnte man nun die Verbindungen der Berliner oppositionellen Gruppen zu westlichen Korrespondenten im Ernstfall nutzen. Angesichts der Verhältnisse im Bezirk Rostock war dies nicht ohne Belang: Nach Ost-Berlin konnten westliche Journalisten, sofern sie hier nicht schon akkreditiert waren, mit einem Tagesvisum von West-Berlin aus einreisen. In den Norden kamen hingegen selten ausländische Korrespondenten. Dem stand – wie in der übrigen DDR – das aufwendige Beantragungsverfahren beim Presseamt in Ost-Berlin entgegen. Jedwede tagespolitisch aktuelle journalistische Arbeit schien so unmöglich. Nur selten – anlässlich von Kirchentagen, Synoden und Jubiläen bereisten westliche Journalisten die Nordbezirke. Auch ein Ausflug nach Leipzig, Dresden oder Erfurt schien demgegenüber Interessanteres zu bieten. Kam es doch mal, wie bei Auseinandersetzung zwischen Jugendlichen und der Volkspolizei am 1. Mai 1978 in Wittenberge zu einem Vorfall, über den man berichten wollte, wurde die Fahrt vom Presseamt untersagt. Westliche Journalisten klagten so wiederholt darüber, dass sie in vergleichbaren Fällen neben der Reise »Gespräche und Interviews beim MfAA [Ministerium für auswärtige Angelegenheiten] beantragt hätten, jedoch wochenlang keine Antwort oder eine Ablehnung erhalten« hätten. 496 Dies würde sich, monierte eine der akkreditierten bundesdeutschen Pressevertreter, auf die Themenauswahl auswirken, da »dies [...] nicht zur Beantragung entsprechender Vorhaben [...] motiviere«. 497 In der Konsequenz kam es nicht allzu häufig vor, dass jemand zu einem Arbeitsaufenthalt in den Norden der DDR aufbrach. Eine Ausnahme war Marlies Menge – akkreditiert für die Hamburger Wochenzeitschrift »Die Zeit«. Sie hielt sich relativ häufig in und rund um Rostock auf. Zwar wurden sie wiederholt auf die »Einhaltung der Journalistenverordnung« hingewiesen. Das Presseamt ermahnte sie, »daß sie schon mehrfach an die Abmeldepflicht beim Verlassen der Hauptstadt erinnert worden sei«. Doch nahm sie es mit den 496 Presseamt beim Ministerrat der DDR, Abt. Journalistische Beziehungen, Sektor 2, Vermerk über ein Gespräch mit Marlies Menge, akkreditierte Korrespondentin »Die Zeit«, am 25.3.1988, Berlin, 28.3.1988: BStU, MfS, HA II/13, Nr. 1592, T. 1, Bl. 207–209, hier 207. 497 Ebenda.

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Vorschriften nicht so genau. Sie verwies das Presseamt darauf, dass ihr dies Prozedere »lästig« sei und »erklärte [...], ›dann müssen sie mich eben verwarnen‹«. 498 All dies hielt sie nicht davon ab, in den Norden zu fahren und dort den Kontakt zu kirchlichen Gruppen zu suchen. 499 Zu ihren Anlaufpunkten zählten der Rostocker Studentenpfarrer Christoph Kleemann und Heiko Lietz, der Marlies Menge gelegentlich auch in ihrer Ostberliner Wohnung aufsuchte. 500 Beide »Kontaktpartner«, so empörte sich das MfS insgeheim, seien »willige Informationsquellen« der West-Journalistin, die sich bemühe, auf ihren Fahrten im Norden »menschliche‹ Kontakte« und den von ihr Angesprochenen aufzubauen. 501 Marlies Menge fuhr auch während der Friedensdekade 1983 Richtung Norden. Am 12. November besuchte sie das »Fest des Friedens« der Jungen Gemeinde in Teterow, knapp fünfzig Kilometer südlich von Rostock. 502 In ihrem Artikel »Beten statt Raketen«, der am 2. Dezember 1983 in der »Zeit« erschien, schilderte Marlies Menge anschaulich ihren Besuch in der mecklenburgischen Kreisstadt. 503 Als Gegenpart ließ Marlies Menge den Kampfgruppenkommandeur Manfred Semrau aus Berlin-Treptow, den sie im Restaurant des Internationalen Pressezentrums in Ost-Berlin traf, zu Wort kommen. Ein »junger Mann«, der »Sohn eines Pfarrers«, schilderte ihr in der Jungen Gemeinde, dass er »nur bis zur 10. Klasse zur Schule gehen« und »kein Abitur machen« dürfte. 504 Ausschlaggebend hierfür sei seine Nichtmitgliedschaft in der FDJ. Während jene Begegnung im Zeit-Artikel nachzulesen war, fand sich eine andere Geschichte nicht wieder. Eine Krippenerzieherin schilderte der Besucherin, dass sie auf Arbeit gemaßregelt wurde. Zuvor hatte sie in einer »Aussprache« den Raketenstationierungsbeschluss der DDR kritisiert. 505 Die Leitung habe sie daraufhin aus der Kreisstadt abgezogen und in eine entlegene Krippe in ein dreizehn Kilometer entferntes Dorf zur »sozialistischen Hilfe« »abdelegiert«. »Ich gewann den Eindruck«, so berichtete eine MfS498 Ebenda. 499 Ebenda. 500 MfS, HA II/13/A 1, Neue Erkenntnisse aus der Bearbeitung des OV »Blase«, Berlin, ohne Datum: BStU, MfS, HA II/13, Nr. 1592, T. 1, Bl. 155–163, hier 161; MfS, HA II/13, Lageeinschätzung im OV »Troja«, Berlin, 20.12.1984: BStU, MfS, HA II/13, Nr. 1592, T. 1, Bl. 267 f.; MfS, HA II/13, Lagefilm vom 7.2.1986, Uhrzeit 9:45: BStU, MfS, HA II/13, Nr. 1592, T. II, Bl. 303; MfS, HA II/13, Rapport, Zusammentreffen mit DDR-Bürgern: BStU, MfS, HA II/13, Nr. 1592, T. II, Bl. 340. 501 MfS, HA II/13/A 1, Neue Erkenntnisse aus der Bearbeitung des OV »Blase«, Berlin, ohne Datum: BStU, MfS, HA II/13, Nr. 1592, T. 1, Bl. 155–163, hier 161. 502 MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, Bericht zur Vergleichsarbeit zwischen dem Artikel der BRD-Journalistin M. Menge vom 2.12.83 und den inoffiziellen Ergebnissen über die Aussagen von Mitgliedern der Jungen Gemeinde Teterow, Neubrandenburg, 3.2.1984: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AOPK 492/85, Bd. I, Bl. 70. 503 Menge, Marlis: Beten gegen Raketen. In: Die Zeit, Nr. 49/1983, 2.12.1983. 504 Ebenda. 505 MfS, BV Neubrandenburg, KD Teterow, Auszug aus IM-Bericht vom 08.11.83, Teterow, 14.12.1983: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AOPK 492/85, Bd. I, Bl. 64 f., hier 65.

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»Informantin« über das Treffen, »daß sich A. voll bewußt war, daß die Journalistin alles notierte, um ihre Meinung mal der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.« 506 Warum jene Geschichte, die weit mehr Konfliktstoff in sich barg, als die vom Pfarrersohn, dem man das Abitur verwehrte, im Beitrag keine Erwähnung fand, blieb im Unklaren. Die Zurückhaltung mochte einem Umstand geschuldet sein: Wer als Korrespondent die DDR außerhalb der vorgegeben Route bereiste, glaubte abzuwägen zu müssen, was noch berichtet werden kann. Schließlich sollten die Gastgeber und Gesprächspartner nicht übermaßen gefährdet werden. Anders als in Berlin und in anderen Ballungsräumen ließen sich jene auf dem »platten Land« einfacher ermitteln. Zugleich ging es aber auch darum, die einmal aufgebauten Gesprächskontakte als Informationsquellen nicht durch eine allzu sorglose Berichterstattung zu gefährden und somit gegebenenfalls zu verlieren. Welche Bedeutung den hiermit einhergehenden Befürchtungen zukommen mochte, zeigte das Vorgehen von Heiko Lietz nach den tödlichen Schüssen eines MfS-Wachmanns auf zwei Passanten vor der Güstrower MfSKreisdienststelle am 21. Dezember 1984. 507 Wenig später, am frühen Abend des 22. Dezember, wandten sich zwei Güstrower – unter ihnen ein Augenzeuge – an Heiko Lietz. Eine Rolle spielte dabei das Ansehen, das dem stadtbekannten Systemkritiker angesichts seines Engagements vorauseilte. Beide hofften, den Eindruck gewann Heiko Lietz, dass er sich »dieser furchtbaren Geschehnisse annehmen«, sich um die »Betroffenen kümmern, Öffentlichkeit herstellen und zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen würde«. 508 Sein Besuch bei den Angehörigen blieb dem Staatssicherheitsdienst nicht verborgen. Doch sah Heiko Lietz nicht die Gelegenheit, einen Vertreter der Westpresse zu kontaktieren. Jene hatten zwar gerüchteweise – so Lietz – davon erfahren, scheuten sich »wegen der ungeheuren Brisanz der Ereignisse« jedoch davor, in die Berichterstattung einzusteigen. 509 Andererseits schreckte Heiko Lietz davor zurück, sich direkt in Berlin an einen akkreditierten Journalisten zu wenden. Sollte über den Vorfall im westlichen Ausland detailliert berichtet werden, so würde sich der Verdacht aufdrängen, dass er hiermit in Verbindung stünde. Bereits am 9. Januar 1985 leitete die Staatssicherheit die ersten Schritte gegen Heiko Lietz ein. Anlass boten seine eigenständigen Recherchen. Am Morgen des 9. Januar führte ihn der Staatssicherheitsdienst dem Bezirksstaatsanwalt vor, der Lietz ausdrücklich verwarnte. Es folgten drei weitere Vernehmungen und eine vierzehntägige Rund-um-die-Uhr-Überwachung. In jenen zwei Wochen trieb man gegen Lietz ein Prüfverfahren auf Einleitung eines Ermitt506 Ebenda. 507 Lietz, Heiko: Stasi-Wachmann tötet zwei Güstrower. Ein Erfahrungsbericht. In: HuG 17 (2008) 1, Nr. 59, S. 38–41. 508 Ebenda, S. 38. 509 Ebenda, S. 40.

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lungsverfahrens auf der Grundlage des § 214 des Strafgesetzbuches (Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit) und § 219 (Ungesetzliche Verbindungsaufnahme) voran. Dass es nicht zu einem Ermittlungsverfahren und möglicherweise einer Inhaftierung kam, führt Lietz nicht zuletzt auf die Solidarität von Landesbischof Christoph Stier zurück. Jener habe ihm und seiner Familie in aller Offenheit beigestanden »und damit den staatlichen Stellen klar signalisiert, dass er in dieser schwierigen Situation unmissverständlich« zu ihm halten würde. 510 Erst im März sah Heiko Lietz die Chance, »mit Hilfe einer geschickten Regie die Ereignisse in Güstrow doch noch öffentlich zu machen«. Während des Friedensseminars »Konkret für den Frieden« im März 1985 in Schwerin, das in Anwesenheit eines Vertreters des bundesdeutschen Evangelischen Pressedienstes stattfand, bat Heiko Lietz Oberkirchenrat Peter Müller, 511 sich hierzu zu äußern. Zuvor war der Präsident des Oberkirchenrates von Heiko Lietz in die Vorgänge eingeweiht worden. Müller schilderte vor dem öffentlichen Plenum den Tathergang, wie er sich nach den Recherchen von Lietz aller Wahrscheinlichkeit nach abgespielt haben musste. Tags darauf griffen sowohl der Deutschlandfunk als auch bundesdeutsche Zeitungen den Vorgang auf. 512 Auch Hans-Jürgen Röder begab sich über Berlin und Leipzig hinaus immer wieder auf den Weg Richtung Norden. Ab 1975 arbeitete Röder für die in West-Berlin erscheinende und auf die Verhältnisse in der DDR ausgerichtete Zeitschrift »Kirche im Sozialismus«. Zu seinen Aufgaben zählte zugleich die Berichterstattung für den bundesdeutschen Evangelischen Pressedienst über das kirchliche Leben in der DDR. 513 In den Jahren vor 1979 vermochte HansJürgen Röder von West-Berlin aus nur zu Privatbesuchen oder als Tourist für maximal vierundzwanzig Stunden in die DDR einzureisen. Journalistische Erkundungen in Ost-Berlin ließen sich so relativ einfach bewerkstelligen. Recherchen in den entfernteren Teilen der DDR erforderten hingegen einen erheblichen Kraftaufwand, den Röder um der Sache willen auf sich nahm. Wie 510 Ebenda. 511 Peter Müller, dessen »Klassifikation« entsprechend dem Schema »progressiv/neutral/negativ« den staatlichen Stellen Schwierigkeiten bereitete, wurde ab 1986 vom MfS im OPK »Präsident« observiert und bespitzelt. Nach: Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 108. 512 Lietz, Heiko: Stasi-Wachmann tötet zwei Güstrower. Ein Erfahrungsbericht. In: HuG 17 (2008) 1, Nr. 59, S. 38–41, hier 40. 513 Kuschel, Sabine: Als West-Journalist im Osten verwurzelt. Interview mit Hans-Jürgen Röder, scheidender Chefredakteur des Landesdienstes Ost des Evangelischen Pressedienstes (epd). In: Glaube und Heimat. Mitteldeutsche Kirchenzeitung, Nr. 7, 13.2.2011, S. 11; Baum, Karl-Heinz: Er konnte den Menschen in der DDR eine Stimme geben. In: Glaube und Heimat (ebenda); »Als WestKorrespondent in der DDR verwurzelt. Im Gespräch mit Hans-Jürgen Röder, scheidender Chefredakteur des Landesdienstes Ost des Evangelischen Pressedienstes (epd)«. In: MPKZ, 66. Jg., Nr. 6, 13.2.2011, S. 5.

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sich Röder erinnerte, reiste er frühmorgens nach Ost-Berlin ein und »war in zweieinhalb bis drei Stunden in Magdeburg, Dresden oder Rostock, blieb dort bis zum Abend und fuhr dann wieder zurück«. 514 Bis Null Uhr, so Röder weiter, »musste man am Grenzübergang sein, sonst gab es Ärger«. 515 1979 erreichte der Evangelische Pressedienst, dass Röder wie die Korrespondenten anderer Agenturen auch, fest in Ost-Berlin akkreditiert wurde und in den Genuss verbesserter Arbeitsbedingungen gelangte. Der Journalist erinnerte sich, dass er in den folgenden Jahren »oft zu ganz banalen Veranstaltungen nach Erfurt, Dresden oder Greifswald« fuhr, wenn er wusste, dass er »dort bestimmte Leute« treffen konnte. Zugleich war ihm stets bewusst, dass seine Tätigkeit »ziemlich auffällig von der Stasi beobachtet« wurde. Häufig traf er auf Kirchenvertreter, die »immer große Sorgen hatten«, dass etwas aus ihrem Bereich »in westlichen Medien zitiert« werden würde. Sie befürchteten, so Röder weiter, »dass sie von staatlichen Vertretern dafür zur Verantwortung gezogen werden« könnten. 516 Eine weit verbreitete Einstellung, die keinen Sinn ergab, da sich niemand, wie Röder die Betreffenden zu überzeugen versuchte, »für die Berichterstattung von westlichen Korrespondenten [...] verantworten« müsse. Nicht selten half derlei Zureden kaum. »Es gab Leute«, so Röder, »bei denen hatte ich immer das Gefühl, es war ihnen unangenehm, wenn ich auftauchte«. 517 Zu den Themen, die manch ein kirchlicher Verantwortlicher nicht in der Berichterstattung bundesdeutscher Medien wiederzufinden hoffte, zählte auch die Arbeit der Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen. Die sich unter dem »Dach der Kirche« findenden Gruppen standen so vor der Herausforderung, sich im doppelten Sinne emanzipieren zu müssen. Zum einen bedurfte es sowohl der Einsicht als auch der Überwindung, sich der bundesdeutschen Medien bedienen zu wollen. Schließlich waren jene von der DDR-Propaganda als »feindlich« stigmatisiert worden. Auch die Strafgesetze der DDR untersagten die Weitergabe von Informationen, sofern dies der DDR »zum Nachteil« gereichte – was vorausgesetzt werden konnte. 518 Zum anderen machte sich, wer mit westlichen Korrespondenten verkehrte, verdächtig. Doch gab es neben den Bedenkenträgern, wie Hans-Jürgen Röder ausführte, in der Kirche ebenso »Leute, die stabil genug waren und entsprechend 514 Kuschel: Als West-Journalist im Osten (ebenda), S. 11. 515 Ebenda. 516 Ebenda. 517 Ebenda. 518 § 99 (Landesverräterische Nachrichtenübermittlung. Hier heißt es unter Punkt (1): »Wer der Geheimhaltung nicht unterliegende Nachrichten zum Nachteil der Interessen der Deutschen Demokratischen Republik an die in § 97 genannten Stellen oder Personen übergibt, für diese sammelt oder ihnen zugänglich macht, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu zwölf Jahren bestraft.« Nach: Strafgesetzbuch – StGB – sowie angrenzende Gesetze und Bestimmungen. Textausgabe. Hg. v. Ministerium der Justiz. Berlin (Ost) 1981, S. 52.

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gegenhalten konnten, wenn sie unter Druck gesetzt wurden«. 519 Auch hier eröffnete die pluralistische Verfasstheit und Vielstimmigkeit der evangelischen Kirchen in der DDR den Gruppen jene Spielräume, die sie in ihrer Arbeit zu nutzen wussten. »Es gab«, so Röder hierzu, wie überall im Leben auch hier »unterschiedliche Naturelle«. 520 Der Umstand, dass man davon ausgehen musste, dass im Norden – anders als in Berlin – vieles unbeobachtet von außen vor sich ging, zählte zu Handlungsbedingungen der Gruppen in Greifswald, Wismar und Rostock. Eine Ausnahme stellte das »Ökumenische Zentrum Umwelt« in Wismar dar. Hier verstand man es, sich sowohl über die Berliner Oppositionsszene als auch unabhängig davon eigene Informationskanäle in den Westen zu erschließen. So gelangte eine allem Anschein nach von einem Wismarer Aktivisten besprochene Tonbandkassette über den »Marktspaziergang« von Ausreiseantragstellern am 1. März 1988 im Hamburger Radiosender NDR I zur Ausstrahlung. Einzelnen West-Journalisten nutzten darüber hinaus, »eine Privatreise nach Rostock«, um von hier zu berichten. Wie die MfS-Bezirksverwaltung im Nachhinein monierte, »mißbrauchte« im Herbst 1987 »der BRD-Journalist Böttiger, Helmut« eine als privat beantragte Fahrt »zur Realisierung« seines »journalistischen Vorhabens«. In der Folge erschien in der Stuttgarter Zeitung unter der Überschrift »Yuppies und Hausbesitzer gibt es auch in Rostock« ein Artikel über die Wohnungsbesetzerszene in der Östlichen Altstadt. Auch der Norddeutsche Rundfunk berichtete auf seinen Radiofrequenzen über das neuartige Phänomen in der nördlichsten Bezirksstadt der DDR. 521 Während Böttiger mit verklärtem Blick auf die edlen Wilden in der Östlichen Altstadt schaute und deren Raumnahme eher kulturalisierte und entpolitisierte, zeichnete der West-Journalist Frank Blohm eine reflektiert kritisches Bild von den Zuständen im Osten. Blohm, der ebenfalls als Privatbesucher inkognito die DDR bereiste, beschrieb in seinem unter dem Pseudonym Per Ketmann erschienenen Buch »Anders Reisen DDR« einfühlsam und präzise die Probleme in der DDR und den aufkeimenden Protest. Die einleitenden Kapitel und der folgende Abschnitt »Seewärts – Rostock und die Ostseeküste« vermögen daher noch heute einen Eindruck von den damaligen Verhältnissen zu vermitteln. 522

519 Kuschel, Sabine: Als West-Journalist im Osten verwurzelt. Interview mit Hans-Jürgen Röder, scheidender Chefredakteur des Landesdienstes Ost des Evangelischen Pressedienstes (epd). In: Glaube und Heimat. Mitteldeutsche Kirchenzeitung, Nr. 7, 13.2.2011, S. 11. 520 Ebenda. 521 MfS, BV Rostock, Abt. XX/8 S, Konzentrationspunkte von Studenten der W.-PieckUniversität Rostock in der Östlichen Altstadt, Rostock, 2.6.1988: BStU, MfS, HA XX, Nr. 2525, Bl. 15–17. 522 Ketman, Per; Wissmach, Andreas: Anders Reisen DDR. Ein Reisebuch in den Alltag. Reinbek 1986, S. 200–226.

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3.3.8 Unter dem »Dach der Kirche« und zugleich zwischen Widerstand und Opposition – das Ökumenische Zentrum Umwelt Wismar Auch beim Ökumenischen Zentrum Umwelt in Wismar mischten sich verschiedene Handlungsansätze. Neben dem Bestreben, keineswegs legale, aber nicht ausdrücklich verbotene Betätigungsformen zu nutzen – um weniger angreifbar zu sein – stand die bewusste Gesetzesübertretung. Auch ging es den Initiatoren darum, »sich nicht nur auf Umweltprobleme zu beschränken, sondern darüber hinaus interessierende Fragen der Gesellschaft mit einzubringen«. 523 Hierzu zählten Menschenrechtsfragen ebenso wie die Unterstützung der Ausreiseantragsteller. Auskunft hierüber gibt auch ein MfS-Dossier: Als Ziel formulierte die »Arbeitsgruppe ÖZU« den »politischen Anspruch [...] zur Überwindung [...] gesellschaftlicher Mängel und Mißstände in der DDR« durch ihr Tun beizutragen. 524 An anderer Stelle führte das MfS aus: Im »Informations- und Kommunikationszentrum« gehe »es nicht vorrangig um wirklich ökologische Probleme«. 525 Ziel der Organisatoren ist es vielmehr, so die MfS-Kreisdienststelle Wismar, »solche gesellschaftlichen Probleme aufzugreifen, die politische Konflikte hervorrufen und somit geeignet sind, die Tätigkeit gesellschaftlicher bzw. staatlicher Organe zu beeinträchtigen«. 526 Das »Kommunikations- und Informationszentrum« sei, hieß es weiter, Resultat »eines konzeptionellen Vorgehens« oppositionell eingestellter »Kräfte« in der DDR. Wichtig sei dabei die »Taktik der kleinen Schritte«. Nachdem in der Vergangenheit entsprechende Versuche gescheitert seien, sehe man diese als »erfolgversprechend« an. 527 All dies veranlasste die Staatssicherheit gegen die an der Umweltbibliothek Beteiligten vorzugehen. Angelegt wurden die OperativVorgänge »Berg«, »Pazifist« und »Bote«. 528 »Öffentliche Herabwürdigung« und Verdacht auf Bildung eines »Verfassungsfeindlichen Zusammenschlusses« (§ 220 und 107 des DDR-StGB) lauteten die hier enthaltenen Anschuldigungen. Zum Teil konspirativ, halbverdeckt und mit Vorladungen und Befragungen ging man im Weiteren gegen die »Urheber« vor.

523 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Wochenübersicht vom 25.12. bis 31.12.1987, betr.: Aufbau einer Umweltbibliothek in Wismar: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 480, Bl. 235–237, hier 235. 524 MfS, BV Rostock, Abt. XX, betr.: Aktuelle Erkenntnisse zur weiteren Perspektive der »Arbeitsgruppe Ökumenisches Zentrum für Umweltarbeit Wismar«, Rostock, 18.7.1989: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 594, Bl. 100. 525 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Bote«, Wismar, 12.4.1988: BStU, MfS, AOP 1739/90, Bl. 4–18, hier 8. 526 Ebenda. 527 MfS, HA XX/4, Einschätzung der Aktivitäten kirchlicher Ökologiegruppen, Berlin, 15.11.1987: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 3687, Bl. 72–91, hier 81. 528 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Bote«, Reg.-Nr. I/78/88, Wismar, 12.4.1988: BStU, MfS, AOP 1739/90, Bl. 4–18.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Das Ökumenische Zentrum Umwelt steht zugleich für die »Lernleistungen« und Anleihen bei der Suche nach praktikablen Formen oppositioneller Betätigung in der DDR. Die in den siebziger Jahren gesammelten Erfahrungen kamen den Gruppen in den Achtzigern zugute. Mit dem Studentenpfarrer Michael Möller fanden die Initiatoren einen wichtigen Unterstützer, der nicht nur ihre politischen Forderungen teilte und sich an der Arbeit des Kreises beteiligte. Er stellte auch die benötigten Räume bereit. Michael Möller konnte bereits der oppositionellen Szene der siebziger Jahre in Leipzig zugerechnet werden. 529 Auf der Suche sowohl nach inhaltlichen Vorbildern als auch einer eigenen Formensprache setzte sich diese mit den systemkritischen Schriften polnischer Dissidenten wie Jacek Kuroń und Leszek Kołakowski oder den Texten der DDR-Regimekritiker Robert Havemann und Rudolf Bahro auseinander. Über den 1978 in Leipzig inhaftierten Theologiestudenten Rainer Alisch 530 stand Michael Möller indirekt mit den im Operativ-Vorgang »Michael« in Rostock-Gehlsdorf erfassten Jugendlichen in Kontakt. In Leipzig hatte sich Möller, wie es im MfS-Dossier zu ihm hieß, »an der Beschaffung, Vervielfältigung und Verbreitung von feindlich-negativer Literatur, wie u. a. ›Charta 77‹« beteiligt. 531 Zugleich leitete das Kreisgericht Leipzig-Mitte gegen ihn ein Ermittlungsverfahren ein, sah jedoch von einer Inhaftierung ab. »Pfarrer Dr. Möller« stehe seit langem, so die Staatssicherheit hierzu, »ständig [in] Kontakt [...] zu Exponenten der politischen Untergrundtätigkeit«. Auch habe er sich »seit dieser Zeit [...] mit der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR« 532 auseinandergesetzt. Möller fragte wie die anderen danach, wie sich die Kritik am System öffentlichkeitswirksam umsetzen lasse. Michael Möller blieb 1978 in Leipzig zwar die Inhaftierung erspart. Doch sahen sich er und sein Freundeskreis Einschüchterungen, Vernehmungen und Repressalien ausgesetzt. Möller blieb auch in den folgenden Jahren seinen Überzeugungen treu und ermutigte andere – indem er sich nicht zurückzog und weiter kritisch seine Stimme erhob. Der Staatssicherheit fiel Möller auch bald als Studentenpfarrer in Wismar auf. In der ESG behandelte er politische Themen und erinnerte in den von ihm gehaltenen Gottesdiensten und Fürbitten an die politischen Gefangenen in der DDR. Möller sprach sich dafür aus, dass »die Herrschenden ihre Macht nicht mißbrauchen sollten, um ihre Interessen durchzusetzen und [...] die Minderheit, die Kritik an der Machtausübung üben, zu tolerieren« habe. Schließlich unterstützte er den Öko-Kreis und die Umweltbibliothek und lud im Frühjahr 1988 den systemkritischen Liederma529 Ebenda, Bl. 5. 530 Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 346). 2. Aufl., Bonn 2000, S. 320. 531 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Bote«, Reg.Nr. I/78/88, Wismar, 12.4.1988: BStU, MfS, AOP 1739/90, Bl. 4–18, hier 5. 532 Ebenda.

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cher Stephan Krawczyk zum Konzert nach Wismar ein. Zugleich engagierte er sich zugunsten der Ausreiseantragsteller in Wismar. 533 Die DDR der achtziger Jahre, in der es sich vermeintlich ruhig leben ließ und in der manches möglich schien, was in den frühen Jahren nicht geduldet worden war, holte immer wieder die Vergangenheit ein. Ähnlich wie im Fall von Michael Möller verhielt es sich bei Willi Lange, dem Pfarrer von Dreveskirchen, sechs Kilometer östlich von Wismar. Pfarrer Lange unterstützte die Öko-Szene in ihrer Arbeit und war zugleich ein Teil von ihr. 534 Zusammen mit dem Arzt Michael Berger vom Ökumenischen Zentrum Umwelt führte Pfarrer Lange vom 14. bis 16. Juni 1985 in Dreveskirchen ein Umweltseminar durch. An ihm nahm unter anderem Vera Wollenberger vom Berliner Friedenskreis Pankow teil. 535 Auch ihn ließen seine frühen Erfahrungen im SED-Staat zeitlebens nicht mehr los. Am 24. November 1961 war Lange als Theologiestudent in Leipzig inhaftiert und »wegen fortgesetzter schwerer und planmäßiger staatsgefährdender Propaganda und Hetze« zu einundzwanzig Monaten Gefängnis verurteilt worden. 536 Konkret hielt man ihm vor, »Mitinitiator einer antisozialistischen Plattform unter [den] Studenten« gewesen zu sein. 537 Als ihn Jahre später, im Oktober 1982, der »Referent für Kirchenfragen der Abteilung Inneres« bedrängte und aufforderte, »den Aufnäher ›Schwerter zu Pflugscharen‹ von seinem Anorak zu entfernen«, vernahm er dies als Déjà-vu: »Sollten ihm diesmal wiederum Schwierigkeiten entstehen«, gibt das MfS seine Worte wieder, »so ist er gewillt, auch diese erneut auf sich zu nehmen, einmal mußte er ja schon ins Gefängnis«. 538 Die Umweltbibliothek Wismar fiel dem MfS durch eine Reihe von Aktivitäten auf, die sich kaum noch als innerkirchlich bezeichnen ließen. Neben Samisdat-Zeitschriften verteilte man illegal im Siebdruck- und Fotoverfahren andernorts hergestellte Protestpostkarten, Plakate, Aufnäher, Aufkleber und mit politischen Losungen versehene T-Shirts. Mit einem solchen bekundete Michael Pahl, einer der Mitbegründer, Ende 1988 seinen Protest gegen den Rauswurf von mehreren Oberschülern der EOS »Carl von Ossietzky« in Ber533 Ebenda, Bl. 8. 534 Lange, Willi: Such dir einen zweiten Mann. Von Stasihaft in Leipzig und mecklenburgischem Landpastorenleben. Schwerin 2010; MfS, BV Rostock, KD Wismar, Einleitungsbericht zur OPK »Berg«, Wismar, 23.8.1984: BStU, MfS, BV Rostock, KD Wismar, Nr. 9, Bl. 13–18, hier 13. 535 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Eröffnungsbericht zum Anlegen des Operativ-Vorganges »Küster«, Wismar, 10.7.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 6–17, hier 11. 536 Urteil des 1. Senats des Bezirksgerichts Leipzig, Leipzig, 31.7.1962: BStU, MfS, BV Leipzig, AU 2177/62, Bd. IV, Bl. 72–81, hier 82; MfS, BV Leipzig, Abt. V/4, Schlussbericht zum Operativvorgang »Holzwurm«, Leipzig, 27.8.1962: BStU, MfS, BV Leipzig, AOP 2703/62, Bl. 348. 537 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Eröffnungsbericht zum Anlegen des Operativ-Vorganges »Küster«, Wismar, 10.7.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 6–17, hier 17. 538 Ebenda.

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lin. 539 Zuvor hatte man sie dazu ermuntert, ihre politische Meinung auf einer Stellwand niederzuschreiben. Da diese nicht dem entsprach, was man zu denken hatte, wurden sie zur Verantwortung gezogen. Mit einem T-Shirt mit dem Aufdruck »Carl von Ossietzky: Das Risiko eine eigene Meinung zu haben. Solidarität mit den bestraften Schülern« fiel Michael Pahl am Nachmittag des 13. November 1988 »zwei Staasi-Beamten [sic!] [...] in der Nähe des Wismarer Marktes« auf. Wie die Berliner »Umweltblaetter« berichteten, wurde er zur Vernehmung abgeführt. 540 Auf dem Wismarer Marktplatz fand zu jenem Zeitpunkt eine Manifestation der Kampfgruppen statt, die es vor Störungen zu schützen galt. Suspekt erschien den DDR-Staatsschützern, dass Michael Pahl mit seinem T-Shirt zusammen mit zwei anderen stadtbekannten Umweltaktivisten, unter anderem Guntram Erdmann, grade jetzt auf dem Markt erschien. »Nach viereinhalb Stunden Verhör und der Abgabe des Hemdes«, schrieb das »Info-Blatt« der Umweltbibliothek, ließ man Pahl wieder gehen. Die ganze Zeit über harrten seine beiden Begleiter vor dem Gebäude aus. Wegen »Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit«, so die offizielle Begründung, erging gegen Michael Pahl eine Ordnungsstrafe in Höhe von 400 Mark. 541 Sechs Tage später, am 19. November 1988, nahm die Volkspolizei mit Guntram Erdmann erneut einen Umweltaktivisten fest. Den Hintergrund bildete diesmal eine Aktion gegen die »Streichung der [sowjetischen] Zeitschrift ›Sputnik‹ von der Postzeitungsliste«. 542 Zuvor waren hier von der DDRFührung als zu kritisch empfundene Artikel erschienen. Auf dem zur Feierabendzeit, »gegen 16.20 Uhr«, gut besuchten Boulevard protestiert Guntram Erdmann gegen das kurz zuvor erlassene Verbot, mit dem sich die DDR gegen die Reformbestrebungen der Sowjetunion sperrte. Den Ort hatte er mit Bedacht gewählt. Unmittelbar gegenüber, auf der anderen Straßenseite, befand sich der »Sitz der SED-Kreisleitung«. 543 »E. trug«, so ist es in der Eilmeldung 539 Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., 2009, S. 292 f. 540 Pahl, Michael: Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit in Wismar. In: Umweltblaetter. Info-Blatt des Friedens- und Umweltkreises Zionskirchgemeinde, 3 (1988) 12, S. 3; MfS, BV Rostock, Abt. XX/AI, Monatsbericht November 1988, Rostock, 5.12.1988: BStU, MfS, HA XX/AKG Nr. 6571, Bl. 52–57, hier 55; Vgl. hierzu auch: Wagner, Andreas: Das Ökumenische Zentrum für Umweltarbeit Wismar. Eine kirchliche Basisgruppe in der DDR-Endphase. In: Engelhardt, Kerstin; Reichling, Norbert (Hg.): Eigensinn in der DDR-Provinz. Vier Lokalstudien über Nonkonformität und Opposition. Schwabach 2011, S. 69–139, hier 89. Demnach kam es zu dem Protest bereits am 12. November 1988. 541 Ebenda sowie MfS, BV Rostock, Abt. XX/AI, Monatsbericht November 1988, Rostock, 5.12.1988: BStU, MfS, HA XX/AKG, Nr. 6571, Bl. 52–57, hier 55. 542 MfS, ZOS, Information Nr. 1472/88: BStU, MfS, ZOS, Nr. 1926, Bl. 132. 543 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Vorschlag zur Archivierung des IM-Vorganges und [zur] Aufnahme der aktiven operativen Bearbeitung, Rostock, 2.12.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bd. I, Bl. 305–308, hier 308.

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der Rostocker Bezirksverwaltung an den Berliner Zentralen Operativstab vom selben Tag, 21 Uhr, nachzulesen, »auf dem Rücken ein ca. 1 m x 0,5 m großes weißes Leinentuch, auf dem mittels großer schwarzer Farbe in ca. 10 cm großen Buchstaben der Text ›Gegen die Streichung des Sputnik‹ geschrieben war«. 544 Nach Rücksprache mit der MfS-Bezirksverwaltung verhängte die Volkspolizei gegen den Küster eine Ordnungsstrafe in Höhe von 400 Mark. 545 Eine Grundlage bot abermals die Ordnungswidrigkeiten-Verordnung (OWVO) vom 22. März 1984. Ihre Novellierung erfolgte Anfang der achtziger Jahre, um oppositionelle Aktivitäten unterhalb der Schwelle der Inhaftierung wirkungsvoll ahnden zu können. Vorgesehen waren nun auch höhere Ordnungsstrafen 546, die, wie in diesem Fall, große Teile des Einkommens requirierten. Verbunden mit weiteren Schikanen sollte dies den erhofften Disziplinierungseffekt erbringen. Dass die Protestaktion keine weiteren Konsequenzen nach sich zog, konnte verschiedene Gründe haben: So hatte die Umweltgruppe inzwischen eine gewisse Popularität erlangt. Unter Umständen schreckte man davor zurück, einen über die Bezirksgrenzen hinaus bekannten politischen »Märtyrer« zu schaffen. Schließlich hatte das Ökumenische Zentrum Umwelt in der Vergangenheit bewiesen, dass man in der Lage war, mit provokanten Aktionen in die bundesdeutsche Presse zu gelangen. Am 12. Juli 1988 präsentierte die »Die Welt« ihren Lesern, so die Bezirksverwaltung Rostock in einer ihrer Wochenübersichten, eine »schriftliche Zusammenfassung der Ereignisse [...] [in] Wismar«. 547 Man vermutete, dass eine »Kontaktperson« aus dem Umfeld des ÖZU seine »Aufzeichnungen [...] [...] [...] einer Kontaktperson in Berlin übergeben« habe. Über einen IM hatte die Kreisdienststelle erfahren, dass »entgegen den Absichten [...] diese [...] wörtlich in der Westpresse wiedergegeben worden« seien. 548 Zwei Mitglieder des Zentrums unterhielten, wie es umständlich hieß, »postalische Kontakte in die BRD zu kirchlich gebundenen Personen« – es bestanden Brieffreundschaften. 549 »Durch die eingeleitete MUmleitung«, also die insgeheim durchgeführte Postkontrolle, wusste man seit

544 Ebenda. 545 Ebenda. 546 Verordnung zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten – OWVO – vom 22.3.1984. In: Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 14. Berlin, den 15.5.1984, S. 173–177 sowie Art. Ordnungswidrigkeiten. In: DDR-Handbuch. Hg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bd. 2, 3. Aufl., Köln 1985, S. 956 f. 547 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Wochenübersicht vom 19.7. bis 12.8.1988, hier Meldung der Kreisdienststelle Wismar vom 14.7.1988: Interne Zusammenkunft von Mitgliedern des »ÖZU« am 12.7.1988: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 480, Bl. 19–23, hier 22. 548 Ebenda. 549 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Eröffnungsbericht zum Anlegen des Operativ-Vorganges »Küster«, Wismar, 10.7.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 6–12, hier 7.

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1984, dass sich die Briefpartner intensiv über ihre politischen Ansichten und Aktionen austauschten. 550 Möglichweise schütze Guntram Erdmann aber sein Doppelleben vor einschneidenden Konsequenzen. Seit 1984 galt Erdmann beim MfS als IMKandidat, mit dem man sich ab November 1984 regelmäßige traf. Bereits in der Anwerbungsphase gelangte das MfS an sensible Details, so über eine im Rostocker »Schalom-Kreis« engagierte Frau. 551 Nach den ersten Gesprächen zeigte sich das MfS überzeugt, »daß [...] [Guntram Erdmann] bereit ist, Aussagen zu Personen zu tätigen«. 552 Anscheinend noch 1984 erfolgte die Verpflichtung und Einstufung als IMS »Isaak«. Aufgrund seiner umfangreichen Kontakte entschied man, ihn im April 1985 zum IMB umzuregistrieren, um ihn seiner Bedeutung entsprechend aufzuwerten. 553 Mit einer Inhaftierung hätte das MfS seinen wertvollsten Spitzel im ÖZU verloren. Obwohl dies plausibel scheint, sah die Praxis komplizierter aus. Guntram Erdmann entzog sich in vielfacher Weise den gängigen Kategorien: Der Mitbegründer des ÖZU kam über Umwege zur kirchlichen Friedens- und Umweltarbeit. Als Abiturient begeisterte er sich für die marxistische Sache, »arbeitete [...] aktiv im Singeklub« der EOS ab 1969 mit und meldete sich freiwillig zum dreijährigen Armeedienst, den er in der Volkspolizei-Bereitschaft »Erich Weinert« in Stralsund antrat. 554 Während des Besuches der VPUnterführerschule in Dresden trat er der SED bei und engagierte sich »aktiv im Rahmen der FDJ«. Bald regte sich Unmut innerhalb der SED-Gruppe, deren Genossen das rastlose Neumitglied und dessen als ketzerisch empfundene Fragen kaum akzeptieren. Hinzu traten die ersten Zweifel an der Ideologie des Marxismus–Leninismus. All dies führte 1983 dazu, dass man ihn »am 24.10.1983 [...] aufgrund der Entfernung von der [...] Linie der Partei aus den Reihen der SED« ausschloss, ohne, wie das MfS später anmerkte, »daß der Standpunkt von E. eingehend angehört und geprüft« worden wäre. 555 Doch auch das MfS wurde nicht schlau aus dem inzwischen äußerlich mit Bart und langen Haaren sich als Aussteiger präsentierenden Jugendlichen. Erdmann neige dazu, so das MfS argwöhnisch, »aufzufallen«. Er habe sich, so brachte es die Kreisdienststelle in Erfahrung, zunächst »dem Buddhismus verschrieben, 550 Ebenda. 551 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Quelle: IM Kandidat »Isaak«, Information zu [Name], [Vorname], geb. am [Datum], in Rostock, Rostock, 5.12.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bd. I, Bl. 129. 552 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Bericht über das geführte Kontaktgespräch mit dem IMKandidaten »Isaak«, Rostock, 20.11.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bd. I, Bl. 120. 553 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Vorschlag zur Umregistrierung des IMB »Isaak«, I/1896/84 zum IMB, Rostock, 18.4.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bd. I, Bl. 151 f. 554 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Auskunftsbericht, Rostock, 3.5.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bl. 90 f. 555 Ebenda.

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davon ist er jetzt weg und verehrt dafür Hồ Chí Minh«. 556 Dem notorisch um Unauffälligkeit bedachten Ministerium schien das Gebaren Erdmanns, das ihn zum Stadtgespräch werden ließ, auch ansonsten suspekt. So habe es Erdmann, notierte das MfS, »fertiggebracht, sich in eine Diskothek zu setzen und zu stricken«. 557 Trotzdem verpflichtete man ihn als IM, zeigte sich jedoch bald im Zweifel hierüber, da sich Guntram Erdmann alias »Isaak« – und später als IMB »Goldberg« 558 – nur bedingt an die Absprachen hielt. Der Inoffizielle Mitarbeiter wurde vermehrt ab 1987 ermahnt, dass er in der oppositionellen Szene und bei deren Aktionen »keine inspirierende Rolle« zu spielen habe. 559 Zwei Wochen nach seinem Protest gegen das Sputnikverbot, fasste das MfS den Beschluss, die Zusammenarbeit mit ihm zu beenden und »die operative Bearbeitung einzuleiten«. 560 Erdmann, so die Begründung vom 2. Dezember 1988, habe das in ihn gesetzte Vertrauen missbraucht. Seit geraumer Zeit zähle er, wie das MfS meinte, zweifellos »zu den Inspiratoren und Organisatoren politischer Untergrundtätigkeit im Bereich Wismar«. 561 Um sich mit ihm nach dem Protest gegen das Sputnikverbot zu solidarisieren, sammelten Unterstützer sowohl innerhalb wie außerhalb kirchlicher Räume Geld. Das Ordnungsstrafverfahren sollte so unterlaufen werden. Die Aktion beschränkte sich nicht nur auf Wismar und die nähere Umgebung der Stadt. Mitte Dezember meldete die Kreisdienststelle Greifswald, dass es auch an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität zu einer Solidaritätssammlung gekommen sei. Ein Wissenschaftlicher Assistent »führte«, schrieb man im Operativvorgang »Konvent«, mehrere Tage »in der Sektion Physik/Elektronik [...] eine Spendenaktion zur Deckung der im Rahmen eines Ordnungsstrafverfahrens gegen [...] Erdmann [...] ausgesprochenen Geldstrafe [...] durch«. 562 Etwa »dreißig Mitarbeiter der Sektion« sollen im Laufe der Zeit angesprochen worden sein. Die »staatliche Leitung« intervenierte, nachdem sie von den Vorgängen durch das MfS erfuhr, umgehend: An den Assistenten, einen Ausreiseantragsteller, »erfolgte die Aufforderung [...], derartige Sammlungen zu unterlassen«; zudem leitete die Ermittlungsabteilung der Staatssicherheit gegen den 556 Ebenda, Bl. 91. 557 Ebenda. 558 Die Decknamenänderung erfolgte am 24.8.1987, Karteieintrag auf der F 22: BStU, MfS, BV Rostock, Karteirecherche, 9.6.2011. 559 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Einsatz des IMB »Goldberg« im Rahmen der Veranstaltungen zum Olof-Palme-Friedensmarsch (OPFM), Rostock, 4.9.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bd. I, Bl. 259–263, hier 262. 560 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Vorschlag zur Archivierung des IM-Vorganges und [zur] Aufnahme der aktiven operativen Bearbeitung, Rostock, 2.12.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bd. I, Bl. 305–308, hier 305, 308. 561 Ebenda, Bl. 308. 562 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Operativer Vorgang »Konvent« (zusammenfassender Bericht), ohne Datum: BStU, MfS, BV Rostock, Nr. 121, Bl. 57–59, hier 58.

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Delinquenten »ein Prüfungsverfahren« ein. 563 Das MfS verzichtet jedoch darauf, ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen. Vielmehr hielt man es für zweckmäßiger, den zuständigen Universitäts-Professor zu beauftragen, auf seinem Assistenten disziplinierend einzuwirken und mit ihm ein »klärendes« Gespräch zu führen. 564 Auch anderweitig bekundeten Mitglieder des Wismarer Umweltzentrums in den folgenden Monaten ihren Protest. So gab man sich auch außerhalb des kirchlichen Raum als Überzeugungstäter zu erkennen: Als Oberarzt im Bezirkskrankenhaus trat einer der Initiatoren, so erfuhr es das MfS von einem parteitreuen Kranken, »gegenüber seinen Patienten [...] massiv mit feindlichnegativen Äußerungen« hervor. Mit seiner Kritik wandte er sich »gegen die Verteidigungs- und Wehrpolitik der DDR«. 565 In der Klinik warb er dafür, »daß die Jugendlichen die Ableistung des Wehrdienstes verweigern müßten«. 566 Im April 1988 verfassten Mitglieder des ÖZU einen »Offenen Brief«. Sie setzten sich in ihm kritisch mit der politischen Situation und den Problemen in der DDR auseinander und forderten einschneidende Reformen. 567 Vorgestellt wurde die Petition erstmals am 19. April 1988. Vertreter des ÖZU präsentierten ihn zugleich auf dem »Basisgruppentreffen« der Evangelischen Landeskirche Mecklenburg am 23. April in Güstrow. Anschließend übergaben sie den Brief mit der Bitte um eine Veröffentlichung an einen bundesdeutschen Rechtsanwalt sowie die Herausgeber der Samisdat-Zeitschrift »Friedensnetz. Information, Texte, Anregungen« 568, die seit 1984 im Namen der »Arbeitsgruppe Frieden der Evangelischen Lutherischen Landeskirche Mecklenburg« zunächst in Rostock, dann in Schwerin erschien. 569 Auch wenn das Informationsblatt »Friedensnetz« den Aufdruck »nur zum innerkirchlichen Dienstgebrauch« enthielt, betrachteten die staatlichen Stellen das Blatt mit Argwohn. Ende 1988 leitete der Staat Ordnungsstrafverfahren gegen die zwei Herausgeber des »Friedensnetzes«, Heiko Lietz und Landesjugendpfarrer Georg Heidenreich, wegen »des Vertriebs unerlaubter Druckerzeugnisse« ein. Abgewandt werden konnten die drohenden Sanktionen nur, weil sich der Oberkirchenrat schützend vor beide stellte und als Herausgeber einsprang. 570 Dem »vorwiegend negativen Inhalt« des Periodikums tat der 563 Ebenda. 564 Karteiauskunft zu Dr. [Name], Greifswald, vom 28.6.2011, BStU, Außenstelle Rostock. 565 Ebenda, Bl. 76. 566 Ebenda. 567 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Monatliche Berichterstattung April 1988, Rostock, 5.5.1988, HA XX/AKG Nr. 6571, Bl. 13–15, hier 15. 568 Ebenda. 569 Lietz, Heiko: Schlicht und gehaltvoll: das Friedensnetz. Erinnerung an das Informationsblatt der Friedensarbeit in der Landeskirche Mecklenburg. In: MPKZ, Nr. 42, 18.10.2009, S. 5. 570 Ebenda.

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Herausgeberwechsel keinen Abbruch, nicht zuletzt auch deshalb, wie sich Heiko Lietz erinnert, weil »die bisherige Redaktionsgruppe auch weiterhin sehr eigenständig arbeiten« konnte. 571 3.3.9 Aufbruch hin zu einer oppositionellen Szene in Wismar: Aktionen und Reaktionen Die Mitglieder des ÖZU führten mehrere Unterschriftensammlungen durch und verstießen so gegen die DDR-Gesetze. So 1989 nach der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste auf dem »Platz des himmlischen Friedens« in Peking. Bereits zuvor trat man in Wismar mit vergleichbaren Aktionen hervor: Am 15. Mai 1985 wandten sich fünf Mitglieder des Friedenskreises mit einer Eingabe an Erich Honecker, in der sie erklärten, dass es für sie »unverständlich« sei, »daß in unserem Land immer weiter atomare Raketen aufgestellt werden« würden. 572 Sie forderten zugleich den einseitigen Abbau der in der DDR »stationierten atomaren Raketen«. 573 Trotz des Appells an die gemeinsame Verantwortung, schien die Eingabe so anstößig zu sein, dass sie »aus der Nikolaikirche, wo sie der Öffentlichkeit zugänglich war, entfernt« werden sollte. 574 Es war auch weniger der in weiten Teilen moderate Text, der die Intervention auslöste. Entscheidend war vielmehr, dass hier eine kritische Öffentlichkeit hergestellt und Unterschriften gesammelt wurden. Auf Drängen des für Kirchenfragen zuständigen »Stellvertretenden Vorsitzenden der Abteilung Innere Angelegenheiten des Rates des Kreises Wismar« sorgte Landessuperintendent Christoph Pentz 575 schließlich dafür, dass die Petition aus der Nikolaikirche verschwand. Im Gegenzug bot der Ressortchef für Inneres an, die Mitglieder des Friedenskreises zu »einem Gespräch« einzuladen. 576 Auch wenn von einem solchem Zusammentreffen substanziell kaum etwas zu erwarten war, werteten die Initiatoren dies als bedingten Erfolg. Es vermittelte ihnen 571 Ebenda. 572 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Leiter, gez. Klawun, Schreiben an die KD Wismar, Rostock, 15.5.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 51; Eingabe des Friedenskreises der ev.luth. Kirche Mecklenburgs, Kreis Wismar, an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, Wismar, 19.1.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 52 f. 573 Eingabe des Friedenskreises, ebenda, Bl. 53. 574 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Notiz auf der Grundlage der Meldung der KD Wismar: Einbeziehung des Lietz, Heiko, in die Vorbereitung der Gesprächsführung des ›Friedenskreises‹ Wismar mit staatlichen Organen, Rostock, 12.9.1985: BStU, MfS, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 70. 575 Der Landessuperintendent berichtetet dem MfS als IM »Gabriel Krenz« bzw. »Buda«: Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der EvangelischLutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 223. 576 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Notiz auf der Grundlage der Meldung der KD Wismar: Einbeziehung des Lietz, Heiko, in die Vorbereitung der Gesprächsführung des ›Friedenskreises‹ Wismar mit staatlichen Organen, Rostock, 12.9.1985: BStU, MfS, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 70.

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das Gefühl, von den staatlichen Stellen als Gegenstimme wahrgenommen worden zu sein. Um sich auf das Gespräch vorzubereiten, trafen sie sich am 23. September 1985 in Rostock mit Heiko Lietz. 577 Im Januar 1986 kam es parallel zum Auftritt des systemkritischen Berliner Liedermachers Karl-Heinz Bomberg in der Nikolai-Kirche zu einer weiteren Unterschriftensammlung. In ihr sprach man sich »gegen den aktiven Wehrdienst« und für die »Einführung eines Zivil- bzw. Sozialdienstes als Alternative« in der DDR aus. 578 Ebenso bemühte sich der Friedenskreis Wismar um die symbolhafte Zeichensetzung im öffentlichen Raum. Wie schon zuvor der Kessiner Friedenskreis suchte man nach einer adäquaten Form der alltäglichen Kleindemonstration, die einen als Gruppe kenntlich werden ließ: »Als Grundsymbol des ›Evangelischen Friedenskreises Wismar‹« und für »entsprechende Ansteckplaketten«, so berichtete die Kreisdienststelle, »wurde die Grafik des NPT 579 Prof. Gerhard Voigt mißbraucht (stilisierter Erdball mit davor stehendem Menschen, der über seinem Kopf ein Gewehr zerbricht)«. 580 Während das »Grundsymbol« als Plakat im A 4-Format als Linolschnitt rund um Wismar seine Verbreitung fand, 581 plante der Friedenskreis laut der Information vom 7. Januar 1986 sechshundert »Ansteckplaketten [...] aus Leichtmetallstanzabfällen« zu fertigen. 582 Konflikte gab es in Wismar um den von der Kirche zu gewährenden Freiraum. So anlässlich des Gedenkgottesdienstes zum 40. Jahrestag der Bombardierung Wismars am 15. April 1985. Die vom Friedenskreis vorgelegten »Materialien [...] (Lieder, Gedichte, Textauszüge und Plakate)« sollten, wie es das MfS erfuhr, »nicht in vollem Umfang von der Vorbereitungsgruppe um den Landessuperintendenten akzeptiert werden«. 583 Zurückgezogen werden musste trotz aller Proteste ein Plakat, mit »dem direkt zur Wehrdienstverweigerung mit der Waffe aufgerufen wurde«. 584 Auch konzeptionell begnügte man sich vor der Gründung des Ökumenischen Zentrums Umwelt nicht mehr mit einer 577 Ebenda. 578 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Zwischenbericht zum Operativ-Vorgang »Küster«, Wismar, 17.7.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 21–24, hier 22. 579 Nationalpreisträger der DDR. Die betr. Graphik entstand anlässlich eines von der UNO ausgelobten Wettbewerbes zur 2. Abrüstungssondersitzung der UNO. Vgl. hierzu: Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 346). 2. Aufl., Bonn 2000, S. 425. 580 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Zwischenbericht zum Operativ-Vorgang »Küster«, Wismar, 17.7.1986: BStU, MfS,AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 21–24, hier 23. 581 Muster des Linoldruckes: BStU, MfS, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 234. 582 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Leiterinformation Nr. 1/86, betr. Aktivitäten des Friedenskreises Wismar, Wismar, 7.1.1986: BStU, MfS, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 126–128, hier 128. 583 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Eröffnungsbericht zum Anlegen des Operativ-Vorganges »Küster«, Wismar, 10.7.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 6–12, hier 10. 584 Ebenda.

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Beschränkung auf den innerkirchlichen Raum. Ein Mitglied des Friedenskreises schlug 1985 vor, in »Verbindung zum Friedenskreis Lübeck« zu treten und plädierte dafür »in politischer Hinsicht kontinuierlicher und aktiver zu arbeiten«. 585 Erreicht werden sollte dies, indem man sich zukünftig für die politisch Inhaftierten in der DDR einsetzen wolle. Als »geistige Grundlage«, diente dem Kreis laut MfS das »in einem BRD-Verlag erschienene Buch ›amnesty international – Der internationale Menschenrechtsschutz‹«.586 Die MfSKreisdienststelle sprach in ihren Einschätzungen von der akuten Gefahr, »daß eine ›Verselbständigung‹ [von der kirchlichen Aufsicht] angestrebt wird, ohne dabei die Bindung zur Kirche völlig zu negieren«. 587 Ziel solle es daher sein, die betreffende Kreise – den Umwelt- und den Friedenskreis – wieder verstärkt »in die kirchliche Friedensarbeit«, wie sie seit den frühen achtziger Jahren bestand, einzubinden. Es gelte, so das MfS weiter, die »Verselbständigung« zu verhindern, um »weiteren feindlich-negativen Handlungen« vorzubeugen. Die Abteilung Inneres des Rates der Stadt und der Landessuperintendent sollten dementsprechend disziplinierend auf die Gruppen einwirkten. 588 Ende 1988 schien diese Strategie aufzugehen. Es sah so aus, als wenn sich die Arbeit der Umweltbibliothek nicht in der bisherigen Form fortsetzen lassen würde. 589 Im Raum stand der Vorwurf, das ÖZU sei »zu ›politischen Provokationen‹ mißbraucht worden« sei. Die Initiative ging von Siegfried Wahrmann (IME »Lorenz« 590) und Pfarrer Traugott Maercker aus. Der Kirchgemeinderat der Marien- und Georgengemeinde drängte daraufhin im Februar 1989 auf eine Neuverhandlung des Gruppenstatutes. 591 Jenes regelte die Nutzung der Räume und die kirchlichen Anbindung. Laut Wahrmann handelte es sich inzwischen jedoch um »eine Gruppe [...], die ›neben der Gemeinde‹ existiert«. 592 Für Unmut sorgten insbesondere die »politischen Aktionen«, mit 585 Ebenda, Bl. 11. 586 Ebenda. 587 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Leiterinformation Nr. 1/86, Aktivitäten des Friedenskreises Wismar, Bl. 126–128, hier 127. 588 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Zwischenbericht zum Operativ-Vorgang »Küster«, Wismar, 17.7.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 21–24, hier 23. 589 Erdmann, Guntram: Wismar – Basisgruppen und Kirchgemeinderat im Konflikt und im Gespräch. In: Friedensnetz. Informationen, Texte, Anregungen. Hg. v. der Arbeitsgruppe Frieden der Mecklenburgischen Landeskirche (1989) 2, S. 5 f. 590 Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburg von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 230, 259. 591 »Stellungnahme zum Beschluß des Kirchengemeinderates St. Marien/St. Georgen zu Wismar vom 15.02.1989, verabschiedet von der Basisgruppe ›Arbeitsgruppe ÖZU‹ am 21.02.1989«. In: Arche Nova. Hg. v. Grün-ökologischen Netzwerk Arche (1989) 4, S. 82–84; »Existenz des Ökumenischen Zentrums für Umweltarbeit (ÖZU) in Wismar in Gefahr!«. In: Die Umweltblätter. Hg. v. der Umweltbibliothek Berlin, 3/1989, S, 55 f. Zum Konflikt ÖZU Kirchengemeinderat: Frank: »Realer – Exakter – Präziser«? (ebenda). S. 465–475. 592 Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Ebenda.

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denen Mitglieder des ÖZU außerhalb der Kirchenmauern ihren Unmut bekundeten. Kritisiert werden sollte so der »Protest gegen das Sputnik-Verbot« sowie »die Art und Weise der Solidarisierung mit den relegierten Schülern der EOS ›Carl von Ossietzky‹«. All dies habe, so Wahrmann, zu »Konflikten zwischen Staat und Kirche auf lokaler Ebene geführt«. 593 Der Konflikt um das Ökumenische Zentrum Umwelt zog sich bis in den Herbst 1989 hin, bis schließlich die Dynamik der Ereignisse den Streit überflüssig werden ließen.

3.4

Die Ausreiseantragsteller

3.4.1 Diskussion um die Ausreiseantragsteller Wie überall in der DDR traten ab Mitte der achtziger Jahre auch im Bezirk Rostock die Ausreiseantragsteller zunehmend selbstbewusster auf. Sie trafen sich sowohl »unter dem Dach« als auch außerhalb der Kirche und gründeten eigene Gruppen. Handelte es sich lediglich um eine besondere Form des Protestes oder können jene Gruppen darüber hinaus den oppositionellen Kreisen zugerechnet werden? Die Ansichten hierzu gingen sowohl vor wie nach 1989 weit auseinander: Auch wenn es sich um die Einforderung eines elementaren Menschenrechtes handelte, hat die Frage des Weggehens immer wieder zu Diskussionen innerhalb der Opposition geführt. Die Einsicht, die Ausreisegruppen auch als Teil der Opposition anzusehen, reifte erst allmählich und auch heute findet sich manch ein Zeitzeuge, der den Ausreisegruppen dieses abspricht. Erschwert wird eine Betrachtung aus heutiger Sicht durch den Umstand, dass der Begriff der Opposition von den damals Beteiligten kaum verwandt wurde. Doch gab es ein ganz konkretes Bewusstsein, sich zu einer bestimmten Szene zugehörig zu fühlen, andere dazuzurechnen oder auch dieses abzusprechen. Auch nach dem Ende der DDR flammte die Diskussion immer wieder auf: Bei der Ausreise, so schrieb Bernd Eisenfeld 1995, handele es sich um »eine Erscheinungsform widerständigen Verhaltens« in der DDR. 594 Dies, so Eisenfeld, weil der Weggang das politische System destabilisierte. Andere Autoren wiesen darauf hin, dass die Ausreise von kritisch denkenden Menschen gerade in kleineren 593 Ebenda. 594 Hierzu: Eisenfeld, Bernd: Die Ausreisebewegung – eine Erscheinungsform widerständigen Verhaltens. In: Poppe, Ulrike; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR (Forschungen zur DDR-Geschichte; 6). Berlin 1995, S. 192–223; Lochen, Hans-Hermann; Meyer-Seitz, Christian: Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger. Dokumente der Stasi und des Ministeriums des Innern. Köln 1992; Ausreisebewegung, Bekämpfung der. In: Das MfS-Lexikon. Berlin 2012, S. 47–50.

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Ortschaften jene schwächte, die sich hier engagierten. Zudem hätten die Ausreiser, so wurde ihnen vor wie nach 1989 vorgeworfen, vor allem Eigeninteressen verfolgt. 595 Während eines Friedensgottesdienstes am 6. März 1988 in der Neuen Marienkirche in Wismar ersuchte Pfarrer Michael Möller die »›Ausreisewilligen‹«, die in großer Zahl in die Kirche gekommen waren, »ihren Standpunkt noch einmal zu überdenken«. Sie würden in der DDR fehlen. Für den »›friedlichen Kampf‹« zur Durchsetzung elementarer Rechte bräuchte man sie. 596 Weit verbreitet war innerkirchlich eine rigidere Position. Man wäre nur dann glaubwürdig, wenn man hier bleiben wolle. Menschen, so zitierte das MfS Joachim Gauck als Vorsitzenden des Kirchentagsausschusses 1988, »die sich entschlossen haben, die DDR zu verlassen«, besäßen nicht mehr das »Recht [...] Veränderungen in der Gesellschaft zu fordern«. 597 Deutlicher noch äußerte sich während des Treffens der »Arbeitsgruppe Frieden« der Landeskirche Mecklenburg am 26. Januar 1985 in der Rostocker Petrikirche Pfarrer Martin Kuske. Kuske, der zu den vom Oberkirchenrat berufenen Mitgliedern des Gremiums gehörte, galt als führender Dietrich-Bonhoeffer-Experte im Norden der DDR. Der Pfarrer »bezeichnete« zunächst, so hielt es der Bericht des MfS fest, »die DDR als seine Heimat«. Die Antragsteller auf Übersiedlung könnten nach seiner Auffassung, so Kuske weiter, hingegen »nicht als vertrauensvoller Partner für den Staat in Bezug auf die kirchliche Friedensarbeit angesehen werden«. 598 Jene Position ergab sich aus der der evangelischen Kirche eigenen Verantwortungsethik. Den Ausschlag gab das Bekenntnis, als Christ an dem Ort, an den man von Gott gestellt worden ist, für Veränderungen eintreten zu wollen. Im konkreten Fall versetzte sich der Redner in die Sichtweise des Staates hinein und wechselte die Perspektive. Die Gründe dafür mochten vielfältig sein. Martin Kuske hatte den Vorzug zu schätzen gelernt, die DDR Richtung Westen verlassen zu dürfen. Als Sekretär des Bonhoeffer-Komitees der DDR nahm er an Tagungen im westlichen Ausland, 1983 in Großbritannien und 1984 in

595 Zur Diskussion vor 1989: Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949– 1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 346). Bonn 2000, S. 528–531. 596 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Bote«, Wismar, 12.4.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1739/90, Bl. 4–11, hier 9. 597 MfS, BV Rostock, Information Nr. 78/88 über einige politisch negative Aktivitäten während des gemeinsamen Kirchentages, Rostock, 18.6.1988: BStU, MfS, Abt. XX, Nr. 501, T. 1, Bl. 33–35, hier 35. 598 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Bericht: Treffen von Vertretern der Arbeitsgruppe »Frieden« der LK Mecklenburgs mit Vertretern kirchenleitender Einrichtungen der LK Mecklenburgs am 26.1.1985 in der Petrikirche Rostock, Rostock, 28.1.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. IV, Bl. 35–38, hier 37.

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Heidelberg in der Bundesrepublik, teil. 599 Die Frage nach der Heimat stellte sich hier unter veränderten Vorzeichen. Die meisten Ausreiseantragsteller, die einfach nur aus der DDR »raus« wollten, sahen sich mit einer anderen Lebenswirklichkeit konfrontiert. Sie verfügten mehrheitlich über einen anderen Erfahrungshorizont. Die, die sich an der Diskussion beteiligten, sprachen über die Frage des »Hierbleibens oder Weggehens« mit unterschiedlichen Perspektiven und Motiven. Die Diskussion setzte jene, die sich mit dem Gedanken trugen, die DDR zu verlassen, häufig unter Druck. Verantwortlich dafür zeichnete maßgeblich die moraltheologische Infragestellung ihres Anliegens. An die Anfang der achtziger Jahre entstehenden Friedens- und Umweltgruppen wurde diese Frage von außen herangetragen. Theologen wie der Erfurter Propst Heino Falcke erklärten diesen, dass die »zynische Kritik, die den ideologischen Anspruch und die Realität vergleicht, um sich von beidem abzuwenden [...] keine Hilfe« sei. 600 Die Gruppen sahen sich unter Druck gesetzt und gingen, um im kirchlichen Diskurs bestehen zu können, hierauf ein, ohne die Sicht gänzlich zu übernehmen. Nicht selten grenzten sie sich nun aber ebenso von den Antragstellern ab. Hinzu kam, dass sie sich durch die Ausreise in ihrem Engagement geschwächt sahen. Bei alldem gab es stets eine Wechselwirkung: Die Perspektive, seinen Protest in der DDR ausdrücken zu können, spielte bei der Entscheidung zwischen dem »Hierbleiben und Gehen« stets eine Rolle. Anfang der achtziger Jahre zogen einzelne Ausreiseantragsteller ihren Antrag wieder zurück. Als Grund gaben sie die erstarkende Friedensarbeit und die damit einhergehenden Proteste an. So berichtete ein in mehreren Friedensgruppen ab Anfang der achtziger Jahre engagierter Jugendlicher, der 1982 den Berliner Appell von Pfarrer Rainer Eppelmann und Robert Havemann unterzeichnet hatte, zu seinem Motiv, den Antrag 1981 zurückzuziehen: »Dann kam bei mir aber die Einsicht, dass man erst einmal versuchen muss, etwas aktiv zu verändern und man sich nicht einfach aus dem Staub machen kann. Legitim wäre es erst, wenn man alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat. Daraufhin habe ich den Antrag dann wieder zurückgezogen. Ich habe dann versucht, Leute aus Rostock zu gewinnen, [...] sich an einer Initiative zu beteiligen.« 601 1984, nach der ersten Ernüchterung, die nach dem Aufbruch Anfang der achtziger Jahre die Friedensgruppen ereilte, stellte er erneut einen Antrag und reiste 1985 in die Bundesrepublik aus. 599 MfS, BV Neubrandenburg, KD Teterow, Einschätzung, Teterow, 14.11.1983: BStU, MfS, BV Neubrandenburg AOPK 224/85, Bd. I, Bl. 152–156. 600 Falcke, Heino: Kritische Partizipation im realen Sozialismus. Probleme von Wissenschaft und Technik aus christlicher Sicht. In: Büscher, Wolfgang; Wensierski, Peter: Beton ist Beton. Zivilisationskritik aus der DDR. Hattingen 1981, S. 197–203, hier 197, 201 f. 601 Zeitzeugeninterview in Berlin am 20. Juni 2011 mit Friedemann Halbrock, zwischenzeitlich in Rostock, dann in Potsdam aktiv. Bei der angesprochen Initiative handelt es sich um die Ausstellung »Leben«, die in mehreren Kirchen, so in Teterow, Bezirk Neubrandenburg, Potsdam (Friedenskirche) und Berlin-Prenzlauer Berg (Adventkirche) gezeigt wurde.

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In den Gruppen glaubte man zunehmend, weniger angreifbar zu sein, wenn man auf die Mitarbeit von Antragstellern verzichtete. So entfiel der vom Staat bemühte Vorwurf, hinter dem Engagement stehe die Überlegung, möglichst schnell aus der DDR ausreisen zu können. Auch Teile der Kirche argumentierten so. Theorie und Praxis ließen sich aber nur bedingt in Einklang bringen. So kannte man die Ausreisewilligen häufig aus der Gemeinde- oder Jugendarbeit und wusste um ihre Nöte. Der Wismarer Studentenpfarrer Michael Möller »sprach sich«, so notierte es die Kreisdienststelle, »zwar offiziell wiederholt gegen die Mitgliedschaft von Übersiedlungsersuchenden im Informations- und Kommunikationszentrum [ÖZU] aus«. 602 Zugleich, so monierte man, unternehme er nichts, »um deren Zulauf [...] zu unterbinden«. 603 Trotz aller Bekundungen zur Landestreue unterschied man bei den Ausreisewilligen zwischen »unseren Leuten« und den von außen an die Gruppen Herantretenden. Letztere unterschieden sich nicht selten in Alter, Kleidung, Auftreten und in ihren Lebensgewohnheiten und -vorstellungen von den in den Gruppen integrierten Mitgliedern mit Übersiedlungsantrag. Das Leben erwies sich in diesem Punkt immer wieder als schwer vorhersehbar: Auch Studentenpfarrer Michael Möller reiste 1989 nach der Heirat mit einer Amerikanerin 1989 zunächst »für fünf Jahre in die USA aus«. 604 Doch auch die »normalen« Antragsteller hatten zumeist ihre Vorgeschichte. Häufig waren sie zuvor in Konflikt mit dem SED-Staat geraten. Triftige Gründe, das Leben nicht länger in der DDR verbringen zu wollen, gab es zudem genug. Mit ihrem Drängen, aus der »Staatsbürgerschaft« entlassen zu werden, vollzogen sie den offenen Bruch mit dem politischen System der DDR. Zum einen verstießen sie damit gegen die Gesetze in der DDR. Die in den Anträgen enthaltene Beschwerde über die fehlenden Menschenrechte in der DDR, die Klage über die staatliche Willkür und Ähnliches ließen das Schreiben zum anderen zu einem Akt des Widerstandes werden. Durch die wiederholte Antragstellung, Beschwerdebriefe, Eingaben an staatliche Stellen und die Drohung, weitere Schritte bis hin zur Informationsweitergabe an den Westen unternehmen zu wollen, gingen Antragsteller auf Konfrontation zum SED-Staat. Der »Schwerpunkt der Untersuchungstätigkeit«, so resümierte die Abteilung IX in Rostock Ende der achtziger Jahre, sei »die Bekämpfung der verstärkten feindlich-negativen Aktivitäten zur Durchsetzung von Übersiedlungsersuchen«. 605 Dementsprechend saßen auch die meisten Untersuchungs602 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Bote«, Wismar, 12.4.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1739/90, Bl. 4–11, hier 8. 603 Ebenda. 604 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Abschlussbericht, Wismar, 10.11.1989: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1739/90, Bl. 17 f. 605 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Einschätzung wesentlicher Aspekte der Untersuchungsarbeit und Leitungstätigkeit, Rostock, 5.1.1989: BStU, MfS, HA IX, Nr. 554, Bl. 432–453, hier 434.

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häftlinge des MfS aufgrund ihres Wunsches, die DDR zu verlassen– und entsprechender Aktivitäten – ein. 606 Ausreiseantragsteller wurden verwarnt, inhaftiert und verurteilt, weil sie auf ihrem Anliegen beharrten: Wer sein Ersuchen trotz der an ihn ergangenen Warnung mehrfach stellte, konnte wegen der »Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit« nach § 214 des DDR-Strafgesetzbuches festgenommen werden. Auch Antragsteller, die Freunde, Bekannte, Hilfsorganisationen oder die Presse in der Bundesrepublik über ihren Ausreisewunsch informierten, kamen in Haft. Nach § 99 des Strafgesetzbuches beschuldigte man sie, »an eine feindliche Stelle in der BRD nicht der Geheimhaltung unterliegende Nachrichten zum Nachteil der Interessen der DDR übergeben zu haben«.607 So erging es einer Frau aus Bergen auf Rügen, die im Dezember 1981 die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte in Frankfurt/Main über ihren Ausreisewunsch informierte. Zukünftig wolle sie, so schrieb sie, bei ihrer Mutter in der Bundesrepublik leben. Sie wurde am 29. September 1982 inhaftiert. Das Bezirksgericht Rostock verurteilte die neununddreißigjährige Mutter eines Kindes einen Tag vor Weihnachten, am 23. Dezember, zu vier Jahren und acht Monaten Gefängnis. Zur Anwendung gelangte hier § 99 »Landesverräterische Nachrichtenübermittlung«. 608 Zusätzlich belegte man die Angeklagte mit einem Bußgeld von fünfundsiebzig Mark, weil sie »in der Hauptverhandlung« offen sagte, was sie dachte. Sie habe, so lautete der Vorwurf, damit »diskriminierende Äußerungen gegen die staatliche Ordnung der DDR« von sich gegeben. 609 Anfang April 1984 erging der Beschluss des Ersten Strafsenates, die Haftstrafe in eine fünfjährige Bewährungsstrafe umzuwandeln. Am 18. April 1984 wurde die Finanzkauffrau nach neunzehn Monaten Haft zurück in die DDR entlassen. 610 Unter der Anschuldigung der »Landesverräterischen Agententätigkeit« verurteilte das Bezirksgericht nach § 100 im Februar 1980 einen Rostocker Ingenieur und seine Frau. Sie hatte zuvor die »Verbindung zu den Moderatoren der ZDF-Sendereihe ›Hilferuf von drüben‹« aufgenommen. 611 Da der Ingeni606 Schekahn, Jenny; Wunschik, Tobias: Die Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Rostock. Ermittlungsverfahren, Zelleninformatoren und Haftbedingungen in der Ära Honecker. Berlin 2012 S. 62–66. 607 MfS, BV Rostock, KD Rügen, [Bericht über] die Gründe der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit Haft gegen die rechtswidrige Antragstellerin [Name], Bergen, 8.10.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 61, Bd. II, Bl. 185–187, hier 185. 608 Strafgesetzbuch – StGB – sowie angrenzende Gesetze und Bestimmungen. Textausgabe. Hg. v. Ministerium der Justiz. Berlin (Ost)1981, S. 52. 609 Bezirksgericht Rostock, 1. Strafsenat, Beschluß, Rostock, 21.12.1982: BStU, MfS, AU 494/83, GA/ASt, Bd. IV, Bl. 92. 610 Bezirksgericht Rostock, 1. Strafsenat, Beschluß, Rostock, 10.4.1982: BStU, MfS, AU 494/83, GA/ASt, Bd. IV, Bl. 109 611 MfS, Beurteilungsblatt [Name], bestätigt: Mielke, ohne Ort und Datum: BStU, MfS, HA IX, Nr. 1695, Bl. 148.

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eur angeblich »mehrfach die Tätigkeit staatlicher Organe beeinträchtigt[e], indem er in Schreiben und Aussprachen beim Rat der Stadt Rostock« seinem Anliegen Nachdruck verlieh, erweiterte man die Anklage. Man warf ihm vor, die DDR »der Verletzung der Menschenrechte« bezichtigte zu haben. Hinzu kam der Vorwurf der »Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit« nach § 214 StGB. 612 Der Ingenieur erhielt eine Haftstrafe von zwei Jahren und neun Monaten; bei seiner Frau, einer Stenotypistin, lautete das Strafmaß zwei Jahre und drei Monate. 613 Nach sechzehn Monaten Haft konnten beide nach dem Freikauf durch die Bundesregierung am 2. Juli 1981 in die Bundesrepublik ausreisen. 614 Weitere Beispiele ließen sich anführen. Nicht selten sollten Antragsteller zudem auf der Grundlage der Strafgesetzbuchparagraphen 106 (»Staatsfeindliche Hetze«) oder 249 (»Beeinträchtigung der [...] Sicherheit durch asoziales Verhalten«) verurteilt werden. Im letzteren Fall warf man den Betreffenden vor, nicht arbeiten zu gehen. Sie hatten nach der Antragstellung entweder ihre Arbeit verloren oder hatten diese – häufig nach Schikanen – gekündigt und weigerten sich nun, eine Arbeit im staatlich kontrollierten Sektor aufzunehmen, 615 In den achtziger Jahren schlossen sich Antragsteller vermehrt zu politischen Gruppen zusammen. Ihr Handeln war fortan mehr als nur als eine Form des Widerstandes. Mochten jene Gruppen damit als ein Teil der Opposition gelten? Ab wann, so soll in diesem Zusammenhang noch einmal gefragt werden, mochte was als Opposition gelten, wie kann Opposition begrifflich gefasst werden? Neben dem Entschluss, sich zu organisieren und dem Staat als Gemeinschaft entgegenzutreten, stand die Bereitschaft, dessen Legitimation insgesamt oder in Teilbereichen infrage zu stellen. Verbunden war dies mit dem Anspruch, Gesamtinteressen der Gesellschaft vertreten zu wollen. Über die Einforderung von konkreten, zumeist partiellen Veränderungen, zum Beispiel in der Informationspolitik oder im Umweltschutz, hoffte man zu einer Veränderung des Gesamten gelangen zu können. Das Streben zur Etablierung einer Gegenöffentlichkeit, ob nun im Gesprächsforum, als Samisdat, oder in anderer Form, war dabei eine sich ergebende Konsequenz. Wie verhielt es sich mit den Ausreiseantragstellergruppen? Zunächst gab es eine Diskrepanz. Sie betraf die Gruppengründungen unter dem »Dach der Kirche«. In Rostock, Stralsund und Greifswald entschlossen sich Pfarrer Arbeits- und Gesprächskreise in ihrer Kirche einzurichten. Entscheidend war das seelsorgerische Anliegen. Die, an die sich dieses Angebot richtete, gaben sich 612 Ebenda. 613 Ebenda. 614 Ebenda. 615 Strafgesetzbuch – StGB – sowie angrenzende Gesetze und Bestimmungen. Textausgabe. Hg. v. Ministerium der Justiz. Berlin (Ost)1981, S. 53 und 93.

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häufig damit nicht zufrieden. Die Kreise entstanden zwar unter dem Eindruck der enormen seelischen Belastungen, denen sich die Antragsteller ausgesetzt sahen. Ein Teil der Antragsteller nutzte die Zusammenkünfte darüber hinaus aber auch als Forum der politischen Selbstorganisation. Für sie waren die Gesprächskreise ein Mittel zur politischen Verständigung und kollektiven Interessenvertretung vor Ort. Hier stellten sie konkrete Überlegungen an, wie man gemeinsam öffentlich Kritik am fehlenden Grundrecht der Freizügigkeit äußern könne. Andere mahnten die Regierenden zur Einhaltung der von ihnen unterzeichneten internationalen Konventionen – ein Schritt, der die Zusammenkünfte zu eindeutig politischen Veranstaltungen werden ließ. Zugleich entstand hiermit auch ein Stück Gegenöffentlichkeit. Antragsteller, deren Engagement über ihr eigentliches Anliegen, die individuelle Ausreise, hinausging, wurden somit zu einem Teil der Opposition. Sie taten dies, indem sie sich zu Gruppen zusammenschlossen und elementare Freiheitsrechte einforderten. Im Bezirk Rostock beteiligten sich zudem viele Antragsteller zugleich an den kirchlichen Basisgruppen. Unter ihrem Einfluss erhielt deren Arbeit eine stärker menschenrechtsbezogene Ausrichtung. So berichtete die Kreisdienststelle Greifswald zu einer Gruppe von vier Ausreiseantragsteller, die sich seit 1988 in der Friedensarbeit engagierten: »Das Streben von H. und St. ist offensichtlich auf die organisierte Formierung von Ü[ber]S[iedlungs]E[rsuchenden] orientiert.« 616 Demgegenüber ließe sich einwenden, dass nur jenes Engagement als Opposition gelten könne, dass auf eine Veränderung der politischen Wirklichkeit im eigenen Lande abzielte, hierfür Perspektiven aufzeigte, sich als Gegenkraft positioniert und über bekannte Adressen als Ansprech- und Gesprächspartner der Bevölkerung anbot. Doch auch andere als oppositionell zu bezeichnende Gruppen hatten notgedrungen »Defizite« in einem der Punkte aufzuweisen. Für Außenstehende und an der inhaltlichen Arbeit Interessierte, erwies es sich häufig als schwierig, den Anschluss an die betreffenden Gruppen zu finden. Interne Diskussionen, Selbstfindungsprozesse wie das Misstrauen gegenüber von außen Kommenden, die möglicherweise von der Geheimpolizei geschickt sein konnten, behinderten den Austausch. Hinzu kamen bei einer Reihe von Gruppen wie den Friedens- und Umweltgruppen spezielle Dress-Codes und Verhaltensformen, die die Aktiven als Mitwirkende an der oppositionellen Zusammenkunft auswiesen. Auch konnte kaum jemand in der DDR die Chance auf etwaige Veränderungen erkennen. Wie es der tschechoslowakische Dissident Milan Šimečka in einem Essay 1979 allgemeingültig umschrieb, war vielmehr ein Motiv entscheidend. Wer sich engagierte, hoffte, für sich gemein616 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, (zusammenfassender Bericht über den) Operativen Vorgang »Konvent«, ohne Datierung, jedoch 1988/1989: BStU, MfS, BV Rostock, AKG Nr. 121, Bd. I, Bl. 57–59, hier 57.

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sam mit anderen in einer Gesellschaft der erzwungenen Bekenntnisse und der öffentlich abverlangten Zustimmung »Auswege aus der Angstgemeinschaft des sogenannten real existierenden Sozialismus« zu schaffen. 617 Die benannten »Defizite« mochten sowohl den Bedingungen der oppositionellen Betätigung unter den Verhältnissen der Diktatur als auch den Zuständen in der DDR geschuldet sein. Die ostdeutsche Opposition befand sich in den achtziger Jahren so noch größtenteils im Prozess der weiteren Findung und Herausbildung. Anders als in Polen vermochte sie sich nicht auf hinlänglich bekannte Traditionsmuster einer Widerstands- und Oppositionskultur zu beziehen. In Polen gab es im Vergleich zur DDR allgemein akzeptierte und für die oppositionelle Arbeit kodierbare nationale Symbole sowie Personen, die diese Werte und Erfahrungen weitergaben. Anders als in der DDR hatte man es im Polen der siebziger und achtziger Jahre mit einer gewachsenen, gut etablierten und von Teilen der Bevölkerung unterstützen Oppositionsszene zu tun. Die Gruppen der Ausreiseantragsteller sollen hier als Teil der Opposition begriffen werden. Über die individuelle Interessenvertretung hinaus drängten sie auf die Einhaltung der Menschenrechte in der DDR und schufen eine bedingte Gegenöffentlichkeit und traten dem Staat selbstbewusst entgegen. Zwar handelte es sich um eine interessengeleitete Sonderform oppositioneller Betätigung. Mit dem Weggang ihrer Mitglieder befand sie sich zudem fortwährend im Zustand der drohenden Auflösung. Doch mochten zwei Umstände die Gruppen am Leben zu erhalten: Zum einen das unlösbare Reiseproblem eines auf Sperranlagen setzenden Staates. Zum anderen die Bereitschaft von immer mehr Menschen, sich dies nicht länger bieten lassen zu wollen und dem Staat auch in kollektiver Form entgegenzutreten. 3.4.2 Gemeinsamer Protest und Solidarität mit Ausreiseantragstellern Die in den Berliner Gruppen bekannte Diskussion über eine Abgrenzung gegenüber den Ausreiseantragstellern schien den Wismarern weitgehend fremd zu sein. 618 Vielmehr engagierten sich in Wismar mehrere Antragsteller in der 617 Šimečka, Milan: Společenství strachu. In: Vilém Prečan (Hg.): Charta 77. 1977–1989: od morální k demokratické revoluci: dokumentace. Scheinfeld – Praha – Bratislava, Čs. středisko nezávislé literatury – Ústav pro soudobé dějiny ČSAV – Archa 1990, S. 99–106. 618 Frank, Rahel: «Realer – Exakter – Präziser”? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008 S. 474. Rahel Frank führt zu den Vorgängen in Wismar aus: »Andererseits genoss der Kreis Solidarität des Landesbischofs und auch des Oberkirchenrates sowie eines Teils der Wismarer Pastorenschaft. Letztlich setzten sich aber die Kräfte durch, die die Ausreisewilligen ablehnte, unter anderem deshalb, weil diese das so genannte ›vertrauensvolle Verhältnis‹ zwischen Staat und Kirche gefährdeten.« Doch ist dies nicht als Widerspruch zu begreifen. Zum einen bezieht sich der Begriff »die Kräfte« allem Anschein nach auf die administrative kirchliche Ebene; zum anderen ist der Passus als Zusammenfassung

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Umweltbibliothek; zwei der ÖZU-Gründer hatten einen Antrag »zu laufen« und reisten 1989 aus der DDR aus. Das MfS konstatierte, insbesondere ab 1988 sei im ÖZU »eine zunehmende Ansammlung von AStA [Antragstellern auf ständige Ausreise] zu verzeichnen«. 619 Mit einem Brief an den Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Kirche in Schwerin, Heinrich Rathke, bezeugten Mitglieder des Friedenskreises ihre Solidarität mit zwei am 11. September 1985 inhaftierten Antragstellern. Beide gehörten zwar nicht dem Friedenskreis an und waren, wie aus dem Brief vom 10. Oktober hervorgeht, auch »keine Christen«. 620 Die beiden Eheleute zählten jedoch zur Wismarer Protestszene. Wichtig schien zugleich ihre Vorgeschichte. Die in der DDR allgegenwärtigen Erfahrungen bestärkten sie in ihrem Entschluss, einen Ausreiseantrag zu stellen. Der Mann war einige Monate zuvor, dies räumte selbst die Staatssicherheit ein, obwohl »er an und für sich gute Leistungen hatte«, nach der Weigerung, eine Reserveoffiziersverpflichtung zu unterschreiben, »von der I[ngenieur] H[ochschule] Wismar exmatrikuliert« worden. 621 Angegeben werden sollte hierfür jedoch ein anderer Grund. Es hieß offiziell, »daß seine Leistungen nicht ausreichend« seien. Um den Anschein zu wahren, wurde hier, wie man sich an der Hochschule erzählte, »›entsprechend der Praxis‹ nachgeholfen«. 622 Am 2. Oktober 1985 ging bei der MfS-Bezirksverwaltung die Meldung ein, dass »Mitglieder des ›Friedenskreises‹ Wismar [...] die Absicht« hätten, »eine Eingabe« zu schreiben, um gegen die »Behandlung der Ü[ber]S[iedlungs]E[rsuchenden] in der DDR« zu protestieren. Jene würden in der DDR, so der Kreis, »von Ausnahmen abgesehen, schikanierte und als unmündig hingestellt«. 623 In ihrem Schreiben an den Bischof schilderte man das Dilemma, in dem sich beide Antragsteller befanden und das sie zu ihrer Tat veranlasste: Von der Abteilung Inneres war ihnen »Ende August« 1985 gesagt worden, dass sie sofort »alle praktischen Vorbereitungen zur Übersiedlung zu erledigen« hätten. 624 Beide lösten daraufhin ihr Arbeitsverhältnis und der vorhergehenden Ausführungen zu lesen, die sich auf das Verhalten von kirchenleitenden Verantwortlichen, den Kirchengemeinderat und der Pastorenschaft gegenüber dem ÖZU beziehen. Zur Diskussion in Berlin: Rüddenklau, Wolfgang: Die Schlaraffenlandbewegung. Ein Kommentar statt eines Berichts. In: Umweltblätter. Info-Blatt des Friedens- und Umweltkreises 3 (1988) 4, S. 7 f. 619 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Operativer Vorgang »Berg«, Wismar 2.10.1989: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 121, Bd. I, Bl. 76–82, hier 78. 620 Brief (Kopie) des Friedenskreise Wismar, an den Landesbischof der Evangelischen Landeskirche Mecklenburg, Wismar, 10.10.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 96 f. 621 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Bericht, betr. beabsichtigte Eingabe des »Friedenskreises« Wismar im Zusammenhang mit der Inhaftierung der ÜSE [Name], [Vorname] und [Name]: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 72. 622 Ebenda. 623 Ebenda. 624 Brief (Kopie) des Friedenskreise Wismar, an den Landesbischof der Evangelischen Landeskirche Mecklenburg, Wismar, 10.10.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 96 f.

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kündigten ihre Wohnung. Doch hörten sie fortan nichts mehr zum Fortgang des Verfahrens. Der Ehemann sprach bis zu 10. September mehrmals bei der Abteilung Inneres vor und »bat, [...] ohne Erfolg, [...] um Auskunft«, wie es nun weiterginge. 625 Als starke Belastung empfanden beide, dass das Schuljahr für ihren elfjährigen Sohn wieder begonnen hatte und sie »in ihrer inzwischen fast leeren Wohnung mit gepackten Koffern etliche Tage« warteten mussten. Am Abend des 10. September, schrieben die Verfasser des Briefes, wandte sich der Mann »an eine Kontaktperson in Westberlin [...], mit der Bitte, falls bis Donnerstag, den 12.09.85, keine [...] Entscheidung getroffen ist, mit dieser Information an die Medien in Westberlin zu treten«. Seine Frau befand sich seit dem 10. September im Hungerstreik. Sie und ihr Mann »glaubten, sich durch Passivität der staatlichen Entscheidungs- und Informationsgewalt nicht voll ausliefern zu dürfen«. 626 Wie es in dem Brief heißt, kamen sowohl das »Hungern und [...] die geplante Medieninformation« am 10. September in der Abteilung Inneres zur Sprache. 627 Für die sich schikanös in Schweigen hüllende staatliche Seite war dies ein Erpressungsversuches. Größer noch wog die Angst, dass ausländische Medien über den zweifelhaften Umgang mit Ausreiseantragstellern und den Hungerstreik informieren würde. Tags darauf erfolgte die Festnahme und »Überstellung« in die MfS-Untersuchungshaftanstalt. Die Unterzeichner baten den Bischof eindringlich, sich für die Inhaftierten einzusetzen. Zudem ersuchte man ihn, seinen »Einfluß für die Verbesserung der Bedingungen bei Ausbürgerung geltend zu machen«. 628 Bei der folgenden Verurteilung gelangten die eigens hierfür geschaffenen Strafgesetze zur Anwendung: Die Erste Strafkammer der Kreisgerichtes Rostock-Stadt erhob den Vorwurf der »ungesetzlichen Verbindungsaufnahme«. Hinzu kam die Anschuldigung der »Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit«. In Ersterem drückte sich die Verärgerung darüber aus, dass westliche Stellen über das Geschehen informiert worden waren; mit Letzterem sanktionierte die Einheitssozialisten jeden Versuch, dem Anliegen in irgendeiner Form Nachdruck zu verleihen. Nach zwei Monaten Untersuchungshaft verurteilte das Gericht beide Antragsteller am 23. Dezember 1985 zu je einem Jahr und zehn Monaten Gefängnis. 629 Zwar konnten die Unterzeichner des Briefes den beiden Inhaftierten nicht helfen. Doch bewiesen sie vor allem Menschlichkeit. Man stellte sich mit seiner Solidarität gegen die vom SED-System aufgedrängten Maßstäben eben625 Ebenda. 626 Ebenda. 627 Ebenda. 628 Ebenda. 629 Erste Strafkammer des Kreisgerichtes Rostock-Stadt, Urteil, Az. 221–102–85, in der Verhandlung am 19. und 23.12.1985, Rostock, 23.12.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 1987/79, GA/ASt, Bd. IV, Bl. 45–50, hier 45 f.

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so wie gegen jene Dissidenten, die in Ost-Berlin wortgewaltig gegen jede Ausreise polemisierten. 630 Die Entscheidung zwischen Fortgehen und Bleiben war in Wismar – anders als in Berlin – keine Frage, die die Protestszene entzweite. Zur Haltung, die als charakteristisch für die Verhältnisse in Wismar gelten konnte, hielt das MfS 1988 in einem Bericht fest: Zwar strebe man selbst die »Übersiedlung« in die Bundesrepublik nicht an, doch akzeptiere man »größtenteils« die Motivation und trete für die »Beseitigung der Ursachen, die zur Antragstellung führen«, ein. 631 Jene Einstellung fand im politischen Handeln seinen Ausdruck. So meldete ein SED-Genosse im Februar 1988 dem MfS eine Postkarte, die er an der Pkw-Heckscheibe des »Dacias« von Guntram Erdmann entdeckt hatte. Der Fund zog eine Ordnungsstrafe in Höhe von 450 Mark nach sich. 632 Auf dem Foto sah man »die Staatsgrenze der DDR als Mauer bildlich dargestellt«, flankiert von dem Rosa-Luxemburg-Zitat, »Freiheit ist auch immer die Freiheit der Andersdenkenden«. 633 Obwohl Erdmann kein Antragsteller war, nahm er am 21. Februar 1988 aus Solidarität an einem der demonstrativen Marktspaziergänge teil. Es war bereits der sechste Spaziergang der Wismarer Antragsteller. Das MfS vermutete hinter Guntram Erdmann auch den Urheber jener »Tonkassette«, die am 1. März 1988 »in der Zeit zwischen 18.00 und 18.30 Uhr« im Hamburger Radiosender NDR I ausgestrahlt worden war. Auf ihr sprach ein Insider aus Wismar über die Vorgänge in der Hansestadt. 634 Das auf der Kassette enthaltene und in Hamburg ausgestrahlte Fazit lautete schlicht: »Es ist frappierend, mit wie einfachen Mitteln und mit wie viel Witz man die Staatssicherheit in helle Aufregung versetzen kann«. 635 Ein ähnlicher Umgang mit den Antragstellern ließ sich auch andernorts beobachten. So im Friedenskreises der Christuskirche in Greifswald. Hier gestal630 Rüddenklau, Wolfgang: Die Schlaraffenlandbewegung. Ein Kommentar statt eines Berichts. In: Umweltblätter. Info-Blatt des Friedens- und Umweltkreises 3 (1988) 4, S. 7 f. 631 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Vorschlag zur Archivierung des IM-Vorganges und [zur] Aufnahme der aktiven operativen Bearbeitung, Rostock, 2.12.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bd. I, Bl. 15–19, hier 17. 632 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Zusammenfassung Prüfungsverfahren/ Ermittlungsverfahren Aktion Wismar, ohne weitere Angaben und ohne Datum: BStU, MfS, BV Rostock, AU 1121/88, Bd. 9, Bl. 38. 633 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Vorschlag zur Archivierung des IM-Vorganges und [zur] Aufnahme der aktiven operativen Bearbeitung, Rostock, 2.12.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bd. I, Bl. 15–19, hier 17. 634 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Operativinformation über Hinweise auf eine Sendung zu den feindlich-negativen Aktivitäten von Übersiedlungsersuchenden am 1.3.1988 des BRD-Senders »Welle Nord« und zu dem wahrscheinlichen Sprecher der dort abgespielten Tonkassette, Wismar, 2.3.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bl. 284; MfS, BV Rostock, KD Wismar, Tonbandabschrift, Wismar, 2.3.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bl. 286. Einer der vorangehenden Marktspaziergänge fand am 31.1.1988 statt. 635 Ebenda.

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teten maßgeblich zwei Antragsteller die Friedensarbeit des Kreises. Der Universitätsassistent und der Zahnarzt übernahmen mit ihren Familien häufig die inhaltliche Ausgestaltung. 636 Das MfS befürchtete, dass sich der Friedenskreis so auch als »Interessenvertretung von Übersiedlungsersuchenden« verstehen könnte. Als sicheres Indiz dienten den Staatsschützern dabei gewisse, nicht näher bezeichnete »Handlungen«. Zudem gab es mehrere »Schreiben an zentrale staatliche Organe« und den »Versuch, kirchenleitende Persönlichkeiten in eine Vermittlerrolle zu drängen«. 637 3.4.3 Aktionen von Ausreiseantragstellern Auch wenn es sich um Ausreiseantragsteller handelte, so bedeutet dies nicht zwingend, dass sie lediglich aus taktischen Erwägungen, um ihre Ausreise durchzusetzen, aktiv wurden. In ihrem Bestreben, ihren Protest und Unmut gegenüber dem System und den in der DDR allgegenwärtigen Gängeleien und Bevormundungen zu äußern, suchten verschiedene Menschen immer wieder nach gangbaren Wegen, in welcher Form dies geschehen könne. Um ihrem Ärger »Luft« zu verschaffen, fanden sie verschiedene Antworten – nicht wenige entschieden sich in dieser Situation, einen Ausreiseantrag zu stellen. Stärker als kirchlich eingebundene Friedensaktivisten, die ihrem Handeln eine protestantisch-rationale Risikoabschätzung zugrunde legten, waren Ausreiseantragsteller eher bereit, alles auf »ein Karte zu setzen«. Sie nahmen damit ihre Inhaftierung in Kauf. Ihr Ansinnen, über die Haft auszureisen, erleichterte ihnen in einer Reihe von Fällen diese Entscheidung. Der Ausreisewunsch war für den Protest dabei nicht grundsätzlich ausschlaggebend. Ursächlich für beides – den Widerspruch und das Ausreisebegehren – waren sowieso die politischen Verhältnisse. Mit einem Wandel der gesellschaftlichen Gegebenheiten hätte sich das Ausreisebegehren erübrigen können. Doch sprach vieles dagegen, dass sich in absehbarer Zeit in der DDR etwas ändern könnte. Ab den sechziger Jahren erwies sich die DDR-Gesellschaft wie die der anderen Ostblockstaaten zusehends als eine Gesellschaft des Stillstandes. Kaum ein Filmtitel traf in seiner Aussage die um sich greifende Stagnation und das sich unter Jugendlichen breitmachende Lebensgefühl mehr als der des ungarischen Spielfilm »Die Zeit bleibt stehen« von 1982. Jener endete bezeichnenderweise mit dem Versuch, gen Westen fliehen zu wollen, um so dem realsozialistischen Alltag mit all seiner Verlogenheit zu entkommen. 638 Für viele Jugendliche kam hinzu, dass das freie und 636 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Operativer Vorgang »Konvent« (zusammenfassender Bericht), ohne Datum: BStU, MfS, BV Rostock, AKG Nr. 121, Bd. I, Bl. 57–59, hier 57. 637 Ebenda. 638 Titel: »Die Zeit bleibt stehen« (Megáll az idö), Regie: Péter Gothár, Drehbuch: Géza Bereményi und Péter Gothár. Mit Pál Hetényi, Sándor Söth u. a., Ungarn 1982, 103 Minuten. 1963.

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unbegrenzte Reisen in andere, vornehmlich westliche Länder, in der DDR bis zum Erreichen des Rentenalters untersagt blieb. Grade die Perspektive, bis zur Pensionierung warten zu müssen, mochte den Ausreisewunsch zusätzlich beförderte. War die Entscheidung erst einmal gefallen, einen solchen Antrag zu stellen, so veränderte dies auch die Perspektive auf die Verhältnisse im Land insgesamt. Ein einmal gestelltes Ausreisebegehren mochte dabei die Bereitschaft, mehr als zuvor zu wagen, erhöhen. Die in der DDR geläufigen Anpassungsmechanismen und Verhaltensformen, so die, dass Ruhe die erste Bürgerpflicht sei, mussten ihnen auf einmal fremd und wirklichkeitsfern erscheinen. Aktiv wurde so auch ein zwanzigjähriger Jugendlicher in Rostock 1988: In der Kröpeliner Straße, der Haupteinkaufsmeile der Hansestadt, verteilte er zum Jahrestag der Mauerbaus am 13. August unter den Passanten mehrere Flugblätter, die sich gegen das DDR-Grenzregime und die Menschenrechtsverletzungen an der Berliner Mauer richteten. 639 Von den 49 Exemplaren, die er auf weißem Fotopapier und mittels einer Klarsichtfolie, versehen mit »Typofix-Abreibebuchstaben« gefertigt hatte, vermochte er siebzehn an die Passanten zu verteilen. 640 Davon sollten drei der 18 x 24 Zentimeter großen Flugblätter von geflissentlich ordnungsbewussten Bürgern bereits wenig später bei der Polizei bzw. dem MfS abgegeben werden. Dreißig weitere Exemplare »konnten«, wie es der Eilmeldung zu entnehmen ist, »durch das Einschreiten eines DDR-Bürgers vor der Verteilung sichergestellt werden«. 641 Die Intervention gegen die Protestaktion erfolgte dabei von durchaus prominenter Seite: Ausgerechnet Rostocks Chefarchitekt, Professor Rudolf Lasch 642, der Leiter des Büros für Stadtplanung, beobachtet den »BeschuldigHandlung: Eine Mutter erzieht ihre Söhne allein, da der Vater 1956 das Land verlassen hat. Gábor möchte Arzt werden, Dini ist eher orientierungslos, da er sieht, wie verlogen die Welt um ihn herum ist. Wegen eines Skandals wird sein Freund Pierre der Schule verwiesen. Daraufhin brechen Dini, Pierre und ein Mädchen mit einem gestohlenen Wagen gen Westen auf. 639 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Schlußbericht, Rostock, 9.9.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AU 355/88, Bd. I, Bl. 137–144, hier 138. 640 MfS, ZOS, Information Nr. 1064/87, Verbreiten von selbstgefertigten Flugblättern mit herabwürdigen Inhalt durch einen Bürger der DDR im Stadtzentrum von Rostock: BStU, MfS, HA XX, Nr. 12173, Bl. 28 f. 641 Ebenda, Bl. 29 sowie Kreisgericht Rostock-Stadt, Vorführung der Person [Name], [Vorname], Rostock 14.8.1987: BStU, MfS, AU 355/88, HA, Bd. I, Bl. 14. 642 Rudolf Lasch: geb. 20.2.1930 in Cottbus, gest.: 1993 in Rostock, Vater Angestellter, 1949 Abitur in Eisleben, 1949–1954 Studium in Dresden, 1954–1957 wiss. Assistent für Architektur an der TH Dresden, ab 1957 bis 1965 angestellt in der Entwicklungsgruppe für Stadtbauleitung und im Baustab beim Rat der Stadt Rostock, 1965–1968 Bereichsleiter für Städtebau beim VEB Hopro und Wohnungsbaukombinat Rostock, 1968–1970 stellv. Chefarchitekt beim Rat der Stadt Rostock, 1970–1971, 1972–1989 Chefarchitekt im Büro für Stadtplanung beim Rat der Stadt Rostock, 1978 Honorarprofessor an der TU Dresden, ab 1980 Honorarprofessor für Stadt-, Dorf- und Siedlungsnetzplanung an der Sektion Meliorationswesen und Pflanzenproduktion an der Wilhelm-PieckUniversität Rostock; 1989–1993 tätig am Institut für Denkmalpflege Schwerin, Außenstelle Rostock; Veröffentlichungen: Neues Leben in einer alten Stadt. Innerstädtisches Bauen in Rostock, Rostock

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ten«, wie er bei seinem Weg durch die Kröpeliner Straße an »vier Passanten Schreiben verteilte«. 643 Professor Lasch schritt energisch und unversehens ein, »wies sich als Mitarbeiter des Rates der Stadt Rostock aus, notierte die Personalien des R. und nahm diesem die noch vorhandenen 30 Schriften ab«. 644 Auf dem Dienstweg stellte der Professor dem hocherfreuten MfS die beschlagnahmten Flugblätter zu. Zuvor übermittelte er dem Staatssicherheitsdienst telefonisch die Täterdaten und gab seine Schilderung zum Tathergang kund. 645 Auch der Rücklauf eines weiteren Flugblattes belegte, dass sich der Betreffende der ihm einst gewährten akademischen Ausbildung als »würdig« zu erwiesen wusste und dies seinen einstigen Förderern mit bedingungsloser Systemgefolgschaft vergalt. 646 Als aufmerksamer Bürger trat hier ein Wissenschaftlicher Assistent an der Sektion Sozialistische Betriebswirtschaften der Wilhelm-Pieck-Universität in Rostock in Erscheinung. Zugleich lieferte er dem MfS eine detaillierte Personenbeschreibung zum wenig später inhaftierten Jugendlichen. 647 Kriminaltechnisch akribisch gab der Staatssicherheitsdienst im Weiteren den Inhalt des Flugblattes wieder: »Linke obere Ecke: ›13. August 1961‹, rechts obere Ecke: ›13. August 1987‹. Die Überschrift lautete: ›26 Jahre Mauer‹. Darunter stand folgender Text: ›Gedenken wir der Toten, die dort für ihre Freiheit starben, Gedenken wir derer, die immer noch im Gefängnis sind, weil sie für Recht und Freiheit kämpfen. Denken wir an alle, die dafür noch im Gefängnis sitzen werden und die noch an der Mauer sterben werden, bis alle frei sind. Laßt uns nicht später wieder sagen müssen, wir hätten von allem nichts gewußt.« 648 Bewusst wollte der Zwanzigjährige mit seiner Protestaktion ein unmissverständliches Zeichen setzten und ging mit seiner Aktion zugleich ein hohes Risiko ein. Nachdem ihm von Professor Lasch die Flugblätter abgenommen worden waren, begab sich der Jugendliche ungehindert nach Hause, wo er

1989; Die historische Altstadt von Rostock. Ergebnisse, Probleme und Zielstellungen ihrer baulichen Gestaltung, Stuttgart 1991. Nach: http://cpr.uni-rostock.de (14.07.2014). 643 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Erstmeldung EV/MfS an die MfS-Hauptabteilung/AKG in Berlin, Rostock, 14.8.1987: BStU, MfS, Bl. 51–54, hier 52. 644 Ebenda. 645 Ebenda. 646 MfS, BV Rostock, Abt. XX/10, Information über die Verteilung von Flugblättern, Rostock, 13.8.1987: BStU, MfS, BV Rostock, Bl. 47 647 Ebenda. 648 MfS, ZOS, Information Nr. 1064/87, Verbreiten von selbstgefertigten Flugblättern mit herabwürdigen Inhalt durch einen Bürger der DDR im Stadtzentrum von Rostock: BStU, MfS, HA XX, Nr. 12173, Bl. 29 sowie Kreisgericht Rostock-Stadt, Vorführung der Person [Name], [Vorname], Rostock 14.8.1987: BStU, MfS, AU 355/88, HA, Bd. I, Bl. 14.

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gegen 20.45 Uhr von Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes festgenommen wurde. 649 Zwar hatte der Jugendliche ein Jahr zuvor zusammen mit seiner Mutter einen Ausreiseantrag gestellt. Doch gab er bei seiner Vernehmung an, »seine Gründe« für die Tat zu haben. Konkret verwies er darauf, dass ihm in der DDR die »Genehmigung für seine berufliche Tätigkeit« vorenthalten worden sei. 650 In einem der späteren Verhöre unterstrich er ausdrücklich, dass seine Tat »nicht [Org.] im Zusammenhang mit seinem Übersiedlungsersuchen« zu verstehen sei. 651 Nach der Verlesung des Haftbefehl am 14. August, konkretisierte er sein Anliegen: Sein Ziel sei es gewesen, die Passanten »zum Nachdenken auf[zu]fordern, insbesondere ging es« ihm »darum, die Bürger zum Nachdenken über den bestehenden Schießbefehl anzuregen«. 652 Später ging er detailliert auf sein Anliegen ein: Mit seinem Flugblatt wolle er nicht nur »zum Nachdenken über die Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR aufrufen«. 653 Darüber hinaus sei es zusätzlich seine Absicht gewesen, die Menschen »zur Diskussion auf[zu]fordern, weil zu viele Bürger sich gleichgültig gegenüber [...] verfassungs- und völkerrechtswidrigen Einschränkungen ihrer Rechte und Freiheiten [...] verhalten würden«. 654 Die Idee zu dem Flugblatt sei ihm »während eines Aufenthaltes in Berlin« zwei Wochen zuvor gekommen. 655 Angesichts der Allgegenwart der Mauer in den Innenstadtbezirken Ost-Berlins und des sorglosen Umgangs hiermit, hätte er sich entschlossen, die Menschen mit den bestehenden Verhältnissen zu konfrontieren. Eine Rolle spielten dabei politische Reportagen des bundesdeutschen Fernsehens wie die Sendung »Kennzeichen D«, die auch in Rostock verfolgt werden konnten. Hinzu kamen die Pfingstkrawalle in Ost-Berlin in der Nähe des Brandenburger Tores sowie die Rede des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan auf der westlichen Seite vier Tage später am 12. Juni 1987 mit den Worten »Mister Gorbatschow, open this gate! Tear down this wall!«. Auch sie trugen zur weiteren Emotionalisierung des Jugendlichen bei. 656 649 Stellungnahme zur Straftat [handschriftlich], Rostock, 26.8.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AU 355/88, Bd. I, Bl. 116–119, hier 119. 650 MfS, ZOS, Information Nr. 1064/87, Verbreiten von selbstgefertigten Flugblättern mit herabwürdigen Inhalt durch einen Bürger der DDR im Stadtzentrum von Rostock: BStU, MfS, HA XX, Nr. 12173, Bl. 28. 651 Ebenda, Bl. 29. 652 Kreisgericht Rostock-Stadt, Vorführung der Person [Name], Rostock 14.8.1987: BStU, MfS, AU 355/88, HA, Bd. I, Bl. 13 f. 653 MfS, BV Rostock, Abteilung IX, Erstmeldung EV/MfS an die AKG in Berlin, Rostock, 14.8.1987: BStU, MfS, Bl. 51–54, hier 52. 654 Ebenda. 655 Ebenda. 656 Ebenda.; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 163; Weber, Hermann: DDR. Grundriß der Geschichte 1945–1990. Hannover 1991, S. 338.

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Nach knapp zwei Monaten in der Untersuchungshaftanstalt der Bezirksverwaltung in der August-Bebel-Straße legte die Abteilung IX sowohl ihren Bericht als auch ihre Empfehlung für den Prozess vor dem Kreisgericht Rostock-Stadt vor. 657 Die dortige Strafkammer verurteilte den Jugendlichen am 6. Oktober in einer »nicht öffentlichen Hauptverhandlung« unter dem Vorwurf der »öffentlichen Herabwürdigung« gemäß Paragraph 220 des DDRStrafgesetzbuches zu zwei Jahren Haft. 658 Vom Gefängnis in Cottbus aus reiste der so für seinen Mut zur Verantwortung Gezogene später über das Abschiebegefängnis in Karl-Marx-Stadt in die Bundesrepublik aus. Auch der Urheber eines Flugblattes in Wismar hatte sich vorab mit der Option der Ausreise auseinandergesetzt. Im Frühjahr 1979 verteilte er etwa 40 Exemplare in Wismarer Briefkästen. Er wandte sich in ihnen unter anderem »gegen die Volkswahlen am 20. Mai 1979« und forderte zu deren Boykott oder zum Nein-Stimmen auf. 659 Wie viele Antragsteller, die aktiv wurden, hatte er seine Vorgeschichte: Nach einem gescheiterten Fluchtversuch 1972 und der Entlassung aus der Haft 1973 stellte er 1978 einen Ausreiseantrag, den er jedoch »nach einer am 15.3.1978 bei der Abteilung Inneres des Rates der Stadt Wismar« mit ihm »geführten Aussprache [...] formal zurücknahm«. In einer Art Kurzschlussreaktion stellte er sich nach der Flugblattaktion den Behörden. So lag der Verdacht nahe, dass er alles nur tat, um in die Bundesrepublik zu gelangen. Dagegen spricht, dass in den Vernehmungen die Ausreise nicht weiter angesprochen wurde. Als Motiv nannte er hingegen die Erfahrungen seiner ersten Haft. Hieraus resultierte seine Emotionalisierung in politischen Fragen: Jene folgte demnach nicht nur, wie man in seinem Fall monierte, aus dem »Empfang ausgesprochen gegen die DDR gerichteter Sendungen des BRD-Fernsehens«, begleitet von »den politischen Kommentaren [...] wie ›Kennzeichen D‹, ›Hilferuf von drüben‹ und der ›Tageschau‹«. 660 Seine erste Haft im Gefängnis Bützow-Dreibergen und die Behandlung der Gefangenen bestärkten ihn in der Ablehnung des DDR-Systems. Erneut hierhin eingewiesen und angesichts einer Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten drängte sich für ihn die Ausreiseoption erneut auf. Sie beinhaltete die Chance, nicht die komplette Zeit im Gefängnis absitzen zu müssen. Auch bei einer weiteren Protestaktion von zwei Wismarer Jugendlichen im September 1987 spielte deren Ausreiseantrag nur vordergründig die ausschlag657 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Schlußbericht, Rostock, 9.9.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AU 355/88, Bd. I, Bl. 137–144, hier 144. 658 Urteil der Strafkammer des Kreisgerichtes Rostock-Stadt gegen [Name], Az. S 754/87, Rostock, 6.10.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AU 355/88, Bd. I, Bl. 145–152, hier 145. 659 MfS, BV Rostock, Kerblochkartei der HA IX: BStU, MfS, HA IX, Nr. 4125, Bl. 63; Der Staatsanwalt des Bezirks Rostock, Abt. I A, Strafakte [Name]: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2084/79, Bd. 2, Bl. 5. 660 Der Staatsanwalt des Bezirks Rostock, Abt. I A, Strafakte [Name]: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2084/79, Bd. 2, Bl. 8 f.

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gebende Rolle. Die Situation als Antragsteller veränderte vielmehr ihre Perspektive auf die Dinge insgesamt und erhöhte ihre Bereitschaft zum Risiko. Den Ausgangspunkt bildete die Fahrt von vier Mitgliedern der Umweltbibliothek Wismar nach Stralsund. Gemeinsam planten sie dort, an der Eröffnung des Olof-Palme-Friedensmarsches teilzunehmen. 661 Der Friedensmarsch sollte europaweit an den am 28. Februar 1986 ermordeten schwedischen Ministerpräsidenten und dessen Friedensengagement erinnern. Vielen galt die Veranstaltung als amorphes Unternehmen, das trotz des staatlichen Engagements kurzzeitig unbekannte Freiräume eröffnete. Der Marsch war offiziell von der DDR genehmigt worden. 662 Die SED vermochte es dabei nicht, missliebige und kritische Stimmen aus dem kirchlichen Umfeld von vornherein auszuschließen. Angeregt und beantragt hatte den Marsch die »Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner« – eine bundesdeutsche Friedensinitiative, deren Engagement die SED für sich zu vereinnahmen suchte. Unerwartet bestand die Friedensgesellschaft während der Verhandlungen darauf, dass auch der DDR-Kirchenbund an dem Marsch mitwirken dürfe. Die DDR hatte sich ihrerseits im Vorfeld der Gespräche mit Vorabveröffentlichungen weit »nach vorne« begeben. Nun, kurz vor der erwünschten Kooperation mit einer der renommiertesten bundesdeutschen Friedensinitiativen, befand man sich in einem Dilemma. Widerwillig stimmte die SED einer Beteiligung der Kirchen zu. Staatschef Erich Honecker begab sich zudem am 7. September 1987 zu einem lang erhofften mehrtägigen Arbeitsbesuch in die Bundesrepublik. Auch dies erschwerte ein Vorgehen gegen kritische Losungen während des Marsches. 663 Die Jugendlichen in Wismar trafen sich am Tag vor ihrer Fahrt nach Stralsund in der Wohnung von Guntram Erdmann. Hier wollten sie überlegen, welche Losungen sie auf ihre Plakate schreiben. Auf Guntram Erdmann, der der Stasi als Spitzel IMB »Goldberg« bzw. »Isaak« berichtete, ruhten derweil die Hoffnung der Geheimpolizei, beizeiten eine »Provokation unterbinden« zu können. An dem Treffen nahmen neben Erdmann die beiden Antragsteller Cornelia Wolter und Holger Schnabel sowie Michael Pahl teil. Letzterer war noch im Juni 1987 vom Stadtbezirksgericht Berlin-Pankow nach dreimonatiger Untersuchungshaft zu einer Bewährungsstrafe von achtzehn Monaten verurteilt worden: Am 10. März 1987 hatte man ihn auf dem Berliner Alexan661 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Einsatz des IMB »Goldberg« im Rahmen der Veranstaltungen zum Olof-Palme-Friedensmarsch (OPFM), Rostock, 4.9.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 277/88, Bl. 259–262, hier 259. 662 Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 245; Weber, Hermann: DDR. Grundriß der Geschichte 1945–1990. Hannover 1991, S. 338; Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 346). Bonn 1997, S. 690–693. 663 Kowalczuk: Endspiel, (ebenda), S. 245; Neubert: Geschichte (ebenda), S. 690–693.

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derplatz in der Nähe der Weltzeituhr mit einem Plakat »Ich möchte ausreisen« festgenommen. 664 Nachdem er noch im September 1987 der Ost-CDU beigetreten war, stellte er Anfang 1989 erneut einen Ausreiseantrag. Als Grund gab er an, »keine Perspektive mehr für sich in der DDR« zu sehen. 665 Zunächst regte Guntram Erdmann alias »Goldberg« laut MfS-Protokoll an, lediglich »ein Transparent mit der Aufschrift ›Atomwaffenfreier Korridor. Der Frieden ist unteilbar. West – Ost‹« anzufertigen und damit nach Stralsund zu fahren. 666 Ein solcher Satz hätte sich so auch der SED-Parteizeitung »Neues Deutschland« entnehmen lassen. Den anderen erschien dies als zu wenig prägnant, um auf ihr eigenständiges und von der SED unabhängiges Engagement hinzuweisen. Sie plädierten dafür, wie es »Goldberg« seinem Führungsoffizier nach der Fahrt berichtete, »zusätzlich den ›Demokratiegedanken‹ mit aufzunehmen«. 667 Während Pahl auf der Rückseite des Plakates einen »Zivilen [Wehr]Ersatzdienst« in der DDR einforderte, fertigten Wolter und Schnabel ein weiteres Transparent an. Auf ihm stand unmissverständlich »Frieden in Europa heißt auch: Keine Schüsse an unserer Grenze«. 668 Trotz der »Bedenken des IM [...], daß man [...] eventuell ›Ärger‹ bekommen könne«, bestanden die beiden Antragsteller darauf, das Plakat nach Stralsund mitzunehmen. Vor Ort wollten sie entscheiden, wie sie mit dem Plakat verfahren. Einig waren sich die vier darin, dass man so das in den DDR-Zeitungen viel gelobte »gemeinsame Dokument der SED und SPD« nun auf seinen Wahrheitsgehalt hin prüfen werde: »Man wollte sehen«, so »Goldberg« in seinem Bericht, »inwieweit der Inhalt des Dokumentes auch in der Praxis seine Gültigkeit hat«. 669 Während des Gesprächs, dass Guntram Erdmann alias »Goldberg« drei Tage nach der Fahrt mit dem MfS führte, traten einmal mehr seine unentschlossene Haltung wie seine innere Zerrissenheit hervor. Er hätte zwar versucht, die anderen von ihrem Vorhaben abzubringen, sich zugleich, so rechtfertigte er sich vor dem Führungsoffizier, aber »mit den ›Losungen‹ identifiziert, da sie seiner politischen Haltung« entsprachen. Das MfS konstatiert, dass Erdmann alias »Goldberg« nicht nur die zuvor mit ihm »getroffene Verhaltenslinie« 664 Urteil der Strafkammer des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow in der Hauptverhandlung am 11./12.6.1987, Berlin, 12.6.1987: BStU, MfS, AU 2901/87, Bd. III, Bl. 32–34; Präsidium der Volkspolizei Berlin. Kriminalpolizei, Festnahmebericht, Berlin, 10.3.1987: BStU, MfS, AU 2901/87, Bd. III, Bl. 41. 665 Wagner, Andreas: Das Ökumenische Zentrum für Umweltarbeit Wismar. Eine kirchliche Basisgruppe in der DDR-Endphase. In: Engelhardt, Kerstin; Reichling, Norbert (Hg.): Eigensinn in der DDR-Provinz. Vier Lokalstudien über Nonkonformität und Opposition. Schwabach 2011, S. 69– 139, hier 104; MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Einsatz des IMB »Goldberg« im Rahmen der Veranstaltungen zum Olof-Palme-Friedensmarsch (OPFM), Rostock, 4.9.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 277/88, Bl. 259–262, hier 262. 666 MfS, BV Rostock, Einsatz des IMB »Goldberg« (ebenda). Bl. 259. 667 Ebenda. 668 Ebenda. 669 Ebenda, Bl. 260.

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missachtet habe. Obendrein, so das Fazit des MfS, »handelte [er] [...] dem entgegen«. 670 Ihr Inoffizieller Mitarbeiter erfüllte nur noch bedingt seinen Zweck. Andererseits liefert er dem MfS weiterhin Informationen. Auch dies zeugte von seiner Unentschlossenheit. Von den Vorgängen in Stralsund berichtete neben »Goldberg« auch der in Kirchenfragen häufig hinzugezogene Rechtsanwalt Wolfgang Schnur alias »Torsten«. So war, was kaum verwundern mochte, nicht nur ein Spitzen-IM vor Ort, der das Geschehen im Sinne der SED beeinflussen und steuern sollte. 671 Cornelia Wolter und Holger Schnabel waren sich zunächst nicht sicher, ob es ratsam sei, das Transparent auf dem Marktplatz zu entrollen. Nach dem Bericht von »Goldberg« erfolgte »die Entrollung [...] erst«, als die »Träger des Plakates mit der Forderung nach einem Zivilen Ersatzdienst in Bedrängnis« gerieten. 672 Wolter und Schnabel, so »Goldberg«, »wollten sich mit den Trägern dieses Transparentes solidarisch erklären«, indem sie nun auch ihre Losung öffentlich zeigten. 673 Wesentlich plastischer schilderte »Torsten« die Ereignisse am Rande der Eröffnungsveranstaltung. »Torsten« sah eine »Menschenansammlung«, die sich mit »anderen Plakaten und Banderolen, [...] vor dieses Plakat gestellt hatten«, um es zu verdecken. 674 Aktiv wurden hier allem Anschein nach die allseits bekannten »gesellschaftlichen Kräfte«, die sich aus der Freien Deutschen Jugend, der SED, dem Demokratischen Frauenverband Deutschlands und dem MfS rekrutierten. »Ein Stab des Plakates« zum ›Zivilen Ersatzdienst‹ wurde, so berichtete es »Torsten«, von den offiziell einbestellten Friedenskräften zerbrochen. Dies führte dann zur eigentlichen Solidarisierung: 675 Mit der Entrollung ihrer Losung »[...] keine Schüsse an unserer Grenze« wollten die beiden Ausreiseantragsteller, so bestätigte »Torsten« den Vorfall, »ein solidarisches Zeichen setzen«. Die »gesellschaftlichen Kräfte« stellten den von offizieller Seite beschworenen Friedenswillen der DDR im Weiteren anschaulich unter Beweis: »Nicht bekannte Bürger«, wie es im Bericht heißt, bedachten Wolter und Schnabel mit »Schimpfwörtern, wie [...] Arschloch, [...] Behinderte« und bezeichneten sie als »mediengestörte Personen«. 676 Wolfgang 670 Ebenda, Bl. 259. 671 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Quelle: IMB »Torsten«, Tonbandbericht. Bericht Nr. 1 vom 1.9.1987 zum Ablauf des Olof-Palme-Friedensmarsches in Stralsund: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90, Bd. II/11, Bl. 285–289. 672 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Einsatz des IMB »Goldberg« im Rahmen der Veranstaltungen zum Olof-Palme-Friedensmarsch (OPFM), Rostock, 4.9.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 277/88, Bl. 259–262, hier 260. 673 Ebenda. 674 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Quelle: IMB »Torsten«, Tonbandbericht. Bericht Nr. 1 vom 1.9.1987 zum Ablauf des Olof-Palme-Friedensmarsches in Stralsund: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3275/90, Bd. II/11, Bl. 285–289, hier 285. 675 Ebenda. 676 Ebenda, Bl. 286.

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Schnur versuchte die Situation – wie er glaubte, durch seine »behutsame Einflussnahme« – zu beruhigen: All dies sei noch ein »Lernprozeß für beide Seiten« und »nun komme es umso mehr darauf an«, so Schnur unter Umkehrung des Ursache-Folge-Prinzips, »daß Christen eine weitere Friedensfähigkeit« bewiesen. 677 Trotz ihrer inneren Erregung, über das was soeben geschehen war, betrachteten die nach Wismar unbehelligt Zurückkehrenden ihre Aktion als Erfolg. 678 Sie hatten es geschafft, den Staat für einen Moment herauszufordern und waren aus dem Kreis der auferlegten Zurückhaltung und Selbstbeschränkung herausgetreten. Für einen Augenblick gelang ihnen das, was in der DDR an sich als undenkbar galt. Dabei hatten sie sich bewusst dem Risiko von strafrechtlichen Sanktionen ausgesetzt. Dass es in der Konsequenz nicht dazu kam, war der besonderen politischen Konstellation geschuldet, die die Sicherheitskräfte davon abhielt, zu intervenieren. Doch konnten sich die beiden Wismarer bei ihrer Aktion dieses Umstandes keineswegs sicher sein. Im Folgenden richtete die über diese »Panne« ungehaltene, jedoch ohne Befehl zum Eingreifen ausgestattete Kreisdienststelle Wismar ihr Bestreben darauf, die Jugendlichen davon abzubringen, in Dresden auf der Abschlussveranstaltung des OlofPalme-Marsches mit ihrem Transparent zu erscheinen. 679 Da Guntram Erdmann alias »Goldberg« über das Auto verfügte, das sie dorthin hätte bringen sollen, ließ sich dies relativ einfach bewerkstelligen. Diesmal folgte der IM der mit ihm vereinbarten »Verhaltenslinie«. Ein Jahr später, »im Dezember 1988«, beendete die Stasi die Zusammenarbeit mit ihm endgültig »wegen Unzuverlässigkeit«.680 3.4.4 Ausreiseantragstellergruppen Nicht nur in Wismar meldeten sich Ausreiseantragsteller mit ihren Anliegen in organisierter Form zu Wort. Die Antragstellergruppen stellten, trotz ihres von der persönlichen Interessenlage geleiteten Profils, eine, wenn auch besondere Form der Opposition in der DDR dar, etablierten sich als solche und verschwanden, trotz des ›Aderlasses‹, den die Ausreise Einzelner mit sich brachte, nicht mehr von der Bildfläche. Auch wenn es Zeiten gab, in denen die Gruppen aktiver oder weniger aktiv auftraten, so fanden sich doch immer wieder 677 Ebenda. 678 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Einsatz des IMB »Goldberg« im Rahmen der Veranstaltungen zum Olof-Palme-Friedensmarsch (OPFM), Rostock, 4.9.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 277/88, Bl. 259–262, hier 260. 679 Ebenda, Bl. 262. 680 Ebenda sowie MfS, BV Rostock, Abt. XX, Kurzauskunft zur Person, Rostock, 14.12.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, ohne Paginierung.

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neue Mitstreiter. Zugleich übernahmen sie Themen der anderen Gruppen und beteiligten sich an führender Stelle an deren Arbeit. Viele Mitstreiter in den Ausreisegruppen entwickelten das Bewusstsein, zu einer gemeinsamen oppositionellen Szene dazuzugehören; andere Antragsteller hatten sich zuvor seit Jahren in kirchlichen Friedens- und Umweltgruppen engagierte und brachten ihre Erfahrungen mit ein. Seit dem Frühjahr 1984 beschäftigte sich die MfS-Ermittlungsabteilung IX in Berlin mit einer Gruppe von acht Antragstellern aus Stralsund. Jene stand sowohl mit der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin und telefonisch mit der bundesdeutschen Botschaft in Genf den Kontakt. 681 Über die Botschaft planten die acht, die in Genf ansässige UNO-Menschenrechtskommission zu informieren, dass man sich zu einer Gruppe zusammengefunden habe. Das MfS sprach von der »Bildung eines Personenzusammenschlusses von Übersiedlungsersuchenden« im Kreis Stralsund. Am 6. Oktober 1984 verabschiedete die Gruppe, die sich den Namen »Interessengemeinschaft« gab, laut den Erkenntnissen des MfS, »eine ›schriftliche Konzeption‹, in der man sich gegenseitig der Solidarität versicherte«. 682 Im Falle der Festnahme wollten die Mitglieder sich gegenseitig unterstützen und die bundesdeutschen Einrichtungen in Genf und Ost-Berlin informieren. Jene, die bereits in die Bundesrepublik ausreisen konnten, würden sich zudem von dort aus für die noch im Osten verbliebenen Gruppenmitglieder einsetzen. Am 8. Oktober folgte eine Petition, die – als »gemeinsame Ausreiseerklärung« verstanden – die DDR-Stellen erreichte. Die Unterzeichner klagten das SED-System in ihrer Erklärung an, umfangreiche Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Nachdem die Gruppe abermals bei den bundesdeutschen Stellen um Rat nachgesucht und für den 9. November ihren Besuch in der Hannoverischen Straße angekündigt hatte, griff das MfS ein. Die Gruppe wurde am 6. November inhaftiert und in die MfS-Untersuchungshaftanstalt überstellt. 683 Nach fünf Monaten in der Untersuchungshaft in der August-Bebel-Straße sprach der Erste Strafsenat des Kreisgerichtes Rostock Stadt seine Urteile über die Mitglieder der »Interessengemeinschaft«: Wegen »ungesetzlicher Verbindungsaufnahme«, »des Verbrechens des Zusammenschlusses zur Verfolgung gesetzeswidriger Ziele« sowie der »mehrfachen Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit« verurteilte das Gericht die vermeintlichen »Rädelsführer«, einen Kranfahrer und eine Fischverarbeiterin, 681 MfS, HA IX, Bericht: Einschätzung der Wirksamkeit der Untersuchungsarbeit im Jahr 1984, Berlin, 7.11.1984: BStU, MfS, HA IX, Nr. 8618, Bl. 31, 43. Ebenso überliefert in: BStU, HA IX, Nr. 3711, Bl. 30, 50–52. 682 Ebenda, Bl. 43 bzw. 50 f. 683 Ebenda sowie MfS, BV Rostock, Information Nr. 65/84 über die Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen 8 Personen aus dem Kreis Stralsund wegen Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit bzw. Zusammenschluß zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele, Rostock, 7.11.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 190, T. 1, Bl. 71–74.

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zu »Freiheitsstrafen [...] von 4 Jahren und sechs Monaten« bzw. drei Jahren. Die anderen sechs erhielten eine Strafe von je zwei Jahren und sechs Monaten. 684 In Greifswald fand sich im März 1988 eine ebenfalls achtköpfige Gruppe, die sich mit Petitionen an die Ostsee-Zeitung und den Oberbürgermeister wandte. Die Gruppe bestand größtenteils aus Akademikern und Beschäftigen im medizinischen Bereich der Universität. Gezielt besuchten sie öffentlich Veranstaltungen, um ihr Anliegen öffentlichkeitswirksam vorzutragen. 685 Zwar stellten die Sechsergruppe – neben den sich in der Christuskirche am Friedenskreis beteiligenden Antragstellern – in der Stadt eine Minderheit unter den Übersiedlungsersuchenden dar: Im März 1988 gab es in Greifswald 265 Antragsteller. 686 Doch versetzten Aktionen und gemeinsames Auftreten – so der »geschlossene Auftritt als Gruppe in einer Abgeordnetensprechstunde« – die staatlichen Stellen zunehmend in Aufruhr. 687 In ihren Wortbeiträgen stellten sie über ihr individuelles Anliegen die SED-Herrschaft infrage. Sie kritisierten die Menschenrechtssituation und benannten die politischen Missstände in der DDR. Als »Novum in der [...] DDR« konnte zu Recht eine Veranstaltung im Rubenow-Klub in Greifswald gelten, in der Schauspieler des Stadttheaters ein Stück des norddeutschen Schriftstellers Uwe Saeger vortrugen. 688 In dem Theaterstück »Jeder gegen jeden« ging es, wie das MfS nach der Veranstaltung irritiert konstatierte, um eine »Familie, deren Übersiedlung in die BRD genehmigt worden ist und [deren Ausreise] in einer Woche bevorsteht«. Doch war es nicht nur die ungewöhnliche Themenwahl des Ingeborg-BachmannPreisträgers von 1987, die das MfS auf den Plan rief. Das erneute Auftreten der Ausreisegruppe im Rubenow-Klub schien die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. 689 Die Gruppe forderte in der anschließenden Diskussion, die politischen Ursachen für die Ausreise aus der DDR unverschlüsselt zu benennen – und tat dies ungebeten gleich selbst: Die DDR benötige, damit eine »wirklich positive Veränderung« stattfände, »politischen Pluralismus, wahre 684 Erste Strafkammer des Kreisgerichtes Rostock-Stadt, Urteil vom 1.4.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 1274/85, GA/ASt, Bd. XIV, Bl. 226–241, hier 228. 685 MfS, BV Rostock, Information Nr. 113/88 über Aktivitäten von Übersiedlungsersuchenden in Greifswald, Rostock, 12.10.1988: BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 108, T. 1, Bl. 84– 87. 686 MfS, BV Rostock, Information Nr. 36/88 über die von hartnäckigen Übersiedlungsersuchenden in Greifswald fortgesetzten politisch negativen und antisozialistischen Aktivitäten, Rostock, 14.3.1988: BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 108, T. 1, Bl. 88–90, hier 90. 687 Ebenda, Bl. 89. 688 MfS, BV Rostock, Information Nr. 113/88 über Aktivitäten von Übersiedlungsersuchenden in Greifswald, Rostock, 12.10.1988: BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 108, T. 1, Bl. 84– 87. 689 Uwe Saeger stammte aus Ueckermünde und lebte im Bezirk Neubrandenburg. Nach: Uwe Saeger. In: Wer war wer in der DDR? Bd. 2, Berlin 2010, S. 1111 f.

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Meinungsfreiheit und wirkliche Marktwirtschaft«. 690 Kaum verwundern mochte es daher, dass sich der Klubleiter weigerte, der Gruppe auf deren Vorschlag hin im Rubenow-Klub ein Forum zu bieten. Zuvor war er mit dem Vorschlag konfrontiert worden, mit den Antragstellern »im Club eine öffentliche Diskussion [...] zu führen«. Thematisiert werden sollten dabei Fragen, die dem Ziel der Rechtssicherheit dienen sollten. Die Themenvorschläge der Gruppe lauteten: »›Verwirklichung der Menschenrechte in der DDR‹« und »Veränderung im Rechtssystem der DDR«. 691 Eine vergleichbare Gruppe von zwanzig Antragstellern fand sich im März 1988 in Stralsund. Sie stand im engen Kontakt zu dem von Pfarrer Martin Stemmler in Altefähr im Mai 1989 begründeten »Christlichen Arbeitskreis KSZE« und beteiligte sich an den Treffen und Aktionen des Arbeitskreises. 692 Während eines Treffens am 17. April 1989 im Pfarrhaus in Altefähr kamen die Anwesenden darin überein, »dass [sie] zur Wahl gehen sollten, um dann Streichungen vorzunehmen.« 693 Zuvor scheiterte der Plan, »in auffälliger Kleidung und mit Symbolen« an der 1.-Mai-Demonstration 1989 in Stralsund teilzunehmen. Ebenso wie in Wolgast, wo Antragsteller planten, mit einer schwarzen Nelke geschlossen aufzutreten, bewirkten gezielte Einschüchterungsmaßnahmen wie Vorladungen sowie die Offensiv-Beschattung und – wie es nebulös hieß – »der Einsatz gesellschaftlicher Kräfte«, dass die Pläne nicht zur Umsetzung gelangten. 694 Am 23. Mai einigte man sich im Pfarrhaus Altefähr auf ein Programm für die inhaltliche Arbeit. Zukünftig wolle man, so kamen die zwanzig Teilnehmer überein, ein gesellschaftliches Wächteramt, wie es aus den Traditionen der evangelischen Kirche ergebe, ausüben und für »mehr Gerechtigkeit in der DDR« eintreten. Themen seien zudem »die deutsch-deutsche Grenze und der Schießbefehl«. 695

690 MfS, BV Rostock, Information Nr. 113/88 über Aktivitäten von Übersiedlungsersuchenden in Greifswald, Rostock, 12.10.1988: BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 108, T. 1, Bl. 84– 87, hier 85 f. 691 Ebenda, Bl. 85. 692 MfS, BV Rostock, AKG, Übersicht über die im Bezirk anhängigen bzw. sich in Bearbeitung befindlichen OV im Rahmen von PIT/PUT, KD Rügen, Operativer Vorgang »Versammlung«, Delikt § 219 StGB: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 121, Bd. I, Bl. 122–128, hier 126. 693 Ebenda. 694 MfS, BV Rostock, Information Nr. 99/88 über Aktivitäten politisch negativer und feindlicher Personen in Stralsund, Greifswald und Wolgast, Rostock, 29.8.1988: BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 108, T. 1, Bl. 42–49, hier 43 und 48. 695 MfS, BV Rostock, AKG, Übersicht über die im Bezirk anhängigen bzw. sich in Bearbeitung befindlichen OV im Rahmen von PIT/PUT, KD Rügen, Operativer Vorgang »Versammlung«, Delikt § 219 StGB: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 121, Bd. I, Bl. 122–128, hier 126. Im MfS-Text hieß es zum kirchlichen Wächteramt: »Die Zielstellung der Gruppierung wurde als ›Ausübung einer Wachfunktion‹ formuliert.«

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Für den 2. September 1989 plante der Arbeitskreis einen Protestmarsch unter dem Titel »Weg des Friedens« ausgehend vom Rambiner Pfarrhaus über Bessin zur Kirche in Altefähr. 696 Am 1. August beantragte Pfarrer Martin Stemmler beim Volkspolizeikreisamt Rügen die Genehmigung. Zugleich bat er die Antragsteller, von »unnötigen Provokation« im Vorfeld abzusehen, um der Administration keinen Vorwand für ein Verbot zu liefern. Stemmler plante zudem die »Teilnahme von Rollstuhlfahrern« mit ein, um »einem möglichen Eingreifen der staatlichen Organe vor[zu]beugen«. 697 Alle dies erwies sich als gegenstandslos. Zur Verhinderung des gut zehn Kilometer langen Protestmarsches bot das MfS im Rahmen des Politischoperativen Zusammenwirkens gleich mehrere Institutionen und Gewährspersonen auf. Neben der Abteilung Erlaubniswesen der Volkspolizei, der Abteilung Inneres des Rates des Bezirkes und dem Bürgermeister wurden die Sektorenleiter für Kirchenfragen in der Angelegenheit tätig. Obendrein führten die beiden Greifswalder Oberkonsistorialräte Hans-Martin Harder und Siegfried Plath mit Martin Stemmler Aussprachen und Belehrungen durch. 698 Zu guter letzt sprachen sich die Kirchgemeinderäte von Rambin und Altefähr am 9. August mit einem Votum 13 gegen 4 gegen den Marsch aus. Sie kritisierten zugleich ihren Pfarrer aufgrund seiner Arbeit mit den Ausreiseantragstellern. 699 Die meisten Kirchenältesten missbilligten, wie es hieß, Stemmlers eigenmächtiges Handeln. Während des Gottesdienstes am Tag zuvor hatte Pfarrer Stemmler noch den auf der Tagung der Konferenz der Kirchenleitungen erarbeiteten und somit kirchenoffiziellen Text »Meinungsbildung zu Fragen im Zusammenhang mit der Kommunalwahl« von der Kanzel verlesen. Er tat dies trotz der Warnung von Oberkonsistorialrat Hans-Martin Harder. Jener hatte den vorpommerschen Pfarrern, wie es das MfS festhielt, »eindeutig« davon abgeraten. Harder bestand darauf, »dass der Text [...] nicht in Gottesdiensten oder ähnlichen Veranstaltungen verlesen« werden darf. 700 Die Mitglieder der Stralsunder Ausreisegruppe engagierten sich nicht nur im KSZE-Arbeitskreis in Rambin. Sie beteiligten sich in vielfältiger Weise an der kirchlichen Friedensarbeit in Mecklenburg-Vorpommern und beschränk696 MfS, BV Rostock, KD Rügen, Abt. XX, Bericht zur Situation um die Gruppierung von Antragstellern auf ständige Ausreise (AStA) in Stralsund (OV »Grund«), Rostock, 6.3.1989: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 594, Bl. 219 f., sowie MfS, BV Rostock, Abteilung XX, an den Leiter der HA XX, Information über einen geplanten Marsch »Weg des Friedens« des »Christlichen Arbeitskreises KSZE« Altefähr/Rambin, Rostock, 14.7.1989: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 594, Bl. 107 f. 697 MfS, BV Rostock, AKG, Übersicht über die im Bezirk anhängigen bzw. sich in Bearbeitung befindlichen OV im Rahmen von PIT/PUT, KD Rügen, Operativer Vorgang »Versammlung«, Delikt § 219 StGB: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 121, Bd. I, Bl. 122–128, hier 127. 698 Ebenda. 699 Ebenda, Bl. 126. 700 Ebenda, Bl. 126 f.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

ten sich so nicht nur auf ihr Ausreiseanliegen. 701 Auf dem 7. Mobilen Friedensseminar Anfang August 1988 in Penzlin 702 bei Neustrelitz setzten sie sich für ein Protestschreiben ein, das auf die Rechtsunsicherheit in der DDR hinwies. Die etwa 500 Exemplare sollten unter anderem an die Abgeordneten der Volkskammer sowie der Bezirks- und Kreistage verschickt werden. Die hiermit anfallenden Arbeiten übernahm die Stralsunder Gruppe. Auch eine vom MfS als anstößige eingestufte Arbeitsmappe ging auf die Initiative der Stralsunder zurück. Die Dokumentation enthielt »Vorschläge für Eigeninitiativen«. Diese sollten zum solidarischen Verhalten führen, »um Ausgrenzungen innerhalb der Gesellschaft« entgegenzuwirken. Geworben wurde für eine mündige Gesellschaft, die sich ihrer »bürgerlichen und politischen Rechte« bewusst ist. Notwendig sei, heißt es in dem Arbeitspapier, ein »Demokratisierungsprozeß«, der dafür sorgt, »die egoistischen Sonderinteressen« in der DDR zu überwinden. 703 Die von der Stralsunder Ausreisegruppe miterarbeitete »Mappe«, so stellte das MfS in seiner Analyse fest, sei konkret »auf die Herausbildung einer aktiven inneren Opposition gerichtet«. Zudem setzten sich die Gruppenmitglieder, so die Analyse weiter, für Aktionsformen ein, die auch die oppositionellen Friedens-, Umwelt – und Menschenrechtsgruppen charakterisierten. So suche man die »Konfrontation mit staatlichen Organen«, bemühe sich aber zugleich, »unterhalb der strafrechtlichen Relevanz« zu bleiben. 704 Die Wolgaster Ausreisegruppe bestand nach den Erkenntnissen des MfS aus fünfzehn Mitgliedern. Ab Juli 1988 kam es in Wolgast, ähnlich wie auf dem Marktplatz in Wismar, wie es das MfS umschrieb, zu öffentlichkeitswirksamen »Zusammenrottungen«. Als Treffpunkt diente in Wolgast eine »Verkehrsinsel am Platz der Jugend« – den dortigen Lichtmast bezeichneten die zumeist fünfzehn Demonstranten intern als »Freiheitssäule«. 705 Der Platz der Jugend, an dem sich zugleich die Stadtverwaltung befand, galt als stark frequentierter Ort: Ihn musste auch der Durchgangsverkehr zur Insel Usedom passieren. Wenn die hochgeklappte »Brücke der Freundschaft« den Schiffsverkehr auf der Peene durchließ, stauten sich im Sommer die Fahrzeuge bis hoch zu ihm. Um, wie es 701 MfS, BV Rostock, Information Nr. 99/88 über Aktivitäten politisch negativer und feindlicher Personen in Stralsund, Greifswald und Wolgast, Rostock, 29.8.1988: BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 108, T. 1, Bl. 42–49, hier 44. 702 Zum Mobilen Friedensseminar in Penzlin, das nach einer Woche am 6. August 1988 endete: Band, Ulli: Entfaltung eines gesunden und schöpferischen Lebens. 7. Mobiles Friedensseminar in Mecklenburg. In: MKZ, 43. Jg., Nr. 34, 21.8.1988, S. 1. 703 MfS, BV Rostock, Information Nr. 99/88 über Aktivitäten politisch negativer und feindlicher Personen in Stralsund, Greifswald und Wolgast, Rostock, 29.8.1988: BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 108, T. 1, Bl. 42–49, hier 44. 704 MfS, BV Rostock, Information Nr. 99/88 über Aktivitäten politisch negativer und feindlicher Personen in Stralsund, Greifswald und Wolgast, Rostock, 29.8.1988: BStU, MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Nr. 108, T. 1, Bl. 42–49, hier 44 und 46. 705 Ebenda.

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das MfS mutmaßte, die Mitarbeiter der Abteilung Inneres noch weiter »zu provozieren«, verabredete die Ausreiser, im September 1988 zu ihren »Sit-inAktionen« Taschen und Koffer mitzubringen. 706 Auch in Rostock kam es zu Protesten: Als Ort für ihre Treffen diente den Antragstellern hier der »Brunnen der Lebensfreude« am Universitätsplatz. Dementsprechend verlieh die Kreisdienststelle Rostock im März 1988 dem Operativvorgang den Namen »Brunnen«. 707 Zur ersten »Schweigedemonstration« mit dreizehn Teilnehmern kam es am 3. März 1988. 708 Zu der Gruppe zählte auch Elke Schmitz. Sie hatte ihre Ausbildung zur Kindergärtnerin abgebrochen, weil sie die durch den Lehrplan vorgegebene ideologische und militärische Indoktrination nicht mehr ertrug. 709 Unter den Demonstranten befanden sich mehrere Hilfspfleger des kirchlichen Michaelshofes, zudem ein Ingenieur, ein Telegrammbote und ein Kellner. 710 Zwar verfolgten alle zunächst ein individuelles Ziel: Das der möglichst schnellen Ausreise in die Bundesrepublik. Am 2. März 1988 sandten sie zeitgleich und mit gleich lautendem Text ein »Bekräftigungsschreiben« an die Abteilung Inneres. Die Begründung, mit der sie »die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR« einforderten, bewies, dass sich ebenso mit den Zielen der oppositionellen Szene der kirchlichen Gruppen identifizieren. In ihren Ausreiseersuchen sprachen sie sich gegen das vom »Staat getroffene Feindbild« aus. Sie wandten sich zugleich gegen »die ständige Militarisierung des Schul- und Vorschulunterrichtes« und die Erziehung ihrer Kinder »zu einer ›sozialistischen Persönlichkeit‹« sowie grundsätzlich gegen »jede Form der [...] Diktatur«. 711 Ebenso lehnten die männlichen Antragsteller den Wehrdienst, sowohl in seiner gewöhnlichen als auch seiner kaschierten Form in den Bausoldateneinheiten der NVA, ab. In der Summe handelte es sich allesamt um politische Aussagen, die den Bruch mit dem SED-System unmissverständlich und unumkehrbar offenlegten. Dementsprechend fielen auch die Losungen auf der spektakulärsten Aktion der Rostocker Gruppe aus. Am 8. März 1988 beteiligten sich Elke Schmitz und ein weiteres Mitglied mit eigenen Transparenten an der »Friedenskundgebung zum Internationalen Frauentag« auf dem Rostocker Universitätsplatz. 712 Als Vorbild

706 Ebenda, Bl. 48 f. 707 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat IV, Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Brunnen«, Rostock, 19.3.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2774/90, Bd. I, Bl. 11–20. 708 Ebenda, Bl. 16. 709 Praschl, Gerald: Roland Jahn. Ein Rebell als Behördenchef. Berlin 2011, S. 152–155. 710 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat IV, Zwischenbericht zum Operativvorgang »Brunnen«, Rostock, 26.7.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2774/90, Bd. I, Bl. 68–74, hier 68. 711 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat IV, Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Brunnen«, Rostock, 19.3.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2774/90, Bd. I, Bl. 11–20, hier 13. 712 Ebenda, Bl. 15, sowie MfS, BV Rostock, an das MfS, Zentralen Operativstab, Information Nr.: 387/88, betr.: Provokatorisch-demonstrative Handlung von 2 Übersiedlungsersuchenden bei der

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dienten die Berliner Ereignisse vom Januar 1988 am Rand der LuxemburgLiebknecht-Kundgebung. Mehrere Antragsteller hatten sich hier am 17. Januar an einer Gegendemonstration mit eigenen Losungen beteiligt. Aufgerufen hatte hierzu – unterstützt von Wolfgang und Regina Templin – die oppositionelle Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht. Nach der Festnahme wurden sie, wie die ebenfalls inhaftierten Regimekritiker Stephan Krawczyk, Freya Klier und Ralf Hirsch, in den Westen abgeschoben. 713 Auch die Rostock Gegendemonstranten hofften, dass sie, trotz der einkalkulierten Inhaftierung, so schneller in den Westen gelangen würden. 714 Während die offiziell einbestellten Kundgebungsteilnehmer am 8. März dem gewohnten Ritual beiwohnten, kam es zum Eklat. Kurz nach vierzehn Uhr sorgten zwei nichtgenehmigte Losungen unverhofft für Aufsehen. Elke Schmitz hielt ein Plakat mit der Aufschrift, »Frauenrecht in der DDR? Ich fordere für mich und meine Familie die umgehende Ausreise«, in die Höhe; auf dem Schild ihres Mitstreiters stand: »Ich will in die BRD und nicht zur NVA.« 715 Bereits nach wenigen Sekunden schritten die »gesellschaftliche Kräfte« ein. Zivilisten zerrten an ihren Plakaten. Schließlich versuchte Elke Schmitz ohne ihr Transparent zu fliehen. Sie kam jedoch nicht weit. Sie und ihr Mitstreiter wurden von Staatssicherheitsmitarbeitern festgenommen und abgeführt. Dass, was sich im Folgenden ereignete, ließ sich in keiner der Akten nachlesen. Es gewährt jenseits der emotionsentleerten technokratischen Sprache der Staatssicherheit einen Einblick in die Niederungen des DDR-Alltages: Keiner der Umstehenden solidarisierte sich mit den Gegendemonstranten oder versuchte ihnen beizustehen. Elke Schmitz berichtet hingegen, dass sie von Übereifrigen aus dem SED-Gefolge angespuckt wurde; jemand schrie, »so was wie dich, sollte man ins Arbeitslager stecken«. 716 Die Ausreisegruppe hielt auch nach der Inhaftierung an den »Schweigedemonstrationen« fest. Angesichts der polizeilichen Vorladungen und Belehrungen beschloss man jedoch, vorsichtiger vorzugehen. Auch wenn Einzelne aus Angst vor drohenden Repressalien fortblieben, fanden sich in den folgenden Wochen genügend Teilnehmer. 717 Die »Schweigedemonstrationen« fanden Friedenskundgebung anläßlich des Internationalen Frauentages in Rostock, BStU, ZOS, Nr. 1926, Bl. 104. 713 Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 262–265. 714 Praschl, Gerald: Roland Jahn. Ein Rebell als Behördenchef. Berlin 2011, S. 152–155. 715 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat IV, Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Brunnen«, Rostock, 19.3.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2774/90, Bd. I, Bl. 11–20, hier 15; MfS, BV Rostock, an das MfS, Zentralen Operativstab, Information Nr.: 387/88, betr.: Provokatorischdemonstrative Handlung von 2 Übersiedlungsersuchenden bei der Friedenskundgebung anläßlich des Internationalen Frauentages in Rostock, BStU, ZOS, Nr. 1926, Bl. 104. 716 Praschl, Gerald: Roland Jahn. Ein Rebell als Behördenchef. Berlin 2011, S. 152–155. 717 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat IV, Zwischenbericht zum Operativvorgang »Brunnen«, Rostock, 6.5.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2774/90, Bd. I, Bl. 32–39, hier 34–36.

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nun jeweils nach dem Gottesdienst in der Marienkirche statt, der zugleich als »Treffort« diente. Geschlossen zog man zum nahen Ernst-Thälmann-Platz [heute: Neuen Markt] und harrte vor der »Arktisbar« im Kreis aus. Am 13. März 1988 trafen sich hier laut MfS-Observationsprotokoll vierzehn, am 20. März dreizehn, am 27. März siebzehn und am 3. April zwölf Antragsteller. Erneute Belehrungen und der bevorstehende Prozess führten zunächst zu einem Aussetzen der »Schweigedemonstrationen«. 718 Am 19. Mai 1988 eröffnete das Kreisgericht Rostock die Hauptverhandlung gegen Elke Schmitz und ihren Mitstreiter. Parallel trafen sich mehrere Ausreiser sowie deren Angehörige und Bekannte zu einem Fürbittegottesdienst in der Petrikirche. So wollte man seine Solidarität mit den Angeklagten bezeugen. Unter ihnen befand sich auch die Schwester der Angeklagten, die aus Berlin, wo sie sich in der »Kirche von Unten« engagierte, angereist war. Am folgenden Tag erging das Urteil der Ersten Strafkammer: Auf der Grundlage des Paragraphen 214 des DDRStrafgesetzbuches – dem Vorwurf der »Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit« – plädierte das Gremium bei Elke Schmitz auf einen Freiheitsentzug von achtzehn Monaten. Im Fall ihres Mitstreiters lautete der Spruch fünfzehn Monate Gefängnis. 719 Zur Urteilverkündung waren noch mal elf Antragsteller im Gericht erschienen. Hiermit, so analysierte es das MfS zutreffend, »demonstrierten sie [...] Einheit und Geschlossenheit, und daß sie fest hinter den Verurteilten stehen«. Zugleich kam es zu einem weiteren Vorfall: Während der Richter das Urteil verlas, rief einer der Anwesenden (laut MfS konnte die »Person [...] nicht identifiziert werden«) laut im Saal das Wort »Scheiße«.720 Und auch vor dem Gerichtsgebäude »brannte die Luft«: Ein vom MfS mitgehörtes Telefonat erbrachte die Schilderung eines Augenzeugen, der die Situation eindrucksvoll schilderte: »Und dann haben wir uns mit der ganzen Meute«, berichtete hier ein Gruppenmitglied, »[...] hingestellt und haben gebrüllt, als das Auto rausfuhr, ›Scheiß drauf, Scheiß drauf‹, alle im Chor, und Elke hat noch einmal [von innen] gegen den Wagen gebullert.« 721 Elke Schmitz saß ihre achtzehn Monate im Gefängnis Hohenleuben in Thüringen »bis zum letzten Tag ab«; erst im September 1989 erfolgte die Entlassung über Karl-Marx-Stadt in die Bundesrepublik.722 Zwar meinte das MfS, dass die Gruppe nun »aufgelöst« sei.723 Doch währte die Ruhe nicht lange. Am 1. Juni 1988 und nachfolgend am 8. und 15. Juni versammelten sich abermals mehrere 718 Ebenda, Bl. 34–38. 719 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat IV, Zwischenbericht zum Operativvorgang »Brunnen«, Rostock, 26.6.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2774/90, Bd. I, Bl. 68–107, hier 69. 720 Ebenda. 721 Ebenda, Bl. 71. 722 Praschl, Gerald: Roland Jahn. Ein Rebell als Behördenchef. Berlin 2011, S. 155. 723 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat IV, Abschlussbericht zum Operativvorgang »Brunnen«, Rostock, 17.11.1989: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2774/90, Bd. I, Bl. 139 f.

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Antragsteller am »Brunnen der Lebensfreude« auf dem Universitätsplatz zu einer »Schweigedemonstration«. 724 Inzwischen hatte sich die soziale Zusammensetzung der sich hier Versammelnden verändert. Von den dreizehn Teilnehmern stammten vier aus ingenieurtechnischen Berufen. Vier zählten zum Personal im medizinischen Sektor und arbeitete im Universitätsklinikum oder im Bezirkskrankenhaus in der Südstadt. 725 Auch in den folgenden Monaten beruhigte sich die Situation nicht mehr. Ab März 1989 traf sich in der Marienkirche unter dem Namen »Katharsis« eine »Ausreise-Selbsthilfegruppe«. Pfarrerin Inge Laudin Schutz bot den Ausreisern die kirchlichen Räumen für ihre Treffen an. 726 Das MfS ermittelte höchst geheimdienstlich den Namen und brachte in Erfahrung, dass er »der lateinischen Bedeutung der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung entlehnt« sei. Als Codename für den neu zu eröffnenden Operativvorgang wählte man in der August-Bebel-Straße die Bezeichnung »Karthago«, was an der fehlerhaften Schreibweise »Karthasis« gelegen haben mag. 727 Um den Kreis zu schwächen, erteilte das MfS aus »politisch-operativen Gründen« nun vermehrt Ausreisegenehmigungen. Zu den Treffen kamen jedoch kontinuierlich an die dreißig Antragsteller. 728 Immer wieder stießen neue Mitglieder dazu. Das Kalkül, dass sich hiermit verband, schien beiden Seiten hinlänglich bekannt: Den sich organisierenden Antragstellern gehe es darum, stellte das MfS nüchtern fest, »für die staatlichen und Sicherheitsorgane [als] unbequeme Personen zu gelten«, um somit »die Chance [zur] [...] Genehmigung der [...] Ausreise vergrößern zu können«. 729 Dies entsprach nur zum Teil der Wahrheit: In dem Kreis fanden sich Antragsteller, die seit Jahren wegen ihrer politisch unangepassten Position aufgefallen, belehrt oder auch deshalb diszipliniert worden waren. So ein im Operativvorgang »Splitter« erfasster technischer Mitarbeiter der Universität Rostock. Seit 1986 hatte man ihn aufgrund seiner kritischen Äußerungen observiert und schikaniert. Nach einem »Hinweis« wurde er vor einem Treffen mit bundesdeutschen Bekannten in Prag am 15. Mai 1986 »vom Hauptbahnhof Rostock [aus] zugeführt und einer operativen Befragung unterzogen«. 730 Zwar erwies sich die Anschuldigung, dass er über die Tschechoslowakei in den Westen hatte fliehen wollen, 724 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Bericht zur politisch-operativen Lage und der Wirksamkeit der eingesetzten Kräfte und Mittel im Zusammenhang mit dem Kirchentag 1988 (KT), Rostock, 16.6.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AS, Nr. 416/88, Bd. II, Bl. 43–49, hier 43. 725 Ebenda. 726 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat VI, Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Karthago«, Rostock, 2.8.1989: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 2498/89, Bd. I, Bl. 3–10. 727 Ebenda, Bl. 3. 728 Ebenda, Bl. 3–10. 729 Ebenda, Bl. 8. 730 MfS, BV Rostock, Abt. XX/9, Zwischenbericht zum OV »Splitter«, Reg.-Nr. I/270/86, Rostock, 27.7.1987: BStU, MfS, AOPK 2498/89, Bd. III, Bl. 4–15, hier 7.

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als haltlos. Doch verfehlte die hiermit einhergehende Stigmatisierung ihre Wirkung nicht. Obwohl er bereits einmal der Leiter der Arbeitsgruppe Jazz (des Filmclubs) der Wilhelm-Pieck-Universität gewesen war, schloss man ihn 1987 unter einem nichtigen Vorwand aus. Hinter alldem stand die Hochschulleitung, die nicht nur monierte, dass die meisten Jazzbegeisterten »keine Studenten« seien. Zugleich hätte sich im Umfeld der AG Jazz eine als subversiv anzusehende Szene angesiedelt. Schon rein äußerlich gebe sich diese durch Kleidung und lange Haare als staatsfern zu erkennen. Bei seinem Ausschluss half ihm auch nicht sein Bekanntheitsgrad in der ostdeutschen Jazzszene. Wie es beim MfS hieß, verfügte er über wichtige »Kontakte und Verbindungen zu Jazzmusikern aus vielen Bezirken der DDR« und galt allgemein als Koryphäe. 731 Ein anderer Aktivist der »Selbsthilfegruppe Katharsis« geriet 1987 aus einem anderen Grund in das Visier des MfS. Als Zeichen seines Ausreisewunsches hatte er an seiner Autoantenne und an einem Wohnungsfenster ein schwarzes Bändchen befestigt. Zweimal lud man ihn deshalb »zu einer Aussprache zur Polizei« und drohte ihm eine Geldstrafe von 300 Mark an. Seitens des MfS erfasste man ihn fortan im Vorgang »Besuch«. 732 Die Gruppe »Katharsis« beschränkte sich in ihrem Engagement nicht auf den kirchlichen »Schutzraum«. Mitglieder der Gruppe beteiligten sich laut Erkenntnis des MfS »an den wöchentlich stattfindenden Zusammenkünften von Rostocker Antragstellern«. Ab Ende 1988 fanden jene wieder am »Brunnen der Lebensfreude«, jeweils donnerstags in der Zeit von 17.30 bis 18.00 Uhr, statt. Auch wirkte die Gruppe »Katharsis« am 16. Treffen des »Arbeitskreises Medizinischtheologische Konfliktseelsorge« am 22. Juli 1987 in der Kirchengemeinde Rostock Toitenwinkel mit. 733 Als Arbeitskreis, der sich maßgeblich aus Angehörigen der medizinischen Berufe zusammensetzte, zeigte er in den verschiedensten DDR-Bezirken Präsenz. Die Gruppe »Katharsis« stand ferner in Kontakt zur oppositionellen »Koordinierungsgruppe Wahlen« in Berlin, beteiligte sich an der von den unabhängigen Gruppen organisierten Auszählung des Wahlergebnisses im Mai 1989 und verteilte die Samisdatschrift »Wahlfall '89« in Rostock. 734 Mit, wie es das MfS festhielt, »Beschwerden und Eingaben zur ›Nichteinhaltung/Verletzung‹ des demokratischen Wahlablaufes und [gegen die] ›Verfälschung[en]‹ [...] [bei den] veröffentlichten Wahlergebnissen

731 Ebenda, Bl. 5 und 8. 732 MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Referat 1, Zwischenbericht zum OAM »Besuch«, Rostock: BStU, MfS, AOPK 2498/89, Bd. I, Bl. 246–249, hier 247. 733 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat VI, Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Karthago«, Rostock, 2.8.1989: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 2498/89, Bd. I, Bl. 3–10, hier 4. 734 Ebenda, Bl. 5.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

(Kommunalwahl 1989)« lenkte die Gruppe die Aufmerksamkeit auf sich und betätigte sie sich zugleich im oppositionellen Sinne. 735

3.5

Fazit – eine erste Zwischenbetrachtung

Die Grenzen zwischen dem, was an politisch abweichendem Verhalten unter Nonkonformität, Verweigerung, Widerspruch und Widerstand jeweils subsumiert werden kann, waren häufig fließend. Die Dynamik der Ereignisse führte zudem häufig von einer Tat des Aufbegehrens zur nächst höheren Eskalationsstufe in der Auseinandersetzung mit dem Staat, der Partei und den nachgeordneten Instanzen. Dies gilt auch für die Begriffe Widerstand und Opposition: Widerstand und oppositionelles Handeln ließen sich häufig kaum voneinander abgrenzen. Tendenziell dem Oppositionsbegriff zuzuordnende Formen des politisch abweichenden Verhaltens und Handlungen des Widerstandes kamen in einem Kontext zum Tragen. Nicht selten griff man auf beide Formen situationsabhängig zurück. Was gerade noch als zulässig oder schon gesetzwidrig galt, definierte sowieso der Staat. Auch der Staat zeigte sich bei der Unterdrückung des politisch abweichenden Verhaltens »lernfähig«. Vordem noch zulässige Betätigungen, sollten, wenn sie unverhofft der Äußerung von Protest dienten, mit Sanktionen belegen werden. Zugleich bemühte man sich, die Kritiker und ihr Handeln zu kriminalisieren. So ließ sich auch schwer sagen, was in der DDR noch legal und was an sich verboten sein mochte. Hinter all dem stand eine vorbeugende Strategie: Wer seinen Protest äußern wollte, wusste, dass dies, in welcher Form auch immer, nicht erwünscht ist. Auch wenn er sich dabei legaler Mittel bedingte, musste er davon ausgehen, dass ihn die Strafe des Staates ereilte. Formen der subtilen und zugleich wirksamen Abstrafung gab es in einer Gesellschaft der vom Staat zugeteilten Ressourcen genügend: Sie reichten vom Ausschluss von beruflichen Aufstiegschancen, der Verweigerung einer akademischen Ausbildung, bis hin, so Oberleutnant Winfried Peltz aus Bad Doberan in seiner Diplomarbeit, »der Einschränkung der Reisemöglichkeiten für Anführer und Organisatoren in das sozialistische Ausland durch Erteilung einer PM 12«. 736

735 Ebenda. 736 PM 12 = »Ausweiskarte einer aus dem paß- und visafreien Reiseverkehr ausgeschlossenen Person.« MfS, Juristische Hochschule, 18. HSFL Lehrgang, Diplomarbeit, Thema: Die Entwicklung von Voraussetzungen für eine operativ nutzbare Methodik zur Analyse operativ interessierender sozialer Beziehungen zwischen feindlich negativen Jugendlichen und Jungerwachsenen in Gruppierungen/Gruppen, die in operativen Materialien, insbesondere OPK und OV bearbeitet werden, Autor: Oltn. Winfried Peltz, BV Rostock, KD Bad Doberan, Abschluß der Arbeit: 3.11.1982: BStU, MfS, JHS-Nr. 289/82, Bl. 43.

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3 Formen des Widerspruchs und des Widerstands

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»Abgelehnte Reiseantra(e)ge bzw. Entzug solcher Genehmigungen, zeitweiliger Ausschlus(z) vom Pas(z)- und visafreien Reiseverkehr nach allen Staaten« lautet so auch einer der Einträge in der Personen-Auskunfts-Kartei der Volkspolizei, bei zwei Jugendlichen, die dem MfS und der SED als besonders renitent galten. 737 Was als »legalistisch« hätte gelten können, befand sich im fortwährenden Zustand der Veränderung. Zwar entstand der Eindruck, dass die strafrechtlichen Sanktionen in den achtziger Jahren ihr Drohpotenzial einbüßten. Obwohl die Gruppen gegen bestehende Gesetze verstießen, kamen die entsprechenden Sanktionen häufig nicht zur Anwendung. Eine Garantie, dass dies nicht doch geschah, gab es für die, die den Handlungsspielraum ausreizten, hingegen nicht. Doch selbst für die achtziger Jahre lassen sich verschiedene Phasen nachweisen. Der Begriff der Opposition umfasste dreierlei: Erstens den Entschluss, sich mit anderen zusammenzufinden, um sich mit dem System kritisch auseinander zu setzen. Zweitens die Bereitschaft, trotz drohender Sanktionen mit Namen und Anschrift öffentlich dem Staat und seinen Instanzen entgegentreten zu wollen. Dem Streben nach einer wie auch immer gearteten Gegenöffentlichkeit kam dabei eine entscheidende Funktion zu: Bei seinen Besuchen im Nachbarland Polen habe er gelernt, so der Mitbegründer der Oppositionsgruppe Neues Forum, Jens Reich, dass »politisch nicht konspirativ im privaten Schneckenhaus, sondern nur offen mit Namens- und Adressenangaben agiert werden muss«. 738 Als drittes stand das Bewusstsein um die staatliche Reaktion. Es hieß, dafür Sorge zu tragen, dass die inhaltliche Arbeit nicht gänzlich ohne Resultat blieb. Die entsprechenden Vorsorgehandlungen konnten von der konzeptuellen Niederschrift, der Dokumentation der eigenen Aktionen, dem Werben für die Inhalte, über eine Auseinandersetzung mit der nicht mehr auszuschließenden Vernehmungssituation und Haft reichen. Unterrichtet werden konnten Freunde, Sympathisanten, kirchliche Stellen sowie westliche Einrichtungen und Medien. Teile der Kirche setzten sich frühzeitig über die Behinderungen und Verbote im Veranstaltungs- und Presserecht hinweg. Entscheidend war dabei eine Erkenntnis, die das weitere Handeln bestimmte. Wie der Berliner Bischof Dibelius in seiner Denkschrift »Obrigkeit?« 1959 schrieb, handelte es sich beim SED-Staat nicht mehr um eine Obrigkeit im überkommenen Sinne. 739

737 Deutsche Volkspolizei, PAD-KK: MO 25300, R, 011086, laufende Nr.: 014 und 025: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 1708, Bl. 31, 40. Schreibweise wie im Telex-Original. 738 Zit. nach: Zariczny, Piotr: Oppositionelle Intellektuelle in der DDR und in der Volksrepublik Polen. Ihre gegenseitige Rezeption und Kontakte. Toruń 2004, S. 135. 739 Halbrock, Christian: Untertan einer solchen Obrigkeit? Bischof Dibelius und der SED-Staat. In: HuG 19 (2010) 2, Nr. 68, S. 66–69.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Jene dürfe demnach nicht mehr für sich Gefolgschaft beanspruchen. Sie sei eine Form der Herrschaft, die sich selbst ins Unrecht setze. 740 Die »sozialethisch orientierten Gruppen bzw. Initiativen« und die »Bürgerbewegung des Jahres 1989« 741 bezogen sich zumeist auf andere Vorbilder und Leitfiguren. Der Widerstandsethos der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung spielte dabei in der Frühphase eine nicht unwesentliche Rolle. Hinzu kamen Anleihen aus anderen Ostblockstaaten, so von den Dissidenten in der Tschechoslowakei, Polen und der Sowjetunion. Auch hierhinter ließ sich eine ähnliche Denk- und Legitimationsfigur ausmachen: Der Staat, in dem man lebte, strebte, wie es Hegel einst verlangte, keineswegs danach, für seine Bürger unabhängig ihrer Stellung, ihres Ansehens und ihrer politischen und Glaubensüberzeugung »die Wirklichkeit der sittlichen Idee« 742 zu sein. Indem er dem Anspruch nicht genügte, weil er »Wahrheit« und Gesetz nach politischen Opportunitätsgründen fortwährend neu interpretierte, wurde er zur Gegenthese des legitimen Staates an sich: Zu einem Staat, der zur Beute einer Einheitspartei und ihrer Geheimpolizei geworden war und kaum noch ein Staat im legitimen Sinne sein konnte. Er wurde zum Unrechtsstaat. Das Ringen der oppositionellen Gruppen richtete sich nicht zuletzt darauf, auf das bestehende Legitimitätsdefizit zu verweisen. Die eigene Daseinsberechtigung leitete sie demgegenüber davon ab, dass sie sich ihrerseits jenen Themen zuwandten, die das Manko ihres Gegenübers offenlegten. Der Missstand schien den meisten DDR-Bewohnern nicht unbekannt. Doch musste dies nicht zum Bruch mit dem System führen. Der Großteil der Bevölkerung schwieg, passte sich an oder äußerte seine Kritik nur im privaten und familiären Kreis. 743 Daneben gab es jene sich als kritisch verstehenden Intellektuellen, die im öffentlichen Diskurs die Absetzbewegung zum System vollzogen und dies mitunter auch kultivieren. »In Gesprächen mit Günter Kunert«, räumte die freischaffende Malerin Rose Schulze in einem Interview 2009 ein, »hatten wir gelernt, eine verschlüsselte Sprache zu sprechen [...] Wir agierten zwar in einer Nische, waren aber trotzdem präsent. Wir lernten«, so die Malerin weiter, »subtil zu provozieren«. 744 Dass es dies gab, war hinlänglich 740 Ebenda. 741 Begriffe nach: Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 346). 2. Aufl., Bonn 2000, S. 29. 742 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. In: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 7. Nachdruck Stuttgart 1952, S. 241. 743 Vgl. hierzu: Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 175–178. 744 »›Wir lernten, subtil zu provozieren‹. Wie die Zepernicker Künstlerin Rose Schulze die Wende erlebte. Ein Interview von Thomas Steierhoffer«. In: Panke-Spiegel. Unabhängige Zeitschrift für kommunales und Kultur 2 (2009) 2, S. 20–23, hier 22. Nach Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel (ebenda), schaffen es auch »geschlossene Gesellschaften nicht, die jeweils zu Normen erhobenen

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3 Formen des Widerspruchs und des Widerstands

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bekannt. Doch reichte dies den sich politisch in Gegnerschaft zum SED-Staat positionierenden Gruppen nicht mehr. Sie drängten mit ihren Aktionen soweit in die Öffentlichkeit, wie es ihrer Ansicht nach vertretbar schien, ohne sich gänzlich gefährden zu wollen. Einige von ihnen gingen über diese Grenze hinaus. Auch wenn die Sprache der Gruppen häufig kompromisshaft-verklausuliert blieb, so verstanden sie ihre Kritik doch als Provokation und sie strebten nach politischer Eindeutigkeit. Dementsprechend erfüllten sie mit ihrem Handeln eine Reihe von Straftatbeständen des DDR-Strafgesetzbuches. Sie bildeten die Grundlage, auf der die für politische Delikte zuständige MfS-Abteilung XX der Bezirksverwaltung Rostock und die entsprechenden Kreisdienststellen verdeckt ermittelten. Mitunter kam es, wie im Fall des Operativ-Vorganges »Michael« 745 in Rostock-Gehlsdorf, zu Vernehmungen, Festnahmen und zur Verurteilung. Die Ermittlungen basierten hier auf dem Vorwurf der »Staatsfeindlichen Hetze« (§ 106) und der »Öffentlichen Herabwürdigung« (§ 220). 746 Ebenfalls wegen »Öffentlicher Herabwürdigung« (§ 220) und zudem aufgrund des Verdachts der »Staatsfeindlichen Hetze« (§ 106), der Bildung eines »verfassungsfeindlichen Zusammenschlusses« (§ 107) und wegen der »Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit« nach § 214 des DDR-Strafgesetzbuches ermittelte man gegen die Mitglieder des Ökumenischen Zentrums Umwelt in Wismar. 747 »Staatsfeindliche Hetze« (§ 106) lautete abermals der Vorwurf beim OV »Tonsur« in Bad Doberan 748 sowie beim OV »Turm« in Stralsund. Ergänzt wurde die Ermittlungen gegen den Jacobiturmtreff und das »JG-Turmblatt« abermals um den Vorwurf des »verfassungsfeindlichen Zusammenschlusses« (§ 107). 749 Dem Kessiner Friedenskreises hielt man im OV »Kreis« vor, ein »Zusammenschluß zur Verfolgung gesetzwidriger Ziele« (§ 218) zu sein. 750 Der Staat war fortwährend bestrebt, Verhaltensweisen und Denkschablonen alternativlos zu etablieren.« Die DDR war demnach »keine ›Nischengesellschaft‹«. 745 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Übernahmeprotokoll, Rostock, 7.11.1977, BStU, MfS, BV Rostock, AU 2445/78, Bd. I, Bl. 17; MfS, BV Rostock, Übersichtsbogen (5 x) zur operativen Personenkontrolle, [Name]: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 292/79, Bd. I, Bl. 12–18. 746 Ebenda. 747 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Eröffnungsbericht zum Operativvorgang »Bote«, Wismar, 12.4.1988: BStU, MfS, AOP 1739/90, Bl. 4–18, hier 4; MfS, BV Rostock, KD Wismar, Sachstandsbericht zum OV »Berg«, Wismar, 9.3.1988: BStU, MfS, BV Rostock, KD Wismar, Nr. 9, Bl. 25–32, hier 31; MfS, BV Rostock, KD Wismar, Eröffnungsbericht zum Operativ-Vorganges »Küster«, Wismar, 10.7.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 6–12, hier 6. 748 MfS, BV Rostock, KD Bad Doberan, Operativplan zum OV »Tonsur«, Bad Doberan, 10.6.1981: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 54/87, Bd. I, Bl. 8–11. 749 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Zwischeneinschätzung zum OV »Turm«, Stralsund, 22.10.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2893/83, Bd. I, Bl. 109–113, hier 109. 750 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Übersichtsbogen zur operativen Personenkontrolle, Rostock, 23.3.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. I, Bl. 5.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

die Arbeit der Gruppen zu kriminalisieren und zu behindern. Hierzu bediente er sich seiner Gesetzes- und Interpretationsmacht und der vorhandenen und neuerlassener Regelwerke. Kaum möglich war es daher, sich in der Praxis »legalistisch« zu verhalten.

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4 Alltag – Interaktion, Motive, Herkunft, biographische Verläufe im Zusammenhang mit Nonkonformität, Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition

4.1

Alltag

Anders als es häufig im Rückblick auf die Zeit vor 1989 aus der heutigen Perspektive erscheint, rebellierte die Mehrheit der DDR-Bevölkerung keineswegs gegen das SED-Regime. Vielmehr dominierte die Anpassung. Die meisten versuchten, fern jedweder politischer Zustimmung im inneren, den politischen Vorgaben nach außen hin zu entsprechen. Ebenso gab es Menschen, die sich aus innerster Überzeugung mit dem Gesellschaftssystem identifizierten oder aus pragmatischen Gründen oder, weil sie ihre Karriere nicht gefährden wollten, das System mittrugen. Immerhin gehörte gut ein Fünftel der arbeitsfähigen Bevölkerung in den achtziger Jahren der SED an. 1 Menschen, die sich der SED entgegenstellten, mussten demgegenüber nicht nur mit Benachteiligungen und Repressionen rechnen. Nicht selten wandten sich andere von ihnen ab oder kritisierten sie. Die Gründe hierfür mochten vielschichtig sein. Selbst Menschen, die nicht viel vom System in der DDR hielten, stimmten mit ein, weil jedwedes Aufbegehren ihren aus der Einsicht in die Notwendigkeit geborenen Opportunismus konterkarierte. Zu berücksichtigen ist ebenso, dass die Menschen, die widersprachen und Widerstand leisteten oder in oppositionellen Gruppen mitwirkten, dies kaum als Vollzeitjob tun konnten. Sie waren weder, wie es die verklärende Geschichtsbetrachtung mitunter suggeriert, als Widerständler geboren worden, noch war dies ihr einziger Lebensinhalt. Im Alltag sahen sie sich wie alle anderen DDR-Bewohner auch mit den gewöhnlichen Herausforderungen konfrontiert, hatten sich an ihrem Arbeitsplatz zu behaupten, mussten sich um Angehörige, Kinder und Freunde kümmern und ihr Leben trotz Mangelversorgung erträglich gestalten. Hier im Alltag, am Arbeitsplatz, im Freundes- und Bekanntenkreis, in der Kirchengemeinde und im Wohnumfeld wurden sie, noch bevor der Staat sich der Sache annahm, auf ihr politisch abweichendes Verhalten angesprochen. Nicht allzu selten mussten sie sich rechtfertigen, warum sie 1 Ludz, Peter Christian; Ludz, Ursula: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED). In: DDR-Handbuch. Hg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. 3. Aufl., Köln 1985, S. 1160–1189, hier 1185.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

nicht bereit seien, sich unterzuordnen. Eher selten waren demgegenüber die ermutigenden Stimmen und die ihnen zuteilwerdende Solidarität. Nach Widerstand im Alltag und dem Alltag des Widerstandes zu fragen, heißt somit auch, danach zu fragen, wie es jenen erging, die Widerspruch einlegten, Widerstand leisteten oder sich darüber hinaus oppositionell betätigten. Was trieb sie in ihrem Handeln an, wo stießen sie an Grenzen? Welche Verunsicherungen gab es, wo kam es zur Distanzierung und Disziplinierung und wo erfuhren sie Solidarität? Im folgenden Abschnitt geht es somit nicht einfach nur um jene Faktoren wie Solidarität, Entsolidarisierung, Zusammenarbeit, Abgrenzung usw. im Zusammenhang mit Widerspruch, Widerstand und Opposition. Alltag umfasst weitaus mehr und ist als komplexer Handlungsrahmen zu sehen. Auch wenn die Überlieferung der Staatssicherheit zu dem, was sich hier abspielte, nur bedingt Auskunft zu geben vermag, so soll trotzdem versucht werden, etwas aus ihr über den Alltag zu erfahren. Wie lässt sich der Alltag, in dem die, die Widersprachen, lebten, umschreiben? Taten sie doch das, was als nicht »normal« gelten konnte, indem sie sich der »Alltäglichkeit« der Diktatur entgegenstellten. Häufig riss die Widerstandshandlung den Betreffenden aus dem bisherigen Alltag heraus und zwang ihn, sein Leben unter veränderten Voraussetzungen fortzusetzen. So gab es einen Alltag unter verschärften Bedingungen. Dazu mochte die offenkundige Observation durch das MfS, die offensichtlich auf dem Transport geöffnete und nur an bestimmten Tagen zugestellte Post oder abgehörte Telefonate zählen. Hinzu kamen verschiedene Schikanen wie die Verweigerung von Auslandsreisen oder ein de facto bestehendes, aber zumeist nicht ausgesprochenes Berufsverbot. Verhöre, Vorladungen, Freiheitsentzug und Zwangsarbeit in einem der DDR-Gefängnisse konnten hierauf folgen. Wer sich dem System verweigerte und widersprach, hatten mit Eingriffen und Behinderungen der verschiedensten Art zu rechnen. Aber die Menschen in ihrer Umgebung taten das ihrige, um sie weiter zu stigmatisieren. Wie lässt sich Alltag begrifflich vor diesem Hintergrund bezogen auf die Verhältnisse in der Diktatur definieren? Eingebürgert haben sich in der Alltagssoziologie zur Umschreibung des Alltags im Allgemeinen die Begriffe Alltagswelt und alltägliche Lebenswelt. Im Mittelpunkt steht bei beiden Begriffen jene Wirklichkeit, mit der sich die in ihr lebenden und interagierenden Menschen angesichts der politischen und gesellschaftlichen Drucksituationen auseinanderzusetzen hatten. Unter dem Postulat des Normalen mochte sie ihnen vertraut und selbstverständlich vorkommen. Nach den Ausführungen von Karl-Heinz Hillmann handelt es sich um jene Welt, die der »wache und normale Erwachsene [...] als gegeben vorfindet«. Dies schließt, so Hillmann, auch die banal anmutenden Erscheinungen des alltäglichen Zusammenlebens und der Alltagskultur mit ein. So die Traditionen, Sitten und Bräuche, Begrüßungs- und Umgangsformen, alltägli-

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4 Alltag – Interaktion, Motive, Herkunft

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chen »Rollenspiele« und Rituale, Gewohnheiten und Routine, Arbeit und Konsum, Freizeit und Familienleben, kulturelle Selbstverständlichkeiten, Alltagswissen und -bewusstsein u. a.m. Der von Alfred Schütz aus der Philosophie in die Soziologie und von hier aus in die Geschichtswissenschaften eingeführte Alltagsbegriff gilt als umstritten. Kritisch wird angeführt, dass er nur in der Kombination mit anderen Begriffen als Alltagsbewusstsein, Alltagsleben, Alltagstheorie oder Alltagswissen Sinn ergebe. Trotzdem hat Alltag als begriffliche Bezugsgröße in der phänomenologischen Soziologie einen festen Platz gefunden. Alltag zählt zu jenen Begriffen, mit Hilfe deren sich die phänomenologische Soziologie von der struktur-funktionalischen Soziologie abzusetzen sucht. Weiterhin ist der Alltagsbegriff mit dem von Edmund Husserl geprägten Begriff der Lebenswelt verbunden, die laut Husserl als eine praktisch-subjektive Deutung von selbsterfahrener Welt zu verstehen sei. 2 Die soziologische Forschung wandte sich ab den siebziger Jahren verstärkt von der Grundsatzdiskussion der Begriffsfindung ab, hin zur Erforschung einzelner Alltagsphänomene: So etablierten sich in Anlehnung an die phänomenologische Soziologie der Symbolische Interaktionismus (Herbert Blumer), die Ethnomethodologie (Harald Garfinkel/Aaron Cicourel) und das Theorieprogramm der Interaktionsordnung (Erving Goffman). 3 Seitdem sind verschiedene Ansätze, den Alltagsbegriff zu verorten, auszumachen, wobei sich ein Trend abzeichnet, der den Begriff des Alltagswissens in Ergänzung und Konkurrenz zum Begriff Alltag setzt. Die Forschung hat sich angesichts der Veränderung der Milieus und Lebenslagen ebenso der Heterogenisierung der Lebensstile zugewandt. Ziel war es, »die Eigenständigkeit der Formen des normalen Lebens und Denkens jedermanns aufzudecken und auf ihre Wurzeln zurückzuführen«. 4 Pierre Bourdieu lenkte mit seinem kultursoziologischen Konzept den Blick auf die vielfältigen Abstufungen im Spektrum des Alltagslebens: Mit den von ihm gesellschaftskritisch angelegten Begriffen des Habitus, des feinen Unterschieds und des durchherrschten Milieus verwies er sowohl auf den individuellen Lebensstil als auch auf die kollektive Schicht- und Klassenzugehörigkeit des Einzelnen. 5 Eine Einordnung des DDR-Alltages in die bestehenden Begriffssystems sei, so Rainer Geißler 1992, nicht ohne eine Berücksichtigung der Modernisierungsdefizite und -widersprüche denkbar. Im Einzelnen führt Geißler als Defizite an: 1.) Die Leistungsschwäche der DDR und ein wachsender Rück2 Häussling, Roger; Klein, Hans Joachim: Alltag. In: Schäfers, Bernhard; Kopp, Johannes (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie. 9. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 18. 3 Vgl. hierzu ebenda. 4 Ebenda. 5 Bourdieu, Pierre: Der feine Unterschied. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 15. Aufl., Frankfurt/M. 2003.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

stand bei Lebensstandard und Konsumchancen, die das vermeintliche Mehr an sozialer Sicherheit in den Augen vieler nicht ausgleichen konnten. 2.) Die ungenügende funktionale Differenzierung der Gesellschaft und die unzureichende Autonomie in gesellschaftlichen Teilbereichen. Dem stand eine in vielen Belangen privilegierte Machtelite der oberen Zehntausend gegenüber. 3.) Die überzogene Nivellierung sozialer Ungleichheiten, die nicht nur im System der Lohnsteuerung, sondern auch in allgemeinen Versorgungsmängeln (und somit fehlenden konsumtiven Differenzierungsmöglichkeiten), in der Beschränkung der allgemeinen Freiheiten und der Steuerung von Lebenschancen ihren Ausdruck fand. 4.) Die Deformation des Dienstleistungssektors, die nicht ohne Auswirkungen auf die Gestaltung des normalen Alltags bleiben konnte. Diese Defizite schienen auch jenen Schichtarbeitern im Rostocker Seehafen evident, die laut MfS-Protokoll am 4. Dezember 1989 einen »Aufruf zum Warnstreik [...] an einer Wandtafel« anbrachten. 6 In ihm riefen sie zur Arbeitsniederlegung für den folgenden Tag auf. Ergänzt worden war der Aufruf durch eine Gegenüberstellung der Arbeitsbedingungen in Rostock im Vergleich zu den Häfen in Hamburg und Bremen. 7 Auf der Grundlage von »Zeugenaussagen« listeten die Autoren acht »Vorteile in Hamburg« auf und stellten sie sieben »Nachteilen im Rostocker Hafen« entgegen. »Dieser Vergleich«, so ihr schlichtes Fazit, mache »auf einen Blick deutlich, was ein Schichtarbeiter in der DDR wert ist. Gerade unter der Leitung der SED.« Die in Hamburg und Bremen zu erwartenden Vorteile, verbunden mit einer leistungsgerechten Entlohnung seien ein »Anreiz« und »eine Verlockung für jeden guten Hafenarbeiter«. Falls in der DDR nicht endlich was geschehe, so die Schichtarbeiter abschließen, würden »unsere besten Arbeiter [...] weiter in die BRD abwandern«. 8 Frühzeitig veränderte sich der Alltag in der DDR durch eine Reihe von Entwicklungen. Hierzu zählt Geißler die Bekämpfung und Flucht des Bildungsbürgertums und des Mittelstandes, das Vorgehen gegen wirtschaftlich unabhängige Bauern, aber auch »eine SED-loyale und daher weitgehend unkritische, sozial nivellierte und wenig innovative Intelligenz« an den Akademien und Hochschulen der DDR. 9 Neben den Einbußen an vertikaler Mobilität und der ideologieleistungsabhängigen Verteilung der Aufstiegs- und Bildungschancen ist auf den latenten 6 MfS, BV Rostock, Information Nr. 1774/89, Anbringen eines Aufrufes zum Warnstreik in der DDR an einer Wandtafel des Produktionsbereiches 3 im VEB Seehafen Rostock, Rostock, 4.12.1989: BStU, MfS, HA XXII, Nr. 16826, Bl. 222–224. 7 Ebenda, Bl. 223. 8 Ebenda. 9 Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands. Ein Studienbuch zur gesellschaftlichen Entwicklung im geteilten und vereinigten Deutschland. Bonn 1992, S. 308 f.

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4 Alltag – Interaktion, Motive, Herkunft

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Abwanderungsdruck durch Flucht und Ausreise zu verweisen. Der Drang zur Flucht und Ausreise wurde durch politische Anmaßungen des Regimes, die nicht zuletzt den Alltag der Betroffenen veränderten, verstärkt. Der Abwanderungsdruck resultierte zugleich aus dem Verlangen, aus dem DDR-Alltag auszubrechen, dessen politische, wirtschaftliche und kulturelle Defizite viele als unerträglich empfanden. Nicht jeder Ausreisende fühlte sich ausschließlich vom Wohlstand und der politischen Freiheit in der Bundesrepublik angezogen. Sie entschieden sich gegen ein Leben in einem Alltag, der aus einer bis zur Selbstverleugnung reichenden Erfüllung unumgänglicher politischer Anforderungen bestand und dieses mit dem Rückzug aus der Gesellschaft kombinierte. Aufgrund ihrer Einfachheit prägnant ist die von Erich Bayer und Frank Wende ins Feld geführte Umschreibung. Alltagsgeschichte beschäftige sich demnach »mit den alltäglichen Lebenswelten«. Jene umfassen »Verhaltensformen wie z. B. Wohnen, Essen und Trinken, Kleidung, Körperpflege (Hygiene, Sport etc.), gesellschaftliche Umgangsformen u.v.m.«. Sie werden beeinflusst »durch äußere Gegebenheiten« wie die Wirtschaftsform oder die politische Ordnung, »durch Komponenten der Mentalität (z. B. äußere und internalisierte Normen und Ideale: Gesetze, Sitte, Brauch, Glaubensvorstellungen« und unterliegen »teilweise dem regulierenden Eingreifen von Institutionen«. Zu berücksichtigen sei in diesem Zusammenhang laut Erich Bayer und Wende die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit: So können sich Alltagsabläufe nach der jeweiligen Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft grundlegend voneinander unterscheiden. 10 Babett Bauer orientiert sich in ihrer Arbeit zu »Kontrolle und Repression. Individuelle Erfahrungen in der DDR« 11 im Wesentlichen an dem von Alfred Schütz und Thomas Luckmann geprägten Lebenswelt-Begriff. Jener definiert Lebenswelt als den »Inbegriff einer Wirklichkeit, die erlebt, erfahren und erlitten wird. Sie ist aber auch eine Wirklichkeit, die im Tun bewältigt wird, und die Wirklichkeit, in welcher – und an welcher – unser Tun scheitert. Der Alltag ist jener Bereich der Wirklichkeit, in dem uns natürliche und gesellschaftliche Gegebenheiten als Bedingungen unseres Lebens unmittelbar begegnen, als Vorgegebenheiten, mit denen wir fertig zu werden versuchen müssen.« 12 10 Alltagsgeschichte. In: Bayer, Erich; Wende, Frank (Hg.): Wörterbuch zur Geschichte. Begriffe und Fachausdrücke. 5. Aufl., Stuttgart 1995, S. 18. 11 Bauer, Babett: Kontrolle und Repression. Individuelle Erfahrungen in der DDR (1971– 1989). Historische Studie und methodologischer Beitrag zur Oral History (Schriften des HannahArendt-Instituts für Totalitarismusforschung; 30), Göttingen 2006. Vgl. hierzu die Rezension von Ilko-Sascha Kowalczuk in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type =rezbuecher&id=8766&view v. 28.06.2007 (14.07.2014). 12 Schütz, Alfred; Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2, Frankfurt/M. 1984, S. 11.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Die Begriffsbestimmung hebt jene interaktiven Elemente hervor, die für die Einordnung des Handelnden in die von ihm vorgefundene Umwelt verantwortlich zeichnen. Doch waren »gesellschaftlichen Gegebenheiten« in der DDR trotz der Stagnation der späten Jahre keineswegs statisch. Der Einzelne fand sich nur bedingt in einem feststehenden Normengefüge wieder. Dem standen die sich abrupt von einem Tag auf den anderen verändernden Parteiund Ideologievorgaben entgegen. Sie begründeten stets eine neue »Normalität«, die mehr als einmal im Leben eines Erwachsenen zu neuen »Gegebenheiten« führen konnten. Der sowjetische Diktator Stalin galt über Nacht als kein Klassiker mehr. Die Losung der frühen »DDR« nach der kein Deutscher mehr eine Waffe in die Hand nehmen sollte, galt später nicht mehr. Wenige Jahre später erfolgten die verdeckte Aufstellung von bewaffneten Einheiten und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie dem der Wirtschaft änderten sich die von der SED ausgegebenen Prämissen und das, was als normal zu gelten hatte, mehrfach. Zwar änderten sich auch im Westen die Positionen: Im Unterschied zur DDR erfolgte der Paradigmenwechsel jedoch im Laufe eines öffentlich geführten Meinungsbildungsprozesses und die neue Position konnte und wurde, von denen, die dies nicht mittrugen, infrage gestellt. In der DDR gab es dies nicht. Entscheidend war vielmehr die Erfahrung, dass sich politische Normen ändern konnten und das Normale und Vorgegebene auf einmal nicht mehr, unter Umstände sogar das Gegenteil galt. Eine hiervon abweichende Meinungsäußerung wurde, auch wenn sie gestern noch richtig war, nun sanktioniert. Diese Erfahrung bestimmte das Verhalten vieler Ostdeutscher im Alltag. 4.1.1 Interaktion und Prozesshaftigkeit im Alltag Verweigerung, Unmutäußerungen, Protest und Widerstand blieben trotz der Konfrontation, folgt man Max Weber, so stets Lebensäußerungen des sozialen Handelns. 13 Wie jedes soziale Handeln allgemein bezogen sie sich auf Erfahrungen und das Verhalten, das vom Gegenüber zu erwarten war. Dies mochten im konkreten Fall der SED-Staat und seine Repressionsorgane sein, aber ebenso auch das persönliche Umfeld, die Arbeitskollegen oder die Bevölkerung allgemein. Jedem Handeln ging eine Interpretation der Handlungssituation

13 »Handeln soll ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. Soziales Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.« Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe. 6. Aufl., Tübingen 1984, S. 19.

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4 Alltag – Interaktion, Motive, Herkunft

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durch den Handelnden voraus. 14 So verwundert es kaum, dass jene Formen des Widerspruches und oppositionellen Aufbegehrens dominierten, bei denen Freiräume innerhalb des bestehenden Normengefüges ausgelotete wurden. Entscheidend waren hierfür pragmatische Erwägungen. Wer Schwächen in der Argumentation der SED ausnutzte, Schlupflöcher im Reglement des Systems für sich auszukundschaften wusste, auf Defizite bei der Umsetzung des offiziell Proklamierten verwies, nutzte für sich drei strategische Vorteile aus. Zum ersten konnte er meinen, dass er somit das Risiko der strafrechtlichen Verfolgung für sich und seine Mitstreiter minimierte. Zum zweiten richtete er seinen Protest auf ein bereits existentes Themenfeld aus: Er erreichte so möglicherweise eher Außenstehende als mit von ihm neu eingebrachten Themen, die, um erfolgreich sein zu können, erst einmal in einem Diskurs, der überdies nicht möglich war, hätten etabliert werden müssen. Er brachte, indem er die Herrschenden an ihre uneingelösten Versprechungen erinnerte, jene und ihre Gefolgsleute in Verlegenheit. Zum dritten mochte er nicht als »Phantast« erscheinen, der etwas forderte, was unter den gegebenen Umständen angesichts der Lebenswirklichkeit in der Diktatur kaum realistisch erschien. Er setzte sich damit auch nicht dem Verdacht aus, als bestellter Provokateur zu agieren. Als Beispiel für ein solch pragmatisches Vorgehen kann eine Äußerung vom 4. Dezember 1982 ausführt werden. Sie stammte vom Neubukower Propst, Tilmann Timm, im Kreis Bad Doberan. Timm kritisierte, »die Delikatessläden mit ihren Überpreisen sind ja auch ein Hohn auf den Sozialismus«. 15 An anderer Stelle äußerte er, dass »unsere Ideologie [...] ja nun sehr brüchig wird, wenn man hier Exquisitläden [...] eröffnet in einem Arbeiter- und BauernStaat«. 16 Zitiert wurde der Propst zudem von einem »Perspektivkaderkandidaten« des MfS mit den Worten, »daß der Marxismus-Leninismus lange nicht die humane Gesellschaft ist, wie immer vorgegeben wird.« Sozialismus und Kapitalismus seien, so der Pfarrer an den Parteizeitungs-Leser gerichtet weiter, »in ihrer Politik gleich, beide machen keine Abstriche in der Rüstung und setzen ihre Interessen unnachgiebig durch«. 17 Gegenüber einem Schulvertreter im Ort, dem GMS »Nielebock«, merkte Timm darüber hinaus vorsichtig an,

14 Messing, Manfred: Soziales Handeln. In: Endruweit, Günter; Trommsdorff, Gisela (Hg.): Wörterbuch der Soziologie. 2. Aufl., Stuttgart 2002, S. 211 f. 15 MfS, BV Rostock, KD Bad Doberan, Aktennotiz: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1441/85, Bd. I, Bl. 219. 16 MfS, BV Rostock, KD Bad Doberan, Eröffnungsbericht zum Anlegen des Operativvorganges »Kreuz«, Bad Doberan, 14.5.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1441/85, Bd. I, Bl. 332–346, hier 344. 17 Ebenda, Bl. 342.

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dass er es nicht für optimal halte, dass »in der Schule nur eine Ideologie, die WA [Weltanschauung] des Marxismus-Leninismus« vermittelt werde. 18 Tilmann Timm konnte trotz seiner Kritik an den Delikatess- und Exquisitläden keinesfalls als Verfechter egalitärer Gesellschaftsentwürfe angesehen werden. Im Dorf galt er als Anhänger pluralistischer Verhältnisse und Verfechter der freien Marktwirtschaft. Seine Äußerungen brachten jedoch sein Gegenüber in Verlegenheit. Wie Tilmann Timm tatsächlich über die Verhältnisse in der DDR dachte, wussten jene zu berichten, die im Auftrag der Abteilung Inneres des Rat des Kreises die sonntäglichen Predigten des Propstes belauschten. Eine dieser Predigtäußerungen gab dem MfS schließlich den Anlass, mittels des Operativ-Vorganges »Kreuz« verdeckt gegen den Pfarrer zu ermitteln. In seiner Predigt am 8. November 1981 – an jenem Sonntag begann die Friedensdekade der evangelischen Kirchen – führte Tilmann Timm vor den etwa fünfzig Gottesdienstteilnehmern aus: »Ich bin nicht für den Frieden, es heißt die Ostsee muß ein Meer des Friedens sein, dabei sind dort U-Boote mit Atombomben vollgepfropft. Wo man den Mund nicht aufmachen darf und nicht die Wahrheit sagen darf. Wo Stacheldraht produziert wird und Menschen, die zueinander wollen, getrennt werden. Für diesen Frieden bin ich nicht oder wir lesen täglich in der Zeitung, es wird vom Frieden geschrieben und meint das Gegenteil.« 19 Dass nicht jeder im Ort mit den Grenzmaßnahmen der DDRAdministration einverstanden war, musste dem Staatssicherheitsdienst schon zuvor klar geworden sein: Den Anlass bot die Beisetzung eines an den Sperranlagen tödlich verunglückten Grenzsoldaten, der in November 1983 in seinem Heimatort »auf dem Friedhof [...] mit allen militärischen Ehren« beigesetzt wurde. Während des Herablassens des Sarges stellte sich heraus, dass die »angefertigte Grube zu klein war«. 20 Die Beisetzungszeremonie »musste unterbrochen und die Grube vergrößert werden«. In der Konsequenz und um das Vorkommnis auszuwerten, »fand auf Anregung der Diensteinheit [der Grenztruppen] [...] beim Rat der Stadt Neubukow eine Aussprache statt«. Zwar ließ sich dem Friedhofswärter kein schuldhaftes Handeln nachweisen. Doch registrierte man mit Missmut, dass es »auch bei der Beerdigung« eines Kampf18 MfS, BV Rostock, KD Bad Doberan, Abschrift, Quelle: GMS »Nielebock«, Bericht über Aktivitäten der evangelischen Kirche in Neubukow, Neubukow, 9.12.1981: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1441/85, Bd. IV, Bl. 180–182. 19 MfS, BV Rostock, KD Bad Doberan, Abschrift, Quelle: IMB »Lebtag«, Bericht über den Gottesdienst am 8.11.1981 in Neubukow, Neubukow, 8.11.1981: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1441/85, Bd. VI, Bl. 122; MfS, BV Rostock, KD Bad Doberan, Eröffnungsbericht zum Anlegen des Operativvorganges »Kreuz«, Bad Doberan, 14.5.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1441/85, Bd. I, Bl. 332–346, hier 343. 20 MfS, BV Rostock, KD Bad Doberan, Bericht über ein Gespräch mit der Rentnerin [Name], [Vorname], wohnhaft [Adresse], Bad Doberan, 17.1.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1441/85, Bd. II, Bl. 158–160, hier 158.

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gruppenmitgliedes zuvor ein zu kleines Grabloch gegeben hatte. Auch hier musste die Zeremonie zwischenzeitlich ausgesetzt werden. Der Staatssicherheitsdienst vermutete hinter all dem ein System und spekulierte, ob der Friedhofswärter durch den Propst eventuell »diesbezüglich« beeinflusst werden würde. 21 Schließlich sei die Begräbnisstätte in kirchlicher Hand. Der gesetzliche Friedhofszwang hielt die Kirche an, auch die verstorbenen Kämpfer des SED-Regimes beizusetzen. Auch die Auseinandersetzung um den Sinn von Protest und Widerstand sollte von den Handelnden in der Regel mit bedacht werden. In der DDR gab es stets genügend Stimmen, die Widerspruch und Widerstand als unvernünftig bewerteten und davon abrieten. Den Hintergrund bildete zumeist das effektive Risiko, das sich mit einer solchen Tat verband. Um ihren eigenen Opportunismus zu verteidigen, sprachen sich nicht wenige offen gegen Widerstandstaten aus. Mit der inhaltlichen Infragestellung der Herrschenden auf der Grundlage ihrer eigenen Ideologie gewann demgegenüber Widerstand und oppositionelles Handeln umgekehrt proportional an Legitimation. Indem Gegner des Systems Schwächen desselben benannten und auf die Diskrepanz zwischen der Selbstdarstellung des Systems und den realen Verhältnissen verwiesen, rechtfertigten sie auf der Grundlage bestehender Kodes nicht nur ihren systemkritischen Standpunkt. Zugleich forderten sie für sich und andere jenes Recht auf Zorn und Empörung ein, aus dem – nach Peter Sloterdijk – Protestbewegungen allgemein ihr moralisches Kapital abzuleiten verstehen. 22 Zorn und Empörung ließen sich zwar auch anderweitig proklamieren, nicht zuletzt angesichts des Umstandes, dass die Existenz der Diktatur an sich als Unrecht anzusehen war. Doch war dies nicht unbedingt ratsam. Andererseits war dies auch nicht unbedingt notwendig. Schließlich geht es, wie Peter Sloterdijk feststellte, bei der Empörung nur sekundär um den inhaltlichen Bezug, der gewählt wird. »Natürlich«, so Sloterdijk, »wird auch immer ›um etwas‹ gekämpft, vor allem aber dient der Kampf der Offenbarung der kämpferischen Energie an sich«. 23 Diese Herleitung deckt sich mit der Feststellung von Thomas Luckmann (Theorie des sozialen Handelns), dass sich Menschen, wenn sie ihr Handeln begründen, mehrheitlich für die in ihrem Umfeld vorhandenen, abrufbaren oder ansprechbaren Sinnorientierungen entscheiden. 24 Auch erfolgt das Handeln weniger auf einer ideologischen Grundlage. Aktiv wurden Menschen vielmehr aus einer moralischen Pflicht heraus, um Verantwortung wahrzu-

21 Ebenda. 22 Sloterdijk, Peter: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt/M. 2006, S. 170–189. 23 Ebenda, S. 21. 24 Luckmann, Thomas: Theorie des sozialen Handelns. Berlin 1992, S. 95.

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nehmen 25 oder überhaupt etwas gegen die Verhältnisse zu tun, ohne gleich doppelt (vom Staat und der Bevölkerungsmehrheit) stigmatisiert und isoliert zu werden 26 – oder – sofern dem Handeln eine optimistische Annahme zugrunde lag, in der Hoffnung, durch die Infragestellung totalitärer Strukturen zu einer schrittweisen Enttotalisierung der Gesellschaft gelangen zu können. 27 Eine Argumentation, die den Protest in seiner pragmatischen Form als systemimmanent charakterisiert 28, verkennt den angesprochenen Sachverhalt. Eine solche Bewertung unterstellt, dass hierbei auch die Systemgrundsätze internalisiert gewesen sein müssten oder – unter Ausschluss des taktischen Kalküls – sich die Handelnden aus dem bestehenden Normengefüge gegebenenfalls nicht zu lösen gewusst hätten. Die Krisen der DDR belegen hingegen das Gegenteil: Auf die Forderung nach Zurücknahme der Normerhöhungen am 17. Juni 1953 erwuchs innerhalb von Stunden ein Kampf um die Wiedervereinigung Deutschlands und somit das Ende der SED-Herrschaft. 29 Ähnlich verhielt es sich 1989: Zunächst 25 Fischer, Martin: Das Zeugnis der Verhafteten. Ein geistliches Wort. Berlin (West) 1953, S. 42. 26 Vgl. hierzu: Poppe, Ulrike: »Der Weg ist das Ziel«. Zum Selbstverständnis und der politischen Rolle oppositioneller Gruppen der achtziger Jahre. In: dies.; Eckert, Rainer; Kowalczuk, IlkoSascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR. Berlin 1995, S. 244–272, hier 249. 27 Barth, Karl: Brief an einen Pfarrer in der Deutschen Demokratischen Republik,. 2. Aufl., St. Gallen 1958, S. 31. Barth führte in seiner Denkschrift, in der er zugleich Loyalität gegenüber der Staatsform einforderte, unter anderem aus, dass »Loyalität« nicht eine »Gutheißung aller und jeder Maßnahmen der faktischen Träger und Repräsentanten dieser Ordnung« bedeuten könne. Dies schloss nach Barth auch den »Vorbehalt des Widerspruchs, eventuell des Widerstandes gegen bestimmte Explikationen und Applikationen einer vorgegebenen Staatsordnung« mit ein. Jene Formel fand sich in späterer Standortbestimmungen und in Konzepten kirchlicher Vertreter – so u. a. in der sich wesentlich stärker auf die politisch-ideologischen Grundlagen der DDR einlassenden Formen vom »verbesserlichen Sozialismus« des Barth-Schülers Propst Heino Falcke wieder. Zur Formel »verbesserlicher Sozialismus«: Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 346), Bonn 1997, S. 248. Deutlicher als Karl Barth in seiner Distanzierung gegenüber dem SED-Regime: Fischer, Martin: Das Zeugnis der Verhafteten. Berlin (West) 1953, S. 53–56. 28 Zum Beispiel in positiver Bewertung einer solchen Systemimmanenz: Geisel, Christian: Auf der Suche nach einem dritten Weg. das politische Selbstverständnis der DDR-Opposition in den achtziger Jahren (Forschungen zur DDR-Gesellschaft), Berlin 2005; vgl. hierzu die Rezension von Kowalczuk, Ilko-Sascha: In Geiselhaft. Auf der Suche nach der Opposition. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 42 (2006) 2/3, S. 357– 363. In fehlerhafter Auslegung des von ihm hierfür als Beleg hinzugezogenen Aufsatzes und ebenfalls unter positiver Bewertung der von ihm angenommenen Systemimmanenz der »politisch alternativen Gruppen« in der DDR, die vermeintlich lediglich beabsichtigt hätten, den Sozialismus zu demokratisieren: Dähn, Horst: Begrüßung und einleitende Bemerkungen zur Vorgeschichte der Ökumenischen Versammlung in der DDR 1988/1989. In: Der konziliare Prozess in der DDR in den 1980er Jahren. Hg. v. Institut für vergleichende Staat-Kirche-Forschung (Schriftenreihe des Instituts; 27), Berlin 2009, 7–12, hier 5. 29 Vgl. hierzu: Kowalczuk, Ilko-Sascha: 17.6.1953. Volksaufstand in der DDR. Ursachen. Abläufe. Folgen. Berlin 2003.

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weniger problematisch erscheinende Forderungen, zum Beispiel nach der Veröffentlichung der tatsächlichen »Wahlergebnisse« oder nach Erleichterungen im Reiseverkehr, mündeten nach den ersten Massenprotestes in Maximalforderungen. Sie stellten die Existenz des politischen Systems infrage. Erhoben wurde so die Forderung nach deutscher Einheit unter demokratischen Bedingungen, freien und fairen Wahlen und der Öffnung der Westgrenzen. Ersichtlich wurde schnell, dass es das Korsett der Macht war, bestehend aus Sanktionen und Ausgrenzung, das Widerstandleistende und Oppositionelle zur pragmatischen Anpassung ihrer Handlungen an die Umfeldbedingungen bewog. Hinzu kam das Ausharren der Bevölkerungsmehrheit basierend auf dem Dreiklang von kognitiver Dissonanz (gegen die eigene Einsicht handelnd), sich der Kritik enthalten und Zustimmungsgewährung (anlässlich von »Wahlen« und Massenaufmärschen). So schufen die situativen Verhältnisse des Alltags in der DDR nicht nur den Rahmen, in dem sich die Widerspruchleistenden bewegten. Häufig richteten sie ihre Kritik hieran aus, legten ihren Forderungen und Losungen die konkreten Alltagserfahrungen zugrunde und bemühten sich so, auf ihre Mitmenschen einzuwirken. Die meisten Widerspruchleistenden suchten im Alltag so nach Wegen, dem eigenen Protest in zwar verständlicher und zugleich gemäßigter Form Ausdruck zu verleihen. 4.1.2 Die alltägliche Meckerei. Mehr als nur ein Volkssport im Alltag? Wie ein roter Faden ziehen sich die Unmutäußerungen, die beim MfS als »Hetze« aktenkundig wurden, durch die vier Jahrzehnte der DDR. Oft war das, was als »Meckern« begann, schwer abgrenzbar zu den als eindeutig politisch zu bezeichnenden Unmutäußerungen und nachfolgend dem offenen Protest. Das Staatssicherheitsministerium erfasste all dies weitgehend undifferenziert in seinem Deliktekarteisystem unter der Rubrik »mündliche Hetze bekannt« bzw. »mündliche Hetze unbekannt«. 30 Allein auf der Grundlage der so auf den Karteikarten übermittelten Unmutäußerungen ließe sich eine Geschichte der DDR schreiben. Zugleich zeigt die so festgehaltene Kritik in ihrer Vielfältigkeit auf, was große Teile der Bevölkerung über die SED-Herrschaft dachten. 1951 verurteilt die 1. Große Strafkammer des Landgerichts in Greifswald einen dreiundvierzigjährigen Angestellten, wie es in der Anklage hieß, wegen »fortgesetzt[er] Kriegs- und Boykotthetze gegen demokratische Organisationen und Einrichtungen [...] in Tateinheit [mit der] Verbreitung tendenzieller

30 Ausgewertet wurden in diesem Zusammenhang die Deliktekerblochkarteien der BStUAußenstelle in Rostock.

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Gerüchte« zu drei Jahren Zuchthaus. 31 Er hatte unter anderem geäußert, »in der Sowjetunion herrscht dasselbe Regime wie bei Hitler«. Weiter sagte er: »Das ganze Land ist mit Konzentrationslagern überdeckt. [...] Die Menschen werden unterdrückt und durch Terrormaßnahmen den Sowjets gefügig gemacht.« Die SED sei für ihn eine »Verbrecherpartei, die in den Händen des Kreml liegt« und sich aus »unfähigen und unintelligenten Personen« zusammensetzte. 32 Da er sich des Öfteren mit drei Freunden traf und mit ihnen über diese Dinge redete, hielt man ihm vor, »illegale Zusammenkünfte abgehalten« zu haben, in der Absicht, »eine faschistische Untergrundbewegung zu gründen«. 33 Ähnlich verhielt es sich in einem weiteren Fall: Durch den 1. Strafsenat des Bezirksgerichts in Rostock erging 1954 der Urteilsspruch gegen die vier Mitarbeiter des Planungsbüros in der Neptun-Werft. Die Schuldsprüche lauteten hier auf zwei Jahre und sechs Monate, zwei Jahre, ein Jahr und sechs Monate und ein Jahr Gefängnis. 34 Die so Verurteilten hatten sich wiederholt zu aktuell politischen Fragen in der Öffentlichkeit ausgelassen, taten dies jedoch nicht in dem von der SED-Staats- und Parteiführung erwünschten Sinne. Von umtriebigen Spitzel mitgehört, aufgeschrieben und weitergemeldet worden waren so mehrere anstößige Äußerungen: »Meine Jungen erziehe ich so, dass sie dieses Unrecht gutmachen und nicht vergessen« oder am 20. Juni 1953, unmittelbar nach dem Volksaufstand »[...] nicht die Normenerhöhung ist Schuld, dass die Kollegen streiken, sondern es liegt daran, dass man konsequent gegen die Russen eingestellt ist [...] Es wird nicht eher Ruhe eintreten, bis eine Deutschlandpolitik wie es im Westen üblich ist, auch in der DDR eintritt« oder am 28. September 1953 »ich bin gespannt, wann es zum zweiten Mal los geht, wann es zum zweiten 17. Juni kommt« oder »was Goebbels als kleiner Mann getan hat, haben Ulbricht und Grotewohl als Oberlügner vollbracht«. 35 In Greifswald inhaftierte der Staatssicherheitsdienst am 21. März 1958 einen Reichsbahner, der durch einschlägige Sprüche wie »Walter Ulbricht müßte der Bart abfaulen« oder »Wilhelm Pieck müßte sich den Zeh brechen« nega-

31 Der Generalstaatsanwalt, Abteilung I, an die Grosse Strafkammer für den Befehl 201, Anklage, Schwerin, 19.3.1951: BStU, MfS, BV Rostock, AU 205/51, HA, Bd. I, Bl. 32–35, hier 32; Protokoll der öffentlichen Sitzung der I. Großen Strafkammer des Landgerichts in der Strafsache gegen den Angestellten [Name], [Vorname], Greifswald, 23.5.1951, ebenda, Bl. 48–52, hier 52. 32 Der Generalstaatsanwalt, Anklage, ebenda Bl. 33 f. 33 Ebenda, Bl. 34. 34 Erster Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock, Urteil in der Strafsache gegen [Name], [Vorname]: BStU, MfS, AU 39/54, Bl. 230–236, hier 230. 35 MfS, BV Rostock, Zwischenbericht für den Gruppenvorgang »Spinne«, Rostock, 29.12.1953: BStU, MfS, Bl. 188–199, hier 191.

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tiv aufgefallen war. 36 Die Buchstabenfolge »H DDR GPU FDGB KOREA«, so teile er seinen Tischgenossen in der Gaststätte »Krause« vertraulich mit, stehe für den Satz: »Haltet die drei Räuber Grotewohl, Pieck, Ulbricht für den Galgen bereit, komme Ostern rüber euer Adenauer.« 37 Der auf dem Weg der Denunziation Überführte wurde nach Rostock in das Untersuchungsgefängnis des Staatssicherheitsdienstes überstellt. 38 Das Bezirksgericht Rostock verurteilte den Zweiundzwanzigjährigen aus Greifswald am 25. Juni 1958 »wegen staatsgefährdender Hetze« zu neun Monaten Gefängnis. 39 An der Ingenieurschule für Schwermaschinenbau in Wismar diskutierten im Oktober 1961 »einige Studenten« ebenso offen wie eigensinnig über das einen Monat zuvor, am 20. September, neu erlassene Verteidigungsgesetz. 40 Um ihren Unmut kundzutun, verglichen sie während einer Diskussion unter den Studenten das Verteidigungsgesetz mit »den Maßnahmen Hitlers«. Dieses sei »auch so totalitär wie das Ermächtigungsgesetz Hitlers«. Mit sechs der Studenten sollte, wie die FDJ-Leitung der Schule berichtete, in der Folge die »Auseinandersetzung bis zur Endkonsequenz geführt« werden. Alle sechs wurde vom Studium suspendiert. 41 Ein Rohrleger aus dem Volkseigenen Betrieb Kühlautomat in Stralsund geriet fünf Tage nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 in Untersuchungshaft und wurde anschließend zu vier Monaten Haft verurteilt. 42 In der angespannten innenpolitischen Situation nach der Grenzschließung in Berlin hatte er im angetrunkenen Zustand auf der Straße lauthals das Lied, »wir wollen unseren Kaiser Wilhelm wiederhaben«, gesungen. Als der Rohrleger 1966 am Abend vor Silvester bei einem Trinkgelage auf einem Binnenschiff auf einen SED-Genossen traf und diesen beschimpfte, inhaftierte man ihn erneut. Zuvor hatte er den am Parteiabzeichen kenntlichen Genossen als »Arbeiterverräter«, »Schwein« und »SEDist« betitelte. »Du bist Kommunist, dich muß man aufhängen!« lallte der nicht mehr nüchterne Neunundzwanzigjährige und lieferte 36 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Bericht des GI »Alfons«, Greifswald, 11.2.1958: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 81/58, Bd. I, Bl. 63; MfS, BV Rostock, Abt. XIII Greifswald, Greifswald, 21.3.1958, Abschlussbericht: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 81/58, Bd. I, Bl. 87 f. 37 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Bericht des GI »Otto Müller«, Greifswald, 18.3.1958: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 81/58, Bd. I, Bl. 86. 38 MfS, BV Rostock, Abt. XIII Greifswald, Greifswald, 21.3.1958, Abschlussbericht: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 81/58, Bd. I, Bl. 87 f. 39 Erster Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock, Sitzung am 25.6.1958 in der Strafsache gegen den Reichsbahnangestellten [Name], [Vorname], Rostock, 3.7.1958: BStU, MfS, BV Rostock, AU 58/58, GA, Bd. II, Bl. 107–111, hier 107. 40 MfS, HA XX, Abt. Org.-Instruktoren, Information über Feindtätigkeit und besondere Vorkommnisse aus den Informationsberichten der Bezirksleitungen vom 26.10.1961, Berlin, 27.10.1961, Bl. 229–240, hier 234. 41 Ebenda. 42 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Entlassungsbeschluß, Rostock, 18.1.1967: BStU, MfS, BV Rostock, AU 275/67, Bd. I, Bl. 78–81, hier 80.

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somit den Anlass für seine erneute Festnahme. 43 Nach der Anzeige des SEDGenossen saß er abermals drei Wochen in Untersuchungshaft. Schließlich rettet ihn sein auch amtlich bestätigter Blutalkoholwert von 2,40 Promille. 44 So lautete zumindest offiziell der Grund, warum das Ermittlungsverfahren aufgehoben und der Rohrleger aus der Untersuchungshaft entlassen werden sollte. Daneben bestand seitens des Staatssicherheitsdienstes noch eine weitere Überlegung, die bei der Entscheidung ebenso von Bedeutung gewesen sein mochte. Während einer »Absprache« zwischen der Kreisdienststelle Stralsund und der Bezirksverwaltung »wurde festgestellt«, so ist es einem Aktenvermerk zu entnehmen, dass der kurz zuvor Freigelassene »operativ genutzt werden« solle. 45 Mit der »Auswertung der Tat« beauftragte das MfS schließlich sein Arbeitskollektiv, das, attestiert von den FDJ- und Parteifunktionären des Betriebes, über ihn zu befinden hatte. 46 Ebenso Aufschlussreiches wie Geheimnisumwittertes vermeldete die Kreisdienststelle Bad Doberan im Dezember 1967 aus der Kurstadt nach Rostock. »Unter den Geschäftsleuten und Gewerbetreibenden der Kleinstadt«, so hieß es in der Meldung, würden »im vertrauten Kreis die Verhältnisse in Westdeutschland verherrlicht und diskriminierende Äußerungen gegen die staatliche Ordnung der DDR getätigt«. 47 Über belastbare Beweise verfüge man zwar nicht, doch seien die betreffenden Personen vor Ort hinlänglich bekannt. Auch hatte die Kreisdienststelle eine der Ursachen hierfür bereits identifiziert: Insgeheim würden in Bad Doberan von technisch versierten Handwerkern »Spezialantennen und Konverter zum Empfang des II. Programms des Westfernsehens hergestellt und verkauft«. 48 In den Ostseebädern Kühlungsborn, Heiligendamm, Rerik und Nienhagen ärgerten sich die Staatsschützer in der Kreisverwaltung ferner über »Jugendliche und andere Bürger«, die sich insbesondere in der Badesaison anders, als vom SED-Staat verlangt, verhielten. Auf den Straßen und Strandpromenaden fielen so immer wieder Jugendgruppen auf, die vorzugsweise in den Abendstunden der Sommermonate »in vielfältiger Weise durch Hetze, Verleumdung, Verherrlichung der westlichen Lebenswei-

43 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Erstmeldung an die Hauptabteilung IX/8, Rostock, 7.1.1967: BStU, MfS, AU 275/67, HA, Bd. I, Bl. 90 f. 44 Bezirks-Hygiene-Institut Greifswald, Chemische Abteilung, an das Volkspolizeikreisamt, Abteilung K, Stralsund, Greifswald, 3.1.1967: BStU, MfS, AU 275/67, GA, Bd. II, Bl. 55. 45 MfS, BV Rostock, Aktenvermerk, Rostock, 31.1.1967: BStU, MfS, AU 275/67, HA, Bd. I, Bl. 73. 46 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Bericht über die Haftentlassung des Untersuchungshäftlings [Name], Rostock, 20.1.1967: BStU, MfS, AU 275/67, HA, Bd. I, Bl. 85. 47 MfS, BV Rostock, KD Bad Doberan, Arbeitsdokument der Kreisdienststelle Bad Doberan, Bad Doberan, 8.12.1967: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Nr. 95, Bl. 2–25, hier 19. 48 Ebenda, Bl. 20.

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se« auffielen oder versuchten, bundesdeutsche und ausländische Urlaubsgäste anzusprechen. 49 Auch die siebziger Jahre blieben nicht frei von Unmutäußerungen der verschiedensten Art. Zwar änderten sich die aktuell-politischen Bezüge; bestimmte Grundthemen wie die Kritik an der Herrschaft der SED oder auch die Widersprüche zwischen den offiziellen Verlautbarungen und der Realität in der DDR wahrten jedoch ihren Bestand. An den legendären, schon nach wenigen Aufführungen 1966 verbotenen DEFA-Film »Spur der Steine« von Frank Beyer, mit Manfred Krug in der Hauptrolle als Brigadier Balla, erinnerte ein anderer Vorfall. Er ereignete sich am Heiligabend 1970 in einem Bauwagen bei Sagard auf Rügen. 50 Als ein auf der Baustelle des Volkseigenen Betriebes Erdöl und Erdgas allgemein bekannter »Genosse« den Fernsehwagen betrat, entspann sich ein folgenschwerer Dialog. 51 Einer der Erdölarbeiter empfing ihn mit den Worten, »ihr müßt mit uns sein und nicht gegen uns« und hielt dem »Genossen« auf seine Rückfrage hin vor, »die Partei ist gegen uns!«. 52 Im Weiteren gab ein Wort das andere: Während der Erdölarbeiter die nun folgenden Belehrungen des »Genossen« und seinen Verweis auf die »Faschisten und jetzigen Monopolherren in Westdeutschland« stoisch mit dem Kernsatz »die Partei ist gegen uns!« kommentierte, heizte sich die Stimmung im Bauwagen weiter auf. »Das was ihr baut, ist alles Scheiße!« und »außerdem habt ihr alles aus Russland übernommen! So unter anderem die Rinderoffenställe!«, hielt der Arbeiter dem SED-Vertreter vor. 53 Schließlich kam es zu der auch aus dem Film bekannten Konfrontation: »Warum trägt du das noch?« fragte der Arbeiter sein Gegenüber mit Blick auf das Parteiabzeichen und – so will es zumindest der »Genosse« erlebt haben – »griff [...] [ihn] mit den Worten an: ›Dich erschieß ich auch noch und hänge Dich auf.‹« 54 Weniger einfühlsam als im Film dargestellt, ging es nun im realen Leben zu. Basierte die Handlung des Films noch auf dem Verständnis für die Positionen des jeweilige anderen und zeigte sich hier die »Partei« lernfähig angesichts der an ihr geäußerten Kritik, so erstattete der Parteivertreter in der Realität Anzeige gegen den Arbeiter. Das MfS ermittelte fortan gegen den »Störenfried« bis ausreichend Material vorlag, um die Anklage gegen ihn eröffnen zu können. Vor dem Kreisgericht Rügen erging am 22. Juni 1971 der Urteilsspruch gegen den Erdölarbeiter, den die Richter »wegen mehrfacher Staatsverleumdung zu

49 Ebenda. 50 Zu Manfred Krug: Wer war wer in der DDR? Bd. 1, Berlin 2010, S. 733. 51 MfS, BV Rostock, KD Bergen, Dranske, 15.2.1971: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1382/71, Bl. 25 f. 52 Ebenda, Bl. 25. 53 Ebenda. 54 Ebenda. Bl. 26.

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einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten« verurteilten. 55 Selbst die scheinbar ungeschminkten Szenen im DEFA-Streifen »Spur der Steine«, die letztlich zu seinem Verbot in der DDR führten, wurden hier noch durch die Realität übertroffen. Ähnliches trug sich auch in Stralsund zu: Von einem seiner Zuträger erfuhr Oberstleutnant Frankenstein von der dortigen Kreisdienststelle vom durchaus rüden Umgangston im Volkseigenen Betrieb Hochbau. Frankenstein vernahm von dem Spitzel nicht nur, dass man den Betriebsparteisekretär in einer der Brigaden fortwährend als »Spion« und »rotes Schwein« titulierte. 56 Als »ständige Redewendungen« zählten auch folgenden Sprüche »praktisch zum Sprachgebrauch aller Brigademitglieder«: »In der DDR gibt es keine Freiheit, alles steht unter Zwang, man darf hier nichts sagen [...], dann kommt gleich ›Paul Greifzu‹ [...] und nimmt einen mit, die DDR ist eine ›russische Kolonie‹, die Russen zwingen uns ihre Kultur auf, in der DDR gibt es nichts zu kaufen, aber im Westen gibt es alles, wir leben in einem Mauerstaat.« 57 Oberstleutnant Frankenstein zeigte sich insgesamt wenig erfreut über das ansonsten immer eingeforderte rege Interesse an den tagespolitischen Fragen der DDR. Gegen die so denunzierten Brigademitglieder leitete Frankenstein umgehend verdeckte Nachforschungen ein. Nach der mehrfachen Vernehmung der fünf Brigademitglieder entschied der Leiter der Untersuchungsabteilung in Rostock, Oberstleutnant Artur Amthor, gegen den vermeintlichen »Rädelsführer« ein Ermittlungsverfahren ohne Haft einzuleiten. Das vom MfS zusammengetragene Material wurde zugleich an die Bezirksdirektion der Deutschen Volkspolizei in Rostock übergeben, die sich weiter um den Vorgang kümmern sollte. 58 Über die allgemeine Stimmungslage im Bezirk gibt zudem eine Reihe von Berichten Auskunft. In einem Stimmungsbericht aus dem Jahre 1974 trug die MfS-Kreisdienststelle Wolgast verschiedene Meinungsäußerungen rund um die Kommunalwahlen in den Orten längst des Peene-Stromes zusammen. Während eines Gesprächs zwischen den Fischern in Freest fiel der Satz: »es ist doch jedes Mal das gleiche, man spricht immer vom demokratischen Charakter der Wahl, wenn aber einer [...] in die Kabine geht, kommt er gleich auf die schwarze Liste.« 59 Ein Bauer aus Seckeritz, südlich von Wolgast, sah dies ähnlich. Er wurde mit den Worten zitiert: »es fehlt nur noch, dass die, die in die Kabine gehen, ein rotes Kreuz bekommen«. Und eine Rentnerin aus Wolgast, 55 MfS, BV Rostock, KD Grimmen, Abschlussbericht, Grimmen, 4.8.1971: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1382/71, Bl. 70 f. 56 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Bericht des IMV »Wienrich«, Stralsund, 5.11.1974, Bl. 84–86, hier 84. 57 Ebenda. 58 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Leiter, Schreiben an die Kreisdienststelle des MfS Stralsund, Rostock, 24.6.1975: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1480/75, Bl. 160. 59 MfS, BV Rostock, KD Wolgast, [Bericht über] den Verlauf der Kommunalwahlen 1974 (Parteiinformation an die SED-Kreisleitung), Wolgast, 19.5.1974, Bl. 7 f.

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antwortete auf die Frage, »warum sie nicht zur Wahl« gehe, dass sie – so die Kontrolleure – »für unseren Staat nichts übrig« habe. 60 Auch in den achtziger Jahren führte die verdeckt wie offen geäußerte Systemkritik ein vitales Eigenleben. Sie strafte die von der SED permanent beschworene Zustimmung aus allen Bevölkerungskreisen an ihrer Politik und die Parteipresse Lügen. In den Stimmungsberichten aus den MfSKreisdienststellen ging man, neben der einleitenden und obligatorischen Rubrik »Zustimmung und Befürwortung«, notgedrungen auf die kritischen Äußerungen ein. Hierbei gewannen die Versorgungsprobleme zunehmend an Gewicht. In Rostock, so hatte es das MfS 1982 erfahren, zog ein Bootsführer der Wasserschutzpolizei aus der angespannten »Versorgungslage in DDR« den Schluss, »daß die kapitalistische Marktwirtschaft besser als die sozialistische Planwirtschaft sei«. 61 Dies schienen inzwischen selbst einige Gefolgsleute des Systems so zu sehen. Aus eben jener Marktwirtschaft bezog der Erste Sekretär des Rates der Stadt Dassow, ein SED-Genosse, vermehrt »Postsendungen«, was sich in der grenznahen Kleinstadt bei Grevesmühlen bald herumsprach. 62 Verschiedene Faktoren trafen im Folgenden aufeinander: Unverständnis angesichts der unbefriedigenden Versorgungslage, Unmut angesichts der allzeit präsenten antiwestlichen Agitation der SED und Ärger und Neid über jene Parteifunktionäre, deren Reden nicht mit ihrem Handeln übereinstimmte. Sie bildeten jenes Konglomerat, das die Kritik an jener Form des Pharisäertums beflügelte. »Besonders parteilose Einwohner der Stadt Dassow« seien es, so die Kreisdienststelle Grevesmühlen, die in der Öffentlichkeit immer wieder mit Äußerungen auffielen wie: »das sind unsere Genossen, sie schwingen nur große Reden, bekommen aber selbst alles aus dem Westen«. Offene Häme herrschte in Dassow angesichts der Tatsache, dass jene sich als »noch zu feige« erwiesen, »die Westpakete selbst von der Post abzuholen«, sondern hierfür jeweils die Ehefrau auf die Post schickten. 63 Mittlerweile schien der Prozess der inneren Erosion die systemnahe Kreise erreicht zu haben. Im Dezember 1986 protokollierte das MfS mehrere Unmutäußerungen, derer man unter Lehrern in Stralsund gewahr wurde. Einige Lehrer einer Polytechnischen Oberschule kritisierten, als man sie zu den Ergebnissen der letzten Zentralkomitee-Tagung befragte, sie erlebten »den Sozia-

60 Ebenda, Bl. 8. 61 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Information an das Volkspolizeikreisamt Rostock-Stadt, Probleme im Wasserschutzrevier Rostock, Rostock, 25.11.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 61, Bd. I, Bl. 13–15, hier 13. 62 MfS, BV Rostock, KD Grevesmühlen, Information Nr. 19/82 über [Name], [Vorname], Grevesmühlen, 4.12.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 61, Bd. I, Bl. 223–225, hier 224. 63 Ebenda, Bl. 225.

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lismus in Stralsund und nicht in Berlin«. 64 Sie stellten dabei Fragen wie: »Mit welchem Recht werden die Berliner so bevorzugt? Sind wir Menschen zweiter Klasse?«. Zusätzlich gab es vermehrt Stimmen, die offen Zweifel an der offiziell propagierten Variante der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik und den konkreten Verhältnissen im Alltag äußerten. In der Kritik stand insbesondere die Preispolitik: »Die Preisentwicklung steht im Widerspruch [...] [zur] Entwicklung der Gehälter der Lehrer«, wurde eine Pädagogin zitiert, die anmerkte, dass ihr »Gehalt [...] doch nichts mehr wert« sei. 65 Auch sie bezog sich im Folgenden auf den Systemvergleich und legt zugleich ihre Zweifel am politischen System in der DDR offen: »Ich habe«, so die Lehrerin, »neulich einen Westkatalog gesehen. Da kann man ja fast seine Gesinnung verlieren, wenn man die niedrigen Preise sieht.« 66 Bereits im Januar 1986 erreichte die MfSBezirksverwaltung aus Wolgast die Nachricht, dass sich in Ückeritz ein Betriebsleiter und »Genosse« in einer Fleischerei »in Anwesenheit mehrerer Personen« mit dem Satz verabschiedet habe, »lieber rückwärts aus der Fleischerei als vorwärts zum XI. Parteitag«. 67 Und ausgerechnet eine »Kandidatin unserer Partei«, so erfuhr es der Erste Kreissekretär in Wolgast vom MfS aus demselben Bericht, hätte »im Zusammenhang mit der Staatstrauer zum Ableben des Gen[ossen] Armeegeneral Hoffmann Vergleiche zu Adolf Hitler hergestellt«. 68 Offensichtlich war zudem, dass sich ein Teil der Unmutäußerungen nicht unbedingt inhaltlich qualifizierter Bezüge bediente. Die SED-Kandidatin lobte darüber hinaus »Adolf Hitler [...] als positiven Staatsmann«. Die Frau wurde von der Liste der SED-Aufnahmekandidaten gestrichen. 69 »Meckern« war eine der häufigsten Formen des politisch abweichenden Verhaltens, mit dem Menschen in ihrer konkreten Alltagssituation zum gesellschaftlichen System und dessen Ideologie auf Distanz gingen. Anforderungen des Systems wurden so infrage gestellt. Mitunter bezeugten Einzelne so auch ihre Solidarität mit einem gemaßregelten Mitmenschen. Oft handelte es sich um mehr als nur um »Meckern«. Überliefert sind viele Unmutäußerungen, in denen unmissverständlich die staatskritische Einstellung zu Ausdruck kam. Sie erfolgten zumeist vor einem konkreten Hintergrund, der zur Kritik herausforderte. »Meckern« konnte oft auch als ein Handeln betrachtet werden, das dazu diente, neben den angestauten Aggressionen Verständigung im Alltag herzu64 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Bericht über Reaktionen von Lehren der »Erich-WeinertOberschule« und Kleingärtnern auf die 3. ZK-Tagung, Stralsund, 16.12.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 255, T. I, Bl. 312–314, hier 312. 65 Ebenda, Bl. 313. 66 Ebenda. 67 MfS, BV Rostock, KD Wolgast, [Bericht] unparteiliche Äußerungen durch Mitglieder der SED (Meldung an den 1. Kreissekretär), Wolgast, 15.1.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 255, T. II, Bl. 739 f. 68 Ebenda, Bl. 739. 69 Ebenda, Bl. 739 f.

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stellen und den Kontakt zu Gleichgesinnten zu suchen. Dementsprechend rigoros ging das MfS in den fünfziger Jahren hiergegen vor. Es galt, so die Sicherheitsphilosophie, jeden aufkommenden Widerspruch bereits in der Entstehungsphase zu unterdrücken. Insgesamt war das Handeln der sich Echauffierenden bestimmt von dem Verlangen, ihrem eigenen, abweichenden Standpunkt Ausdruck zu verleihen. Die Motive hierzu mochten unterschiedlicher Natur sein. Verärgerung und Zorn über bestehende Missstände und eine als ungerecht empfundene Behandlung, kamen ebenso in Betracht, wie das Anliegen, die Verhältnisse insgesamt abzulehnen. So zum Beispiel im Fall von zwei Landvermessern, die während ihres Einsatzes im Kreis Grimmen im Fernsehraum der Gemeinschaftsunterkunft laut Staatssicherheitsdienst »auffällig wurden«. 70 Einer der Kartographen »äußerte sich«, so der Bericht der Kreisdienststelle vom 10. Juni 1969, »während der Sendung der Aktuellen Kamera durch Randbemerkungen, wie, ›die spinnen ja, die lügen das Blaue vom Himmel.‹« Gegenüber zwei SED-Funktionären, die von ihnen gemeinhin als »Parteibonzen« bezeichnete wurden, kritisierten die beiden Vermesser zuvor im August 1968, »die Hilfe der soz[ialistischen] Länder als Einmischung in die Angelegenheiten der ČSSR«. 71 Die Kreisdienststelle des MfS in Grimmen ermittelte fortan verdeckt gegen die beiden »Meckerer« unter dem »Verdacht der staatsfeindlichen Hetze« und erfasste sie eigens in einem Operativvorgang. Einem wurde im Juni 1970 »auf Grund inoffizieller Hinweise [...] durch den Betrieb das Arbeitsverhältnis gekündigt«. Die abschreckende Maßnahme blieb nicht ohne Folgen: Der andere Landvermesser trat fortan politisch, wie das MfS im Anschlussbericht konstatierte, »nicht mehr in Erscheinung«. 72 Trotz staatlicher Verfolgungsmaßnahmen, abschreckender Urteile bis in die siebziger Jahre sowie der angedrohten Sanktionen bewahrte der »Volkssport Meckern« seine Vitalität. Er zählte zur wohl verbreitetsten Form der Missbilligung im Alltag der DDR. Häufig blieb es dabei. Deutlich wurde dies an den Unmutäußerungen anlässlich der Wahlen in der DDR. Trotz aller Kritik erschienen nicht wenige von denen, die sich zuvor im privaten Kreis über das zur Farce verkommene »Zettelfalten« empörten, an den Wahlurnen. Ebenso verhielt es sich mit der in ihrem Kern zutreffenden Annahme, dass die Benutzung der Wahlkabine als letzte Demonstration der Eigenständigkeit beargwöhnt und in den Wählerlisten vermerkt wurde. Sie führte zu der Annahme, dass dies zugleich schon ein Votum gegen die SED sei. Manch einer, der die Kabine demonstrativ benutzte, faltete dort seinen Zettel und übergab ihn der 70 MfS, BV Rostock, KD Grimmen, Auszug aus Bericht über Kontaktaufnahme und Kontaktgespräch mit [Name], Grimmen, 10.6.1969: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1017/70, Bl. 5. 71 Ebenda, Bl. 5 f. 72 MfS, BV Rostock, KD Grimmen, Abschlussbericht zur VA operativ I/233/70, Grimmen, 26.6.1970: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1017/70, Bl. 121.

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Wahlurne. Auch dies lief im Resultat auf eine Zustimmung zur Politik der SED hinaus. 73 Die überlieferten Unmutäußerungen vermitteln jedoch einen Eindruck davon, welche Stimmung in Teilen der Bevölkerung herrschte. Dieser Umstand konnte auch kaum den Mitgliedern der Partei und den Gefolgsleuten des Systems verborgen bleiben. Viele der am Volkssport Beteiligten fuhren dabei eine Doppelstrategie: Offiziell verhielten sie sich systemkonform; im privaten Bereich zu Hause waren sie hingegen voll der Kritik an den Zuständen in der DDR. Am Ende entschied einzig die Tat. Sie entschied, auf welcher Seite sich der Betreffende befand – auf der Seite derjenigen, die das System befürwortend mittrugen bis billigend in Kauf nahmen oder auf der Seite derer, die sich dem System entgegenstellten. Dies wusste auch Werner Stiller, der sich jahrelang in den Arbeitsablauf des MfS eingefügt und die ihm gestellten Aufgaben trotz seiner Zweifel zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten erfüllte hatte. Schließlich setzte er sich in einem waghalsigen Unternehmen nach West-Berlin ab. In weniger exponierter Position, nur ein Teil der Bevölkerung zählte zur Funktionselite in den Ministerien, an den Universitäten, Akademien und Schulen der DDR, drängte sich die Entscheidung seltener auf. Hier gab es die Möglichkeit, sich aus »allem« weitgehend herauszuhalten. In den Betrieben des Handwerks, der Industrie und in der Landwirtschaft galt der offen geäußerte Unmut häufig als normale Begleiterscheinung des DDR-Alltags. Nicht selten zählte er zum gewöhnlichen, durch die Missstände in der Praxis immer wieder bestätigten Ritual der innerbetrieblichen Kommunikation. Auch wenn es meist bei Unmutäußerungen blieb, ging hiervon eine Gefahr aus. Der Erfahrung, sich, wenn auch begrenztem Maße, Geltung verschafft zu haben, kam eine nicht zu vernachlässigende Funktion zu. Widerspruch wieder äußern zu lernen, war ein Erfahrungsprozess, der sich im praktischen Handeln verwirklichte. Ob hieraus mehr wurde oder es hierbei blieb, hing von den Bedingungen vor Ort ab. Aber auch von der Volkspolizei und dem MfS, die bei »drohender Gefahr« einschritten und mitunter erst die Situation eskalieren ließen. Von einer solchen Eskalation, der Versorgungsschwierigkeiten und Unmutäußerungen vorangingen, unterrichtete die Kreisverwaltung Bergen auf Rügen im Oktober 1987 die vorgesetzten Stellen in Rostock. 74 Nachdem sich im Ostseebad Binz herumgesprochen hatte, dass es Cordhosen im Verkauf gäbe, versammelten sich »vor der Öffnungszeit des Kaufhauses [...] ca. 70 Personen, 73 Vgl. hierzu MfS, BV Rostock, KD Wolgast, [Bericht über] den Verlauf der Kommunalwahlen 1974 (Parteiinformation an die SED-Kreisleitung), Wolgast, 19.5.1974: BStU, MfS, BV Rostock, KD Wolgast, Nr. 121, Bl. 7 f. 74 MfS, BV Rostock, Information Nr. 92/87 über Reaktionen unter der Bevölkerung, Rostock, 2.11.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 195, T. I, Bl. 96–103, hier 100.

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überwiegend Frauen« vor dem Gebäude. 75 Die Entscheidung, dass Kaufhaus an jenem Tag erst später, nach »Beendigung der Wareneingangskontrolle«, zu öffnen, erhitzte zusätzlich die Gemüter der draußen Wartenden. Unmutäußerungen gingen dem, was dann folgte, voraus. Sie bewogen den Bürgermeister in Begleitung zweier Polizisten mit ihrer Meinung nach »verkaufsregulierenden Maßnahmen« einzugreifen. Nach »tumultartigen« Szenen, angeheizt durch die Nachricht, dass jeder nur eine Hose erhalten könne, wurden die Kunden durch die Polizisten aus dem Kaufhaus gedrängt und erneut »die Schließung wegen Warenannahme angeordnet«. Zugleich häuften sich die Beschwerden, die auch beim Rat der Gemeinde aufliefen. Die Räumung des Kaufhauses wirkte kaum beruhigend auf die Situation: »Bereits in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages«, berichtete die Kreisverwaltung Bergen, »kam es zu einer Ansammlung von ca. 200 Personen« vor dem Kaufhaus; die Szenerie vom Vortag wiederholte sich. Für die anschließenden Beschwerden aus der Bevölkerung zeigte sogar der Berichterstatter von der Insel bedingt Verständnis. In dem Vorfall, so hieß es, entlud sich lang aufgestaute Wut über die Verhältnisse, charakterisiert durch das »zum Teil unkorrekte und unhöfliche Verhalten des Verkaufspersonals [...] in der Vergangenheit«. 76 Der Zwischenfall mochte zwar nicht als politischer Aufruhr gelten, doch gereichte er schnell zum Politikum. Verantwortlich hierfür waren auch die Verhältnisse im Land, in dem alles widerspruchslos zu funktionieren hatte und man mit solchen Situationen nicht umzugehen wusste. In seinen Auswirkungen wesentlich politischer fiel die Bilanz eines an sich zunächst unpolitischen Zwischenfalls am Abend des 1. Mai 1978 in Wittenberge im Bezirk Schwerin aus. Nachdem mehrere Polizisten beauftragt worden waren, eine Schlägerei unter Jugendlichen am Rande der Tanzveranstaltung »Jung und alt« mit der Formation »Melodia Terzett« zu unterbinden, eskalierte die Situation. 77 Die zumeist angetrunkenen Jugendlichen empfingen die mit Hunden und Schlagstöcken anrückenden Polizisten mit Rufen wie »dreckige Bullen und Schweine, macht, daß ihr wegkommt, mischt euch nicht ein«. 78 Zwar galt die Schlägerei, als die Volkspolizisten eintrafen, bereits als beendet. Doch hinderte sie dies nicht daran, ausgerechnet jenen Jugendlichen festzunehmen, der die Auseinandersetzung zuvor geschlichtet hatte. Jener wurde

75 Ebenda. 76 Ebenda. 77 MfS, BV Schwerin, KD Perleberg, Aussprachebericht, Perleberg, 12.5.1978: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 620, Bl. 20–25, hier 20. 78 MfS, BV Schwerin, KD Perleberg, Zusammenfassender Bericht zum Vorkommnis am 1.5.1978 in Wittenberge, Kreis Perleberg, Perleberg, 2.5.1978: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 620, Bl. 2–8, hier 2.

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obendrein von einem Polizeihund angefallen. 79 Einige der Jugendlichen empörten sich nicht nur über das als offensichtliche Ungerechtigkeit empfundene Vorgehen. Sie entschlossen sich spontan, vor das Polizeirevier zu ziehen, um die Freilassung des Festgenommenen einzufordern. Während sich vor Ort an die 400 Schaulustige einfanden, die die etwa zwanzig Jugendlichen anfeuerten, riefen diese Losungen wie, »lasst [Name] frei«, »Bullen«, »Schweine«, »ihr Säue« und Ähnliches. 80 Nach dem Einsatz von Schlagstöcken und der Bildung einer Sperrkette vor dem Polizeirevier ließen sich auch unverkennbar als politisch zu verstehende Rufe vernehmen: »Das ist ja schlimmer wie in der BRD, die gehen vor wie die Faschisten« lauteten nur eine der Unmutbekundungen. 81 Zuvor kamen zwei Löschfahrzeuge der Feuerwehr zu Einsatz, die ihre Wasserladung – wie es im Bericht des Kreis-Staatssicherheitsdienstes heißt – »wahllos in die Menschenmenge« spritzten. 82 Für sechs der an der »Zusammenrottung« beteiligten Jugendlichen ergaben sich aus dem Vorfall einschneidende Konsequenzen. Sie wurden vom Kreisgericht in Perleberg zu Haftstrafen zwischen einundzwanzig und sechs Monaten verurteilt. 83 Doch trat hiermit noch keine Ruhe ein. Der Vorfall führte in den Wochen danach als Gerücht, das dem Geschehen eine explizit politische Wendung gab, ein stetes Eigenleben. Einige hundert Bewohner der Stadt Wittenberge hätten sich, so hieß es nun, am Abend des 1. Mais zu Protesten gegen die Delikatess- und Intershopläden auf dem Marktplatz versammelt und versucht, das Rathaus zu stürmen. Nur durch massive Polizeigewalt, Hundestaffeln und den Wasserwerfereinsatz, so die Geschichte aus dem Norden weiter, sei die Menge schließlich auseinander getrieben worden. Nicht alles davon musste vollends unwahrscheinlich sein. Viele erkannten darin einen Vorfall, der lange in der Luft gelegen zu haben schien. Die unterschwelligen Spannungen angesichts der schleichenden Preiserhöhungen durch den Verkauf in den Delikatess-Läden und die Spannungen, die sich durch die Existenz der Intershops ergaben, in denen nur der, der über Devisen verfügte, einkaufen konnte, hatten ihre Protestsaga. Nicht zuletzt war in den Medien der Bundesrepublik über den Vorfall in seiner abgewandelten Version eingehend informiert worden. Der Staatssicherheitsdienst bis hoch zum Presseamt beim Ministerrat der DDR kümmerte sich im Folgenden darum, einer eigentlich unzutreffenden, jedoch nicht ganz unwahrscheinlichen 79 Ebenda, Bl. 2 f. 80 Ebenda, Bl. 4. 81 MfS, BV Schwerin, KD Perleberg, Aussprachebericht, Perleberg, 12.5.1978: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 620, Bl. 20–25, hier 25. 82 MfS, BV Schwerin, KD Perleberg, Aktenvermerk, Wittenberge, 12.5.1978: BStU, MfS, BV Schwerin, AU 1346/78, Bd. I, Bl. 24 f.; MfS, BV Schwerin, KD Perleberg, Zusammenfassender Bericht zum Vorkommnis am 1.5.1978 in Wittenberge, Kreis Perleberg, Perleberg, 2.5.1978: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 620, Bl. 2–8, hier 5. 83 MfS, BV Schwerin, KD Perleberg, Zusammenfassender Bericht, ebenda, Bl. 4.

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Geschichte mit Vehemenz entgegenzutreten. 84 Im Grunde genommen hatte man sich das Malheur selbst eingebrockt. 4.1.3 Besetzter Wohnraum: von der Nonkonformität über die Subkultur zum Widerstand im Alltag Der Weg zum Widerstand im Alltag oder gar zum Widerstand »im engeren Sinne« erfolgte oft über mehrere Zwischenstationen. Am Beginn stand häufig der bewusst gelebte Nonkonformismus. Er ergab sich nicht selten aus dem Mangel in der sozialistischen Versorgungswirtschaft. Menschen entschieden sich, ihr Glück in einem Leben jenseits der staatlichen Versorgungszuweisung beim Wohnraum und der limitierten Chancengewährung zu suchen: Sie besetzten unter anderem leerstehende Wohnungen, arbeiteten in Hilfsjobs und befreiten sich so von der ideologischen Bevormundung. Mit anderen Aussteigern fanden sie sich in Gesinnungsgemeinschaften wieder, die zu subkulturellen Milieus anwuchsen. Man bestärkte sich hier, richtig gehandelt zu haben und manch einer fand hier den Mut, noch mehr zu wagen. Auf den Ausstieg folgte mitunter die Verweigerung und wurde Widerspruch, aus Widerspruch Widerstand. Mit der Erweiterung des Hafens, der Werften sowie dem Ausbau zur Bezirksstadt entstanden in Rostock ab den sechziger Jahren weitere Neubaugebiete. Nach Reutershagen und der Südstadt wurden entlang der Straße nach Warnemünde die Plattenbaugebiete Lütten Klein, Evershagen, Lichtenhagen, Schmarl und Groß Klein gebaut. An der östlichen Stadtgrenze entstand ab Anfang der achtziger Jahre das Neubaugebiet Dierkow, dem die Plattenbauten in Toitenwinkel folgten. 85 Obwohl die Neubauwohnungen angesichts des Wohnraummangels begehrt waren, wurden sie nicht von jedermann geschätzt: 84 MfS, BV Schwerin, KD Perleberg, Zusammenfassender Bericht zum Vorkommnis am 1.5.1978 in Wittenberge, Kreis Perleberg, Perleberg, 2.5.1978: BStU, MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Nr. 620, Bl. 2–8; Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Hauptabteilung Presse, Material über Falschmeldungen und Reaktionen zum Thema Wittenberge, Berlin, 9.5.1978: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 9932, Bl. 2–4; Presseinformationen über Zweck- und Falschmeldungen westlicher Presseorgane 1978–1980: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 9932, Bl. 5–218. Zugleich hierzu: Pressekampagne in der BRD anlässlich des Eingreifens der Volkspolizei in Ausschreitungen Jugendlicher am 01.05.1978 in Wittenberge/Schwerin. Stellungnahme: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 5545; Aktivitäten in der DDR akkreditierter Journalisten der BRD im Zusammenhang mit rowdyhaften Ausschreitungen Jugendlicher am 1. Mai 1978 in Wittenberge, Bezirk Schwerin: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 15742. 85 Baumbach, Peter: Neue Planung für Rostock-Evershagen. In: Deutsche Architektur, 18 (1969) 3, S. 166–170; Albrecht, Wolfgang; Weber, Egon: Zur Entwicklung von Funktion, Struktur und Bevölkerung der Städte Rostock, Schwerin und Neubrandenburg. In: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 35 (1991) 2, S. 106–122, hier 108 f.; Brockhaus – Reisehandbuch. Ostseeküste mit Rostock, Stralsund, Greifswald, Wismar, Kühlungsborn und Saßnitz. 3. Aufl., Leipzig 1974, S. 360– 369; Palutzki, Joachim: Architektur in der DDR. Berlin 2000, S. 342–359.

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»Lieber in einer Fischbüchse in Hamburg leben, als in einer Plattenbauwohnung in Lütten Klein« hieß ein geflügeltes Wort, das unter Ausreiseantragstellern kursierte. Ähnlich lautete eine 1986 in der Bar »Szczecin« in Rostock gefundene Losung, in der es hieß: »Lieber im Westen aus einer Mülltonne kucken als im Osten aus 'ner Neubauwohnung«. 86 Eine Vernachlässigung erfuhren hingegen – wie vielerorts in der DDR – die Altbaugebiete, in Rostock vor allem die östliche Altstadt zwischen der Nikolai- und der Petrikirche. Zumeist fanden sich nur wenige, die den Umgang mit der historischen Substanz kritisierten und sich in Eigeninitiative um den Erhalt der verfallenden Häuser kümmerten. Die Kritik enthielt nicht selten eine politische Komponente: Sie stand für eine Kultur der ästhetischen Differenz und gelebten Distanz zur vorgeplanten sozialistischen Lebenswelt – damit einher ging ein bewusst gelebter Nonkonformismus. Zugleich entstand ein Bewusstsein, dass sich Menschen bereits in »vorsozialistischen« Zeiten erhaltenswerte Dinge schufen und ihr Leben zu gestalten wussten. Das Leben in der Oststadt mochte nicht zuletzt jenen attraktiv erscheinen, die nach Alternativen jenseits der ideologischen Bevormundung und Durchdringung der Gesellschaft suchten. Denn nicht selten prägten Hausbücher, Hausgemeinschaften und Hausbeauftragte den Wohnalltag. Sie wurden flankiert von Treppenhausreinigungsplänen sowie Aufrufen zum Subbotnik und zu anderen Arbeitseinsätzen, die die Tendenz zur Selbstkontrolle in den Häusern verstärkten. 87 Die Hinwendung zum Alten und Erhaltenswerten gestaltete sich nicht immer ganz freiwillig: Der Mangel oder die Nichtberücksichtigung bei der Wohnraumvergabe begünstigte die Entscheidung. Den Alltag im unsanierten Altbauquartier begriff manch einer als Ausdruck der eigenen Lebenssituation. Zunehmend fanden sich hier idealistische Denkmalschützer, Wohnungsbesetzer und Menschen, die sich hier eher heimisch fühlten, als in Lütten Klein und Rostock-Lichtenhagen. Ähnlich wie in Ost-Berlin der Fotograf Harald Hauswald zum Chronisten des Verfalls in einer vermeintlich stillstehenden Zeit aufstieg, protokollierte Gerhard Weber mit seiner Kamera den Umgang mit den Häusern in der Östlichen Altstadt. Die Aufnahmen des Ende 1989 in den Verband Bildender Künstler aufgenommenen Fotographen von den hier lebenden Menschen entstanden keineswegs verschämt und heimlich: In den Augen derer, die er fotografierte, gehörte er wie sie zum vom Verfall bedrohten Altstadtquartier. Wie sein Biograph Thorsten Ahrend schrieb, stellte sich manch einer von denen, die »die Flaschen« vor den »Lebensmittelgeschäften [...] kreisen« ließen, bewusst der Kamera, um »provokant selbstbewusst« zu 86 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekartei (A 5), Laufzeit 1986, Meldung der Kreisdienststelle Rostock v. 8.6.1986. 87 Vgl. hierzu: Passens, Katrin: Der Zugriff des SED-Herrschaftsapparates auf die Wohnviertel (Beiträge zur Diktaturforschung). Schönfließ/Nordbahn 2003.

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zeigen, »dat dat allens nich so is, as de doar baben sich dat vörstelln«. 88 Ab Anfang der achtziger Jahre zogen in der östlichen Altstadt die ersten Wohnungsbesetzer, mitunter auch Erhaltungswohner oder auch »Schwarzbesetzer« genannt, in leerstehende Häuser ein. 89 Waren es zunächst noch Einzelne, die es in die Lohgerber Straße, den Gerberbruch, die Faulen Straße, Plümperoder Große Wasserstraße verschlug, so stieg deren Zahl in der zweiten Hälfte der Achtziger merklich an. 90 Im Juni 1988 meldete die Bezirksverwaltung der MfS-Zentrale in Berlin, dass es einen »Konzentrationspunkt von Studenten der W.-Pieck-Universität Rostock in der östlichen Altstadt« gäbe. 91 Zusammen mit der Universitätsleitung und der Polizei sei man gegenwärtig dabei, »Maßnahmen zur [Zu]Rückdrängung der Personen aus dem Abrißgebiet« einzuleiten. 92 Besorgt habe die Abteilung XX in den Monaten zuvor registriert, dass von Studenten »leerstehende Häuser und Wohnungen [...] ohne Wohnraumzuweisung bezogen« wurden. Insgesamt »identifizierte« man »75 Studenten der W.-Pieck-Universität [...], die vorwiegend an den Sektionen Humanmedizin, Sonderschulpädagogik und Theologie immatrikuliert« seien. 93 Vierzig Studenten galten dem MfS bereits aufgrund anderer Aktivitäten als suspekt: Entweder rechnete man sie den »Vorfelderscheinungen der politischen Untergrundtätigkeit« zu, ein Verdacht, der sich durch die Wohnungsbesetzung weiter erhärtete, oder sie hatten sich an den kirchlichen Ost-West-Treffen beteiligt bzw. unterhielten Kontakte in die Bundesrepublik. 94 Doch vermochte das MfS keine Änderung in der Sache zu vermelden: Die bisher »im Zusammenwirken mit der W.-Pieck-Universität Rostock [...] eingeleiteten Maßnahmen«, so gab es Aussprachen in den Sektionen und FDJ-Gruppen, »führten«, wie das MfS nüchtern feststellte, »nicht zum Erfolg«. 95 Schuld hieran sei, wie man zu wissen glaubte, die Kommunalverwaltung, die, so der Bericht vom Sommer 1988, den »Zustand der ungesetzlichen Wohnsitznahme weiterhin duldet«. 96 Nicht alle Besetzer studierten an der Universität. Hinzu kamen Auszubildende der Medizinischen Fachschule, so Christian Utpatel in der Faulenstraße 4 oder 88 Weber, Gerhard: Fotografien. Mit einem Text von Thorsten Ahrend. Rostock 2008, S. 9 und 142. 89 Grashoff, Udo: Schwarzwohnen. Die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR. Dresden 2011, S. 94–98, 120 f. 90 Körber, Harry: Im Keller schnarchte die Katze – alternatives Altstadtleben vor der Wende. In: Ostpost. Das Magazin für die östliche Altstadt Rostocks 10 (2010) 1, S. 16 f. 91 MfS, BV Rostock, Abt. XX, an die HA XX/AKG, Rostock, 4.6.1988: BStU, MfS, HA XX, Nr. 2525, Bl. 14. 92 Ebenda. 93 MfS, BV Rostock, Abt. XX/8S, Bericht: Konzentrationspunkte von Studenten der W.-PieckUniversität Rostock in der Östlichen Altstadt, Rostock, 2.6.1988: BStU, MfS, HA XX, Nr. 2525, Bl. 15–17, hier 15. 94 Ebenda. 95 Ebenda, Bl. 16 f. 96 Ebenda, Bl. 17.

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Jugendliche, die auf dem Michaelshof in Gehlsdorf arbeiteten. 97 Die gemeinsamen Hoffeste, Feiern und die Alternativkultur standen – nach Ansicht der hier Wohnenden – für ein eigenes, selbstbestimmten Leben. Hier im Kreis der Gleichgesinnten begriff man sich zumeist als systemfern und rebellierte, wie sich der Studentenpfarrer Christoph Kleemann erinnerte, gegen »die staatlich verbriefte Kleinbürgerlichkeit«. 98 Das MfS legte den Operativvorgang »Bund« an und hoffte auf eine günstige Gelegenheit, um das »Problem« lösen zu können. 99 Suspekt erschien dem MfS besonders die sich etablierende staatsferne bis systemkritische Subkultur in einer Reihe von Häusern. Die Kneipen »Zur feuchten Geige« und »Am alten Hafen« galten inzwischen als stadtbekannte Treffpunkte. In der Faulen Straße 23, in der die Musiker der Punk-Rock-Band »Rudi Total« verkehrten und ein observierter Student wohnte, entdeckten die Staatsschützer auf dem Hof »politisch zweideutige und pazifistische« Losungen. Sprüche wie, »Ach was, bedecke deinen Mund mit einer Gehwegplatte«, »Zuviel Panzer, zu wenig Hirn« und »Gorby off all Countrys units!« waren an der Mauer zu lesen. Die Staatssicherheit ließ sie durch einen als Inoffiziellen Mitarbeiter geworbenen Kommilitonen fotografieren. 100 Von diesem Gegensatz bestimmt blieb auch die Situation in Greifswald: Abseits der vom Verfall und Abriss bedrohten Altstadt entstand südöstlich der Stadt mit Schönwalde ein Plattenbaugebiet für über 32 000 Einwohner. 101 Bestimmt waren die Wohnungen für die Beschäftigten des 1969 angesiedelten VEB Nachrichtenelektronik – eine militärisch relevante Einrichtung – und die Arbeiter des Kernkraftwerks »Bruno Leuschner« in Lubmin, das seit 1973 seinen Strom in das Hochspannungsnetz einspeiste. In Greifswald existierten Pläne, die Innenstadt weitgehend abzureißen. Man plante, die Altbauten durch modifizierte, an das Stadtbild »angepasste« Plattenbauten zu ersetzten – ein Vorhaben das, da nun kaum mehr Reparaturen erfolgten, den weiteren Verfall begünstigte. »Greifswald entwickelt sich zu einem Zentrum der Arbeiterklasse, in dem sich mit der wissenschaftlich-technischen Revolution gesetzmäßig die Konzentration strukturentscheidender Produktion ebenso wie die der Forschung und Lehre vollzieht«, hieß es Anfang 1970. Im Dezember 1969 hatte sich Walter Ulbricht vor dem Staatsrat der DDR zum »Wettbewerb

97 Zeitzeugengeninterview mit Christian Utpatel am 29. Juni 2011. 98 Grashoff, Udo: Schwarzwohnen. Die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR. Dresden 2011, S. 120 f. 99 MfS, BV Rostock, Abt. XX/8S, Bericht: Konzentrationspunkte von Studenten der W.-PieckUniversität Rostock in der Östlichen Altstadt, Rostock, 2.6.1988: BStU, MfS, HA XX, Nr. 2525, Bl. 15–17, hier 15 f. 100 Ebenda. 101 Brockhaus – Reisehandbuch. Ostseeküste mit Rostock, Stralsund, Greifswald, Wismar, Kühlungsborn und Saßnitz. 3. Aufl., Leipzig 1974, S. 260.

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Zentrum Greifswald« bekannt. 102 All dies sei der Ausdruck »einer sichtbaren Umgestaltung«. Der aufstrebenden Stadt, so wollten es die Initiatoren, sollte so ein sozialistisches Antlitz verliehen werden. 103 Nicht wenige Einwohner begrüßten die Entwicklung. Sie glaubten, so an eine der begehrten Neubauwohnungen zu kommen. Mit dem zunehmenden Verfall und der Aufgabe ganzer Häuserzeilen fanden sich auch Gegenstimmen. Wohnungssuchende Studenten und am Erhalt Interessierte zogen auch hier in die zum Abriss vorgesehenen Häuser ein. Auch hier mochte das Engagement im Ansatz zunächst unpolitisch sein. Zugleich standen die Wohnungsbesetzungen und die auf den Höfen der Altstadt stattfindenden Feste und Kunstaktionen für eine eigene Kultur. Sie verkörperten einen ästhetischen Gegenentwurf zur Euphorie der sozialistischen Stadtumgestaltung. Da es sich zumeist um Studenten handelte, folgten auch hier die entsprechenden Aussprachen an der Universität. Über deren Verlauf und die hiermit erzielte Wirkung berichtete dem MfS eine Studentin: IM »Anne Becker«. 104 Sie versprach, sich in den Besetzerkreisen über den Fortgang der Belehrungen auf dem Laufenden halten zu lassen. So erfuhr sie, dass seit Anfang 1986 an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität »an verschiedenen Sektionen eine Art schriftl[iche] Belehrung vorgenommen« werden würde, nach der »sich die Studenten [zu] verpflichten« hätten, »nicht in gesperrten Häusern zu wohnen«. 105 Doch auch hier blieb der Erfolg aus. Den Ruf, Foto-Chronist des Verfalls zu sein, erwarb sich in Greifswald Robert Conrad. 1987 war er aus politischen Gründen vom Theologiestudium exmatrikuliert worden. 106 Als Bewohner eines halb verfallenen Fachwerkhauses 102 Hüller, Helga; Räder, Hermann: Wettbewerb Zentrum Greifswald. In: Deutsche Architektur, 19 (1970) 2, S. 96–101. 103 Ebenda. Auf einen zu DDR-Zeiten in Greifswald geläufigen Spruch verweist in diesem Zusammenhang Raimund Nitzsche. »Ruinen schaffen ohne Waffen« hieß es so angesichts des Umstandes, dass Greifswald 1945 ohne nennenswerte Zerstörungen und kampflos an die Rote Armee übergeben worden war, nun aber ähnlich wie andere kriegsversehrte DDR-Städte von Plattenbauten im Stadtzentrum dominiert werden sollte. Nach: Nitzsche, Raimund: Helden, Legenden und Ruinen. Vor 60 Jahren wurde die Stadt Greifswald kampflos der Roten Armee übergeben. In: MPKZ, 60. Jg., Nr. 19, 8.5.2005, S. 1. 104 Zu IM »Anne Becker« siehe auch: Wohlrab, Lutz: Über »Lyrik«, einen Operativen Vorgang der Greifswalder Staatssicherheit. In: Conrad, Robert (Hg.): Zerfall und Abriss. Greifswald in den 1980er Jahren. 4., überarb. Aufl., Berlin 2012, S. 57–68, hier 58. 105 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Referat 2, mündlicher Bericht, Quelle: IMB »Anne Becker«, Greifswald, 12.3.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2430/87, Bd. I, Bl. 155. 106 Conrad, Robert: Meine Zeit in Greifswald – wie ich Architekturfotograf wurde. In: Conrad, Robert (Hg.): Zerfall und Abriss. Greifswald in den 1980er Jahren. 4., überarb. Aufl., Berlin 2012, S. 33–47. Antrag der Direktorin für Studienangelegenheiten, K. Witte, an den Vorsitzenden der Disziplinarkommission der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Prof. G. Hahn, auf Durchführung eines Disziplinarverfahrend gegen den Studenten der Theologie, 1. Studienjahr, Robert Conrad, (Eingangsstempel) Greifswald, 19.6.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2430/87, Bd. I, Bl. 295 f.; Beschluß der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Disziplinarkommission für Studenten, der Vorsitzende, Prof. G. Hahn, Greifswald, 29.6.1987 (ebenda), Bl. 291.

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in der Grimmer Straße zählte er zur Besetzerszene in der Hansestadt. 107 Zu Recht konnte er als einer der Anlaufpunkte in der Greifswalder Szene gelten. So engagierte er sich in der Evangelischen Studentengemeinde, beteiligte sich an der alternativen Kunstszene der Super-Acht-Filmer und rief die dadaistischen Filmabende im Rubenow-Club mit ins Leben. Anfang Dezember 1985 informierte ein IM die MfS-Kreisdienststelle über eine Zusammenkunft des Arbeitskreises »Partnertreffen« der Evangelischen Studentengemeinde. 108 Das Meeting diente der Vorbereitung des Besuches der bundesdeutschen Partnergemeinde, der Studentengemeinde aus Düsseldorf. Weil es für die bundesdeutschen Besucher einfacher war, nach Ost-Berlin mit einem Tagesvisum einzureisen als eine Genehmigung auf der Basis einer Einladung nach Greifswald zu erhalten, plante man, sich in Berlin »in einer Kirche [...] in der Nähe des S-Bahnhofes Warschauer Str[aße]« zu treffen. 109 Aus dem Bericht ihrer Informantin »Anne Becker« erfuhr die Kreisdienststelle, dass Robert Conrad »bestrebt« sei, für das Treffen »noch einen Dia-Vortrag über Greifswald zusammenzustellen«. Brisant erschien der Stasi, dass Conrad plante, den Besuchern »eine ganze Reihe von Bildern von und aus Abrißhäusern« zu präsentierten. 110 Eigentlich sollte sich der Verfall still und leise vollziehen. Schon gar nicht durfte das Thema vor einem westlichen Publikum erörtert werden. Mitte Februar meldete »Anne Becker«, dass Robert Conrad »auch am 3.2.86 Fotos von den Abrißhäusern gemacht« habe. 111 Die Diaschau ließ sich kaum noch verhindern. Am 14. Dezember 1985 präsentierte er seine Dias in Berlin. Im Frühsommer 1986 zeigte er seine Diaserie erneut vor einem deutsch-deutschen Publikum bei einem »Partnertreffen« abermals in Berlin. Robert Conrad »stellte«, so protokollierte das MfS, »im Rahmen eines Lichtbildervortrages ein die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR – speziell Greifswald – diffamierendes Bild dar«. Weiter heißt es: »Es entstand der Eindruck, daß Greifswald eine schmutzige Stadt der einstürzenden Häuser sei.« 112

107 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Eröffnungsbericht zum OV »Sammler«, Greifswald, 10.1.1986, BStU, HA XX, Nr. 17720, Bl. 1–12, hier 4. 108 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Referat 2, Tonbandabschrift, Quelle: IMB »Anne Becker«, Bericht über die Zusammenkunft des PAK der ESG, Greifswald, 12.12.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2430/87, Bd. I, Bl. 88. 109 Ebenda. 110 Ebenda. 111 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Referat 2, Tonbandabschrift, Quelle: IMB »Anne Becker«, Aktivitäten von Robert Conrad und [Name], Greifswald, 20.2.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2430/87, Bd. I, Bl. 132. 112 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Zwischenbericht zum OV »Sammler«, Reg.Nr. I/169/86, Greifswald, 25.6.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2430/87, Bd. I, Bl. 176–181, hier 178. Erschienen sind die betreffenden Fotos nach 1989 in dem Bildband von Conrad, Robert; Wohlrab, Lutz; Bernhardt, Martin: Zerfall & Abriß. Greifswald in den 1980er Jahren. 3., erw. Aufl., Berlin 2002.

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Das Mielke-Ministerium beschäftigte sich mit der Besetzerszene spätestens seit Anfang 1985. 113 Den Auslöser bildetet eine Beschwerde eines Anwohners wegen ruhestörenden Lärms am 17. Februar 1985 im »Abrißgebäude [...] Wiesenstraße 24«. Nach ihrer Rückkehr versäumte es die Polizeistreife nicht, die Staatssicherheit auf das, was man vor Ort sah, hinzuweisen. 114 Obwohl sie keinen Durchsuchungsbefehl hatten, inspizierten die am 17. Februar in die Wiesenstraße entsandten Polizisten die Wohnung, aus der der »ruhestörende Lärm« drang. Schließlich, so behaupteten die Polizisten, sei dies ein illegal besetztes Terrain. Solange kein Mietvertrag vorliege, könne es von ihnen jederzeit betreten werden. Begünstigend kam hinzu, dass der später belangte Wohnungsinhaber nicht anwesend war. Den hier in seiner Abwesenheit ausgelassen-sorglos feiernden Punks schien jede Vorsorge überflüssig. Im hinteren Zimmer entdeckten die Polizisten an der Wand ein 2,5 Meter großes Plakat. Es war nach einem Happening hängen geblieben, da man es – wie der dann inhaftierte Bewohner bestätigte – schlichtweg vergessen hatte, wieder abzunehmen. 115 Die hier in »0,5 x 0,3 m« großen Buchstaben aufgetragene Losung musste den Polizisten notgedrungen verdächtig erscheinenden: »Was lieben wir?« stand hier zu lesen, um dann fortzufahren: »Erschlagene Bullen, aufgehängte Kommunisten, zerstückelte Massen, Blut, Angst, Terror, Alkohol, oder was lieben wir? Wann haben wir endlich die Courage, Gewalt auszuüben!«. 116 Der befremdlich wirkende Text ergab aus der Sicht seines Autors durchaus einen Sinn. Wie er während der Vernehmung aussagte, habe er die Anwesenden mit der Losung »schocken« wollen. Sein Ziel sei gewesen, die Aussteiger und Punks dazu zu bewegen, »sich mit ihrer ›Außenseiterposition‹ nicht abzufinden«. 117 Die Polizei fotografierte den Text, ließ die Losung aber hängen. Auch die aus der Wohnung abziehenden Punks kümmerten sich nicht weiter um das Plakat. Der Wohnungsinhaber befand sich zum Zeitpunkt des Vorfalls im Krankenhaus. Nachdem er von der Durchsuchung erfahren hatte, bemühte er sich vergeblich, die Losung aus der Wohnung – was noch möglich gewesen wäre – verschwinden zu lassen. Erst nach Tagen, am 27. Februar, griff die Stasi ein. Der Wohnungsinhaber kam in die Untersuchungshaftanstalt des MfS. In 113 Vgl. hierzu auch das Kapitel »Die Zerschlagung des ›Greifswalder Kreises‹ ab 1985« in: Löser, Claus: Strategien der Verweigerung. Untersuchungen zum politisch-ästhetischen Gestus unangepasster filmischer Artikulationen in der Spätphase der DDR. Berlin 2011, S. 365–372. 114 MfS, BV Rostock, Abt. IX, an das MfS Berlin, HA IX/AKG, Bereich Auswertung, Erstmeldung EV/MfS, Rostock 27.2.1985, Bl. 310 f. 115 Ebenda sowie MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Protokoll über ein Gespräch mit dem Leiter des Konsistoriums der evangelischen Landeskirche Greifswald, Harder, und dem Theologen der evangelischen Landeskirche Greifswald, Dr. Plath, beim Bezirksstaatsanwalt, Rostock, 6.5.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1952/85, Bd. I, Bl. 465–469, hier 466. 116 MfS, BV Rostock, Abt. IX, an das MfS Berlin, HA IX/AKG, Bereich Auswertung, Erstmeldung EV/MfS, Rostock 27.2.1985, Bl. 310 f. 117 Ebenda.

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den Vernehmungen gab sich der Beschuldigte selbstbewusst und ließ sich, was seine Einstellungen betraf, keineswegs einschüchtern. Ausreiseantragsteller würden in der DDR, so sagte er aus, wenn sie auffällig werden, inhaftiert. Zudem gäbe es, so der Beschuldigte in der Vernehmung am 28. Februar 1985, in der DDR politische Gefangene, die »in den Haftanstalten gefoltert« würden, indem man »ihnen [...] notwendige Vitamine« entziehe. Ihm sei, bevor er davon hörte, eine solche »Verfolgung von politischen Gefangenen« nur aus »Berichten über [...] den Hitlerfaschismus und [...] Chile bekannt« gewesen. 118 In Rostock erging schließlich die Anklage: Durch das Bezirksgericht wurde er unter dem Vorwurf der »Öffentlichen Herabwürdigung« zu vier Monaten Haft verurteilt. 119 Die Situation in der Greifswalder Besetzerszene entspannte sich in den folgenden Monaten kaum. Zu Vernehmungen und Festnahmen kam es erneut, als bekannt wurde, dass am 18. Januar 1985 auf einem Dachboden während eines Happenings eine DDR-Fahne verbrannt worden war. An die 25 Jugendliche waren auf der Party zugegen. Auch diesmal erwies sich »Anne Becker« als mitteilsam wie zuverlässig. Durch sie erfuhr die Staatssicherheit von dem Vorfall. Eingeladen worden war zu einer Premiere eines Samisdat-Buches, das der Medizinstudent Lutz Wohlrab und der Krankenpfleger Dietrich Buhrow auf einer Wäschemangel produziert hatten. 120 Die Laudatio auf das Buch »FHUNDE und Gedichte von Fukarek« hielt ihr Freund Martin Bernhardt. Der »Schwarzdruck«, so lautete das Fazit des MfS, sei »für sie [eine] günstige Form der Vervielfältigung«. Als Ergebnis entstanden Kunstdrucke, das MfS sprach von »nichtgenehmigten Druckerzeugnissen in Auflagenhöhe von 20– 100 Exemplaren«, die mit den entsprechenden zweideutigen wie kritischen Texten versehen worden waren. 121 Vor ihrer Entzündung war die Fahne laut »Anne Becker« mit blauer Farbe »verunstaltet« worden. Begleitet wurde das Spektakel von spontan zusammengestellten Textcollagen und Liedgesängen. Während die Fahne langsam ver118 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten [Name], Rostock, 28.2.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1952/85, Bl. 339–341, hier 340. 119 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Eröffnungsbericht zum OV »Sammler«, Bearbeitungsrichtung § 106 StGB, Greifswald, 10.1.1986, BStU, HA XX, Nr. 17720, Bl. 1–12, hier 8; Zeitzeugengespräch mit Robert Conrad, Berlin, den 1.8.2011. 120 Wohlrab, Lutz: Heimatkunde. In: Ders.; Conrad, Robert; Bernhardt, Martin: Zerfall & Abriß. Greifswald in den 1980er Jahren. 3., erw. Aufl., Berlin 2002, S. 29–50, hier 38–46. 121 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Referat 2, Abschlussbericht zur OPK »Lyrik«, Greifswald, 23.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 2783/85, Bd. II, Bl. 313–319, hier 318; Zeitzeugengespräch mit Robert Conrad, Berlin, den 1.8.2011; MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Protokoll über ein Gespräch mit dem Leiter des Konsistoriums der evangelischen Landeskirche Greifswald, Harder, und dem Theologen der evangelischen Landeskirche Greifswald, Dr. Plath, beim Bezirksstaatsanwalt, Rostock, 6.5.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1952/85, Bd. I, Bl. 465–469, hier 466.

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kohlte, sang man gemeinsam die Liedzeilen »Brüder seht die rote Fahne.« 122 Weiter wusste »Anne Becker« den Staatsschützern zu berichten: 123 »Mehrere Personen fielen mit ein in den Gesang, wobei statt ›... weht euch kühn voran‹ [...] ›brennt euch ...‹ und statt ›Freiheit oder Tod‹ [...] ›Asche und Glut‹ gesungen wurde«. Einer der dann Inhaftierten »stellte sich [...] mit der brennenden Fahne in denkmalähnlicher Positur auf und demonstrierte den Rot-FrontKämpfer-Gruß«. 124 Die folgenden Vernehmungen dienten nicht nur der Aufklärung der Fahnenverbrennung. Das MfS nutzte sie zugleich zur Einschüchterung und Ausspähung der Greifswalder Besetzer- und Aussteigerszene insgesamt. Jene galt der SED und dem MfS seit geraumer Zeit als suspekt: Nach einer ausgelassenen Geburtstagsfeier im Besetzermilieu klebten Unbekannte, aber offensichtlich aus dieser Szene stammende »Täter«, in der Nacht vom 11. auf den 12. November mehrere A-4-Plakate, so einer der Beteiligten, »an die Wände der Stadt«. 125 Zuvor war bekannt geworden, dass die Stadtverwaltung Jo Jastram, den Schöpfer des ersten Karl-Marx-Denkmals auf afrikanischen Boden in Addis Abeba, beauftragt hatte, auf dem Markplatz einen »Brunnen der Lebensfreude« zu errichten. Einen solchen »Brunnen der Lebensfreude« gab es bereits auf dem Universitätsplatz in Rostock. Aufgrund seiner allegorischen wie körperbetonten Darstellungen und als in Bronze gegossener Leitsatz von der entwickelten sozialistischen Gesellschaft wurde er im Volksmund geringschätzig »Pornobrunnen« genannt. 126 Ein solcher Brunnen sollte nun den historischen Marktplatz in Greifswald »verunstalten«. »Bürger! Brauchen wir einen Brunnen auf dem Markt? Ihr habt Mitspracherechte!« stand so auf dem von Dietrich Buhrow gestalteten Plakaten, die bis zum Morgengrauen entfernt wurden. 127

122 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Protokoll über ein Gespräch, ebenda , Bl. 467. 123 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Referat 2, Abschlussbericht zur OPK »Lyrik«, Greifswald, 23.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 2783/85, Bl. 313–319, hier 316. 124 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Protokoll über ein Gespräch mit dem Leiter des Konsistoriums der evangelischen Landeskirche Greifswald, Harder, und dem Theologen der evangelischen Landeskirche Greifswald, Dr. Plath, beim Bezirksstaatsanwalt, Rostock, 6.5.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1952/85, Bd. I, Bl. 465–469; MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Schlußbericht, Rostock, 6.5.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2114/85, HA, Bd. I, Bl. 42–52, hier 48 f.; MfS, BV Rostock, Information über die Einhaltung von Ermittlungsverfahren gegen [Name], [Vorname] und [Name], Rostock, 22.4.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2114/85, GA/ASt, Bd. V, Bl. 159–168, hier 161 f. 125 Wohlrab, Lutz: Heimatkunde. In: Ders.; Conrad, Robert; Bernhardt, Martin: Zerfall & Abriß. Greifswald in den 1980er Jahren. 3., erw. Aufl., Berlin 2002, S. 29–50, hier 36–39. 126 Zeitzeugengespräch mit Christoph Kleemann, Behnkenhagen, 16. September 2011. 127 Die Auftragserteilung an Jo Jastram durch den Rat der Stadt erfolgte 1985. 1999 wurden Teile des in Auftrag gegebenen Brunnens als »Fischerbrunnen«, unter anderem mitfinanziert durch die Stiftung Kulturfonds, durch Jo Jastram hinter dem Rathaus aufgestellt. Vgl. hierzu: Wohlrab, Lutz: Heimatkunde. In: Ders.; Conrad, Robert; Bernhardt, Martin: Zerfall & Abriß. Greifswald in den 1980er Jahren. 3., erw. Aufl., Berlin 2002, S. 29–50, hier 38–46.

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Verschiedenes lastete so auf den Ermittlungen nach der Fahnenverbrennung vom 18. Januar 1985: Neben dem unaufgeklärten Protest gegen den Brunnen auf dem Markt rief die Virulenz der Greifswalder Szene, die sich zwischen der Evangelischen Studentengemeinde, dem Besetzermilieu und der Alternativkünstlergruppe herausbildete, den Unmut der Staatsmacht hervor. Drei Monate vergingen, bis das MfS mehrere Teilnehmer der Feier frühmorgens »zuführte« und bis zu vierzehn Stunden verhörte. Bei den parallel hierzu angesetzten Wohnungsdurchsuchungen beschlagnahmte man die Wäschemangel, Grafiken, persönliche Notizen, Fotos und Briefe. Zugleich diente die Aktion der Verunsicherung und Einschüchterung. Lutz Wohlrab erinnert sich an den ersten Tag seines Verhörs wie folgt: »In der Nacht hörte ich, wie im Nebenraum Robert Conrad geschlagen und mehrmals gegen einen Schrank gestoßen wurde. Laut wurde er aufgefordert, endlich darüber zu reden, wie die Fahne brannte, wie sie stank. [...] Meine Reaktionen überwachte stumm grinsend eine furchteinflößende Gestalt. Heute weiß ich, dass Robert nicht geschlagen wurde. Solche Inszenierungen gehörten zur psychologischen Folter.« 128

Das MfS arbeitete im betreffenden Fall eng mit der Nationalen Volksarmee zusammen. Lutz Wohlrab absolvierte als Medizinstudent zu jenem Zeitpunkt das obligatorische militärmedizinische Praktikum in Eggesin. Hier erfolgte seine Festnahme. Damit die Zeit reichte, um ihn über den ersten Tag seiner Vernehmung hinaus verhören zu können, half die NVA dem MfS aus. »Der Kommandeur des Fla-Raketen-Regiments 9« belegte Lutz Wohlrab mit einem fünftägigen und – da kein Vergehen vorlag – in der Sache unbegründeten Arrest. Zugleich »lieh« er den so festgesetzten Medizinstudenten für die Zeit an die Staatssicherheit aus: Er vereinbarte mit dem MfS und in Abstimmung mit dem Militärstaatsanwalt, dass Lutz Wohlrab den Arrest »vom 9.4.–14.4.1985 in der Abt. XIV der BV Rostock« verbringen solle. 129 De facto bedeutete dies, dass er von Greifswald aus mit einem Pkw der Marke Lada in die MfSUntersuchungshaftanstalt nach Rostock überstellt wurde. Hier befanden sich bereits Dietrich Buhrow und Martin Bernhardt. 130 Als perfide erwies sich das Vorgehen: Dass die Einlieferung in die Untersuchungshaft im Rahmen eines vom Kommandeur verhängten Arrestes erfolgte, ahnte keiner der Betroffenen. Auch Lutz Wohlrab wurde über den über die »DV [Dienstverordnung] 010/0/006 Ziff[er] 64 c« abgesicherten Kunstgriff und die »Entleihung« an das MfS nicht informiert. Vielmehr behandelte man ihn wie einen gewöhnlichen 128 Ebenda. 129 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Referat 2, Abschlussbericht zur OPK »Lyrik«, Greifswald, 23.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 2783/85, Bl. 313–319, hier 318. 130 Wohlrab, Lutz: Heimatkunde. In: Ders.; Conrad, Robert; Bernhardt, Martin: Zerfall & Abriß. Greifswald in den 1980er Jahren. 3., erw. Aufl., Berlin 2002, S. 29–50, hier 38–46.

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Untersuchungshäftling. Auch ließ man ihn in diesen Glauben. Doch wurde er nicht dem Haftrichter vorgeführt, sondern sollte als Zeuge aussagen. Nach fünf Tagen erfolgte für Lutz Wohlrab völlig unerwartet die Entlassung nach Eggesin. Die militärmedizinische Ausbildung wurde für ihn sofort abgebrochen. 131 Wohlrab durfte unverhofft nach Greifswald zurückkehren. Hier konnte sich niemand erklären, warum Dietrich Buhrow und Martin Bernhardt weiterhin in der Untersuchungshaft einsaßen, der dritte im Bunde sich jedoch auf freiem Fuß befand. Eine Antwort liefert der Abschlußbericht: Während Lutz Wohlrab noch in der U-Haft »ein renitentes Verhalten« an den Tag legte und »bewußt falsche Aussagen machte« [W. war »nicht gewillt, ernsthaft zur Wahrheitsfindung beizutragen«], räumten die beiden die Tat bald ein. 132 Wenig beeindruckt zeigte sich die Untersuchungsabteilung, dass sich beide herauszureden versuchten. Sie räumten ihre Beteiligung an dem Geschehen zwar ein, bestanden jedoch darauf, dass »der Zustand der Fahne [...] kaum noch ihren Symbolcharakter erkennen« ließ. 133 Über »Anne Becker« hatte das MfS bereits von der Strategie erfahren: Gut zwei Wochen vor der Festnahme berichtete sie ihrem Führungsoffizier von der Argumentation, die sich die beiden, in der Hoffnung, hiermit im Ernstfall Erfolg zu haben, zurechtgelegt hatten. Bei einem zufälligen Treffen auf der Straße erzählte ihr einer der beiden, dass man zu behaupten beabsichtige, »nicht gewusst« zu haben, »dass es sich um eine Fahne handelte«. Man hielt jene vielmehr für »ein Stück Stoff« bzw. einen »Lumpen«. 134 Beim MfS stieß diese Art des Humors kaum auf Gegenliebe. Die kecke Begründung bestärkt die Ermittler noch in ihrem Verfolgungseifer, es hier mit eingeschworenen DDR-Feinden zu tun haben zu müssen. Ebenso führten die in der Vernehmung ersonnene Variante, man habe »die DDR-Fahne mit einem blauen Farbkreuz versehen, dann im Rahmen einer Performance« bedruckt und »schließlich [...] beseitigt« bzw. lediglich »in Ermangelung eines Putzlappens« ausgelaufene Farbe »mit der Fahne aufgewischt« kaum zur Entspannung der Situation. 135 Die Staatsanwaltschaft des Bezirkes Rostock verurteilte die beiden Aktionskünstler Anfang Mai 1985 zu je fünf Monaten Haft. Die ihnen auferlegte Sanktion sollte als Abschreckung zugleich die gesamte Greifswalder Szene treffen. Unter widrigen Bedingungen mussten sie die Zeit im Haftarbeitslager 131 Ebenda. 132 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Referat 2, Abschlussbericht zur OPK »Lyrik«, Greifswald, 23.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 2783/85, Bl. 313–319, hier 318. 133 Handschriftliche Erklärung von Martin Bernhardt, 9.4.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2114/85, GA/ASt, Bd. V, Bl. 176. 134 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Referat 2, mündlicher Bericht, Quelle: IMB »Anne Becker«, Greifswald, 20.3.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2430/87, Bd. I, Bl. 124. Vgl. hierzu auch: Wohlrab, Lutz: Heimatkunde. In: Ders.; Conrad, Robert; Bernhardt, Martin: Zerfall & Abriß. Greifswald in den 1980er Jahren. 3., erw. Aufl., Berlin 2002, S. 29–50, hier 42. 135 Wohlrab: Heimatkunde (ebenda).

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der Werft Stralsund verbringen. 136 Um ihre Solidarität mit den Inhaftierten zu bekunden, luden mehrere Freunde die Greifswalder Szene am 21. Mai 1985 zu einem Hoffest ein. Laut »Anne Becker« begründete Robert Conrad, einer der Initiatoren, die Einladung »mit dem Bestreben, ›die Tradition der Bernhardt'schen Hoffeste‹« nach dessen Inhaftierung »nicht abreißen zu lassen«. 137 Der Einladung folgten etwa dreißig zumeist Jugendliche. Ebenso erschien auch der im Operativvorgang »Apostel« vom MfS bespitzelte Studentenpfarrer Harro Lucht. Gezeigt werden sollten an dem Abend Lichtbilder, die, neben den bekannten Aufnahmen von der zerfallenden Altstadt, an die Inhaftierten erinnerten. Laut »Anne Becker« verharrten »die Anwesenden« während des Vortrages »in einer Art ›Gedächtnisrunde‹« – der IM charakterisierte die Stimmung als »andächtig«. 138 Zuvor hatten sich am 17. Mai 1985 dreizehn Freunde der Inhaftierten in der Burgstraße 4a verabredet. Im Laufe des Abends wurden nach Erkenntnis der MfS-Kreisdienststelle »Gedichte des Bernhardt, Martin vorgetragen, um so der Inhaftierten zu ›gedenken‹«. 139 Das von Martin Bernhardt stammende und auch auf dem Hoffest vorgetragene Gedicht »Auf Hiddensee« mochte den letzten Beweis dafür liefern, wen man hier inhaftiert hatte. Es drückte aus, was die meisten der hier Versammelten empfanden. Nicht umsonst befand sich eine Abschrift in der Gerichtsakte des Angeklagten: »Ich sitze im Sand verschmolzen | zu einem Stein umspülen die Wellen meine Füße«, beginnt Martin Bernhardt sein Gedicht, in dem es weiter heißt: »Sturmmöwen kreisen über mir [...] Vor mir liegt im Schoße des Meeres eingebettet die Küste Dänemarks | greifbar nahe | fast greifbar nahe. || Es sind viele weggegangen in diese Richtung [...] Gegangen worden wie | Tropfen roten Blutes aus klaffenden Wunden | sickernd dann verlaufend | verurteilt genommen | den Sinn | Notwendigkeit zur Reinigung der Wunde? [...] Tropfen zum Strom, Angst vor eigenem Blut | Bis dann die Hoffnung stirbt an der Lüge || Ich stehe am Ufer | den Blick in die Ferne gerichtet | höre das Donnern der Brandung | Wellen, die der Wind schlug | die im Sande verlaufen [...] | Wenn die Scheinwerfer | der Grenzboote | das Meer absuchen, nachts | sehe ich in Gedanken | ihre Rücklichter« 140

Auch gegen das Hoffest sollte im Folgenden vorgegangen werden. Die Veranstaltungsverordnung bot angesichts der fehlenden Anmeldung den Vorwand, 136 Zeitzeugengespräch mit Robert Conrad, Berlin, den 8.9.2011. 137 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Information über Reaktionen der im OV Aussteiger«, OPK »Lyrik« und OPK »Summe« bearbeiteten Personen auf den Abschluß der Ermittlungsverfahren gegen [Name], [Vorname] und [Name], Greifswald, 30.5.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2430/87, Bd. I, Bl. 46–48, hier 46. 138 Ebenda. 139 Ebenda, Bl. 47. 140 Abschrift Gedicht von Martin Bernhardt, »Auf Hiddensee«: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2114/85, GA/ASt, Bd. V, Bl. 169 f.

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um gegen jene Form der Solidarisierung vorzugehen. Die MfSKreisdienststelle Greifswald kam mit der Abteilung Erlaubniswesen der Volkspolizei überein, nach der »Offizialisierung des ›Hoffestes [...] ordnungsstrafrechtliche Maßnahmen« gegen eine im Haus lebende Frau einzuleiten. 141 Aber auch anderweitig zielte man auf einen weitergehenden Disziplinierungseffekt: Während einer »öffentlichen Aussprache« in der Greifswalder Mensa, zu der die FDJ aufgerufen hatte, wurden das Happening der Künstlergruppe »ausgewertet« und den Anwesenden als »abschreckendes Beispiel« präsentiert. Weitere »Aussprachen«, so in der FDJ-Gruppen der Zentralapotheke und der Schwesternschule, folgten. Laut einem IM-Bericht kritisierten besonders eifrige FDJler unter den Medizinstudenten, »die Entscheidung, beiden den Abschluß der Ausbildung zu gestatten«. Andere »drückten« ihre »Schadenfreude aus, endlich hätte es einmal die Richtigen erwischt«. 142 Neid und Missgunst schienen noch vor der politischen Überzeugung die Triebkräfte hierfür zu sein. So brauche man sich »in der FDJ-Arbeit« nicht länger »abmühen«, lautete eines der Argumente, wenn jenen, die die politischen Vorgaben verletzten, das Weiterstudium gestattet werde: »es nützt ja doch nichts, wenn ich den nötigen Rückhalt habe, kann ich auch kriminell werden«, so eine der schlichten Wortmeldungen aus dem Kreis der zukünftigen DDRDienstelite. 143 Am 24. Mai teilte der »Prorektor für Erziehung und Ausbildung«, Professor Günter Wegner, Lutz Wohlrab schriftlich mit, dass er »mit sofortiger Wirkung« vom Studium suspendiert sei. Als Grund gab Wegner Wohlrabs Teilnahme am Happening und die Fahnenverbrennung an. Am 11. Juni hatte sich Wohlrab einem Disziplinarverfahren zu stellen. Das Gremium unter Leitung von Professor Gerhard Hahn und unter Mitwirkung der Medizin-Professoren Burkhard Wedler und Manfred Pambor sowie des Seminargruppenbetreuers Dr. Günter Seidlitz und mehrerer FDJ-Funktionäre verfügte einstimmig Wohlrabs Ausschluss vom Studium für drei Jahre. Verbunden blieb dies mit der Auflage, sich in der Produktion in einer medizinischen Einrichtung außerhalb von Greifswald zu bewähren. Zuvor hatte sich Professor Wedler eingehend über die »politische Unreife« des Studenten ausgelassen. Professor Hahn sprang seinem Kollegen in seinem Plädoyer bei und monierte, dass sich Wohlrab nicht »von den Tätern der staatsfeindlichen Handlungen zu distanzieren« 141 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Information über Reaktionen der im OV Aussteiger«, OPK »Lyrik« und OPK »Summe« bearbeiteten Personen auf den Abschluß der Ermittlungsverfahren gegen [Name], [Vorname] und [Name], Greifswald, 30.5.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2430/87, Bd. I, Bl. 46–48, hier 48. 142 Wohlrab, Lutz: Heimatkunde. In: Ders.; Conrad, Robert; Bernhardt, Martin: Zerfall & Abriß. Greifswald in den 1980er Jahren. 3., erw. Aufl., Berlin 2002, S. 29–50, hier 46: BStU, MfS, AOPK 2783/85, (11.7.1985), Bl. 311 f. 143 Wohlrab, Lutz: Heimatkunde (ebenda).

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gedenke. Hahn kritisierte, dass er diese »nach wie vor als seine Freunde bezeichnet«. 144 Das von der SED ersonnene System der selbstverwalteten Disziplinierung funktionierte. Auch das MfS brauchte den weiteren Verlauf nur noch aus der Distanz zu verfolgen. Bei dem von der Universität »realisierten Disziplinierungsverfahren«, konstatierte das MfS abschließend, »gegen W., trat dieser wie gegenüber dem Untersuchungsorgan renitent in Erscheinung und zeigte sich uneinsichtig«. 145 Martin Bernhardt, der ebenfalls Medizin studierte, musste sich nach seiner Haftentlassung einem ähnlichen Verfahren unterziehen, das ebenso mit seinem dreijährigen Ausschluss vom Studium endete. 146 4.1.4 Motivsuche: »We can be heroes just for one day [...] We could be heroes just for one day« Die Widerstandsforschung wandte sich bislang bevorzugt zwei Gruppen von Widerstandsleistenden zu: Den dem System ablehnend gegenüber Eingestellten zum Beispiel aus dem bürgerlichen und kirchlichen Milieu. Zumeist handelte es sich um Menschen, die sich bewusst zum Widerstand entschlossen und gegen den SED-Staat opponierten. Hinzu kamen die im Laufe eines Absetzprozesses zu Renegaten, Dissidenten oder schließlich zu Oppositionellen Gewordenen aus dem Kreis der ehemaligen Systemgefolgschaft. Aus ideologischer Überzeugung oder aus Staatsraison hatten sie dem SED-Staat zunächst gedient, lehnten sich jedoch später gegen diesen auf oder fielen in Ungnade. Beide Gruppen hatten eines gemeinsam. Zumeist lagen konzeptionellinhaltliche Vorstellungen vor, warum man sich dem SED-Staat entgegenstellte. Ein Teil der so Engagierten setzte sich mit den Beweggründe eingehend auseinander und reflektierte über die sich hieraus ergebenden Handlungen. Da dies auch in schriftlicher Form geschah und in Konzepten und im Samisdat über gangbare Wege debattiert wurde, liegt für die Widerstandsforschung eine gut auswertbare Quelle vor. Hinzu kamen nach 1990 autobiographisch geprägte Beiträge. Die konzeptuellen Überlegungen und schriftlichen Debatten zu den Lehrprozessen bei der Erprobung des oppositionellen Handelns zogen das Interesse auf sich, weil sich hier plastisch aufzeigen ließ, was jene bewegte, die sich oppositionell betätigten. Weniger Beachtung kam aus Ermangelung entsprechender Zeugnisse denen zuteil, die situationsbezogen reaktiv handelten und dem System in dieser Form trotzten. 144 Ebenda sowie BStU, MfS, AOPK 2783/85, (11.6.1985), Bl. 172. Als Grundlage für das Verfahren diente die »Anordnung über die disziplinarische und materielle Verantwortlichkeit von Studierenden an den Hoch- und Fachschulen – Disziplinarordnung – vom 10. Juni 1977. 145 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Referat 2, Abschlussbericht zur OPK »Lyrik«, Greifswald, 23.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 2783/85, Bl. 313–319, hier 319. 146 Ebenda.

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So gab es immer auch Menschen, die die landläufigen Vorgaben, was als »normal zu gelten habe«, nicht akzeptierten und situationsbezogen spontan reagierten. Welcher Einfluss der Macht des Normativen im Alltag zukam, verdeutlich ein IM-Bericht vom November 1983. Der zur geheimpolizeilichen Überwachung eingesetzte Jugendliche gab eine Diskussion wieder, die sich in einer Jungen Gemeinde fünfzig Kilometer südlich von Rostock abspielte. Den Hintergrund bildete die Stationierung von sowjetischen SS-20 Mittelstreckenraketen in der DDR im Herbst 1983. Diskutiert wurde bei dem Treffen laut IM-Bericht über die Reaktionen »in den Schulen und Betrieben« der Stadt nach der »Erklärung [...] des Nationalen Verteidigungsrates [...] zur [...] Stationierung operativ-taktischer Raketen« auf dem Gebiet der DDR«. 147 Die Stationierung erfolgte auch an mehreren Standorten im Norden der DDR, so in Warenshof und Wokuhl. An ihrer Schule, so berichtete eine Abiturientin, »gab es zu diesem Problem eine gewollte Diskussion, die durch den Lehrkörper überwacht wurde«. 148 Alle Schüler hätten sich »positiv und zustimmend« geäußert. Während der anschließenden Pause offenbarte sich, was ein Teil der Schüler tatsächlich dachte, in Gegenwart der Lehrer sich jedoch nicht zu sagen traute. Zu groß war die Angst vor den drohenden Sanktionen. In den »kleineren Gesprächsrunden unter den Schülern«, so die Abiturientin, kam »zum Ausdruck, daß sie diese [Stationierung] ablehnen.« Selbst der »Agi/PropSekretär der FDJ-Gruppe« habe seine Mitschüler entgegen der von ihm im Unterricht vertretenen Position »in dieser Meinung ermutigt«. 149 Kein Schüler, so fasste die Teilnehmerin des Junge-Gemeinde-Treffens die Situation an der Erweiterten Oberschule zusammen, würde sich ernsthaft trauen, »seine wahre Meinung zu sagen, weil er anschließend eine entsprechende Reaktion durch den Lehrkörper zu erwarten hat, wenn seine Meinung nicht die Meinung des Direktors und der Lehrer ist«. Wer umsichtig genug war, hielt sich in einer solchen Situation zurück, »um nicht irgendwo anzuecken«; man wisse, dass man seine wahre Meinung, sofern sie von der der Lehrer abwich, lieber für sich behielt, schließlich sei man als Abiturient »klug genug«, dies nicht zu tun, so die landläufig Ansicht. 150 Auch an anderen Orten spielte sich Vergleichbares ab. »In ihren Betrieb«, berichtete eine Verkäuferin, erschien eine Abordnung der Kreisleitung der SED, »die zu diesem Problem gesprochen« habe. »Keiner der Anwesenden« habe »sich jedoch [...] getraut, seine Meinung zu sagen«. 151 Anschließend fanden sich »die Kollegen in kleineren Gruppen« zusammen. Unbeobachtet von den SED-Funktionären »kam« in den Gesprä147 MfS, BV Neubrandenburg, KD Teterow, Auszug aus IM-Bericht vom 8.11.1983, Teterow, 14.12.1983: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, ZMA, Nr. 3691, Bl. 64 148 Ebenda. 149 Ebenda. 150 Ebenda. 151 Ebenda, Bl. 65.

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chen, so die Verkäuferin weiter, »größtenteils eine ablehnende Haltung bzw. Unverständnis [über den Stationierungsbeschluss] zum Ausdruck«. 152 Auffällig wurden demgegenüber Menschen, die nicht das nötige Maß an Opportunismus und Anpassung aufbrachten oder die Skurrilität einer Situation nicht ertrugen und die politischen Konventionen durchbrachen. »In ihrem Betrieb«, so eine junge Krippenerzieherin, hätten alle Angestellten, in der obligatorischen Politschulung »versucht, drum herum zu reden«. 153 Als »ihr das alles zu viel wurde«, habe »sie ihren Mund zuerst geöffnet und im Betrieb verlauten lassen, daß sie sich mit diesem Schritt« der DDR-Regierung »nicht einverstanden erklärt, weil dies in eine ›Wahnsinnsrüstung‹ münden kann«. 154 Schnell wurde klar, dass es sich bei derlei Aussprachen nicht um Foren der freien Meinungsäußerung handelte. »Von Seiten der Leitung der Einrichtung«, so berichtete die Kindergärtnerin den anderen Mitgliedern der Jungen Gemeinde, sei »ihr dann verboten« worden, sich »in solcher Form« zu »diesem Problem« zu äußern. Wenig später folgte eine jener Schikanen, mit denen jeder, der sich nicht an das als normal Geltende hielt, rechnen musste. Die Leitung der Kinderkombination bestellte sie ein und informierte sie, dass sie demnächst aus der Kreisstadt abgezogen und in einer Krippe im Umland eingesetzt werden würde. Anstelle des fünfminütigen Arbeitsweges müsse sie zukünftig einen Anfahrtsweg von dreizehn Kilometer in Kauf nehmen. 155 Das Vorgehen lege die Vermutung nahe, resümierte die auf diesem Weg für ihre abweichende Position Bestrafte, »daß ihre politische Meinungsäußerung der ausschlaggebende Punkt« für die Versetzung gewesen sei. Bei ihr entstehe der Eindruck, so die Kindergärtnerin weiter, »daß man sie versucht abzuschieben«. Weder fand sich jemand im Betrieb, der sich traute, sie in ihrer Kritik zu unterstützen. Noch solidarisierte sich eine ihrer Kolleginnen mit ihr. Ihre Kolleginnen kritisierten sie vielmehr: Mit ihren offenen Worten habe sie sich außerhalb der allseits bekannten Norm positioniert; wenn sie das, was von ihr gefordert worden sei, verweigere, so die einhellige Meinung, so stelle sie sich außerhalb des Kollektivs und müsse auch die Konsequenzen für sich alleine tragen. 156 Von den Reaktionen der Menschen vor Ort zeugt auch ein Vorfall, der sich Ende 1986 im westlichen Mecklenburg ereignete. Keineswegs waren, wie es rückblickend oft scheint, die meisten DDR-Bewohner »Widerständler«. Wer Widerstand leistete, stand, dies zeigt dieses Beispiel, allzu oft isoliert da: Am 3. Dezember 1986 protestierte der Pfarrer von Lancken, Gerhard Homuth, in der Zeit »von 10.45 bis 10.55 [...] im Stadtgebiet von Parchim« gegen das 152 153 154 155 156

Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

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SED-Regime. Sein Plakat trug die Aufschrift »Schluß mit dem Krieg gegen uns. Keine Morde mehr an der Mauer«. 157 Nach eigenem Bekunden wollte der lutherische Protestant so auf die Veröffentlichungen im Neuen Deutschland »zum 40. Jahrestag der Grenztruppen der DDR« reagieren. 158 Zuvor hatte es drei Tote an der Mauer gegeben. 159 Gerhard Homuth schaffte es mit seinem 75 x 110 cm großen Plakat, dass er an einem 1,80 m langen Holzstiel befestigt hatte, grade mal 1 000 Meter durch die Innerstadt – vom Mühlenberg über den Platz der Arbeit zur Philipp-Müller-Straße und zurück. Gleich zwei Passanten, der FDGB-Kreisvorsitzende und ein Ingenieur aus dem Hydraulikwerk, riefen innerhalb kürzester Zeit »unabhängig voneinander« in der MfSKreisdienststelle an und meldeten den Vorfall. 160 Zahlreiche Schaulustige verfolgten den Vorfall aus sicherer Distanz. Nach Aussage der später vernommenen Zeugen reagierten sie »irgendwie verdutzt« und »schockiert«. Während eine Frau in der Befragung aussagte, »ansonsten [...] am Verhalten dieses Mannes keine Auffälligkeiten« festgestellt zu haben, gab eine Mitarbeiterin der Kreishygieneinspektion zu Protokoll, der Ansicht zu sein, »daß diese Person geistesgestört« sein müsse. Bestätigt sah sie sich durch ihre Arbeitskollegin. Eine ältere Frau äußerte beim Anblick des Demonstranten laut vernehmbar, »dass die Person ›wohl spinne‹«. 161 Zwei später als Zeugen befragte Eheleute räumten ein, dem Plakat mit gewissem Abstand gefolgt zu sein. Während die Frau im »Haus des Herrn« Einkäufe erledigte, beobachtet der Mann den Demonstranten aus sicherer Entfernung. Er wartet ab, was wohl geschehen würde. So wurde er zugleich Zeuge der Festnahme. Kein Passant gab sich als Sympathisant von Gerhard Homuth zu erkennen. Solidarität war in solchen Situationen in der DDR stets ein seltenes Gut. Darüber hinaus sah sich Gerhard Homuth innerkirchlich mit einer Reihe von Vorwürfen konfrontiert. Bereits während der Vernehmungen wurden ihm diese genüsslich präsentiert. Die staatlichen Vertreter erfuhren so beizeiten, dass Homuths Vorgesetzter die Aktion missbilligte. Landessuperintendent Horst Blanck teilte dem Stellvertreter für Inneres beim Rat des Kreises mit, dass er davon ausgehe, dass die am Konvent »teilnehmenden Pastoren das Verhalten von Homuth einmütig ab157 MfS, BV Schwerin, Abt. IX, Meldung an die Hauptabteilung IX vom 3.12.1986, Provokatorische Demonstrativhandlung durch einen evangelischen Pfarrer in Parchim/Schwerin: BStU, MfS, HA IX, Nr. 2101, Bl. 49. 158 Ebenda. 159 Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 227. 160 MfS, BV Schwerin, Information Nr. 208/84 über eine Demonstrativhandlung im Stadtgebiet von Parchim, Schwerin, 3.12.1986: BStU, MfS, BV Schwerin, AU 578/87, Bd. I, Bl. 37–40, hier 38. 161 MfS, BV Schwerin, Untersuchungsabteilung, Vernehmungsprotokoll: BStU, MfS, BV Schwerin, AU 578/87, Gerichtsakte, [Name], [Vorname], Bl. 46–49, hier 48; Vernehmungsprotokoll, ebenda, Bl. 54–57, hier 57; Vernehmungsprotokoll, ebenda Bl. 62–64, hier 64.

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lehnen, da [...] solche Probleme im Gruppengespräch oder in einer anderen, geeigneteren Form zu klären« seien. 162 Blanck distanzierte sich von der Aktion. Er erklärte entschuldigend, dass sein Pfarrkollege häufig »zu unüberlegten und spontanen Handlungen« neige und bedauerte ausdrücklich, dass »dadurch das Verhältnis Staat-Kirche belastet werde«. 163 All dem konnte ein taktisches Kalkül zugrunde liegen: Der Staat mochte so glauben, hier aus einer Position der Stärke heraus entscheiden und nachsichtig sein zu können. Doch erwiesen sich die Folgen als fatal und unterstrichen die Isolation des so Gebrandmarkten. Gegen Gerhard Homuth wurde sechs Tage nach seiner Tat, am 9. Dezember 1986, »in Beachtung erhaltener zentraler Hinweise [...] ein Ermittlungsverfahren [...] eingeleitet und [...] am gleichen Tage [...] ein Strafbefehl [...] von 1 000 Mark« ausgesprochen. Der Fall hatte inzwischen auch in Berlin für Unruhe gesorgt und drohte das sensible Staat-KircheVerhältnis zu belasten. 164 Während der Staat erklärte, ausnahmsweise »Milde« walten zu lassen und von einer Inhaftierung und Verurteilung absah, versprach der Landessuperintendent, dafür sorgen zu wollen, dass Homuth seine Pfarrstelle verlässt. 165 Die staatliche Überlieferung berichtet von der »Bereitschaft, disziplinarische Maßnahmen [...] zu veranlassen und innerkirchliche Sanktionen wirksam werden zu lassen«. 166 Blancks Taktieren hatte durchaus System. Mit seiner Zusage glaubte Horst Blanck wohl auch, gegenüber dem Staat im Dienste seines Kirchenkreises als geschätzter Gesprächspartner »im Geschäft« bleiben zu können. Die Frage nach dem ob und wie und den hierbei zu wahrenden Grenzen schien ihn weniger belastet zu haben. Andere Superintendenten verhielten sich in derlei Situation auffällig distanzierter. Der als konservativ geltenden Horst Blanck zählte hingegen zu den Teilnehmern der »Schweriner Gespräche«, die die Nationale Front als eine der Vorfeldorganisationen der SED, halbjährlich in Schwerin veranstaltete. Das Ziel war es, hierfür empfängliche Pfarrer und Kirchenmitarbeiter enger an die SED zu binden. 167

162 MfS, BV Schwerin, Information Nr. 211/86 über erste Reaktionen zur Demonstrativhandlung von Pastor Homuth am 3.12.1986 im Stadtzentrum von Parchim (Erg. zur Ifo Nr. 208/86), Schwerin, 4.12.1986: BStU, MfS, BV Schwerin, AU 578/87, Bd. I, Bl. 41–44, hier 41 f. 163 Ebenda. 164 Schreiben des Generalstaatsanwaltes der DDR, 1. Stellvertreter, Berlin, Dr. Wolf, an Genossen Borchert (keine weiteren Angaben): BStU, MfS, BV Schwerin, AU 578/87, Gerichtsbeiakte, Bl. 6 f.; Strafbefehl Az. 223–1–86 des Kreisgerichtes Parchim vom 9.12.1986: BStU, MfS, BV Schwerin, AU 578/87, Gerichtsbeiakte, Bl. 8. 165 BStU, HA XX/4, Nr. 2228, Bl. 65–72. Vgl. hierzu: Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 227 166 MfS, BV Schwerin, Information Nr. 211/86 über erste Reaktionen zur Demonstrativhandlung von Pastor Homuth am 3.12.1986 im Stadtzentrum von Parchim (Erg. zur Ifo Nr. 208/86), Schwerin, 4.12.1986: BStU, MfS, BV Schwerin, AU 578/87, Bd. I, Bl. 41–44, hier 41 f. 167 Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 197.

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Warum ignorierten Menschen trotzdem die bestehenden Vorgaben und Gesetze? Wer Widerstand leistete, beanspruchte für sich ein Recht, das es in der DDR nicht gab. Wer sich so entschied, erlangte nicht nur Autonomie, sondern handelte souverän. Autonomie beinhaltet das Recht, innerhalb der bestehenden Gesetze für sich Handlungsräume bestimmen zu können. 168 Dies mochte verbunden sein mit dem Streben, den gegebenen Rahmen schrittweise auszudehnen: eine Praxis diszipliniert oppositionellen Handelns, das im Umfeld kirchlicher Gruppen beherrscht wurde und perfektioniert worden war. Wer selbst diese Vorgaben ignorierten, erlangte in der Extremsituation für sich im kurzen Moment seiner Handlung hingegen Souveränität – Souveränität über jene Menschen, Normen und Strukturen, die ihn gegen seinen Willen zum Stillhalten nötigten. Wer so handelte, stellte sich außerhalb der in der DDR vorgegebenen Normen, die den Alltag in der Diktatur erst zu dem werden ließen, was er war. Auf sie traf das zu, was der englische Sänger David Bowie in seinem Song »Heroes« 1987 mittels einer Metapher umschrieb. Der Text von »Heroes« entstand während Bowies West-Berlin Aufenthalts im Schatten der Berliner Mauer. Hier befand sich auch das Tonstudio, von dessen Fenster aus man auf den Wachturm der DDR-Grenzer blicken konnte. (»standing, by the wall [...] And the guns shot above our heads [...] And the shame was on the other side«). 169 Der Text, der »als Liebesgeschichte beginnt«, wurde »zur universalen Aussage über den Sieg der Gefühle und des Zusammenhalts über Repression und Waffen«. 170 Getragen vom rebellischen Gefühl und angesichts einer akuten Drohung überwanden die Protagonisten mit ihrem Handeln im Moment des Geschehens die herrschenden Konventionen – »We can be heroes just for one day [...] We could be heroes just for one day« sang Bowie mit eindeutig politischer Konnotation. 171 Er prägte hiermit ein Bild, das sich auch auf den Osten übertragen ließ – und, das angesichts des Handlungsortes und der politischen Assoziationen, die der Text hervorrief, auch auf der östlichen Seite der Mauer aufgegriffen wurde. Wer auf diesem Weg einmal Souveränität über die Verhältnisse erlangte, musste zugleich damit rechnen, dass die Tat geahndet und ihre Grenzen unmittelbar im Korsett strafrechtlicher Sanktionierung finden würde. Wollte die SED ihren Deutungsanspruch nicht der Lächerlichkeit preisgeben, so vermochte sie auch kaum anders zu agieren. Die Befreiung von den Zwängen war Zur Charakterisierung von Horst Blanck: Zeitzeugengespräch mit Pfarrer i.R. Christoph Kleemann, Behnkenhagen, 16.9.2011. 168 Oberreuter, Heinrich: Autonomie. In: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft. Hg. v. der Görres-Gesellschaft, 1. Bd.. 7. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 1985, Sp. 490–493; Schick, Walter: Autonomie. In: Evangelisches Staatslexikon. Hg. v. Herzog, Roman; Kunst, Hermann; Schlaich, Klaus. 3. Aufl., Stuttgart 1987, Sp. 159–162. 169 Perone, James E.: The Words and Music of David Bowie. Greenwood 2007, S. 67–69. 170 Ebenda. 171 Ebenda.

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demgegenüber zuallererst eine Sache des Augenblicks – und nicht ein Handeln, das konzeptionell wie taktisch überlegt effektiv auf die Veränderung der politischen Verhältnisse zielen musste. Der Augenblick der Souveränität wog hier schwerer als die auf die Veränderung des Systems gerichtete Planung im Diskurs oppositioneller Kreise. Doch reichte die Bedeutung, die den Schritt des unmittelbaren Aufbegehrens auszeichnete, weit über die Tat hinaus. Zum einen, weil sie in einer an die Diktatur gewöhnten Gesellschaft das Gewissen des Einzelnen gegen die normative Macht des Alltages zu mobilisieren versuchte; zum anderen, weil jene demonstrative Infragestellung des Systems dem oppositionellen Denken und Handeln jenseits der theoretischen Erörterungen wiederum Legitimität verschaffte. Auf jene Aspekte, die dem impulsiven Handeln innewohnten, verwies auch Peter Sloterdijk, indem er schreibt: »Auf den realen Bühnen gehen der Zorn, die Empörung oder die ›Bewegung‹ so gut wie immer den Ideologien voraus. Und was die kämpfenden Helden zur Erklärung ihres Handelns auch vorbringen mochten: Wo cum ira et studio gedacht wird, folgt die Erklärung der Bahn, die der Zorn schon beschreitet.« 172 Es gehörte zur Dynamik, die häufig aus anfangs reaktiven Widerstandshandlungen erwuchs, dass innerhalb kurzer Zeit das System als Ganzes infrage gestellt wurde. Wer sich in einem Punkt dem System entgegenstellt, erkannt mitunter schnell, dass der kürzeste Ausweg aus seinem Dilemma, dass sich mit der Protesthandlung weiter vertiefte, der Ausstieg aus dem SED-System insgesamt war. 4.1.5 Herkunft: »Elternhaus und Schule«? Welche Rolle spielte die Herkunft bei denen, die Widerspruch und Widerstand leisteten? Häufig wurde explizit nach der sozialen Herkunft der Handelnden gefragt, um zu erklären, warum sich wer in einer Friedens-, Umweltoder Menschenrechtsgruppe engagierte. 173 Demgegenüber soll hier davon ausgegangen werden, dass es neben den Prägungen des Elternhauses und der Schichtzugehörigkeit andere einflussmächtige Faktoren gab. Jene konnten ebenso den Ausschlag für die weitere Entwicklung geben. Hierzu zählten Bekannte und Freunde und die von diesen vermittelten alternativen bis systemkritischen Leitbilder. Des Weiteren kam als konkurrierendes Identifikationsangebot die durch westliche Radiosender und auf Tonträgern verbreitete neue Jugend- und Musikkultur hinzu. Auch sahen sich Heranwachsende in der 172 Sloterdijk, Peter: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt/M. 2006, S. 186. 173 Vgl. so u. a. Pollack, Detlef: Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen in der DDR. Opladen 2000, sowie Ders.; Rink, Dieter: Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970–1989. Frankfurt/M. 1997.

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DDR beizeiten mit den diktaturspezifischen An- und Herausforderungen konfrontiert: So mit den ideologischen Leistungsnormen im Schulalltag und in der Ausbildung, verbunden mit der systemimmanenten Willkür und den sich hieraus ableitenden Ungerechtigkeiten. Sie standen neben der vertrauten Erfahrungswelt, die sich aus dem Elternhaus und der Milieubindung ableitete – und mitunter in Konkurrenz zu ihr. Ein in einem systemnahen Elternhaus aufgewachsener Schüler mochte im gleichen Maße Unrecht, wenn es ihn oder andere betraf, als Unrecht zu benennen, wie ein in einem christlich oder liberal-bürgerlich Haushalt aufgewachsener Schüler. Auch musste er nicht automatisch zum Systembefürworter werden, nur weil seine Eltern dies waren. In der Praxis fanden nicht selten aus unterschiedlichsten Verhältnissen stammende Jugendlichen über ihre gemeinsamen Interessen und ihrer Ablehnung des Systems zueinander – dies nicht zuletzt außerhalb der größeren Städte, wo die Suche nach Gemeinschaft die wenigen Gleichgesinnten vor Ort schneller zusammenbrachte. Der Kitt, der diese Kreise zusammenhielt, war vor allem außerhäuslicher und außerschulischer Natur: Neugierde auf vorenthaltene Literatur, Interesse an neuer Musik und unangepasster Mode, Tatendrang und Unternehmungsgeist gehörten dazu. Die sich an einem solchen Punkt Treffenden hatten zuvor oft einen ganz eigenen Weg der inneren Distanzierung, Auseinandersetzung und Abkehr vom System zurückzulegen. So gab es in diesen Freundeskreisen nicht nur die aus christlichen oder staatsfernen Elternhäusern stammenden Jugendlichen. Ein Teil derer, die sich so fanden, konnte auf Elternhäuser verweisen, die mehr als nur systemkonform waren. Ihre Eltern unterstützten als Lehrer, kleinere und mittlere Funktionäre aktiv das System. Zuhause sahen sie sich einer entsprechend Erziehung ausgesetzt; eine Erziehung, die offensichtlich ihr Ziel verfehlt oder gar das Gegenteil bewirkt hatte. Nicht zu verkennen war, dass eine zu einer ideologisch-weltanschaulichen Übersättigung führende Agitation sich in ihr Gegenteil verkehren konnte. Heranwachsende nutzten eine politisch anstößige Meinung zudem als Mittel zur Emanzipation vom Elternhaus. Über eine weitere Eskalation und vorenthaltene Kommunikation konnte aus einem ursprünglich familiären, auf der ideologischen Ebene ausgetragenen Konflikt, schnell mehr werden: Aus Unbehagen wurde Widerspruch oder Widerstand. Der Kreis derer, die bereit waren, gegen die Verhältnisse zu protestieren, erweiterte sich auch in dieser Hinsicht. Lutz Wohlrab, aufgewachsen in einem Funktionärshaushalt in Greifswald, schrieb in seinen Erinnerungen hierzu: »Wie Martin [Bernhardt] wurde auch ich von den Eltern bewusst nicht getauft. Mein Vater war als Kind katholisch erzogen worden und nach dem Krieg fortschrittlich eingestellt. Seine Eheschließung war die erste sozialistische im Dorf, in das meine Mutter, die der evangelischen Konfession angehörte, umgesiedelt wurde. Mein Vater war Lehrer, Kommunist und in den 70er Jahren sogar Mitarbeiter der SED-

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Kreisleitung Greifswald. Mein Autoritätskonflikt war deshalb ein doppelter. Ab der Pubertät traf ich auf zwei Gegner, wenn ich opponierte, auf meinen Vater und auf Vater Staat. Beide haben mir das Leben schwer gemacht, fand ich, und manchmal habe ich sie auch verwechselt. Trost fand ich beim Zeichnen und verstanden fühlte ich mich beim Betrachten tragischer Kunst z. B. von Karl Hofer, Alberto Giacometti oder Max Uhlig. Die Malerin Sibylle Leifer, die in Sanz bei Groß Kiesow mit ihrem Künstler-Ehemann Horst und den drei Söhnen lebte, hat mich persönlich sehr angezogen.« 174

In einem Gespräch im September 2011 ging Lutz Wohlrab nochmals auf jene Erfahrungen als Heranwachsender ein: »Das war bei mir anders, als bei den Leuten, die aus kirchennahen oder DDRkritischen Elternhäusern kamen [...] wesentlich härter. [...] Die konnten wenigstens zu Hause sagen, was sie denken. Die rieben sich in der Schule nicht so sehr an den Lehrern, denen war ja klar, dass das alles Quatsch ist. Ich wurde sozialistisch erzogen und habe an den Sozialismus natürlich geglaubt, wie ein Christ an Jesus. Später fielen mir mehr und mehr die Widersprüche im Sozialismus auf. Das Verbot von Renft z. B. verstand ich nicht, dass ich nicht lesen durfte, was ich wollte, konnte ich nicht einsehen. Mein Vater argumentierte am Abendbrottisch gegen jeden kritischen Einwand, den ich vorbrachte. Eine Diskussion kam nicht zustande. So trug man seinen Protest dann nach Außen, schon in der Schulzeit. Da gab es dann die Zustimmung von den Freunden.« 175

Zu Wohlrabs engsten Freunden in Greifswald zählte Martin Bernhardt, der ebenso in einem »loyalen Elternhaus« aufwuchs. 176 Nachdem er in einer DDRIllustrierten abgebildet worden war, zählte zu den bekanntesten Aussteigern in der Stadt. Auf einer seiner Tramptouren im Juli 1978 nahm ihn ein Auto zusammen mit drei weiteren Trampern mit. Bei überhöhter Geschwindigkeit und »strömendem Regen« verlor der Fahrer die Kontrolle über den Wartburg und verunglückte schwer. Zwei Tramper starben bei dem Zusammenstoß mit einem Sattelschlepper nahe Bietekow kurz vor Prenzlau. Der Unfall wurde nicht nur von der Lokalpresse sowie von der Neuen Berliner Illustrierten (NBI) unter der Überschrift »Trampen in den Tod« aufgegriffen – auch unter Jugendlichen erzählte man sich die bestürzend schaurige Geschichte. 177 Martin 174 Wohlrab, Lutz: Bildende Kunst unter dem Dach der Kirche in der ESG Greifswald. In: Nitzsche, Raimund; Glöckner, Konrad (Hg.): Geistige Heimat ESG – In Freiheit leben aus gutem Grund. Erinnerungen an 60 Jahre Evangelische Studentengemeinde Greifswald, Greifswald 2006, S. 191–204, hier 191 f. 175 Zeitzeugengespräch mit Lutz Wohlrab am 21. September 2011. 176 MfS, BV Greifswald, KD Greifswald, Referat 2, Abschlussbericht zur OPK »Lyrik«, Greifswald, 23.9.1985: BStU, MfS, AOPK 2783/85, Bd. I, Bl. 313–319, hier 314. 177 Zeitzeugengespräch mit Lutz Wohlrab am 21. September 2011 sowie »Trampen in den Tod«. In: NBI (Neue Berliner Illustrierte)(1979)34, S. 8 f. Der Fahrer des Unfallwagens hatte in diesem Fall die Autobahn benutzt, um in Richtung Norden zu gelangen und war ab der Abfahrt Gramzow die F 198 (die NBI nannte irrtümlicherweise die F 186) Richtung Prenzlau gefahren.

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Bernhardt, den die NBI ihren Lesern abgelichtet im Krankenbett präsentierte, kam mit einigen Verletzungen davon. Kurz nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus musterte ihn das Wehrkreiskommando angesichts des Risikos von Spätschäden aus; eine Rücksichtnahme, die den Staatssicherheitsdienst nicht davon abhielt, Bernhardt nach der Fahnenverbrennung in Greifswald zu inhaftieren. In einem gesundheitsgefährdenden Bereich des Haftarbeitslagers Stralsund hatte Bernhardt zusammen mit den anderen Inhaftierten ohne Arbeitsschutzausrüstung Schiffe zu entrosten. Zuvor hatte der Staatssicherheitsdienst die Gründe für seine Ausmusterung in einem internen Vermerk angezweifelt: »Wahrscheinlich« sei, so Leutnant Migge vom MfS, dass »eigene Manipulationen und der nicht näher bestimmbare Einfluß dritter Personen aus dem medizinischen Bereich zur Ausmusterung [von Bernhardt] führten«. 178 Wie Wohlrab habe sich Bernhardt, schrieb Migge im September 1985, trotz der guten Ausgangsbedingungen im Elternhaus und in der Schule in seinen letzten Schuljahren »unter dem Einfluß klerikal orientierten Personen [...] zu einem Menschen mit pazifistisch deformierten Lebenshaltungen zur sozialistischen Gesellschaft« entwickelt. 179 Sowohl die Geschichte von Lutz Wohlrab als auch die von Martin Bernhardt mag daher für jenen Erosionsprozess stehen, der bereits das Umfeld der SED-Funktionseliten erreicht hatte. Dies traf das System an unerwarteter Front: Von einem in einem Pfarrhaus aufgewachsenen Jugendlichen erwartete man, wie sich Propst Hans-Otto Furian ausdrückte, dass er »mit dem SEDStaat weitgehend so gar nichts zu tun hatte«. 180 Wenig verwundern konnte es daher, dass nicht wenige von denen, die sich in kirchlichen Basisgruppen engagierten, aus diesem Umfeld stammten. Dass sich auch Heranwachsende aus Elternhäusern, die mit dem System verbunden waren, aus ihren Bezügen lösten, zeugte von außerordentlichem Mut. Sie brachten nicht nur ihre eigenen Erfahrungen in die sich findende Aussteigerszene mit ein. Hieraus ergab sich auch ein eigener Stil im politischen Handeln. Sie fielen nicht selten durch die radikalere Benennung politischer Missstände auf, die den eingeübten protestantischen Formen des abgestimmten, wohl »temperierten« Protestes kirchlicher Gruppen fremd war. Mitunter traten sie mit waghalsigen Aktionen jenem Staat entgegen, dem ihre Eltern als Funktionsträger dienten. Deutlich wurde dies im Fall einer Jugendlichen, die 1983 zum Studium nach Greifswald kam. Ihr Vater arbeitete an einer Universität im Süden der 178 MfS, BV Greifswald, KD Greifswald, Referat 2, Abschlussbericht zur OPK »Lyrik«, Greifswald, 23.9.1985: BStU, MfS, AOPK 2783/85, Bd. I, Bl. 313–319, hier 314. 179 Ebenda. 180 Halbrock, Christian: Amtsautonomie im vormundschaftlichen Staat. Evangelische Pfarrer der Kirche Berlin-Brandenburg 1945–1961. Berlin 2004, S. 330.

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DDR, ihre Mutter war in ihrer Heimatstadt Lehrerin. 181 In Greifswald bezog die Studentin »eine baufällige Wohnung in einem halb zerfallenen Altbau«. 1984 ließ sie sich vom Pädagogikstudium exmatrikulieren, weil sie den ideologischen Vorgaben nicht mehr zustimmen konnte und stellte wenig später einen Ausreiseantrag. 182 Zuvor hatte sie für sich keine Perspektive mehr für ein weiteres Verbleiben in der DDR erkennen können. Bereits in Jena erlebte sie während des Begräbnisses des in der MfS-Untersuchungshaft umgekommenen Matthias Domaschk im April 1981 hautnah die Schikanen des SED-Staates. 183 Im August 1985 nahm die Volkspolizei sie in Berlin aufgrund eines nichtigen Vorwandes fest und ihr den Personalausweis ab. 184 Nach stundenlanger Prozedur entließ man sie mit dem Behelfsausweis PM 12. Diesem eilte, dies wusste auch die Zweiundzwanzigjährige, ein besonderer Ruf voraus. 185 Unangepasste Jugendliche, denen man daher dieses Dokument anstelle des regulären Ausweises aushändigte, sahen sich hierdurch hinlänglich diskriminiert: Bei Kontrollen, mit denen in der DDR ständig zu rechnen war, bestand für PM-12Inhaber die Gefahr, von übereifrigen wie auch unter Langeweile leidenden DDR-Ordnungshütern schikaniert zu werden. In Greifswald betätigte sich die Zweiundzwanzigjährige vor allem künstlerisch und verdiente sich ihr Geld als Haushaltshilfe bei einer älteren Frau. Spontan entschloss sich die ehemalige Studentin am Abend 11. September 1985 ein von einem Kreis umrandetes »A«, ein sogenanntes Anarcho-A, mit Tusche auf Pergament zu zeichnen. 186 Anschließend hängte sie dieses in ihr Fenster in der Bahnhofstraße und fuhr am darauffolgenden Tag in den Süden der DDR, um dort eine Freundin zu besuchen. Hier wurde sie am Morgen des 14. September festgenommen und – über die Zwischenstation in der MfS-Untersuchungshaft Gera – nach Rostock überstellt. Eine Mitarbeiterin des Rates des Kreises in ihrer Nachbarschaft, die sie als Antragstellerin kannte, hatte dem MfS am Tag zuvor handschriftlich mitgeteilt, »dass die ÜSE [Übersiedlungsersuchende] [...] in ihrem Fenster [...] nachstehendes Zeichen angebracht hat«. 187 Das »zehn bis fünfzehn Zentimeter« große Zeichen, das im 181 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Vernehmungsprotokoll, Rostock, 27.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 306/86, HA, Bd. I, Bl. 117–120, hier 117. 182 MfS, BV Rostock, Abt. VIII, Durchsuchungsbericht, Rostock, 16.11.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 306/86, HA, Bd. I, Bl. 74. 183 Zu Matthias Domaschk: Wer war wer in der DDR? Bd. 1, Berlin 2010, S. 246. 184 Eingabe von [Name], [Vorname], an den Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, Greifswald, 23.8.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 306/86, GA, Bd. IV, Bl. 17 f. 185 Ebenda. 186 Staatsanwalt des Bezirkes Rostock, Abt. I A, Az. 221–99–85, an das Kreisgericht RostockStadt, Strafkammer, Anklageschrift, Rostock, 19.11.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 306/86, GA/ASt, Bd. III, Bl. 6–8, hier 7. 187 Information, gez. Rose, Greifswald, 13.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 306/86, HA, Bd. I, Bl. 75.

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ersten Stock des baufälligen Hauses mehr als einem Tag unbehelligt hing, sei, teilte die Denunziantin mit, »von der Straße gut sichtbar und erkennbar«. 188 Ob das A tatsächlich von der Straße aus gut zu sehen war, sollte im Weiteren offen bleiben. Zwar befand sich das Haus, wie der Staatsanwalt schrieb, »in einer belebten Hauptstraße und gegenüber einer Bushaltestelle«. Bislang hatte sich noch niemand über das A beschwert. Doch glaubte der Staatsanwalt, dass eine »Vielzahl von Personen das Symbol« hätte wahrnehmen können. 189 Zu ihren Motiven und zur Bedeutung des Zeichens befragt, konfrontierte die Zweiundzwanzigjährige den Vernehmer mit ihrer Sicht der Dinge: Das A, so die Inhaftierte, »symbolisiert sowohl meinen Vornamen [...] als auch Anfänger oder Arschloch, ebenso streite« sie »nicht ab, dass es auch Ausreise bedeuten« könne. 190 Obwohl sie sich nicht festlegte, wurde ihr die denkbar ungünstigste Interpretation unterstellt. Dies entsprach zwar nicht dem Strafprozessrecht. Niemandem durfte eine ihn belastende Auslegung, die seiner Intension möglicherweise nicht entsprach, unterstellt werden. Doch war dies gängige Praxis in der DDR. Das MfS folgte jener Auslegung, die ihr von der Mitarbeiterin der Kreisverwaltung präsentiert worden war. Nach drei Monaten Untersuchungshaft verurteilte die Strafkammer des Kreisgerichtes Rostock-Stadt die Zweiundzwanzigjährige in nichtöffentlicher Sitzung am 16. Dezember zu einem Jahr und drei Monaten Haft. 191 Auch in diesem Fall schienen das Elternhaus und die Schule zunächst eine Gewähr für eine systemkonforme Entwicklung zu bieten. Sie selbst sagte hierzu in der Vernehmung aus, dass sie »bis zum Alter von etwa sechzehn Jahren [...] alles« akzeptierte, was zuhause und in der Schule »über die sozialistische Gesellschaft, diesen Staat und seine Menschen gelehrt wurde und was darüber in den Zeitungen stand«. 192 In der Schule engagierte sie sich in der Freien Deutschen Jugend »für diese Sache«. Ab der neunten Klasse änderte sich dieses. Vor allem »in der Schule und im Freundeskreis« kam sie mit anderen Ansichten in Berührung und eignete sich diese an; eine Entwicklung, die sie zunehmend in Konflikt mit dem Elternhaus brachte. 193 Anschaulich berichtete die Zweiundzwanzigjährige, wie ihr bewusst wurde, dass zwischen den offiziellen Verlautbarungen und der Realität in der DDR eine große Kluft besteht: 188 Ebenda. 189 Staatsanwalt des Bezirkes Rostock, Abt. I A, Az. 221–99–85, an das Kreisgericht RostockStadt, Strafkammer, Anklageschrift, Rostock, 19.11.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 306/86, GA/ASt, Bd. III, Bl. 6–8, hier 8. 190 MfS, BV Gera, Untersuchungsabteilung, Vernehmungsprotokoll, Gera, 14.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 306/86, HA, Bd. I, Bl. 109–113, hier 112. 191 Strafkammer des Kreisgerichtes Rostock-Stadt, Urteil, Rostock, 16.12.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 306/86, GA/ASt, Bd. III, Bl. 28–30. 192 MfS, BV Rostock, Vernehmungsprotokoll, Rostock, 27.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 306/86, HA, Bd. I, Bl. 117–120, hier 118. 193 Ebenda.

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»Ich ging damals die ersten Male in den Ferien arbeiten und merkte hier wohl zuerst, dass sich die ›Realität‹ anders darstellte, als ich [...] [es] von der Theorie her kannte. Ich entdeckte [die] Widersprüche zu dem, was in der Zeitung steht und wurde nicht fertig mit gewissen Erfahrungen«. 194 Zugleich sah sie, dass »Wort und Tat« in der DDR »nicht immer [...] übereinstimmten«. In der Folge schloss sie sich der Jungen Gemeinde in ihrer Heimatstadt an, besuchte dort »in der Regel zwei- bis dreimal wöchentlich irgendwelche Veranstaltungen«, so ein Konzert mit der mit einem offiziellen Auftrittsverbot belegten Liedermacherin Bettina Wegner. 195 Mit Jugendlichen, die ähnlich wie sie empfanden, diskutierte sie nächtelang über ihre Zweifel und ging deutlich auf Distanz zur Ideologie und Politik in der DDR. Zugleich emanzipierte sie sich in jener Zeit von ihrem Elternhaus: »Meine Eltern waren sehr erbost über diese Entwicklung [...] Letztlich erreichten sie aber nichts Wesentliches und [die] Diskussionen wurden meist von mir beendet.« Im Rückblick konstatierte die Inhaftierte, dass sie im Alter »von sechzehn bis neunzehn Jahren« zu ihren »Anschauungen und Auffassungen gekommen« sei. Diese Jahre wären für sie »sehr entscheidende Jahre« gewesen. 196 Zugleich erkannte sie in der systemstabilisierenden Kraft des Diktats der Normalität das eigentliche Problem. Die Verhältnisse waren deshalb so wie sie waren, weil sich die in ihr lebenden Menschen diesem Diktat nicht zu entziehen vermochten – oder auch nicht wollten und hiermit das System fortwährend stabilisierten: »Ich konnte«, so berichtete sie, »mich mit diesem ewigen ›Das ist so!‹ nicht abfinden und fragte [...] immer wieder nach dem ›Warum?‹«. 197 Mit dieser Einsicht stieg zugleich die Ungeduld, die Verhältnisse nicht länger als unabänderlich hinnehmen zu wollen. Auch glaubte sie, dass es endlich an der Zeit sei, die bestehenden Missstände nicht mehr nur, wie in den kirchlichen Gruppen, im vertrauten Kreis zu kritisieren. Bevor sie das »A« in ihr Fenster hing, diskutierte sie über eine solche Aktion. Freunde aus der evangelischen Studentengemeinde rieten ihr ab. Selbst schätzte sie ein, dass sie ihrem »Wesen nach etwas impulsiver«, ungeduldiger und mitunter auch »aggressiver« auf die Verhältnisse reagiere als manch einer aus dem Kreis der christlichen Jugend. Es könne ihr eher mal passieren, so die Befragte, dass sie »mal die Nerven verliere und eine Dummheit begehe, wofür [...] [man] eventuell in den Knast komme«. 198 Kurz Zeit nach der Inhaftierung wandte sich der Greifswalder Studentenpfarrer Harro Lucht im Namen der Studentengemeinde mit einem Brief an 194 Ebenda, Bl. 119. 195 Ebenda sowie zu Bettina Wegner: Wer war wer in der DDR? Bd. 2, Berlin 2010, S. 1390 f. 196 MfS, BV Rostock, Vernehmungsprotokoll, Rostock, 27.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AU 306/86, HA, Bd. I, Bl. 117–120, hier 119. 197 Ebenda, Bl. 120. 198 Ebenda, Bl. 133.

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den »Leiter der Untersuchungshaftanstalt« in Rostock. 199 In dem Schreiben bat er »um eine Paketgenehmigung für unser Gemeindeglied«. Lucht betonte zugleich, dass die evangelischen Studenten hiermit »keinem Angehörigen die Möglichkeit für eine Paketsendung nehmen« möchten, sondern »gern zusätzlich die Erlaubnis [hierfür] erhalten« würden. 200 Vom Duktus und Wortlaut her präsentierte sich die Bitte gemäßigt und zurückhaltend. In der Sache war jener Vorstoß in den Augen der Herrschenden jedoch ungewöhnlich, vermessen wie ärgerlich. Die Solidarität mit von Repressalien Betroffenen war, sollte es hierzu häufiger kommen, eine jener Gefahren, die das System in seinem Bestand treffen konnte. Nicht jeder Bruch mit den häuslichen und schulischen Vorgaben zeitigte einen derart radikalen Verlauf. In einem weiteren Fall blieb die Biographie bestimmt durch Brüche und Widersprüche. Hardy Fassbender 201 kam 1983 in den Norden der DDR, wo er ein Studium begann, dass er nach zwei Semestern wieder abbrach. Seine Familie stammte aus einem der Südbezirk der DDR. Sein Elternhaus konnte als systemnah gelten: Lange Zeit bekleidete sein Vater in der neuen mecklenburgischen Wahlheimat die Position des 1. Sekretärs der FDJ-Kreisleitung und gehörte der SED-Kreisleitung an. Seine Mutter fand ihr Auskommen als Kaderleiterin in einem der großen Textilkombinate der DDR. 202 Bis zur zehnten Klasse engagierte sich Fassbender politisch an seiner Schule: Hier gehörte er so dem FDJ-Singeclub an. 203 Zugleich delegierte man ihn in die »Leitung der FDJ-Grundorganisation« und erhob ihn zum »Sekretär für Agitation und Propaganda«. Bald stellte man fest, dass er das Gespräch »zu Personen mit negativen Personeneigenschaften« sucht, vermehrt »undurchsichtig« argumentiert und eine »pro-westliche Einstellung« an den Tag legt. 204 Unübersehbar war sein Interesse an westlicher Musik und in der DDR nicht verlegter Literatur. Fassbender, so erfuhr es das MfS 1976 »inoffiziell«, beschäftige sich auch »mit den Werken des Naziideologen Nitsche« – jener sei für ihn »der ›Schriftsteller‹« überhaupt. 205 Die Schulleitung attestierte ihm ein zunehmendes Desinteresse bei der Erfüllung der einzufordernden politischen wie vormilitärischen Leistungen. Moniert wurde, dass er politische 199 Schreiben der Evangelischen Studentengemeinde Greifswald, gez. Studentenpfarrer Harro Lucht, an das Ministerium für Staatssicherheit, Leiter der Untersuchungsabteilung, 2500 Rostock, August-Bebel-Straße: BStU, MfS, BV Rostock, AU 306/86, HA, Bd. I, Bl. 86. 200 Ebenda. 201 Name geändert. Zum Teil sind auch die Orts- und Jahresangaben verfremdet. 202 MfS, BV Rostock, Auskunft zur Person [Name], [Vorname] auf Anfrage der MfSBezirksverwaltung Halle, Rostock, [Name]: BStU, MfS, BV Halle, AIM 2234/86, Bl. 92–94, hier 92. 203 Ebenda, Bl. 93. 204 Ebenda. 205 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat III, Operativ bedeutsame Äußerungen und Verhaltensweisen der Person [Name], [Vorname], Rostock, 13.7.1984: BStU, MfS, BV Halle, AIM 2234/86, Bl. 31.

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Dinge »nur unter Protest und dann in schlechter Qualität« erledige; ein Umstand, der sich auf die Stimmung in der gesamten Klasse auswirkte. Schließlich nutzte die Schulleitung einen Vorwand, um Hardy Fassbender »aus disziplinarischen Gründen von der Schule [zu] verweisen«. 206 Fassbender absolvierte im Folgenden eine Ausbildung als Zootechniker mit Abitur und wurde anschließend 1975 zum dreijährigen Militärdienst in die 14. Volkspolizei-Bereitschaft nach Neustrelitz eingezogen. 207 Während seiner Lehre geriet er abermals in Konflikt mit dem Normensystem der DDR: Nach einem Gespräch mit einem Mitlehrling »darüber, unter welchen Umständen man ins Gefängnis kommen könnte« und dass dafür bereits in der DDR ein Fahnenabriss reiche, schrieben beide, wie sie später aussagten, »aus lauter Blödsinn« die Worte »Scheiß Kolchose« an eine Stalltür. 208 Die von der Betriebsleitung herbeigerufene Volkspolizei meldete den Vorfall pflichtbewusst an den Staatssicherheitsdienst in der nahen Kreisstadt weiter. Hier einigte man sich aufgrund der kaum gegebenen strafrechtlichen Relevanz, Kulanz walten zu lassen. Doch beließ man die Delinquenten in dem Glauben, hierfür belangt werden zu können. Man nutzte den mit Kreide angeschriebenen Spruch für die eigenen Interessen aus. Ein sich verständnisvoll gebender Mitarbeiter der MfS-Kreisdienststelle legte Fassbender nahe, zukünftig »auf der Basis der Wiedergutmachung« inoffiziell Informationen für das MfS »zu erarbeiten«. Ein Plan, der letztlich daran scheiterte, dass sich Fassbender trotz der von ihm abgegebenen Schweigeerklärung dekonspirierte. 209 Auch seine dreijährige Armeezeit bei der 14. VolkspolizeiBereitschaft verlief alles andere als konfliktfrei: Für die Wandzeitung in der Kaserne lieferte Fassbender ein Bild, dass, so ist es im Protokoll des MfS festgehalten, »in satirischer Form die Moral der Streifenposten [...] untergrub« und »deren Aufgaben« der Lächerlichkeit preisgab. 210 Von einem Spitzel wurde er mit den Worten zitiert, »die verarsche ich noch alle, oder ich gehe in den Knast, wenn sie merken, was ich damit ausdrücken will. Aber eine Wandzeitung kann man ja vielseitig differenzieren.« 211 Im Ergebnis reichte die Materiallage aber nicht aus, um Hardy Fassbender unter dem Vorwurf der »staatsfeindlichen Hetze« zu belangen; die verdeckte Ermittlungsakte, die entsprechende »Operative Personenkontrolle« des MfS, wurde geschlossen und 206 Volkspolizeikreisamt [Ort], Kriminalpolizei, Protokoll, [Name], 9.11.1974: BStU, MfS, BV Halle, AIM 2234/86, Bl. 40 f. 207 MfS, BV Rostock, Auskunft zur Person [Name] auf Anfrage der MfS-Bezirksverwaltung Halle, Rostock, [Name]: BStU, MfS, BV Halle, AIM 2234/86, Bl. 92–94, hier 92. 208 Volkspolizeikreisamt [Name], Kriminalpolizei, Protokoll, [Name], 9.11.1974: BStU, MfS, BV Halle, AIM 2234/86, Bl. 40 f. 209 MfS, BV Rostock, Auskunft zur Person [Name] auf Anfrage der MfS-Bezirksverwaltung Halle, Rostock, [Name]: BStU, MfS, BV Halle, AIM 2234/86, Bl. 92–94, hier 93. 210 Ebenda. 211 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat III, Operativ bedeutsame Äußerungen und Verhaltensweisen der Person [Name], Rostock, 13.7.1984: BStU, MfS, BV Halle, AIM 2234/86, Bl. 31.

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archiviert. 212 Nach der Armeezeit und zwei Semestern Studium an einer Universität im Norden der DDR entschied sich Fassbender, wie andere Aussteiger auch, für eine Arbeit in einer diakonischen Einrichtung. In der von der Kirche betriebenen weiträumigen Anlage für körperlich und geistig Behinderte arbeiteten seit den späten sechziger Jahren Jugendliche, die zum System auf Distanz gegangen waren. Ein Teil von ihnen folgte mit ihrem Engagement dem Aufruf der evangelischen Kirche zur Ableistung eines Diakonischen Jahres. Sie begriffen dieses als persönlichen Wehrersatzdienst, um anschließend den Wehrdienst mit der Waffe oder auch insgesamt zu verweigern. Andere Jugendliche entschied sich für eine solche Einrichtung, um hier nach einem Sinn jenseits des allgegenwärtigen politisch-ideologischen Drucks in der DDR zu suchen. Oft hatten sie von dieser Möglichkeit von Gleichgesinnten während einer Tramptour gehört und sich ebenso entschieden. 213 Doch kam Fassbender mit seinem neuen Leben als friedens- und umweltbewegter Aussteiger im Umfeld der Kirche ebenso wenig zurecht wie zuvor mit der seiner Rolle als Funktionärssohn. Zwar beteiligte er sich zwischenzeitlich an der Arbeit einer kirchlichen Umweltgruppe und hielt auf einem Umweltseminar im Norden einen Vortrag. Doch stieß der ehemalige Physikstudent mit seiner technikfreundlichen Haltung schnell auf Widerspruch und kam zu dem Schluss, dass dies nicht seine politische Heimat sei. Auch in der kirchlichen Anstalt fehlte ihm der mentale Zugang, der hier von Nöten gewesen wäre und hieraus abgeleitet die notwendige Geduld. Wiederholt kam es daher zu Auseinandersetzungen aufgrund seines autoritären Umgangs mit den geistig Behinderten. 214 Aus einem mitgehörten Telefongespräch mit seiner Mutter erfuhr der Staatssicherheitsdienst, dass er »auf keinen Fall [...] Pfleger bleiben noch in den Stall zurückgehen« wolle. 215 Nach mehreren erfolglosen Anläufen erhielt Hardy Fassbender schließlich doch noch den von ihm erwünschten Studienplatz an einer technischen Hochschule in Süden der DDR. Im August 1985 verließ er den Ostseebezirk. Über seinen weiteren Lebensweg ist, was die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes angeht, nichts Weiteres überliefert.

212 MfS, BV Rostock, Auskunft zur Person [Name], auf Anfrage der MfS-Bezirksverwaltung Halle, Rostock, [Name]: BStU, MfS, BV Halle, AIM 2234/86, Bl. 92–94, hier 93. 213 Hojdyssek, Nanette: Gerold Hildebrand. In: Gesichter der friedlichen Revolution. Hg. v. der Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. Berlin 2011, S. 60. In diesem Sinne äußerte sich auch Andreas Schönfelder am 10.2011 während seines Vortrages »Umweltbibliothek in Großhennersdorf«. 214 MfS, BV Rostock, Abt. XX, an die Kreisdienststelle Rostock, betr. [Name], geb. am [Datum], Rostock, 27.6.1984: BStU, MfS, BV Halle, AIM 2234/86, Bl. 76. 215 MfS, BV Rostock, Abt. 26, Informationsbericht, Rostock, 16.2.1984: BStU, MfS, BV Halle, AIM 2234/86, Bl. 66–68, hier 67.

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4.1.6 Wechselhafter Widerspruch oder Diskontinuität und Kontinuität? Wer sich einmal entschied, Widerspruch und Widerstand zu leisten, brach aus dem Alltag mit seinen vorgegebenen Normen und Vorgaben aus. Dies hieß nicht, dass es im Alltag nicht auch immer wieder Spielräume und kanalisierte Formen, sich punktuell abzusetzen, gegeben hätte. Doch überschritt der, der dies tat, eine vorgegebene und von den meisten, selbst kritisch denkenden Menschen gewahrte Grenze. Nicht selten haderten die, die Widerstand leisteten, längere Zeit mit sich selbst. Häufig musste sich erst hinreichend Unmut anstauten. Ebenso erforderte es Mut, um mit dem System zu brechen. Auch musste sich eine entsprechende Gelegenheit bieten. Ausgelöst werden mochte dies durch unterschiedliche Ereignisse. So durch die Forderung zur Aufgabe der landwirtschaftlichen Selbstständigkeit und zum Eintritt in die Produktionsgenossenschaft. Genauso konnten persönliche Fehlschläge und Zurücksetzungen sowie biographische Einschnitte den Ausschlag geben. Dass es Diskontinuitäten gab und Menschen eine oft wechselvolle Entwicklung durchliefen, schien die Stasi immer wieder zu überraschen. Nicht selten lag die Stasi mit ihren Einschätzungen falsch und wurde zum Opfer ihres eigenen Weltbildes und Wunschdenkens. So auch bei einem Pfarrer aus dem Bezirk Rostock in den achtziger Jahren. Anfangs wusste das MfS über ihn noch zu berichten, dass er »unsere Staatspolitik [...] respektierte«, ihr gegebenenfalls sogar positiv gegenüberstehe. Auch schrieb man über ihn, er vertrete »die Meinung, daß die Kanzel nicht dazu benutzt werden darf, um gegen die DDR zu operieren«. Weiter hieß es: »Bis 1980 kam [Name] seinem Wahlrecht nach und gab seine Stimme offen für die Kandidaten der Nationalen Front« ab. 216 Positiv bewertete man insbesondere, dass der junge Pfarrer bei Arbeitseinsätzen, die »im Rahmen des Nationalen Aufbauwerkes« stattfänden, »immer mit zu den ersten Teilnehmern« zähle. Der Pfarrer gehöre, so stellte die Stasi im Mai 1972 zufrieden fest, »zu den jungen Geistlichen in der Mecklenburgischen Landeskirche, die bestrebt sind, gute Beziehungen zwischen staatlichen Institutionen und der Kirche entstehen zu lassen«. 217 Dies sei auch das Ziel der Staatssicherheit. Man befand, ihn »zu diesem Zweck« als Inoffiziellen Mitarbeiter anzuwerben. 218 Dass seine Frau an einer Hochschule der DDR ausgerechnet Ökonomie studierte, konnte in den Augen der Stasi nur bedeuten, dass es sich hier um kein traditionsverhaftetes Pfarrerehepaar handelte. 219 Die 216 Ebenda. 217 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Beschluß zum Anlegen eines IM-Vorlaufs, Rostock, 25.5.1972: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 284/74, Bl. 22 f. 218 Ebenda, Bl. 23. 219 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Einschätzung (Quelle: Stellvertreter für Inneres beim Rat des Kreises Rostock/Land, Genosse Steinfurth), Rostock, 21.4.1972, Rostock, 21.4.1972: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 284/74, Bl. 28.

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drei Vorgespräche zur Anwerbung verliefen ganz nach den Vorstellung des Staatssicherheitsdienstes: Ihr »positiver« Ausgang und die »konstruktive« Stimmung nährten die Hoffnung auf einen entsprechenden Erfolg. Praktische Probleme, die es zu besprechend gab, bestanden nach Ansicht des Pfarrers im Alltag zur Genüge – ein Umstand, den sich die Stasi zunutze zu machen wusste. Da sich die kommunalen Stellen nicht hinlänglich um seine Anliegen kümmerten, schien es ihm wiederum vorteilhaft, sich nun mit einem Vertreter einer staatlichen Instanz austauschen zu können. So wurde er wiederholt schikanöse bei der Beantragung der Druckgenehmigung für den Gemeindebrief beim Rat des Kreises abgewiesen. Im Pfarrhaus hatte ihm die Wohnraumlenkung einen Mieter eingewiesen, dessen Vieh im Pfarrgarten und auf dem Friedhof umherlief. Und über den Hauptweg des Friedhofs mäanderte Abwasser, was bei Beerdigungen zu Problemen führte. 220 Nach vier Monaten unterbreitete man dem »Kandidaten« den eigentlichen Grund der bislang kontemplativen Treffen. Dem MfS blieb jedoch der Erfolg verwehrt: Mit der Begründung, er sei »nur bereit über offizielle Problem zu sprechen« und mit dem Verweis »auf seine übergeordneten Dienststellen« wies er das Ansinnen zurück: Der »Kandidat«, hieß es bürokratisch im Vermerk vom 2. Januar 1974, »lehnt eine inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS ab«. 221 Wenig später vollzog sich der entscheidende Wandel. Einen Grund lieferte der Wehrkundeunterricht, der 1978 eingeführt werden und an dem die Tochter des Pfarrers teilnehmen sollte. Mehrere Eltern im Dorf opponierten hiergegen. Seitens der Schule wurde ihnen angedroht, dass eine Nichtteilnahme als Verletzung der »Schulpflichtbestimmungen« geahndet werden würde. 222 Ausgelöst durch den als ungerecht empfundenen Umgang mit ihrer Tochter kam es so zur Emotionalisierung, Politisierung und zum systemkritischen Engagement. Anlässlich der Wahl 1981 trat der Pfarrer erstmals »gemeinsam mit seiner Ehefrau als Nichtwähler in Erscheinung«. Den Verantwortlichen auf Kreisebene war der Grund keinesfalls unbekannt: »Die Nichtteilnahme an der Wahl begründete« der Pfarrer »mit der Entscheidung der Kommission beim Kreisschulrat [...], daß seine Tochter nicht zur EOS zugelassen wurde«. 223An-

220 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Bericht über das 3. Kontaktgespräch mit dem Kandidaten [Name], Rostock, 10.1.1973: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 284/74, Bl. 30–32. 221 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Abschlussbericht zur Person [Name], Rostock, 2.1.1974: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 284/74, Bl. 37 f.; MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Beschluß, Rostock, 2.1.1974: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 284/74, Bl. 38 f. 222 Rat der Stadt Rostock, Abt. Volksbildung, Aktennotiz, Rostock, den 7.11.1980 und Aktennotiz vom 18.11.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bl. 48–50, Schreiben Pfarrer [Name], an den Landesbischof Rathke, betr.: Gespräch am 12.12.1980 mit dem Rat des Kreises, Herrn Lange, und Herrn Rehfeld, Rat der Stadt Rostock: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bl. 51. 223 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat III, Eröffnungsbericht zum Anlegen des OV »Kreis«, 9.5.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bl. 7.

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fang 1982 eröffnete die Stasi gegen den Betreffenden einen Operativvorgang, weil er sich in der unabhängigen Friedensbewegung engagierte. 224 Umgekehrt konnte es zum Rückzug vom Engagement kommen. Neben den Repressalien, Einschüchterungen und »Zersetzungsmaßnahmen« ließ sich ein kräftezehrendes Engagement nicht in jedem Fall dauerhaft durchhalten. Hinzu kam die Frustration, dass sich in der DDR doch nichts ändern würde. Eines der wichtigsten Treffen der kirchlichen Friedenskreise im Norden, das Kessiner Friedensseminar, fand 1985, nachdem sich hier ab 1982 einmal jährlich Teilnehmer aus der gesamten DDR getroffen hatten, nicht mehr statt. Die Belastungen der zurückliegenden Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Einer der Organisatoren würde laut MfS ein weiteres Seminar »gegenwärtig nicht [mehr] mit« tragen wollen, »da er erschöpft und angeschlagen ist; die staatlichen Gegenmaßnahmen haben ihn mürbe gemacht«. 225 Und im Archivierungsbeschluss vom 23. Oktober 1985 ist nachzulesen: »Der Verdächtige enthält sich seit Mitte 1984 schrittweise jeglicher politisch-negativer, insbesondere öffentlichkeitswirksamer Aktivitäten.« 226 Auch behauptete man, dass er »seine persönlichen Kontakte zu feindlichen bzw. politisch-negativen Personen« gelockert habe. 227 Zuvor war es dem MfS gelungen, durch die Lancierung von Falschmeldungen und Gerüchten Misstrauen im Friedenskreis zu sähen. Der verantwortliche Pfarrer erhielt Drohbriefe und anonyme Anrufe, in denen er zu fortgeschrittener Stunde beschimpft wurde. 228 Hinzu kamen die »Zerstörungen auf dem Friedhof«, wobei für die meisten Beobachter »zweifelsfrei« festzustehen schien, »daß hier eine dritte Hand tätig gewesen sein muß«. 229 Anfang November 1984 brach zudem während seiner Abwesenheit im Keller des Pfarrhauses ein Feuer aus. Dieses konnte vom Pfarrer, der unverzüglich von den Nachbarn telefonisch informiert worden war und aus dem nahen Rostock herbei eilte, zwar gelöscht werden. Die Ursache des Brandes blieb jedoch im Dunkeln: »Gegenüber« dem Pfarrer »äußerte der Bürgermeister« der Gemeinde »den Verdacht, daß man eventuell überprüfen wollte, wie die Dorf224 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Übersichtsbogen zur operativen Personenkontrolle, 23.3.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bl. 5. 225 MfS, BV Rostock, Zwischenbericht zum OV »Kreis« der Abteilung XX/4, Rostock, 26.10.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. IV, Bl. 27–29, hier 28. 226 Ebenda. 227 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Archivierungs-Beschluss, Rostock, 23.10.1985: BStU, MfS, AOP 2784/85,Bl. 111. 228 MfS, BV Rostock, Abt. 26, Informationsbericht, Rostock, 21.4.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. V, Bl. 131, sowie MfS, BV Rostock, Abt. XX/10, Tonbandabschrift, Quelle IMS »Martin«, Bericht zur Zusammenkunft mit Pfarrer [Name] am 10.11. um 14.00 Uhr in der Wohnung von Pfarrer [Name], Rostock, 19.11.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOP, Nr. 2784/85, Bd. IV, Bl. 30. f. 229 MfS, BV Rostock, Abt. XX/10, Tonbandabschrift, Quelle: IMS »Martin«, Bericht zur Zusammenkunft mit Herrn Pfarrer Nath am 10.11. 1984 um 14.00 Uhr in der Wohnung von Herrn Pfarrer Nath, Rostock 19.11.1984: BStU, MfS, AOP 2784/85, Bd. IV, Bl. 30 f., hier 31.

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bevölkerung reagiert, wenn es beim Pfarrer brennt«. 230 Eine unrühmliche Rolle spielte des Weiteren der Geheimpolizeispitzel IM »Heinz« alias Günter Engel. 231 Im Oktober 1984 meldete sein Führungsoffizier Jürgen Fiedler, dass es ihm »durch den offensiven Einsatz des IMB Heinz« gelungen sei, »zwischen den Organisatoren des ›Kessiner Friedenskreises‹ Diskussionen zu dessen weiterer Existenz ausgelöst« zu haben. 232 Zudem schlug Günter Engel seinem Jürgen Fiedler vor, die bestehende Situation in der instabilen Gruppe zu nutzen. Hinter der Formulierung »Forcierung der Auseinandersetzungen« 233 verbarg sich der Plan, in Kessin und Rostock die Falschmeldung zu verbreiten, einer der Organisatoren wolle sich des Friedenskreises bemächtigen und den Pfarrer beiseite drängen. 234

4.2

Solidarität vs. Entsolidarisierung: Ursachen und Folgen 4.2.1 Die Angst vor der Courage der Anderen

Die, die Widerspruch leisteten, sahen sich mit der Tatsache konfrontiert, dass sie zu einer Minderheit im Land zählten. Immer wieder kam es zur subtilen Entsolidarisierung in der Gesellschaft im Allgemeinen, an den Schulen, Universitäten, in den Betrieben, aber auch im innerkirchlichen Diskurs. Nur selten suchten die, die dabei auf Distanz gingen, die Ursachen bei sich selbst. Die Schuld an den Folgen wurde denen gegeben, die Unruhe stifteten, auch indem sie die schweigende Mehrheit mit ihrem schlechten Gewissen konfrontierten. Viele von denen, die Kritik am systemkritischen Engagement der wenigen Regimegegner übten, grenzten sich gegenüber den »Unruhestiftern« ab. Gleichzeitig erwiesen sie dem SED-Staat ihre Loyalität und zeigten sich trotzdem davon überzeugt, zu den unangepassten Geistern im Lande zu gehören. Häufig hieß es, dass der Protest zu wenig durchdacht und inhaltlich nicht fundiert sei. Wer auf Distanz ging, gab unter anderem an, sich nicht an einem 230 Ebenda. 231 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Analyse der operativen Entwicklung des IMB »Heinz«, V/532/77, Rostock, 28.11.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 192/91, Bd. I/1, Bl. 118 f. 232 MfS, BV Rostock, Information zum »Kessiner Friedenskreis«, o. Datum: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 0192/91, Bd. II/7, Bl. 130 f. 233 Ebenda. 234 Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser?«. Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 434; vgl. hierzu auch: MfS, Juristische Hochschule, 4. postgradualer Lehrgang, Abschlußarbeit im postgradualen Studium. Thema: »Erfahrungen beim Zusammenwirken mit staatlichen und gesellschaftlichen Kräften zur Realisierung wirksamer Zurückdrängungs- und Zersetzungsmaßnahmen gegen feindliche bzw. negative Personenkreise aus dem kirchlichen Bereich am Beispiel sogenannter Friedenskreise, Autor: Hauptmann Jürgen Fiedler, BV Rostock, Abteilung XX, Abschluß der Arbeit: 11.11.1986, BStU, MfS, JHS, Nr. 20903, Bl. 1–24.

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seiner Ansicht nach unüberlegten Protest beteiligen zu wollen. Einzelne gestanden zumindest ein, an einem einvernehmlichen Verhältnis mit den staatlichen Stellen, dem beruflichen Vorankommen oder dem eigenen persönlichen Wohl und dem der Familie interessiert zu sein. Kaum kalkulierbare Aktivitäten sollten sich dabei eher als störend erweisen. Schließlich verfügte der Staat über den Zugang zu jenen ressourcenverknappten Gütern wie Baubilanzen, Einfuhrgenehmigungen und West-Auslandsreisen, deren Freigabe das Leben im Sozialismus erleichterte. Zeugnis von den Schwierigkeiten, mit denen sich die, die sich engagierten, konfrontiert sahen, legt auch ein am 18. Mai 1984 vom MfS aufgezeichnetes Telefonat ab. Es gibt die Gesprächssituation zwischen Pfarrer Dieter Nath und einer mecklenburgischen Pastorin wieder. Hier kam jene zuvor angeführte subtile Distanzierung zum Tragen. Auch wenn sich dies möglicherweise nicht sofort aus dem Gesagten erschließt, soll das Beispiel angeführt werden, weil es sich um einer der häufigsten Formen der Absetzbewegung handelte. Es ist zudem eines der wenigen Zeugnisse aus den Akten des MfS, dass eher zufällig eine solche Situation einfängt. Wie so häufig, sah sich die Gesprächspartnerin selbst als kritischen Geist und ging trotzdem auf Distanz. Dieter Nath, so glaubte sie anscheinend, gab sich in der Friedensarbeit nicht mit dem zufrieden, was das kirchliche Friedensengagement bislang beinhaltete und was in der Kirche allgemein als vertretbar angesehen wurde. Dass Kirche als Gemeinschaft von Gläubigen und Institution nicht monolithisch handelte, sondern, dass um Standpunkte gerungen und Positionierungen fortwährend ausgehandelt wurden, schien bei ihr dabei in Vergessenheit geraten zu sein. Denkbar ist aber auch, dass sie sich in dieser Sache nicht nur dem vom ihr angenommenen Opportunitätsdruck unterwarf, sondern Dieter Naths Engagement grundsätzlich als zu provokant ablehnte. Dieter Nath bemühte sich, seine Gesprächspartnerin, die als Jugendvertreterin der DDR-Delegation mit zur Kirchenkonferenz im kanadischen Vancouver gefahren war, für das Podium auf dem für 1984 geplanten Friedensseminar zu gewinnen. Ohne den Termin zu kennen, beschied sie die Anfrage aus terminlichen Gründen negativ.235 Anschließend entspann sich ein Dialog, in dem es um das Vorgehen des Staatssicherheitsdienstes gegen den Friedenskreis in Kessin ging. Zugleich ließ der Wortwechsel erahnen, warum die Jugenddelegierte der Anfrage ihres Kollegen auswich und meinte, nicht zum Seminar nach Kessin kommen zu wollen. »Das muß man dann«, betonte Dieter Nath, »auch alles mal sagen [...] wie das alles so läuft – vordergründig und hintergründig!!« 236 Von der Betroffenheit der Ju235 MfS, BV Rostock, Abt. 26, Informationsbericht, Rostock, 21.5.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2784/85, Bd. III, Bl. 140 f.; MfS, BV Neubrandenburg, KD Teterow, Einschätzung, Teterow, 14.11.1983, AOPK 224/85, Bd. I, Bl. 152–157, hier 154. 236 MfS, Informationsbericht, ebenda.

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genddelegierten profitierte jedoch nicht der Beschwerdeführer, ihr Amtskollege aus Kessin. Die Reaktion erwies sich als ebenso einfach wie banal: »Das macht mich so ein bißchen traurig, wenn wir Leuten so viel Angst machen« und »na, ja, vielleicht liegen auch Gründe vor, was weiß ich«, lauteten die Antwort jener Vancouver-Delegierten, deren Aufgabe es an sich hatte gewesen sein sollen, die Interessen der christlichen Jugend zu vertreten. Doch schien das Mitgefühl für die von einigen wenigen Friedensaktivisten bedrängte staatliche Seite bei der Kanadareisenden zu dominieren. Pfarrer Dieter Nath bewahrte sich in dieser Situation hingegen seinen Humor. Den versteckten Vorwurf seiner Amtskollegin bestätigte er mit – »ja, sicher« – liegen Gründe vor. Wie das MfS argwöhnisch notierte, »lachte« er obendrein. 237 Wie so häufig in der DDR ging jemand auf Distanz und führte hierfür seine fürsorgliche Betroffenheit an. Eine Betroffenheit, die vorgab, auch die Gegenseite verstehen und nicht brüskieren zu wollen und sich fürsorglich-ängstlich zeigte, angesichts der Radikalität, mit der andere ihre Forderungen vorbrachten. Dies schien nicht ganz unbegründet angesichts der Gefahren, die sich hieraus ergaben: Im konkreten Fall zählten dazu das Risiko einer Verstimmung im Staat-Kirche-Verhältnis ebenso wie die Repressionen, denen sich die, die radikaler dachten und handelten als andere aussetzten. Zu einer vergleichbaren Absetzbewegung kam am 9. Juni 1984, zu Pfingsten, in der Stadtkirche Teterow. 238 Mit einem 1981 begründeten PfingstJugendgottesdienst wandte sich die Junge Gemeinde an die Schlachtenbummler des alljährlichen Bergring-Motorrennens, die zu Tausenden in die Stadt strömten. 239 Unter ihnen gab es nicht wenige Jugendliche, die anlässlich der FDJ-Pfingsttreffen mit Berlin-Verbot belegt die »Hauptstadt« verlassen mussten. Als prominenter Gast auf dem 1984er Jugendgottesdienst angekündigt wurde Landesjugendpfarrer Johannes Lohmann aus Schwerin. Als Repräsentant der Kirchenleitung sollte er den Abend begleiten. Ansehen genoss Lohmann nicht nur aufgrund seiner Funktion; in der mecklenburgischen Landeskirche galt er als aufmüpfiger Geist, der nicht davor zurückschreckte, der SED in politischen Fragen Paroli zu bieten. 240 Bereits als 17-Jähriger war er im 237 Ebenda. 238 MfS, BV Neubrandenburg, Information zum Jugendgottesdienst am 09.06.1984 in der evangelischen Stadtkirche Teterow: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX ZMA, Nr. 3691, Bl. 263 f.; MfS, Kerblochkartei der BV Neubrandenburg, Pastorin Ulrike Doll, Eintrag 27.6.1984: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, KK, Auskunft vom 19.12.2007. 239 MfS, BV Neubrandenburg, KD Teterow, Bericht zur Einleitung der OPK »Wandler«, Teterow, 19.1.1983: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AOPK 224/85, Bd. I, Bl. 19 f.; Langer, Kai: »Ihr sollt wissen, dass der Norden nicht schläft …« Zur Geschichte der »Wende« in den drei Nordbezirken der DDR (Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommern; 3). Bremen 1999, S. 78. 240 MfS, Juristische Hochschule, Diplomarbeit. Thema: »Die klerikalen politisch-negativen Kräfte in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburg im System der gegnerischen

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Frühjahr 1960 in Parchim »aus der Schule heraus« verhaftet worden, weil er zuvor mit anderen Flugblätter verteilt hatte. Zwei Monate sperrte man ihn in der MfS-Untersuchungshaft Schwerin am Demmlerplatz ein. 241 Die Verhöre – verbunden mit Schlägen und psychischen Schikanen – wurden für ihn zur einschneidenden Erfahrung, die sein Haltung zur DDR zeitlebens prägten. 242 Im Mai 1960 folgte der Urteilsspruch in Schwerin: Stigmatisiert mit einer einjährigen Bewährungsstrafe blieben ihm der Wiedereinstieg ins Abitur und eine Lehre versagt. Johannes Lohmann entschloss sich daraufhin, am Kirchlichen Proseminar in Naumburg Theologie zu studieren, um anschließend in Mecklenburg Pfarrer zu werden. 243 Im Frühjahr 1982 meldete die Volkspolizei der MfS-Bezirksverwaltung Neubrandenburg, dass Johannes Lohmann, der nach einer Zwischenstation in Mölln 1976 Pfarrer in Stavenhagen geworden war, das »pazif[istische] Symbol« Schwerter zu Pflugscharen im Fenster seiner Wohnung und im kirchlichen Schaukasten ausgehängt habe. 244 Am 8. April 1982, so ist es dem Eintrag auf der Kerblochkartei zu entnehmen, »wurde L[ohmann] durch [den] Stellv[ertretenden] Vors[itzenden] Inneres aufgefordert, [die] Symbole zu entfernen«, was er jedoch ablehnte. 245 Im Laufe des Pfingstgottesdienstes 1984 in Teterow wandten sich mehrere Teilnehmer mit ihren Fragen an den Landesjugendpastor. Das MfS schrieb in der ihm eigene Sprache, es »konzentrierten sich Jugendliche« um ihn. 246 Diskutiert wurde dabei über politisch aktuelle Themen. Es gab, so die Spitzel des MfS, mehrere Wortmeldungen »zu Problemen der Glaubensfreiheit und Demokratie in der DDR«. Pfarrer Johannes Lohmann ließ an seinen Auffassungen keine Zweifel aufkommen: Das Vorgehen von MfS und Volkspolizei gegen die »Friedensaktivitäten der Kirche« charakterisierte er als »Behinderung der kirchlichen Tätigkeit«. 247 Zugleich warb er dafür, den »Spielraum, den wir Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR«, Autor: Hptm. ClausDieter Wulf, BV Schwerin, Abt. XX/4, Abschluß der Arbeit: 15.2.1984: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 1666, Bl. 41. 241 Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 347 f. 242 In anonymisierter Form (»Landesjugendpastor Johannes L. 1984«) ist der Vorgang wiedergegeben in: Pingel-Schliemann, Sandra: Lebenswege … im Schatten des Staatssicherheitsdienstes. Schwerin 2008, S. 164–178, hier 164 f. 243 Ebenda. 244 Die mecklenburgischen Pfarrer seit dem dreißigjährigen Kriege. Die Pfarren des Kirchenkreises Malchin von 1933 bis 2000. Hg. v. Oberkirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs, ohne Ort und Jahr, S. 99; MfS, BV Neubrandenburg, Kerblochkartei JohannesMichael Lohmann, FS 130 v. 5.4.82. 245 Ebenda. 246 MfS, BV Neubrandenburg, Information zum Jugendgottesdienst am 09.06.1984 in der evangelischen Stadtkirche Teterow: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX ZMA, Nr. 3691, Bl. 263. 247 Ebenda.

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haben, phantasievoll auszunutzen und nach Möglichkeit des Aussteigens« aus den vermeintlichen Zwängen des DDR-Alltags zu suchen. Jeder sollte sich als »Einzelmensch« mit dieser Frage auseinandersetzen. 248 »Pastor Lohmann/Schwerin versuchte«, so fasste die Stasi zusammen, »negativ wirksam zu werden«. 249 Der offene Diskurs mit den Zugereisten stieß ebenso auf wenig Verständnis beim heimischen Ausrichter des Jugendgottesdienstes. Vermehrt hatte man sich in dem einst politisch unangepassten Kreis von einem allzu staatskritisch-provokanten Auftreten abgesetzt. Vereinzelt gab es inzwischen auch Verständnis für die Lage der DDR und eine verhaltene Sympathie gegenüber der Politik der sozialistischen Staaten in der »Dritten Welt«. Man beschäftigte sich mit den Gedichten des nicaraguanischen Links-Revolutionärs und Priesters Ernesto Cardenal und leitete hieraus den Schluss ab, dass Christen verstärkt danach fragen müssten, ob sie mit den Marxisten in der DDR nicht manches gemein hätten. 250 Anstatt wie früher nur das Trennende zu sehen, wolle man vermehrt nach Gemeinsamkeiten suchen und sich als berechenbarer Partner der staatlicher Stellen erweisen. 251 Dazu gehöre, dass eine als Jugendgottesdienst angekündigte Veranstaltung, die die Repräsentanten des Staates vorab bereits in Unruhe versetzte hatte, nicht obendrein in einem Forum der Kritik ausufern dürfe. Johannes Lohmann »wurde [...] durch das Auftreten der [Pfarrerin] Doll und Mitglieder der Jungen Gemeinde daran gehindert bzw. erreichte sein Ziel nicht« hieß es dementsprechend zufrieden beim MfS. An anderer Stelle hielt man fest, »Mitglieder der ›Jungen Gemeinde‹ Teterow sowie auch die Pastorin Doll [...] unterstützten [...] diese Darlegungen nicht«. 252 Tatsächlich stellten die Gastgeber mithilfe missbilligender 248 MfS, BV Neubrandenburg, KD Teterow, Abschlussbericht OPK »Wandler«, Teterow, 15.2.1985: BStU, MfS, AOPK 224/85, Bd. I, Bl. 373–378, hier 375. Unklarheiten bestehen in diesem Bericht hinsichtlich der Datierung: Als Jahr, in dem der betr. Jugendgottesdienst mit Johannes Lohmann stattfand, wird hier 1983 angegeben. Angesichts der in: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX ZMA, Nr. 3691, Bl. 263 wiedergegebenen Schilderungen ist jedoch davon auszugehen, dass es sich um das Jahr 1984 handelt. 249 MfS, BV Neubrandenburg, Information zum Jugendgottesdienst am 09.06.1984 in der evangelischen Stadtkirche Teterow: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX ZMA, Nr. 3691, Bl. 263. 250 Vgl. hierzu u. a.: »1983 wurden Versuche unternommen, grundsätzliche Erkenntnisse der Marx'schen Philosophie [...] neben idealistische philosophische Positionen (Luther …) zu stellen bzw. gleichzustellen.« Nach: MfS, BV Neubrandenburg, KD Teterow, Abschlussbericht OPK »Wandler«, Teterow, 15.2.1985: BStU, MfS, AOPK 224/85, Bd. I, Bl. 373–378, hier 375. 251 Zitiert wird so die Pfarrerin Ulrike Doll während eines Treffens der Jungen Gemeinde, in dem unter anderem die »Stationierung sowjetischer Raketen in der DDR« und die Position von Christen an Schulen und in den Betrieben ging: »›Ihr müßt überzeugen, daß ihr nicht gegen die anderen seid‹, sagte die Pfarrerin den jungen Leuten, ›daß ihr mit ihnen zusammen überlegen wollt, wie man weiteres Wettrüsten verhindern kann‹«. Nach: Menge, Marlis: Beten gegen Raketen. In: Die Zeit, Nr. 49/1983, 2.12.1983. 252 MfS, BV Neubrandenburg, Information zum Jugendgottesdienst am 09.06.1984 in der evangelischen Stadtkirche Teterow: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX ZMA, Nr. 3691,

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Gesten, restriktiver Eingriffe bei der Worterteilung und Kritik klar, was sie vom unerwarteten Verlauf der Veranstaltung hielten. Auch hier hatte die staatliche Differenzierungspolitik seine Spuren hinterlassen: »Nicht ohne Einfluß auf« den Verlauf, so lobte man sich staatlicherseits selbst, seien »das [...] [am] 05.06.84 mit der Pastorin [...] durch den Stellv[ertreter] für Innere Angelegenheiten geführte Gespräch und die zum Ausdruck gebrachte Erwartungshaltung geblieben«. 253 Die Teterower Begegnung stellte letztlich nur eine Begebenheit dar, die in der Folge bei Johannes Lohmann den Eindruck hinterließen, er würde aufgrund seiner Position zunehmend gemieden. Johannes Lohmann, der sich auch in der Friedenarbeit engagierte, bat im Januar 1987, wie Rahel Frank schreibt, »überraschend um seinen Abschied« aus dem Amt als Landesjugendpfarrer und »stellte einen Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland«. 254 Neben der anstehenden Scheidung führt Rahel Frank hierfür maßgeblich innerkirchliche Spannungen, inhaltliche Differenzen und die Infragestellung seines politischen Engagements an. 255 Dem vom Staat durch Vorladungen beim Rat des Bezirkes Bedrängten schien es, dass ihm die Solidarität versagt würde. 256 Zugleich sah er seine Position in der von ihm durchgeführten Jugendarbeit durchaus plausibel begründet: »In einer Zeit, in der sich die Jugend schon längst von den Zielen des Sozialismus abgewandt habe«, so Rahel Frank zu Lohmann Ansichten, hielt die Kirche unnötigerweise immer noch am Begriff »Kirche im Sozialismus« fest. 257 Doch sah sich Johannes Lohmann mit seinem Votum, sich von diesem Begriff zu verabschieden, wie ihm die Reaktionen im Teterower Pfingst-Gottesdienst aufzeigten, so weit isoliert, dass ihm schließlich die Kraft fehlte, hierfür weiter einzustehen. Noch im selben Jahr, 1987, bewilligte man seinen Ausreiseantrag und ließ ihn nach West-Berlin ausreisten. 258 Aber auch innerhalb der oppositionellen Gruppen kam es zu Diskussionen, wieweit man grundsätzlich und im Einzelfall gehen könne. Unterschiedliche Antworten gab es auch auf die Frage, wie viel Nähe zu den in der DDR zugelassenen Vereinen und Verbänden verantwortbar wäre: Hierzu zählte die in Bl. 263 f.; MfS, Kerblochkartei der BV Neubrandenburg, Pastorin Ulrike Doll, Eintrag 27.6.1984: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, KK, Auskunft vom 19.12.2007. 253 MfS, BV Neubrandenburg, KD Teterow, Abschlussbericht OPK »Wandler«, Teterow, 15.2.1985: BStU, MfS, AOPK 224/85, Bd. I, Bl. 373–378, hier 375. 254 Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 355. Lohmann war beteiligte sich so an der Arbeitsgruppe Frieden, einer Koordinierungsgruppe der Friedensarbeit in der mecklenburgischen Landeskirche. 255 Ebenda, S. 354 f. 256 Ebenda, S. 346–357. 257 Ebenda, S. 354 f. 258 Ebenda, S. 355 f.

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den Umweltkreisen von Beginn an virulente Diskussion, ob und inwieweit man mit den von staatlicher Seite lizenzierten Kulturbundgruppen zusammenarbeiten könne. Befürwortet und praktiziert werden sollte ein entsprechendes projektbezogenes Zusammengehen vom Öko-Kreis Leipzig, der mit dem Grünflächenamt der Messestadt seit 1983 Baumpatenschaften abschloss. Während eine solche Kooperation bei den Gruppen des Berliner wie Potsdamer Raumes weitestgehend auf Ablehnung stieß, entschied man sich auch in Rostock hierfür: Die ersten Baumpflanzaktionen fanden hier in enger Kooperation mit dem VEB Grünanlagen statt, der mehrere hundert Bäume stellte und die Umweltaktivisten mit seiner Technik unterstützte. An die fünfzig Jugendliche trafen sich hier jeweils zum Arbeitseinsatz. Am Wochenende vom 24. bis 26. Oktober 1980 luden die Initiatoren unter dem Thema »Nicht nur Hunde brauchen Bäume« so bereits zur 3. Baumpflanzaktion nach Rostock ein. 259 Die Baumpflanzaktionen waren dabei stets mehr als einfach nur Schritte zur Stadtbegrünung. Vor allem ging es den Gruppen darum, Präsenz zu zeigen, die von der Existenz einer ansonsten nur aus dem »Westen« bekannten neuen politischen Protestbewegung auch in der DDR zeugte, und um die »Zeichensetzung im öffentlichen Raum«. 260 Im Rostocker Neubaugebiet pflanzten die norddeutschen Umweltaktivisten – unter ihnen Maren Schirow, Dorothea Schmidt und Jörn Mothes – an jenem Herbstwochenende einige hundert Bäume. 261 Anfangs verstand sich die Rostocker Umweltgruppe noch als Teil einer aktionsbezogenen Bewegung, die bewusst auch dem Konflikt mit den staatlichen Stellen nicht auswich. Spätestens ab Anfang 1983 kam es in Rostock zu einer Abkehr vom aktionsbetonten Stil der politischen Provokation. In den Monaten zuvor waren einige Mitglieder aus Rostock fortgezogen. Zugleich geriet der Kreis unter den Einfluss von Christoph Bohmann, der im September 1981 aus Luckenwalde nach Rostock kam und in der Diakonieanstalt auf dem Michaelshof arbeitete. 262 Zu jenen Stellen, mit denen Bohmann zu kooperieren versuchte, zählte auch die staatlicherseits zugelassene Gesellschaft für Natur und Umwelt beim Kulturbund der DDR. Anfang Februar führte er diesbezüglich ein Gespräch mit dem »Bezirkssekretär [...] im Bezirkssekretariat des Kulturbundes«, das jedoch nicht den von ihm erwünschten Erfolg erbrachte. Der offizielle Dachverband schreckte davor zurück, eine »kirchliche Umweltschutzbewegung 259 Beleites, Michael: Pflanzzeit. Die kirchliche Umweltbewegung in der DDR – Impulse und Wirkungen, Wittenberg 1998, S. 2. 260 Ebenda. 261 Ebenda. 262 Christoph Bohmann präsentiert eine eigene Sicht der Dinge unter: http://www.bofried.de (14.07.2014), wo er unter anderem Auszüge aus dem vom MfS gegen ihn angelegten OPK »Baum«, die Klarnamen von Spitzeln und weitere Hintergrundinformationen präsentiert.

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außerhalb des staatlichen Bereiches« als Gegenüber anzuerkennen: Eine »Zusammenarbeit«, erklärte der Bezirkssekretär der Gesellschaft für Natur und Umwelt (GNU), mit einer »außerhalb der GNU formierten Gruppe« könne es »nicht geben«. 263 Christoph Bohmann hielt hingegen am Kooperationsgedanken, der die Umweltgruppen zur Mäßigung anhielt, fest. Deutlich vertrat er diese Position auch auf dem Winterseminar in der Rostocker Johanniskirche. Ivos Piacentini berichtete als Spitzel »Fred«, 264 dass sich Bohmann dafür ausgesprochen habe, »daß sich die Organisatoren derartiger Veranstaltungen bzw. Aktionen um ein gutes Verhältnis zu den staatlichen Organen bemühen sollten«. 265 Die Kritik zweier Berliner Teilnehmer, dass dies wohl kaum zumutbar sei, wies Bohmann entschieden – laut IM-Bericht »dahingehend weisungsgebend« – zurück. Bohmanns Begründung war einfach wie einfältig zugleich: Schuld an dem Umstand, dass es zu keiner Zusammenarbeit käme, sei »das Auftreten von Mitgliedern der ESG in Berlin«. Jene hätten bei den Protesten in Schwerin gegen den Autobahnbau nach Wismar ihre Konfliktbereitschaft unnötigerweise unter Beweis gestellt. 266 Christoph Bohmann, so zeigte sich die Abteilung XX/4 in ihrem Resümee zum Winterseminar erleichtert, »sprach sich positiv zur Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen aus«. 267 Zugleich »forderte« er dazu »auf, sich von [...] Aktionen z. B. der Berliner ESG, der Rostocker ESG und von Heiko Lietz fernzuhalten«. 268 Wichtig sei, dass es »bei den ›Aktionen‹ zu keiner Konfrontation mit dem Staat kommen darf«. 269 Auch ansonsten blieb das Winterseminar in der Johanniskirche vom verheilenden Gehorsam der Veranstalter geprägt. Bereits im Vorfeld sprach die staatliche Seite den Gemeindepfarrer Albrecht von Maltzahn daraufhin an, ob er gewährleisten könne, dass die »Veranstaltung nicht zu einer ›Meckerecke‹ ausartet«, die sich gegen die Umweltpolitik der DDR richte. 270 Bohmann und von Maltzahn taten das ihrige, um den in sie vom Staat gesetzten Erwartungen zu entsprechen. Zwar konnte angesichts des angekündigten Vortrages »Kernkraft 263 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat III, Einleitungsbericht zur OPK »Baum«, Rostock, 7.5.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 252/87, Bd. I, Bl. 6–9, hier 7. 264 Vgl. hierzu unter anderem: Hildebrand, Gerold: Andreas Schönfelder. In: Kowalczuk, IlkoSascha; Sello, Tom (Hg.): Für ein Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 284–286, hier 285. 265 MfS, BV Rostock, KD Doberan, Mündliche Information, Quelle: IMB »Fred«, 27.2.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 252/87, Bd. I, Bl. 129–132, hier 131. 266 Ebenda. 267 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Aktivitäten kirchlicher Kreise im Rahmen des Natur- und Umweltschutzes, Rostock, 27.2.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 252/87, Bd. I, Bl. 139–159, hier 141. 268 Ebenda. 269 Ebenda. 270 MfS, BV Rostock, KD Doberan, Mündliche Information, Quelle: IMB »Fred«, 27.2.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 252/87, Bd. I, Bl. 129–132, hier 129.

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– Nein danke? Risiko bei der Nutzung der Kernenergie. Sicherheitsproblem bei Kernkraftwerken« noch mit einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema auf dem Seminars gerechnet werden. 271 Inhaltlich ließ der Vortrag für die hierüber erstaunten staatlichen Stellen keinerlei Wünsche offen. Getrübt wurde jener Eindruck im Nachgang nur durch die »häufige Kritik (Meckereien)« einiger Seminarteilnehmer. 272 Sie nahmen an den Ausführungen des Referenten Anstoß und fragten sich verwundert, ob sie sich tatsächlich auf einem Seminar einer Umweltgruppe befänden. Der Referent stellte die Atomenergie in seinem Vortrag, laut IM »Fred«, »äußerst positiv und [als] zur Zeit einzige, die Umwelt am geringsten belastende Energieerzeugungsform« dar. Entschieden wehrte er zusammen mit Pfarrer von Maltzahn, der hierin eine jugendliche Disziplinlosigkeit erblickte, und Christoph Bohmann, der auf die negativen Folgen des Braunkohletagebaus in Süden der DDR verwies, alle kritischen Nachfragen ab: »Äußerungen hinsichtlich einer veralterten Sicherungstechnik bei Atomkraftwerken in der UdSSR« trat der Referent souverän »entgegen«. 273 Dementsprechend zufrieden zeigte sich das Staatssicherheitsministerium angesichts des Vortrages: »Inhaltlich brachte er zum Ausdruck«, resümierte das MfS, »daß die Nutzung der Kernkraft für die DDR die einzige umweltfreundliche Möglichkeit ist, um Energie zu gewinnen«. 274 Man kam zu dem Schluss, »daß sich das Referat nicht gegen die Interessen der DDR gerichtet« habe und »diese nicht offen angegriffen« worden sei. 275 Die Vorgänge rund um den in der Operativen Personenkontrolle »Baum« vom MfS erfassten Christoph Bohmann bildeten jedoch allenfalls eine Ausnahme. In der Regel konnten die staatlichen Stellen nicht mit einer solch vorauseilenden Anpassungsleistung rechnen. Dementsprechend ernüchtern fiel die Einschätzung der Staatssicherheit aus: »Durch feindlich-negative Kräfte aus anderen ›Umweltschutzkreisen‹ der DDR wird die inkonsequente Haltung des B. gegenüber staatlichen Organen und Einrichtungen kritisiert«, hieß es wenig hoffnungsvoll. 276 Nicht selten drängte der Staat die Kirche dazu, auf die Gruppen mäßigend einzuwirken. Dies insbesondere im Vorfeld kirchlicher Großveranstaltungen. Zum einen schien das öffentliche Interesse an dem, was sich in dieser Zeit in der Kirche tat, besonders hoch zu sein; zum anderen blieben die kirchlich 271 Abschrift des Programms des Winterseminars: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 252/87, Bd. I, Bl. 137. 272 MfS, BV Rostock, KD Doberan, Mündliche Information, Quelle: IMB »Fred«, 27.2.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 252/87, Bd. I, Bl. 129–132, hier 131. 273 Ebenda, Bl. 130. 274 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Auskunftsbericht zur Person [Name], [Vorname], ohne Ort und Datum: BStU, MfS, BV Halle, AIM 2234/86, Bl. 92–94, hier 94. 275 Ebenda. 276 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat III, Zwischeneinschätzung zur OPK »Baum«, Rostock, 15.4.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 252/87, Bd. I, Bl. 18–22, hier 21.

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Verantwortlichen bei der Vorbereitung der Kirchentage auf das Wohlwollen der staatlichen Stellen angewiesen. 277 Schließlich mussten die Bezirksbehörden nicht nur um die Ausnahmegenehmigung zur Nutzung öffentlicher Plätze gebeten werden. Zugleich hoffte man, Druckgenehmigungen und Sonderkontingente zur Versorgung mehrerer tausend Gäste zu erhalten. Häufig blieb bis zum Schluss offen, ob der Bezirk die von ihm angewiesenen Stellen in der Stadtverwaltung und in den Verkehrsbetrieben nicht doch in letzter Minute von den Zusagen zurücktreten ließ. Bereits zugesagte Leistungen wurden in solchen Fällen nicht oder nur zögerlich realisiert oder einmal erteilte Nutzungsgenehmigungen zurückgezogen. Auch wenn es nicht allzu häufig zu einem solchen Vertragsbruch kam, so diente die Möglichkeit, es hierzu kommen lassen zu können, den Bezirksbehörden jeweils als probates Mittel, um den Druck gegenüber der Kirche aufrechtzuerhalten. Einem solchem Szenarium sah sich auch Pfarrer Joachim Gauck als Vorsitzender des Kirchentagsausschusses der Mecklenburgischen Landeskirche während des Kirchentages in Rostock am 12. Juni 1983 ausgesetzt. Zuvor war der Erste Stellvertretende für Inneres beim Rat des Bezirkes Rostock, Jürgen Haß, an ihn herangetreten und hatte ihn auf ein vom Staat nicht zu tolerierendes »Vorkommnis« in der Marienkirche hingewiesen. Auf einer Wandzeitung unter dem Titel »Pfingstreffen der Jugend, Rostock 21.5.'83« informierte ein Friedenskreis die Öffentlichkeit darüber, dass man mit eigenen Plakaten an der Pfingstdemonstration 1983 in Rostock teilgenommen habe. 278 Neben den sieben Fotos von der Aktion befand sich auch ein Offener Brief an »Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Herrn Erich Honecker«. 279 In ihm schilderten die Teilnehmer der Aktion, wie sich um sie »ein Kreis von Fahnenträgern« formiert hatte, der sie »regelrecht mit den Fahnen einhüllte« und gewaltsam vom Ernst-Thälmann-Platz zum benachbarten Ziegenmarkt, »einem kleinen Nebenmarkt«, abdrängte. Einem der unabhängigen Demonstranten wurde sein Plakat »Entrüstet Euch!« von einem FDJler entrissen, ein anderer »festgehalten und aufgefordert«, sein Plakat »mit dem ›Gewehrzerbrechenden‹ herzugeben«. 280 All dies, so bekannten die Autoren des Briefes, konterkariere den immer wieder inflationär-beteuerten »Friedenswillen« der DDR-Führung. Die zweieinhalb engbeschriebenen Seiten 277 Vgl. zur Kirchentagsarbeit: Schröder, Otto; Peter, Hans-Detlef (Hg.): Vertrauen wagen. Evangelischer Kirchentag in der DDR. Berlin 1993. 278 Zeitzeugengeninterview mit Christian Utpatel am 29. Juni 2011 in Klein Gievitz, Landkreis Müritz. Genutzt wurden im Weiteren zudem folgende Materialien: Fotodokumentation zum Kirchentag (Fotos: Christian Utpatel) und zur Demonstration auf dem Ernst-Thälmann-Platz Pfingsten 21. Mai 1983 in Rostock (Fotos: Hans Krischer); Durchschlag des Briefs an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Herrn Erich Honecker, Rostock, den 26.5.1983, Privatbesitz Christian Utpatel; Gedächtnisprotokoll Christian Utpatel vom 22.12.1992, Privatbesitz Christian Utpatel. 279 Fotodokumentation zum Kirchentag (Fotos: Christian Utpatel). 280 Durchschlag des Briefs an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Herrn Erich Honecker, Rostock, den 26.5.1983, Privatbesitz Christian Utpatel.

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zeugten sie nicht nur von einer verwegen mutigen Protestaktion. Sie zeigten zugleich, dass sich auch im Ostseebezirk oppositionelle Strukturen herausbildeten. Eben jenes unscheinbare Schriftstück unter den unzähligen Kirchentagsdokumenten veranlasste Jürgen Haß, bei Joachim Gauck zu intervenieren. In seiner Funktion als Vorsitzender des Kirchentagsausschusses glaubte Gauck auf die Jugendlichen mäßigend einwirken zu müssen. Schließlich sei der Brief – so das von Haß vorgebrachte Scheinargument – Teil einer privaten Korrespondenz und von Erich Honecker noch nicht beantwortet worden. 281 Der Friedenskreis fand einen ihm praktikabel erscheinenden Weg angesichts von Gaucks Bitte, den Brief vom Stand zu entfernen. Mit Klebeband und Papier überdeckten sie die Seiten – so verschwand der Brief zwar, blieb aber weiterhin auf der Tafel hängen. Mit neun roten Pfeilen, die den Blick des Betrachters auf das Corpus delicti lenkten, umkränzten sie den »weißen Fleck«, der nun – so gekennzeichnet – erst recht die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich zog. 282 Der Zensur-Eingriff der Kirchentagsleitung bescherte dem bis dahin schon stark beachteten Stand weitere Popularität. Der überklebte Brief und seine Geschichte schafften es in der Folge bis in die westliche Berichterstattung über die ostdeutschen Kirchentage im Lutherjahr 1983: Sowohl der Norddeutsche Rundfunk als auch die Tageszeitung »Die Welt« verwiesen in ihrer Reportage auf die verdeckte Stelle in einer ansonsten debattierfreudigen Ersatzöffentlichkeit unter dem »Dach der Kirche« während des Christentreffens. 283 Noch im August 1989 sollte eine vom Staat als kritisch empfundene Ausstellung im Greifswalder Dom durch »kirchenleitende Personen« nicht nur zensiert, sondern gänzlich aus dem Gotteshaus verband werden. In der vom Ökologiekreis Rostock gestalteten Ausstellung unter dem Titel »Atomenergie: Nicht nur ökonomische, sondern auch politische Fragen. Geht jeden an« wurde auf neun Tafeln über die Risiken der Atomkraft informiert. 284 Der Ausstellung kam eine besondere Aktualität wie Brisanz zu: In Lubmin, nur knapp fünfzehn Kilometer vom Dom entfernt, versah seit 1973 ein Atomkraftwerk sowjetischer Bauart seinen Dienst. Hinzu kam, dass das Atomkraftwerk »Bruno Leuschner« trotz der Reaktorkatastrophe in der Ukraine erweitert wurde und mittlerweile über vier Blöcke verfügte. Fünf weitere befanden sich Planung bzw. bereits im Bau. 281 Gedächtnisprotokoll Christian Utpatel vom 22.12.1992, Privatbesitz Christian Utpatel. 282 Ebenda. 283 »Lutherjahr, die SED und Nadelstiche. Die Kirchentage verdeutlichen ein gewachsenes Kritik-Bewußtsein der ›DDR`-Jugend«. In: Die Welt. Unabhängige Tageszeitung für Deutschland (Hamburger-Ausgabe), Nr. 158, 11.7.1983, S. 4. 284 MfS, BV Rostock, Eilmeldung (per Flugzeug) des 1. Stellvertreters des Leiters der MfSBezirksverwaltung Rostock, Oberst Amthor, an den Stellvertreter des Ministers, Generaloberst Mittig, Information über eine Ausstellung zum Thema »Atomenergie« im Greifswalder Dom, Rostock, 22.8.1989: BStU, MfS, BV Rostock, Abteilung XX, Nr. 594, Bl. 68.

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Insbesondere die Assoziationen zu vorangegangenen Störfällen in den Anlagen des Atomkraftwerk-Lieferanten, der Sowjetunion, riefen die MfSKreisdienststelle auf den Plan: »Eine Tafel« der Ausstellung, so teilte man am 22. August mit, »enthält eine ausführliche Darstellung zur Havarie von Tschernobyl«. 285 Angesprochen würden auf einer weiteren Tafel zudem »mögliche Unglückshandlungen im KKW ›Bruno Leuschner‹ Lubmin«. Obwohl sich die Ausstellung weitgehend auf in der DDR verfügbare Veröffentlichungen und Meldungen bezog, forderte der Rat der Stadt Greifswald den sofortigen Abbau der Ausstellung. Im koordinierten Vorgehen mit der MfSBezirksverwaltung sollte Druck auf die Kirche ausgeübt werden. Hierbei ließ sich der Generaldirektor von Lubmin, Lehmann, in die Pflicht nehmen. Nachdem er die Ausstellung im Parteiauftrag in Augenschein genommen hatte, sprach er beim zuständigen Superintendenten Wackwitz vor. Insgesamt offenbarten die Irritationen, die die Ausstellung hervorrief, die Defizite einer nicht an den freien Meinungsaustausch gewöhnten Gesellschaft. Es fehlte die Fähigkeit, umstrittene Themen zuzulassen und in diskursiver Form zu durchdenken. Wie das MfS von Lehmann erfuhr, sei die Präsentation, »eine sachlich nüchterne«, zugleich aber auch »stark auf emotionale Wirkung ausgerichtete Ausstellung«. Einerseits werde »die Notwendigkeit des Ausbaus bzw. Neubaus von Kernkraftwerken in der DDR begrüßt, aber gleichzeitig« wieder »in Frage gestellt«. 286 Unmittelbar nach der Intervention des Stellvertreters für Inneres beim Rat der Stadt entschied die Greifswalder Kirchenleitung am 23. August 1989, die Ausstellung aus dem Dom zu entfernen. 287 Zeugnis von dem Argwohn, mit dem sich jemand konfrontiert sehen konnte, der etwas als ungewöhnlich Geltendes in der von politischen Normen durchzogenen Gesellschaft tat, legt Vorfall in Usedom (Stadt) 1974 ab. Von den Betreffenden wurde er, auch wenn es sich um einen legitimen Vorgang handelte, als Protestaktion verstanden und auch die anwesenden Zeitzeugen sahen dies ebenso. Wie es zu erwarten war, ließ auch das MfS keinen Zweifel am politischen Charakter der Aktion aufkommen. Auf einem Postamt erschienen Anfang Februar zwei Ärzte, um, wie das MfS betonte, »geschlossen«, »mehrere Zeitschriften und Zeitungen« – unter ihnen das »Neue Deutschland« abzubestellen. 288 Als Grund sie gaben sie an, dass sie so auf den Fortfall des Landzuschlages am 1. Januar in Höhe von etwa 100 Mark 285 Ebenda. 286 Ebenda. 287 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Schreiben an die MfS Bezirksverwaltung Schwerin, Information über eine Ausstellung zum Thema »Atomenergie«, Rostock, 24.8.1989: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 594, Bl. 67. 288 MfS, BV Rostock, KD Wolgast, [Bericht über] negatives Verhalten der Tierärzte in Usedom, Wolgast, 7.2.1974: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 44, Bd. 1, Bl. 60.

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reagieren wollten. Bei den Zuschauern löste, wie das MfS vermerkte, »die Handlungsweise beider Tierärzte [...] bei den Angestellten des Postamtes [...] empörte Diskussionen aus«. 289 Die Einschätzung, dass sich die Postangestellten über den Schritt der Tierärzte echauffierten, musste keineswegs der Phantasie der Berichterstatter entstammen. Sozialneid und Argwohn gehörten zum Alltag in der DDR. Sie kamen insbesondere zum Tragen gegenüber den akademischen Berufen, von denen man meinte, dass es ihnen finanziell besser ginge. Beargwöhnt wurden auch jenen Menschen, die sich das Recht »herausnahmen«, etwas zu tun, was den Normen einer angepassten Gemeinschaft nicht entsprach. Verstärkt wurde diese Tendenz durch die propagandistische Floskel von der Nivellierung der gesellschaftlichen Statusunterschiede bei gleichzeitiger Beschwörung der klassenlosen Gesellschaft in der DDR. Gepaart mit der zu allen Zeiten anzutreffenden Borniertheit tat dies sein Übriges, um Menschen, die als anders wahrgenommen wurden, vorzuwerfen, dass sie »etwas Besseres sein wollten«. Hinzu kam die Angst, selbiges zu tun. Sie wurde überdeckt von dem Argument, doch nur das zu machen, was alle tun würden und was »normal« sei. Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung wirkte an der normativen Durchdringung ihrer Gesellschaft und ihrer eigenen Disziplinierung selbst mit. 4.2.2 Gerüchte, Unsicherheit, Stress und Missgunst – das subtile Wirken der Staatssicherheit und die paralysierende Kraft von Überwachung und MfSMythos Auch andernorts ließen sich vergleichbare Absetzbewegungen beobachten. Wie in Kessin führten staatliche Schikanen auch in Wismar zum Rückzug Einzelner. Hinzu kamen versteckte bis unverhohlene Drohungen, verbunden mit den Schwierigkeiten, die sich im Alltag für die, die sich engagierten, ergaben. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei laut MfS die »Angst vor beruflichen und persönlichen Schwierigkeiten«. 290 Einer der Gründer des Ökumenischen Zentrums Umwelt, der Wismarer »Umweltbibliothek«, befürchtete so, »nicht wieder als Lehrer auf Honorarbasis an der Medizinischen Fachschule eingesetzt zu werden«. 291 Auch sah er für sich die Gefahr, dass er trotz »seiner Bewerbung [...] nicht als Neurologe im Landkreis Wismar [...] tätig werden« dürfe. Wie bei anderen Mitarbeitern des ÖZU entstand bei ihm der Eindruck, dass, wie das MfS schrieb, »strafrechtliche Sanktionen« nicht mehr auszu289 Ebenda. 290 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Bericht betr. die Ergebnisse und Wirksamkeit der durchgeführten Maßnahmen zur Disziplinierung des Friedenskreises Wismar, Wismar, 27.2.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2720/86, Bd. I, Bl. 102 f. 291 Ebenda, Bl. 103.

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schließen seien: Hierbei spielte auch ein Reservistendienstverweigerer, der zum Wehrkreiskommando in Wismar einbestellt worden war, ein Rolle. Um seinen Schritt zu begründen, führte er eine am 19. Januar 1986 »verlesene Unterschriftensammlung« an, die vom Friedenskreis und dem ÖZU initiiert worden war. 292 Kurz darauf kam es zum Streit um die Frage, welches Risiko man eingehen könne, ohne die Arbeit elementar zu gefährden. Angesichts der vorhandenen Drucksituation zeitigte jener unter gewöhnlichen Verhältnissen zu vernachlässigende Disput fatale Folgen. Nach »einer heftigen Auseinandersetzung« zogen sich vier Mitglieder, wie es das MfS in seiner Erfolgsbilanz vermeldete, vom Kreis zurück. 293 Dies war nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich wechselten zwei der Benannten aus beruflichen Gründen nach Dresden und blieben daher, was nicht allzu sehr verwundern konnte, dem Kreis fortan fern. 294 Das Spiel, das das MfS betrieb, indem es bestimmte Informationen und Gerüchte über seine Zuträger lancierte, durchschaute selbst manch ein Informant. So der IM »Isaak«, der im September 1985 ein Gespräch mit Landessuperintendent Pfarrer Christoph Pentz führte. 295 Seit 1983 lieferte er nach der Erpressung durch das MfS als IM »Gabriel Krenz« bzw. »Krenz« Berichte über »die Lage im Kirchenkreis und einzelne operativ interessante Pastoren und Aktivitäten« an die Staatssicherheit. 296 »Krenz« teilte »Isaak« in dem Gespräch seine Ansichten über Heiko Lietz mit, einem der führenden Köpfe der unabhängigen kirchlichen Friedensarbeit im Norden der DDR. 297 Zwar sei »Heiko«, so der Wismarer Superintendent, »ein lieber guter Mensch«, aber einer, der »vieles [...] verkehrt anpackt«. Als Beispiel der unvorteilhaften Nachrede diente ihm der Vorwurf, »daß die [...] Ausländer während des ›Friedenseminars‹ schlecht untergebracht worden« seien. 298 Sie hätten während einer von Heiko Lietz durchgeführten Friedenswanderung, die die Mitwirkenden zu Fuß von Pfarrhaus zu Pfarrhaus, zum Teil auch mit Paddelbooten quer durch Mecklenburg führte 299, »auf Holzpritschen schlafen« müssen. 300 Seitens der 292 Ebenda, Bl. 103. 293 Ebenda. 294 Ebenda. 295 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Bericht über den Treff mit dem IMB »Isaak«, Rostock, 10.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bl. 153 f. 296 Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 228 f. 297 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Bericht über den Treff mit dem IMB »Isaak«, Rostock, 10.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bl. 153 f. 298 Ebenda, Bl. 153. 299 Vgl. hierzu: Wunnicke, Christoph: Die Mobilen Friedensseminare von 1981 bis 1989. In: Zr. 5 (2001) 1, S. 30–39; Ders, »Mobile Friedensseminare«. Erinnerung an Politische Opposition im Norden der DDR. In: Zr. 4 (2000) 2, S. 54–56. 300 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Bericht über den Treff mit dem IMB »Isaak«, Rostock, 10.9.1985: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bl. 153 f., hier 153.

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»staatlichen Organe« sei dieser Umstand, der »dem Ansehen der DDR« schaden könne – schließlich handelte es sich um Bürger westlicher Staaten – an ihn herangetragen worden. 301 Da eine Wanderung gewöhnlich mit Entbehrungen einherging, vermutete »Isaak« geistesgegenwärtig, dass es sich nur um eine Intrige handeln könne: »Nach Meinung des IM«, so vermerkte es Oberleutnant Piehl, könne »so eine Information« nur »von einem Informanten des MfS gekommen sei..« Nach Ansicht von »Isaak« liege es »auf der Hand, daß das MfS mit so einer Art der Auswertung« der ihm verfügbaren Informationen »Heiko als Person und die ›Friedensbewegung‹ unmöglich machen will«. Ziel sei es anscheinend, »ein weiteres ›Mobiles Friedensseminar‹ zu verhindern«. »Isaak« äußerte schließlich grundlegende Bedenken angesichts seines konspirativen Gesprächkontaktes mit dem MfS: In der Konsequenz habe er grundsätzlich »keine Kontrolle darüber, was mit seinen Informationen« geschehe. 302 Aber auch das Gegenteil lässt sich belegen: Die Anerkennung des Engagements durch jene, die untätig blieben. Da dies häufig nur in versteckter Form geschah und die Würdigung den Betreffenden nicht erreichte, relativiert dies nur zum Teil das Bild, das sie von ihrer Umgebung gewannen. Für jene Form der Sympathie steht ein Telefonat, dass die Abteilung 26 der Bezirksverwaltung Neubrandenburg im Januar 1985 verdeckt aufzeichnete. In ihm unterhielten sich eine Frau X. aus Güstrow im Bezirk Schwerin mit einer Frau Y. im Einzugsgebiet der Bezirksverwaltung Neubrandenburg über ein Strafverfahren, das Heiko Lietz zwischenzeitlich drohte. »Also«, antwortete Frau Y. ihrer Kollegin X. auf die Mitteilung hin, dass die staatlichen Stellen Heiko Lietz »nichts nachweisen können«, dass sie feststellen möchte, dass »er [...] das Herz ja auf dem richtigen Fleck« habe. 303 Diese Einsicht könnte als simple wie überwältigend zugleich gelten. Dies insbesondere angesichts der Kritik und der Widerstände, mit denen sich Heiko Lietz immer wieder auseinanderzusetzen hatte. Seine Aktionen seien, so wurde ihm vorgehalten, zu provokant und auf ihre Folgen hin zu wenig durchdacht. Hinzu kam die Schutzbehauptung, seine Friedensarbeit sei konzeptionell nicht fundiert genug und die Seminar nicht 301 Ebenda. 302 Ebenda sowie MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Vorschlag zur Archivierung des IM-Vorganges und [zur] Aufnahme der aktiven operativen Bearbeitung, Rostock, 2.12.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 2787/88, Bl. 15–18. Piehl wurde vor dem Dezember 1988 zum Hauptmann befördert. 303 MfS, BV Neubrandenburg, Abt. 26, Informationsbericht vom 25. Januar 1985, Neubrandenburg, 28.1.1985: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AOPK 492/85, Bd. II, Bl. 123. Konkret ging es um ein Prüfungsverfahren auf Einleitung eines Ermittlungsverfahrens nach § 214 StGB (Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit) und § 219 StGB (Ungesetzliche Verbindungsaufnahme). Der Hintergrund war, dass Heiko Lietz nach den tödlichen Schüssen eines MfSWachmannes auf zwei Bewohner Güstrows im Dezember 1984 eingeständig das Gespräch mit den Hinterbliebenen gesucht hatte und einen Friedensgottesdienst, in dem er die Vorfälle ansprach, durchgeführt hatte. Vgl. hierzu: Lietz, Heiko: Stasi-Wachmann tötet zwei Güstrower. Ein Erfahrungsbericht. In: HuG 17 (2008) 1, Nr. 59, S. 38–41.

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genügend inhaltlich vorbereitet: »Wissen Sie«, so lautete schließlich das Fazit von Frau X., »im Grunde genommen tut er das alles, was wir tun müßten. Und das wissen wir natürlich auch«. 304 4.2.3 Das Engagement Einzelner und Indifferenz auf Kosten der Solidarität Zu den in Rostock aktiven Friedensgruppen zählte auch der ESGFriedenskreis. Die Friedensgruppe, die sich Arbeitskreis »Erziehung zum Frieden« nannte und etwa 15 Mitglieder umfasste, traf sich während der Semester seit 1981 nahezu wöchentlich in der Petrikirche. Hier diskutierte man über den Wehrkundeunterricht an den Schulen und das neue Wehrdienstgesetz vom 25. März 1982. Es bot den Wehrkreiskommandos die Möglichkeit, auch Frauen »während der Mobilmachung und im Verteidigungszustand« einzuziehen und vorab zu mustern. In der Petrikirche beriet man, was dagegen unternommen werden könne. 305 Zu den Aktivitäten zählten auch die Friedensseminare – so unter anderem vom 20. bis 22. November 1981 in Zingst 306 – oder auch Treffen mit Studenten einer niederländischen Partnergemeinde. Als besonderes Problem erwies sich die Stellung der Studenten im Bildungssystem der DDR. Das Studium galt als ein vom Staat gewährtes Privileg, dass dem Betreffenden bei Unbotmäßigkeit jederzeit wieder entzogen werden konnte. Die ESG stand so nicht nur einmal vor der Herausforderung, eindeutig sein zu wollen und zugleich in bestimmten Fragen Zurückhaltung zu üben, um nicht einzelne Studenten zu gefährden. Am 19. März 1981 verabschiedete der Kreis, wie einer der Spitzel berichtete, »nach langwierigen Diskussionen« einen Protestbrief an die Regierung der DDR. Die Unterzeichner bezogen in ihm Stellung gegen den Wehrkundeunterricht an den Schulen, forderten ein Verkaufsverbot für Kriegsspielzeug und das Ende von Militärparaden in der DDR. 307 Mit ihrer Unterschrift setzten sie sich zugleich über eine Intervention von Rechtsanwalt Wolfgang Schnur hinweg, der im Vorfeld darauf verwiesen 304 Ebenda. 305 Im neuen Wehrdienstgesetz vom 25.3.1982 hieß es hierzu unter § 3 (Pflicht zum Wehrdienst), Absatz (5): »Während der Mobilmachung und im Verteidigungszustand können weibliche Bürger der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Lebensjahr an bis zum 31. Dezember des Jahres, in dem sie das 50. Lebensjahr vollenden, in die allgemeine Wehrpflicht einbezogen werden. Das gilt für die Vorbereitung der Mobilmachung und des Verteidigungszustandes entsprechend, soweit dazu in diesem Gesetz etwas festgelegt ist.« Vgl. hierzu: Gesetz über den Wehrdienst in der Deutschen Demokratischen Republik – Wehrdienstgesetz vom 25.3.1982. In: Gesetzblatt der DDR, 1982, Berlin, den 2. April 1982, Teil I, Nr. 12, S. 221–229. 306 MfS, BV Rostock, Fotodokumentation Einsatz »Heinz«: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 192/91, Bd. I/1, Bl. 88. 307 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Quelle: IMS »Heinz«, Tonbandabschrift. Bericht zum Arbeitskreis »Erziehung zum Frieden«, der am 19.3.1981 in der ESG stattgefunden hat, in der Petrikirche, von 19.00 bis 22.00 Uhr: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 192/91, Bd. I/1, Bl. 233–236, hier 233.

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hatte, dass derlei Unterschriftensammlungen in der DDR verboten seien. Schnur, der zugleich als Inoffizieller Mitarbeiter des MfS tätig war, genoss als »Kirchenanwalt« weitgehende Autorität. 308 Doch vermochte er die Mitglieder des Arbeitskreises in diesem Fall nicht umzustimmen. Anschließend wurde der Brief für eine Woche öffentlich in der Petrikirche ausgelegt. 309 Zur unumwunden mutigen Tat des Aufbegehrens gesellten sich zugleich Zweifel und Befürchtungen angesichts des ungewissen Ausgangs einer solchen Aktion. So entspann sich noch während des Treffens am 19. März eine zeitraubende Diskussion, ob es klug sei, den Brief direkt an Erich Honecker zu schicken oder er besser dem Bischof in Schwerin mit der Bitte um eine Weiterleitung zugestellt werden solle. Erwähnt wurden die »Gefahren für die Studenten«, die unterzeichnet hätten, was wohl »sehr gefährlich« wäre, da dies »mindestens [die] Exmatrikulation für einige Studenten« nach sich ziehen könne. 310 Schließlich entschied man sich mit neun gegen vier Stimmen, den Protestbrief an Bischof Heinrich Rathke zu senden und ihn zu ersuchen, sich für die Anliegen einzusetzen. Während manch einer einräumte, den Brief nicht unterschreiben zu wollen, wenn er direkt an Honecker geschickt würde, kritisierten andere, dass man nun, da Rathke den Brief erhalte, durchaus eindeutigere Worte hätte finden können. So berichtete einer der Spitzel, dass bei »der Formulierung des Briefes [...] darauf hingearbeitet« wurde, »daß alles, was irgendwie [...] die Regierung provozieren könnte, herausgehalten wurde«. Aufnahme in den Text fanden – mittelalterlichen Ergebenheitsformeln gleich – zudem zwei offizielle Zitate: So ein Ausspruch von Erich Honecker von 1980, indem er den Friedenswillen der DDR bekräftigte, und eine Passage aus der »DDRInitiative 1978 zur Abrüstung«. 311 Dies hätte man sich, da der Brief nun doch nicht an Honecker ging, so die Kritiker, ersparen können, die zugleich darauf verwiesen, dass von Dresden aus ein Protest direkt an den Generalsekretär abgeschickt worden sei. Im Ergebnis standen verschiedene Auffassungen gegeneinander. Während manch einer meinte, dass man den Sicherheitsorganen »ja keine Anhaltspunkte [...] [zum] Eingreifen bieten und mit dem MfS nicht in Konflikt geraten wolle, erklärte »ein Theologiestudent [...] dass er [im Konfliktfall] [...] nichts verlieren würde«. Als Theologiestudent könne er, so wird er zitiert, »im Falle einer Exmatrikulation an einem kirchlichen Seminar weiterstudieren«. Ein weiterer Redner, der einräumte, »daß er selbst nicht Stu308 Stier, Christoph: »Um der Kirche willen« – Regelüberprüfung und kirchenleitendes Handeln in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs. In: Vollnhals, Clemens (Hg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz (Analysen und Dokumente; 7). Berlin 1996, S. 415–433, hier 417. 309 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Quelle: IMS »Heinz«, Tonbandabschrift. Bericht zum Arbeitskreis »Erziehung zum Frieden«, der am 19.3.1981 in der ESG stattgefunden hat, in der Petrikirche, von 19.00 bis 22.00 Uhr: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 192/91, Bd. I/1, Bl. 233–236, hier 235. 310 Ebenda, Bl. 233 f. 311 Ebenda, Bl. 235.

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dent« sei, drang auf eine offene Stellungnahme, auch wenn diese vom Empfänger des Briefes als Provokation empfunden werde. 312 Während der Debatte schien es so, all solle sich die marxistische These von der gesellschaftlichen Lage, die das Bewusstsein bestimme, unter veränderten Vorzeichen bestätigen. Zum Ende des Abends einigte man sich, den Protestbrief an den Bischof zu schicken, verbunden mit der Bitte, ihn an den Staatssekretär für Kirchenfragen in Berlin weiterzuleiten. 313 Von der ESG ging auch die Initiative aus für die seit Januar 1982 in Rostock stattfindenden Friedensgottesdienste. Mit ihnen sollte der von der ersten Friedensdekade im November 1981 ausgehende Impuls, wie der Studentenpfarrer Christoph Kleemann notierte, über die Dekade hinaus »in das Jahr [hinein] verlängert« werden. 314 Zugleich hoffte man so, die Friedensarbeit stärken zu können und im öffentlichen Raum Präsens zu zeigen. Inhaltlich angelegt waren die Friedensgottesdienste zum einen als Ermutigung für all jene, die sich aufgrund ihrer pazifistischen Einstellung im DDRBildungssystem, in ihrem Betrieb oder andernorts mit Schwierigkeiten konfrontiert sahen. Zum anderen dienten die Friedensgottesdienste als Foren des öffentlichen Protestes gegen die Militarisierung in der DDR. Beunruhigt zeigte man sich angesichts der Nachricht, dass in Wismar und Rostock nach dem neuen Wehrdienstgesetz Frauen zur Musterung in die Wehrkreiskommandos einbestellt und mit einem Wehrpass ausgestattet wurden. 315 Dass der Protest hiergegen wirkungsvoll sein konnte, bewies die umgehende Einbestellung des Studentenpfarrers am Tag nach dem Friedensgottesdienst durch den Stellvertreter für Inneres beim Rat des Bezirkes, Jürgen Haß. 316 Haß beschwerte sich bei Christoph Kleemann, dass während des Friedensgottesdienstes »Stimmung hiergegen gemacht worden sei« und drohte für den Wiederholungsfall Konsequenzen an. 317 Zwei der von der Musterung betroffenen Frauen berichteten

312 Ebenda, Bl. 234, 236. 313 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Quelle: IMS »Heinz«, Tonbandabschrift. Bericht über die Sitzung des Arbeitskreises »Erziehung zum Frieden« vom 2.4.1981: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 192/91, Bd. I/1, Bl. 250–254, hier 250. 314 Handschriftliche Notizen von Christoph Kleemann, Friedensgottesdiensten, Termine, Themen, Vorbereitung, wahrscheinlich vom Oktober 1983, Unterlagen im Besitz des Autors. 315 Ebenda. Hierzu wurde eigens im Friedenskreis der Evangelischen Studentengemeinde Rostock eine »Arbeitsgruppe Frauenwehrdienst Rostock« gegründet, aus dem der Frauenfriedenskreis der ESG, geleitet von Frau Kleemann, hervorging. Hierzu: BStU, MfS, BV Rostock, TA 5335, Bd. II/6 (zu AIM 192/91), Bl. 72 f.; MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Analyse des Standes der operativen Aufklärung und Bearbeitung der Evangelischen Studentengemeinden Rostock und Greifswald, Rostock, 28.3.1984: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 1168, Bl. 329–353, hier 337. 316 Zeitzeugengespräch mit Pfarrer. i.R. Christoph Kleemann, Behnkenhagen, den 16. September 2011. 317 Ebenda.

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Christoph Kleemann, dass NVA-Emissäre sie zuhause aufgesucht und ihnen die Wehrpässe wieder abgenommen hätten. 318 Der erste Rostocker Friedensgottesdienst fand am 15. Januar 1981 unter dem Thema »Was ist uns der Frieden wert« mit knapp sechzig Teilnehmern in der Marienkirche statt. »Tod und Sicherheit« hieß das Thema des zweiten Friedensgottesdienstes am 26. Februar 1982 – ebenfalls in der Marienkirche – und »Vernichten – oder verzichten« während des dritten, zu dem man sich am 26. März 1982 im Gustav-Adolf-Saal der Petrikirche traf. 319 Bis zum Dezember 1983 folgten achtzehn weitere Friedensgottesdienste. 320 Ab Januar 1984 bis Mai 1985 lud man die an der Friedensthematik Interessierten, wenn auch nun zum Teil nicht mehr monatlich, zumeist in die Heilig-Geist-Kirche, aber auch in die Petrikirche oder die katholische Christuskirche ein. Der Einladung zu den Friedensgottesdiensten folgten 1984 und 1985 jeweils zwischen 250 und 400 zumeist Jugendliche; am 27. Januar und am 30. März 1984 wurde sogar an die 500 Teilnehmer gezählt. 321 Die Arbeit des ESG-Friedenskreises berührte immer wieder auch Belange der Universität und problematisierte den Alltag der hier Studierenden. So hinterfragte der Arbeitskreis »Erziehung zum Frieden« die während der Ausbildung abverlangten Loyalitätsleistungen. Hierzu zählten die Teilnahme an den militärischen Lehrgängen und die politischen Schulungen, die die zukünftige Funktionselite enger an die Einheitspartei binden sollten. Im Friedenskreis diskutiert wurde am 17. September 1981, so IM »Heinz«, über die Praxis, Studenten »unter Druck zu setzen«, um »sie zum ROA-Dienst [Reserveoffiziersanwärter] zu zwingen«. 322 Wie eine Studentin berichtete, bekomme »man kein Leistungsstipendium, wenn man sich als Student nicht als ROA meldet«. 323 Ausgenommen hiervon seien lediglich die Theologiestudenten. Im Weiteren ging es darum, wie »diejenigen Studenten, die [die] ROA[Verpflichtung] [...] ablehnen«, unterstützt werden könnten. Während der größere Teil der Immatrikulierten glaubte, sich gegen die ROA-Verpflichtung kaum wehren zu können, war aus dem Umfeld der kirchlich gebundenen Studenten Protest zu vernehmen. »Man verkaufe sich nicht für 60 Mark«, lautete eine der Wortmeldungen. 324

318 Ebenda. 319 Ebenda. 320 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Analyse des Standes der operativen Aufklärung und Bearbeitung der Evangelischen Studentengemeinden Rostock und Greifswald, Rostock, 28.3.1984: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 1168, Bl. 329–353, hier 337. 321 Ebenda, Bl. 360. 322 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Abschrift des Tonbandberichtes des IMS »Heinz«, Rostock, 17.9.1981: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 192/91, Bd. I/1, Bl. 473–479, hier 479. 323 Ebenda. 324 Ebenda.

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Noch ein weiteres »Vorkommnis« versetzte die geheimpolizeilichen Überwacher in Unruhe und bestärkte sie in der Annahme, mit dem Theologiestudenten Hennig Utpatel einen der »Rädelsführer« vor sich zu haben. Während des Treffens am 22. Juni 1981 berichtete eine Studentin aus Bad Doberan von einem Vorfall im dortigen Kino. An dem infrage kommenden Abend lief der Film ›Die Verlobte‹, ein Film über die Inhaftierung eines Ehepaar, das gegen das nationalsozialistische Regime Widerstand geleistet hatte und im Zuchthaus Brandenburg unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert worden war. 325 »Nach der Vorführung«, so erzählte die Studentin, »stand eine junge [...] Frau« im Kinosaal auf, »bat um Ruhe und erklärte [...] ›So wie diese dort sind in der DDR Tausende politische Gefangene inhaftiert‹«.326 Die ungewöhnlich offene wie mutige Äußerung und die besondere Situation im Kinosaal schien die Anwesenden insgesamt zu überfordern: Wie die meisten der DDR-Bewohner, sahen sie sich bestrebt, möglichst unauffällig durch den Alltag zu gelangen und sich in politischen Fragen nicht gegen das System zu stellen. Jene Situation mochte meistens nur zur intuitiv eingeübten Wegduckhaltung führen. »Ohne Reaktion« – weder gab es Zustimmung, noch ablehnende Äußerungen – gingen die Zuschauer, so die Studentin, auseinander. 327 Zugleich wusste sie, wer die Frau war. Sie war bislang weder vom MfS oder der Polizei »behelligt« worden. Falls dies geschehen sollte, so waren sich die Studenten einig, wollten sie »eine Protestaktion starten [und] Solidarität üben«. 328 Während die Studentin aus Bad Doberan forderte, »da dürfen wir sie nicht allein lassen«, pflichtete Hennig Utpatel ihr bei, indem er ihre Aussage mit, »ja, das werden wir tun«, unterstrich. 329 Insbesondere jene Eloquenz ließ das MfS nach praktikablen Schritten suchen, um den Theologiestudenten zu belangen. Dies sollte unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Sanktionen geschehen. Es galt, seinen Einfluss in der ESG zu minimieren. Ferner plante man, ihn zu verunsichern und gegebenenfalls aus der Universität herauszudrängen. Wie dies konkret erreicht werden konnte, war zunächst unklar. Die politische »Großwetterlage« hielt die SED und das MfS an, nicht die direkte Konfrontation mit der Kirche zu suchen. Über einen Spitzelbericht gelangte die MfS-Bezirksverwaltung schließlich an jene Information, die ihr ein effizientes wie verdecktes Vorgehen ermöglichte. Auf dem, wie es im Bericht heißt, »gemeinsamen Nachhauseweg« erfuhr Günther Engel alias IM »Heinz« am 11. Januar 1982 von Hennig Utpatel, dass er 325 Habel, F.-B.: Das große Lexikon der DEFA-Spielfilme. Berlin 2001, S. 661 f. 326 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Abschrift des Tonbandberichtes des IMS »Heinz« vom 22.06.1981, Thema: Sitzung des Friedenskreises der ESG am heutigen 22.06.1981, Rostock, 23.06.1981: BStU, MfS, TA 4396, T. II, Bd. II, T.1, Bl. 361–369, hier 365. 327 Ebenda. 328 Ebenda. 329 Ebenda.

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sein Studium für ein Semester aussetzen wolle. 330 »In genau 6 Wochen«, werde er Rostock verlassen, »um sich in Berlin 3-4 Monate großstädtische Luft und Atmosphäre um die Nase wehen zu lassen«. 331 Für den September plane Utpatel, so wusste »Heinz« zu berichten, in Rostock »sein Studium fortzusetzen, um später im Bereich der LK [Landeskirche] Mecklenburg tätig zu werden«. 332 In der August-Bebel-Straße erfasste man den Sachverhalt und schritt zugleich zur Tat: Über das System der MfS-Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) und kooperationsbereite Informanten sorgte die Staatssicherheit dafür, dass Hennig Utpatel nach seiner Rückkehr aus Berlin nicht mehr immatrikuliert wurde. Angeführt werden sollten dafür fadenscheinige Gründe, so die Weigerung, an der Reserveoffiziersausbildung teilzunehmen. Nüchtern hieß es hierzu in einem späteren Dossier: Nachdem Utpatel sein Studium zwischenzeitlich unterbrochen hatte, wurde er, so hieß es, »anschließend nicht mehr zugelassen«. 333 Es handele sich, um eine »offensive Maßnahme der BV Rostock im Rahmen der Bearbeitung des U. in einem OV«. 334 Hennig Utpatel stand in Rostock unversehens ohne weitere Perspektive da. Zudem sah er sich, wenn er keine Arbeit aufnahm, der Gefahr ausgesetzt, nach Paragraph 249 des DDR-Strafgesetzbuches kriminalisiert und gegebenenfalls inhaftiert zu werden. 335 Um sein Theologiestudium fortsetzen zu können, blieb ihm nur die Möglichkeit, an eine der kircheneigenen Ausbildungsstätten nach Berlin, Leipzig, Erfurt oder Naumburg zu wechseln. Im Folgenden bemühte sich Christoph Kleemann um seine Aufnahme an der Ostberliner Predigerschule Paulinum. 336 Dies scheiterte am Votum des Leiters, Johannes Althausen. Althausen argumentierte gegenüber Christoph Kleemann bei dessen Vorsprache, dass die politische Eloquenz, die Utpatel in Rostock zum Verhängnis geworden sei, nicht nur positiv zu bewerten sei. 337 Die Reservistendienstverweigerung, so Althausen, beinhalte neben dem pazifistischen Be330 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, mündlicher Bericht des IM vom 11.01.1982, Thema: Ökumenischer Gemeindeabend am 11.01.1982 im KSG-Heim, Ergänzung zur Leiterinformation, Rostock, 12.01.1982: BStU, MfS, BV Rostock, TA 4925, Bd. III (zu AIM 192/91), Bl. 201 f. 331 Ebenda. 332 Ebenda, Bl. 202. 333 MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX, Operative Bewertung der Person U., Neubrandenburg, 31.1.1986: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, Abt. XX/ZMA, Nr. 3651, Bl. 1. 334 Ebenda. 335 § 249. Nach: Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten, Strafgesetzbuch – StGB – sowie angrenzende Gesetze und Bestimmungen. Textausgabe. Hg. v. Ministerium für Justiz. Berlin (Ost) 1981, S. 93. Tatsächlich unterbreitete IMB »Heinz« seinem MfS-Führungsoffizier einen entsprechenden Vorschlag, Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 403. 336 Zeitzeugengespräch mit Pfarrer i.R. Christoph Kleemann, Behnkenhagen, den 16. September 2011. 337 Ebenda.

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kenntnis zugleich eine Gefolgschaftsentsagung gegenüber der Obrigkeit und den Armeedienst gebe es schließlich in allen Staaten. Auch sei nicht auszuschließen, dass, wenn er sein Engagement so offensiv wie zuvor fortsetze, sich dieses negativ auf das Staat-Kirche-Verhältnis auswirke, was nicht im Interesse der Schule sein könne. 338 Hennig Utpatel konnte nach der Ablehnung am Paulinum schließlich am Sprachenkonvikt in der Ostberliner Borsigstraße sein Studium fortsetzen. 339 Bei der ebenfalls kircheneigenen Einrichtung handelte es sich, angesichts der hier lehrenden Dozenten, unter anderem Wolfgang Ullmann und Richard Schröder, um eine wesentlich staatskritischere Theologenschule als das Paulinum. Exemplarisch für den Versuch, nach dem Staat-Kirche-Gespräch vom 6. März 1978 340 einer Konfrontation mit dem Staat aus dem Wege zu gehen, mochte auch ein Pressegespräch am 19. September 1981 stehen. Zu ihm hatten Kirchenvertreter am Rande der 5. Tagung der III. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR 341 in das Haus der Kirche in Güstrow eingeladen. Hans-Jürgen Röder vom bundesdeutschen Evangelischen Pressedienst fragte hier, ob es, die »kommunistische Erziehung« betreffend, in der DDR »eine veränderte Situation« zu konstatieren gäbe. 342 An der kirchlichen Basis diskutierte man seit längerem über diese Frage. So auch in Rostock angesichts der für den 31. Oktober anstehenden »Atomschutzübung« in der Südstadt. 343 Gesprochen wurde darüber, ob nach dem Landesverteidigungsgesetz, Paragraph 6, Absatz 23, die »Teilnahmepflicht …, die [...] für die Studenten verbindlich« sei, auch bei Zivilschutzübungen gelte. 344 Auch ging es um »die Gefahren«, die aus einer Nichtteilnahme resultierten, und welche Sanktionen (»Exmatrikulation oder auf andere Art«) zu erwarten wären. In der Rostocker Südstadt, der »Gefahrenzone« der Atomschutzübung, lagen mehrere Studentenwohnheime. Mehrere Studenten überlegten hier, ob man »sich weigern sollte, [...] bei Auslösung des Atomalarms die Anordnungen zu befolgen«. 345 Gesprochen wurde ebenso über die Exmatrikulati338 Ebenda. 339 Ebenda. 340 Mau, Rudolf: Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945–1990), (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen; IV/3). Leipzig 2005, S. 228. 341 Die Tagung fand vom 18. bis 22. September 1981 statt: Mau: Der Protestantismus, ebenda S. 228. 342 MfS, HA XX/4, Ergänzung zur Abschlussinformation über die 5. Tagung der III. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR vom 18.–22.9.1981 in Güstrow, Anlage 1, Berlin, 24.9.1981, BStU, HA XX/4, Nr. 2604, Bl. 215–220, hier 216. 343 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Tonbandbericht, Bericht zum heutigen Friedensarbeitskreis in der ESG, 15. Oktober 1981, 19.00 Uhr, Rostock, 11.11.1981: BStU, MfS,TA 4396, T. II, Bd. II, T. 2 (zu AIM 192/91), Bl. 609–611, hier 611. 344 Ebenda. 345 Ebenda.

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on eines Studenten, der sich Ende 1981 geweigert hatte, »an einer fünfwöchigen Ausbildung vormilitärischer Art teilzunehmen«. 346 Scheinbar eher beiläufig ging Bischof Albrecht Schönherr während der Pressekonferenz in Güstrow auf dieses Thema und die Frage von Röder ein. »Es ist im übrigen recht gut«, so der Berliner Bischof zu den Behinderungen an den DDR-Universitäten, »daß in der DDR nicht jeder studieren kann«. 347 Indifferent angesichts der vor Ort bestehenden Probleme und für die Betroffenen wenig ermutigend, fuhr der Bischof fort, »schauen wir nur auf die BRD, wie viele Absolventen finden keinen Arbeitsplatz«. »Nicht jede Ablehnung eines Studienplatzes«, lautete Schönherrs beschönigendes Fazit, »erfolgt aus ideologischen Gründen«. 348 Weniger zurückhaltend äußerte sich demgegenüber der Cottbuser Generalsuperintendent und zukünftige Nachfolger von Schönherr im Bischofsamt, Gottfried Forck. Forck verwies auf die »hohe[n] Dunkelziffern bei der Nichtzulassung zum Studium« in der DDR. 349 »Es ist erfahrungsgemäß leicht«, so Forck in seiner Ergänzung zu den Ausführungen von Schönherr, »beliebige Gründe für die Ablehnung vorzugeben«. 350 Weiter führte der Generalsuperintendent aus: »Der Staat würde in den unteren Ebenen alle wegdrängen, die wahrhafte Christen sind, das muß offen gesagt werden«. Zugleich warf Forck den staatlichen Stellen »Doppelbödigkeit« und »ein unechtes Spiel« in dieser Sache vor. 351 4.2.4 Solidarität in einer sich entsolidarisierenden Gesellschaft Zwar gab es die Bespitzelung, Denunziation, die einvernehmliche Zusammenarbeit und auf Anfrage hin gewährte Auskunftserteilung gegenüber der Staatssicherheit sowie die schweigende wie offene Distanzierung gegenüber jenen, die Widerspruch und Widerstand leisteten sowie die Indifferenz angesichts ihrer Probleme. Zu allen Zeiten fanden sich aber auch Menschen, die jene unterstützen, die Repressalien des Staates zu erleiden hatten. Dies konnte in unterschiedlichster Form geschehen. Die Motivation mochte politischer wie auch rein mitmenschlicher Natur sein. Als eine solche Form der Solidarität mit einem von der Strafverfolgung bedrohten Mitmenschen konnte dabei selbst 346 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, mündlicher Bericht des IM vom 11.01.1982, Thema: Ökumenischer Gemeindeabend am 11.01.1982 im KSG-Heim, Ergänzung zur Leiterinformation, Rostock, 12.01.1982: BStU, MfS, BV Rostock, TA 4925, Bd. III (zu AIM 192/91), Bl. 201 f. 347 MfS, HA XX/4, Ergänzung zur Abschlussinformation über die 5. Tagung der III. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR vom 18.–22.9.1981 in Güstrow, Anlage 1, Berlin, 24.9.1981, BStU, HA XX/4, Nr. 2604, Bl. 215–220, hier 217. 348 Ebenda. 349 Ebenda. 350 Ebenda. 351 Ebenda.

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die Solidarität durch Enthalten gelten. Der Tat gebührt auch dann Respekt, wenn dem, dem hiermit konkret geholfen werden sollte, dies im Ergebnis wenig nütze. So traf die Verschwiegenheit der einen Seite allzu häufig auf die Auskunftsfreunde anderer. Denunziation und Kooperationsbereitschaft gegenüber dem MfS sowie die Solidarität mit einem Bedrängten lagen oft eng beieinander. Auch galt letztere häufig dem Menschen und nicht unbedingt seiner konkreten Tat. So auch bei einem Vorfall, der sich 1958 in Gnoien ereignete. Von ihm erfuhr die Kreisdienststelle in Teterow erst aus zweiter Hand: Ein Gastronom, mit dem man in »offizielle[m] Kontakt« stand, erzählte dem MfS ungebeten, was sich im Gasthaus seines Kollegen, dem Gnoiener »Ratskeller«, zugetragen hatte. 352 Ein Landwirt habe im stark alkoholisierten Zustand, wie es hieß, »staatsfeindliche Hetze« betrieben. 353 »Zur Zeit [...] Einzelbauer« lautete der Vermerk des MfS, weil sich der Betreffende nach wie vor der Kollektivierung verweigerte. Im Kern ging es um einen Wutausbruch. Als Opfer konnten zwei auswärtige Gaststättenbesucher benannt werden. Sie fielen in der Kleinstadt nicht nur aufgrund ihres sächsischen Dialektes auf. Einer trug zugleich das SEDAbzeichen am Revers. Er mochte auch deshalb zur Zielscheibe der Attacke geworden sein. Der Angetrunkene fragte die Fremden nicht nur, ob sie Kommunisten und Funktionäre seien, sondern lieferte gleich die Antwort hinterher. Sie seien »Kommunistenschweine«, die »aufgehängt werden« müssten. 354 Weiterhin ging der Bauer, so ist es unter den »Verbrechen des Beschuldigten« nachzulesen, auf einige tagesaktuelle Fragen ein. Durch die Berichterstattung des Neues Deutschlands schien klar, dass es sich um politisch stark aufgeladene Themen handeln musste. »Im Bundestag«, so der Bauer, »kommen sie doch durch, da könnt ihr machen, was ihr wollt, die CDU hat ja die Mehrheit«. 355 Vom Gastronom, dem GI »Besteck«, erfuhr die Staatssicherheit die Namen von mehreren der am besagten Abend im »Ratskeller« Anwesenden. Bei den »Geschädigten«, teilte GI »Besteck« mit, müsse es sich um zwei Monteure handeln. Beide arbeiteten im Gaswerk der Stadt und stammten aus Sachsen. Weder die »Geschädigten« noch einer der vermeintlichen Zeugen hatte den Vorgang bislang zur Anzeige gebracht. Die in der Folge von der MfSKreisverwaltung Vernommenen, gaben zwar an, am betreffenden Abend im »Ratskeller« gewesen zu sein. Keiner konnte sich aufgrund der ausgeschenkten 352 MfS, BV Neubrandenburg, KD Teterow, Sachstandsbericht zum Material [Name], [Vorname], Teterow, 2.4.1954: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 15/58, Bd. II, Bl. 16–18, hier 17. 353 MfS, BV Neubrandenburg, Verfügung, Neustrelitz, 17.4.1958: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 15/58, Bd. I, Bl. 6. 354 MfS, BV Neubrandenburg, Schlussbericht, Neustrelitz, 2.5.1958: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 15/58, Bd. I, Bl. 51–54, hier 53; MfS, BV Neubrandenburg, Kreisdienststelle Teterow, Sachstandsbericht zum Material [Name], Teterow, 2.4.1954: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 15/58, Bd. II, Bl. 16–18, hier 17. 355 Ebenda.

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alkoholischen Getränke mehr erinnern. Da der Beschuldigte »stark angetrunken war und viele Worte verschluckte oder murmelte« konnte man, so die übereinstimmenden Aussagen, »nicht alles verstehen«. 356 Offenkundig war, so das MfS, dass man sich nicht an den Vorgang erinnern wolle. Dies traf auch auf den Beschuldigten zu, der ebenso auf seine damalige »Trunkenheit« verwies. 357 Bestätigt wurde in den Verhören lediglich, dass es sich bei den »Geschädigten« um die zwei sächsischen Monteure aus dem Gaswerk handeln müsse. 358 Doch auch ihre Befragung konnte kaum den Vorgang erhellen: Beide »erklärten, noch nie in der Gaststätte »Ratskeller«« gewesen zu sein. Wenn sie Bier trinken wollten, würden sie sich grundsätzlich in den »Mecklenburger Hof« begeben. Die Vehemenz, mit der sie darauf bestanden, »nicht als die Geschädigten [zu] gelten«, irritierte zwar die Vernehmer. 359 Doch ließ sich das Gegenteil nicht beweisen. Und auch der GI »Besteck« kannte den Vorgang nur aus zweiter Hand. Letztlich reichte dem MfS das, was man bislang in Erfahrung gebracht hatte, zur Anklage. Nach seiner Inhaftierung und zehn Monaten Untersuchungshaft in Neustrelitz verurteilte das Bezirksgericht Neubrandenburg den Gnoiener Landwirt zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten. 360 Neben der soeben angeführten Form der Solidarität durch Enthaltung gab es im Alltag auch andere Formen der Anteilnahme und Unterstützung. Anzuführen ist so jene Solidarität, die darauf abzielte, die Folgen für den Betroffenen zu mildern. So im Fall eines Traktoristen aus Boddin, der durch den Ersten Strafsenat des Bezirksgerichtes Neubrandenburg am 20. September 1961 verurteilt wurde. 361 Seit dem 27. August befand sich der Mann in Neustrelitz in der Untersuchungshaft des MfS. Auf die hier zu ahndende »Straftat« stieß das MfS infolge eines Anrufes der Volkspolizei. In der Nacht vor der Festnahme hatte Leutnant Pufahr das Volkspolizeikreisamt in Teterow über den seiner Ansicht

356 MfS, BV Neubrandenburg, KD Teterow, Sachstandsbericht zum Material [Name], Teterow, 2.4.1954: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 15/58, Bd. II, Bl. 16–18, hier 17. 357 MfS, BV Neubrandenburg, Schlussbericht, Neustrelitz, 2.5.1958: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 15/58, Bd. I, Bl. 51–54, hier 54. 358 MfS, BV Neubrandenburg, KD Teterow, Sachstandsbericht zum Material [Name], Teterow, 2.4.1954: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 15/58, Bd. II, Bl. 16–18, hier 18. 359 MfS, BV Neubrandenburg, KD Teterow, Aktenvermerk, Teterow, 11.4.1958: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 15/58, Bd. II, Bl. 27. 360 Erster Strafsenat des Bezirksgerichts Neubrandenburg, Urteil in der Strafsache (1 BS 59/58) gegen den Landwirt [Name], 2.7.1958: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 15/58, Bd. III, Bl. 72. 361 Erster Strafsenat des Bezirksgerichtes Neubrandenburg, Urteil in dem Strafverfahren gegen den Traktoristen [Name], 20.9.1961: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 51/61, Bd. III, Bl. 72– 76.

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nach meldepflichtigen Vorfall informiert. 362 Er ereignete sich am Rande einer Visite des Kreisleitungssekretärs Engel in der LPG »Theodor Körner« in Boddin. Als Auslöser galt ein Disput zwischen dem Traktoristen und den SEDParteimitgliedern. Der nachfolgend Denunzierte bezeichnete die SEDVertreter als »Lumpen« und erklärte, dass die Zeitungen in der DDR »voll von Lügen« wären. 363 Wie sich schnell herausstellte, war dies nicht das erste Mal, dass sich der Traktorist mit politisch missliebigen Äußerungen hervortat. Doch hatte dies zuvor keine Konsequenzen nach sich gezogen. Der Traktorist sei »im nüchternen Zustand ein ordentlicher Mensch«, gab noch vor Gericht einer seiner Kollegen zu bedenken, der »fleißig arbeitet«. Lediglich »im angetrunkenen Zustand« wäre der Angeklagte, so protokollierte es das Gericht, »hetzerisch veranlagt«. 364 Wie sich im Laufe der Zeugenvernehmungen herausstellte, umschrieb der Traktorist die »Funktionäre als ›fette, faule Schweine‹, die auf Kosten der Arbeiter leben würden« und erklärte, dass »am 17.6.53 [...] sich die Arbeiter in der DDR von ihren Bonzen befreien wollten, aber die Russen [...] dieses verhindert« hätten. 365 Der Traktorist wurde nachfolgend wegen »staatsgefährdender Propaganda und Hetze« zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. 366 Doch bemühten sich nicht nur seine Kollegen durch ihre Aussagen in der Verhandlung, die Folgen zu mindern: Im Februar 1962 erreichte die Staatsanwaltschaft Neubrandenburg ein Schreiben des Chefarztes des Krankenhauses in Gnoien, Franz Watzke, in dem dieser um Haftverschonung für den Inhaftierten bat. 367 In der »ärztlichen Bescheinigung« wies der Mediziner die staatlichen Stellen in eindringlichen Worten darauf hin, dass die Frau des Inhaftierten zehn Kinder betreue und es nachweislich ihrer Gesundheit abträglich sei, dass sie vollends auf sich allein gestellt sei. »Ungünstig« wirke sich angesichts der beschriebenen Situation die »Tatsache« aus, so der Chefarzt, »daß der Ehemann z.Zt. vom Haushalt getrennt ist«. Aus ärztlicher Sicht, so bescheinigte er der Staatsanwaltschaft, »wäre die Wiederherstellung normaler häuslicher Verhältnisse [...] dringend zu empfehlen«. All dies ließ Staatsanwalt Guhr unbeeindruckt. »Wegen der Schwere der begangenen Verbrechen«,

362 Volkspolizeiamt Teterow, Meldung Nr. 211/61, Anzeige (Mitteilung), Teterow, 27.8.1961: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 51/61, Bd. II, Bl. 5. 363 Ebenda. 364 Erster Strafsenat des Bezirksgerichtes Neubrandenburg, Urteil in dem Strafverfahren gegen den Traktoristen [Name], 20.9.1961: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 51/61, Bd. III, Bl. 72– 76, hier 73. 365 Ebenda, Bl. 73 f. 366 Ebenda, Bl. 72. 367 Krankenhaus Gnoien, Kreis Teterow, Chefarzt Dr. Watzke [laut Briefkopf zeichnete Watzke als Chefarzt, der Stempel, den er unter das Schreiben setzte, weist ihn als Chef der Chirurgischen Ambulanz am Krankenhaus Gnoien aus], Ärztliche Bescheinigung, Gnoien, 19.2.1962: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 51/61, Bd. III, Bl. 44.

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müsse er, antwortete Guhr, »eine bedingte Strafaussetzung ablehnen«. 368 Drei Wochen nach der Intervention des Mediziners wandte sich der Vorstand der LPG »Theodor Körner« an den Bezirksstaatsanwalt. Die drei Unterzeichner des Briefes baten den Vertreter der Anklage, »um eine Überprüfung des Urteils« und stellten »den Antrag, den Rest der Strafe zu erlassen bzw. in eine Bewährungsstrafe umzuwandeln«. 369 In Boddin herrsche, schrieben die Bittsteller, wie in den Dörfern der Gegend insgesamt ein »Mangel an Traktoristen«. Zudem sei »der Verurteilte [...] eine gute Fachkraft«, die »dringend zur Frühjahrsbestellung« gebraucht würde. Hinzu komme seine große Familie, die die Frau kaum alleine versorgen könne. 370 All dieses bewirkte beim Staatsanwalt keinerlei Sinneswandel. Jener sah sich vielmehr in seiner kompromisslosen Haltung bestätigt. Auch diesmal verwies Guhr in seiner Antwort darauf, dass der Inhaftierte »erhebliche Verbrechen« begangen hätte. 371 Er habe, schrieb Guhr, »Funktionäre [...] auf das Gemeinste beschimpft [...] und die konterrevolutionären Bestrebungen der Bonner Ultras unterstützt«. Zugleich belehrte er die ihm lästig werdenden Mahner, die sich für einen menschlichen Umgang verwandten, in zunehmend gereiztem Ton: »Einen Teil der Schuld an dieser strafbaren Handlung« trügen »auch die Verantwortlichen der Gemeinde selbst«, die, so Guhr vorwurfsvoll weiter, »ungenügend auf die Bewusstseinsänderung« in ihrem Dorf einwirkten. Daher solle sich die Gemeinde im Weiteren selbst darum bemühen, meinte Guhr, »dass [...] die Kinder unter der Verhaftung ihres Vaters nicht leiden«. 372 Erst nachdem die Frau des Inhaftierten abermals einen Brief, der bemerkenswert professionell abgefasst und mit Schreibmaschine ausgefertigt worden war, im Juni 1962 an die Staatsanwaltschaft sandte, bahnte sich ein Wandel an. 373 Inzwischen antwortete nicht mehr Guhr, sondern als Vertreter der Anklage Bezirksstaatsanwalt Roßmann. Er teilte der Frau mit, dass ihr Mann Ende Juli 1962

368 Schreiben der Staatsanwaltschaft, Bezirk Neubrandenburg, an Frau [Name], betr. Strafsache gegen Ihren Ehemann [Name], Neustrelitz, 15.3.1962: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 51/61, Bd. III, Bl. 45. 369 Schreiben der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft »Theodor Körner«, Boddin, Kreis Teterow, an den Bezirksstaatsanwalt des Bezirkes Neubrandenburg, betr.: Strafsache [Name], (I 125/61), Boddin, 13.3.1962: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 51/61, Bd. III, Bl. 46. 370 Ebenda. 371 Schreiben der Staatsanwaltschaft, Bezirk Neubrandenburg, an die LPG »Theodor Körner«, Boddin, Kreis Teterow, betr.: Strafsache gegen [Name], Neustrelitz, 24.3.1962: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 51/61, Bd. III, Bl. 47. 372 Ebenda. 373 Schreiben [Name], an den Bezirksstaatsanwalt Guhr, Neubrandenburg, betr. Strafsache [Name], Boddin, 28.6.1962: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 51/61, Bd. III, Bl. 48.

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aus dem Gefängnis entlassen und die verbleibende Haftstrafe in eine Bewährungszeit von zwei Jahren umgewandet wird. 374 Auch wenn die Notlage der betroffenen Familie in diesem Fall eine ganz besondere war, so war es doch keineswegs selbstverständlich, dass man sich für sie einsetzte und mit Bittschreiben an die Staatsanwaltschaft wandte. Ein derartiges Engagement, mit dem Menschen versuchten, die Folgen der Repressionen für andere zu mindern, findet sich so nur vereinzelt in den Akten. 4.2.5 Wege der Solidarität: von der individuellen Verweigerung zur kollektiven Unterstützung bis zum offenen Aufbegehren Auch wenn es selten hierzu kam, so hofften Menschen in Einzelfällen doch mit kollektiv verfassten Schreiben und Unterschriftensammlungen Inhaftierten zu helfen. Auffällig ist dabei, dass sich in den Unterlagen der Staatssicherheit maßgeblich für die fünfziger Jahre entsprechende Solidarisierungen nachweisen lassen. Dass es in diesem Jahrzehnt, trotz der rigiden Innenpolitik, zu kollektiven Unterschriftensammlungen und Proteste kam, ist vor dem Hintergrund, dass es in den sechziger und siebziger Jahren anscheinend seltener so etwas gab, mehr als bemerkenswert. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren: Die noch offene Grenze fällt als Begründung aus, da sich häufig Menschen engagierten, für die eine Flucht außerhalb aller Erwägungen lag. Funktionierten Nachbarschaften, Dorfgemeinschaften und andere Zusammenhänge in jener Zeit noch stärker als in den nachfolgenden Jahren? War die Angst, dass sich überall ein Spitzel der Staatssicherheit befand, der mithörte, noch nicht so ausgeprägt wie in späteren Jahren? Sorgten später die Kollektivwirtschaft, die Flucht von bürgerlichen Autoritäten und Einflusspersonen und der Einzug eines bescheidenen Wohlstandes mit dem Fernseher, mehr individueller Freizeitgestaltung für weniger Verbindlichkeit? Entsolidarisierte sich die DDR-Gesellschaft zunehmend, je länger der Zustand der Bevormundung und Einschüchterung andauerte? Als dies lässt sich nur bedingt beantworten. Aufschlussreich sind die Umstände, unter denen es 1954 in Poggelow im Kreis Teterow zur Solidarisierung kam. Entscheidend war hier nicht nur, dass man sich vor Ort kannte und aufeinander verlassen konnte. Eine wichtige Rolle spielten auch der Eifer des Hauptbelastungszeugen und die sich hieraus ergebenden Härten, die zum Protest herausforderten. Als Ausgangspunkt galt ein Vorfall am Rande einer Tanzveranstaltung am Abend des 1. Mai. Ein Landwirt, der an jenem Abend als Schlagzeuger die Tanzkapelle begleitete, verließ 374 Schreiben des Staatsanwaltes des Bezirkes Neubrandenburg, Rossmann, an Frau [Name], Boddin, Kreis Teterow, Neustrelitz, 11.7.1962: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 51/61, Bd. III, Bl. 51.

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kurzzeitig den Kultursaal, um vor der Gaststätte auszutreten. In »stark alkoholisiertem Zustand«, eine Einschätzung, die später noch eine Rolle spielen sollte, nahm er im folgenden Anstoß an vier Plakaten, die an der »benachbarten Hauswand und der daneben befindlichen Mauer« hingen. Ein übereifriger SED-Parteigänger hatte in dem entlegenen Dorf zwischen Laage und Gnoien »anlässlich des 1. Mai [...] Plakate mit den Bildern der führenden Persönlichkeiten der Regierung der DDR und der SU« aufhängen lassen. 375 Beobachtet vom Dorfpolizisten, dem Abschnittsbevollmächtigten, »schlug« der Schlagzeuger auf »das Bild des stellv[ertretenden] Ministerpräsidenten Walter Ulbricht ein und riss es [...] herunter«. 376 Als »gemeine Äußerungen« zur Last gelegt werden sollte ihm von der Staatsanwaltschaft nachfolgend zugleich sein Kommentar: »Das Schwein kommt auch zum Tanzen und hat sich nicht mal rasiert, den wollen wir mal schlafen legen.« 377 Über die Meldung des Dorfpolizisten an die SED-Kreisleitung in Teterow und die Weitergabe der Nachricht durch die Kreisparteikonfliktkommission erhielt auch der Staatssicherheitsdienst von dem Vorfall Kenntnis. Zwei Tage nach der Tat wurde der auf diesem Wege Denunzierte festgenommen und in die MfSUntersuchungshaftanstalt in Neustrelitz überstellt. Im Folgenden gab es vor Ort Streit um die Tatumstände. Auch stieß in Poggelow der vom Dorfpolizisten vollzogene Akt der Denunziation auf Unverständnis und forderte – angesichts seines Eifers – die Dorfbevölkerung zur Solidarität heraus. Wie man vor Ort über den Zwischenfall dachte, verdeutlichte anschaulich die Äußerung eines Dorfbewohners, der deshalb ebenso in das Visier der Ermittler geriet. »Du warst es nicht, ich sage nicht, wer es gewesen ist«, soll jener dem inzwischen Inhaftierten bei einem von dritter Seite mitgehörten Gespräch über die vier abgerissenen Plakate zugesichert haben. 378 Der Dorfpolizisten gab sich hingegen mit den dem Bauern drohenden Konsequenzen nicht zufrieden. Bei der Befragung zur Sache, die der Festnahme voranging, bat er darum, dem Protokoll noch einen Zusatz beifügen zu können. In ihm führte er aus, dass der von ihm Denunzierte am »betreffenden Abend [...] nicht [Hervorhebung im Original] betrunken« gewesen sei und er – als Dorfpolizist – »es genau gesehen habe, daß [Name], [Vorname] das Bild des Genossen Walter Ulbricht zerrissen« habe. 379 Woher der Polizist, der aus der Ostprignitz nach Poggelow 375 MfS, BV Neubrandenburg, Schlussbericht, Neustrelitz, 11.6.1954: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 50/54, Bd. I, Bl. 73. 376 Ebenda. 377 Ebenda sowie MfS, BV Neubrandenburg, KD Teterow, Festnahmebericht, Teterow, 3.5.1954: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 50/54, Bd. I, Bl. 9. 378 MfS, BV Neubrandenburg, Untersuchungsabteilung IX, Vernehmungsplan des Zeugen [Name], ohne Ort und Datum : BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 50/54, Bd. I, Bl. 63. 379 MfS, BV Neubrandenburg, KD Teterow, Vernehmung des Zeugen [Name], Teterow, 3.5.1954: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 50/54, Bd. II, Bl. 22 f., hier 23.

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delegiert worden war 380, seine Überzeugung, sich derart engagieren zu müssen, nahm, schien den Dorfbewohnern unverständlich. Unbeliebt war er allemal, da er sich als sozialistischer »Aufbauhelfer« dementsprechend aufführte. Dass der Beschuldigte kaum nüchtern gewesen sein konnte, darauf deutete der Umstand hin, dass er sich unmittelbar vor seiner Tat hatte übergeben müssen. Am 25. Mai erreichte die Staatsanwaltschaft Neubrandenburg ein Schreiben nebst angefügter Unterschriftenliste, in der sich »sämtliche an der Maifeier in Poggelow anwesenden Personen« für den Inhaftierten verwandten. Insgesamt 37 Poggelower bezeugten mit ihrer Unterschrift unter der Erklärung, dass der Beschuldigte sich »bei der Ausübung der Tat [...] [in einem] schwerem Alkoholzustand [...] befunden« habe. 381 Selbst die »Grundorganisation der SED Poggelow« verfasste am 22. Juli eigens ein Schreiben an das Bezirksgericht Neubrandenburg, in dem sie mit Verweis auf dessen »Arbeitsleistungen in der Landwirtschaft« darum bat, ihren sich in Bedrängnis befindenden Nachbar aus der Untersuchungshaft zu entlassen. 382 Von alldem zeigte sich das Bezirksgericht unbeeindruckt und verurteilte den Angeklagten unter Missbrauch der alliierten Kontrollratsdirektive 38 zu einem Jahr Gefängnis. Der »Tatbestand der Kontr[ollrats] Dir[ektive] 38«, jene war ursprünglich von den Alliierten erlassen worden, um Nationalsozialisten, die den Wiederaufbau in Deutschland behinderten, verfolgen zu können, wäre – so das Gericht – »hinlänglich erfüllt«. 383 »Das Herunterreißen des Bildes und die verächtlichmachende Bemerkung sind Propaganda für den Faschismus«, lautete die willkürliche Interpretation der Ersten Strafkammer des Bezirksgerichtes. 384 Herangezogen wurden beim der Urteilsfindung lediglich die den Angeklagten belastenden Beweise: Während auf Seite 2 der Urteilsbegründung noch der Tagesablauf des Angeklagten minutiös geschildert wurde, wobei er, wie hier zu lesen ist, schon »im Laufe des Nachmittags [...] eine erhebliche Menge von alkoholischen Getränken zu sich« nahm, sollte jener Umstand ein Seite später, bei der »Abwägung der be- wie entlastenden Fakten« ignoriert werden. »Dass der Angeklagte nicht betrunken gewesen ist«, resümierte die Erste Strafkammer, »wird 380 Ebenda, Bl. 22. 381 Schreiben an die Staatsanwaltschaft Neubrandenburg nebst angefügter Erklärung und Unterschriftenliste: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 50/54, Bd. III, Bl. 20 f. 382 Der Staatsanwalt des Bezirks Neubrandenburg, Az.: I VRS 241/54, urschriftlich an das Bezirksgerichts, 1. Strafsenat, Neubrandenburg, Neubrandenburg, 4.8.1954: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 50/54, Bd. III, Bl. 33; Schreiben der Ehefrau des Inhaftierten, [Name], an das Bezirksgericht Neubrandenburg, betr.: Strafsache gegen [Name], Poggelow, 29.10.1954: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 50/54, Bd. III, Bl. 39. 383 Vgl. zur alliierten Kontrollratsdirektive 38: Werkentin, Falco: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht (Forschungen zur DDR-Geschichte; 1). Berlin 1995, S. 172. 384 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Neubrandenburg, Urteil in der Strafsache gegen den werktätigen Bauern [Name], 29.6.1954: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 50/54, Bd. III, Bl. 44–47, hier 45.

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auch durch die Aussage des Zeugen [aus der Ostprignitz] [...] gestützt«. 385 Bezug genommen wurde hier einzig auf die Aussage des Abschnittsbevollmächtigten. Zu einer ähnlichen Solidarisierung, an der sich eine noch größere Zahl der Dorfbewohner beteiligte, kam es 1960 nach einer Inhaftierung eines Bauern in Lieblingshof bei Tessin in der Nähe von Rostock. Zur Solidarisierung kam es in Lieblingshof nach der Inhaftierung eines Bauern am 10. Dezember 1959. Das MfS beschuldigte ihn, »nach § 19 des StEG [Strafergänzungsgesetz] – Hetze begangen zu haben, indem er ständig gegen die sozialistische Entwicklung in der Landwirtschaft und gegen unseren Staat hetzt und andere Bürger zu Handlungen gegen unseren Staat verleitet«. 386 Die Inhaftierung und der vorgesehene Prozess – das Bezirksgericht Rostock verurteilte den Festgenommenen am 24. März 1960 zu drei Jahren Zuchthaus – dienten vor allem einem Zweck: Der Einschüchterung der Dorfbevölkerung in Lieblingshof insgesamt. 387 Umso erstaunlicher war es, dass sich kurz vor dem Prozess in dem Dorf neunundfünfzig Einwohner fanden, die sich mit einem Brief an das Bezirksgericht in Rostock wandten. In ihrer Petition stellten sie die Glaubwürdigkeit des Hauptbelastungszeugen und Denunzianten Herbert D. infrage. 388 Herbert D., ein ehemaliger Lehrer, kam im Zuge der Aktion »Industriearbeiter aufs Land« nach Lieblingshof, wurde hier LPG-Vorsitzender, Parteisekretär und stellvertretender Bürgermeister. 389 Er zählte zu jenen »Apparatschiks«, die, jeglicher Kenntnis der dörflichen Verhältnisse bar, meinten, »den Sozialismus«, wie es hieß, »über Nacht aufbauen« zu müssen. Dass dies gegen den Willen der hier Lebenden geschah, war naheliegend. Hinzu kamen die Eskapaden des Funktionärs. Im angetrunken Zustand, so beschwerte man sich, habe jener »auf der Tanzfläche unter Vorzeigen seines Ausweises als Hilfspolizist die Personalausweise« kontrolliert. 390 Seit langem gärte es im Dorf. Ein Vorfall lieferte der Stasi Ende 1959 den Anlass, hier ein Exempel zu statuieren. Am 8. Februar 1959 versammelten sich mehrere Kneipenbesucher auf dem Heimweg vor dem Haus des LPG-Vorsitzenden Herbert D. Aus der Gruppe heraus 385 Ebenda, Bl. 45 f. 386 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Beschluß für das Anlegen eines Operativ-Vorganges, Rostock, 4.12.1959: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 156/60, Bd. I, Bl. 106. 387 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Abschlussbericht zum Op.-Vorgang 35/59, Rostock, 30.5.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 156/60, Bd. I, Bl. 174 f., sowie Erster Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock, Verhandlung am 17. und 24.3.1960, Urteil, Rostock, 28.3.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 14/60, Bd. II, Bl. 211–222. 388 Schreiben der Genossenschaftsbauern der Gemeinde Lieblingshof, an das Bezirksgericht Rostock, Lieblingshof, 20.3.1959: BStU, MfS, BV Rostock, AU 14/60, Bd. II, Bl. 187–189. 389 Rat des Kreises Rostock, Sachgebiet LPG/MTS, betr.: Beurteilung des Genossenschaftsbauern [Name], [Vorname], Rostock, 23.3.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 14/60, Bd. II, Bl. 288. 390 Schreiben der Genossenschaftsbauern der Gemeinde Lieblingshof, an das Bezirksgericht Rostock, Lieblingshof, 20.3.1959: BStU, MfS, BV Rostock, AU 14/60, Bd. II, Bl. 187–189.

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vernahm dieser die Rufe, »Nieder mit dem Sozialismus. Wir sind Christen. Der Sozialismus muss zerschlagen werden.« 391 Einer der Teilnehmer habe sich zudem mit dem Ruf »ich weiß, daß ich eingesperrt werde, wenn ich so etwas sage, aber deshalb sage ich es trotzdem!« hervorgetan. 392 Die »Ermittlungen« der Volkspolizei, an denen Herbert D. als Polizeihelfer selbst mitwirkte, ergaben etwas »Ungeheuerliches«. In Lieblingshof bestehe demnach eine »Gruppe«, die »in genannter oder ähnlicher Form bereits mehrfach« gegen die Politik der SED aufgetreten sei. Die »Gruppe«, stellte man fest, bevor man den Fall der Stasi übergab, umfasse »acht bis zehn Personen«, die sich stark kirchlich orientierten. 393 Aus einem spontanen Happening und den Unmutäußerungen wurde unversehens ein Aufruhr. Die folgende Verhaftung und der Prozess, so glaubte man, würden auf der Basis eines rigorosen Urteils ihre abschreckende Wirkung entfalten. Doch blieb der Erfolg aus: Auf der Unterschriftenliste, die beim Bezirksgericht einging, hatten fast alle männlichen Erwachsenen im Dorf unterzeichnet. Aber auch während des Prozesses legten Einwohner des Dorfes Zeugnis von ihrem Beharrungswillen ab. Die hierzu nach Rostock einbestellten Einwohner gaben vor dem Gericht mehrheitlich an, nicht zuungunsten des Angeklagten aussagen zu wollen. 394 Dies selbst angesichts der sich aus der Zeugenladung ergebenden Aussagepflicht. Darüber hinaus »setzen [sie] sogar alles daran«, wie es im Abschlussbericht des MfS hieß, um ihren angeklagten Nachbarn »wieder freizubekommen«. 395 Das Gericht ließ dies unbeeindruckt und verurteilte den Angeklagten im März 1960 zu drei Jahren Zuchthaus. 396 Häufig handelten die Betreffenden zuallererst aus Mitmenschlichkeit und entschlossen sich so, ihr Wort zugunsten eines Inhaftierten einzulegen. Durch die Solidarisierung und die Überwindung der eigenen Angst sah sich die SED nicht nur ihrer Autorität infrage gestellt; jener Mut drohte jenen Kitt aufzulösen, der die Diktatur zusammenhielt. Viele von denen, die sich so solidarisch zeigten, wurden daher ebenso inhaftiert. So auch 1953 in Zingst. Im Frühjahr 1953 gingen SED, Polizei, Justiz und Staatssicherheitsdienst an der Ostseeküste der DDR in großangelegtem Maßstab gegen etwa 440 private Hotelbesitzer 391 Schreiben der Kriminalpolizei, an die Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei, Hauptverwaltung K, Abteilung AK, Berlin, betr.: Verbrechen in der Landwirtschaft der Sachgebiete AK 3 und AK 4, 16.3.1959, Landesarchiv Greifswald, Rep. 202/1, Nr. 10, Bl. 78 f. 392 Volkspolizeikreisamt Rostock, Abteilung VE, an den Operativstab der BDVP über den Operativstab des VPKA Rostock, Spitzenmeldung, Rostock 11.2.1959: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 156/60, Bd. I, Bl. 74. 393 Ebenda, Bl. 79. 394 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Abschlussbericht zum Op.-Vorgang 35/59, Rostock, 30.5.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 156/60, Bd. I, Bl. 174 f., hier 174. 395 Ebenda. 396 Erster Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock, Verhandlung am 17. und 24.3.1960, Urteil, Rostock, 28.3.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 14/60, Bd. II, Bl. 211–222.

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sowie gegen 181 Inhaber von Pensionen, Gaststätten, Wohnhäuser und Betrieben vor. 397 Unter dem Tarnnamen »Aktion Rose« waren zu diesem Zweck rund vierhundert Absolventen der Schule für Kriminalistik aus dem sächsischen Arnsdorf an die Küste entsandt worden. Hinzu kamen Polizisten, Richter und Staatsanwälte aus der gesamten DDR, die die betroffenen Einrichtungen handstreichartig enteigneten. Die Eigentümer wurden unter fingierten und oft aberwitzigen Vorwürfen, zum Beispiel aufgrund des Bezuges von Lebensmitteln ohne Bezugserlaubnis, zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt. Auch das Ostseebad Zingst war von dieser Enteignungswelle, an deren Rechtsmäßigkeit kaum jemand zu glauben mochte, betroffen. Insgesamt acht Kureinrichtungen, so auch die Inhaber des Zentral-Hotels und des Hotels Wiener Hof, sollten im Rahmen der »Februar-Aktion« von der SED in Zingst enteignet und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt werden. 398 Gut ein halbes Jahr später, im September 1953, traf man sich in Zingst zu einer Einwohnerversammlung. Angesichts der offenkundigen Willkür wollte man die Bitte an die Staatsanwaltschaft richten, die Urteile nochmals zu überprüfen. Die Zusammenkunft sollte am Ende nicht nur dem 1904 geborenen Hauptangeklagten, Otto Fassbender, zum Verhängnis gereichen. »Die Bevölkerung von Zingst«, so Fassbender am 22. September 1953 im überfüllten Gemeindesaal, »sei der Auffassung, daß die Aktion ›Rose‹ nur der Häuser wegen geschehen sei«. 399 Seine mit Bedacht angefügten Worte, dass dies nicht automatisch in jedem Fall zutreffen müsse, ging bereits im starken Beifall der im Saal Anwesenden unter. Erst Rechtsanwalt Kolbe wies das Bezirksgericht in seiner Berufung darauf hin, dass Fassbender hiermit lediglich eine weit verbreitete Einschätzung, die im Dorf die meisten teilten, wiedergegeben und zu seiner Absicherung jene mit den Worten, »diese Auffassung ist falsch«, sogleich wieder infrage gestellt habe. Das Bezirksgericht beeindruckt dies nicht, zumal Fassbender in der anschließenden Diskussion »die Methoden der Staatsorgane« während der Aktion »Rose« als »nervenraubend« kritisiert hatte. Er verwies darauf, dass »viele Menschen zu der Zeit bald verrückt« geworden seien. 400 397 Werkentin, Falco: Politische Justiz in der DDR. Erfurt 2012, S. 42 f. Vgl. hierzu auch: Kleiner Rundgang zu Rostocker Erinnerungsstätten des Unrechts in der Zeit der Sowjetischen Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1989. Hg. v. Presseamt der Hansestadt Rostock. Rostock 2000, S. 5. 398 Vgl. hierzu: Schreiben der Gemeindevertretung Ostseebad Zingst, an die Beschwerdestelle der Generalstaatsanwaltschaft Berlin, betr. Angelegenheiten der inhaftierten und entlassenen Gastwirte aus der Februar-Aktion in der Gemeinde Zingst, Zingst, 22.9.1953: BStU, MfS, BV Rostock, AU 4/54, HA, Bd. I, Bl. 146 f. 399 Schreiben Rechtsanwalt Kolbe, Rostock, an das Bezirksgericht Rostock, betr.: Strafsache gegen Faßbender u. a. – I Ks 220/55, Rostock, 28.12.1953: BStU, MfS, BV Rostock, AU 4/54, GA, Bd. II, Bl. 122–126, hier 123. 400 Volkspolizeikreisamt Ribnitz, Informationsbericht, betr.: Zingst, Ribnitz, 23.9.1953: BStU, MfS, BV Rostock, AU 4/54, HA, Bd. I, Bl. 109 f., hier 110.

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Demgegenüber verfügten die SED über triftige Gründe, um gegen den sich hier zaghaft regenden Widerspruch kompromisslos vorzugehen: Hierhinter verbarg sich nicht zuletzt die Angst, eines Tages die Rechnung für den in den Ostseebäder entfachten »roten Terror« präsentiert zu bekommen. Anfangs kursierte in Zingst eine Resolution. Sie stammte vom 15. September 1953. In ihr sprach sich die Ortsgruppe des Kulturbundes auf Initiative von Otto Fassbender für »die Haftentlassung« der während der »FebruarAktion« festgenommen »Gastwirte und [...] [ihrer] Frauen« aus. Weiter wandte man sich gegen die bei einer Freilassung zu erwartenden »Bewährungsfristen [von] bis zu drei Jahren«. Sie sorgten dafür, dass die Entlassenen »in ihrem Beruf keine Arbeit« mehr finden würden. 401 Vorbestraft mit Bewährungsauflage versehen, galten sie als ungeeignet, um als Leiter einer Ferieneinrichtung oder eines Hotels wieder tätig werden zu können. Fassbender, der nach seinem SED-Ausschluss 1952 nicht mehr der Vorsitzender der Gemeindevertreter in Zingst, aber noch deren Mitglied war, drängte die Gemeindeverordneten, sich die Resolution zu eigen zu machen. 402 Als Leiter der Kulturbundgruppe verfügte er nach wie vor über ein Mandat in der Kommunalvertretung. Da dem Vorsitzenden, dem dann zweiten Angeklagten, die Resolution der Kulturbundgruppe »zu offensichtlich als Provokation erschien«, entschied er, einen eigenen Text vorzulegen. 403 Anstelle der von ihm »als zu scharf angesehen[en]« Vorlage, entwarf er eine »zweite Resolution«, die nach den Worten des Kreisstaatsanwaltes, »zwar geschmierter« daherkam, »aber dasselbe forderte wie die erste«. 404 Trotz aller Widerstände schaffte es der Vorsitzende, seinen Text als Resolution in der SED-Ortsgruppe mit nur einer Stimme Enthaltung verabschieden zu lassen. 405 Inzwischen hatte die Nachricht über die Vorgänge in Zingst auch die SED-Kreisleitung in Ribnitz erreicht. In der Hoffnung, noch zu retten, was noch zu retten ist, beorderte man neben den üblichen »inoffiziellen Kräften« Kreisstaatsanwalt Merwitt und einen Vertreter des Volkspolizeikreisamtes nach Zingst. Sie sollten an der Einwohnerversammlung mit an401 Schreiben der Ortsgruppe des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Wirkungsgruppe Zingst (Darß), Kreis Stralsund, an die Beschwerdestelle der Generalstaatsanwaltschaft Berlin-Mitte, Entschließung der Gemeindevertretung Zingst in Sache der Inhaftierten und Entlassung Zingster Gastwirte aus der Februar-Aktion, Zingst, 15.9.1953: BStU, MfS, BV Rostock, AU 4/54, HA, Bd. I, Bl. 154. 402 Zum SED-Ausschluss 1952 und der Ablösung als Vorsitzender der Gemeindevertretung: Schreiben Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Wirkungsgruppe Zingst (Darß), Kreis Stralsund, gez. Otto Faßbender, an den Rat des Kreises Ribnitz, Abt. Inneres (Gemeindevertretung), betr.: Behinderung meiner Tätigkeit als Gemeindevertreter des Kulturbundes, Zingst, 15.6.1953: BStU, MfS, BV Rostock, AU 4/54, HA, Bd. I, Bl. 159. 403 Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV Rostock, Schlussbericht, Rostock, 30.11.1953: BStU, MfS, AU 4/54, HA, Bd. I, Bl. 119–125, hier 123. 404 Protokoll der Fraktionssitzung zur Gemeindevertreterversammlung am 22.9.1953 im Deutschen Haus: BStU, MfS, BV Rostock, AU 4/54, HA, Bd. I, Bl. 140 f., hier 140. 405 Ebenda, Bl. 141.

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schließender Gemeinderatssitzung am 22. September 1953 teilnehmen. Von »Zwischenrufe und Gelächter« begleitete, versuchte Merwitt hier, die Verlesung der Resolutionen zu verhindern. Auch bemühte er sich vor den »ungefähr 500–600 Einwohnern« die Februar-Aktion im Nachhinein zu rechtfertigen. »Der Saal des ›Deutschen Hauses‹ war berstend voll und man musste sagen, die Spannung war gespannt«. So beschrieb Leutnant Schwarz von der Volkspolizei seinerseits die Stimmung an jenem Abend in seinem an die Staatssicherheit weitergeleiteten »Informationsbericht«. 406 Zugleich beobachtete Leutnant Rieck seitens des Staatssicherheitsdienstes den Verlauf: Sein Rapport schien die schlimmsten Befürchtungen der SED zu bestätigen. Wie er berichtete, »brachen« in Zingst »Unruhen aus«, womit die tumultartigen Szenen im Saal gemeint schienen. 407 »Zwischenrufe von feindlichen Elementen« unterbrachen nach seinen Beobachtungen den Staatsanwalt, während die Verlesung der beiden Resolutionen von starkem Beifall begleitet wurde. 408 »Hier jubelte«, so hatte es sein Sicherheitspartner von der Volkspolizei hingegen gemeldet, jeweils »die Bevölkerung«. 409 Trotz aller Ermahnungen und Drohungen verabschiedeten die Gemeindevertreter eine Entschließung, die den Text der inzwischen abgemilderten Resolution übernahm. Als Ergänzung wurden zugleich einige Passagen aus dem Kulturbundtext eingefügt. 410 Bereits drei bzw. vier Tage nach der Versammlung erfolgte die Festnahme der beiden »Hauptverantwortlichen«. Otto Fassbender und der Gemeinderatsvorsitzende wurden in die Untersuchungshaft der Staatssicherheit nach Rostock verbracht und zu zwei Jahren Zuchthaus bzw. drei Monaten Gefängnis verurteilt. Von der Stasi festgenommen werden sollte am 25. September darüber hinaus der Zingster Arzt Karl Graber. 411 Sein »Verbrechen« bestand darin, Staatsanwalt Merwitt während der Einwohnerversammlung mit einem Zwischenruf unterbrochen zu haben. Laut Anklageschrift, war es ein Zwischenruf, der »wie eine Drohung klang«. »Die Regierung«, so der Mediziner in seinem Wortbeitrag, »solle ja nicht einen 17. Juni [...] vergessen«. 412 Karl Graber zeigte sich bei seiner Festnahme kaum eingeschüchtert angesichts des Drohszenariums der bei ihm 406 Volkspolizeikreisamt Ribnitz, Informationsbericht, betr.: Zingst, Ribnitz, 23.9.1953: BStU, MfS, BV Rostock, AU 4/54, HA, Bd. I, Bl. 109 f., hier 109. 407 Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV Rostock, Schlussbericht, Rostock, 30.11.1953: BStU, MfS, AU 4/54, HA, Bd. I, Bl. 119–125, hier 123. 408 Ebenda. 409 Volkspolizeikreisamt Ribnitz, Informationsbericht, betr.: Zingst, Ribnitz, 23.9.1953: BStU, MfS, BV Rostock, AU 4/54, HA, Bd. I, Bl. 109 f., hier 110. 410 Protokoll der 7. öffentlichen Gemeindevertretersitzung am 22.9.1953 im Deutschen Haus: BStU, MfS, BV Rostock, AU 4/54, HA, Bd. I, Bl. 142–145, hier 144. 411 Vgl. hierzu die Pressekampagne: »Faschistischen Provokateuren in Zingst wurde das Handwerk gelegt«. In: Ostsee-Zeitung, 2. Jg., Nr. 229, 30.9.1953, S. 3. 412 Volkspolizeikreisamt Ribnitz, Informationsbericht, betr.: Zingst, Ribnitz, 23.9.1953: BStU, MfS, BV Rostock, AU 4/54, HA, Bd. I, Bl. 109 f., hier 110.

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zuhause anrückenden Staatsmacht. Zumindest äußerlich versuchte er sich nichts anmerken zu lassen und bewahrte in dieser für ihn schwierigen Situation seinen Stolz: Der Festgenommene »verhielt [...] sich«, so berichteten es die hierfür abgestellten Mitarbeiter der Abteilung K der Volkspolizei hinterher der Staatssicherheit, »sehr ruhig« und »fragte nur nach dem Grund der Festnahme«. 413 Nicht nur dieser war ihm vorenthalten worden. Zugleich begannen zwei Zivilisten, die sich nicht vorgestellt hatten, damit, sein Haus zu durchsuchen. Karl Graber bot den Beamten daraufhin an, zur Klärung der Sache »den Hund vom Hofe reinzuholen«. 414 Seinen Kindern gab er, während er abgeführt wurde, mit auf den Weg, sich »die Gesichter dieser Herren« zu merken. »Die Jahre vergehen und ihr könnt sie noch gebrauchen«. Sollten sie »in der Schule etwas [...] von Recht und Gesetz« hören, so sollten sie sich »gut [...] an diese Stunde« der Festnahme erinnern. 415 Von den eingesetzten Beamten wurde der als ungeheuerlich bewertete Vorfall pflichtbewusst an die vorgesetzten Stellen und von diesen an den Staatssicherheitsdienst in Rostock weitergemeldet. Laut »Einlieferungsanweisung« gelangte Karl Graber nach seiner Festnahme am 25. September am darauffolgenden Tag, dem 26. September, in die Untersuchungshaftanstalt in Rostock. 416 Am Morgen des 27. Oktober 1953 rief die Gefängnisleitung den »Volkspolizei-Vertragsarzt« Dr. Wigand in die Untersuchungshaftanstalt und beauftragte ihn, den Tod von Karl Graber zu attestieren. 417 Wigand, der in der Zelle »die Leiche [...] auf einem Ruhebett« vorfand, bestätigte aufgabengetreu den Vorfall und nannte als Ursache den Tod »durch Erhängen«. Über die Umstände der Strangulation fanden sich, abgesehen von der Aussage, dass der Häftling um 7 Uhr noch lebte und zehn Minuten später tot aufgefunden wurde, keine Angaben im Protokoll. Ausdrücklich betonte der »Volkspolizei-Vertragsarzt«, dass »an der Todesursache [...] keine Zweifel« bestehen können. Wären ein Gutachter von unabhängiger Seite oder sein Rechtsanwalt, Erich Gloede, zur Begutachtung des Verstorbenen hinzugezogen worden, 418, hätte man dies als gegeben hinnehmen können. So blieben die Umstände des Todes mit einem Fragezeichen versehen. 413 Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV Rostock, Abt. VIII, an den Leiter der BV, Oberleutnant Müller, betr.: Dr. [Name], [Vorname], Rostock, 26.9.1953: BStU, MfS, BV Rostock, AU 4/54, HA, Bd. I, Bl. 12 f. 414 Ebenda. 415 Ebenda. 416 Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV Rostock, Einlieferungsanweisung für die Haftanstalt Rostock, Ribnitz, 25.9.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Abt, XIV, Nr. 85/53, Bd. I, Bl. 3. 417 Bericht des VP.-Vertragsarztes Wigand, Rostock, über die Besichtigung der Leiche des Karl Graber, geb. 26.2.1913, Rostock, 27.10.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Abt, XIV, Nr. 85/53, Bd. I, Bl. 7. 418 Schreiben Erich Gloede, Rechtsanwalt und Notar, an die Bezirksanwaltschaft, Abt. I, Rostock, 3.11.1953: BStU, MfS, BV Rostock, Abt, XIV, Nr. 85/53, Bd. I, Bl. 8 f.

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Auch in den Tagen rund um den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 ließ sich feststellen, dass der Solidaritätsgedanke bei den Protesten eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Die Proteste erwiesen sich nicht nur als ein Versuch, kollektive Interessen wie die Zurücknahme der Normerhöhungen und demokratische Forderungen durchzusetzen. Getragen wurden sie ebenso vom Gedanken der Mitmenschlichkeit und Solidarität. Bekannt ist dies bereits aus dem Bezirk Dresden. Am 17. Juni 1953 lieferte hier das Credo »Solidarität mit Berlin« einen jener Impulse, der in der Folge zum Ausbruch von Streiks und Demonstrationen in dem südöstlichsten Bezirk führte. 419 Auch aus anderen Städten ließ sich Vergleichbares berichten. Die Proteste begannen nicht selten als Solidaritätsaktion und waren zugleich mehr als nur das. Ermutigt durch die ersten Radiomeldungen bundesdeutscher Sender über Streiks und Demonstrationen in Ost-Berlin und im Süden der DDR kam es auch in der mecklenburgischen Kreisstadt Teterow zu gleich mehreren Vorfällen. Sie zeugten von der Dynamik, die einem derartigen Prozess innewohnte. Die Ereignisse in Teterow stellten im Norden jedoch eine Ausnahme dar. Schon in den Vormittagsstunden des 17. Juni, »zwischen zehn und elf Uhr«, fanden sich in Teterow vor dem Kreisgerichtsgebäude und dem hier anschließenden Gefängnis die ersten Schaulustigen ein. Zuvor hatte sich in der Stadt ein Gerücht verbreitet und für die Mobilisierung gesorgt: Einige der wegen vermeintlichen Wirtschaftsvergehen hier Einsitzenden und so von der SED schikanierten selbstständigen Bauern und Gewerbetreibenden, unter ihnen der Mühlenbesitzer Kirbach, sollten freigelassen werden. Die Grundlage sei der von der SED am 11. Juni 1953 bekanntgegeben Neue Kurs. In ihn räumte die SED ungerechtfertigte Härten im Umgang mit den selbstständigen Gewerbeinhabern in der Vergangenheit ein und kündigte eine Revision an. 420 Auf die Nachricht hin, dass es vor dem Kreisgericht zu einer Menschenansammlung gekommen sei, fanden sich hier weitere Neugierige ein. Gegen zwölf Uhr zählte man vor dem Gebäude in der Ernst-Thälmann-Straße mittlerweile vierhundert bis fünfhundert Menschen, die zunehmend ungeduldiger auf die Freilassung der dort Inhaftierten warteten. Tatsächlich hatte die Administration die Entlassung von vier Festgenommenen für den 17. Juni geplant

419 Vgl. hierzu die im Jahre 2003 vom Sächsischen Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR präsentierte Ausstellung »Der 17. Juni 1953 in den sächsischen Bezirken«, hier die Eröffnungstafel mit dem Leitsatz »Solidarität mit Berlin«: http://www.justiz.sachsen.de/lstu/content/918.htm (14.07.2014). 420 Vgl. hierzu: »... damit es nicht zum Vergessen kommt!« 17. Juni 1953 – die Ereignisse in Teterow. In: Teterow. 1235 bis 2010. 775 Jahre. Hg. im Auftrag der Stadtverwaltung Teterow. Boddin 2010, S. 44–48; »Teterower Provokateure erhielten ihre gerechte Strafe«. In: Freie Erde, 2. Jg., Nr. 148, 29.6.1953, S. 2; Rogmann, Eberhard: Freiheit-Rufe gehen unter im Panzer-Gedröhn. Militärischer Aufmarsch beendet Aufstand, Nordkurier, 17.6.2003, S. 2.

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und über den bevorstehenden Schritt die Angehörigen informiert. 421 Doch wollte die Menge nun, da sie sich einmal hier eingefunden hatte, nicht länger warten und forderte – schließlich gab es auch in anderen Orten der DDR Unruhen – lautstark deren sofortige Entlassung. Es waren Rufe zu vernehmen wie »gebt die Häftlinge frei« oder »lasst sofort die Gefangenen frei, die Polizei hat ja Angst einzugreifen«. 422 Einer der Anwesenden protestierte, »indem er schrie, ›wir Bauern bekommen keinen Dünger, dann haben wir kein Brot und keine Kartoffeln zu essen. Von morgens bis abends müssen wir schwer schuften und wenn wir dann unser Soll nicht erfüllen, werden wir eingesperrt‹«. 423 Er wies somit nicht nur auf die alltäglichen Nöte der Dorfbewohner und Ackerbürger hin. Zugleich benannte er damit einen jener Missstände – den schikanösen Umgang mit den Privatbauern – der in der Vergangenheit immer wieder zu Festnahmen führte und Verurteilungen nach sich zog. An Zwischenrufen wie »gebt meinen Schwager Kirbach frei« ließ sich schnell ersehen, dass viele der vor dem Gebäude Versammelten die Inhaftierten persönlich kannten. 424 Vor dem Gerichtsgebäude kam es im Folgenden zu einigen kleineren Rangeleien, so unter anderem als ein »Instrukteur der Kreisleitung der SED Teterow, Nosko, Mathias, [...] sich bemühte, die Strasse für den Verkehr freizumachen«. 425 Spontan verständigten sich einige der Anwesenden, eine fünfköpfige Delegation zu bilden. Staatsanwalt Rutenberg, den die Demonstranten nach einiger Suche in der Stadt ausfindig machten, willigte schließlich notgedrungen ein, die Delegation zu empfangen. In der Absicht, Schlimmeres zu verhindern, erfolgte gegen 13.30 Uhr die Freilassung der vier Inhaftierten. Zuvor hatten einige der Demonstranten die vom Staatsanwalt geöffnete Tür, durch die die Delegation in das Gebäude eingelassen werden sollte, blockiert. 426 Zu ihrem Erstaunen fanden die nun Freigelassenen die DDR in einem anderen Zustand vor als noch zum Zeitpunkt ihrer Festnahme: Beherrschten vordem noch Angst und Misstrauen den Alltag, ein Klima, in dem es nur selten zur offenen Solidarisierung kam, so bereiteten man ihnen nun vor dem Gerichtsgebäude einen stürmischen Empfang. 427 Vom Erfolg beflügelt und mit neuem Selbstbewusstsein ausgestattet, entschlossen sich die Demonstranten weitergehende Forderungen zu stellen. Vom Staatsanwalt verlangte man nun ultimativ die Freilassung aller aus »wirtschaft421 MfS, BV Neubrandenburg, Bericht über die Provokateure in Teterow, Neustrelitz, 21.6.1953: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 65/53, Bd. III, Bl. 1–9, hier 6. 422 Ebenda, Bl. 8. 423 Ebenda. 424 Ebenda. 425 Ebenda, Bl. 7. 426 Ebenda. 427 Ebenda, Bl. 8.

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lichen« und politischen Gründen Inhaftierten. Auf der »Suche nach dem Staatsanwalt« zog die Menge, wie es im späteren Ermittlungsbericht hieß, »unter lautem Gegröle« und mit Rufen wie »Kirbach [...] haben wir frei« abermals quer durch die Stadt zur Wohnung des Gesuchten. 428 Von hier aus bewegte sich der Demonstrationszug mit den vier Freigelassenen zum Rathaus und wieder zurück zum Gerichtsgebäude. Im Rathaus war Staatsanwalt Rutenberg nicht. Er befand sich nach wie vor im Inneren des Gerichtsgebäudes. In den späten Nachmittagsstunden des 17. Juni verhängte der sowjetische Kommandant auch den »Ausnahmezustand für Teterow«, eine Maßnahme, die nur bedingte zur Beruhigung der Situation führte. Bis etwas 20.30 Uhr hielten sich Menschen vor dem Gerichtsgebäude auf. Das Protokoll des MfS sprach von einer noch nach 20 Uhr »randalierenden Menschenmenge« in der Ernst-Thälmann-Straße. 429 Zu diesem Zeitpunkt liefen in der Stadt die ersten Verhaftungen durch die Volkspolizei und den Staatssicherheitsdienst an. Aber nicht nur vor dem Gerichtsgebäude zeigte man sich unbeeindruckt vom Ausnahmezustand und ignorierte die Warnung, »dass keine Versammlungen [mehr] durchgeführt werden dürfen«. In der Stadt kam es zu einer weiteren Solidarisierung mit im Gefängnis Inhaftierten. 430 Auf Initiative eines bei der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) Angestellten und mit Unterstützung von Arbeitern aus der Molkerei fand gegen 20 Uhr im Hotel »Stadt Waren« eine Bauernversammlungen statt. Zuvor waren »sämtliche Bauern der Stadt Teterow« mittels eines Aushanges an der Molkerei zu der Versammlung eingeladen worden. Ziel sei die »Antragstellung auf Freilassung unserer Kollegen«. 431 Trotz der Warnung des Hotelinhabers, dass die Zusammenkunft illegal sei, hielt die man an dem Vorhaben fest. Im Resultat unterzeichneten »insgesamt 27 Personen« eine Petition, die am folgenden Tag von einer dreiköpfigen Delegation dem Staatsanwalt überreicht werden sollte. 432 Die Bauern forderten den Staatsanwalt in ihrer Erklärung auf, ihre »wegen Wirtschaftsvergehen verurteilten Kollegen [...] auf freien Fuß zu setzen.« Gefordert wurde die »sofortige Freilassung« von namentlich drei aufgeführten Gefangenen. Die Petition schloss mit dem Satz: »Die Verbundenheit der Bauernschaft mit ihren Kollegen geben sie durch ihre Unterschrift ab«. 433 428 Ebenda, Bl. 4. 429 Ebenda, Bl. 9. 430 Ebenda, Bl. 5. 431 Ebenda sowie Aushang [handschriftlich, versehen mit dem Stempel]: VdGB (BHG), Ortsvereinigung Teterow: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 65/53, Bd. II, Bl. 335. 432 Petition, an den Herrn Staatsanwalt des Kreises Teterow, Teterow, 17.6.1953, [27 Unterschriften, ebenfalls versehen mit dem Stempel]: VdGB (BHG), Ortsvereinigung Teterow: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 65/53, Bd. II, Bl. 336, sowie MfS, BV Neubrandenburg, Bericht über die Provokateure in Teterow, Neustrelitz, 21.6.1953: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 65/53, Bd. III, Bl. 1–9, hier 4. 433 Petition, ebenda, Bl. 336.

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Wenig später wurden die vermeintlichen Rädelsführer inhaftiert. Insgesamt elf Menschen sollten nach den Tumulten vor dem Kreisgericht oder wegen ihrer Anwesenheit auf der Bauernversammlung am 17. und 18. Juni festgenommen werden. 434 In dem Verfahren vor dem Bezirksgericht Neubrandenburg ergingen gut einen Monat später Zuchthausstrafen in Höhe von sechs, fünf bzw. vier Jahren. 435 MfS und SED übten so Vergeltung an denen, die sich mit den Inhaftierten solidarisiert hatten. Dies waren nicht die einzigen Proteste in der Kreisstadt am 17. Juni 1953: In der Lehrwerkstatt des Volkseigenen Betriebs Apparatebau legten in den frühen Morgenstunden vier Jugendliche die Arbeit nieder. 436 Zuvor hatte sie ihr Lehrmeister gefragt, ob sie an solch einem Tage lieber arbeiten oder doch eher streiken wollten – sie entschieden sich für letzteres. Anschließend hängten sie im Kulturraum des Betriebes »die Bilder der führenden Arbeiterfunktionäre« ab und entfernten die rote Fahne von der Wand. Zwar nahmen die vier Lehrlinge noch vor der Mittagspause ihre Arbeit wieder auf. 437 Am darauffolgenden Tag eskalierte die Situation jedoch. Nachdem die Lehrlinge erfahren hatten, dass am 17. Juni ihr Berufsschullehrer in Haft genommen worden war, »gab es nochmals heftige Diskussionen«. Für seine Festnahme reichte dem Staatssicherheitsdienst die Denunziation eines Lehrlings eines anderen Betriebes. Die vier Lehrlinge im VEB Apparatebau, die sich von der Unschuld des Lehrers überzeugt zeigten, drängten daraufhin auf eine Aussprache. Es gelang ihnen im Folgenden, den 1. Sekretär der SED-Kreisleitung, Kaminski, zur Rede zu stellen. Kaminskis Auftritt klärte die Situation kaum. Er stachelte die Wut der Lehrlinge weiter an: Der Kreissekretär zog nicht nur in abfälliger Weise über den Berufsschullehrer her. Auch die Lehrlinge wurden mit herablassenden Bemerkungen bedacht. Sie entschlossen sich daraufhin, gemeinsam einen Brief an das Gericht in Neubrandenburg zu richten, indem sie für ihren Lehrer Partei ergriffen. 438 Zunächst passierte nicht viel. Doch täuschte der Eindruck: Einige Monate später, am 21. November 1953, erhielten sie vom Kreisredakteur der SED-Bezirkszeitung »Freie Erde« den Hinweis, dass man plane, sie wegen des Briefes und ihrer Beteiligung am 17. Juni festzunehmen. Am darauffolgenden Tag setzen sich die vier Lehrlinge in die Bundesrepublik ab. 439 434 MfS, BV Neubrandenburg, Bericht über die Provokateure in Teterow, Neustrelitz, 21.6.1953: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 65/53, Bd. III, Bl. 1–9, hier 1–3. 435 Bezirksgericht Neubrandenburg, Urteil, 1 Ks. 310/53, 6.7.1953: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 65/53, Bd. II, Bl. 302. 436 MfS, BV Neubrandenburg, Vernehmung des Beschuldigten [Name], [Vorname] in der MfSUntersuchungshaftanstalt Neustrelitz, Neustrelitz, 9.8.1955: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 91/55, Bd. I, Bl. 73–77, hier74. 437 Ebenda. 438 Ebenda, Bl. 75. 439 Ebenda, Bl. 73.

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Einer der vier Flüchtigen geriet später doch noch in Haft. 1955 gab er sich der Illusion hin, zum Besuch seiner Eltern nach Jörgensdorf in die DDR zurückkehren zu können. Es handelte sich um einen Irrtum mit verhängnisvollen Folgen. Kurz nach seiner Ankunft im Dorf erhielt der Staatssicherheitsdienst hiervon Kenntnis. 440 Der Abschnittsbevollmächtigen der Volkspolizei und zwei MfS-Mitarbeitern nahmen ihn wenig später »auf dem Heimweg zu seinen Eltern« fest. Sie führten ihn »unauffällig« zu ihrem Auto, dass »er [...] besteigen musste«. 441 Der Festgenommene fand sich wenig später im Untersuchungsgefängnis des Staatssicherheitsdienstes in Neustrelitz wieder. Am 21. Oktober 1955 verurteilte der 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Neubrandenburg den Achtzehnjährigen unter dem Vorwurf der »Boykotthetze« nach Artikel 6 der DDR-Verfassung zu einem Jahr Zuchthaus. 442 Auf unbestimmte Zeit wurden ihm zudem das aktive wie passive Wahlrecht sowie das Recht »im öffentlichen Leben noch in leitenden Stellen im wirtschaftlichen und kulturellen Leben tätig [zu] sein«, aberkannt. 443 Zwar schrieb die SED-Parteipresse, dass das harte Durchgreifen in der Bevölkerung begrüßt werden würde. Ein Vorfall in der Kreisstadt im September 1953 zeigte, dass dem keineswegs so war. Davon konnte sich auch der Dienststellenleiter der Kreisverwaltung des Staatssicherheitsdienstes, Oberleutnant Rassmus, überzeugen. Ein Vorfall am Abend des 15. September vermittelte Rassmus einen Eindruck, was man über die »Kriminalisten«, die sich überall einmischten, tatsächlich dachte. Zuvor hatte er sich in ein Scharmützel zwischen feiernden Jugendlichen vor der Bahnhofsgaststätte in Teterow eingeschaltet. Er wurde daraufhin angegriffen und »über das Geländer in die Grube, die sich vor dem Bahnhofslokal befindet«, geworfen. 444 Der MfSDienststellenleiter befreite sich aus der Fäkaliengrube und stellte wenig später den Haftbefehl aus. In ihm behauptete er, dass er »geschlagen und ihm körperliche Verletzungen zugefügt« worden seien. 445

440 Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV Neubrandenburg, Abteilung VIII, Referat III, Festnahmebericht, Neustrelitz, 11.7.1955: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 91/55, Bd. I, Bl. 10. 441 Ebenda. 442 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Neubrandenburg, Urteil in der Strafsache gegen [Name], [Vorname], 1 Ks. 158/55, 29.10.1955: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 91/55, Bl. 106. 443 Ebenda. 444 Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV Neubrandenburg, Vernehmung des Beschuldigten [Name], [Vorname], Teterow, 26.9.1953: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 100/53, Bl. 10–15, hier 15. 445 Staatssekretariat für Staatssicherheit, BV III, KD Teterow, Haftbeschluß, Teterow, 26.9.1953: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 100/53, Bl. 5.

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4.2.6 Solidarität aus der Gemeinschaft heraus: Die Zeugen Jehovas und der Fall Leopoldshagen Die Formen der Solidarität und die Motive hierfür waren vielfältig. Neben denen, die sich um andere Menschen als ihre Nachbarn oder Arbeitskollegen sorgten, gab es Gläubige, die sich für ihre inhaftierten Brüdern und Schwestern einsetzten. Im Frühjahr 1950 wandten sich mehrere Mitglieder der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas mit einer Protestresolution an das Volkspolizeikreisamt in Anklam. Zuvor waren die DDR-Behörden gegen drei Gemeindemitglieder in Leopoldshagen vorgegangen. 446 Die Ereignisse in Vorpommern bildeten den Ausschnitt einer seit 1950 in der gesamten DDR anlaufenden Kampagne und Verfolgungsaktion. 447 Bezeichnenderweise hatte sich die DDR-Regierung die von ihrer Justiz nun zu ahndende Problemlage durch ihr Verbot der Wachtturmsgesellschaft im August 1950 erst geschaffen. 448 Während im Nachbarland, der Volksrepublik Polen, die Zeugen Jehovas nach wie vor ihren Aktivitäten nachgehen konnten, fahndeten Volkspolizei und MfS zusammen mit Bürgermeistern und Parteisekretären in der gesamten DDR nun nach jenen, die sich weiterhin zu der verbotenen Religionsgemeinschaft hielten. Der Minister des Innern der DDR, Karl Steinhoff, beschuldigte die Zeugen Jehovas in seiner Verbotsverfügung, »illegales Schriftmaterial« eingeführt und verbreitet sowie »systematische Hetze gegen die bestehende demokratische Ordnung und deren Gesetze unter dem Deckmantel einer religiösen Veranstaltung« betrieben zu haben. 449 Obendrein hätten sie sich schuldig gemacht, »dem Spionagedienst einer imperialistischen Macht dienstbar« zu sein. Am 4. Oktober 1950 kam es vor dem Obersten Gericht der DDR zu einem ersten Prozess gegen Mitglieder der Zeugen Jehovas, der mit zweimal lebenslänglichen Zuchthausstrafen und weiteren Urteilssprüchen von je zweimal 15, 12, 10 und 8 Jahren Zuchthaus endete. 450 Ähnlich verhielt es sich bei dem nur wenige Tage später anlaufenden Prozess gegen die Mitglieder der Wachtturmsgesellschaft aus Vorpommern vor dem Landge446 Dirksen, Hans-Hermann: Martha Knie. Das Zeugnis einer Frau aus Vorpommern (1900– 1953). In: Zr. 7 (2003) 2, S. 63–76. 447 Dirksen, Hans-Hermann: Keine Gnade den Feinden unserer Republik. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR 1945–1990. 2. Aufl., Berlin 2003; Ders.: Martha Knie. Das Zeugnis einer Frau aus Vorpommern (1900–1953). In: Zr. 7 (2003) 2, S. 63–76; Kluge, Meta: »Sie haben mich treulich begleitet.« Gedichte aus der DDR-StVA Bützow-Dreibergen. Mit Anmerkungen von Johannes Wrobel. In: Yonan, Gabriele (Hg.): Im Visier der Stasi. Jehovas Zeugen in der DDR. Niederbach 2000, S. 330–344. 448 Zeugen Jehovas. In: SBZ von A bis Z. Ein Taschen- und Nachschlagebuch über die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands. Hg. v. Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen. 8. Aufl., Bonn 1963, S. 545. 449 Ebenda. 450 Ebenda.

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richt in Schwerin. Vorgehalten wurde dem zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilten Hauptangeklagten, dass er sich vor dem Verbot von 1948 bis 1950 in Pasewalk als Gruppendiener und ab 1950 in Anklam als Diener der Gemeinschaft betätigt und zusammen mit den anderen Verurteilten »geheime Versammlungen [...] einberufen« habe. 451 In ihren »Königsreichssälen« – gemeint waren die Treffen der Zeugen Jehovas in ihren Wohnungen – seien in der Folge verbotene Zusammenkünfte, »in denen außer den Glaubensbrüdern auch ›Interessierte‹ anwesend waren«, abgehalten worden. 452 Der gegenüber der Glaubensgemeinschaft in weiten Bevölkerungskreisen bestehende Argwohn ließ die Zeugen zum leichten Opfer der SEDKirchenfeindschaft und zum prädestinierten Gegenstand staatspolizeilicher Verdächtigungen werden. Verdächtig waren nicht nur das über die Zugehörigkeit hergestellte Sonderbewusstsein der Gruppe, deren Abschottung nach außen und das Geheimnisumwitterte, das diese umgab. Hinzu kam der missionarische Eifer, den man mit den Zeugen Jehovas verband. Als besonders belastendes Moment kam »der illegale Kurierdienst« hinzu, mit dem die Gemeinde Kontakt zur Leitung der Kirche außerhalb der DDR über Anlaufadressen in der Berliner Brunnenstraße (Ost) und Magdeburg hielt. 453 Von hier bezogen die Zeugen Jehovas die deutsche Ausgabe des amerikanischen Kirchenblattes »Erwachet« sowie den »Informationsbrief«. Zugleich mutmaßte die Staatsmacht, dass sie über diese Kanäle Informationen über die von ihren Mitgliedern erlittenen Repressalien an »höhere Gewalten« andernorts weitergaben. Als suspekt mussten die Zeugen der SED auch deshalb gelten, da sich diese, wie es in der Schweriner Anklage hieß, zur weltweiten »Watch-TowerBible and Tract-Society« zugehörig zählten, die, was sie besonders verdächtig machte, »ihren Hauptsitz in Brooklyn USA« besaß. 454 Doch wurden die Mitglieder der Wachtturmsgesellschaft nicht erst in Folge der Verbotsverfügung 1950 zu »Dissidenten wider Willen«. Durch ihr Handeln bezeugten sie zuvor, dass sie mit politischen Entscheidungen in der DDR nicht einverstanden waren. Einer der Hauptangeklagten aus Vorpommern hatte nach den Erkenntnissen der MfS-Untersuchungsführer »in Handzetteln«, die er innerhalb der Gruppe verteilte, gegen die zum Unterwerfungsritual von der SED hochstilisierte »Unterzeichnung des Stockholmer Appells zur Ächtung der Atombombe Stimmung gemacht«. 455 Dementsprechend hieß es in einer Notiz der Landesverwaltung für Staatssicherheit: »Durch polizeiliche Ermittlungen wurde festgestellt, daß die Zeugen Jehovas im Kreise Anklam 451 Land Mecklenburg, Landgericht Schwerin, Abschrift des Urteils, St.Ks 78/50, »Im Namen des Volkes«, Schwerin, 23.10.1950: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 109/50, Bl. 4–23, hier 8. 452 Ebenda. 453 Ebenda. 454 Ebenda, Bl. 6. 455 Ebenda, Bl. 8.

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eine starke antidemokratische Tätigkeit entfalten. Sie lehnen die Unterschrift für die Ächtung der Atombombe ab.« 456 Verwiesen wurde des Weiteren auf die Hausbesuche in den Dörfern rund um Anklam und »illegale Schriften«, die hierbei verteilt werden würden. 457 In einem »Vortrag über Hungersnöte« verwies einer der Angeklagten die Zuhörer auf eine »Hungersnot in der S.U. [Sowjetunion] nach dem Bürgerkrieg«, um, so schlussfolgerte das MfS, »hier das Versagen des ›Bolschewismus‹ herauszustreichen«. 458 Einem weiteren Zeugen Jehovas, der in Ducherow lebte und hier als Lokführer arbeitete, warf man vor, dass er bei »seinen Haus- zu Hausbesuchen« illegales Material verliehen habe. Auch habe er deren »Inhalt erläutert«: »Bei dieser Gelegenheit sprach er [sich] gegen die Maßnahmen der DDR (Nationale Front, Oktoberwahlen und Ächtung der Atombombe)« aus. 459 Zu den in den Dörfern am Haff am 19. April 1950 vorläufig Festgenommenen und nach einem Tag wieder Freigelassenen zählte auch Martha Knie. Sie hatte bereits vor 1945 neun Jahre wegen ihres Glaubens in einem Konzentrationslager der Nationalsozialisten einsitzen müssen. Bei den Hausdurchsuchungen beschlagnahmte die Volkspolizei verschiedene religiöse Schriften, die abermals die westliche »Unterwanderung und Steuerung« der Traktatgemeinde belegen sollten. »Alle Zeugen Jehovas der Gruppe Leopoldshagen«, so hieß es daraufhin in einer von der Gemeinschaft verabschiedeten Erklärung, »erheben schärfsten Protest gegen die Beschlagnahmung«. Der letzte Satz der Petition zeugte von der Entschlossenheit, mit der die DDR-Behörden bei ihrem weiteren Vorgehen gegen die Glaubensgemeinschaft rechnen mussten: »Die Zeugen Jehovas«, heißt es, »kämpfen für die Gottesdienstfreiheit [...] bis zum letzten Atemzuge, was sie nicht nur als ihr Recht, sondern als ihre Pflicht ansehen«. 460 Am 30. August 1950 wurden die drei Zeugen aus Leopoldshagen erneut festgenommen und in Greifswald in die vom MfS genutzte Untersuchungshaftanstalt eingeliefert. Während zwei der Festgenommenen später wieder nach Leopoldshagen zurückkehren konnten, erging gegen Martha Knie die Anklage vor dem Landgericht in Schwerin. Zusammen mit neun weiteren Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft sah sich sie mit dem in solchen Fällen pauschal erhobenen Vorwurf konfrontiert, gegen »Art. VI der Verfassung der DDR«

456 Verwaltung für Staatssicherheit. Land Mecklenburg, Abt. Greifswald, Vorgang [Name], Greifswald, 3.9.1950: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 109/50, Kontrollvorgang, Bd. II, Bl. 29. 457 Ebenda. 458 Land Mecklenburg, Landgericht Schwerin, Abschrift des Urteils, St.Ks 78/50, »Im Namen des Volkes«, Schwerin, 23.10.1950: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 109/50, Bl. 4–23, Bl. 9. 459 Verwaltung für Staatssicherheit. Land Mecklenburg, Abt. Greifswald, Abschlussbericht zur Person [Name], Greifswald, 27.9.1950: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 109/50, Kontrollvorgang, Bd. II, Bl. 16 f. 460 Ebenda, S. 71.

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verstoßen zu haben. 461 Zugleich betitelte das Gericht unter Vorsitz von Landgerichtspräsident Schmiege und Landesrichter Fleischhauer sowie dem »Augenkünstler Fritz Bäz, Greifswald« als Beisitzer die Angeklagten als »Verbrecher gemäss Art. II der Direktive 38«. 462 Neben der Leopoldshagnerin Martha Knie stammten die Angeklagten aus Anklam, Ducherow, Torgelow und Eggesin; sie fanden ihr Auskommen zumeist als Handwerker, kleinere Angestellte – so als Straßenwärter, Buchhalter oder Lokführer – oder waren Rentner, Hausfrau oder, wie in einem Fall, ohne Anstellung. 463 Am 16. Oktober 1950 verurteilte das Landgericht die beiden Hauptangeklagten aus Torgelow zu fünfzehn bzw. zehn Jahren Zuchthaus. Zwei der angeklagten Zeugen Jehovas erhielten Zuchthausstrafen von je acht Jahren, drei weitere von je sechs Jahren, zwei weitere von je vier Jahren und ein Angeklagter wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. 464 Martha Knie, deren Urteil sechs Jahre Zuchthaus lautete, erkrankte in der Strafvollzugsanstalt Bützow aufgrund der Haftbedingungen an Tuberkulose. Trotz verschiedenster Bitten, Eingaben und Appelle, so durch ihre Tochter am 15. April 1953 an den DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck, wurde sie lange Zeit weder aus dem veralteten und feuchten Gefängnistrakt in eine Krankenzelle verlegt, noch ansatzweise hinreichend behandelt. Nach ihrer viel zu späten Verlegung in das Haftkrankenhaus Leipzig, wo man »die Todkranke in die nasse Zelle, neben dem Spülraum« 465 legte, verstarb Martha Knie am 5. November 1953 an den Haftfolgen. 466

4.3

Fazit – eine zweite Zwischenbetrachtung

Verweigerung, Widerspruch, Widerstand und Opposition gab es in den vier Jahrzehnten der DDR in vielfältiger Form. Die verschiedenen Äußerungsformen politisch abweichenden Verhaltens stellten jedoch – trotz der mitunter beeindruckenden Zahlen – stets ein Randphänomen in der Gesellschaft dar. Dafür, dass sich nicht mehr Menschen zum Widerspruch und Widerstand 461 Land Mecklenburg, Landgericht Schwerin, Abschrift des Urteils, St.Ks 78/50, »Im Namen des Volkes«, Schwerin, 23.10.1950: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 109/50, Bl. 4–23, hier 4 f. Vgl. zur Instrumentalisierung des Art. 6 der DDR-Verfassung und der alliierten Kontrollratsdirektive 38 das Kapitel »Justiz im Namen des Antifaschismus als Kampfinstrument«: Werkentin, Falco: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht (Forschungen zur DDR-Geschichte; 1), Berlin 1995, S. 172 f. 462 Land Mecklenburg, Landgericht Schwerin, Abschrift des Urteils, St.Ks 78/50, ebenda, Bl. 4– 23, hier 4 f. 463 Ebenda. 464 Ebenda. 465 Memoiren der Mitinhaftierten Meta Kluge, unveröff. Typoskript. Hamburg 1984, S. 131. Nach: Dirksen, Hans-Hermann: Martha Knie. Das Zeugnis einer Frau aus Vorpommern (1900– 1953). In: Zr. 7 (2003) 2, S. 63–76, hier 74. 466 Ebenda.

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entschlossen, sorgten nicht nur die SED, die Polizei, die Lehrer und Rektoren in den Schulen und Universitäten und der Staatssicherheitsdienst. Auch sich in ihren eigenen vier Wänden kritisch gebende Menschen verweigerten denen, die sich auflehnten und Widerspruch und Widerstand leisteten die Solidarität. Um ihre Passivität zu verteidigen, kritisierten sie die Handlungen als unüberlegt und mieden, um nicht selbst Schwierigkeiten zu bekommen, den Umgang mit den von ihnen als »nicht normal« Beargwöhnten. Die Abkehr von und die Entsolidarisierung mit denen, die sich verweigerten, waren der Kitt, der die Diktatur zusammenhielt. Dessen ungeachtet gab es immer wieder auch unerschrockene Menschen, die sich für ihre inhaftierten Nachbarn, Arbeitskollegen, als Arzt oder Rechtsanwalt für ihre Klienten und Pfarrer für in Haft befindende Gemeindeglieder einsetzten. Im Unterschied zur schweigenden Mehrheit wurden demgegenüber jene Menschen »auffällig«, die sich nicht hinreichend anpassen wollten oder die Skurrilität einer Situation nicht ertrugen und die politischen Konventionen durchbrachen. Im Moment ihrer Protestes erlangten sie Souveränität über die Verhältnisse und ließen diese, wenn auch für eine Moment, hinter sich. Sie bezahlten ihren Mut oft mit drakonischen Strafen. Doch hatten sie im Moment, in dem sie aufstanden und sich widersetzten, auch »Größe« erlangt; »Größe« über jenen scheinbar allmächtigen Staat, der in seiner Wut und in seinem Vergeltungsbedürfnis gegenüber jedem, der rebellierte, wiederum sehr »klein« war. Er fand, wenn auch nur für einen Augenblick, seine Grenzen dort, wo es Menschen gab, die sich ihm entgegenstellten. »Meckern« war eine der häufigsten Formen des politisch abweichenden Verhaltens, mit dem Menschen in ihrer konkreten Alltagssituation zum gesellschaftlichen System und dessen Ideologie auf Distanz gingen. Anforderungen des Systems wurden so infrage gestellt. Mitunter bezeugte manch einer auch so seine Solidarität mit einem gemaßregelten Mitmenschen. Oft handelte es sich dabei um mehr als nur um »Meckern«. Überliefert sind viele Unmutäußerungen, in denen unmissverständlich die staatskritische Einstellung zum Ausdruck kam. Sie erfolgten zumeist vor einem konkreten Hintergrund, der zur Kritik herausforderte und das System oder Teile dessen infrage stellte. »Meckern« konnte oft auch als ein Handeln betrachtet werden, das dazu diente, neben den angestauten Aggressionen Verständigung im Alltag herzustellen und den Kontakt zu Gleichgesinnten zu suchen. Dementsprechend rigoros ging das MfS in den Fünfzigern, aber auch noch in späteren Jahren hiergegen vor. Es galt, so die Sicherheitsphilosophie, jeden aufkommenden Widerspruch bereits in der Entstehungsphase zu unterdrücken. Insgesamt war das Handeln derer, die sich widersetzten, bestimmt von dem Verlangen, ihrem eigenen, abweichenden Standpunkt Ausdruck zu verleihen. Die Motive hierzu mochten unterschiedlicher Natur sein. Verärgerung und

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Zorn über bestehende Missstände und eine als ungerecht empfundene Behandlung kamen ebenso in Betracht, wie das Anliegen, die Verhältnisse insgesamt abzulehnen. Die wohl größte Gruppe unter denen, die auf Konfrontation zum System gingen, waren ab Mitte der siebziger Jahre die Ausreiseantragsteller. Ihr Protest diente häufig, aber nicht ausschließlich, dem von ihnen verfolgten Ziel, möglichst schnell aus der DDR ausreisen zu können. Ab Mitte der achtziger Jahre organisierten sich Antragsteller auch im Norden in Interessengruppen und führten gemeinsam Protestaktionen durch. Doch lässt sich der Protest in vielen Fällen nicht auf das Anliegen, auszureisen, reduziert. Ausreiser handelten ebenso wie andere, die Widerstand leisteten, aus dem Impuls heraus, gegen konkrete Zustände und Anmaßungen des Systems aufzubegehren. Ihr Ausreiseantrag mochte sie, nachdem sie mit dem System entgültig gebrochen hatten, in ihrem Protest »beflügeln« und ihr Ziel, die Perspektive eines Lebens außerhalb der DDR-Grenzen, zu einer Radikalisierung führen. Anders als in Berlin, wo es Diskussionen um und Abgrenzungen anderer Oppositioneller gegenüber den Antragsteller gab, bestanden im Norden grundsätzlich vielfältige personelle Überschneidungen zwischen den Gruppen, die Widerspruch und Widerstand gegen die SED leisteten. Eine konsequente Abgrenzung gegenüber jenen, die ausreisen wollten, schien hier, angesichts des überschaubaren Kreises derer, die ihre Stimme gegen die SED erhoben, auch kaum sinnvoll. Wer sich einmal entschied, Widerspruch und Widerstand zu leisten, brach häufig mit dem bisher Gewohnten. Diskontinuitäten blieben dabei nicht aus. Nicht selten haderten die, die Widerstand leisteten, längere Zeit mit sich, bis sich hinreichend Unmut angestaut hatte, der Mut ausreichte oder ihnen die Gelegenheit günstig erschien, um mit dem System zu brechen. Ausgelöst werden mochte dies durch unterschiedliche Ereignisse. Die persönliche Betroffenheit wirkte oft als »zündender Funke«, war häufig aber nicht das einzige Moment, sondern knüpfte an einen seit Längerem bestehenden Zweifel oder die latente Unzufriedenheit mit dem System an.

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5 Kontinuität und Wandel: Dauerthemen der Nonkonformität, der Verweigerung, des Protestes und des Widerstandes

Die Ursache für Nonkonformität, Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition legte die SED durch ihre Diktatur selbst. Hierzu zählte der Entschluss, keine Form der Partizipation außerhalb der von ihr aufgezeigten Grenzen zu dulden. Hinzu kamen die vorenthaltenen Reisemöglichkeiten, das Verbot für die arbeitsfähige Bevölkerung, ihren Wohnsitz außerhalb des Ostblocks zu wählen und das Unvermögen der SED, die Versorgung der Bevölkerung umfassend zu garantieren. Die allgegenwärtige Propaganda mit ihren beschönigenden Bildern vom Alltag im Realsozialismus, die Lügen, mit denen der Bundesrepublik, dem Klassenfeind oder anderen finsteren Mächten die Schuld für die Pannen und Missstände zugeschoben wurden, und die fehlende Perspektive, dass sich die DDR in absehbarer Zeit reformieren lassen könne, schufen den Anlass für weitere Verärgerung. Beim politisch abweichenden Verhalten kristallisierten sich einige Dauerthemen heraus, die von der Unfähigkeit der SED zeugten, die Probleme irgendwann zu lösen. Mit auffallender Kontinuität meldete sich der Widerstand mit diesen Themen immer wieder im Alltag zurück. Konterkariert wurde so das Bestreben der SED, der Bevölkerung die Ankunft in einer Art Normalität zu suggerieren. Inszeniert wurde das Bild von einer entwickelten sozialistischen Gesellschaft, die ihre Kinderkrankheiten überwunden habe und deren Alltag nun vom sozialistischen Frohsinn erhellt würde. Jene Sehnsucht nach Normalität gab es in der DDRBevölkerung ebenso wie in anderen Gesellschaften zu verschiedensten Zeiten. Die integrativen Angebote, die jene Normalität unterstellten, wurden durchaus angenommen: So der Versuch ab den achtziger Jahren unter anderem mit der Losung »Meine Heimat DDR. Beschützen, erhalten, bewahren« eine Art Heimatgefühl zu vermitteln. Reich bebilderte Publikationen, Plakate, Filme und Theaterstücke entstanden hierzu innerhalb kürzester Zeit. Gefördert wurde nun auch ein regionales Selbstbewusstsein im ansonsten in dieser Frage puritanischen und in Bezirke zerlegten Zentralstaat. Doch, wer hinter die Kulissen schaute, sich wie die meisten DDR-Bewohner über die westlichen Rundfunkkanäle informierte und die Augen nicht vor der Realität verschloss, stieß immer wieder auf die von der SED nicht zu lösenden innenpolitischen Probleme. Für jene Menschen, die sich dem verständlichen Wunsch nach

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Normalität hingegeben hatten, mochte die Stringenz, mit der sich die Anfangsprobleme der DDR in den achtziger Jahre im Alltag zurückmeldeten, desillusionierend sein. Besonders deutlich markierte die anwachsende Ausreisebewegung mit ihren Demonstrationen und Botschaftsbesetzungen, dass es die DDR nicht geschafft hatte, ihre Grundprobleme zu lösen. Bereits in den fünfziger Jahren beschäftigte die Frage nach dem Fortgehen und Dableiben die Gespräche im Alltag der DDR. Nun wirkte das Wissen über immer neue Antragsteller und Menschen, die die DDR verlassen wollten, auf viele, die den Mauerbau miterlebt hatten, als Déjà-vu auf die Zeit vor 1961. Anführen ließe sich ebenso das spannungsvolle Verhältnis von SED-Staat und Kirche. Bis weit in die siebziger Jahre kam es zu Restriktionen, insbesondere zur Behinderung der kirchlichen Jugendarbeit bis hin zu Strafbefehlen; das Bild, das viele Christen vom SED-Staat hatten, wurde durch diese Erfahrungen geprägt. Das StaatKirche-Gespräch vom 6. März 1978 weckte Hoffnungen auf ein zukünftig besseres Verhältnis, den Wunsch nach mehr Toleranz und dass sich die SED nicht wieder in die Belange kirchlicher Arbeit einmischen würde. Der Film »Einer trage des anderen Last«, mit dem sich die SED verhalten mit den fünfziger Jahren, die durch den Kirchenkampf geprägten worden waren, auseinanderzusetzen begann, erschien nach jahrelanger Verzögerung zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt im Frühjahr 1988. Der Film, der das Einvernehmen vom 6. März 1978 bestärken sollte, wurde ausgerechnet in jenen Tagen uraufgeführt, als das Verhältnis zwischen Staat und Kirche auf einen Tiefpunkt zusteuerte. Vorangegangen war der Überfall des MfS auf die Umweltbibliothek in der Berliner Zionsgemeinde; während der Film im Berliner Kino International im internen Kreis seine Premiere feierte, redete die Menschen draußen im Land über die Luxemburg-Liebknecht-Affäre und die von der Kirche unterstützen Proteste. Bereits der Überfall auf die Berliner Umweltbibliothek erschütterte viele ältere und konservativ eingestellte Gemeindemitglieder, weil sie dies an den Kirchenkampf der fünfziger Jahre erinnerte. Seitdem, so argumentierten sie [irrtümlicherweise], sei die Hoheit kirchlicher Räume unangetastet geblieben, was sich durch die Nacht-und-Nebel-Aktion vom 17. November 1987 schlagartig geändert habe. Die SED habe im Grunde, lautete das Fazit, das getan, was sie schon immer getan habe, wenn sie den Widerspruch Andersdenkender nicht mehr ertragen konnte. Die DDR hatte es nicht verstanden, ihre Probleme zu lösen; das Problem war die gesellschaftliche Ordnung an sich. Für viele Gefolgsleute der SED war es nicht nur ernüchternd, dass die DDR in den achtziger Jahren mit vergleichbaren Problemen wie in Jahrzehnten zuvor konfrontiert wurde. Für sie war es um so unverständlicher, dass die SED und das MfS sich nicht in der Lage sahen, die Auseinandersetzung mit den Andersdenkenden so zu lösen, wie sie es noch in den fünfziger Jahren getan hatten. Das Déjà-vu auf der Seite der parteifernen DDR-Bewohner und die Ernüchterung über die ›Erschlaffung‹

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der eigenen Kampfkraft auf der Seite der Parteigänger gingen nebeneinander einher und liefen im Kern auf dasselbe hinaus. Die Probleme blieben, weil sie nicht gelöst werden konnten. So scheint es auch folgerichtig, dass beim politisch abweichenden Verhalten die bereits bekannten Themen und Formen immer wieder auftauchten. Wenn auch in unterschiedlicher Zahl, so gab es nahezu alle Formen des Widerstandes in den vier Jahrzehnten der DDR. Dies trifft insbesondere auf die Fahnenabrisse, Unmutäußerungen, Flugblätter und die zumeist nachts angeschriebenen Losungen zu. Häufig änderten sich die inhaltlichen Bezüge aus aktuellem Anlass. So, wenn am VEB Backwaren Stralsund am Morgen des 22. Februar 1980 die neun Meter lange Losung »Russen raus aus Afghanistan« stand 1. Am 27. Dezember 1979 war die sowjetische Armee in dem zentralasiatischen Land einmarschiert. Im angeführten Fall erhielt der Urheber, ein neunundzwanzigjähriger Maschinenbauer, eine Haftstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. 2 Mitunter geht man aber auch nur davon aus, dass es bestimmte Aktionen nur in einzelnen Jahrzehnten gab. So zum Beispiel die Sabotage, die als Widerstandsform mit den fünfziger und sechziger Jahren assoziiert wird. Wie die Vorgänge in den Jahren 1984 und 1985 auf der Mathias-Thesen-Werft in Wismar zeigten, gab es Sabotage auch in den achtziger Jahren. Zweimal kam es hier zu Anschlägen unmittelbar vor der Abnahme eines für die Sowjetunion bestimmten Fang- und Verarbeitungs-Schiffes. 3 Dabei füllten Unbekannte jeweils feinsten Strahlsand in das Ölsystem des Exportschiffes vom Typ »Kristall«. Doch gab es auch Diskontinuitäten und – was die Themen und Formen betraf – Veränderungen. Als Dauerthemen des Protestes kristallisierte sich der 17. Juni 1953, die Kritik am Mauerbau 1961 in Berlin und die regelmäßige Wahlfarce in der DDR heraus. Ebenso häufig spottete man über die »Arbeiterführer«. »Spitzbart raus« lautete eine der weitverbreiteten Losungen vor 1971 in der DDR. Eine solche tauchte unter anderem am 18. Dezember 1962 auf der Herrentoilette in Halle 1 der Volkswerft Stralsund auf. 4 Bereits am 26. Mai 1962 fand man auf der Werft am Schaukasten der FDJ den Spruch, »bringt Ulbricht für Deutschlands Freiheit hinter Stacheldraht«. In der Volkswerft schrieben Unbekannte mit Kreide am 26. Juni 1962 den Satz an, » Der Ulbricht und seine Bande ist der 1 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »schriftliche Hetze Bekannt«, »Anschmieren von Hetzlosungen«, Stralsund, »Tatmittel: Anschmieren mit Pinsel«, »Ursache: oppositionelle Haltung zur DDR«, Meldung vom 23.2.1980, Sammelkartei, L-MN 121. 2 Erster Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock, Urteil in der Strafsache gegen den Maschinenbauer [Name], [Vorname], Sitzung am 16.5.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AU 1157/80, GA/ASt, Bd. III, Bl. 42–45, hier 42. 3 MfS, BV Rostock, KD Wismar, Abschlussbericht zum Operativ-Vorgang »Stahl«, Wismar 12.11.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 3004/87, Bd. I, Bl. 239–243. 4 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »schriftliche Hetze Unbekannt«, »Anschmieren von Hetzlosungen Stadt und Kreis Stralsund«, Sammelkartei, L-MN 12.

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Feind im eigenen Lande. Wir brauchen Freiheit, Frieden Recht, dann fort mit dem Russenknecht.« Weitere Beispiele allein aus Stralsund ließen sich ohne weiteres anführen. 5 Ulbrichts Nachfolger Erich Honecker vermochte nicht ganz so viel Aggressionspotenzial unter seinen Untertanen freizusetzen, beliebt war er deswegen noch lange nicht. Die Volkspolizei meldete so in ihrem Lagejournal vom 8. Juli 1978, dass am Ferienheim »Frieden« in Zempin auf Usedom »auf der Herrentoilette« die Losung »Honecker raus« gefunden worden sei. 6 Auch hier ist die Liste weiterer Beispiele lang. 7

5 Am 4. August 1962 fand man am Sportplatz nahe der Werft einen Zettel mit der Aufschrift »Genossen, die Arbeiter hassen euch schlimmer als den Tod«, »Was heißt persönliche Freiheit unter Ulbricht-Diktatur- arbeitet illegal gegen die Unmenschlichkeit«. Am 2. Dezember 1962 tauchte in der Werft die Losung auf, »weg mit dem Spitzbart, Walter und SED. Hängt ihn. SED weg. Mauer weg, Berlin einig, Deutschland einig. Das wollen wir.« Innerhalb von sieben Monaten war dies der zwölfte Einsatz der »Kriminalisten« auf der Volkswerft. Auch in den folgenden Monaten änderte sich dies kaum: Die Werft blieb ein von der Staatssicherheit häufig aufgesuchter Ort. Aber sie wurden auch an anderen Orten der Stadt fündig, so mehrfach rund um den Bahnhof und im Rathausdurchgang. Dort fand man am 19.12.1962 die Inschrift »Nieder mit dem Kommunismus«. BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »schriftliche Hetze Unbekannt«, »Anschmieren von Hetzlosungen Stadt und Kreis Stralsund«, Sammelkartei, L-MN 12; Mehrfach tauchte ab Anfang der sechziger Jahre in Zügen und auf Herrentoiletten die Inschrift auf: »Frau Wirtin hatte einen Sohn«, hieß es in dem mehrfach abgewandelten Schüttelreim, »der war im Puff Kassierer, er fuhr in die Sowjetunion, jetzt ist er unser Führer.« Hierzu: BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »Hetzlosungen gegen Repräsentanten der DDR«, Bergen/Rügen, Personenzug Bergen-Putbus, L-MN 126; BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »Anschmieren von Hetzlosungen«, Kreis Rostock, 1962–1964 (Tatort: Dieselmotorenwerk Rostock, Halle V); BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »Anschmieren von Hetzlosungen«, Kreis Wismar, 1960–1962, Meldung vom 26.10.1961 (Tatort: Wismar, Alubau); BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »Hetzschmierereien«, 16.12.1965, (Tatort: Toilette Halle VI, Volkswerft Stralsund); BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »Anschmieren von Hetzlosungen«, Stadt und Kreis Stralsund, 1958–1961, Meldung vom 10.11.1961, (Tatort: Volkswerft, Wirtschaftsgebäude, Reparatursektor, Toilette). 6 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »schriftliche Hetze Unbekannt«, »Schmieren von Hetzlosungen Bezirk Rostock«, 1978, Meldung vom 8.7.1978, Sammelkartei, L-MN 12. 7 Zu lesen gab es den Namen Erich Honecker verbunden mit einem vulgären Schimpfwort im Mai 1986 an einem Warthäuschen am Rügen-Hotel in Saßnitz. Hierzu: BStU, MfS, BV Rostock, Einzelkartei (1986), »Hetzlosungen/Schmierereien«; In der Stralsunder Volkswerft fanden sich am 21. November 1986 mehrere Sprüche: Neben den Losungen »Lieber ne Pershing in Saarbrücken als ne SS 20 im Rücken«, »Arbeiter erwache | Arbeiten müssen ist nicht das Leben | das sagt die neue SPD« hatte hier jemand »Nieder mit Erich« sowie »Geht Honecker in den Wald, gehe ich ihm nach und mach ihn kalt (Tod)« angeschrieben. Ebenda./ Im Wohnhaus für MfS-Mitarbeiter, Rostock-Groß Klein, Blockmacherring 4–6, fand man am 10.1.1987 den Slogan »Mord Honecker RAF«. Hierzu: MfS, BV Rostock, Information Nr. 49/87, Schmierereien mit verleumderischem Inhalt in einem Wohnhaus in Rostock-Groß Klein, Rostock, 11.1.1987: BStU, MfS, HA XX, Nr. 12173, Bl. 71.

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Streiken (ver)lernen(?) Der 17. Juni 1953 und sein langer Schatten

Die Erinnerung an den 17. Juni 1953 spielte beim Widerspruch und Widerstand ebenso eine gewichtige Rolle. 8 Sensibel reagierte die SED und ihre Staatssicherheit auf entsprechende Vorfälle: 1957 inhaftierte die Staatssicherheit eine Angestellte auf der Werft in Wismar. Man wies ihr nach, im März 1956 und im Januar und Februar 1957 insgesamt dreißig Flugblätter auf der Mathias-Thesen-Werft verbreitet zu haben. In ihnen wandte sie sich gegen die neuen Arbeitsnormen und Berechnungszeiten. In einem der Flugblätter rief sie für den 2. Februar 1957 zum Proteststreik auf. Sie ermunterte ihre Kollegen, ab dem 1. Februar 1957 »keine FDGB-Beiträge mehr zu bezahlen«. 9 Zehn Tage nach ihrer Festnahme kam es zu einem folgenschweren Vorfall in der Untersuchungshaft: Die Inhaftierte stürzte »aus nicht näher bekannten Gründen« am 11. Februar die Treppe hinunter und schlug »mit dem Rücken über dem Querbalken« auf. 10 Wie der Vertragsarzt aus Bützow nach der Röntgenuntersuchung betonte, sei nach der »Fraktur des 3. Lendenwirbelkörpers« eine »sofortige Krankenhauseinweisung dringend erforderlich«. 11 In der Bezirksverwaltung entschied man, dass es angesichts der drohenden Spätfolgen und um den Vorfall zu vertuschen, besser sei, die Zweiundzwanzigjährige am 30. März 1957 »auf der Kreisdienststelle Wismar im Beisein ihres Vaters«, eines SED-Genossen, »zu entlassen«. 12 Weitere Beispiele, in denen die Erinnerung an den 17. Juni eine Rolle spielte, ließen sich anführen. In der Peenewerft in Wolgast fand man am 23. August 1962 in einer Toilette den Spruch »Ulbricht gib uns was zu fressen oder hast Du den 17. Juni vergessen«. Das MfS dokumentierte den Spruch und entfernte ihn anschließend. 13 Am 12. Mai 1966 entdeckte der Parteisekretär des Dieselmotorenwerkes Rostock »die Losung ›Es lebe der 17. Juni‹«. Zwar war der Slogan lediglich mit Kopierstift »an einer Innentür einer Toilettenka-

8 Vgl.: Eisenfeld, Bernd; Kowalczuk, Ilko-Sascha; Neubert, Ehrhart: Die verdrängte Revolution. Der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte (Analysen und Dokumente; Bd. 25). Bremen 2004. 9 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Beschluß, Rostock, 15.2.1957: BStU, MfS, BV Rostock, AU 14/57, HA, Bd. I, Bl. 32 f. 10 Haftkrankenhaus Klein-Meusdorf, Krankengeschichte, Station IX, 15.2.1957: BStU, MfS, BV Rostock, AU 14/57, HA, Bd. I, Bl. 77. 11 Strafvollzugseinrichtung Bützow-Dreibergen, Diagnose Vertragsarzt der StVA, Bützow, 14.2.1957: BStU, MfS, BV Rostock, AU 14/57, HA, Bd. I, Bl. 86. 12 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, an den Staatsanwalt des Bezirkes Rostock, Abt. I, Rostock, 26.3.1957: BStU, MfS, BV Rostock, AU 14/57, HA, Bd. I, Bl. 121 f.; MfS, BV Rostock, Entlassungsbeschluß, Rostock, 26.3.1957: BStU, MfS, BV Rostock, AU 14/57, HA, Bd. I, Bl. 123–125. 13 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »schriftliche Hetze Unbekannt«, »Anschmieren von Hetzlosungen«, Kreis Wolgast 1961–1962, L-MN 12.

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bine angebracht« worden und maß 24 x 3 Zentimeter. 14 Der Parteisekretär verständigte dessen ungeachtet die Volkspolizei und forderte sie zur »Tatortbesichtigung« an. Auch dies zeigte die Nervosität, mit der man auf jedweden Widerspruch reagierte. Die Zentrale Parteileitung der Warnow-Werft erreichte 1977 ein anonymes Schreiben, dass die Forderung nach der Auszahlung von einem Drittel des Lohnes in »West-Mark« enthielt. 15 Zwar blieb unklar, ob es sich lediglich um eine bizarre Form des Schabernacks oder um mehr handelte. Doch nahm die Staatssicherheit die Sache so erst, dass »zur Bearbeitung des Vorkommnisses« eigens eine »Einsatzgruppe« gebildet wurde. Auch hier trat die Angst vor einem zweiten 17. Juni hervor. Ob das Schreibens erst zu nehmen war, blieb hingegen offen: Für den Fall der Nichterfüllung hatten die Urheber »Geiselnahmen« angedroht. Der Brief war »mittels Kugelschreiber in Morsebuchstaben« abgefasst worden. Obwohl es sich um ein eher dubioses Schreiben handelte, sollte auch die Berlin-Zentrale in den brisanten Vorgang eingeweiht und um Rat ersucht werden. 16 Die Vorstellung, dass sich jemand des Streikes zur Durchsetzung seiner Forderungen bedienen könnte, forderte das Sicherheitssystem immer wieder heraus. Die Volkspolizei meldete am 24. Januar 1979 aus Rostock, dass an einer Hauswand am Doberaner Platz die Losung »Streik gegen den Sozialismus« angeschrieben worden sei. 17 Anfang 1980 tauchte in Rostock, gerichtet an die »Werftarbeiter«, zugleich ein programmähnlicher Entwurf zur Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft auf. Ein Umschlagarbeiter im Seehafen Rostock sprach sich 1981 dafür aus, dass die Werktätigen in der DDR ihre Rechte mit Streiks erkämpfen müssten. Hinzu kamen weitere provokante Aussagen, wie die, dass die Regierung gestürzt werden müsse. Am 19. Februar 1981 wurde er festgenommen und in das Untersuchungsgefängnis überstellt. 18 Ebenso für Aufsehen sorgte ein in Saßnitz auf Rügen am 3. Januar 1985 aufgegebener und abgestempelter Brief. Gerichtet an den SED-Generalsekretär, Erich Honecker, sollte er abermals Assoziationen an den 17. Juni wachrufen. In dem Schreiben drohte der anonyme Verfasser Streiks auf den Werften in

14 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »schriftliche Hetze Unbekannt«, »Hetze gegen die sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung, Rostock, DMR, Halle 1, L-MN 124. 15 MfS, HA XX, Information Nr. 760/77 betr. anonymer Brief an VEB Warnow-Werft Rostock, Berlin, 23.9.1977: BStU, MfS, HA XX/AKG, Nr. 140, Bl. 2. 16 Ebenda. 17 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »schriftliche Hetze Unbekannt«, »fasch. u. antisem. Schmierereien«, Kreis Rostock, 1979, Sammelkartei, L-MN 12. 18 MfS, BV Rostock, Information Nr. 15/81 über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen die Umschlagarbeiter [Name] und [Name], Rostock, 20.2.1981, HA XX: BStU, MfS, HA XX, Nr. 6059, Bl. 194–198, hier 195.

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Stralsund, Wismar und Rostock an. 19 Der Aufstand vom 17. Juni 1953 traf die SED nicht nur unvorbereitet. Als Trauma der Herrschenden, dass es unter den Regierten eines Tages doch zum Aufruhr kommen würde, blieb der 17. Juni all die Jahre in der Innenpolitik präsent. 1953 lieferten zunächst die Forderungen nach einer angemessenen Entlohnung und verbesserten Arbeitsbedingungen den Anlass für die Demonstrationen und Streiks. Sie waren der Ausgangspunkt für weitergehende, nun politische Forderungen. So reagierte die SED in den folgenden Jahren sensibel auf jedes Aufbegehren in den Betrieben, wohl wissend, dass sich hieraus auch mehr entwickeln konnte. Zwar gab es im Norden keine Industriezentren wie im Süden der DDR. Insbesondere von diesen schien die Gefahr von Streiks auszugehen. Doch kam es auch im Bezirk Rostock vereinzelt zur Arbeitsverweigerung. In allen Fällen lagen unzumutbare Arbeitsbedingungen vor oder war den Arbeiter ihr Gehalt nicht rechtzeitig ausgezahlt worden. Es handelte sich um innerbetriebliche Auseinandersetzungen, die angesichts der Nervosität der Herrschenden zur geheimen »Staatsaffäre« avancierten. Allein im Dezember 1961 legten in vier Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften 88 Landarbeiter die Arbeit zwischenzeitlich nieder. 20 Unter der Rubrik »organisierte Widerstands- und Boykotthandlungen, Durchführung von Arbeitsniederlegungen« berichtete die Kreisdienststelle Rügen, dass am 4. Dezember in Dreschvitz 24, am 6. Dezember in Poseritz 17, am 7. Dezember in Sagard 35 und am 10. Dezember in Ruschvitz 14 Bauern die Arbeit ruhen ließen. Als Grund nannten sie die »nicht zum Termin erfolgte Lohnzahlung« bzw. ihre »Unzufriedenheit mit der Entlohnung«. 21 Auch andernorts kam es in den folgenden Jahren zu Arbeitsunterbrechungen: Im Möbelwerk Stralsund streikten am 13. Januar 1965 zehn Tischler dreißig Minuten lang. Angesichts der drohenden Sanktionen mochte selbst diese halbe Stunde in solch einer Situationen wie eine Ewigkeit erscheinen. Die Tischler erreichten, dass eine Versammlung einberufen wurde, auf der die Betriebsleitung die angekündigten Veränderungen im Normensystem zurücknahm. Mit der zuvor angekündigten Normänderung hätten sie bis zu 200 Mark monatlich weniger verdient. 22 Am darauffolgenden Tag, am 14. Januar, meldete ein »Genosse« IM aus dem »Krankenhaus am Sund« in Stralsund, dass sich drei Schwestern weigern würden, ihre Arbeit aufzuneh19 MfS, BV Rostock, Abt. XVIII, Referat 3, Einleitungsbericht zum Anlegen der Operativen Personenkontrolle »Luft«, Rostock, 28.1.1985: BStU, MfS, HA XX, Nr. 12174, Bl. 91–93. 20 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »mündliche Hetze Bekannt«, »Organisierte Widerstands- und Boykotthandlungen, Durchführung von Arbeitsniederlegungen«, Kreis Rügen, Dezember 1961, L-MN 322. 21 Ebenda. 22 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »mündliche Hetze Bekannt«, »Organisierte Widerstands- und Boykotthandlungen, Durchführung von Arbeitsniederlegungen«, Schwesternwohnheim Stralsund, 14.1.1965, L-MN 322.

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men. Die Arbeitsniederlegung, berichtete der IM, sei aus »religiösen Gründen« erfolgt. 23 Als »Provokation« gewertet werden sollte ein Zwischenfall, der sich am 21. Oktober 1965 auf der Warnow-Werft in Warnemünde zutrug: Wie die Zentrale Parteileitung der SED der MfS-Kreisdienststelle mitteilte, war in der Abteilung Konservierung eine Petition verabschiedet worden. Sechsunddreißig Arbeiter forderten mit ihrer Unterschrift die Betriebsgewerkschaftsleitung und die Betriebsleitung auf, ihre Lohnprämien auch bei »Nichterfüllung der vorgegebenen Kennziffern« in voller Höhe auszuzahlen. In den darauffolgenden Tagen bestellten die Parteileitung und die Betriebsgewerkschaftsleitung die Arbeiter zu »Aussprachen« ein und drängten sie zur Zurücknahme der Petition. 24 Zu einer weiteren Arbeitsniederlegung kam es am Morgen des 16. November 1965 in Bad Doberan: Fünf Arbeiter, die das Wohnungsbaukombinat bei einem Schulneubau einsetzte, verweigerten mit Schichtbeginn die Arbeit. Ihnen waren die »Erschwerniszulagen nicht [aus]gezahlt« worden. In hektischer Betriebsamkeit versuchten die Funktionäre, die Bauarbeiter zu beschwichtigen. Nach entsprechenden Zusagen nahmen sie nach drei Stunden ihre Tätigkeit wieder auf. Auch hier revanchierte sich die Betriebsleitung: In Gegenwart eines »op[erativen] Mitarbeiter[s]« hatten sich die Arbeitsverweigerer in den folgenden Tagen »Aussprachen und Auswertungen« zu stellen. 25 Als Spitzenmeldung lief am 1. Juli 1966 in der Kreisdienststelle Rostock die Nachricht ein, dass zwei Tischler im Warnow-Holzwerk rebellierten. Sie drohten, nicht mehr an ihrem Arbeitsplatz erscheinen zu wollen. Sie seien, erklärten die Tischler vorsichtshalber, zwar »nicht gegen den Betrieb oder die DDR«, können es aber nicht akzeptieren, dass ihnen der für den Schichtbetrieb als Ausgleich zustehende Zusatzurlaub vorenthalten werde. 26 Da es sich, wie sich herausstellte, um keinen Einzelfall handelte, entschlossen sich der Rat der Stadt und der Kreisvorstand der Einheitsgewerkschaft FDGB, unverzüglich zu handeln. Den beiden Tischlern sowie vierzig weiteren hiervon betroffenen

23 Ebenda. 24 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »schriftliche Hetze >Bekannt«, »Organisierte Widerstands- und Boykotthandlungen, Durchführung von Arbeitsniederlegungen«, Unterschriftensammlung, Warnow-Werft, Rostock-Warnemünde, 21.10.1965, Ablage BV 9805. 25 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »mündliche Hetze Bekannt«, »Organisierte Widerstands- und Boykotthandlungen, Durchführung von Arbeitsniederlegungen«, Schulneubau in Bad Doberan durch den VEB Wohnungsbaukombinat Rostock, 16.11.1965, Schichtbeginn, L-MN 322. 26 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »mündliche Hetze Bekannt«, »Organisierte Widerstands- und Boykotthandlungen, Durchführung von Arbeitsniederlegungen«, VEB WarnowHolzwerke Rostock, 30.6.1966, L-MN 322.

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Arbeitern sicherte man eine Untersuchung zu. Eine Kommission wurde einberufen. 27 Zu Verweigerung der Arbeitsaufnahme kam es auch in Siemersdorf bei Stralsund (29.9.1966) durch achtzehn Lehrlinge eines Landwirtschaftsbetriebes, 28 in Rönkendorf durch neun Landarbeiter (13.3.1967) aufgrund des Normensystems, 29 durch fünfzehn Facharbeitern in Dedelow (30.11.1967) für einen Tag aus Protest gegen das Prämiensystem, 30 durch die Belegschaft eines Ferienheimes (11.12.1971) in Lubmin, da ihnen für die letzten Monate kein Provisionslohn gezahlt wurde. 31 Zu einer weiteren Arbeitsniederlegung kam es am 31. August 1973. Zwei Brigaden des VEB Bau Rügen weigerten sich an diesem Tag, die Arbeit aufzunehmen. Auch hier gab es Unstimmigkeiten bei der Normberechung. Trotz wiederholter Aufforderungen und der angedrohten Konsequenzen ließen sich die Brigaden nicht zur Arbeitsaufnahme bewegen. Die Betriebsleitung räumte daraufhin kleinlaut ein, dass es bei Abrechung wohl einen Fehler gegeben habe. 32 Die Streikversuche und Arbeitsniederlegungen verwiesen, auch wenn es dabei blieb, auf die Dynamik, die dem Streik als Protestform innewohnte und die am 17. Juni 1953 die Entwicklung bestimmte. Zwar ging es bei den Auseinandersetzungen anfangs um die Entlohnung, vorenthaltene Prämien oder die Arbeits- und Unterbringungsbedingungen. Am 17. Juni 1953 wandelte sich die anfänglich spontane Arbeitsniederlegung in einen strukturieren Streik. Häufig handelte es sich zugleich um einen Solidaritätsstreik. Die Arbeitsniederlegung erfolgte nun nicht mehr nur aus der eigenen Interessenlage heraus, sondern zugleich aus Solidarität mit denen, die es gewagt hatte, in den Ausstand zu treten. In der Solidarität schwang zugleich die Genugtuung darüber mit, dass jemand endlich das tat, was man schon häufig erwogen, sich bislang aber nicht getraut hatte. Falls es erst einmal soweit kam, mündete dies in eine 27 Ebenda. 28 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »mündliche Hetze Bekannt«, »Organisierte Widerstands- und Boykotthandlungen, Durchführung von Arbeitsniederlegungen«, LPG Siemersdorf, 29.9.1966, L-MN 322. 29 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »mündliche Hetze Bekannt«, »Organisierte Widerstands- und Boykotthandlungen, Durchführung von Arbeitsniederlegungen«, LPG Typ III Rönkendorf, 13.3.1967, 7.30 Uhr, »Verweigerung der Arbeitsaufnahme durch Stellung finanzieller Forderungen«, L-MN 321. 30 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »mündliche Hetze Bekannt«, »Organisierte Widerstands- und Boykotthandlungen, Durchführung von Arbeitsniederlegungen«, Baustelle Dedelow des Ing. Baubetriebes der DR Oberbauleitung Rostock, 30.11.1967, L-MN 321. 31 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »mündliche Hetze Bekannt«, »Organisierte Widerstands- und Boykotthandlungen, Durchführung von Arbeitsniederlegungen«, 11.12.1971, L-MN 322. 32 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »mündliche Hetze Bekannt«, »Organisierte Widerstands- und Boykotthandlungen, Durchführung von Arbeitsniederlegungen«, Bergen, Kreis Rügen, VEB Bau (K) Rügen, Arbeitsniederlegung auf Grund Differenzen mit der Leitung des Betriebes, 31.8.1973, L-MN 322.

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Eskalation, die den Streik zu einer politischen Auseinandersetzung werden ließ und die Grundlagen der politischen Herrschaft innerhalb kürzester Zeit infrage stellte. Mit der Streikwelle an der polnischen Ostseeküste und der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność in Polen Anfang der achtziger Jahre trat für die Regierenden eine weitere Sorge hinzu: 33 Nun fürchtete man nicht nur einen neuen »17. Juni 1953«. Hinzu kam die Sorge vor einem Übergreifen des »polnischen Funkens« auf die Betriebe in der DDR. Auch im Bezirk Rostock spürte man die Fernwirkungen jener Erschütterung, die das Machtgefüge in einem der Ostblockstaaten ins Wanken zu bringen drohte. Die von der Staatssicherheit eifrig zusammengetragenen Stimmungsberichte vermitteln hierzu einen mehr als widersprüchlichen Eindruck. Neben Sympathiebekundungen gab es ebenso schroffe Ablehnung und Argwohn. Häufig waren jene angereichert mit antipolnischen Vorurteilen. Arbeiter auf der Baustelle des Kernkraftwerkes Lubmin äußerten unter anderem: »Die Polen hätten Mut gezeigt, gegen Mißstände in der Wirtschaft anzugehen. Auch in der DDR hätte man manchmal Grund, auf die Barrikaden zu gehen. […] Die polnischen Arbeiter hätten Erfolg gehabt. Es sei gut, dass sie sich so durchsetzen konnten. […] In der DDR brauche es nur eine stärkere Gruppe zu geben, die schnell Anhänger findet. Dann würde der Funke von Polen auf die DDR überspringen. […] Der Streik habe gezeigt, dass die Polen was erreichen können, wenn sie wollen. Sie hätten sich nicht einschüchtern lassen.« 34 Im Wismarer Kaufhaus »Magnet« verteilte ein Hausmeister am 21. August 1980 ein Flugblatt, in dem er »zur Solidarität mit den Streikenden in der VR [Volksrepublik] Polen« aufrief. 35 Bereits 1960 und 1962 war er wegen Kritik am SED-System belangte worden. Seine Kollegen forderte der Hausmeister auf, eine Erklärung »Solidarität auch mit Polen, das ist unser Motto« zu unterzeichnen. Er sollte von der Staatssicherheit festgenommen und in die Untersuchungshaftanstalt Rostock überführt werden. Zuvor war der Vorfall vom Kaufhausdirektor der SED-Kreisleitung gemeldet worden, die umgehen das MfS informierte. 36 33 Madon-Mitzner, Katarzyna: Tage der Solidarität. Warschau 2005, S. 17; Vgl. hierzu auch: Szejnert, Malgorzata; Zalewski, Tomasz: Szczecin. Grudzien, Sierpien, Grundzien. Szczecin 2008. 34 MfS, BV Rostock, AKG, Bericht über die Reaktion der Bevölkerung auf die gegenwärtige Situation in der VR Polen, Rostock, 4.9.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 167, T. 1, Bl. 304 f. 35 MfS, BV Rostock, Information Nr. 1461/80, Anfertigung eines Aufrufes zur Solidarität mit den Streikenden in der VR Polen durch einen Bürger der DDR in Wismar/Rostock, Rostock, 23.8.1980: BStU, MfS, HA XXII, Nr. 82/5, Bl. 156–158; Meldung ebenso enthalten in: BStU, MfS, HA XXII, Nr. 34/3, Bl. 273–275 sowie in: MfS, BV Rostock, Abt. IX, Kerblochkartei, Unterschriftensammlung für die Streikenden in Polen, Kaufhaus »Magnet« in Wismar, 21.8.1980: BStU, MfS, HA IX, Nr. 4123, Bl. 609. 36 Ebenda.

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Auch sechs Mitglieder einer Festmacherbrigade im Seehafen Rostock »verherrlichten«, wie es das MfS monierte, im August 1980 »die Arbeitsniederlegungen in der VR Polen [...] als mutige Aktion der Arbeiter«. 37 Zitiert wurde ein Arbeiter mit den Worten, »die Arbeiter in der VP Polen hätten Mut zum Streiken. Die Arbeiter in der DDR hingegen ›zögen den Schwanz ein‹«. 38 Um jeden »Funkenflug« auszuschließen, griff die Staatssicherheit umgehend ein: Die Brigade wurden vorübergehend festgenommen bzw. – wie es in der DDR hieß – zur Vernehmung »zugeführt«. 39 Auch in anderen Betrieben des Bezirkes rumorte es mittlerweile: Mehrere Rohrschlosser auf der Warnow-Werft sprachen sich dafür aus, »für das Kommunistenpack [...] keine Überstunden mehr« ableisten zu wollen. 40 Die »polnischen Arbeiter«, so hieß es bei den Rohrschlossern weiter, »seien richtig«. Ebenso sahen dies anscheinend die Elektriker auf der Rostocker Neptun-Werft: Sie bekundeten, »man müsse bei uns ebenfalls streiken«. Doch, so lautete die ernüchternde Prognose eines Elektromonteurs, »es finde sich jedoch niemand, der damit beginnt«. 41 Auch andernorts ließ sich Ähnliches vernehmen: »In der DDR seien derartige Aktionen undenkbar, da die Arbeiter in der DDR zu ängstlich wären. Bei einer ähnlichen Situation in der DDR würde sich der ›Russe‹ einmischen«, so eine der geläufigen Meinungen. 42 Ähnlich fiel die Einschätzung ihrer polnischen Kollegen in der Getreidewirtschaft Tessin aus. Die polnischen Vertragsarbeiter erklärten, »die DDR-Bürger wären zu feige zum Streiken«. 43 Als Beweis diente ihnen das Verhalten ihrer deutschen Kollegen vor Ort. Trotz eklatanter Missstände würden diese ihrer Arbeit nachkommen: »Sichtbar würde« dies, so die polnischen Arbeiter, nicht zuletzt »an dem disziplinierten Verhalten bei der Klärung von Lohnfragen in diesem Betrieb«. 44 Ebenso gab es, glaubt man der Stasi, Unverständnis bis Ablehnung. Demnach hörte man auch solche Stimme zur Genüge: »Die Bereitschaft der polnischen Regierung mit den Streikenden [...] zu verhandeln, wäre unverständlich 37 MfS, BV Rostock, Information Nr. [ohne Angaben]/80 über politisch-negative Erscheinungen in der Festmacherbrigade [Name] des VEB Seehafen Rostock, Betriebsteil 9, Rostock, 24.8.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 167, T. 2, Bl. 363–365, hier 364. 38 MfS, BV Rostock, AKG, Bericht über die Reaktionen der Bevölkerung zur gegenwärtigen Situation in der VR Polen, Rostock, 23.8.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 167, T. 2, Bl. 367–369, hier 368. 39 MfS, BV Rostock, Information Nr. [ohne Angaben]/80 über politisch-negative Erscheinungen in der Festmacherbrigade [Name] des VEB Seehafen Rostock, Betriebsteil 9, Rostock, 24.8.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 167, T. 2, Bl. 363–365, hier 364. 40 MfS, BV Rostock, AKG, Bericht über die Reaktionen der Bevölkerung zur gegenwärtigen Situation in der VR Polen, Rostock, 23.8.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 167, T. 2, Bl. 367–369, hier 368. 41 Ebenda. 42 Ebenda. 43 Ebenda, Bl. 369. 44 Ebenda.

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und zeuge davon, dass Partei- und Staatsführung der VR Polen andere Auffassungen zum Sozialismus habe als die DDR.« Mehrere Mitarbeiter und Ärzte in den Universitätskliniken und im Bezirkskrankenhaus Rostock meinten, »die Polen sollten [...] ihre Wirtschaft besser [...] organisieren [...] und fleißiger arbeiten«. 45 Häufig wurde bemängelt, die Streiks wären kein Mittel, um Probleme zu lösen. Nach der Ausrufung des Kriegsrechtes in Polen am 13. Dezember 1981, hörte man, dass dies »ein Beweis dafür sei, daß die Polen nur ordentlich hart angefasst werden müssen, damit sie auch arbeiten und hohe Produktionsleistungen vollbringen«. 46 Wer sich, wie hier in Grevesmühlen, so äußerte, folgte exakt der Argumentation des Neuen Deutschlands, der Parteizeitung der SED, die sich wiederum auf die Verlautbarung der polnischen Trybuna Ludu, der Parteizeitung der polnischen Kommunisten bezog. Von den Bewohnern des Bezirkes waren dies nicht allzu wenige. Weder sprang der sprichwörtliche Funke von der polnischen auf die ostdeutsche Ostseeküste über. Noch schien es wahrscheinlich, dass er unter diesen Bedingungen überspringen würde. Am Ende streikten lediglich einige polnische Vertrags- und Saisonarbeiter und Studenten, die die Belegschaften im Ostseebezirk verstärkten. Trotz aller Widrigkeiten wagten sie den Aufstand im Kleinen. Eine »kurzeitige Arbeitsunterbrechung im VEB Wismaria, Betriebsteil 2, Boltenhagen, durch polnische Saisonkräfte« galt es am 21. August 1980 zu vermelden. 47 Weiter teilte die MfS-Kreisdienststelle der Bezirksverwaltung mit, dass »die nicht arbeitswilligen [...] Studenten« und ihr Betreuer »ihren Lohn ausgezahlt« erhalten. Sie würden nach Polen zurückgeschickt. 48 In der Nachtschicht vom 28. auf den 29. August 1980 kam es in Boltenhagen unter den verbliebenen polnischen Arbeitern erneut zur Arbeitsniederlegung. Wie es das MfS in seinem Bericht festhielt, »veranlasste [...] die Betriebsleiterin, daß der Arbeitsvertrag sofort gelöst« und neun am Streik beteiligte Arbeiter wenig später – um 14 Uhr – »nach Polen zurückverwiesen wurden«. 49 Hiermit drohte man auch acht polnischen Arbeitern, die am 19. August 1980 im Betriebsteil Glowe des VEB Backwaren Grimmen für zwei Stunden in den Streik 45 MfS, BV Rostock, AKG, Bericht über die Reaktionen der Bevölkerung zum Besuch des Bundeskanzlers Schmidt in der DDR und zur gegenwärtigen Situation in der VR Polen, Rostock, 17.8.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 167, T. 2, Bl. 403–410, hier 408. 46 MfS, BV Rostock, KD Grevesmühlen, Information Nr. 1/82, über die Reaktion der Bevölkerung des Kreises Grevesmühlen im Zusammenhang mit der Vorbereitung des 12. Bauernkongresses, den Maßnahmen zur Einsparung von Treibstoffen und der Lage in der VR Polen, Grevesmühlen, 28.1.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 61, Bd. I, Bl. 289–296, hier 294. 47 MfS, BV Rostock, AKG, Bericht über die Reaktionen der Bevölkerung zum Besuch des Bundeskanzlers Schmidt in der DDR und zur gegenwärtigen Situation in der VR Polen, Rostock, 22.8.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 167, T. 2, Bl. 377–381, hier 379. 48 Ebenda, Bl. 381. 49 MfS, BV Rostock, AKG, Bericht über die Reaktionen der Bevölkerung zur gegenwärtigen Situation in der VR Polen, Rostock, 29.8.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 167, T. 2, Bl. 322–325, hier 325.

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getreten waren. Man wies sie darauf hin, dass »ihnen bei Nichtwiederaufnahme der Arbeit die sofortige Entlassung und Rückführung nach Polen« drohe. Daraufhin nahmen sie die Arbeit wieder auf. Vorsorglich wurde ihr Kontrakt nicht über den 23. August 1980 hinaus verlängert. Notgedrungen traten sie fünf Tage nach der Arbeitsniederlegung die Rückreise nach Polen an. 50 Auch einige deutsche Arbeiter diskutierten nun die heikle Frage, ob man die Arbeit niederlegen solle. Im Rostocker Überseehafen konfrontierte ein zur Löschung eines polnischen Schiffes eingeteilter Umschlagarbeiter seine Kollegen mit der Frage, »was wäre, wenn man aus Solidarität die Beladung verweigern« würde. 51 Doch konnte man sich nicht zu diesem Schritt durchringen. Zumindest hielt man sich von den Löschplätzen, an denen die polnischen Schiffe lagen, fern. Trotzdem konnte es passieren, dass man zur Ent- bzw. Beladung polnischer Schiffe eingeteilt wurde. Wer dem nachkam, wurde von den anderen Arbeitern im Betriebsteil V fortan als »Streikbrecher« bezeichnet. 52 In der Rostocker Innenstadt verbreitet sich daraufhin eine der für die DDR charakteristischen Geschichten: »In einem Linienbus des VEB Nahverkehr Rostock«, vernahm das MfS zuallererst »das Gerücht [...] daß Rostocker Hafenarbeiter sich mit den streikenden polnischen Hafenarbeitern solidarisch erklärt hätten«. 53 Die Erinnerung an den polnischen Streiksommer von 1980 blieb auch in den folgenden Jahren virulent: Ein einunddreißigjähriger Schiffsbauer schrieb am 9. Februar 1983 an eine Mauer in der Warnow-Werft die Losungen »Solidarność« und »Walesa«. Er bekundete hiermit nur seinen Respekt für die Arbeiter in Polen. Ebenso wies er auf seine Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in der DDR hin. 54 Zu einem Vorstoß, die Arbeit niederzulegen, kam es dann doch noch sechs Jahre später im Herbst 1989 in Rostock: In den Morgenstunden des 4. Dezembers fand ein »Mitarbeiter des Direktors im Produktionsbereich 3 [Getreide, Düngemittel] [...] an einer Wandtafel« einen »›Aufruf zum Warnstreik in der DDR‹«. 55 Die Initiatoren forderten eine leistungsgerechte Entlohnung und 50 MfS, BV Rostock, AKG, Bericht über die Reaktionen der Bevölkerung zum Besuch des Bundeskanzlers Schmidt in der DDR und zur gegenwärtigen Situation in der VR Polen, Rostock, 22.8.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 167, T. 2, Bl. 377–381, hier 379. 51 MfS, BV Rostock, AKG, Bericht über die Reaktionen der Bevölkerung zur gegenwärtigen Situation in der VR Polen, Rostock, 29.8.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 167, T. 2, Bl. 322–325, hier 324. 52 Ebenda. 53 Ebenda, Bl. 325. 54 MfS, HA IX, Nr. 8615, Monatsbericht, Februar 1983: BStU, MfS, HA IX, Nr. 8615, Bl. 129–135, hier 135. 55 MfS, BV Rostock, Information Nr. 1774/89, Anbringen eines Aufrufes zum Warnstreik in der DDR an einer Wandtafel des Produktionsbereiches 3 im VEB Seehafen Rostock: BStU, MfS, HA XXII, Nr. 16826, Bl. 222–224.

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»gewerkschaftliche Rechte mit Taten«, wie sie als »Vorteile in Hamburg« von der dortigen Hafenleitung garantiert würden. Zugleich stellten sie klar, dass die Freie Deutsche Jugend »im Betrieb nichts zu suchen« habe. Man solle sie, hieß es weiter, mit ihren Agitatoren aus den Rostocker Häfen rauswerfen. 56 Der Direktoratsangestellte »entfernte«, wie er angab, um die »Schichtarbeiter (aus allen Parteien und Massenorganisation)« nicht zu erzürnen, den Aufruf »kurzzeitig«. Nachdem er ihn kopiert hatte, »brachte er das Schreiben wieder an, um keine ›Verärgerung‹ [...] zu erzeugen«. 57 Soviel Rücksichtnahme hatte es zuvor kaum gegeben. Auch andernorts folgte man dem Beispiel des polnischen Streiksommers von 1980. So fanden die Sicherheitsbehörden »an [den] Bushaltestellen im Stadtgebiet von Greifswald [...] in den frühen Morgenstunden«, am 5. Dezember, insgesamt zwanzig Flugblätter. In ihnen riefen das Neuen Forum und die Sozialdemokratische Partei zum Generalstreik am 6. Dezember um 13 Uhr auf. 58 Nach Jahren des Stillstandes hatte sich in Ostdeutschland innerhalb von Tagen manches verändert. »Freiheit heißt keine Angst« bzw. »Freiheit heißt, die Angst verlieren«, lauteten so auch zwei am 8. Juni 1986 an der Bierbar »Szczecin« in Rostock angebrachte und vom MfS aufgefundene Losungen. 59

5.2

Dauerthema Selbstbehauptung: Sozialismus bedeutet Umgestaltung plus Belästigungen im ganzen Lande

Widerstand kann als Reaktion der Selbstbehauptung, Opposition als ein darüber hinausgehender Anspruch umschrieben werden. Dies mag für alle vier Jahrzehnte der DDR gelten: Die SED ließ die Menschen nicht in ihrem gewohnten Alltag, so wie sie es wollten, unbehelligt leben. Um ihrem irdischen Heilsversprechen näher zu kommen, drang die SED mit politischen Agitatoren, Funktionären und Systemgefolgsleuten ungebeten in den Alltag der Menschen ein. Mit immer neuen und von vielen als Anmaßung empfundenen Neuerungen strebte die Staatspartei danach, den Alltag im Land umzugestalten. Alte Traditionen sollten verschwinden und durch neue obligatorische, sozialistische Riten ersetzt werden. Der Anspruch des Systems griff in immer weitere Bereiche ein. Hiermit einher gingen die Entindividualisierung und die Kollektivierung in vielen Lebensbereichen. Daher können die verschiedenen Formen des politisch abweichenden Verhaltens immer auch als Reaktion hie56 57 58 Aufruf Bl. 1. 59

Ebenda, Bl. 223. Ebenda, Bl. 222. MfS, Zentraler Operativstab, Information Nr. 1777/89, Auffinden von Flugblättern mit dem zum Generalstreik im Stadtgebiet von Greifswald/Rostock: BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 3321, BStU, MfS, BV Rostock, Einzelkartei (1986) »Hetzlosungen/Schmierereien«.

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rauf verstanden werden. Widerspruch und Widerstand begannen hier, um mit dem Militärtheoretiker von Clausewitz zu sprechen, mit der Zurückweisung der Einmischung auf dem Gebiet des derart Bedrängten. 60 Ende der Vierziger gestaltete sich die Situation unübersichtlicher als in den späteren Jahren. Bei den verbliebenen Vertretern der bürgerlichen Parteien und den Sozialdemokraten äußerte sich anfangs noch ein über die Selbstbehauptung hinausgehender gesellschaftlicher Gestaltungsanspruch. Doch trieb der Mobilisierungsdruck der von der SED ausgelösten Kampagnen ihre Konkurrenten schnell in die Defensive, bis die SED insgesamt dazu überging, jene auszuschalten. Deutlich trat der Umgestaltungsdruck am Beispiel der Aktion »Rose«, der Zwangsenteignung von Hotels und Pensionen entlang der Ostseeküste, Anfang 1953 hervor. Um an die begehrten Häuser und Grundstücke zu gelangen, wurden die Besitzer unter fadenscheinigen Gründen enteignet und inhaftiert. Man erklärte sie zum Wirtschaftsverbrecher, Diversanten oder Spion. Der Widerspruch dagegen erfolgte aus einer Zwangslage heraus. Wie das Beispiel Zingst zeigte, wurden Menschen aber nicht nur in eigener Sache tätig. Sie legten aus Solidarität mit ihren bedrängten und verurteilten Nachbarn Widerspruch ein. So gab es neben der schweigenden Mehrheit auch immer Menschen, die mit ihren Nachbarn mitlitten oder – wie es der russische Dissident Alexander Solschenizyn ausdrückte – nicht mit der Alltäglichkeit der Lüge leben wollten. Sie schüttelten »die Lügen«, die sie durch ihr Schweigen mittragen sollten, ab. Sie schickten sich an, so Solschenizyn, »ehrliche Menschen« sein zu wollen, »die des Respekts ihrer Kinder und Zeitgenossen würdig sind«. 61 Widerspruch und Widerstand waren nicht nur Akte der Empörung und Abwehr. Sie wurden zu Taten der Selbstachtung und der Selbstbehauptung: Am 27. Mai 1960 inhaftierte die Staatssicherheit in Stubbendorf bei Rostock eine katholische Katechetin, die sich für einen inhaftierten Bauern eingesetzt hatte. 62 In dem von ihr anonym an den Staatsanwalt von Rostock-Land, Garbe, gesandten Brief, hob sie den Fleiß und das Ansehen ihres Nachbarn hervor. 63 Jener sei bereits 1939 »bei der Gestapo« wegen seiner »Polenfreundlichkeit« denunziert und daraufhin »misshandelt« worden. Seine jetzige Verhaftung werde von »allen« im Dorf »als ungerecht empfunden« und habe »großes Aufsehen und tiefes Mitleid erregt«. Die Katechetin forderte Staatsanwalt 60 Clausewitz, Carl Philipp Gottlieb von: Vom Kriege, VI, S. 7. Nach: Münkler, Herfried: Widerstand. In: Wörterbuch Staat und Politik, S. 874–875. 61 Solschenizyn, Alexander: »Lebt nicht von Lügen!«. Essay über die moralische Erneuerung Rußlands, 12. Februar 1974. In: Lautemann, Wolfgang; Schlenke, Manfred (Hg.): Geschichte in Quellen. Die Welt seit 1945. München 1980, S. 516. 62 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Schlußbericht, Rostock, 7.7.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 56/60, GA, Bd. II, Bl. 80–91. 63 Anonymer Brief, an Herrn Staatsanwalt Garbe, Amtsgericht Rostock, aufgegeben in Dettmannsdorf-Kölzow, 19.5.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 56/60, GA, Bd. II, Bl. 161–163.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Grabe auf, den Brief zur Entlastung des Angeklagten in der anstehenden Verhandlung zu verlesen. 64 Nachfolgend geriet auch sie in Haft. Zusätzlich wurde sie von einem SEDOrtsfunktionär belastet. Die Staatsanwaltschaft erweiterte die Anklage gegen die Katechetin am 18. August 1960 so um einen weiteren Punkt: Die gläubige Katholikin habe demnach während des Religionsunterrichts in Tessin die ihr »anvertrauten Kindern« auf die Allgegenwart der Lüge in der DDR hingewiesen. Die Kinder sollten so »nicht alles glauben [...], was ihnen der Lehrer in der Schule lehrt und was in der [...] Presse« steht. 65 Der Erste Strafsenat des Bezirksgerichts in Rostock verurteilte die dreiundsiebzigjährige Frau nach knapp vier Monaten Untersuchungshaft am 19. September zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren Gefängnis. 66 Was man von den Neuerungen der SED in der Bevölkerung gemeinhin hielt und was man den Einheitssozialisten inzwischen zutraute, illustriert anschaulich eine Geschichte aus dem Jahre 1952. Im Juni 1952 erging eine Polizeiverordnung, die den 5 Kilometer breiten Streifen »entlang der Küste der DDR auf dem Lande« zur »Schutzzone« erklärte. 67 Um eine Übersicht darüber zu erhalten, wer entlang der Küste wohnt oder sich hier zeitweise aufhielt, sollten alle Einwohner und Saisonkräfte meldetechnisch erfasst werden. Die Polizei in den Küstenorten war hiermit überfordert und erhielt daher Verstärkung – so auch im Kreis Wolgast. »Bei der Registrierung«, hieß es in einem Bericht des Amtes für Information des Innenministeriums, »wurden aus anderen Kreisen [...] VP-Kommandos zur schnelleren Durchführung [...] eingesetzt, so dass in einigen Personalausweisen der Registrierungsvermerk mit dem VP-Siegel z. B. aus Anklam, bei anderen aus Pasewalk eingetragen ist.« 68 Das Amt für Information berichtete weiter, dass sich inzwischen das Gerücht ausbreite, »daß sämtliche Leute aus der Schutzzone entsprechend dem Stempel im Personalausweis ([nach] Anklam, Pasewalk usw.) evakuiert werden« würden. Eine »Umsiedlerin« aus Garz wurde zitiert mit den Worten, »meine Schwester wohnt an der Westgrenze und mußte [...] nach Inkrafttreten der Verordnung 64 Ebenda. 65 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Schlußbericht, Rostock, 7.7.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 56/60, GA, Bd. II, Bl. 80–91, hier 80 sowie Staatsanwalt des Bezirkes Rostock, Az. I 96/60, an das Bezirksgericht Rostock, I. Strafsenat, Anklage, Rostock, 18.8.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AU 56/60, GA, Bd. II, Bl. 16–25. 66 Erster Strafsenat des Bezirksgerichtes Rostock, Urteil vom 19.9.1960 in der Az. I/96/60: BStU, MfS, BV Rostock, AU 56/60, GA, Bd. II, Bl. 63–74, hier 63. 67 Am 7. Juni 1952 trat die Polizeiverordnung über die Verstärkung des Schutzes der Ostseeküste der DDR in Kraft. Nach: Dokumentenliste Nr. 169. MfS-Ordnungen (einschließlich Anordnungen) 1950–1989. Bestand des BStU-Zentralarchivs. Berlin 1995, S. 1. 68 Amt für Information, Informationskontrolle, Info-Mitteilung Nr. I/284/52 vom 5.7.1952, [Bericht zur] Situation an der Staatsgrenze (Ostsee). Argumentation der Bevölkerung zur Polizeiverordnung vom 7.6.1952, Land Mecklenburg, Usedom, Landesarchiv Berlin, C Rep. 101-07, Nr. 5041, o. Pag.

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ihre Koffer packen und den Ort verlassen«. Sie habe »daher [...] auch schon Koffer gekauft, um Vorsorge zu treffen«. Sie »glaube nicht, so die »Umsiedlerin« weiter, »daß sie uns hier wohnen lassen werden. Wir kommen«, wie sie gehört habe, »in den Kreis Anklam. Einige kommen mit dem Schiff über Swinemünde weg«, lautete ihr Fazit. Eine Sekretärin aus Ahlbeck erklärte, ihrer Ansicht nach sei die »Schutzzone [...] eine Sperrzone«. Weiter meinte auch sie, »der Stempel in unserem Personalausweis hat [...] etwas zu bedeuten, sie werden uns nicht erzählen, was sie vorhaben (…) wenn [...] es denen einfällt, müssen wir wahrscheinlich [...] räumen«. Aus den Worten sprach die ganze Skepsis gegenüber der Politik der SED. Ähnlich sahen es ein Tischler aus Ahlbeck und ein Maurer aus Heringsdorf: »Es würden noch Evakuierungen vorgenommen«, jeder komme entsprechend in den Kreis, den der Stempel in der Eintragung ausweist. »Etwas zu bedeuten wird es schon haben«, so der Maurer, sonst hätte die Polizei auch den heimischen Stempel verwenden können. 69 Sowohl das Motiv der Abwehr als auch das Verlangen nach Selbstverteidigung und Selbstbehauptung traten beim Widerspruch und Widerstand hervor: Besonders deutlich wurde dies bei den Protesten gegen die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft in den fünfziger und sechziger Jahren. Dabei ging es um nichts Geringeres als den Eigenbesitz, der den Bauern weggenommen werden sollte. Zudem rangen die Betroffenen darum, an den bewährten Produktions- und Lebensformen im Dorf festhalten zu können. Die Betroffenen sanken, trotz der scheingenossenschaftlichen Verträge, in den Status von abhängigen Lohnarbeitern herab. In ihren Augen wurde der SED-Staat hier selbst zum Dieb. Dass sich Widerstand dagegen regte, mochte nur allzu verständlich sein.

5.3

Widerspruch gegen die Kirchenpolitik der SED

Wenn es um Verweigerung, Protest oder Widerstand ging, spielten allzu häufig kirchliche Bezüge eine Rolle. So entsteht der Eindruck, dass maßgeblich die evangelischen Kirchen überproportional bei der Darstellung von Verweigerung, Protest und Widerstand in der DDR vertreten sind. Insbesondere die Verhältnisse außerhalb von Berlin und Leipzig scheinen dies zu bestätigen. Innerhalb wie außerhalb der Kirche praktizierten Menschen vielerorts eine Kultur des beharrlichen Widerstehens unter Verwendung christlicher Bezüge. Man leistete damit zwar noch keinen Widerstand im eigentlichen Sinne. Mit dem vernehmbaren Festhalten an dem von der SED infrage gestellten Glauben und dem Bekenntnis zur Kirche im Betrieb oder in der Nachbarschaft setzte 69

Ebenda.

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man ein deutliches Zeichen, das von jedermann verstanden wurde. Wie die SED und ihre Massenorganisationen ihre ureigensten Symbole verwandten, hatte man seine eigenen, unmissverständlichen und nicht zu Unrecht als Gegenreaktion verstandenen Zeichen. Verwandte man sie für jedermann sichtbar, verhielt man sich in den Augen der Zeitgenossen nonkonform gegenüber dem SED-Staat und bekundete, was häufig auch beabsichtigt war, damit seinen Widerspruch im Alltag. Ein Blick auf die Motivlage legt demgegenüber offen, dass es verschiedene Beweggründe gab, sich am kirchlichen Umfeld zu orientieren, wenn es darum ging, sich dem SED-Staat zu widersetzten. Neben dem Nonkonformismus und Widerstand, der aus christlicher Überzeugung erfolgte, schlossen sich andere den Initiativen im kirchlichen Umfeld an, weil lediglich die Kirche einen Raum hierfür bot. Die Orientierung hin zur Kirche konnte ebenso erfolgen, weil der Betreffende sie als letzte verbliebene Gegenkraft im SED-Staat unterstützen wollte. Andere wiederum fanden den Anschluss an den sich im kirchlichen Umfeld sammelnden Widerstand, weil die Kirche in ihren Augen eine eigene Wertekultur verkörperte, die sich den ideologischen Vorgaben nicht unterwarf. Ferne und Ablehnung gegenüber dem SED-Staat konnten so auch in einer betonten Hinwendung zur Kirche ihren Ausdruck finden. Die Parallelen zum Widerstand in der NS-Zeit sind, was die Vielschichtigkeit der Motivlagen betrifft, dabei nicht zu übersehen. Gerhard Ringshausen zitiert so in Widerstand und christlicher Glaube angesichts des Nationalsozialismus (2007) die Arbeit von Hans-Adolf Jacobsen von 1984, »Spiegelbild einer Verschwörung«. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung, und führt an: 70 »[...] immer wieder« sei von Menschen, die Widerstand leisteten, das Argument angeführt worden, »daß man die Kirchenpolitik des Nationalsozialismus nicht habe billigen können«, wobei die Kritik auch von Personen geteilt wurde, »bei denen die Beziehung zum Christentum und zur Kirche überhaupt nicht vorhanden oder doch sehr oberflächlich war«. 71 Ringshausen schreibt weiter: »Der Hinweis auf christliche Einstellung und kirchliche Bindung sollte die ›innere Freiheit‹ gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie und Politik belegen«. 72 Aufgrund fehlender Selbstzeugnisse oder anderer Quellen lassen sich die Motive derer, die in der DDR in kritischen Situationen die Kirche unterstützten oder sich von ihr angezogen fühlten, im Nachhinein oft nur bedingt re70 Ringshausen, Gerhard: Widerstand und christlicher Glaube angesichts des Nationalsozialismus (Lüneburger Theologische Beiträge; 3). Berlin 2007, S. 1 f.; Jacobsen, Hans-Adolf: »Spiegelbild einer Verschwörung«. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung. Stuttgart 1984, S. 434–436. 71 Ringshausen, Widerstand und christlicher Glaube. Ebenda, S. 1 f.; Jacobsen, »Spiegelbild einer Verschwörung«. Ebenda, S. 436. 72 Ringshausen, Widerstand und christlicher Glaube. Ebenda, S. 2.

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konstruieren. Doch auch bei dem nachfolgend angeführten Beispiel aus Wismar-Wendorf liegt die Vermutung nahe, dass es hier mehrere Motivlagen gab und die Unterstützung nicht zuletzt auch aus einer Ablehnung des SEDStaates heraus erfolgte. Bestätigt wird dies durch den damaligen Pfarrer Martin Dürr. In einem Gespräch erzählte er, dass ein entlassener Angestellter der Stadtverwaltung der Kirche eben jenen Plan nebst Konzept lieferte, der es ihr ermöglichte, trotz Verbot eine Kirche in einem Neubaugebiet zu errichten. Der aufgrund seiner nonkonformen politischen Haltung aus dem Amt gedrängte Stadtplaner und Architekt wollte sich somit bei seinem ehemaligen Arbeitgeber revanchieren. Damit, dass er die Kirche in dieser politisch hochbrisanten Frage unterstütze, setzte er zugleich ein Zeichen. Er unterstrich hiermit auf seine ablehnende Haltung gegenüber dem SED-Staat. 73 Nachdem man sich in Wismar mit dem Kirchenwagen (vgl. Einleitung) abgefunden hatte, trat 1963 unerwartet ein Wandel ein. Der Initiative hierfür ging von dem Kirchenältesten Siegfried Kühn aus. Fast allein hatte er in dem Neubaugebiet 130 Unterschriften für einen Kirchenneubau gesammelt. Zwar war die Sammlung von den Behörden nicht genehmigt worden und gesetzeswidrig. Die, die die Erklärung unterschrieben, erklärten sich zugleich bereit, freiwillig »Aufbaustunden« zu leisten. Für Martin Dürr schien es kaum fassbar, »wie viele auch von denen, die sich nicht am gottesdienstlichen Leben beteiligten, hier mitmachen wollten«. Völlig unerwartet willigte der Stellvertretende Oberbürgermeister, Schrade, ein. Man sorgte sich anscheinend, dass der marode und als Kirche genutzte Zirkuswagen das Ansehen der DDR beeinträchtigen könne. Schließlich besuchten viele ausländische Gäste die Hafenstadt. Doch sollte der Neubau von außen nicht als Kirche erkennbar sein. Am 19. Juli 1966 konnte das Gemeindehaus mit der Pfarrwohnung eingeweiht werden. Der eigenwillige Entwurf verriet dem Betrachter schnell, dass es sich um kein gewöhnliches Haus handeln konnte. Die Bauphase entwickelte sich zu einer Demonstration der Andersartigkeit in dem sich atheistisch kämpferisch gebenden Arbeiter- und Bauernstaat. Am Aufbaukreis beteiligten sich allein 180 Personen, die hier öffentlich sichtbar zu Werke gingen. Ein Berufsschullehrer ließ hier seine Malerlehrlinge ihre Gehilfenprüfung ablegen, was der Kirche die Kosten ersparte und – so Martin Dürr weiter – »vergoldete kostenlos unser Kreuz am Haus«. Zudem spendete die Berliner Firma Aluminium-Eltz Profile für die Dielen und eine Verzinkerei aus Oberroderwitz lehnte es ab, ihre Lieferung in Rechnung zu stellen. Der Leiter des Kleinbetriebes schrieb zurück, dass er und seine Angestellten hiermit der Kirche helfen wollten. 74 73 Gespräch mit Pfr. i.R. Martin Dürr, 25.10.2012. 74 Dürr, Martin: Aus der Geschichte der Kirchgemeinde Wismar-Wendorf. Vom Kirchwagen zum Haus der Begegnung. In: Mecklenburgia Sacra, Bd. 9 (2006), S. 108–143, hier 132.

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Das Beispiel des Kirchenwagens machte auch in Rostock Schule: Hier entstand von 1960 bis 1968 die Südstadt für 25 000 Einwohner.75 Die Planer um Wolfgang Urbanski gingen ebenfalls davon aus, eine sozialistische Stadt innerhalb der Stadt errichten zu wollen. 76 Die sich im Aufbau befindende Gemeinde erwarb auch hier einen Zirkuswagen und baute ihn um. Als Stellplatz diente ein Grundstück in einer am Rande der Südstadt verbliebenen Kleingartenanlage. Die Initiative ging maßgeblich vom ersten Pfarrer der Südstadtgemeinde und späteren Bischof, Heinrich Rathke, aus. 77 Der Kirchenwagen war mehr als nur Provisorium und Notlösung. In einem sozialistischen Wohngebiet traf man sich hier zum Gottesdienst und baute die Gemeindearbeit auf. Als Symbol des Beharrungsvermögens erlangte der Wagen über Rostock hinaus Bekanntheit. Es ermutigte andere Christen, im sozialistischen Alltag für ihren Glauben einzustehen. Als ein Traktor 1982 einen Kirchenwagen in das Neubaugebiet Groß-Klein zog, ging hiervon das deutliche Zeichen aus, dass die Kirche sich nicht aus der Gesellschaft herausdrängen lassen würde. 78 Auch das Ringen um den Erhalt von kriegsbeschädigten Kirchen entlang der Ostseeküste war im Kern zunächst eine Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Präsenz von Kirche und Religion in der einheitssozialistischen Gesellschaft. Doch ging es denen, die dem widersprachen, häufig auch hier um mehr: Sie widersprachen den Vorgaben der SED, weil sie sich verpflichtet fühlten, sich hier zu engagieren – so aus bürgerlichen oder kulturhistorischen Gründen – oder weil sie die Kirche als Gegenkraft im SED-Staat schätzten. Die SED instrumentalisierte den Wiederaufbau, um, wenn es sich anbot, auch Kirchen aus dem Stadtbild zu entfernen. Ideologischer Dogmatismus und politischer Eifer gingen im »Aufbauland-DDR« Hand in Hand. In Rostock fiel die kriegsbeschädigte, 1943 mit einem Notdach gesicherte Jakobikirche 1947 dem zum Opfer. Durch die »unsachgemäßen Sprengung« an einem benachbarten Bunker wurde sie massiv in Mitleidenschaft gezogen. Sie befand sich im Hinterland der neu zu errichtenden Stalin [Langen] Straße. Trotzdem plante man, die größte Kirche Rostocks in Teilen wiederherzurichten. Über einen entsprechende Beschluss berichtete die Mecklenburgische Kirchenzei75 Berdermann, Kai: Planung und Bau der Südstadt in Rostock 1960–1968. In: Zr. 10 (2006) 2, S. 59–77. 76 Brockhaus – Reisehandbuch. Ostseeküste mit Rostock, Stralsund, Greifswald, Wismar, Kühlungsborn und Saßnitz. 3. Aufl., Leipzig 1974, S. 368. 77 »Eine Stadt wächst«. In: MKZ, 21. Jg., Nr. 21, 22.5.1966, S. 3; Dürr, Martin: Aus der Geschichte der Kirchgemeinde Wismar-Wendorf. Vom Kirchwagen zum Haus der Begegnung. In: Mecklenburgia Sacra, Bd. 9 (2006), S. 108–143, hier 128. 78 Enthalten ist ein Bild vom Zirkuswagen der Rostocker Südstadtgemeinde in: Von Preuschen, Henriette: Der Griff nach den Kirchen. Ideologischer und denkmalpflegerischer Umgang mit kriegszerstörten Kirchenbauten in der DDR. Worms 2011, S. 23; Schnauer, Arvid: »Ablegerfreude« in Rostock-Groß Klein. In: MKZ, 40. Jg., Nr. 28, 14.7.1985, S. 4.

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tung am 9. März 1958. 79 Wenig später setzen sich in den Räten von Stadt und Bezirk, wie Tilman Jeremias schreibt, jene »Kräfte durch, die ohne gesetzliche Grundlage, gegen den massiven Einspruch der Kirche und der Denkmalpflege« die Kirche zu sprengen beabsichtigten. 80 Als Argument wurde wie so häufig die Baufälligkeit angeführt. Die gescheiterte Sprengung 1958 strafte die SED für jedermann ersichtlich der Lüge: Noch bis 1960 mussten der Turm und Teile des Kirchenschiffes in mühevoller Kleinarbeit zerlegt und wegtransportiert werden. 81 1958 sollte in Rostock ebenfalls die Lutherkirche am Schwanenteich nach einem Ultimatum der Stadt abgetragen werden. Der Nachkriegsbau von 1947 stand an einer der Hauptverkehrsachsen der Stadt und – ungünstigerweise – auf Pachtland. Fortan und nach der Sprengung der Christuskirche am Schröderplatz 1971 hielt sich in Rostock ein hartnäckiges Gerücht. Demnach hätte Walter Ulbricht erklärt, er wolle, »wenn er zur Ostseewoche von Rostock nach Warnemünde fahre, [...] keine Kirchen sehen«. 82 Die evangelischen Kirchen der DDR reagierten auf den drohenden Abriss von weiteren Gotteshäusern auf ihre Weise. Mit bescheidenen Mitteln und Notsicherungen versuchten sie vielerorts, die anstehenden »Abräumungen« zu verhindern. Mit einer Aktion des Diakonischen Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland setzten sie zugleich ein eindrucksvolles Zeichen ihres Beharrungswillens in einer sich feindlich gebenden politischen Umwelt. Nach Dresden und Frankfurt/Oder wurde in einem deutschlandweiten Appell Rostock für zwei Jahre – vom 1. April 1957 bis zum 31. März 1959 – zur »Stadt des kirchlichen Wiederaufbaus« ausgerufen. 83 Die Sammlung erbrachte über 79 Stier, Claus: Erinnerung an St. Jakobi zu Rostock. In: MKZ, 13. Jg., Nr. 11, 9.3.1958, S. 3; »Rostocker St. Jakobikirche”. In: MPKZ, Nr. 31, 3.8.2008, S. 7. 80 Jeremias, Timan: Wo einmal die St. Jakobikirche in Rostock stand. Jahrzehnte lang war der Ort mit Imbissbuden zugestellt – nun ist ein Gedächtnispark entstanden. In: MPKZ, Nr. 3, 18.1.2004, S. 7. 81 »Rostocker St. Jakobikirche«. In: MPKZ, Nr. 31, 3.8.2008, S. 7. 82 Horst Vogt-Courvoisier: Weg der Kirchen – wie sie kämpfen – wie sie sind. Gemeindegründungen und Kirchbauten im letzten Jahrhundert am Beispiel von Rostock-Reutershagen. In: MPKZ, Nr. 30, 28.7.2002, S. 5. 83 »Frankfurt an der Oder. Stadt des kirchlichen Wiederaufbaus im Kirchenjahr 1954/55«. In: Potsdamer Kirche. Sonntagsblatt für evangelische Gemeinden in der Mark Brandenburg, 9. Jg., Nr. 49, 5.12.1954, S. 387; »Frankfurt Stadt des kirchlichen Wiederaufbaus«. In: Die Kirche. Evangelische Wochenzeitung, 9. Jg., Nr. 48, 28.11.1954, S. 1; »Die Gabe für Frankfurt«. In: Ebenda, 9. Jg., Nr. 51, 19.12.1954, S. 4; »Wieder Stätte des Gottesdienstes. Friedenskirche in Frankfurt (oder) nach dem Wiederaufbau neu eingeweiht«. In: Ebenda, 14. Jg., Nr. 46, 15.11.1959, S. 4; »Erfreuliche Ergebnisse. Eine Zwischen-Bilanz des kirchlichen Wiederaufbaus«. In: Ebenda, 13. Jg., Nr. 28, 13.7.1958, S. 1; »Fast zwei Millionen«. In: MKZ, 14. Jg., Nr. 30, 26.7.1959, S. 1; »Zweite Sammlung für Rostock«. In: Ebenda, 13. Jg., Nr. 12, 16.3.1958, S. 4; »Rostock – Stadt des kirchlichen Wiederaufbaus 1957«. In: Potsdamer Kirche. Sonntagsblatt für evangelische Gemeinden in der Mark Brandenburg, 10. Jg., Nr. 46, 11.11.1956, S. 353; Nachrichtenmeldung. In: Ebenda, 13. Jg., Nr. 11, 16.3.1958, S. 5; »Eine Zwischenbilanz des kirchlichen Wiederaufbaus«. In: Ebenda, 13. Jg., Nr. 32, 10.8.1958, S. 7; Nachrichtenmeldung. In: Die Zeichen der Zeit. Evangelische Monatsschrift, 11. Jg., H. 4/1957, S. 160; »Vom Kirchenbau«. In: Ebenda, 12. Jg., H. 5/1958, S. 194.

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1,8 Millionen DM, die, wie eine Kirchenzeitung schrieb, »für dringende kirchliche Bauvorhaben in Rostock« benötigt wurden. Errichtet werden konnte so ein Ausweichquartier für die Luther- und Andreasgemeinde am Krischanweg. Zugleich gelang es, die Arbeiten am Gewölbe der Nikolaikirche fortzusetzen und das Südschiff der ausgebombten Petrikirche zu überdachen und auszubauen. Gegebenenfalls drohte hier nach dem Abriss des benachbarten Petritores weiteres Ungemach. Solidarisch zeigte sich ebenfalls die schwedische Kirche, die für Rostock nach 1945 bereits die Johanniskirche gestiftet hatte: Zum Wiederaufbau des Hauptschiffes der Petrikirche stellte sie »das dringend benötigte Langholz« und das Glas für die Fenster zur Verfügung. 84 Ebenso wie die Jakobikirche in Rostock 1960 sollte im August desselben Jahres in Wismar die Marienkirche aus dem Stadtbild weichen. 85 Sie war zwar im Krieg beschädigt worden, hätte jedoch wieder aufgebaut werden können. Zwar ist auch hier nicht in jedem Fall etwas über die kirchliche Bindung derer, die sich empörten und protestierten, bekannt. Da die Marienkirche zu den Wahrzeichen der Hansestadt zählte – ein Grund, warum man ihren Turm stehen ließ – ist auch hier wieder vom Vorhandensein einer vielschichtigen Motivlage auszugehen. Zunächst gab es den kirchlichen Protest. Hinzu kam die Empörung über den Umgang der SED mit kulturhistorisch unersetzbaren Werten, der das totalitäre ideologische Selbstverständnis der Einheitspartei insgesamt offenbarte. Auch mochte die Kirche Unterstützung erfahren haben, weil sie von vielen als letzter verbliebener Ort des Widerspruchs angesehen wurde. Nicht zuletzt aus diesem Grund ging die SED ja auch gegen deren gesellschaftlich sichtbare Präsenz vor, ließ Kirchen abreißen oder verbot den Bau von Gotteshäusern in den Neubaugebieten. Deutlich wurde hier die Machtanmaßung und Selbstgefälligkeit der auf der unteren Ebene agierenden SED-Funktionäre. So erfolgte die Sprengung, obwohl sich, wie die Mecklenburgische Kirchenzeitung und Der Demokrat, die Regionalzeitung der Ost-CDU, im Sommer 1960 übereinstimmend berichteten, »die Denkmalpfleger der drei mecklenburgischen Bezirke auf ihrer Tagung in Güstrow zusammen mit dem Schweriner Institut für Denkmalpflege 84 »Zwei Millionen DM für Rostock«. In: Die Kirche. Evangelische Wochenzeitung, 14. Jg., Nr. 30, 26.7.1959, S. 4; »Zwischenbilanz. Rostock – zwei Jahre Stadt des kirchlichen Wiederaufbaus«. In: Ebenda, 14. Jg., Nr. 9, 1.3.1959, S. 1 f.; 85 Wiaterek, Norbert: Verlust gotischer Baukunst. Vier Jugendliche drehten einen Film über die St. Marienkirche in Wismar. In: MPKZ, Nr. 41, 14.10.2007, S. 6; »St. Marien in Wismar«. In: MPKZ, 15. Jg. Nr. 34, 21.8.1960, S. 1; »Kirchenbau in Mecklenburg«. In: Die Kirche. Evangelische Wochenzeitung, 15. Jg., Nr. 39, 25.9.1960, S. 4. In der Darstellung geprägt vom weitgehenden Verständnis für den Abriss: Scheunpflug, Robert: »Zur Herstellung von Leichtbauelementen geeignet ...«. Der Abriss der Marienkirche im Kontext von Staat, Kirche und Denkmalpflege. Schwerin 2008. Die Arbeit von Robert Scheunpflug entstand im Rahmen eines Forschungsauftrages des Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.

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einmütig für die Erhaltung der Marienkirche« ausgesprochen hatten. 86 Trotz der Brüskierung der in dieser Frage zuständigen kirchlichen und Denkmalschutz-Stellen bemühte sich die SED, dem Ganzen den Schein des Legitimen zu verleihen. Erreicht werden sollte dies über die Inszenierung des vermeintlichen Volkswillens in einer von der Ostsee-Zeitung, dem SED-Parteiblatt, angestoßenen Leserbriefkampagne. Die lieferte den Vorwand für den anstehenden Beschluss der Stadtverordnetenversammlung. Ausgewählt wurde ein erdenklich günstiger Zeitpunkt: Während Landessuperintendent Georg Steinbrecher zur Kur in Österreich weilte, setzte die Stadtverwaltung in Absprache mit dem Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung, Karl Mewis, am 4. August kurzfristig eine außerordentliche Stadtverordnetenversammlung an. Die Sommerpause sorgte dafür, dass nur die vorab Eingeweihten zum Zuge kamen. Während die Vertreter des Denkmalschutzes laut Aussage eines der Teilnehmer »nicht ausreichend zu Worte« kamen und ihr Protest übergangen wurde, ließen die CDU-Vertreter die SED gewähren. Aus opportunistischen Erwägungen verzichtete die CDU darauf »zur Diskussion überhaupt zu sprechen oder gegen den Abriß Stellung zu nehmen«. 87 Der Vorsitzende des CDU-Bezirksvorstandes, Kinning, diente sich den staatlichen Stellen zugleich an und schlug vor, positiv »zum Abriß Stellung [zu] nehmen«. 88 Der CDUPolitiker wandte sich damit zugleich gegen die Denkmalbehörde in Schwerin, die es nicht bei ihrem Protest beließ. Das Institut für Denkmalpflege versandte Beschwerden an verschiedene Stellen, so, wie Kinning intern erfahren hatte, auch an den Hauptvorstand der Christlich Demokratischen Union in Berlin. 89 Kirchliche Vertreter waren zu der außerordentlichen Stadtverordnetenversammlung hingegen nicht geladen worden. Sie erhielten erst im Nachgang von dem Beschluss Kenntnis. Auch schien sich die Einstellung in weiten Teilen der Bevölkerung nicht mit der in der Ostsee-Zeitung veröffentlichten Meinung zu decken. Dies belegten die von der Staatssicherheit heimlich geöffneten Briefsendungen, in denen die Sprengung einhellig betrauert wurde. »Es geht einem ans Mark und die ganze Stadt trauert um diesen herrlichen Bau, es sind man86 »St. Marien in Wismar«. In: MKZ, 15. Jg. Nr. 34, 21.8.1960, S. 1; Halbrock, Christian: Weggesprengt. Die Versöhnungskirche im Todesstreifen der Berliner Mauer 1961–1985. In: HuG 17 (2008) Sonderheft, S. 9; Diederich, Georg M.: Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Zerstörung der Rostocker Christuskirche 1971. 2. Aufl., Bremen 1997, S. 10–12. 87 Schreiben Christlich Demokratische Union, Bezirksverband Rostock, gez. Kinne, an die Parteileitung der CDU in Berlin, z.Hd. Ufr. Ordnung, betr. Abriß der Marienkirche in Wismar, Rostock, 18.8.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AS, Nr. 101/76, Bl. 28; Schreiben Prof. Dr. Marie-Luise Henry z.Zt. in Rostock, an den Ministerpräsidenten der DDR, Leipzig, 23.8.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AS, Nr. 101/76, Bl. 46 f. 88 MfS, BV Rostock, (keine Angaben zur Abteilung), Mündlicher Bericht des GI »Kremser« vom 21.8.1960, betr.: Abriß der Marien-Kirche in Wismar, Rostock, 24.8.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AS, Nr. 101/76, Bl. 16. 89 Ebenda.

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che Tränen geflossen«, hieß es da und an anderer Stelle konnte man lesen, »zwei Tage wurde schon gesprengt, gefallen sind bisher einige Pfeiler und das Dach. [...] Hätte ich nie für möglich gehalten, dass dieses prachtvolle Bauwerk, noch besser Baudenkmal, zum Abriß kommen würde.« 90 Von der Staatssicherheit abgeheftet worden ist zugleich der Protest, der von prominenter Seite aus erfolgte. Kommunale wie staatliche Stellen arbeiteten bei der Protokollierung desselben dem MfS direkt zu und übergaben die Abschriften der eingehenden Protestnoten. Ende August 1960 konstatierte der Leiter der Abteilung Kultur und Volksbildung beim Rat der Stadt Rostock, Peters, in einer Aktennotiz an das MfS, dass es gegen die sozialistische Umgestaltung von Rostock und Wismar verstärkt Proteste von Akademikern gäbe. »Im Augenblick«, schrieb Peters, »treten einige Historiker, Denkmalspfleger und andere massiert auf gegen die Sprengung der Ruine in Wismar, den Abriß des Petritores in Rostock und die evtl. Versetzung des Steintores«. 91 Letzteres sollte von seinem angestammten Platz weichen, um die zum Ernst-Thälmann-Platz führende und in die Lange Straße einmündende Magistrale zu vollenden. Am 16. August wandte sich der Stellvertretende Direktor des Instituts für Organische Katalyseforschung in Rostock, Hermann Mix, an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Harry Tisch, sowie den Oberbürgermeister von Wismar, um gegen die Abrissarbeiten an der Marienkirche zu protestieren. 92 Im Sekretariat des DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl ging bereits Anfang August ein Beschwerdeschreiben von Jürgen Grundlach ein, tätig in der Rostocker Außenstelle des »Mecklenburgisches Wörterbuches« der Akademie der Wissenschaften. 93 Per Telegramm und Protestschreiben legten die Leipziger Kunstwissenschaftlerin und Professorin Marie-Luise Henry sowie der Rostocker Theologieprofessor Konrad Weiß ihren Widerspruch gegen den Abriss ein. Marie-Luise Henry gab eine Rostocker Adresse für die Antwort an. Beide schickten ihren Protest an Ministerpräsidenten Grotewohl und den Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung, Karl Mewis. 94 Weiss warf in seinem 90 Geöffnet wurden Briefe, die in die Bundesrepublik verschickt wurden. Verschiedene Textpassagen aus den geöffneten Briefen: BStU, MfS, BV Rostock, AS, Nr. 101/76, Bl. 18–22, 40 f. 91 Aktennotiz des Leiters der Abteilung Kultur und Volksbildung beim Rat der Stadt Rostock, Peters, Rostock, 27.8.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AS, Nr. 101/76, Bl. 39. 92 Schreiben des Stellvertretenden Direktors des Instituts für Organische Katalyseforschung Rostock, H. Mix, an den Ersten Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Harry Tisch, Rostock, 16.8.1960, sowie ebenda, den Oberbürgermeister der Stadt Wismar (ebenda): BStU, MfS, BV Rostock, AS, Nr. 101/76, Bl. 3 f. 93 Schreiben Dr. Jürgen Grundlach, Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Mecklenburgisches Wörterbuch, an den Rat der Stadt Wismar, Rostock, 16.8.1960 (Hier Bezug auf die Korrespondenz mit dem Sekretariat des Ministerpräsidenten, das Grundlach am 11.8.1960 antwortete und ihm mitteilte, dass die Abteilung Kultur beim Rat des Bezirkes Rostock beauftragt sei, mit ihm »eine Aussprache über den Abbruch der Marienkirche in Wismar zu führen.). BStU, MfS, BV Rostock, AS, Nr. 101/76, Bl. 27. 94 Abschrift der Korrespondenz: BStU, MfS, BV Rostock, AS, Nr. 101/76, Bl. 44–50.

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Telegramm der DDR-Führung offenen Wortbruch vor, indem er schrieb: »Begonnene Sprengung der Marienkirche steht in unversöhnbarem Widerspruch zu wiederholten Versicherungen Ihrer Regierung über Erhaltung des Kulturerbes, da Erhaltungszustand und Bedeutung dieses Bauwerkes [...] höchste Einsätze rechtfertigt und fordern«. Weiter forderte er Otto Grotewohl auf, durch sein »sofortiges Eingreifen« die Abrissarbeiten unverzüglich zu stoppen. 95 Karl Mewis ließ es sich nicht nehmen, im Namen der Bezirksleitung eigenhändig auf die Beschwerden und die Forderung nach einem sofortigen Sprengungsstopp zu reagieren. Er widersprach der Auffassung, dass es sich bei der Kirche um ein erhaltenswertes Kulturgut handeln würde. Dem stellte er die von der SED als zeitgemäße propagierte Sicht entgegen. »Die Bevölkerung von Wismar«, schrieb Mewis, hielte es »für zweckmäßig, statt dessen neue Kulturstätten zu schaffen«. 96 Zugleich hielt Mewis den Professoren vor, mit ihrem Protest, den Vorwand zu liefern, »daß [...] innere Angelegenheiten der DDR zu politischen Zwecken im Interesse von NATO-Kreisen aus[ge]nutzt« werden könnten. Nun waren auch sie zu Gegnern der DDR gemacht worden. Mewis drohte den Professoren unverhohlen mit dem Volkszorn: »Die Bevölkerung«, die bereits »große Geduld und viel Toleranz an den Tag gelegt« habe, werde dies, so Mewis weiter, »nicht zulassen«. 97 Marie-Luise Henry ließ sich nicht beirren. In einem knapp dreiseitigen Brief an Ministerpräsident Grotewohl legte sie sechs Tage später minutiös das Dilemma des betreffenden Vorganges offen. Die zuständigen Instanzen des Bezirkes Rostock und der Stadt Wismar hätten jede Form der demokratischen Willensbildung torpediert. Ähnlich wie beim »Schicksal der Jakobikirche in Rostock« wurden »Stimmen von Fachkennern« diskreditiert und habe man »von ephemerischen Interesse geleitet, laienhafte Urteile [...] als ausschlaggebend und diskussionsschließend gelten« lassen. 98 Dies gab die von der SED angewandte Taktik präzise wieder. Zudem bewies Marie-Luise Henry mittels einer beigefügten Fotodokumentation, dass es sich nicht, wie offiziell behauptete, lediglich »um Ruinenreste [...] sondern um einen zwar verwundeten, aber immer noch imposanten Bau, der über 15 Jahre lang den Witterungseinflüssen getrotzt hat«, gehandelt habe. 99 Es folgte eine Fundamentalkritik, die den Vorfall treffend charakterisierte: Marie-Luise Henry hielt den Verantwortlichen vor, dass sie in verhängnisvoller Weise nicht zwischen der Kultur als solcher und der jeweiligen Zivilisation zu

95 Text des Telegramm wiedergeben in: Schreiben des Ersten Sekretärs der SED-Bezirksleitung Rostock, Karl Mewis, an den Professor der Theologie K. Weiss, Rostock, 17.8.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AS, Nr. 101/76, Bl. 45–46, hier 45. 96 Ebenda, Bl. 46. 97 Ebenda. 98 Ebenda, Bl. 47. 99 Ebenda.

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unterscheiden wüssten. 100 Der Brief schloss mit der eindringlichen Bitte, die SED möge die kulturellen Leistungen vorangegangener Epochen losgelöst von deren überwundenen idealistisch-humanistischen Vorstellungen und deren Menschenbild betrachten. Die Sprache des Protestes changierte hier zwischen verschiedenen Polen: Es war ein Balanceakt zwischen der gebotenen Eindeutigkeit und dem Versuch, die Herrschenden mit dem Gesagten in ihren Vorstellungswelten zu erreichen, ohne diese allzu sehr zu brüskieren. Doch blieb Marie-Luise Henry Beschwerde unmissverständlich ein Text der Anklage. Er griff weder in Inhalt wie Duktus auf die bei vielen Eingaben und Beschwerden in der DDR verwandte Sklavensprache 101 zurück. Die Kirche protestierte auf ihre Art gegen die Sprengung. Neben dem formalen Einspruch des Oberkirchenrates in Schwerin vom 8. August 1960 erregte eine Schaukastengestaltung an der Nikolaikirche die offiziellen Stellen. 102 Der Oberkirchenrat reagierte »mit Entrüstung« auf den Beschluss der Stadtverordnetenversammlung und forderte, dessen Umsetzung »auf alle Fälle zu verhindern«. Hingegen betrachtete der Pfarrer der Nikolaikirche seine im Schwarz-Ton gehaltene Schaukasten-Präsentation »als Zeichen der Trauer [...] da die Kirche nunmehr [...] aus der Stadt verschwindet«. 103 In der Auslage hingen auch zwei Fotos. Das eine zeigte die Kirche im Originalzustand, das zweite, so der MfS-Bericht, die beeindruckenden Reste der Außenmauer »nach der zweiten Sprengung«. Neben den anstößigen Bildunterschriften »über 100 Jahre wurde an dieser Kirche gebaut« und »im August 1960 gesprengt«, befand sich der Bibelspruch »Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben«.104 Sowohl das MfS als auch die Abteilung K des Volkspolizeikreisamtes waren alarmiert. Auch bestellte der Rat der Stadt Pfarrer Walter Lemcke umgehend »zu einer Aussprache« ein. Der Rat verwies den Pfarrer auf die in der DDR gültige Gesetzeslage, nach der »die Schaukästen nur zur Veröffentlichung rein kirchlicher Belange benutzt werden dürfen« und drohte ihm einschneidende Konsequenzen an. Zudem forderte man, »sofort den Schaukasten in seiner Ausgestaltung dahin zu verändern, wie es die Beschlüsse des Rates

100 Ebenda. 101 Zur Sklavensprache: Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2. Aufl., München 2009, S. 176: »Die Sprache als ein wichtiges Kommunikationsmittel war von der SED in ein ›Neusprech‹ (G. Orwell) verwandelt worden«, mit »vorgestanzten Redewendungen«. 102 Abschrift: Schreiben des Oberkirchenrates der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs, an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Rostock, Bezug: St. Marien – Wiederaufbau, betr.: St. Marien zu Wismar, Schwerin, 8.8.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AS, Nr. 101/76, Bl. 52. 103 Ebenda sowie Bericht des MfS, BV Rostock, KD Wismar, an den Leiter der BV Rostock, betr.: Ausgestaltung der Schaukästen an der St. Nicolai-Kirche in Wismar, Wismar, 26.8.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AS, Nr. 101/76, Bl. 41–43, hier 42. 104 Ebenda, Bl. 41.

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vorsehen«. 105 Von einer Trennung von Staat und Kirche schien man hier wenig zu wissen. Der Verfassungsgrundsatz sollte im Konfliktfall häufig nicht zur Kenntnis genommen werden. »Unmittelbar nach der Aussprache« und dem entsprechenden Ratsbeschluss wurde von Pfarrer Lemcke »sämtlicher Aushang aus dem Kasten entfernt«. 106 Unmut erregte im Weiteren ein A-3Linolschnitt, der die Marienkirche zeigte. Mit dem Leitspruch »Dein Baustein für Kirchen-Wieder-Aufbau« sammelte Pfarrer Günther Gloede mit der Lithographie Geld für kriegsbeschädigte Kirchen. 107 Gloede, der bis 1960 als Pfarrer in Neubukow wirkte, inzwischen aber zur Christophorusgemeinde in BerlinFriedrichshagen gewechselt war, 108 verschickte das Plakat mit der Aufschrift »Die Marienkirche in Wismar wurde gesprengt« und »Wismar, St. Marien ist mein Schmerz« an Kunstinteressierte in den Nordbezirken. So an eine Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Rostock. Anstelle der erbetenen Spende übergab die Genossin das Corpus Delicti an den Ressortchef der Abteilung Kultur und Volksbildung der Stadt Rostock, Peters, der wiederum dafür sorgte, dass das Plakat den Staatssicherheitsdienst erreichte. 109 Selbst innerhalb der Kirche wünschte sich manch einer, die Kirchensprengungen der frühen Jahre als inzwischen überwundene Kinderkrankheiten des Sozialismus abtun zu können. Zu stark wirkte der Wunsch nach einem Stück Normalität im Alltag einer Gesellschaft, in der die Hoffnung, etwas ändern zu können, verlorengegangen war. Der SED-Staat sorgte dafür, dass die Erinnerungen wach blieben und eine Neuauflage erfuhren. Weitere Vorstöße beim Kirchenabriss lösten weitere Proteste aus, die zu bedingten Zugeständnissen führten. Der drohende Kirchenabrisses erwies sich als vitales Dauerthema. Es prägte das Bild vieler Christen und Nichtchristen vom Sozialismus als atheistischen Gesellschaftsentwurf. Zwar waren auch andere vom Abriss in den Bezirksstädten betroffen. Doch waren die Christen, dort wo der Sozialismus als betongewordene Allegorie errichtet werden sollte, im Wege. In Rostock drohte 1970 eine weitere Kirchensprengung. Für das geplante sozialistische Zentrum der Bezirkshauptstadt wurde die Altbebauung südlich des Schröderplatzes abgerissen. Verschwinden sollte auch die katholische Christuskirche, die als 105 Ebenda, Bl. 41 f.; Schreibweise des Namens ist in den staatlichen Akten mit Lembke wiedergegeben. Hier wird die in den kirchlichen Unterlagen belegte Schreibweise verwandt. Nach: Taschenbuch der Evangelischen Kirchen in Deutschland, Bd. III (Die Landeskirchen in der Deutschen Demokratischen Republik und in Berlin), 1958. Hg. v. Evangelischen Verlagswerk, Stuttgart 1958, S. 163. 106 Ebenda, Bl. 43. 107 Aktennotiz des Leiters der Abteilung Kultur und Volksbildung beim Rat der Stadt Rostock, Peters, Rostock, 27.8.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AS, Nr. 101/76, Bl. 39; Plakat, ebenda, Bl. 13. 108 Schreiben U. Trötzscher, Berlin-Friedrichshagen, ohne Adresse, betr.: Pfarrer Dr. Gloede, [Adresse], 3.8.1961: BStU, MfS, HA XX, AP, Nr. 22192/92, Bl. 35. 109 Aktennotiz des Leiters der Abteilung Kultur und Volksbildung beim Rat der Stadt Rostock, Peters, Rostock, 27.8.1960: BStU, MfS, BV Rostock, AS, Nr. 101/76, Bl. 39; Plakat, ebenda, Bl. 13.

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Zeichen des zu überwindenden christlichen Glaubens den architektonischen Paukenschlag stören würde. 110 Doch ging die Sprengung, die am 12. August 1971 erfolgte, anders als von der SED erhofft, nicht ohne Proteste vonstatten. Zuvor hatte es in der DDR 1968 bereits Proteste gegen die Sprengung der Leipziger Universitätskirche und in Potsdam gegen den Abriss des Turms der Garnisonskirche mit der hier eingebauten Heilig-Kreuz-Kapelle gegeben. 111 In Rostock wandten sich nicht nur Katholiken mit Beschwerden und Eingaben an die zuständigen kommunalen und staatlichen Stellen. Hinzu kamen verschiedene Wortmeldungen aus der Bevölkerung und von Architekturinteressierten. 112 Bis zum 17. März 1969 gingen bei den staatlichen und städtischen Stellen insgesamt dreißig Protestschreiben und Eingaben ein. Unter ihnen befand sich ein Brief der evangelischen Pfarrer mit 23 Unterschriften. Nach Ansicht der SED-Bezirksleitung stelle dieser »nichts anderes [dar], als eine Unterstützung des frechen Protestes der Katholischen Kirche, durch den die Situation noch mehr angeheizt werden soll«. 113 Die Proteste reichten von der Bitte um den Erhalt der Kirche, über das Unverständnis an einer Planung, die den Durchgangsverkehr durch das Stadtzentrum führe, bis hin zur Fachkritik zweier Ingenieure, die einwandten, dass es nicht einmal einen Flächennutzungsplan für das Areal gäbe. Die Texte ließen keine Zweifel an der Enttäuschung und Wut angesichts des brachialen Eingriffs in die gewachsene Stadt- wie Gemeindestruktur. Der Abriss, so einer der Eingabenschreiber, erinnere ihn an die Synagogen, die in Flammen« aufgingen und sei unmissverständlich ein Beleg für die Verhältnisse im SED-Staat – »das Kreuz [...] mußte weichen [...] Ge-

110 Zur Christuskirche: Diederich, Georg M.: Aus den Augen. Aus dem Sinn. Die Zerstörung der Rostocker Christuskirche 1971. 2. Aufl., Rostock 1997, S. 223–234; Ders.: Die Sprengung der Rostocker Christuskirche vor 25 Jahren. Fakten und Hintergründe. In: DA 29 (1996) 4, S. 560–568; »Mahnmal für 1971 gesprengte Kirche. Am 22.10. wird in Rostock ein Denkmal für die Christuskirche geweiht«. In: MPKZ, 64. Jg., Nr. 42, 18.10.2009, S. 8; Pergande, Frank: Rostock. Eine Scheibe Erinnerung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 244, 21.10.2009, S. 2; Christuskirche. Katholische Gemeinde in Rostock im Wandel der Zeit. Geschichte der Christusgemeinde und ihrer Kirche in Bildern und Texten. Hg. v. Heinrich-Theissing-Institut Schwerin, Schwerin 2010; »Zerbombt, gesprengt und neu. Buch zeigt die bewegende Geschichte der Christusgemeinde in Rostock«. In: MPKZ, 66. Jg., Nr. 3, 23.1.2001, S. 8. 111 Wendland, Christian: Die Potsdamer Hof- und Garnisonskirche – Stationen eines wiederholt missbrauchten Kirchenbaus. In: Bingen, Dieter; Hinz, Hans-Martin (Hg.): Zerstörung und Wiederaufbau historischer Bauten in Deutschland und Polen (Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt; Bd. 20). Wiesbaden 2005,S. 152–164. Halbrock, Christian: Mit der Abrissbirne in die neue Zeit. In: HuG, 21 (2012) 3, Nr. 77, S. 18–23; Welzk, Stefan: Leipzig 1968. Unser Protest gegen die Kirchensprengung und seine Folgen (Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen; 11). Leipzig 2011. 112 Diederich, Georg M.: Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Zerstörung der Rostocker Christuskirche 1971. 2. Aufl., Rostock 1997, S. 126. 113 Ebenda.

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walt ging vor Recht«. 114 Eine anderer bezeichnete den »Abbruch von Kirchen« als »›schwarzen Ruhm‹«, den man lieber »den Synagogenschändern von 1938 überlassen« solle. Rostocks Oberbürgermeister Heinz Kochs reagierte irritiert und bestellte am 10. März per Kurierdepesche drei der profiliertesten Beschwerdeführer für den kommenden Tag zu einer »Aussprache« ein. Die zu ihm zitierten Ingenieure Alfons und Franz May sowie der spätere Diakon Paul Kaiser ließen sich nicht einschüchtern. Dies trotz der unverhohlenen Drohung des Bürgermeisters, die Angelegenheit gegebenenfalls »an andere Stellen« weiterleiten zu wollen. Die »Aussprache« bewies, dass sich die Christuskirche nicht ohne Proteste würde beseitigen lassen. Auch um die Position von Kardinal Alfred Bengsch, der sich um ein einvernehmliches Verhältnis zur SED bemühte, innerhalb der Kirche nicht weiter zu schwächen, versprach Kochs, einen Ersatzbau zu errichten. 115 Jener entstand an einem städtebaulich wenig spektakulären Ort versteckt hinter dem Alten Friedhof am Borenweg/Häktweg. Er wurde als Schalen-Betonbau errichtet. Der Grundstein für das neue Gemeindezentrum wurde am 16. September 1970 gelegt, die Einweihung fand am 12. Juni 1971 statt. Der Bau konnte nur zum Teil über die Entschädigungssumme finanziert werden. 116 Als 1973 ein Eckturm am Querschiff der Georgenkirche in Wismar gesprengt wurde und 1977 das Notdach über dem Mittelschiff gänzlich einstürzte, machte sich abermals Unmut breit. In Wismar sprach man mit Entsetzen darüber, dass staatliche Stellen den Abriss erwogen. Besorgte Stadtbürger überlegten, wie sich die altehrwürdige Hafenstadt vor weiteren Zerstörungen bewahren ließe. Neben dem Engagement in der Kirche spielten hanseatisches Selbstbewusstsein und bürgerliche Resistenz dabei ebenso eine Rolle. Gedacht wurde auch an den Abriss der nahen Marienkirche 1960 und die verschwundenen Kirchen in Rostock. Die Methoden, die die SED anwandte, waren hinlänglich bekannt: nach der jahrelangen Behinderung der anstehenden Ausbesserungsarbeiten und der Nichtgewährung von Material und Baubilanzen verwiesen die offiziellen Stellen gewöhnlich auf den fortschreitenden Verfall und drängten darauf, aus baupolizeilichen Gründen den Abriss vorzunehmen. Hilfe kam diesmal aus dem Westen: 1987 wurde in Lübeck, der Partnerstadt Wismars, der »Förderkreis St. Georgen zu Wismar« ins Leben gerufen. Fortan bot der Verein seine Hilfe zum Erhalt der Kirche an. Die Deviseneinkünfte,

114 Ebenda, S. 107 f. 115 MfS, ZAIG, (Bericht) Reaktionen unter leitenden katholischen Geistlichen der DDR zum geplanten Abriß der katholischen Christus-Kirche in Rostock, Berlin, 24.2.1969: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 1656, Bl. 1–6. 116 Diederich, Georg M.: Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Zerstörung der Rostocker Christuskirche 1971. 2. Aufl., Rostock 1997, S. 173, 178, 180 u. 193.

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die der valutaklammen DDR so unverhofft zufielen, retteten die Georgenkirche über den Herbst 1989 hinaus und ermöglichten deren Wiederaufbau. 117 Der Kampf um kirchliche Räume in den Neubaugebieten und das Ringen um den Erhalt von gefährdeten Kirchen erwiesen sich als Dauerthemen im spannungsreichen Verhältnis von Staat und Kirche. Die Kirche erfuhr dabei auch Unterstützung von Menschen, die der Kirche eher fremd gegenüberstanden. Der situationsbezogene Widerspruch erwiese sich als Teil einer Protestkultur, die mit den evangelischen Kirchen assoziiert wurde und hier in Teilen ihre Basis und ihren Rückzugsraum fand.

5.4

Dauerthema Flucht als Widerstand? Kein Recht auf Reisefreiheit und Flucht über die Häfen

Eine politische Geschichte des Bezirks Rostock lässt sich kaum erzählen, ohne auf die Grenze, die die Ostsee auch darstellte, die Kontrollen und vielen Fluchtversuche einzugehen. Unter den Besonderheiten des Untersuchungsgebietes zählen diese zu den wohl markantesten. Die in regelmäßigen Abständen entlang der Küste stehenden Grenztürme, die Scheinwerfer, die nachts das Meer absuchten und die allgegenwärtigen Patrouillenboote, die Flüchtende aufhalten sollten, sind vielen, die hier zu DDR-Zeiten ihren Urlaub verbrachten, als weniger erfreulich in Erinnerung geblieben. Nicht nur die DDR, sondern das kommunistische Jahrhundertexperiment der Umerziehung der Bevölkerung zu neuen Menschen stieß hier entlang der Ostsee an ihre sichtbaren Grenzen. Voller Stolz berichteten die SED-Zeitungen zwar über Rostock und seinen Hafen und sprachen dabei stets vom »Tor zur Welt«. In der Praxis verschwand dieser – wie die anderen Häfen auch – hinter Stacheldraht und Sperranlagen. Sie galten von ihrem Status her als Grenzgebiet. Dies galt ebenso für die Fähranleger nach Skandinavien in Warnemünde und Saßnitz. Sie wurden nicht nur besonders gesichert. Zugleich galten sie als neuralgische Punkte im System der Grenzsicherung. Wer die Losung vom »Tor zur Welt« allzu wörtlich nahm und ohne Zugangspapiere angetroffen wurde, dem drohte die Festnahme. Probleme bereiteten der Staatssicherheit insbesondere die Fähranleger in Warnemünde und Saßnitz. Vor den Augen der Urlauber verkehrten hier die Fähren nach Gedser in Dänemark bzw. Trelleborg in Schweden. Zum Fernweh trat der Blick auf die Sperr- und Grenzanlagen. Deutlich wurde hier, welches Recht den meisten DDR-Bewohnern vorenthalten blieb. Wenig sensi117 Sens, Ingo; Hackbarth, Martin: Das Unmögliche wagen. Der Förderkreis St. Georgen zu Wismar von den Anfängen bis zur Gegenwart. Kiel 2013, S. 20 f., 24 und 29. Am 7. Juli 1988 entstand daraus der »Förderkreis St. Georgen zu Wismar e.V.«

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bel nannten die Saßnitzer jenen Sehnsuchtsort, von dem aus »man die Fähren und Grenzanlagen am besten« einsehen konnte und an dem sich regelmäßig im Sommer Urlauber aus den Südbezirken einfanden, »Sachsenblick«. 118 An die »von Saßnitz an der Ostseite der Insel« Rügen »zweimal täglich [...] nach Trelleborg« als Sehnsuchtsschiff vorbeiziehende Schwedenfähre erinnerte sich auch Claudia Rusch in ihrem 2003 erschienenen Rückblick »Meine freie deutsche Jugend«. Immer wieder stellte sie sich mit ihrer Mutter vor, »eines Tages [...] mit dieser Fähre« übers Meer zu fahren. 119 Hingegen geriet bereits jeder in Verdacht, der die Fähranlagen erkundete oder fotografierte. Am 23. August 1968 inhaftierte die Polizei in Saßnitz zwei Jugendliche aus Wolgast, weil sie das Hafengelände fotografierten. Man warf ihnen vor, »die DDR illegal per Schiff über das Hafengelände Saßnitz verlassen« zu wollen. Sie wurden an das MfS übergegeben, angeklagt und zu fünfzehn bzw. achtzehn Monaten Freiheitsentzug verurteilt. 120 Doch blieben die Kontrollen in den Hafenstädten, die von internationalen Reedereien angelaufen wurde, häufig unvollkommen. Den Behörden war dieses bewusst. Mit Sorge schauten sie auf das unübersichtliche Treiben. Westlichen Schiffsbesatzungen konnte nach internationalen Gepflogenheiten der Landgang kaum verwehrt werden. Hieraus ergaben sich Kontaktmöglichkeiten, die es nach den Vorstellungen der für die Sicherheit Verantwortlichen nicht hätte geben dürfen. Eine Angestellte der Universität Jena traf sich, wie der Staatssicherheitsdienst beizeiten erfuhr, so seit 1965 wiederholt mit ihrem Freund in Rostock. 121 Dieser heuerte, um seine Freundin gelegentlich zu sehen, 1964 bei der »westdeutschen Handelsflotte« an und nutzte »die Aufenthalte im Rostocker Hafen« für die gemeinsamen Treffen. Solcherlei Begegnungen wurden vom Staatssicherheitsdienst argwöhnisch beobachtet, konnten jedoch nicht unterbunden werden. Im Januar 1969 überwand die Angestellte aus Jena in Berlin die Mauer und gelangte so in den Westen. 122 Unabhängig davon, welche Gründe der Flucht konkret zugrunde lagen, so gehörten das Fernweh, das sich in der Nähe der Ostseehäfen oder ebenso am Strand einstellte, und die Flucht über die Ostsee zusammen. Wer floh, fand auf das Fernweh in den Augen vieler seine ganz persönliche Antwort. Hinzu kam die sportliche Leistung, wenn es jemand schwimmend oder per Paddel118 Kramer, Wolfgang; Kramer, Reinhard; Foerster, Horst-Dieter: Zwischen Gestern und Morgen. Die Fährverbindung Sassnitz-Trelleborg. Rostock 2009, S. 145. 119 Rusch, Claudia: Meine freie deutsche Jugend. Frankfurt/M. 2003, S. 10. 120 MfS, HA IX, Rapportmeldung/Lagefilm vom 23.8.1968: BStU, MfS, HA IX, MF–1239, Bd. I, Bl. 30. 121 Bezirksverwaltung der Deutschen Volkspolizei Gera, Abteilung K, Dezernat II, Aufstellung über Täter, die seit dem 01.01.1968 die Deutsche Demokratische Republik ungesetzlich verließen und in der Friedrich-Schiller-Universität Jena tätig waren, Gera, 15.10.1970: BStU, MfS, HA IX, Nr. 166, Bl. 30–34, hier 32. 122 Ebenda.

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boot »auf die andere Seite« geschafft hatte. Die Frage des Weggehens oder Bleibens, die in der DDR viel diskutiert wurde und Menschen entzweite, erhielt hier eine andere, weit positivere Konnotation als an den anderen Grenzen des Landes oder in der Frage um den Ausreiseantrag: Durch die sportliche Leistung erlangten die, die es geschafft hatten, Anerkennung und Respekt, ohne dass dieses je eingefordert werden musste. Wer flüchtete, verletzte die Gesetze der DDR und widersetzte sich in diesem Sinne dem ideologisch-politischen und strafrechtlichen Normensystem der DDR. Er leistete Widerstand, auch wenn er hierfür eine eigene, vor allem individuelle Antwort und Lösung auf die ihn beschäftigenden Frage fand. Die naturgegebene Motivlage entlang der Küste, die immer wieder als Vorlage nicht nur für die Sehnsucht nach Weite, Ferne und Unbegrenztheit, sondern in diesem Sinne auch als gesellschaftliche Metapher diente, zog jene Normen, Maßstäbe und Gesetze in Zweifel, die den individuellen Bewegungsraum mittels einer willkürlich geschaffenen Trennlinie einzugrenzen trachtete. Plastisch griff der Maler Christoph Wetzel jene Metapher bereits 1974 in seinem Bild »Am Strand«, das als Replik auf Caspar David Friedrichs »Mönch am Meer« entstand und in der Rostocker Kunsthalle ausgestellt wurde, auf. 123 Nur wenigen von denen, die es versuchten, gelang tatsächlich die Flucht über die Ostsee: Von 1983 bis 1989 schafften es 26 Flüchtlinge. Hingegen wurden 165 Menschen »auf offener See« und 117 bereits am Strand festgenommen. 124 Am Beispiel der DDR-Häfen soll hier kurz auf die Fluchtversuche und die Folgen, die denen drohten, die festgenommen wurden, eingegangen werden. Bereits im Vorfeld gab es auch hier Überwachung und Kontrollen. Am 8. September 1961 »gegen 1.35« Uhr nahm so ein Betriebswachmann beim »Streifengang an der HO-Verkaufsstelle [...] im VEB Fischkombinat Saßnitz« einen Elektromechaniker fest. Laut Festnahmeprotokoll des Volkspolizeikreisamtes Rügen gab er an, sich die um 4 Uhr einlaufende Fähre ansehen zu wollen. Man glaubt ihm nicht. In seiner Aktentasche fand man 260 Mark Bargeld und sein Sparbuch. Damit galt er als überführt. Wie man bei der Vernehmung erfuhr, war er »an der neuen Stützmauer [...] durch den Zaun gestiegen«, um in einem Waggon auf das Fährschiff zu gelangen. 125 Der Verhaftete kam in Untersuchungshaft. Am 21. Dezember 1961 verurteilte man 123 Erichsen, Johannes (Hg.): Tausend Jahre Mecklenburg. Geschichte und Kunst einer europäischen Region. Rostock 1995, S. 554. 124 Sielaff, Rüdiger: Fluchtende vor Fluchtbeginn. Versuche der »vorbeugenden Verhinderung« durch das Ministerium für Staatssicherheit. In: Lautzas, Peter (Hg.): Grenzenlos? Grenzen als internationales Problem. Schwalbach 2010, S. 36–69, hier 50. 125 Protokoll des Volkspolizei-Kreisamtes Rügen, BS/K Fischkombinat Saßnitz, betr.: Festnahme einer betriebsfremden Person auf dem Gebiet des VEB Fischkombinates Saßnitz am 8.9.1961 um 01.35 [Uhr] durch die Betriebswache, Saßnitz, 8.9.1961: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 106/61, Bd. I, Bl. 8 f. MfS, BV Neubrandenburg, Untersuchungsabteilung, Verfügung, Neustrelitz, 8.9.1961: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 106/61, Bd. I, Bl. 6.

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ihn zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. 126 Keine Rolle in dem Verfahren spielte ein Schreiben des Direktors des Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie. Mit ihm wandte sich der Arzt aus eigener Initiative an den Bezirksstaatsanwalt. Er wies den Staatsanwalt darauf hin, dass der Inhaftierte »mit größter Wahrscheinlichkeit [...] unter dem Einfluß seiner Geisteskrankheit gehandelt hat«. Jene sei, so der Arzt, als »akut« zu bezeichnen. 127 Der Verurteilte gelangte ins Haftarbeitslager Schwarze Pumpe. Am 10. Januar 1962 wurde er entlassen. Zuvor hatte man seine Reststrafe in eine dreijährige Bewährung umgewandelt. 128 Am 16. Juni 1965 gelang einem neunzehnjährigen Jugendlichen in Saßnitz die Flucht über die Ostsee: Er schwamm von der Mole aus in den sowjetischen Marinehafen, tauchte unter drei Militärschiffen hindurch und erreichte so die am Fährterminal liegende schwedische Fähre »Trelleborg«. Von der Wasserseite aus zog er sich in der Dämmerung an der Außenbordwand hoch auf das offene Deck. Hier verbarg er sich und meldete sich nach dem Ablegen noch innerhalb der Territorialgewässer der DDR beim schwedischen Schiffsoffizier. Dieser versteckte den Flüchtling bis zum Erreichen der internationalen Gewässer in einer Kajüte und versorgte ihn mit trockener Kleidung. 129 Im April 1966 kehrte der Flüchtling unverhofft in die DDR zurück, weil er in Schweden nicht klargekommen war. Nun erfuhr auch die Stasi Genaueres über die ungewöhnliche Flucht. »Die Besatzung der schwedischen Fähre« hätte ihm, so hielt es das Protokoll fest, Beihilfe geleistet, »um aus dem Hafen Saßnitz herauszukommen«. 130 Der Leiter Bezirksverwaltung, Alfred Kraus, schaltete daraufhin die Berliner Zentrale ein. Kraus schlug vor, das Verkehrsministerium zu drängen, bei der schwedischen Fährschiffverwaltung Protest einzulegen. Schließlich – so Kraus – »hätten« der Kapitän und seine Offiziere »die Möglichkeit gehabt, den Flüchtling von Bord zu weisen«. 131 Dem Flüchtling geriet seine Rückkehr zum Verhängnis: Das Bezirksgericht Rostock verurteilte ihn am 8. November 1966 zu drei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus, die drei 126 Urteil der Strafkammer des Kreisgerichtes Templin, Templin, 29.12.1961: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 106/61, Bd. II, Bl. 62–67. 127 Schreiben des Ärztlichen Direktors des Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie Eberswalde, an den Bezirksstaatsanwalt Neubrandenburg, Eberswalde, 12.9.1961: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 106/61, Bd. I, Bl. 34. 128 Kreisgericht Templin, Beschluss in der Strafsache gegen [Name] wegen Passvergehens, Templin, 12.12.1962: BStU, MfS, BV Neubrandenburg, AU 106/61, Bd. III, Bl. 18. 129 Halbrock, Christian: Grenzraum Ostsee, Operationsgebiet Schweden. Das Verhältnis DDRSchweden. In: Zr. 11 (2007) 1, S. 56–70, hier 63. 130 MfS, BV Rostock, Schreiben des Leiters der BV Rostock, Oberst Kraus, an den Stellvertretenden Minister für Staatssicherheit, Generalmajor Schröder, betr.: Republikflucht mit dem schwedischen Fährschiff »Trelleborg«, Rostock, 6.4.1966: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter der BV, Nr. 103, T. 2, Bl. 523 f. 131 Ebenda.

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Jahre später, Ende Oktober 1969, zur Bewährung ausgesetzt werden sollte. 132 Im Prozess warf man ihm vor, in Lübeck im Aufnahmeverfahren allzu unbefangen auf die ihm vorgelegten Fragen geantwortet zu haben. So beschuldigte man ihn, »westdeutsche Dienststellen [...] über militärische Objekte der NVA und über Schiffe der VM [Volksmarine] [...] und interne Betriebsvorgänge im VEB Fischkombinat Saßnitz« informiert zu haben. 133 Woher die Angaben zum Aufnahmeverfahren stammten, blieb im Unklaren. In Bedrängnis geriet er zudem aufgrund seines Verhaltens im DDR-Rückkehrer-Aufnahmeheim Pritzier. Knapp drei Wochen musste er hier verbringen. Gegenüber anderen Heiminsassen, so lautete der schwerwiegende Vorwurf, habe er sich über »die pol[itischen] und ökonomischen Verhältnisse in der DDR« lustig gemacht. Das MfS sprach in diesem Zusammenhang wie stets von Verleumdung. 134 Offensichtlich war er denunziert worden. Auch in anderen Häfen kam es immer wieder zu Fluchtversuchen: In Wismar nahm man im Oktober 1961 einen Arbeiter fest, dem nach den Erkenntnissen der Staatssicherheit ausländische Seeleute zur Flucht verhelfen wollten. Der aus Kühlungsborn stammende Mann wurde zu einem Jahr Haft verurteilt. 135 Gleich vierzehn Ostdeutsche sollten am 8. September 1963 auf der Fähre nach Gedser festgenommen werden: Sie gehörten zu einer Gruppe, denen die Fluchthilfeorganisation Girrmann mittels fingierter Pässe die Ausreise über den Grenzhafen Warnemünde ermöglichen wollte. Ein in die Gruppe eingeschleuster Spitzel sorgte dafür, dass die Flucht scheiterte. 136 In der Nacht zum 14. Oktober 1966 gelang es einer Frau aus Leipzig, die DDR über Warnemünde Richtung Dänemark zu verlassen. Sie nutze die Gutgläubigkeit einer Reisenden aus Syrien aus. Im Berliner Hotel »Adlon« ließ sie sich von der Frau unter dem Vorwand, sich um ihre Rückreisepapiere kümmern zu wollen, die Personaldokumente aushändigen. 137 So jedenfalls stellte sich für die Staatssicherheit der Vorgang nach der Befragung der Syrerin dar. Hingegen scheiterte ein weiterer Fluchtversuch im August 1968: In Haft gerieten zwei Schülerinnen aus Dresden, die in Dierhagen zelteten. Bei einem Ausflug nach 132 MfS, BV Rostock, Abt. XII, Auskunftsbericht/Kurzauskunft aus Archivmaterial, Rostock, 6.5.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2020/67 H, ohne Pag. 133 Ebenda. 134 Ebenda. 135 Bezirksdirektion der Deutschen Volkspolizei Rostock, Abteilung K, Einsatzgruppe, Vernehmung eines Zeugen, [Name], Kühlungsborn, 18.4.1963: BStU, MfS, HA XX, Nr. 4884, Bl. 157 f. 136 MfS, HA V/5, Auswertung, Information 40/63, Berlin, 17.7.1963: BStU, MfS, HA XX, Nr. 4884, Bl. 99–101; Bericht des IM Fischer der Verwaltung Groß-Berlin vom 25.6.1963: BStU, MfS, HA XX, Nr. 4884, Bl. 92. Gieffers, Susanne: Studentische Fluchthilfe 1961–1963/64. Die »Girrmann-Gruppe«. Magisterarbeit an der Freien Universität Berlin, Fachbereich Geschichtswissenschaften. Berlin 1997; Detjen, Marion: Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961–1989. München 2005, S. 179. 137 MfS, HA IX, (Bericht) Liquidierung feindlicher Stützpunkte auf dem Gebiet der DDR im Monat Oktober 1966, Berlin, 17.11.1966: BStU, MfS, HA IX, Nr. 11277, Bl. 9.

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Rostock traf eine der beiden auf einen Matrosen, dem sie meinte, vertrauen zu können. Er lud sie ein, sich an Bord des DDR-Schiffes »Dornbusch« umzusehen. Mit ihrer Freundin begab sie sich zwei Tage später, am 14. August, erneut nach Rostock, um mit Hilfe des Matrosen an Bord zu gelangen. Zusammen wollten sie sich im Laderaum verstecken. Sie vertrauten auf die vollmundige Zusicherung des Matrosen und eines seiner Kollegen, sich für sie verwenden zu wollen. Der Plan scheiterte. Von der Courage der beiden Mädchen überrascht und über den nun eingetretenen Ernstfall erschrocken, entpuppten sich die Matrosen nun als von ihrer Angst getriebene Schwindler. Sie denunzierten die beiden Abiturientinnen bei der Hafenpolizei. Die beiden Schülerinnen sollten in Dresden angeklagt und zu sechzehn Monaten Haft verurteilt werden. Unter der Auflage von zu leistenden »Sozialstunden« wurden sie nach elf Monaten Gefängnis entlassen. 138 Ein ähnlicher Versuch einer Kellnerin aus Rostock scheiterte am 24. Januar 1972 im Überseehafen Rostock. 139 Drei Tage später, am 27. Januar, nutzte ein zur Kontrolle der Gleisbrücke an der Schweden-Fähre in Saßnitz eingesetzter Marinesoldat die Gunst der Stunde. Er ging, während die Fähre ablandete, »in Uniform, mit MPi und Munition« mit an Bord. Die anfängliche Überlegung, die Fähre innerhalb der Territorialgewässer der DDR zu stoppen, wurde vom Kommando der Volksmarine verworfen: Zu hoch schien den Verantwortlichen das Risiko diplomatischer Verwicklungen zu sein; zudem stellte der Waffenbesitz des flüchtigen Soldaten ein hohes Sicherheitsrisiko dar. 140 Anfang Oktober 1975 nahmen die Kontrolleure an der »Grenzübergangstelle« zur Fähre in Warnemünde drei Flüchtlinge fest. Sie hatten sich in einem eigens dafür präparierten bundesdeutschen »Daimler-Benz«-Lastwagen versteckt. Mittels einer von ihren Helfern ausgeknobelten Vorrichtung ließ sich »durch [die] Betätigung des Knopfes in der rechten Kennzeichenleuchte [...] [der] Zollverschluss ungesetzlich« entfernen, »ohne daß [...] die Zollplombe verletzt« wurde. Die in einer Transportkiste im Laderaum verborgenen Flüchtlinge wurden trotzdem entdeckt. 141 Am 29. Oktober 1978 gelang im Wismarer Hafen erneut eine Flucht. Der Chef der MfS-Bezirksverwaltung, Oberst Rudolf Mittag, drängte daraufhin abermals »die Direktoren der Seehäfen [...] die Mängel abzustellen«. Mittag ersuchte die Verantwortlichen in Rostock, »die Umzäunung der neuen Ro-Ro138 MfS, BV Rostock, KK-Deliktekartei, Ablage: verhinderte Grenzdurchbrüche; »Gegen das Vergessen. Freya Klier saß in der DDR mehrfach im Gefängnis. Am Theodor-Fliedner-Gymnasium sprach sie über ihre Erfahrungen«. In: Neue Ruhr Zeitung, 9.11.2010, S. 13. 139 MfS, HA IX, Rapportmeldung vom 24.1.1972, Nr. 10043: BStU, MfS, HA IX, Nr. 18830, Bl. 59. 140 MfS, HA IX, Rapportmeldung vom 27.1.1972: BStU, MfS, HA I, Nr. 105, Bl. 29–45. 141 MfS, BV Rostock, Untersuchungsorgan, Bildbericht zum Untersuchungsvorgang [Name] und andere, Rostock, 16.10.1975: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. IX, Nr. 29, Bl. 1–12.

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Anlage [...] weit genug in die Warnow« zu führen bzw. in Wismar zwischen Tonnenhof und Ölhafen in das Wasser »um mindestens 5 m« zu verlängern. »Eine Umgehung auf Grund des wechselhaften Wasserstandes« müsse so verhindert werden. Gefährdete Kaianlagen und schwer einsehbare Bereiche sollten mit neuen zehn Meter hohen Zäunen gesichert, die Anzahl der Wachen erhöht und im »Bereich des Gleiseinlaufes der Hafenbahn zum Überseehafen« in Rostock ein Postenturm errichtet werden. 142 Manch ein Flüchtling trat die Flucht an, ohne einen Erfolg versprechenden Plan zu haben oder verriet sich durch seine Ungeschicklichkeit selbst. Der zuvor konsumierte Alkohol beflügelte zwar die Entscheidungsfreude, zur Tat zu schreiten. Die erforderliche Vorsicht blieb hingegen gelegentlich auf der Strecke: Nach dem Besuch der Kneipe »Nordland« begab sich am 27. Dezember 1978 kurz vor Mitternacht ein Achtundzwanzigjähriger in Stralsund zum Hafen. Zuvor hatte er im »Nordland« mehrere alkoholische Getränke konsumiert; als Blutalkoholwert wurden später 2,4 Promille ermittelt. 143 Erfolgreich überkletterte er zwei Stacheldrahtabsperrungen. Doch befand sich im Hafen kein westliches Schiff, das ihm bei der Flucht als Versteck hätte dienen können. Im Hafen lagen lediglich Schiffe ostdeutscher Reedereien. Mit den Worten, »so eine Scheiße, im ganzen Hafen keine Westgermanen, nimm mich fest, ich will abhauen«, sprach er mehrere Arbeiter und Matrosen an. Beim Versuch das Hafengelände wieder zu verlassen, wurde er schließlich festgenommen. 144 Das Kreisgericht Stralsund-Stadt verurteilte den Achtundzwanzigjährigen am 21. März 1979 zu einem Jahr und sechs Monaten Haft. 145 Die Alkoholtat hatte eine profunde Vorgeschichte: Den staatlichen Stellen war der Verurteilte kein Unbekannter. Als Mitglied einer Gruppe von Antragstellern nahm er regelmäßig an den Treffen des Kreises im »Nordland« teil. In »verleumderischer Form«, so hieß es, hätte er sich wiederholt »abfällig« über die DDR ausgelassen, die »Beseitigung der ›Mauer‹« gefordert und sich über die »Scheißrussen« aufgeregt. Mit der Begründung, dass er den »Kaschubenvölkern« sein Geld nicht »in den Rachen werfen« wolle, verweigerte er seit Monaten die vom FDGB im Betrieb erhobenen Solidaritätsbeiträge. Mit seinem Ausreiseantrag sandte er bei der Abteilung Inneres zugleich seinen Personalausweis ein. Er wolle, wie er schrieb, diesen »nicht länger als [...] Legitima142 MfS, BV, Information Nr. 68/78 über Mängel und Unzulänglichkeiten in der Absicherung der Seehäfen, Rostock, 13.12.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 173, Bd. I, Bl. 7–10; RoRo (von englisch: Roll on Roll off) bedeutet, dass die Ladung im und mit Transportfahrzeug (Lkw, Waggon) auf das Schiff gefahren wird. 143 Strafkammer des Kreisgerichtes Stralsund-Stadt, Urteil, Hauptverhandlung am 21.3.1979, Stralsund, 22.3.1979: BStU, MfS, BV Rostock, AU 980/79, Bd. III, Bl. 53–57; Der Staatsanwalt der Stadt und des Kreises Stralsund, Az. 221–58–79, an das Kreisgericht, Strafkammer, Stralsund-Stadt, Anklage, Stralsund, 28.2.1979 (ebenda), Bl. 18–20. 144 Ebenda. 145 Ebenda.

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tionsurkunde anerkennen«. So betrachte er sich »nicht mehr als Bürger der DDR«. 146 In seiner Freizeit engagierte er sich in vielfältiger Weise. Manch einem war er als Gitarrist der Rockband »Union« ein Begriff. Mittels eines Schriftenvergleichs unter den Untersuchungshäftlingen überführte ihn die Staatssicherheit einer weiteren Tat. Zusammen mit seiner Frau hatte er 1978 das im »Spiegel« veröffentlichte »Manifest des Bundes Demokratischer Kommunisten Deutschland« handschriftlich vervielfältigt. 147 Die Kopie verlieh er gelegentlich. Das MfS fand die eng beschriebenen zwanzig Seiten schließlich bei einer konspirativen Wohnungsdurchsuchung. 148 Nach mehreren Monaten Haft und der vorzeitigen Entlassung infolge einer Amnestie gestattet man ihm im April 1984 die »Übersiedlung in die BRD«. 149 Auch wenn die Zahlen für die Jahre 1979 bis 1989 lückenhaft sind, so vermitteln sie doch einen Eindruck von den Fluchtversuchen in den Häfen mit internationalem Schiffsverkehr. Als GÜST, Grenzübergangsstellen, allesamt eingestuft, erfreuten sie sich der besonderen Fürsorge der DDR-Behörden. Im Jahre 1979 erfolgte so die Festnahme von drei Flüchtlingen im Fährhafen von Warnemünde, 1981 gab es drei Festnahmen in Wismar und zwei in Warnemünde. Am 13. Januar 1982, kurz nach 18 Uhr, fand ein Grenzkontrolleur in Warnemünde einen zweiundvierzigjährigen Mann, der sich in das Fahrgestell eines ungarischen Fernlasters hineingezwängt hatte. Der Mann aus Warnemünde kauerte kurz hinter dem Auflieger im Fahrgestell der Zugmaschine des »Hungarocamion Budapest« Transporters. 150 1985 kam es zu einer weiteren Festnahme in Warnemünde. 1986 waren es in Warnemünde sechs sowie zwei im Stadthafen von Rostock bzw. eine in Saßnitz. 151 Ein Zwischen146 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Eröffnungsbericht, Stralsund, 16.1.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 1008/79, Bl. 1–9, hier 5 f. 147 »›Wir sind gegen die Einheitsparteien-Diktatur‹. Das Manifest der ersten organisierten Opposition in der DDR«. In: Der Spiegel, Nr. 1, 2. Januar 1978, S. 21–24. »Die innere Situation der DDR. Das Manifest der Opposition, 2. Teil«. In: Der Spiegel, Nr. 2, 9. Januar 1978, S. 26–30. Das Manifest ist ebenfalls – mit Hintergrundinformationen über seine Entstehung und Rezeption – dokumentiert in: Geppert, Dominik: Störmanöver. Das »Manifest der Opposition« und die Schließung des Ost-Berliner »Spiegel«-Büros im Januar 1978. Berlin 1996, S. 161–185. 148 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Schreiben an das MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Schriftenüberprüfung zum übersandten Hetzmaterial »Material des BDKD«, Rostock, 28.5.1979: BStU, MfS, BV Rostock, AU 980/79, HA , Bd. I, Bl. 185 f.; Schreiben des MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Leiter, an das MfS, BV Rostock, Abt. IX, Genosse Greiner, betr.: OV »Verleumder«, Stralsund, 21.8.1979: BStU, MfS, BV Rostock, AU 980/79, HA, Bd. I, Bl. 187. 149 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Abschlussbericht zur OPK »Stufe«, Reg.-Nr. I/1145/81, Stralsund, 7.8.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 2337/84, Bl. 201–203, hier 202. 150 MfS, BV Rostock, Untersuchungsorgan, Bildbericht zum Ordnungsstrafverfahren gegen den Bürger der DDR [Name], [Vorname], geb. am [Datum], Rostock, 15.1.1982: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. IX, Nr. 28, Bl. 1–7. 151 MfS, ZAIG, Übersicht über die Ermittlungsverfahren im MfS im Jahre 1985 (im Vergleich zu 1984) sowie MfS, ZAIG, Übersicht über die Ermittlungsverfahren im MfS im Jahre 1986 (im Vergleich zu 1985): BStU, MfS, ZAIG, Nr. 13913, Bl. 45 f. und 67 f.; MfS, HA IX, Übersicht über

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fall, der vor internationalem Publikum demonstrierte, dass das »Tor zur Welt« nicht jedem offenstand, ereignete sich am 29. Januar 1981 in Warnemünde. Der dreißigjährige Bassgitarrist einer Rockgruppe aus Leipzig hatte mit einer »Demonstrativhandlung« die Sicherheitsbeamten zuvor herausgefordert. Vor der »Grenzübergangsstelle« zerriss er »seinen Personalausweis« und forderte »seine sofortige Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR«. Zugleich erklärte er den Polizisten, »nicht eher das Gelände der Grenzübergangsstelle verlassen« zu wollen, »bis ihm die Genehmigung« zur Ausreise »erteilt worden« sei. 152 Er wurde festgenommen und inhaftiert. Am 5. Mai 1985 gelang es einem 21-jährigen Jugendlichen aus dem Bezirk Erfurt in Warnemünde, sich unbemerkt über das Bahngelände auf die Fähre zu schleichen; im selben Jahr scheiterte der Versuch eines Marinesoldaten, sich auf einem Fährschiff zu verstecken. Am 20. Mai 1989 fand der Zoll in Saßnitz einen Flüchtling im Hohlraum eines Trucks. Am 21. September wurde in Warnemünde ein weiterer Jugendlicher festgenommen, der in einem Eisenbahnwaggon Schutz suchte, um so auf das Fährschiff zu gelangen. Erfolgreich endete hingegen die Flucht eines 25-Jährigen. An der Zufahrt zur Fähre in Warnemünde, an dem die Passanten auf ihrem Weg zur S-Bahn stets vorbei mussten, vermochte er es, sich auf der Ladefläche eines im Stau stehenden dänischen Lkw zu verbergen. 153 Zu den weitaus meisten Festnahmen kam es bereits im weiteren Vorfeld der Häfen von Saßnitz, Stralsund, Rostock und Wismar. 154 Allein im Jahr 1978 nahmen Transportpolizisten 89 ihnen verdächtig erscheinende Inlandsreisende die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Hauptabteilungen und Bezirksverwaltungen/Verwaltung, dargestellt an der Entwicklung der Ermittlungsverfahren im Zeitraum 1.1.1979 bis 31.12.1979: BStU, MfS, HA IX, Nr. 3710, Bl. 193. 152 MfS, ZKG, [Bericht über die] Straftaten im Zusammenhang mit rechtswidrigen Versuchen der Übersiedlung, Berlin, 31.1.1982: BStU, MfS, ZKG, Nr. 4493, Bl. 10 f. 153 MfS, HA IX, Rapportmeldung vom 5.5.1983: BStU, MfS, HA IX, Nr. 4197, Bl. 66 sowie (ebenda), Nr. 1641, Bl. 41, 47 und (ebenda) Nr. 13176, Bl. 60; MfS, ZAIG, Übersicht über die Entwicklung der Ermittlungsverfahren im MfS im Jahre 1986 (im Vergleich zu 1985): BStU, MfS, ZAIG, Nr. 13913, Bl. 45 f.; MfS, ZAIG, Übersicht über die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Hauptabteilungen/selbständigen Abteilungen und Bezirksverwaltungen, dargestellt an der Entwicklung der Ermittlungsverfahren im Zeitraum vom 1.1.1981 bis 31.12.1981: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 13913, Bl. 164 f.; MfS, ZAIG, Übersicht über die Ermittlungsverfahren im MfS im Jahre 1985 (im Vergleich zu 1984)(ebenda), Bl. 67 f.; MfS, HA IX, Übersicht über die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit der Hauptabteilungen und Bezirksverwaltungen/Verwaltung, dargestellt an der Entwicklung der Ermittlungsverfahren im Zeitraum 1.1.1979 bis 31.12.1979: BStU, MfS, HA IX, Nr. 3710, Bl. 193; MfS, HA IX, Einschätzung der Wirksamkeit der Untersuchungsarbeit im Jahre 1984: BStU, MfS, HA IX, Nr. 3711, Bl. 99 (hier keine Ortsangabe); MfS, HA IX, Bericht über die Tätigkeit der Linie Untersuchung im Monat August 1989: BStU, MfS, HA IX, Nr. 1073, Bl. 224. 154 MfS, BV Rostock, Information Nr. 66/78 über Mängel im Zusammenwirken der Transportpolizei mit den VPKÄ bei der Übernahme von Personen, die im Verdacht stehen, strafbare Handlungen gem. § 213 StGB begangen zu haben, Rostock, 29.11.1978: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 173, Bd. I, Bl. 14–17.

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fest, denen man unterstellte, die DDR »ungesetzlich« verlassen zu wollen. Als hinreichender Verdachtsgrund galt ein wie auch immer geartetes suspektes Verhalten oder »dekadentes« Aussehens, der Umstand, dass die Betreffenden »widersprüchliche Angaben über ihre Reiseziele machten« oder weil sie »Schwimmmittel, Kartenmaterial usw.« bei sich trugen. Der Verdacht bestätigte sich lediglich in der Hälfte der Fälle. 41 Reisende waren zu Unrecht festgenommen und vernommen worden. Für sie reduzierte sich der Erholungswert ihres Ostsee-Aufenthalts in der Konsequenz auf ein Minimum. Die meisten wählten für ihre Flucht jene Strandabschnitte an der Ostsee aus, die den bundesdeutschen und dänischen Ufern am nächsten lagen. So die Küstenabschnitte westlich von Wismar bei Boltenhagen oder der Strand bei Kühlungsborn, von wo aus man bei guter Sicht die Leuchtfeuer SchleswigHolsteins ausmachen konnte. Oder der Weststrand entlang der Halbinsel Darß, wo mit der Kadettrinne vergleichsweise schnell internationale Gewässer zu erreichen waren. Die Entscheidung zugunsten einer Ablandung am offenen Strand wurde trotz der allgegenwärtigen Wachtürme, der nächtlichen Kontrollen und der hier eingesetzten Scheinwerfer von einem Gedanken beflügelt: Hier war man dem offenen Meer am nächsten und am ehesten geneigt, dem Freiheitsdrang nicht länger widerstehen zu wollen. Die Grenzkontrollen und die Vorgaben im Transit und im Abfertigungsbereich wirkten sich alles andere als förderlich auf den Fährverkehr zwischen der DDR und Schweden aus. Der für die Rentabilität entscheidende Güterverkehr wuchs ab Ende der Siebziger nur noch mäßig und drohte zu stagnieren. Mit der modernen und schnelleren Verbindung vom bundesdeutschen Travemünde aus – der »Vogelfluglinie« – und der von Polen ausgebauten Fährroute von Swinemünde nach Ystad erwuchs der traditionellen »Königslinie« SaßnitzTrelleborg massive Konkurrenz. Die schwedische Regierung forderte jetzt entschlossen Erleichterungen im Durchreise- und Fährverkehr ein und drohte, die Verbindung einzustellen. Außenminister Oskar Fischer informierte Armeegeneral Erich Mielke als Vertreter des federführend für die Sicherheitsbelange zuständigen »Organs« per Schreiben vom 15. September 1986 über die besorgniserregende Entwicklung. 155 Bei bilateralen ministeriellen Verhandlungen Anfang September habe »die schwedische Seite erneut die Frage der Grenzabfertigung im Eisenbahnfährverkehr zwischen Saßnitz und Trelleborg aufgeworfen«. 156 Unmissverständlich erklärte der schwedische Staatssekretär Ulf Dahlsten der ostdeutschen Seite, dass »das Überleben der Fährlinie [...] davon abhänge, wie es gelingt, die Unbequemlichkeiten und Probleme der 155 Ministerrat der DDR, der Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Oskar Fischer, Schreiben an das Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED, Minister für Staatssicherheit, Genosse Armeegeneral Erich Mielke, Normannenstraße 22, 1130 Berlin, Berlin 15.9.1986, BStU, Abt. X, Nr. 1314, Bl. 24–25. 156 Ebenda, Bl. 24.

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Reisenden und Unternehmen, die die Fährlinie benutzen, abzubauen«. 157 Dahlsten sprach ein seit längerem virulentes Thema an: Schon am 29. Juni 1984 hatte Schwedens Ministerpräsident Olof Palme während seines Gesprächs mit Erich Honecker in Stralsund der DDR nahegelegt, einer gemeinsamen Arbeitsgruppe zuzustimmen. Jene sollte die »Möglichkeiten für Reiseerleichterung im direkten Eisenbahnverkehr, insbesondere im Transitverkehr, und für Urlaubsreisen« ausloten und Verbesserungsvorschläge erarbeiten. 158 Den Schweden schienen die Verhältnisse im Fährhafen Saßnitz und im DDRTransit sowie die Position, in die man sie damit unfreiwillig drängte, alles andere als angenehm zu sein. Zugleich wirkten sich die Virulenz und der Einfallsreichtum, mit denen DDR-Bewohner ihrem Staat zu entkommen suchten, und die Reaktionen des Staates hierauf hinderlich auf das wirtschaftliche Vorankommen der DDR aus. Die Missachtung der DDR-Strafgesetze erfolgte zwar aus einem individuellen Wunsch: die politischen Auswirkungen ließen jedoch keinen Zweifel daran aufkommen, dass selbst diese Form des Widerstandes den SED-Staat in Bedrängnis brachte.

5.5 Widerstand zwischen Kontinuität und Wandel – Fahnenabrisse und die »Mißachtung staatlicher und gesellschaftlicher Symbole« 159 Vor den staatlichen Feiertagen häuften sich in der DDR die Fahnenabrisse sowie Beschädigungen an Losungen und Stellwänden, der sogenannten Sichtagitation. Die Penetranz der Indoktrination rief offensichtlich eine entsprechende Reaktion hervor. Viele, die innerlich gegen die SED rebellierten und nach einem Weg suchten, ihren Unmut kundzutun, nutzten hier die Situation, um tätig zu werden. Die angebrachte Beflaggung provozierte – trotz der drohenden Sanktionen – nicht nur den Widerspruch; die allerorts »greifbaren« Fahnen und »Sichtelemente« forderten den, der das Risiko nicht scheute, zum handgreiflichen Widerstand heraus. Die Handlungsmuster wiesen dabei ein hohes Maß an Übereinstimmung auf. Der Abriss und die Beschädigung erfolgten zumeist spontan und zu später Stunde. Auch Alkoholkonsum spielte eine Rolle. Häufig schien sich in der Tat der lang aufgestauten Unmut Bahn zu brechen: Für die sich auf dem Heimweg Befindenden boten sich Fahnen und Sichtagitationstafeln als Projektionsfläche für die aufgestaute Aggression geradezu an. Auch der Alltag in den volkseigenen DDR-Betrieben bot hinreichend 157 Ebenda. 158 Ebenda. 159 So die Umschreibung des »Deliktes« durch das MfS und die Deutsche Volkspolizei. Zum Beispiel: MfS, BV Rostock, AKG, Politisch-operativer Lagebericht – Aktion »Volkskunst« vom 27.6.1980, Rostock, 28.6.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 167, T. 2, Bl. 441–443, hier 441.

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Gelegenheit, sich über die Insignien der politischen Bevormundung herzumachen. Dies, obwohl den Fahnenabrissen in der Bevölkerung immer auch der Ruf, dass es hierbei um Sachbeschädigung und Rowdytum handelte, anhaftete. Viele sich als bürgerlich verstehende Menschen oder auch als Ordnungsmenschen definierende Zeitgenossen rümpften – selbst wenn sie der SED distanziert gegenüberstanden – hierüber die Nase und verurteilten dies. Die Distanz und der zweifelhafte Ruf, der den Fahnenbeschädigungen anhaftete, sagten zugleich auch etwas über die Schwierigkeiten, mit denen sich Regimegegner in einer obrigkeitsstaatlich geprägten Mehrheitsgesellschaft auseinanderzusetzen hatten, aus. Während im Nachbarland Polen jene »Übergriffe« mit der »Strategie der Klein-Sabotage« von Aleksander Kamiński 160 noch während des Widerstandes gegen die deutschen und sowjetischen Besetzer in den vierziger Jahren ihren konzeptionellen Überbau erhielten, blieb ein solches Handeln in Ostdeutschland in den Augen vieler zweifelhaft. Dementsprechend variierten die Bewertungen, mit denen sich diejenigen konfrontiert sahen, die so handelten. Während sich in Polen die, die so Widerstand leisteten, in der Gemeinschaft mit anderen Regimegegnern wähnen konnten und eine sinnvolle Tat begangen hatten, ernteten die, die dies in Ostdeutschland taten, häufig Kritik: »Mensch, wegen so einer Scheiße lässt du dich einsperren«, hieß es nicht selten in diesem Zusammenhang. Am 16. Dezember 1955 nahm die Stasi in Rostock einen dreiundfünfzigjährigen Lagerarbeiter fest. Man beschuldigte ihn, das Transparent »Freier Bauer auf freier Scholle« zerstört sowie eine Fahne heruntergerissen zu haben. 161 Doch konnte ihm der Fahnenabriss nicht nachgewiesen werden. Vier Tage später, am 20. Dezember, erfolgte die Entlassung aus der Untersuchungshaftanstalt: Alternativ plante man nun, den Beschuldigten, »als inoffiziellen Mitarbeiter« zu werben. Hierzu sollte das Entlassungsgespräch genutzt werden. Dem Beschuldigten sollte verheimlicht werden, dass die Beweise gegen ihn nicht ausreichten. Er sollte hingegen aus »Dankbarkeit« gegenüber dem MfS in den Deal einwilligen. 162 Ab den sechziger Jahren setzte das MfS bei der Fahndung verstärkt auf ein neue System: die Delikte-Kerbloch-Karteien. Da diese erhalten geblieben und zusätzlich zu den Akten auswertbar sind, sind ab diesem Zeitpunkt auch mehr Handlungen überliefert. Am 6. März 1963 gestaltete ein Schiffselektriker auf der Neptun-Werft in Rostock eine Losung zu Ehren der Kampfgruppe um. In 160 In Anlehnung an Kamiński, Aleksander: idei małego sabotażu. In: Biuletynie Informacyjnym, 1940 (11), S. 10–21. 161 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Vorlage des Referatsleiters in der Abteilung IX, Oberleutnant Rieck, zur Weiterleitung über den Leiters der Abteilung IX, Hauptmann Filin, an den Leiter der Bezirksverwaltung Rostock, Oberstleutnant Kraus, zum Beschluß betr. die Haftentlassung des Beschuldigten [Name], Rostock, 20.12.1955: BStU, MfS, BV Rostock, AU 3/56, Bd. I, Bl. 25 f. 162 Ebenda.

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ihrer Einschätzung waren sich SED und MfS einig, dass dadurch »der Kommandeur vor der gesamten Belegschaft lächerlich gemacht« werden sollte. Durch die Umstellung mehrerer Steckbuchstaben las man auf der Tafel anstelle von »Kampfgruppendienst« nun das Wort »Gottesdienst«. 163 Zwar gelang es dem MfS, den Täter zu ermitteln. Doch versuchte das MfS auch ihn, mit Verweis auf die drohenden strafrechtlichen Folgen zu erpressen. Als »Geheimer Informant« sollte er zukünftig seine Kollegen auf der Werft bespitzeln. Nachdem er sich vehement dagegen verwehrt hatte, beließ man es dabei. Man entschied sich, ihn fortan durch den Zuträger »›Dieter Schulz‹ unter Kontrolle zu halten.« Dieses Vorkommnis blieb nicht das einzige auf der als Schwerpunktbetrieb ausgewiesenen Neptun-Werft in jenen Jahren. Während der Frühschicht am 5. April 1967 ergänzte »Unbekannt« die »Wandzeitung der A[bteilungs]P[artei]O[rganisation] Konservierung« durch eine »Losung, die sich gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung« richtete. 164 Auch aus anderen Orten lagen vergleichbare Meldungen vor: Aus Stralsund berichtete das Volkspolizeikreisamt, dass die im Gebäude des FDGBKreisvorstandes hängenden Wahlplakate am 21. Juni 1967 »in der Zeit von 8.00 bis 9.15 Uhr« verändert worden seien. Der Ausdruck »wählen« bzw. »Wahl« erschien danach in Anführungsstrichen und ergänzt durch das Wörtchen »nie«. 165 Die Militärstrafkammer des Militärgerichts Rostock verurteilte im Mai 1967 hingegen zwei Matrosen der Volksmarine »wegen Diebstahls sozialistischen Eigentums« zu je sechs Monaten Gefängnis und 200 Mark Geldstrafe. Sie hatten im April in Prerow mehrere DDR-Fahnen abgerissen und – aus Angst entdeckt zu werden – diese in einem Erdloch verscharrt. 166 »Unbekannte Täter« versahen in der Vorhalle des Bahnhofs Zinnowitz im November 1967 ein Plakat zum Jahrestag der Deutsch-SowjetischenFreundschaft ebenfalls mit einem »nie«, dass, hinter der Floskel »Es lebe ...« platziert, eine andere Aussage ergab. 167 »Unbekannt« nahm sich 1968 ebenso der Plakate zum »Volksentscheid« in der Bahnhofsgaststätte Kröpelin und am Stralsunder Neuen Markt an, die am 31. März bzw. 2. April ein handschriftlich aufgetragenes »Nein« enthielten. 168 Ebenfalls am 2. April »verunstaltete« in Stralsund ein zunächst unbekannter »Täter« ein Plakat, das »in Vorbereitung 163 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, Teilkartei: schriftliche Hetze Bekannt: BStU, MfS, BV Rostock, Meldung vom 6.3.1963. 164 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, Teilkartei: schriftliche Hetze Unbekannt: BStU, MfS, BV Rostock, Meldung vom 6.4.1967. 165 Ebenda, Meldung vom 21.6.1967. 166 Militärgericht Rostock. Militärstrafkammer Urteil vom 5.5.1967: BStU, MfS, BV Rostock, AU 104/67, GA/ASt, Bd. III, Bl. 28–31. 167 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, Teilkartei: schriftliche Hetze Unbekannt: BStU, MfS, BV Rostock, Meldung vom 8.11.1967. 168 Ebenda, Meldung vom 31.3.1968 bzw. 2.4.1968.

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auf des Volksentscheides ausgelegt war«. Das DDR-Emblem wurde durchgestrichen und das Plakat mit einem »Nein« versehen. 169 Vor allem Jugendliche fielen immer wieder durch entsprechend Aktionen auf: Anfang Mai 1969 öffnete ein Rohrschlosserlehrling der Wismarer Mathias-Thesen-Werft in der Berufsschule während des Unterrichts einen Schrank. Er entnahm »drei Bände des Lehrbuches ›Sozialistische Rationalisierung und Standardisierung‹«, trennte die Bilder von Walter Ulbricht heraus und »vernichtete diese«. 170 Doch nicht immer musste es sich bei den Tätern um Erwachsene oder auch Jugendliche handeln: Ein nach einem Vorkommnis am 20. Mai 1969 in Wolgast eingeleitetes Ermittlungsverfahren sollte nachfolgend wieder eingestellt werden. Ein mit einem blauen Fettstift mehrfach in einer Straße angebrachten »Nein«, dass neben dem durchgestrichenen »Ja« auch eines der Wahlplakat verzierte, war nach dem Einsatz eines Fährtenhundes als »kindliche Schmiererei« eingestuft worden. 171 Abermals zog ein Ulbrichtbild am 5. September 1969 in Greifswald den Zorn auf sich. Der Vorfall ereignete sich ausgerechnet im VEB Nachrichtenelektronik, einem Betrieb, der die Armee mit Funkausrüstungen belieferte und als Vorzeigebetrieb galt. Eine Mitarbeiterin bemalte hier während ihrer Arbeitszeit die Brillenränder und den Bart des Parteivorsitzenden mit einem Rotstift. Auf ihre Tat hin angesprochen, erwiderte sie, was wohl viele dachten, wenn es um den ersten Mann in der DDR ging: »Wenn ich den Ulbricht sehe«, so die Angestellte, »kotzt mich das schon an«. 172 Am 6. September entfernten zwei Jugendliche in Sellin auf Rügen »aus einer beleuchteten XX, welche als Sichtagitation für den 20. Jahrestag der DDR« warb, 32 der insgesamt 40 Glühbirnen. Nach der Anzeige des Stellvertretenden Bürgermeisters stellte die Polizei am Tatort fest, dass »diese auf der Straße zertrümmert lagen«. Ein Gericht verurteilte die beiden achtzehn- bzw. siebzehnjährigen Jugendlichen am 26. September in einem Schnellverfahren zu sechs Monaten bzw. sechs Wochen Haft. 173 Erneut richtete sich am 10. November in Zingst bzw. am 6. Dezember 1969 in Warnemünde der Zorn gegen die Portraitbilder von Walter Ulbricht. Ein Forst- bzw. ein Werftarbeiter versuchten so, ihrem aufgestauten Unmut Geltung zu verschaffen. Nicht alle Ereignisse sind in den Delikte-Kerblochkarteien enthalten. So zum Beispiel der Abriss einer FDJ-Fahne in der Nacht vom 3. zum 169 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, Teilkartei: schriftliche Hetze Bekannt: BStU, MfS, BV Rostock, Meldung vom 2.4.1968. 170 Ebenda, Meldung vom 8.5.1969. 171 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, Teilkartei: schriftliche Hetze Unbekannt: BStU, MfS, BV Rostock, Meldung vom 20.5.1969, Ergänzungsmeldung vom 10.6.1969. 172 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, Teilkartei: schriftliche Hetze Bekannt: BStU, MfS, BV Rostock, Meldung vom 5.9.1969. 173 Ebenda, Meldung vom 6.9.1969, Ergänzungsmeldung vom 26.9.1969.

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4. Mai 1965 vor dem Gebäude der Erweiterten Oberschule in Bergen auf Rügen durch »Unbekannt«. 174 Da zwei Jahre später ein weiterer Zwischenfall im Umfeld der Schule die Kreisdienststelle Rügen beschäftigen sollte, flossen die Erkenntnisse über den Fahnenabriss vom Mai 1965 in die folgenden Ermittlungen mit ein. »In der Zeit vom 24.6.1967 bis 25.6.1967, 08.00 Uhr«, so berichtete die Kreisdienststelle hierzu von der Insel, »wurde durch unbekannte Täter an der Außenwand des Nebengebäudes der EOS Bergen in Richtung Hofseite mit gelber Kreide die Losung ›Freiheit für Israel‹ geschrieben«. 175 Trotz intensiver Schriftenfahndung, dem Einsatz eines Fährtenhundes und etlichen Befragungen kamen die Ermittlungen nicht voran: Die Täter blieben unerkannt. 176 Während ihres Ernteeinsatzes in Züssow fielen drei Studenten der Zahnmedizin der Universität Greifswald ihrem mitgereisten Dozenten negativ auf. Kurz vor dem 7. Oktober 1965, »am Vorabend des Tages der Republik«, rissen sie zwei Fahnen herunter und sangen anschließend politische Spottlieder. 177 Ausschlaggebend war anscheinend die Verärgerung über die Festlegung ihres Prorektors, am Ernteeinsatz teilnehmen zu müssen. 178 Im Frühjahr 1968 verzeichneten die Ermittlungsbehörden in Bad Doberan einen weiteren Fahnenabriss. In der Nacht vom 20. auf den 21. April »zerrissen«, wie es in der Sofortmeldung von Polizeileutnant Mielke aus Rostock hieß, unbekannte Täter »auf dem Schulhof der Pestalozzi-Oberschule [...] die Staatsflagge der DDR [...] mehrfach« und setzten sie anschließend auf Halbmast. 179 »Die Tat wurde«, so mutmaßte Mielke zu den Hintergründen Tat«, »am Tage ›Hitlers Geburtstag‹ durchgeführt«. 180 Im Laufe der siebziger Jahre nahmen die Meldungen über Fahnenabrisse und Losungsumgestaltungen zu. Während etwaige Meldungen, die die Jahre 1970 bis 1972 betreffen, fehlen, sind für 1973 gleich mehrere Vorkommnisse verzeichnet. Sie stammen alle von der Kreisdienststelle Rügen, ein Umstand, der darauf hindeutet, dass die weitere Überlieferung auch hier lückenhaft ist. Am 3. April versah ein unbekannter Täter in Saßnitz ein Leninbild mit dem Zusatz »Lenin ist doof«. Ein Angetrunkener »verging« sich am 1. Mai in 174 Volkspolizeikreisamt Rügen, Tgb.-Nr. 578/67, Anzeige, Bergen, 26.6.1967 sowie MfS, BV Rostock, KD Rügen, Abschlussbericht zur VA I/1294 der KD Rügen, Bergen, 3.10.1968: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2927/68, Bl. 7, 17, 23. 175 Ebenda, Bl. 6. 176 Ebenda, Bl. 23. 177 Information zur Situation an den Universitäten Rostock und Greifswald, 8.11.1965, ohne Angaben zum Autor, Ort und Empfänger, BArch DY 30/IV 2/1 – 335, o. Pag. 178 Ebenda. 179 Bezirksverwaltung der Deutschen Volkspolizei Rostock, Sofortmeldung, betr.: Verletzung inländischer Hoheitszeichen, Rostock, 21.4.1968: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2620/68, Bd. I, Bl. 9. 180 MfS, BV Rostock, KD Bad Doberan, Gründe für das Anlegen des Operativvorganges, Bad Doberan, 25.4.1968: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2620/68, Bd. I, Bl. 3 f., sowie: Ebenda, Maßnahmeplan, Bad Doberan, 25.4.1968, ebenda, Bl. 12–15, hier 12.

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Saßnitz zudem an der »Staatsflagge der DDR«, indem er sie aus der Halterung zog und auf den Boden warf. 181 Im benachbarten Ostseebad Binz sollten in der Nacht vom 8. auf den 9. Juli 1973 gleich sieben Fahnen von »Unbekannt abgerissen« und »entfernt« werden: »Der Einsatz eines Fährtenhundes blieb erfolglos.« 182 Für 1974 ergibt die Auswertung der Karteieintragungen einen bemerkenswerten Anstieg. Unter der Rubrik »Gewaltakte gegen Fahnen und andere Symbole (Abreißen, Abbrennen, böswilliges Entfernen usw.)« registrierte die Bezirksverwaltung im Stadt- und Kreisgebiet von Rostock im Laufe des Jahres allein 19 Zwischenfälle. Pro Vorfall wurden oft gleich mehrere Fahnen abgerissen, mitunter verbrannt und Wahlplakate beschädigt. Nicht selten handelte es sich bei den Tätern um Schüler oder auch Lehrlinge. Entsprechend erfolgte eine »Auswertung« in der Schule, über deren Konsequenzen häufig nichts weiter überliefert ist oder es kam, angesichts des geringen Alters, zur Verhängung eines Ordnungsgeldes. 183 Die Kreisdienststelle in Bad Doberan vermeldete im selben Zeitraum zehn Vorkommnisse; Wismar meldete fünf, Stralsund zwei, Rügen zwei, Greifswald zwei, Wolgast fünf und Grevesmühlen fünf Vorfälle. Insgesamt gab es im Bezirk 1974 damit 50 Übergriffe, die sich gegen Fahnen und DDR-Symbole richteten. Sofern man der Urheber habhaft wurde und es sich dabei nicht um Schüler oder Lehrlinge handelte, hatten diese mit einschneidenden Konsequenzen zu rechnen. Gegen zwei Jugendliche aus Grevesmühlen, die auf dem Weg zu einer Tanzveranstaltung am 21. September 1974 »eine Sichtagitation zum 25. Jahrestag der DDR [...] zerstörten« leitete die Deutsche Volkspolizei ein Ermittlungsverfahren ein und nahm sie in Haft. 184 Für das Jahr 1975 erfassten das MfS in seiner Kartei 26 Vorfälle. (Davon im Kreis- und Stadtgebiet von Rostock 10, in Wismar Stadt und Land 5, in den Kreisen Stralsund 5, Wolgast 3, Grevesmühlen 2 und Greifswald 1.) 185 Für 1976 erhält die Kartei neun Widerstandshandlungen (für die Kreise Grevesmühlen 4, Greifswald 2, Rügen 2 und Ribnitz-Damgarten eine). In den Folgejahren registrierte man 1977 34, 1978 sieben und 1979 46 Vorfälle (siehe Tabelle 5). 186 181 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, Teilkartei: schriftliche Hetze Unbekannt: BStU, MfS, BV Rostock, Sammelkarte, Gewaltakte gegen Fahnen, Kreisgebiet Rügen, 1973. 182 Ebenda. 183 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, Teilkartei: mündliche Hetze: BStU, MfS, BV Rostock, Sammelkarteien, Gewaltakte gegen Fahnen, Kreis- und Stadtgebiet Rostock, 1974. 184 Ebenda, die Kreise Doberan, Wismar, Stralsund, Rügen, Greifswald, Wolgast und Grevesmühlen betreffend. 185 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, Teilkartei: mündliche Hetze: BStU, MfS, BV Rostock, Sammelkarteien, Gewaltakte gegen Fahnen, Sichtagitation usw., 1975. 186 Der Vollständigkeit halber sollen die bereits erwähnten Jahre 1974–1976 ebenso aufgeführt werden. Ein Abgleich mit den von der Hauptabteilung I (Nationale Volksarmee/Marine) »bearbeiteten« Vorfällen innerhalb von Kasernen, Flottenstützpunkten usw. erbrachte den Befund, dass die

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Tabelle 5: Widerstandshandlungen 1973–1979. Jahr

Vorfälle Aufstellung entsprechend den Meldungen aus den MfS-Kreisdienststellen insgesamt 1973 3 Rügen (3) 1974 50 Grevesmühlen (5), Wismar (5), Bad Doberan (10), Rostock (19), Stralsund (2), Rügen (2), Greifswald (2), Wolgast (5) 1975 26 Grevesmühlen (2), Wismar (5), Rostock (10), Stralsund (5), Wolgast (3), Greifswald (1) 1976 9 Grevesmühlen (4), Ribnitz-Damgarten (1), Greifswald (2), Rügen (2) 1977 34 Grevesmühlen (6), Wismar (4), Rostock (14), Stralsund (5), Wolgast (5) 1978 7 Wismar (2), Rostock (1), Stralsund (2), Grimmen (1), Rügen (1) 1979 46 Grevesmühlen (3), Wismar (2), Bad Doberan (3), Rostock (28), RibnitzDamgarten (1), Stralsund (2), Grimmen (1), Wolgast (2), Greifswald (2), Rügen (2), insgesamt: 175 (Vorfälle)

Überliefert sind so 175 Vorfälle in sieben Jahren, die, berücksichtigt man zusätzlich die von »Unbekannt« vollzogenen Fahnenabrisse und Beschädigungen, von mindestens 278 Personen begangen worden sein müssen. Dabei musste es sich keineswegs nur um Bewohner des Bezirkes Rostock handeln. Ebenso in Betracht kamen Urlauber, die sich in den Ferienorten des Küstenbezirkes aufhielten. Tabelle 6: Angaben zu den Urhebern (= [mindestens] 278 Personen) laut Delikteund Kerblochkarteien 1973–1979. Urheber \ Jahr »Täter »unbekannt« »Schüler/minderjährig« »Auswertung« in Schule, Lehrlingswohnheim usw. Ordnungsstrafverfahren Ermittlungsverfahren (EV) gegen »bekannt« davon: EV ohne Haft (soweit Angaben vorh.) Davon: EV mit Haft (soweit Angaben vorh.) davon: EV übergeben an den Militärstaatsanwalt Keine Angaben zu den Konsequenzen 187 »wahrscheinlich Kinder« (offensichtlich) »grober Unfug«/»wollte (glaubhaft) Fahnen sammeln«/»Souvenirsammler«

‘73 ‘74 ‘75 ‘76 ‘77 ’78 ‘79 Gesamt 2 16 7 2 20 1 27 75 0 17 5 0 0 4 5 31 0 6 2 0 1 3 0 12 0 4 2 2 0 0 3 11 1 21 19 5 12 5 15 78 0 4 0 0 1 0 0 5 0 6 8 3 4 2 3 26 0 5 3 0 1 1 0 10 0 4 0 3 0 1 2 10 0 0

0 12

0 5

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0 0

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1 19

entsprechende Vorkommnisse (unabhängig von dem Umstand, dass sie unmittelbar nach Berlin weitergemeldet wurden) ebenso in Rostock erfasst wurden. So unter anderem ein Vorfall vom 21.10.1977, der sich sowohl in der Delikte-Kerblochkartei wiederfindet als auch in: MfS, HA I/Volksmarine, Unterabteilung 1. Flottille, Stellvertreter, an die HA I/IAK, AG Speicherführung, Peenemünde, 30.5.1978, BStU, HA I, Nr. 103, Bl. 341. 187 Sofern es sich dabei um keine Schüler/Kinder, sondern strafmündige »Täter« handelte.

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Obwohl die Verursacher der Fahnenabrisse häufig noch Schüler waren, muss dies keineswegs bedeuten, dass deren Handeln als unpolitisch anzusehen wäre. Ein Schüler der 9. Klasse aus Dassow, Kreis Grevesmühlen, der zwei Fahnen verbrannt hatte, gab an, dass er hiermit »eine gewisse Unruhe unter der Bevölkerung erzeugen [...] wollte«. 188 Als Auslöser mochten dabei die bevorstehenden Kommunalwahlen nach Einheitslisten am 19. Mai 1974 gelten – nicht ohne Grund erfolgte die Brandlegung in der Nacht vor der Öffnung der Wahllokale. 189 Mitunter lagen mehrerer Gründe vor, auf die sich die Betreffenden als Auslöser und Taterklärung in den Vernehmungen bezogen. Auch wenn dabei häufig auf das Motiv, nur provoziert haben zu wollen, verwiesen wurde, sollte jenes nicht losgelöst von den politischen Indikatoren, gegen die sich die Provokation richtete, betrachtet werden. Zwei siebzehnjährige und in der Lehreausbildung sich befindende Schülerinnen, die in Zinnowitz rund um den 7. Oktober 1977 »drei Schaukästen zum Jahrestag der Republik beschädigten« und mehrere Fahnen zerschnitten hatten, gaben nach ihrer Festnahme dementsprechend mehr als nur einen Grund für ihr Handeln an. 190 So erklärten sie gegenüber dem Vernehmer des Volkspolizeikreisamtes in Wolgast zunächst, dass »sie mit unserer sozialistischen Entwicklung nicht einverstanden« seien. Im Laufe der Vernehmung – und möglicherweise auch angesichts der drohenden Konsequenzen – verlegten sich die beiden Lehrlinge darauf, dass sie mit ihrer Tat eigentlich nur »die in Zinnowitz tätigen Genossen der VP [Volkspolizei] provozieren wollten«. 191 Beide wurden vom Kreisgericht Wolgast zu einem Jahr Freiheitsentzug verurteilt und in das Jugendhaus Dessau eingewiesen. 192 Häufig wurden gegenüber dem MfS verharmlosende Begründungen angegebenen. Um nachträglich zu erklären, warum man eine Fahne abgerissen oder Sichtagitation beschädigt hatte, wurde nicht selten auf den zuvor konsumierten Alkohol verwiesen. Zudem gab manch einer an, aus »Langeweile« gehandelt zu haben und bezeichnete seine Tat im Nachhinein als »groben Unfug«. Hinzu kamen weitere Begründungen. Sie mochten mitunter demselben Zweck dienen. So das Souvenir-Motiv des Flaggensammelns oder Ausflüchte, wie,

188 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, Teilkartei: mündliche Hetze/bekannt: BStU, MfS, BV Rostock, Sammelkarteien, Gewaltakte gegen Fahnen, Meldung der Kreisdienststelle Grevesmühlen vom 19.5.1974. 189 Ebenda sowie Weber, Hermann: DDR. Grundriß der Geschichte 1945–1990. Hannover 1991, S. 320. 190 MfS, BV Rostock, KD Wolgast, Delikte-Kerblochkartei, Spitzenmeldung der Volkspolizei vom 9.10.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3026/79, Bd. I, Bl. 29. 191 Ebenda. 192 Ebenda, Ergänzungsmeldung vom 18.8.1978, ebenda, Bl. 29.

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man wollte einfach mal sehen, »wie die Fahne so brennt«. 193 Gelang es der Polizei oder dem Staatssicherheitsdienst, die Betreffenden zu ermitteln, so wurde ihnen angesichts der anstehenden Vernehmungen und hier herrschenden Umgangsformen der Ernst der Lage schnell bewusst. Die aus den Vernehmungen überlieferten Aussagen mögen so das Geschehen und seine Hintergründe nur zum Teil beleuchten. Tabelle 7: Ausgang der Ermittlungsverfahren u. Ä., soweit bekannt geworden bzw. feststellbar Jahr

Ausgang des in diesem Jahr eingeleiteten Ermittlungsver- Höhe Ordnungsstrafverfahfahrens mit Haft/Bewährung oder folgenden Einweisung ren/andere Sanktionen in den Jugendwerkhof 1974 1 x »auf Bewährung« (Höhe unklar, IM-Werbung, jedoch keine Spitzeltätigkeit, Alter: 16 Jahre) 194; 50 Mark Ordnungsstrafe 195 1975 1 x 3 Wochen Haft; 1 x 4 Wochen Haft 196; 1 x 8 Monate 1 x »nach 2 Tagen Haft der Aufsicht der ErziehungsbeHaft 197 rechtigten übergeben« (ein 17-Jähriger); 2 x ein Verweis 1976 1 x 4 Jahre Haft (die Ermittlungen ergaben, dass der Betr. zuvor eine Scheune aus politischen Gründen in Brand gesteckt hatte) 198; 1 x 4 Wochen Haft 199 1977 2 x 1 Jahr Haft (Strafvollzugseinrichtung Jugendhaus) 200; 1 x 1 x 800 Mark 203 »auf Bewährung« 201; 1 x 1 Jahr und 6 Monate Bewährung und »zu einem Schadenersatz von 511,- Mark« (Militärgericht Rostock) 202

193 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, Teilkartei: mündliche Hetze Bekannt: BStU, MfS, BV Rostock, Sammelkarteien, Gewaltakte gegen Fahnen, Meldung der KD Rostock vom 18.4.1975. 194 Volkspolizeikreisamt Grevesmühlen, Abteilung K/I, Antrag zur Bearbeitung als IMK-R, Linie: Jugend/Grenze, Grevesmühlen, 17.1.1975: BStU, MfS, BV Rostock, AOG 2613/77, Bd. I, Bl. 10 f. 195 MfS, BV Rostock, Erstvernehmung (Verdacht »ungesetzliches Verlassen der DDR«), Rostock, 22.8.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AU 748/77, HA, Bd. I, Bl. 41–48, hier 42. 196 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Aktenvermerk, Rostock, 11.3.1975: BStU, MfS, BV Rostock, AU 94/75, Bd. II, Bl. 30. 197 Der Generalstaatsanwalt der DDR, Auszug aus dem Strafregister, ausgestellt am 27.3.1979: BStU, MfS, BV Rostock, AU 1283/79, HA, Bd. I, Bl. 9. 198 Volkspolizeikreisamt Grevesmühlen, Abteilung K/I, Abverfügung zur Archivierung, Grevesmühlen, 17.1.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AOG 862/77, Bd. I, Bl. 27. 199 MfS, BV Rostock, Abt. XII, Auskunftsbericht/Kurzauskunft, AOG 362/76: BStU, MfS, BV Rostock, AOG 362/76, 4.7.1986, HA II/9, F 10. 200 MfS, BV Rostock, KD Wolgast, Delikte-Kerblochkartei, Spitzenmeldung der Volkspolizei vom 9.10.1977: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 3026/79, Bd. I, Bl. 29.

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5 Kontinuität und Wandel Jahr

Ausgang des in diesem Jahr eingeleiteten Ermittlungsverfahrens mit Haft/Bewährung oder folgenden Einweisung in den Jugendwerkhof

Höhe Ordnungsstrafverfahren/andere Sanktionen

1978 1 x 2 Jahre auf Bewährung, Strafandrohung 10 Monate FE 204 1979 1 x aufgrund weiterer »Delikte« erfolgte die Einweisung »in eine geschlossene Einrichtung der Jugendhilfe« 205 1980 »Zurückversetzung [...] von der EOS an die POS« 206 1983 1 x 1 Jahr, 8 Monate; 1 x 1 Jahr, 6 Monate; 1 x 6 Monate 207

Zumeist galt: Die Urheber der Fahnenabrisse und Sichtagitationsbeschädigungen waren mehrheitlich jung und männlich, zu später Stunde noch unterwegs – was offensichtlich einen gewissen Schutz versprach – und immer wieder auch alkoholisiert. Ersteres mochte an der in jenem Alter stärker als in späteren Lebensphasen ausgeprägten Virulenz, sich in die Gegebenheiten nicht widerspruchslos fügen zu wollen, liegen. Der Austausch mit Gleichaltrigen in den Schulklassen und Lehrlingsverbänden beflügelte die Widerstandsleistenden häufig in ihrem Tun. Dass es sich zumeist um männliche Jugendliche handelte, konnte noch einen anderen Grund haben: Dem Fahnenabriss und der Beschädigung einer Sichtagitation haftete oft auch etwas von einer Mutprobe an. Hinzu kam, dass der der Tat nicht selten vorangehende Kneipenbesuch vor allem auf dem Land in den siebziger Jahren noch als Privileg von Männern gelten konnte. Der Alkohol wirkte dabei vor allem enthemmend. Man tat das, was manch anderer angesichts der Penetranz der politischen Agitation rund um den 1. Mai und 7. Oktober auch gerne getan hätte, angesichts der drohenden Sanktionen aber unterließ. Die hohe Aufklärungsquote stützt zudem die Annahme, dass es sich 201 MfS, BV Schwerin, Information Nr. T 136/70, 15.3.1983: BStU, MfS, BV Schwerin, AOG 320/87, Bd. I, Bl. 9; Transportpolizeiamt Schwerin, Kommissariat I, Abschlußinformation KM, 27.6.1979, ebenda, Bl 22. 202 MfS, HA I/Volksmarine, Unterabteilung 1. Flottille, Stellvertreter, an die HA I/IAK, AG Speicherführung, Peenemünde, 30.5.1978, BStU, HA I, Nr. 103, Bl. 344. 203 MfS, HA IX, Meldung TM 107/79 vom 17.5.1979: BStU, MfS, HA XX, Nr. 6059, T. 2, Bl. 282. 204 MfS, Speicher XII/01, Strafnachricht des Kreisgerichtes Hoyerswerda 08 S 156/78, BStU, Außenstelle Rostock, Auskunft v. 28.8.2011. 205 MfS, BV Schwerin, KD Bützow, Abschlussbericht zum Vorgang »Kapuze«, Reg.-Nr. II 553/79, Bützow, 4.2.1980: BStU, MfS, BV Schwerin, AOP 363/80, Bl. 86–89, hier 89. 206 EOS = Erweiterte Oberschule (12 Klassen), POS = Polytechnische Oberschule (10 Klassen). MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Protokoll zum Ergänzungsgespräch über die Beurteilung von [Name], [Vorname]: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 1658/82 C, Bl. 49, 52. 207 MfS, BV Rostock, KD Ribnitz Damgarten, Realisierungskonzept zur OPK »Opposition«, Ribnitz, 10.5.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AU 148/87, HA, Bd. I, Bl. 3–5; Kreisgericht RibnitzDamgarten, Az. 221–1–84, Strafbefehl in der Strafsache gegen [Name], [Vorname], ausgestellt am 20.1.1984: BStU, MfS, AU 1231/84, Bd. II, Bl. 4.

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hierbei zumeist um eine spontane Äußerungsform des Widerstandes handelte. Die meisten Täter forderten den Staats mit ihrer Tat heraus, hatten sich aber nicht darum gesorgt, wie sie in der folgenden Auseinandersetzung bestehen können. Hierzu gehörte, dass sie häufig Spuren hinterließen und so als Urheber überführt werden konnten. So waren entweder von »aufmerksamen Passanten« beobachtet worden, hatte über ihre Tat kein Stillschweigen bewahrt oder wurden, weil sich die Fahne noch im Besitz befand, verraten. Tabelle 8: Anzahl Beschädigungen nach Alter und Geschlecht der Betreffenden (sofern Angaben vorhanden). Alter u. Geschlecht \ Jahr Vor 1945 geboren Jg. 1945 bis 1950 Jg. 1951 bis 1955 Jg. 1956 bis 1960 Jg. 1961 bis 1965 Nach 1965 geboren Männlich Weiblich

1973

1

1

1974 2 6 3 3 1 46 2

1975

1976

1977 1

3 10 2

1 9

3 6 2

32

10

9 4

1978

1979

6 4

2 1 8 13 1 25

10

Gesamt 1 4 15 42 24 2 133 6

Mit den achtziger Jahren versiegen die Delikte-Kerblochkarteien als Quelle: Die letzten noch sporadischen Eintragungen lassen sich für 1980 nachweisen. Mittlerweile hatten modernere Erfassungssysteme das Kerblochkarteisystem ersetzt. Der letzte Eintrag einer Meldung stammt vom 2. Mai 1980 von der Insel Rügen. 208 Ein »unter Einwirkung von Alkohol« stehender Lehrling riss auf dem Schulhof in Rambin in der Nacht zuvor mehrere Fahnen herunter, entwendete eine Wimpelkette und legte den Fahnenmast auf den Appellplatz. Als Grund gab er an, seiner ehemaligen Lehrerin, die inzwischen zur Bürgermeisterin des Ortes ernannt worden war, »einen Streich spielen« zu wollen. 209 Doch handelte es sich mehr als nur um einen ›böse Jungenstreich‹: Schließlich repräsentierte die Lehrerin sowohl in ihrer alten als auch neuen Funktion das politische System vor Ort. Als Klassenleiterin stellte sie jene Schnittstelle dar, an der der Heranwachsende zuvorderst und unfreiwillig mit dem System in Berührung kam. Gegen den Bautischlerlehrling aus Götemitz bei Rambin eröffnete die Staatsanwaltschaft in Rostock ein Verfahren »ohne Haft« und beauftragte das MfS mit den weiteren Ermittlungen. Wie stark sich die Fahnenabrisse häuften, zeigten drei Meldungen vom Juni 1980: Im Juni 1980 208 MfS, BV Rostock, Delikte-Kerblochkartei, Teilkartei: schriftliche Hetze Bekannt: BStU, MfS, BV Rostock, Kartei, Gewaltakte gegen Fahnen, Kreisgebiet Rügen, 1980, Meldung vom 2.5.1980, 1 Uhr. 209 Ebenda.

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gastierten die XVIII. »Arbeiterfestspiel der DDR«, turnusgemäß nach 1970 das zweite Mal im Ostseebezirk. 210 Zu den Höhepunkten zählte die Aufführung der »Störtebekerballade« in Ralswiek auf Rügen. Mittels der Aktion »Volkskunst« kümmerte sich das MfS darum, dass die Festspiele frei von Zwischenfällen blieben. Dessen ungeachtet registrierte man innerhalb von vier Tagen sechs Vorkommnisse mit insgesamt acht abgerissenen, entwendeten oder auch verbrannten Fahnen. Den Schwerpunkt bildete abermals die Bezirkshauptstadt Rostock mit fünf Meldungen, zwei Fahnen waren in Greifswald von »Unbekannt« des Nachts heruntergerissen worden. 211 Auch in den folgenden Jahren kam es zu Fahnenabrissen und der Beschädigung von Agitationstafeln und -plakaten: Im Januar 1983 zerstörte ein Melker im Kreis Ribnitz während der Nachtschicht zwei Fahnen. »Vertrauliche Hinweise aus der Bevölkerung« – der »Anlagenschichtleiter« und »die verantwortlichen Leitungskader der Genossenschaft« hatten zuvor die Polizei informiert – führten das MfS schnell auf die Spur und zur Festnahme. 212 Vier Fahnen sollten ferner am 1. Mai 1982 – zum »Kampf- und Feiertag der Werktätigen« – an der Polytechnischen Oberschule Born auf der Halbinsel Darß letztmalig vom Sieg des Sozialismus Zeugnis ablegen. Auch hier gab es eine Spur: Nachdem am 7. Oktober 1982 wieder und abermals zum 7. Oktober 1983 nun dutzendweise Fahnen in Born verschwanden, »mit dem Messer zerschnitten« aufgefunden oder anderweitig zerstört worden waren, nahm man zwei Jugendliche fest, denen die Taten angelastet wurden. 213 Zuvor hatte die Kreisdienststelle Ribnitz-Damgarten die Daten in den Operativen Personenkontrollen »Opposition« und »Störung« miteinander abgeglichen. 214 Die Mitarbeiter stießen dabei in Born auf eine Gruppe von Jugendlichen, die anscheinend einen Fluchtversuch über die Ostsee vorbereiteten. Zugleich trafen sie sich »mit anderen Borner Jugendlichen«, sammelten Kartenmaterial und Dokumente, die wegen ihrer gesamt210 Den Angaben zufolge gab es 1980 im Bezirk Rostock im Rahmen der »Arbeiterfestspiele« 530 Veranstaltungen, mit 13 000 »mitwirkenden Volkskünstlern«, 2 000 »Berufskünstlern« und 1 700 000 Besuchern. Für 1970 lauten die Zahlen dementsprechend 447:10 000:1 500:867 000. Angaben laut: Arbeiterfestspiele der DDR, Taschenlexikon für Zeitungsleser. Hg. v. einem Kollektiv des Dietz Verlages Berlin und des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR. Berlin (Ost) 1983, S. 19 f. 211 MfS, BV Rostock, AKG, Politisch-operativer Lagebericht – Aktion »Volkskunst« vom 26.6.1980, Rostock, 27.6.1980: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 167, T. 2, Bl. 437–440, hier 437; ebenda, Bericht vom 27.6.1980, Rostock 28.6.1980, Bl. 441–443, hier 441; ebenda, Bericht vom 29.6.1980, Rostock, 30.6.1980, Bl. 428–431, hier 428. 212 MfS, BV Rostock, KD Ribnitz-Damgarten, Verdacht einer strafbaren Handlung gem. § 222 StGB, Ribnitz, 22.1.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 61, Bd. II, Bl. 139 f. 213 MfS, BV Rostock, Information Nr. 63/83 über die Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen vier Jugendliche aus Born, Kreis Ribnitz-Damgarten, Rostock, 7.11.1983: BStU, MfS, HA XX, Nr. 6059, Bl. 130–132. 214 MfS, BV Rostock, KD Ribnitz Damgarten, Realisierungskonzept zur OPK »Opposition«, Ribnitz, 10.5.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AU 148/87, HA, Bd. I, Bl. 3–5.

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deutschen Ausrichtung in der DDR auf dem Index standen. Man bestärkte sich gegenseitig in der Ablehnung des SED-Systems. 215 Den Fahnenzerstörungen in Born, so kombinierten die Staatsschützer, liege demnach ein konzeptioneller Ansatz zugrunde. Tatsächlich gaben die beiden Inhaftierten in der Untersuchungshaftanstalt Rostock an, sich – über ihren Wunsch hinaus, die DDR verlassen zu wollen – als politisch Verfolgte zu sehen. Mit ihren Taten im Vorfeld der Staatsfeiertage hätten sie gegen die Verhältnisse in der DDR aufbegehren wollen. Der Vorwurf lautete schließlich auf Vorbereitung einer Flucht und »Mißachtung staatlicher und gesellschaftlicher Symbole«. Ein Gericht verurteilte die beiden Zweiundzwanzigjährigen zu einer Haft von zwanzig bzw. achtzehn Monaten. Im Gefängnis in Naumburg stellten beide einen Ausreiseantrag; entlassen wurden sie jedoch in die DDR. Danach weigerten sie sich bei der Abteilung Inneres, eine Arbeit aufzunehmen, da sie »diesen Staat durch [...] Arbeit nicht mehr unterstützen« wollten. Als sogenannte hartnäckige Übersiedlungsersuchende gerieten sie nun erneut in das Visier der Staatssicherheit. 216 Im Zusammenhang mit den Fahnenbeschädigungen in Born verurteilt werden sollte zudem ein zum Tatzeitpunkt noch Siebzehn- bzw. im Jahr der Tatwiederholung Achtzehnjährigen. Wegen der »Beihilfe zu[r] böswilligen Zerstörung von [...] Fahnen der DDR bzw. der Arbeiterklasse« verurteilte ihn das Kreisgericht in Ribnitz-Damgarten zu sechs Monaten Haft. 217 Zwar sei er »bei der ersten Handlung« noch »jugendlich«, sprich, noch nicht voll strafmündig gewesen. Dies hinderte das Gericht nicht daran, ihn für strafmündig zu erklären. Angesichts »des Entwicklungsstandes [...] [seiner] Persönlichkeit« wäre er, so attestierte ihm das Gericht, hinreichend »fähig« gewesen, »sich gesellschaftsgemäß zu verhalten«. Auch Agitationstafeln und Plakate der SED und FDJ forderten in den achtziger Jahren immer wieder den Mut von Einzelnen heraus: Im Treppenhaus der Wasserwirtschaftszentrale in Stralsund sicherte das MfS im Mai 1983 ein Plakat, das kaum mehr seinem Zweck entsprach. Auf dem mit »Friedensaufgebot der FDJ« überschriebenem Plakat stand »mit einem blauen Kugelschreiber« die Forderung »Sowjetunion raus aus der DDR und Afghanistan«. 218 Rund um den 7. Oktober 1984 registrierte das MfS DDR-weit insgesamt 39 »Fahnen- und Plakatabrisse«. In Stralsund riss ein Jugendlicher, wie ein »Posten des Seehafens« meldete, in der Nähe des Hafens eine DDR-Flagge 215 Ebenda, Bl. 3. 216 Ebenda, Bl. 3 f. 217 Kreisgericht Ribnitz-Damgarten, Az. 221–1–84, Strafbefehl in der Strafsache gegen [Name], [Vorname], ausgestellt am 20.1.1984: BStU, MfS, AU 1231/84, Bd. II, Bl. 4. 218 MfS, BV Rostock, Abt. XX, Meldungen über besondere Vorkommnisse, Hetzlosung, KD Stralsund, Meldung zum Vorkommnis am 18.5.1983, Rostock, 29.5.1983: BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 344, Bl. 310–312, hier 312.

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herunter. Gegen ihn wurde ein Ordnungsstrafverfahren eingeleitet. 219 Zu einem ähnlichen Vorfall kam es auch in Rostock: Auf seinem Weg zum Dienst sichtete ein Volkspolizist am Morgen des 9. Mai 1985 kurz vor fünf Uhr »in Rostock-Dierkow, Höhe Bushalteeinstiegsstelle [...] ein Veranstaltungsplakat des [FDJ]-Jugendclubs«. Auch auf ihm waren »nachträglich« mehrere Sätze eingefügt worden. Die Sprüche »DDR ist klein Rußland«, »Russen raus«, »Hamburg ist die Welt«, »Ihr Dummköpfe, brennt den Laden doch ab, oder traut ihr Euch nicht« verfehlten anscheinend ihre Wirkung nicht. Sie zeichneten dafür verantwortlich, dass die Tat als »hetzerisch« klassifiziert umfangreiche Fahndungsmaßnahmen nach sich zog. 220 Gleich »mehrere Wandzeitungen« mit den Kandidaten der Volkskammerwahl und die Aushänge »zum XI. Parteitag der SED und zum 40. Jahrestag der [...] SED« sollten am 6. Juni 1986 »im Bereich der Pionierbaukompanie [...] Mukran/Rügen« zerrissen und »aus dem Fenster geworfen« werden. 221 Wie der wenig später überführte Bausoldat während der Vernehmung angab, wusste er sich nicht anders gegen die Schikanen in seiner Einheit zu erwehren. Eine gegen ihn aufgrund eines geringfügigen »Wachvergehens« verhängte Arreststrafe brachte den lange aufgestauten Ärger und Unmut über die fortgesetzten Erniedrigungen zum Ausbruch. 222 Auch sollte er den Arrest nicht sofort, sondern am ersten Tag des bereits genehmigten Sonderurlaubes antreten. Als Musiker einer DDR-Popgruppe gelangte er zuvor unter Vermittlung »höherer Instanzen« in den Besitz einer außerplanmäßigen Freistellung. Seine Gruppe sollte so während der »Arbeiterfestspiele« in Rostock ihren Auftritt absolvieren können. Bei den Vorgesetzten, die notgedrungen in die Freistellung einzuwilligen hatten, den Musiker daher aber umso mehr beargwöhnten, stieß dies auf wenig Gegenliebe. Der folgende Arrest schien unter diesen Umständen von seinen Vorgesetzen lediglich vorgeschoben zu sein. 223 Auch in den folgenden Jahren kam es zu weiteren Vorfällen: In der Nacht vom 6. auf den 7. März 1987 – unmittelbar vor dem »Fahnenappell anläßlich des 41. Jahrestages der FDJ« – »ließ« ein 16-Jähriger auf einem Schulhof in Stralsund »die [...] FDJ-Fahne vom Mast herunter und setzte diese mittels 219 MfS, HA IX, Bericht Meldungen über besondere Vorkommnisse anläßlich der Aktion »Jubiläum 35«, Berlin, 15.10.1984: BStU, MfS, HA IX, Nr. 8618, Bl. 84–89, hier 86; MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Meldung, betr.: Mißachtung staatlicher Symbole, Stralsund, 2.10.1984: BStU, MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Nr. 510, Bl. 7 sowie Ergänzungsmeldung, Bl. 8. 220 MfS, BV Rostock, Abt. XX/11, Maßnahmeplan zum OAM »Störtebeker«, Rostock, 22.8.1985: BStU, MfS, Abt. XX, Nr. 526, Bl. 23–25. 221 MfS, Zentraler Operativstab, Meldung zu »Symbol 86«, Information Nr. 775/86, Beschädigung von Sichtagitationen zur Wahl am 8.6.1986, zum XI. Parteitag der SED und zum 40. Jahrestag der Gründung der SED durch einen Soldaten im Bereich der Pionierbaukompanie des Pionierbaubataillons Mukran/Rügen/Rostock: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2101, Bl. 40. 222 Ebenda. 223 Ebenda.

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Streichhölzer in Brand«. 224 Gegen den Schüler wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Zum 1. Mai 1988 vermeldeten die Stralsunder erneut einen »Mißachtungsfall«, dem eine weitere DDR-Fahne zum Opfer fiel. Nach den vorliegenden Erkenntnissen, war sie »um 2.10 Uhr« am Leninplatz von der Drogerie »Flacon« entfernt worden. Der »stark angetrunkene« Täter, wurde »durch eine VP-Streife beim Fahnenabriß gestellt und dem VP-Revier [...] zugeführt«. 225 Insbesondere die Stunden vor dem 1. Mai 1989 sollten sich für die Ordnungshüter im beschaulichen Grevesmühlen als arbeitsintensiv erweisen. Nachdem die Volkspolizei gegen einen Schüler der 10. Klasse aus Herrnburg ein Ordnungsstrafverfahren eingeleitet und ihn den Eltern übergeben hatte, weil er gegen eine DDR- und eine Arbeiterfahne an einer Bushaltstelle vorgegangen war, lief erneut eine Meldung in der Kreisdienststelle ein. 226 Abermals waren es Jugendliche, die sich kurz vor der »Kampfdemonstration« zum 1. Mai in der »ausgeschmückten« Innenstadt an den hier zahlreich hängenden Sichtund Winkelementen zu schaffen machten. Nach dem Besuch einer Tanzveranstaltung und dem Genuss von Alkohol »in erheblichem Maße« rissen zwei 19Jährige und zwei Schüler der 10. Klasse auf dem Marktplatz fünf Fahnen ab. Anschließend setzten sie »die an der Tribüne befestigten Papiergirlanden« und das hier »bespannte Fahnentuch« in Brand. 227 Auf ihrem weiteren Weg durch die Stadt entfernten sie noch den Sicherungsbolzen aus einem Fahnenmast und, nachdem dieser auf die Straße kippte, die an ihm befindliche DDRFahne. In den von den später Festgenommenen abgegebenen Begründungen bemühten sich diese, ihren nächtlichen Zug als groben Unfug und Folge ihres Alkoholkonsums zu bagatellisieren. Doch ließen die von ihnen vorgebrachten Gründe genügend Interpretationsraum, um die Tat auch als politische Unmutäußerung auslegen zu können. Zur Erklärung, dass – bezogen auf die Fahnenabrisse – »so etwas Spaß macht«, trat das Motiv der Mutprobe: Einer der Minderjährigen wollte sich, »seinen eigenen Angaben« zufolge, vor den anderen, als er einen Teil der Tribüne ansteckte, »grosstun, weil diese es« mittlerweile »mit der Angst zu tun bekamen«. Gegen alle vier Beteiligten eröffnete

224 MfS, BV Rostock, Information Nr. 309/87: Verbrennen einer FDJ-Fahne durch Unbekannt auf dem Schulhof der POS »Karl-Liebknecht« Stralsund/Rostock sowie ebenda, Täterermittlung zum gemeldeten Vorfall, ebenda: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2011, Bl. 52 f. 225 MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Meldung: Fahnenabriß Stralsund-Leninplatz, Stralsund, 1.5.1988: BStU, MfS, BV Rostock, KD Stralsund, Nr. 510, Bl. 34. 226 MfS, BV Rostock, KD Grevesmühlen, Anzeigenaufnahme der MfS-Kreisdienststelle Grevesmühlen, Mißachtung staatlicher Symbole, Grevesmühlen, 29.4.1989: BStU, MfS, BV Rostock, KD Grevesmühlen, Nr. 114, Bl. 124. 227 Meldung des Volkspolizeikreisamtes Grevesmühlen, Grevesmühlen, 29.4.1989: BStU, MfS, BV Rostock, KD Grevesmühlen, Nr. 150, Bl. 12; Anzeigenaufnahme der MfS-Kreisdienststelle Grevesmühlen, Mißachtung staatlicher Symbole, Grevesmühlen, 29.4.1989: BStU, MfS, BV Rostock, KD Grevesmühlen, Nr. 114, Bl. 123.

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man ein Ermittlungsverfahren; die beiden 19-Jährigen wurden in die Untersuchungshaftanstalt des MfS in Rostock überstellt. 228 In den Tagen rund um den 7. Oktober 1989 – dem beginnenden Aufruhr in der DDR – kam es im Bezirk Rostock wie in der gesamten DDR zu einer hohen Zahl von Protesten und Einzelaktionen. Im Bezirk Rostock bildeten die Fahnenabrisse unter den nach Berlin weitergemeldeten Vorkommnissen nur einen geringen Teil der Widerstandshandlungen. Vielmehr dominierten an der Küste jene Losungen, die sich bereits auf das »Neue Forum« als neue oppositionelle Kraft bezogen. Vom Ministerium des Innern wurde der Ostseebezirk am 8. Oktober bzw. vom Staatssicherheitsdienst am 10. Oktober zu den sechs Vorfall-Schwerpunkten in der DDR gezählt. 229 Hinzu kamen vermehrt Plakate und Handzettel, die an Häuserwände und Informationstafeln ebenfalls für das »Neue Forum« warben. 230 Der Protest im Oktober 1989 hatte eine Form gefunden, die den aufgestauten Unmut inhaltlich unterlegte und in eine bestimmte Richtung wies. Während in der DDR laut der Statistik des Innenministeriums insgesamt »53 Mißachtungen staatlicher und gesellschaftlicher Symbole« anhängig waren, ereigneten sich im Küstenbezirk zwei Vorfälle. 231 In Menzendorf im Kreis Grevesmühlen entfernte ein 19-Jähriger am 6. Oktober, wie in den Monaten zuvor schon, auf einem Zeltplatz die Sicherungsbolzen der dort beflaggten Fahnenmasten, wobei eine der Fahnen auf einen »darunter stehenden Grill« fiel und Feuer fing. 232 Der zweite Fahnenabriss – an der Fernverkehrsstraße 105 am westlichen Ortsausgang in Bad Doberan – erfolgte bereits in Verbindung mit den hier angebrachten Losungen. Auf dem Straßenbelag der F 105 schrieben drei Lehrlinge in den Abendstunden des 8. Oktober in einer Länge

228 Ebenda. 229 MfS, Zentraler Operativstab, Hetzerische bzw. herabwürdigende Äußerungen im Zusammenhang mit Aktivitäten oppositioneller Gruppierungen in der DDR. Darstellungszeitraum 20.9.1989 bis 10.10.1989: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2277, Bl. 49; Ministerium des Innern, Information vom 8.10.1989, betr.: Stand der Durchsetzung der Maßnahmen zur Gewährleistung einer hohen öffentlichen Ordnung und Sicherheit am 40. Jahrestag der Gründung der DDR, Stand: 8.10.1989, 02.00 Uhr: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2275, Bl. 131–136, hier 132. 230 MfS, Zentraler Operativstab, Einzelmeldungen aus den DDR-Bezirken zum 2. Tagesbericht zur politisch-operativen Lage und Wirksamkeit der Sicherungsmaßnahmen aus Anlaß des 40. Jahrestages der Gründung der DDR – »Jubiläum 40«, BStU, ZOS, Nr. 2275, Bl. 52–54, 92–117, 128. 231 Ministerium des Innern, Information vom 8.10.1989, betr.: Stand der Durchsetzung der Maßnahmen zur Gewährleistung einer hohen öffentlichen Ordnung und Sicherheit am 40. Jahrestag der Gründung der DDR, Stand: 8.10.1989, 02.00 Uhr: BStU, MfS, ZOS, Nr. 2275, Bl. 131–136, hier 132. 232 MfS, BV Rostock, KD Grevesmühlen, Anzeigenaufnahme der MfS-Kreisdienststelle Grevesmühlen, Verdacht Mißachtung staatlicher Symbole, Grevesmühlen, 6.10.1989: BStU, MfS, BV Rostock, KD Grevesmühlen, Nr. 114, Bl. 373.

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von fünf Metern mit weißer Farbe die Losungen »Freiheit« und »Ich will raus«. 233

5.6

Exkurs – Bilder und Überlieferungen vom Widerstand: »jung« und »männlich«?

In den zurückliegenden Jahren sind immer wieder dieselben Fragen gestellt worden: Wer waren diejenigen, die Widerspruch und Widerstand leisteten? Welche Alterskohorten dominierten dabei? War Widerstand eine Sache von Männern wie Frauen – welches »Geschlecht« hatte der Widerstand? In der Widerstandsforschung nahm man bislang zumeist an, dass Widerspruch und Widerstand vor allem »jung« und »männlich« waren. Doch ist diese Annahme zutreffend? Eine Reihe von Meldungen scheint dies nahezulegen: So der vom MfS erstellte Rapport zum Streik am 18. Juni 1953. Beschrieben wird hier die Situation vor dem Werkstor der Warnow-Werft. »Besonders provokatorisch«, so ist hier zu lesen, »traten die [männlichen] Jugendlichen auf«, von denen sich mehrere verbale Auseinandersetzungen mit den Kasernierten Volkspolizisten lieferten. 234 »Vor dem Werk«, heißt es an anderer Stelle, »hatte sich eine Anzahl von 200-300 Werftarbeitern (zumeist Jugendliche) angesammelt«. 235 Dies entsprach den damaligen Verhältnissen auf der Warnow-Werft. Der im industriell unterentwickelten Norden eklatante Fachkräftemangel und die überdurchschnittlichen Gehälter lockten junge männliche Arbeiter an die Küste. Sie stammten zumeist aus den Südbezirken und waren familiär ungebunden, was ihnen die Entscheidung, dieses Abenteuer einzugehen, erleichterte. Wie es im selben Bericht hieß, war an ihrem »Dialekt [...] zu erkennen, dass die meisten, die in den ersten Reihen standen, aus Sachsen sind«. 236 Nicht umsonst wird von denen, die Widerstand für »jung« und »männlich« halten, auf die familiäre Ungebundenheit der Heranwachsenden verwiesen. Jene sahen sich den allgemeinen Normen weniger unterworfen, was der Gesetzesübertretung im politischen Bereich Vorschub leistete. Dass bei bestimmten Äußerungsformen das »Täterprofil« »jung« und »männlich« dominierte, hat einen einfachen Grund. Die Ausführung der Tat blieb eng mit jugendlichen 233 MfS, Zentraler Operativstab, Einzelmeldungen aus den DDR-Bezirken zum 2. Tagesbericht zur politisch-operativen Lage und Wirksamkeit der Sicherungsmaßnahmen aus Anlaß des 40. Jahrestages der Gründung der DDR – »Jubiläum 40«, Meldung Bezirk Rostock, 8.10.1989: BStU, ZOS, Nr. 2275, Bl. 128. 234 MfS, BV Rostock, Bericht, betr.: Warnow-Werft Warnemünde, ohne Datum: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter der BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 28–31, hier 28. 235 MfS, BV Rostock, Meldung, betr.: Lage in Warnemünde, Krs. Rostock, ohne Datum: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 32. 236 MfS, BV Rostock, Bericht, betr.: Warnow-Werft Warnemünde, ohne Datum: BStU, MfS, BV Rostock, Leiter der BV, Rep. 2, Nr. 395, Bl. 28–31, hier 28.

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Männlichkeitsritualen verbunden: So mit der Mutprobe, die den Fahnenabriss provozierte, und dem demonstrativen Konsum von Alkohol, der bestimmten Taten voranging. Ähnlich verhielt es sich mit anderen Äußerungsformen von Widerspruch und Widerstand, so bei den handfesten Rangeleien zwischen Jugendlichen und Vertretern der Staatsgewalt. Auch hier wurden vor allem männliche Jugendliche »auffällig«. Ein solcher Vorfall ließ im Juli 1958 den Chef der MfS-Bezirksverwaltung, Alfred Kraus, zum Geschädigten und Zeugen der Anklage werden. Vorausgegangen war dem eine lautstarke Auseinandersetzung: Alfred Kraus, der »am 5.7.1959 das Bierzelt ›Oberbayern‹ in der Stalinstraße in Rostock« aufsuchte, beschwerte sich an jenem Abend beim Wirt, dass dieser einen Stuhl von seinem Tisch fortgenommen habe. Auf jenem Stuhl saß zuvor noch sein Begleiter, der von einem Bedürfnis getrieben, aufgestanden war. Mit am Tisch waren auch die Ehefrauen der SEDFunktionäre. Der Wirt reagierte auf die Beschwerde wirsch und ungehalten: Er schien weniger durch diese selbst als durch die »Abzeichen der SED am Jackettaufschlag« – Kraus trug daneben noch »das intern[ationale] Abzeichen der Widerstandskämpfer ›FIR‹« – provoziert worden zu sein. Im Weiteren lieferte er sich einen lautstarken Wortwechsel mit dem Bezirkschef. Dieser gab später an, der Wirt habe »die Genossen in den Augen der anderen Gäste lächerlich [...] machen« wollen. 237 Auch die Kellnerin, »eine jüngere Frau, [...] lehnte« es nun ab, den Genossen und ihren Ehefrauen »weiter Bier zu bringen«. 238 Die Situation eskalierte unter den Blicken der Zeltgäste zusehends. Es schien nur eines Auslösers zu bedürfen: Zugleich moderierte »der Ansager der Musikkapelle« den folgenden Titel mit den Worten an, »daß man im Bierzelt jetzt das ›Alpenglühen‹ sehen werde«. 239 Das »Zelt verdunkelte« sich. Vor dem Tisch des Bezirkschefs erschienen drei Jugendliche, die ihm erklärten, »du müsstest als SED-Mitglied eigentlich wissen, daß du dich anständig zu benehmen hast«. 240 Äußerungen wie, »was der sich mit dem Bonbon einbildet«, belegten zudem, dass den dreien die Abzeichen ebenso »nicht paßten«. 241 Alfred Kraus zeigte sich seinerseits nicht nur »überrascht«, wie er zu Protokoll gab, »mit welcher Frechheit sich diese Jungens in unsere Angelegenheiten einzumischen versuchten«. 242 Vorsichtshalber verließ er das Zelt. Draußen erwarteten ihn 237 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Sachstandsbericht, betr.: Untersuchungsvorgang [Name] und [Name] Rostock, 13.7.1959: BStU, MfS, BV Rostock, AU 43/59, Bd. I, Bl. 44–48, hier 47. 238 MfS, BV Rostock, Abt. IX, betr. Geplanter Überfall der Rowdys [Name] und [Name] beim Bierzelt »Oberbayern« in Rostock, Stalinstraße, Rostock, 5.7.1959: BStU, MfS, BV Rostock, AU 43/59, Bd. I, Bl. 49–52, hier 50. 239 Ebenda. 240 Ebenda sowie Staatsanwaltschaft Rostock, an das Bezirksgericht Rostock, 1. Strafsenat, Anklage, 9.9.1959: BStU, MfS, BV Rostock, AU 43/59, Bd. IV, Bl. 22–29, hier 26. 241 Ebenda. 242 MfS, BV Rostock, Bildererkennungsprotokoll des Zeugen Alfred Kraus, Rostock, 14.8.1959: BStU, MfS, BV Rostock, AU 43/59, Bd. II, Bl. 161–167, hier 162.

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bereits die drei »halbstarken« siebzehnjährigen Bäckergesellen. Lediglich die folgenden zwei Festnahmen verhinderten eine weitere Eskalation. Die Festgenommenen wurden in MfS-Untersuchungshaft überstellt und vom 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock am 2. Oktober 1959 zu je einem Jahr Haft verurteilt. Der dritte Jugendliche entzog sich durch Flucht seiner Festnahme und konnte nicht ermittelt werden. 5.6.1 Jugendlicher Übermut, Randale und Rebellion: Phantasiegestalten in der MfS-Überlieferung zum Widerstand Ab den frühen Morgenstunden des 13. August 1961 riegelten DDRKampfgruppen, unterstützt von Kasernierten Volkspolizisten und der Grenzpolizei die Sektorengrenze in Berlin zum Westen hin ab. Die deutsch-deutsche Teilung schien durch die Schließung der bis dahin noch offenen innerstädtischen Grenze zementiert. Nicht nur, aber vor allem in Berlin kam es zu Unmutäußerungen und Protesten. Zeitweilig sah es so aus, als könne sich die Situation in den Innenstadtbezirken von Ost-Berlin verselbstständigen. Das, was viele Regimegegner insgesamt erhofften, Unruhen und den Kollaps der DDR, musste der SED, die den Ausbruch eines zweiten 17. Juni befürchtete, wie ein Albtraum erscheinen. Mit Schauprozessen in mehreren Orten der DDR und drakonischen Strafen versuchte die SED, die Situation unmittelbar nach der Grenzschließung unter Kontrolle zu bekommen. An der Küste regierte die SED mit drei politischen Schauprozessen auf die von ihr befürchteten Unruhen. Auch wenig dramatische Vorfälle sollten dabei wirkungsvoll aufgebauscht und durch hohe Zuchthausstrafen eine abschreckende Wirkung angestrebt werden. Nur wenige Tage nach dem 13. August erreichten die Auswirkungen der Berliner Ereignisse auch den Küstenbezirk. Am 18. August, kurz vor 12 Uhr, kehrte die SEEBAD BINZ, eines der Fahrgastschiffe der »Weißen Flotte«, eskortiert von einem Grenzboot in den Saßnitzer Hafen zurück. Die SEEBAD BINZ war an jenem Tag von Wolgast aus mit dem Ziel Bornholm ausgelaufen. Aufgrund der bewegten See hatte sich der Kapitän jedoch entschlossen, anstelle der 5-Meilen-Aussicht auf die dänische Insel Bornholm Kurs rund um Rügen zu nehmen. Unverrichteter Dinge kehrte sie nun vorzeitig nach Saßnitz zurück. Die SEEBAD BINZ wurde im Hafen nach einer kurzen Zwischenstation am Zollpier vertäut und von bewaffneten Angehörigen des Betriebsschutzes und Kriminalbeamten empfangen. Ausgelöst worden war der Vorfall durch einige christliche Jugendliche aus Berlin-Schmöckwitz. In der durch die DDR-Propaganda aufgeheizten Stimmung geriet ihnen ein mehr oder weniger harmloser Zettel zum Verhängnis. Mit ihm hatten sie den Kapitän bewegen wollten, das ursprüngliche

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Ausflugziel doch noch anzusteuern. Die enttäuschten Jugendlichen sahen in dem Kurswechsel eine Sicherheitsmaßnahme angesichts des Mauerbaues. Nach der Feststellung der Personalien der an Bord Anwesenden verhaftete die Polizei mehrere Jugendliche. Mit Handschellen gefesselt hatten sie unter den Blicken der bewaffneten Aufpasser auf einen Lkw zu steigen, der sie nach Bergen und später in die Stasi-Untersuchungshaft in Rostock brachte. Die DDR-Propaganda sprach fortan von dem Versuch einer Meuterei, einem vereitelten Banditenstreich und der Entscheidung im Sturm auf hoher See. Was hatte sich tatsächlich auf der SEEBAD BINZ zugetragen? Offen blieb zunächst die Frage, warum die Schiffsmannschaft jenen Funkspruch abgab, der nach seiner Weiterleitung über Rügen Radio die Kette auslöste, die zur Inhaftierung der Jugendlichen führte. Erst die Nachforschungen des Journalisten Hellmuth Henneberg brachten im Jahre 2002 neue Erkenntnisse. In seinen Buch »Meuterei vor Rügen – was geschah auf der SEEBAD BINZ. Der Prozess gegen die Junge Gemeinde 1961 in Rostock« ging er der Frage nach. Zunächst spielte die aufgeheizte Stimmung nach dem Mauerbau eine entscheidende Rolle. Hinzu kamen die allgegenwärtigen Berichte in der Tagespresse über gewalttätige Jugendliche, die die Bevölkerung terrorisierten. Doch schien es noch andere Gründe für den Funkspruch gegeben zu haben. Die Meldung erfolgte auch, weil sich unter denen, die den Zettel mit dem Gesuch abgaben, Richtung Bornholm weiterzufahren, viele Berliner befanden. Jene hatten sich auf dem Zettel als solche zu erkennen gegeben: »In Anbetracht der guten Stimmung [...] bitten 10 Berliner stellvertretend für die meisten Passagiere«, hieß es hier, um die Weiterfahrt. Als Berliner galten sie in den Tagen nach dem Mauerbau, so Henneberg, »als politisch unsichere Kandidaten«. Die Seeleute räumten später bei der Recherche ein, dass sie die Anrede des Kapitäns mit »seine Majestät, dem Herrn Admiral« als zynisch und abschätzig empfanden. Sie fühlten sich in ihren Vorurteilen bestätigt. Demnach seien die sich als »Hauptstädter« betrachtenden Berliner laut und überheblich. All dies brachte in der Summe, so Hennebergs Fazit, »das Fass zum Überlaufen« und sorgte dafür, dass die Meldung abgesetzt wurde, dass es auf der MS BINZ Problem gäbe, die ein Eingreifen erforderlich machten. 243 Der von den DDR-Stellen hochgespielte Vorfall geriet zugleich zu einer Generalabrechnung mit der Jungen Gemeinde und diente zum propagandistischen Angriff auf die evangelische Kirche insgesamt. Das Bezirksgericht Rostock verurteilte die beiden Hauptangeklagten nur acht Tage später in einem Schauprozess am 26. August zu je acht Jahren Zuchthaus. Sechs weitere Jugendliche erhielten Haftstrafen zwischen zwei Jahren und vier Monaten. 244 243 Henneberg, Hellmuth: Meuterei vor Rügen – was geschah auf der SEEBAD BINZ? Der Prozess gegen die Junge Gemeinde 1961 in Rostock. Rostock 2002, S. 23–27. 244 Ebenda, S. 23–26 und 136–138.

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Zu einem weiteren Vorfall kam es am 16. August 1961 im Gartenlokal »Lindenhof« in Rostock Gehlsdorf. Unter dem Begriff »Kuno-Partei-Bande« sollte er in den Berichten der SED und Stasi und in späteren Auswertungen Berühmtheit erlangen. Am Anfang stand ein eher unpolitischer Disput. Er mündete in einer handfesten und zugleich politischen Auseinandersetzung. Mehrere Mitglieder einer Montagebrigade hatten sich zuvor an der Konsum-Verkaufsstelle Gehlsdorf Mut angetrunken. Von hier aus zogen sie zum benachbarten »Lindenhof«, um das Trinkgelage fortzusetzen. Laut grölend fielen die Montagearbeiter hier unangenehm auf. Unter anderem sangen sie ein Lied mit der Zeile »Wir haben die Rostocker satt und wollen in eine andere Stadt«. 245 Einen Gast, der sie bat, weniger laut zu sein, beschimpften sie als »VP-Spitzel«. Als er den Saal verlassen wollte, warf ihm jemand, so steht es im Polizeibericht, »einen Aschenbecher und ein Bierglas« hinterher. Während die Gegenstände Richtung Ausgang flogen, betrat ausgerechnet der Polizei-Abschnittbevollmächtigte den Raum. Routinemäßig wollte er nach dem Rechten sehen und lief unbedacht in die Flugbahn der Wurfgeschosse hinein. 246 Die Situation eskalierte. Der Versuch des Volkspolizisten, den Übeltäter aus dem Saal zu schleifen, endete in einem Handgemenge, in dem auch drei eilig herbeigerufene Polizisten untergingen. Schließlich rückte ein »Schnellkommando« an. Die Volkspolizei versperrte von außen die Türen und nahm die Anwesenden nach und nach fest. Der im anhaltenden Gerangel zu hörende Ruf, »wir wollen unsere Freiheit« konnte, mochte aber nicht zwingend doppeldeutig gemeint sein. Der Ruf nach Freiheit versinnbildlichte zunächst die Lage der im Saal Eingeschlossenen. Einmal von den Protestierenden als Forderung erhoben, wurde er von den Polizisten und den später ermittelnden Stasi-Mitarbeitern interessengeleitet ausgelegt. Sie suchten nach einem Anlass, ein Exempel statuieren zu können, um jedermann nach dem 13. August deutlich zu machen, wer in der DDR die Macht hat. Der Ruf nach Freiheit wurde von den Ermittlern als Angriff auf die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt verstanden und so umgedeutet. Dementsprechend argumentierte später auch der Staatsanwalt. Weiter Rufe waren zu vernehmen, die den politischen Charakter schließlich belegten, wie »das ist also Demokratie, eine Schweinerei ist das«, »rauf auf die Bolschewiki, ich habe zweimal gegessen«, »schlagt die Bolschewisten tot« oder auch »ihr redet immer von dem brutalen Vorgehen der Polizei in Westdeutschland. Aber hier wird man von der Volkspolizei noch viel schlimmer behandelt.« 247 Die Auseinandersetzung mündete so im politischen Protest. Zugleich handelte es sich aber 245 Erster Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock, Urteil, Rostock, 25.10.1961: BStU, MfS, BV Rostock, AU 137/61, GA/ASt, Bd. V, Bl. 175–209, hier 191. 246 Ebenda, Bl. 192. 247 Ebenda, Bl. 193–196.

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auch um Beschwerden über das als unangemessen hart empfundene Vorgehen des Räumkommandos. In anderen Fällen dienten die Rufe dem Zweck, die Saalschlacht anzufeuern. Schnell wusste das MfS politisch Anstößiges über die Verhafteten zu berichten. In den Tagen zuvor hätten sich diese vor der »Konsum-Verkaufsstelle [...] gegen die Berlin-Maßnahmen ausgesprochen«. 248 Am 16. Oktober 1961 erfolgte »die Urteilsverkündung entsprechend der gestellten Strafanträge«. Gegen die acht Hauptangeklagten wurden Zuchthausstrafen von zweimal acht, dreimal sieben, einmal fünf und einmal vier Jahren verhängt. 249 In der Berichterstattung des MfS sollte das Geschehen weiter ausgeschmückt und uminterpretiert werden. Nach dem Mauerbau suchte man nach den Schuldigen für die Unruhe im Lande. Abschreckende Gerichtsprozesse mit hohen Haftstrafen sollten an vielen Orten der DDR disziplinierend wie erzieherisch ihre Funktion entfalten. Neben der »Meuterei auf der MS Binz« fand man im Bezirk Rostock in den Raufbolden von Gehlsdorf abermals eine dankbare Vorlage für das Szenario. Der Vorfall firmierte in den Akten des MfS und den folgenden Auswertungen so unter der Bezeichnung der »Kuno-Bande«. Aus der »KunoBande« wurde wenig später die »Kuno-Partei-Bande«; eine Bezeichnung, die nachfolgend in den nach Berlin versandten Berichten und in späteren Darstellungen zu beachtlicher Prominenz gelangte. 250 Erkennbar seien die Mitglieder der »Kuno-Partei-Bande«, hieß es in der Urteilsbegründung des Bezirksgerichts wenig überzeugend, an ihrem »einheitlichen Stoppelhaarschnitt«.251 Am 9. August, einige Tage vor der Tat hätten sie sich gemeinschaftlich handelnd die Haare schneiden lassen, was sie nun überführe. Auffällig sei zudem »ihr lautes Wesen«. Zu den Aktivitäten der »Kuno-Partei-Bande« zählten zudem die »üblichen Zechtouren«, die sie von Kneipe zu Kneipe führe. Besuche in WestBerlin, das Hören westlicher Sender und einige Briefkontakte in die Bundesrepublik sollten im Folgenden die Gemeingefährlichkeit mustergültig belegen. Unterstellt wurde den Jugendlichen in den Berichten – so die ZAIG in Berlin – manch eine unaufgeklärte politische Protestaktion: So die in den letzten

248 Ebenda, Bl. 195. 249 Erster Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock, Urteil, Rostock, 25.10.1961: BStU, MfS, BV Rostock, AU 137/61, GA/ASt, Bd. V, Bl. 175–209, hier 177; MfS, HA IX, (Bericht) betr.: Liquidierung feindlicher Stützpunkte auf dem Gebiet der DDR im Monat Oktober 1961, Berlin, 9.11.1961: BStU, MfS, HA IX, Nr. 11217, Bl. 1–55, hier 53. 250 Münkel, Daniela: Nach dem Mauerbau: Bevölkerungsstimmung und besondere Vorkommnisse in den drei Nordbezirken. Dokumentation der Berichterstattung durch das Ministerium für Staatssicherheit. In: Zr. 15 (2011) 1, S. 36–46, hier 41; Heinz, Michael; Krätzner, Anita: Verurteilt wegen »staatsgefährdender Hetze«. Reaktionen im Bezirk Rostock auf den Mauerbau 1961. In: Zr. 15 (2011) 2, S. 39–49, hier 44 f. 251 Erster Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock, Urteil, Rostock, 25.10.1961: BStU, MfS, BV Rostock, AU 137/61, GA/ASt, Bd. V, Bl. 175–209, hier 191.

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Monaten rund um den Überseehafen auftauchenden politischen Losungen, die »Unbekannt« des nächtens anbrachte. Mit der Phantasiegestalt der »Kuno-Partei-Bande« belegte das »Ermittlungsorgans« die spezifisch männliche Sicht seiner fast durchgängig männlichen Mitarbeiter auf den Widerstand insgesamt. Wie in anderen Fällen galt es jenen zu diskreditieren, gegebenenfalls war er zu kriminalisieren. Auch der Begriff der Bande schien nicht zufällig gewählt: Unter einer Bande verstand man gemeinhin eine Form des vorrangig männlichen Broterwerbs, verbunden mit einem fern ab von »Haus und Herd« vagabundierenden »Banditentum«. Ähnlichkeiten hierzu wies der Prozess um die »Glatzkopfbande« auf, der vom 1. bis 4. September 1961 stattfand. Den Auslöser bildete eine Rangelei mit Jugendlichen auf dem sieben Kilometer langen, für 13 000 zugelassenen und mit etwa 20 000 Urlaubern mehr als überbelegten Zeltplatz zwischen Bansin und Ückeritz (Usedom) am Abend des 1. August 1961. Die Disziplinlosigkeit einiger Jugendlichen spielte man im Folgenden zum politischen Fall hoch. Auch hier sollte der angespannten Stimmung nach dem 13. August und der Suche nach »auswertbaren« abschreckenden Beispielen eine entscheidende Rolle zukommen. Das Kreisgericht in Wolgast verurteilte sieben der Jugendlichen zu längeren Haftstrafen; die Urteile vor dem Bezirksgericht in Rostock gegen vier weitere Beteiligte lauteten auf acht, fünf und zweimal vier Jahre Zuchthaus. 252 Auch 1964 kam es zur Konfrontation zwischen aufbegehrenden Jugendlichen und der Staatsmacht. Den Auslöser bildete ein Konzert der beatinspirierten Gitarrenband »Jan Rohde and the Wild Ones« aus Dänemark, die im Rahmen der »Ostseewoche« für internationales Flair in Rostock sorgen sollten. Bald griffen die Volkspolizei und FDJ-Ordner jedoch ein. Ein Teil der um ihre Party gebrachten Jugendlichen revanchierten sich auf ihre Weise und ließen sich dies nicht gefallen. Die von der SED vorangetriebene Entgrenzung zwischen dem privaten und politischen Bereich bedingte, dass der Protest so auch ein politischer wurde. Bei ihrem Auftritt in Rostock am Abend des 9. Juli wurde die dänische Band »Jan Rohde and the Wild Ones« von etwa fünftausend Jugendlichen »frenetisch gefeiert«. 253 Wie die Volkspolizei in ihrer Meldung über die »Vorkommnisse auf dem Platz der Jugend anläßlich der 7. Ostseewoche« vom 10. Juli 1964 mitteilte, versetzten »Jan Rohde and the Wild Ones« die Zuhörer mit »dem Gesang und dem Gitarrenspiel so in Extase«, »daß die Jugendlichen sich 252 Bennewitz, Inge: Die wahre Geschichte der »Glatzkopfbande«. Ein Film und seine Hintergründe. In: Apropos: Film 2001. Das Jahrbuch der DEFA-Stiftung. Berlin 2001, S. 232–260. 253 Rauhut, Michael: Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964 bis 1972 – Politik und Alltag. Berlin 1993, S. 108; Meldung des Volkspolizeikreisamtes Rostock, Abteilung Kriminalpolizei, an den Chef der Volkspolizei im Bezirk Rostock, Rostock, 10.7.1964: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2813/64, GA/ASt, Bd. 10, Bl. 24–26, hier 24.

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grölend und pfeifend bemerkbar machten«. 254 Der Bericht war vom Unverständnis über jene im Osten bislang kaum bekannte Jugendkultur geprägt. Auch ist nicht auszuschließen, dass die Volkspolizei, um ihr hartes wie ungelenkes Eingreifen zu rechtfertigen, die Vorgänge anschließend dramatisierte. Schließlich hatten sie den Krawall damit heraufbeschworen. Ein unter gewöhnlichen Verhältnissen an sich unpolitisches Spektakel erhielt nun schnell eine politische Komponente. Aus einer unorganisierten Menge heraus kam es zum spontanen Protest. Er erhielt auch deshalb seine Brisanz, weil bestimmte Dinge in einem sich über ordnungsstaatliche Prinzipien legitimierenden Regime als gesetzt gelten konnten. Jugendkrawalle waren nach der Lesart der SED Erscheinungen, die sich im Kapitalismus zutrugen und die Krisenhaftigkeit der westlichen Gesellschaften bewiesen. Im Sozialismus galt dies, da es jene Fehlentwicklungen hier nicht gab, als ausgeschlossen. Wer trotzdem aufbegehrte und in der DDR auf Rockkonzerten rebellierte, eiferte nicht nur seine westlichen Idole nach. Er bekannte sich zu einer in der DDR aus politischen Gründen als verabscheuenswürdig eingestuften Protestkultur und strafte die These von der Krisenanfälligkeit, die sich auf den Kapitalismus bezog und den Osten nicht erreichte, Lügen. Auch der Sozialismus, so die Botschaft, habe seine Probleme. Zugleich bot sich hier die seltene Gelegenheit, den unbeliebten und das System verkörpernden FDJ-Ordnern und der Volkspolizei entgegenzutreten. Entscheidend war, dass man hier gemeinsam handeln konnte und sich nicht mehr, wie sonst, auf sich allein gestellt sah. So fanden sich in entsprechenden Situationen häufig schnell Jugendliche, die sich an einer Eskalation interessiert zeigten. Wer sich hingegen treu zur DDR hielt oder politisch nicht negativ auffallen wollte, wusste, auch wenn er sich von solchen Exzessen angesprochen fühlte, wie er sich zu verhalten hatte. Er wusste, dass es ratsam war, sich fernzuhalten und den Anweisungen der FDJ Folge zu leisten. Alles andere hätte Konsequenzen wie Aussprachen, ein in seinen Folgen kaum zu kalkulierenden Eintrag in den Kaderunterlagen oder den Entzug des Studienplatzes nach sich ziehen können. Zugleich zeigten solche Auseinandersetzungen nicht nur, dass es auch in der DDR Jugendliche gab, die selbstbewusster auftraten, sofern sich ihnen die Möglichkeit hierfür bot. Ein Teil schien auch bereit zu sein, sich gegebenenfalls spontan an politischen Protest zu beteiligen. Zugleich deutete sich an, dass im Land eine Jugend heranwuchs, die mit den Codes und Bildern der frühen DDR, der Aufbau- und Klassenkampfeuphorie, wenig anzufangen wusste. Für sie wogen die allgemeinen individuellen Werte wie die Freiheit der persönlichen Entfaltung schwerer als die vom Regime offerierten Chancen und Vergünstigungen, die dem zuteilwurden, der sich konform verhielt. Da die DDR ihnen dies verweigerte, erhielt das Drängen, diese Rechte gewährt zu bekommen eine hochpolitische Komponente. Dies 254 Meldung vom 10.7.1964 (ebenda).

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galt ebenso für die »Gammlerkleidung« und die langen Haare, die als Ausdruck eines westlichen Lebensstils das neu aufkommende Lebensgefühl unterstrichen. In diesem Punkt funktionierte die Kommunikation zwischen Herrschenden und Beherrschten: Da die SED hinter der »Gammlerkleidung« und den langen Haaren eine Rebellion der sichtbaren kleinen Zeichen gegen ihr Wertesystem und somit gegen ihre Herrschaft vermutetet, bekämpfte sie die entsprechenden »Auswüchse«, bis sie aufgrund der Größe, die die Bewegung in den siebziger Jahren erreichte und dem Antagonismus, der der »AntiGammler-Kampagne« im international Vergleich inzwischen anhaftete, hiervon schrittweise abließ. Grade weil sich die SED über jene Formen der westlichen Jugendkultur empörte, nutzten andererseits viele Jugendliche deren Attribute, um ihre Ablehnung gegenüber den Verhältnissen in der DDR kundzutun. So wurden Nietenhosen, Parka und lange Haare in Kombination mit einem demonstrativ unkonventionellen bis provokanten Verhalten zu einer Form des stillen öffentlichen Klein-Protestes im Alltag gegen die Verhältnisse im SED-Staat. Dies war auch in Rostock und entlang der Küste nicht anders. Als dies später einigen Jugendlichen nicht mehr ausreichte, steckten sie sich eine Sicherheitsnadel oder Kanüle in den Kragen ihrer Jeansjacke. »Ich lasse mir den Sozialismus nicht einimpfen«, lautete die unmissverständliche Botschaft, die sich damit verband. 255 Nach dem Ende des Konzertes in Rostock kam es, wie Michael Rauhut schrieb, zu den »ersten größeren Ausschreitungen im Kontext des Beat« in der DDR. 256 Laut Polizeibericht eskalierte die Situation während des Konzertes – »als sich die Darbietungen des Jan Rohde dem Ende näherten«: 257 Vor den Augen der Volkspolizisten und FDJ-Ordner versuchten mehrere ostdeutsche Beatniks die Bühne zu stürmen. 258 Die Polizei reagierte mit ausgesprochener Härte, riegelte den Bühnenbereich ab und versuchte die Musikfans zurückzudrängen. Zugleich brach die FDJ das Konzert ab und bat die Anwesenden, zum Tanz in die Jugendclubhäuser »Florian Geyer« und »Rostocker Greif« zu gehen. Das Erscheinen eines VP-Meisters »mit seinem Schutzhund« sorgte schließlich dafür, dass die Situation aus dem Ruder lief: Über die Polizeikette 255 Hierzu u. a. BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »Gruppierungen, die sich organisiert treffen«, L 9, DKK, Bl. 177, 187. Beschrieben wird hier ein Vorgang vom März bzw. Mai 1967 in Stralsund. Als Träger der Kanüle werden 27 Jugendliche namentlich aufgeführt, mit denen »Aussprachen« und »Auswertungen« an den Schulen durchgeführt wurden. 256 Rauhut, Michael: Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964 bis 1972 – Politik und Alltag. Berlin 1993, S. 108. 257 Fernschreiben an den Generalstaatsanwalt der DDR, Sekretariat, (Absender unklar, lediglich: gez. Saß), betr.: Besonderes Vorkommnis auf dem »Platz der Jugend« anläßlich der 7. Ostseewoche (ohne Datum): BStU, MfS, BV Rostock, AU 2813/64, GA/ASt, Bd. 10, Bl. 53 f., hier 53. 258 Ebenda sowie Meldung des Volkspolizeikreisamtes Rostock, Abteilung Kriminalpolizei, an den Chef der Volkspolizei im Bezirk Rostock, Rostock, 10.7.1964: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2813/64, GA/ASt, Bd. 10, Bl. 24–26, hier 26.

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ergossen sich »auf einmal aus der Menge Steine und Flaschen«. Auch Blitzknaller dienten »bei diesem Tumult [...] als Wurfgeschosse«. Eben jener Hundeführer, der den Eklat ausgelöste, wurde mit einem Stein im Gesicht getroffen und ernsthaft verletzt. 259 Vier Jugendliche wurden festgenommen. Doch beruhigte sich die Lage kaum: Während ein »Fahrzeug des S-Kommandos« die Festgenommenen an das Volkspolizeikreisamt überstellte, zogen gut dreihundert Jugendliche die Leninallee hinunter, um deren Freilassung einzufordern. 260 Auf der Leninallee spielten sich bis dato in der Hansestadt unbekannte Szenen ab: Laut VP-Protokoll gingen Straßenlampen zu Bruch, »Fahrzeuge wurden an der Weiterfahrt behindert«, ein »Trabant, der sich durch die Menge schlängeln wollte«, von »Rowdys« bestiegen. Die Jugendlichen versammelten sich vor dem Gebäude der Volkspolizei und forderten unter »Pfui-Rufen« und mit Losungen wie »Scheiß-Bullen« und »Lasst die Jungs frei« die Freilassung ihrer Freunde. Abermals flogen Flaschen, Steine und Erdklumpen. Mehrere Demonstranten hämmerten an das Tor der Volkspolizei. Mit Gummiknüppeln und einem Wasserwerfer ging die Volkspolizei gegen den Tumult vor. Nach 17 weiteren Festnahmen kehrte allmählich Ruhe vor dem Kreisamt ein. 261 Von den nun insgesamt 21 Verhafteten wurden vier als »Rädelsführer« in die Untersuchungshaft eingeliefert und anschließend angeklagt. Am 28. September 1964 verurteilte das Kreisgericht Rostock die Achtzehn- bis Vierundzwanzigjährigen zu von einem Jahr und sechs Monaten, einem Jahr und drei Monaten, zu zehn Monaten bzw. vier Monaten Haft. 262 Zuvor war die Generalstaatsanwaltschaft der DDR eingeschaltet worden. 263 Schließlich, so hieß es in dem politisch brisanten Verfahren, »befanden sich« zum Zeitpunkt des »Aufruhrs zahlreiche ausländische Gäste in den Mauern unserer Stadt, die sich ein reales Bild über die Verhältnisse in der DDR« hätten machen sollen. 264 Zwar entsprachen die Vorgänge rund um den Auftritt von »Jan Rohde and the 259 Ebenda. 260 Meldung des Volkspolizeikreisamtes Rostock (ebenda), Bl. 25 261 Ebenda.; Volkspolizeikreisamt Rostock, Abteilung K, Komm. AK, AK 1, Verfügung, Rostock, 10.7.1964: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2813/64, GA/ASt, Bd. X, Bl. 1; Volkspolizeikreisamt Rostock, Abteilung K, Einsatzgruppe, an den Staatsanwalt der Stadt Rostock, Rostock, 10.7.1964: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2813/64, GA/ASt, Bd. X, Bl. 27–29; Hoffmann, Bodo: Zuchthaus für Rädelsführer. Vor Gericht verhandelt. In: Norddeutsche Neueste Nachrichten, 28.10.1964, S. 5: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2813/64, GA/ASt, Bd. X, Bl. 120; Vernehmung des Beschuldigten, [Name], (keine Angaben zur ermittlungsführenden Instanz), Rostock, 20.8.1964: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2813/64, GA/ASt, Bd. X, Bl. 66–68. 262 Urteil der Strafkammer des Kreisgerichts Rostock (Stadt) vom 28.9.1964, S 381/64: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2813/64, GA/ASt, Bd. IX, Bl. 95–111. 263 Fernschreiben an den Generalstaatsanwalt der DDR, Sekretariat, (Absender unklar, lediglich: gez. Saß), betr.: Besonderes Vorkommnis auf dem »Platz der Jugend« anläßlich der 7. Ostseewoche, (ohne Datum): BStU, MfS, BV Rostock, AU 2813/64, GA/ASt, Bd. 10, Bl. 53 f. 264 Ebenda, Bl. 107. Vgl. hierzu auch den Gerichtsbericht: »Zuchthaus für Rädelsführer«. In: Norddeutsche Neueste Nachrichten, 28.10.1964, S. 5.

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Wild Ones« einem internationalen Trend. Auch andernorts in Europa kam es am Rand von Beat- und Rock-Konzerten zu Tumulten. 265 Den Verantwortlichen der »Ostseewoche« schien jene Form der Internationalität hingegen inakzeptabel. Vielmehr meinte man, dass »derartige Vorkommnisse [...] nichts dazu beitragen« könnten, »das Ansehen der DDR zu erhöhen«.266 Vielmehr wurden die inhaftierten Jugendlichen zu gemeingefährlichen Staatsfeinden stilisiert. Im Zweifelsfall schuf sich das SED-System seine Gegner analog zu den ihm eigenen Feindbildern selbst. 1978 kam es erneut zur Randale auf dem »Platz der Jugend«: Nach einem abgesagten Rockkonzert unter dem Titel »Musik Shop 1978« lieferten sich etwa fünfzig Jugendliche mit der Polizei und den Ordnern eine Schlägerei: Die als »Bullenschweine« titulierten Volkspolizisten wurden mit Steinen und Flaschen beworfen. Unter anderem Rufe wie »Scheiß Sozialismus« und »Freiheit« waren zu vernehmen. Neun männliche Jugendliche wurden als »Rädelsführer« inhaftiert und angeklagt. 267 5.6.2 Rollenbild und Aktenüberlieferung: unterschätzte Frauenpower Vorfälle wie die Fahnenabrisse, gezielte Sachbeschädigungen und verbale Angriffe gegen Funktionäre nahmen einen breiten Platz in der MfSBerichterstattung ein. Hier erwies sich die Zuschreibung »jung« und »männlich« als durchaus zutreffend. Ebenso lehnten sich aber auch Frauen gegen das SED-System auf, verhielten sich nonkonform, protestierten und leisteten Widerstand. Ab den sechziger Jahren bezeugten auch Frauen durch »auffallend lange Haare u[nd ihre] Bekleidung«, die sie als »Gammler« bzw. »Halbstarke« auswies, ihren Nonkonformismus und gerieten so in Konflikt mit den Vertretern des SED-Staates. 268 In den Friedens-, Umwelt- und Ausreisegruppen der achtziger Jahre ging von ihnen oft die Initiative aus. Anzuführen sind auch die Proteste der Ausreiseantragsteller, so auf dem Universitätsplatz 1988 in Rostock, oder auch die Beteiligung am Olof-Palme-Marsch 1987 in Stralsund mit dem Plakat »Frieden in Europa heißt auch keine Schüsse an unserer Grenze«. Aufschlussreich ist, was die Beteiligung von Frauen und die Bewertung durch das MfS anbelangt, das, was zu den »Gammlern« und »Halbstarken« geschrieben wurde. Die Stasi erfasste jene ab den sechziger Jahren in eigens 265 Janssen, Wiebke: Halbstarke in der DDR. Verfolgung und Kriminalisierung einer Jugendkultur. Berlin 2010. 266 Urteil der Strafkammer des Kreisgerichts Rostock (Stadt) vom 28.9.1964, S 381/64: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2813/64, GA/ASt, Bd. IX, Bl. 95–111, hier 108. 267 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »Rowdytum«/»mündliche Hetze Bekannt«. 268 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »Rowdytum«/»mündliche Hetze Bekannt«.

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hierfür angelegten Listen. Zwar handelte es sich um ein auch in anderen, vor allem westlichen Staaten zu beobachtendes Phänomen einer rebellischen Jugendkultur. Allein bereits das reichte dem MfS, dem dies suspekt genug vorkam. Hören »nur NATO-Sender«, lassen sich »negativ beeinflussen«, »Vorbilder« sind »die Rolling Stones« und »Beatles«, notierten hierzu die geheimen Überwacher. 269 Gewalttätig wurde von den Jugendlichen nur eine Minderheit. Unter den in diesem Zusammenhang Aufgeführten befanden sich – von einer Ausnahme abgesehen – ausschließlich männliche Jugendliche. Doch sind die Angaben hierzu unvollständig. In der entsprechenden Deliktekartei wurden häufig nur die »Rädelsführer« benannt, so dass offen bleibt, wer insgesamt zur betreffenden »Clique«, die am Vorfall beteiligt war, zählte. 270 Anders sieht das Verhältnis bei jenen Jugendlichen aus, die zum Ärger der Spießbürger und Funktionäre sowie der Volkspolizei und Stasi ihren »westlichen Vorbildern« öffentlich nacheiferten. Eine 1960 von der Stasi vorgelegte »Aufstellung über Jugendliche, die sich wie Rowdys und Halbstarke benehmen«, führte die Namen von 22 männlichen Jugendlichen auf, die sich regelmäßig in RostockReutershagen am Café Hochhaus oder am Kino Capitol in der Breiten Straße trafen. 271 Ergänzt wird die Liste durch einen Anhang, der den Titel trägt, »Aufstellung der Mädchen, die mit den auf Liste I aufgeführten Jugendlichen in Verbindung stehen und ständig mit ihnen zusammen sind«. 272 Der Titel ist Programm und spiegelt die nachgeordnete Bedeutung, die die Stasi den weiblichen Jugendlichen zubilligte, wider. Die hier genannten zehn Frauen werden als Anhang der männlichen Rebellen eingestuft. Die Stasi spricht letzteren, ohne dies in irgendeiner Form begründen zu können, die »Rädelsführerschaft« zu. Zwei Aufstellungen aus Wismar aus den Jahren 1969 und 1979 relativieren jene Aussage. Erwähnt werden hier zwei Freundeskreise, in denen offensichtlich über politische Fragen diskutiert wurde. 273 Sie bestanden jeweils aus drei »Langhaarigen«; zwei der Beteiligten waren laut Stasi männlichen, eine weiblichen Geschlechts. Unter den sich öffentlich politisch eindeutig positionierenden »Halbstarken« änderte sich auch das Zahlenverhältnis. So bei den langhaarigen Jugendliche, die mit einer am Kragen »getragenen Kanüle zum Ausdruck 269 Ebenda. 270 Ebenda. So bei einem Vorfall in Rostock 1966 im Kaufhaus »Centrum«. Aufgeführt wurden die Namen von drei männlichen Jugendlichen. Erwähnt wird jedoch, dass sich »im Erfrischungsraum des Kaufhauses [...] täglich 10–20 Jugendliche einer losen Gruppierung« trafen. Auch bei einem Treff von »Halbstarken« 1969 in Rostock-Lütten Klein wurden nur die vier »Rädelsführer« genannt. Zu den bei einem Vorfall am 2.5.1978 in Wismar aufgeführten Jugendlichen zählte auch eine Zwanzigjährige. 271 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Aufstellung über Jugendliche, die sich wie Rowdys und Halbstarke benehmen: BStU, MfS, BV Rostock, AU 10/61, HA, Bd. I, Bl. 85–88. 272 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Aufstellung der Mädchen, die mit den auf Liste I aufgeführten Jugendlichen in Verbindung stehen und ständig mit ihnen zusammen sind, ebenda, Bl. 89 f. 273 BStU, MfS, BV Rostock, Deliktekerblochkartei, »Rowdytum«/»mündliche Hetze Bekannt«.

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brachten, dass sie sich den Sozialismus nicht einimpfen lassen«. Unter denen, die von »offiz[iellen] u[nd] inoffi[ziellen] Quellen« der Stasi als »Kanületräger« 1967 in Stralsund gemeldet wurden, befanden sich 14 männliche und 8 weibliche Jugendliche. 274 Zwar ist das Beispiel der »Halbstarken« nicht repräsentativ für das politischabweichende Verhalten insgesamt. Doch lässt sich hiervon die These ableiten, dass, sobald Protest inhaltlich anspruchsvoller wurde und sich intelligenterer Formen bediente, auch der Anteil der Frauen, die sich an ihm beteiligten, stieg. Das häufig in der DDR bemühte Wort, »Mensch, lass dich doch nicht für jeden Mist einsperren«, schien nicht nur im Verhältnis von Widerstand und Opposition sowie kirchlich verankertem und außerkirchlichem Widerstand eine Rolle zu spielen, sondern auch bei der Beteiligung von Frauen am Geschehen. Immer wieder erwiesen sich Frauen beim Widerstand als Ideengeberinnen und Kristallisationspunkt und wirkten bei den Aktionen mit. Hinreichend Beispiele lassen sich ohne Weiteres anführen: In den Morgenstunden des 31. August 1983 rief die Volkspolizei in Rostock die Staatssicherheit zum Soforteinsatz an den Universitätsplatz. Neben dem »Ostermarschsymbol« waren gleich mehrere politisch unerwünschte Losungen angeschrieben worden. Unter anderem zweimal der Slogan »Frieden schaffen ohne Waffen«, der »Text ›Nur im Frieden kann die Sonne scheinen, aber ohne Waffen‹«, »Ich habe einen Traum von einer besseren Welt«, »Wir gehen auf dem Ball des Todes« sowie die Frage, »Ich hoffe, ihr seht was hier geschehen ist«? 275 Letzteres stand außer Frage. Der Stasi gelang es am 21. Dezember 1983 die Widerstandstat aufzuklären. Der Hinweis kam von einem »IM-Kandidaten«. Tags darauf erfolgte die Festnahme einer Sechzehnjährigen. Nach der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wurde sie im Untersuchungsgefängnis an der AugustBebel-Straße inhaftiert. 276 Weder die Haftbeschwerde noch die Vorlage eines dringenden Attestes eines renommierten Universitätsprofessors am 28. Dezember brachten das MfS und den Staatsanwalt von ihrer harten Linie ab. Beide weigerten sich am 29. Dezember mit Vehemenz, einer Entlassung der Minderjährigen zuzustimmen. 277 Am 2. Januar 1984 hob der 2. Beschwerdesenat des 274 Ebenda. 275 MfS, BV Rostock, KD Rostock, AGU, Einleitungsbericht zum OV »Maler« – gegen Unbekannt, Rostock, 11.11.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1221/84, Bd. I, Bl. 14–16. 276 MfS, BV Rostock, KD Rostock, AGU, Abschlussbericht zum OV »Maler«, Rostock 29.3.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1221/84, Bd. I, Bl. 167 f. 277 Schreiben H.J. Vormelker, Rechtsanwalt, Haftbeschwerde in der Strafsache gegen die minderjährige [Name], [Vorname], z.Zt. in Untersuchungshaft des MfS, wegen Vergehen nach § 220 StGB, Rostock, 23.12.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2035/84, GA, Bd. VIII, Bl. 123; WilhelmPieck-Universität, Bereich Medizin, [Name] Abteilung der [Name]klinik, […] Bescheinigung, Prof. Dr. sc. med. [Name], [Vorname], Rostock, 28.12.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2035/84, GA, Bd. VIII, Bl. 129.

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Bezirksgerichtes den »Haftbefehl des Kreisgerichtes Rostock-Stadt [...] da die Gründe in Fortfall geraten sind«, auf und ordnete die sofortige Entlassung der Sechzehnjährigen an. 278 In der Konsequenz kam es am 15. März 1984 zu einer »Auswertungsversammlung« an der Berufsschule. An ihr nahmen der Direktor, ein Inspektionsbeauftragter, ein Abteilungsleiter, die Klassenlehrerin und vierundzwanzig Schülern teil. MfS-Hauptmann Jahnel schilderte auf ihr in eindringlichen Worten »die Verfehlungen« der zu Weihnachten Inhaftierten. Er stellte den Vorfall in einen Gesamtzusammenhang mit der »gegenwärtigen internationalen Lage und den Angriffen des Imperialismus gegen Sozialismus, insbesondere die DDR«. Von den »Anwesenden wurden«, so das Protokoll des MfS, »keine Fragen gestellt«. 279 Widerstand war häufig seiner Urheberschaft nach nicht nur »jung«. Die jungen Protagonistinnen reflektierten in den von ihnen hinterlassenen Losungen gelegentlich auch ihre Lage als Heranwachsende in der »entwickelten sozialistischen Gesellschaft«. Erstmals tauchte die Losung »Wir sind mündig, doch wir haben nichts zu sagen« 280 in einer Länge von knapp 15 Metern am 11. März 1985 nachmittags »an der Rückwand der Sporthalle der 1. EOS Ernst Thälmann, in Blickrichtung S-Bahn« in Rostock am Goetheplatz auf. 281 Gefunden wurde von dem Heizer, der die Polizei verständigte, noch eine weitere Losung. Sie enthielt auf einem »Stück Pappe« folgenden Aphorismus: »Man sollte statt die Jungen Soldaten spielen zu lassen, lieber die Soldaten Jungen spielen lassen.« 282 Lange Zeit blieb unklar, wer die Losungen angeschrieben hatte. Die beiden jungen Frauen, die hierfür verantwortlich zeichneten, eine sechzehnjährige angehende Bauzeichnerin und ihre zwanzigjährige Freundin aus Potsdam, blieben zunächst unerkannt. 283 In der Nacht vom 2. auf den 3. September 1985 tauchte die Losung, »Wir sind mündig, doch wir haben nichts zu sagen«, in Rostock erneut auf. Diesmal fand die Staatssicherheit sie gleich an drei Stellen: »Auf der Ziegelmauer des Kröpeliner Tores«, im »Straßenbahnwartehäuschen am Leibnizplatz« sowie an 278 Bezirksgericht Rostock, 2. Beschwerdesenat, Beschluß in der Strafsache gegen [Name] Rostock, 2.1.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2035/84, GA, Bd. VIII, Bl. 130. 279 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Protokoll über eine Auswertungsversammlung im EV Rapp, Rostock, 4.1.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AU 2035/84, GA, Bd. VIII, Bl. 224 f. 280 Vgl. hierzu die Aussage während einer Vernehmung im Fall des OV »Signal«: »Nach Aussagen der Beschuldigten [...] ist ›Wir sind mündig ...‹ Teil eines Liedes des Liedermachers Kunze aus der BRD und wurde in ihrem Umgangskreis oft zitiert.« Nach: MfS, BV Rostock, Schlussbericht, Rostock, 2.5.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2164/87, Bd. I, Bl. 245–264, hier 257. 281 MfS, BV Rostock, Abt. XX/11, Schmiererei an der 1. EOS vom 11./12.3.1985, Rostock, 14.3.1985: BStU, MfS, BV Rostock, Abteilung XX, Nr. 526, Bl. 26 f. 282 Ebenda, Bl. 26. 283 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat III, Abschlussbericht zur OPK »Droge«, Bl. 151– 155, hier 153.

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der Rückseite eines Propaganda-Aufstellers. In Signalrot angesprüht bzw. mit schwarzer Farbe angemalt worden waren zudem die Losungen »Frieden schaffen ohne Waffen«, »DDR – KZ«, »DDR eingesperrt«, »Das Leben hat doch keine Sinn, wenn ich Kanonenfutter bin«, »Biermann lebt« und »Auf alle Fälle mit der nächsten Welle«. An einer Schautafel mit Farbe durchgestrichen worden war auch die offizielle Losung »Soldatentat – Jederzeit gefechtsbereit für Frieden und Sozialismus«. 284 Nach einer umfangreichen Fahndung gelang es der Stasi in Kooperation mit der Abteilung K der Volkspolizei, die Urheber zu ermitteln. Als sicher galt zunächst die Beteiligung einer Neunzehnjährigen. 285 Am 11. Februar 1986 folgte die »Zuführung zur Klärung eines Sachverhaltes«. Ebenso festgenommen werden sollte ihr neunzehnjähriger Lebensgefährte und eine siebzehnjährige Freundin. Die beiden Neunzehnjährigen waren den Behörden bereits als »hartnäckige Ausreiseantragsteller« bekannt. Mit ihrer nächtlichen Tat wollten sie sich gegen das SED-Regime auflehnen. Sie erfolgte aus der Verantwortung, »etwas tun zu müssen«. Am darauffolgenden Tag stellte die Staatsanwaltschaft gegen die drei Jugendlichen den Haftbefehl aus. 286 Am 1. Juli 1986 fällte das Kreisgericht Rostock sein Urteil gegen die Jugendlichen. Nach beinahe fünf Monaten U-Haft wurde die zum Tatzeitpunkt noch Siebzehnjährige zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren und zu zehn Tagen »gemeinnütziger Arbeit« verurteilt. Die Neunzehnjährige erhielt eine Haftstrafe von einem Jahren und sechs Monaten. Ihr Freund hatte sich in der U-Haft zur Zusammenarbeit mit dem MfS verpflichtet, brach den Kontakt beim ersten Treffen nach der Entlassung, zunächst ohne Folgen, jedoch ab. Später fand man einen anderen Vorwand, um ihn abermals inhaftieren zu können. 287 Auch andere Beispiele belegen, dass Frauen ebenso wie männliche »Täter« in vielerlei Form Widerstand leisteten. Am Morgen des 27. März 1987 lief beim MfS in Rostock die Meldung ein, »dass auf einem Heizungsrohr der Fernheizung im Bereich des S-Bahn-Haltepunktes Rostock-Marienehe« eine verbotene Losung zu sehen sei. Auf einer Länge von knapp 26 Metern konnte jeder, der hier im Nahverkehrs-Doppelstockzug vorbeikam, den Text lesen, »DDR = brutaler + faschistischer als Südafrika«. Die Staatssicherheit zeigte sich wenig belustigt über den ihrer Ansicht nach ungeheuerlichen Vergleich. In 284 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat III, Eröffnungsbericht zur Anlegung des Operativvorganges »Signal«, Rostock, 1.9.1985: BStU, MfS, HA XX, Nr. 12173, Bl. 178–182. 285 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat III, Abschlussbericht zum Operativvorgang »Signal«, Rostock, 19.8.1987: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2164/87, Bd. I, Bl. 438–452, hier 440. 286 MfS, BV Rostock, Abt. IX, Erstmeldung Ermittlungsverfahren, an das MfS Berlin, HA IX/AKG, Bereich Auswertung, Rostock, 12.2.1986: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2164/87, Bd. I, Bl. 216–219. 287 »DDR – eingesperrt«. Jugendliche im Stasi-Visier am Beispiel des Operativen Vorgangs (OV) »Signal«. Auszug aus einer Akte des MfS. Hg. v. der BStU (Quellen für die Schulen). 3. Aufl., Berlin 2009, S. 44.

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Kooperation mit der Volkspolizei leitete man alle nur erdenklichen Fahndungsmaßnahmen ein. 288 Die Ermittlungen führten vier Wochen später zum Erfolg. Nachdem weitere Losungen aufgetaucht waren, wie, die »DDR = die große hässliche Schande des Planeten Erde«, überführte man eine zweiundvierzigjährige Frau der Tat. Eine seit längerem zurückliegende medizinische Behandlung diente dem MfS als willkommene Gelegenheit, die Frau in die Psychiatrie einzuweisen. 289 Am 30. April 1988 inhaftierte die Volkspolizei eine zwanzigjährige Fachschülerin in Rostock. Sie hatte in den zurückliegenden Wochen zehn anonyme Briefe an verschiedene Zeitungsredaktionen sowie Partei- und Bezirksstellen im Ostseebezirk versandt. Vorgeworfen wurde ihr zudem, seit Februar eine größere Anzahl von Flugblättern im Hansaviertel verbreitet zu haben. In der Nacht vom 11. auf den 12. Februar 1988 zog sie das erste Mal los und brachte »5 Handzettel mit dem Text ›Frieden schaffen ohne Waffen‹« mit Reißzwecken im Wohngebiet rund um die Waldemarstraße an. 290 In den folgenden Wochen verteilte sie des Nachts weitere Flugblätter. Diesmal half ihr ihr Bruder, den sie in ihr Vorhaben eingeweiht hatte. In der Nacht zum 5. März fand die Polizei, »in den Straßen des Hansaviertels [...] 58 Handzettel«. Die Texte auf den zumeist 5 x 8 cm großen Flugblättern lauteten »Frieden schaffen ohne Waffen«, »Für die Abschaffung aller Waffensysteme«, »Freiheit auch für Andersdenkende« und »Achtung – Bitte verwenden Sie auch eigene Losungen zum 1. Mai«. Ein Zettel enthielt die Fragen, »Wo bleibt bei uns die Meinungsfreiheit?« und »Warum darf Wera Wollenberger jetzt 1 Jahr in England studieren u[nd] danach in die DDR zurückkommen?«. 291 In der Nacht vor ihrer Verhaftung, am 29. April, »legte sie 17 [...] [weitere] Zettel [...] im Stadtgebiet von Rostock ab«. Zugleich plante die Frau, 42 weitere Texte in den folgenden Nächten an den Bäumen in den Straßen links und rechts des Hansa-Kinos

288 MfS, BV Rostock, Information Nr. 390/87, Anbringen einer Schmiererei mit hetzerischem Inhalt auf einem Heizungsohr der Fernheizung im Bereich des S-Bahn Haltepunktes RostockMarienehe, Rostock, 27.3.1987: BStU, MfS, HA IX, Nr. 8583, Bl. 536, ebenso in: BStU, MfS, HA XX, Nr. 12173, Bl. 62 f. 289 Ebenda sowie MfS, BV Rostock, Information Nr. 390.1/87, Täterermittlung zum Anbringen einer Schmiererei mit hetzerischem Inhalt auf einem Heizungsrohr der Fernheizung im Bereich des SBahnhaltepunktes Rostock-Marienehe, Rostock, 1.5.1987: BStU, MfS, HA IX, Nr. 8583, Bl. 537. 290 MfS, BV Rostock, Untersuchungsabteilung, Bericht zu den gegen [Name], [Vorname] und [Name], [Vorname] durchgeführten Prüfungshandlungen, Rostock, 7.3.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1646/88, Beiakte, Bl. 49–51. 291 Ebenda, Bl. 49 f., sowie Der Staatsanwalt des Bezirkes Rostock, an das Kreisgericht RostockStadt, Strafkammer, Anklageschrift, Rostock, 9.6.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1646/88, Beiakte, Bl. 8–12, hier 11. Originale der Flugblätter: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1646/88, Beiakte, Bl. 74, 87.

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anzubringen. Nach ihrer Festnahme verurteilte sie das Kreisgericht RostockStadt zu einer »Freiheitsstrafe [...] von einem Jahr und drei Monaten«. 292 Die Einschätzung, dass Widerstand vorrangig »jung« und »männlich« sei, scheint auch durch die Überlieferung der vorrangig männlichen Ermittler und MfS-Mitarbeiter befördert worden ist. Deutlich wird dies an den Berichten über einen Öko-Kreis aus dem Norden. Im Mittelpunkt der Überlieferung steht hier das Wirken eines seiner männlichen Mitglieder. Hier verwirklichte sich das Bild einer männlichen »Führerschaft«. Unumstritten war zunächst, dass sich die Person stark engagierte. In ihrem äußeren Erscheinungsbild und Auftreten entsprach er mustergültig jenen Vorstellungen, die sich das MfS von einem umweltbewegten Dissidenten machte. Kaum hierzu passte, dass die Person erst später zum Kreis dazu stieß. Der Kreis bestand lange bevor sich der Betreffende im Bezirk Rostock berufsbedingt niederließ. Der Betreffende lieferte zum Teil selbst die Vorlage, die den Vorstellungswelten des MfS entsprach. Gegenüber dem VEB Grünanlagen und dem DDR-Kulturbund trat er selbstbewusst als Sprecher des Öko-Kreise auf. Da andere Gruppenmitglieder der Annäherungspolitik abwartend bis ablehnend gegenüberstanden, fand sich kein zweiter »Sprecher« für jene Gespräche. Doch fasste die Stasi in der Konsequenz die Aktivitäten des Öko-Kreises in einem unter seinem Namen geführten Operativen-Vorgang zusammen. De facto schob man ihm die Hauptverantwortung für die Existenz der Gruppe zu. 1984 räumte das Referat III der zuständigen Kreisdienststelle relativierend ein, dass der vom MfS observierte Öko-Kreis sechs weitere Mitglieder habe; vier davon waren weiblichen und zwei männlichen Geschlechts. 293 Ähnlich verhielt es sich im Fall der im Raum westlich von Rostock aktiven Jungen Gemeinden. Neben etlichen Ost-West-Treffen und mehreren Baumpflanzaktionen organisierten sie Anfang der achtziger Jahre die »Osterstationen«, zu denen Teilnehmer aus Leipzig und Berlin anreisten. Auf ihnen sollte nicht zuletzt auch über politische Fragen diskutiert werden. Verantwortlich zeichnete dafür laut MfS maßgeblich der zuständige Pfarrdiakon, den die Kreisdienststelle in einem Operativ-Vorgang bespitzelte. 294 Winfried Peltz debütierte als Mitarbeiter der Kreisdienststelle im November 1982 als MfS-Nachwuchskader mit einer Diplomarbeit an der »Juristischen Hochschule« in Potsdam-Eiche. Exemplarisch arbeitete er den Gruppenfor-

292 Strafkammer des Kreisgerichts Rostock-Stadt, Urteil, Rostock, 29.6.1988: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 1646/88, Beiakte, Bl. 33–36, hier 33. 293 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat III, Zwischeneinschätzung zur OPK »Baum«, Rostock, 9.11.1984: BStU, MfS, BV Rostock, AOPK 252/87, Bd. I, Bl. 18–22, hier 18 f. 294 MfS, BV Rostock, KD Bad Doberan, Zwischenbericht zum OV »Tonsur«, Bad Doberan, 11.11.1981: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 54/87, Bl. 124–139.

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mierungsprozess unter Leitung des Pfarrdiakons heraus. 295 Peltz entging, dass es häufig die Jugendlichen waren, die den Prozess vorantrieben. Auch bei den Baumpflanzaktionen und der »Osterstation« ging die Initiative von ihnen aus. Sie bereiteten das Programm vor, luden hierzu ein und führten die Treffen durch. Unterstützung erhielten sie dabei, wie einige der Beteiligten rückblickend betonen, vor allem von Ingeborg Rödl, die bis 1982 Vikarin in Bad Doberan war. 296 Die Staatssicherheit hielt dessen ungeachtet an ihrer Sicht und dem von ihr ausgemachten ›Führerprinzip‹ fest; Führung war demnach zumeist eine »männlicherseits« zu verortende Anleitung und Lenkung. Dabei schienen dem MfS Ingeborg Rödls Aktivitäten nicht unbekannt: Im Zwischenberichtes des Operativ-Vorganges schrieb Oberstleutnant Becker unter der Überschrift »Aufforderung [...] zum Besuch überörtlicher kirchlicher Veranstaltungen«: Durch Ingeborg Rödl erfolge, »eine nachhaltige politisch negative Einflußnahme speziell [...] gegen die Wehr- und Verteidigungspolitik der DDR, den Wehrunterricht sowie die Maßnahmen der ZV [Zivilverteidigung]«. 297 Ihre kirchlichen Vorgesetzten schienen sich keinen Illusionen angesichts der Virulenz ihrer Vikarin hingeben zu wollen: Noch in Bad Doberan entschieden sie sich, um das Staat-Kirche-Verhältnis nicht zu gefährden, auf die Vikarin mäßigend einzuwirken. Das MfS sprach von »innerkirchlichen Disziplinierungsmaßnahmen«. 298 Zugleich nutzte man die Ordination, um ihr eine Pfarrstelle andernorts, in Mühlen Eichsen im Bezirk Schwerin, zuzuweisen. Auch in Mühlen Eichsen bewahrte sich Ingeborg Rödl ihre Virulenz: Am 17. Juni 1983, einem Freitag, ließ sie außerplanmäßig die Glocken der Dorfkirche läuten. Dem eilig herbeistürzenden Dorfbürgermeister entgegnete sie auf seine Frage hin, warum sie läute, dass heute doch der 17. Juni sei. 299 Insgesamt ist der Annahme, Widerstand sei vorzugsweise »männlich«, zu widersprechen. Bei etlichen Widerstandsformen, so bei den politischen Losungen und Flugblättern, brachten sich Frauen ebenso engagiert ein wie männliche Widerstandsleistende. 295 MfS, Juristische Hochschule, 18. HSFL Lehrgang, Diplomarbeit, Thema: Die Entwicklung von Voraussetzungen für eine operativ nutzbare Methodik zur Analyse operativ interessierender sozialer Beziehungen zwischen feindlich negativen Jugendlichen und Jungerwachsenen in Gruppierungen/Gruppen, die in operativen Materialien, insbesondere OPK und OV bearbeitet werden, Autor: Oltn. Winfried Peltz, Bezirksverwaltung Rostock, Kreisdienststelle Bad Doberan, Abschluß der Arbeit: 3.11.1982: BStU, MfS, JHS-Nr. 289/82, 89 Seiten. 296 Zeitzeugengespräch mit Matthias Finger aus Kühlungsborn/Ost, Kühlungsborn, 21.4.2009. 297 MfS, BV Rostock, KD Bad Doberan, Zwischenbericht zum OV »Tonsur«, Reg.-Nr. I/730/81, Bad Doberan, 27.9.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 54/87, Bl. 297–303, hier 299. 298 Ebenda. 299 Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008, S. 202, Fußnote 485.

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5.6.3 Nachwachsende Unruhestoffe Demgegenüber ist der Annahme, Widerspruch und Widerstand seien häufig »jung« gewesen, mit Einschränkungen beizupflichten. Zwar gibt es genügend Beispiele, die belegen, dass ältere und mitunter sehr alte Menschen Widerstand leisteten, zum Beispiel beim Versenden anonymer Briefe und Postkarten, in denen sie das System kritisierten. Aber häufig zeichneten für die anfallenden Widerstandshandlungen Heranwachsende und Jungerwachsene verantwortlich. Verbunden mit der Abwesenheit etablierter oppositioneller Traditionen verlieh dieser Aspekt den ostdeutschen Gruppen im Vergleich zu den Dissidentenkreisen der Tschechoslowakei, in Ungarn und Polen ihren eigenen Charakter. Eine Folge war die fortwährende Suche nach adäquaten Formen und praktikablen inhaltlichen Anleihen, die man sowohl im Westen als auch im Osten fand. Bei alledem handelte es sich, den Umständen geschuldet, um »Gehversuche« oppositionellen Handelns. Polnische, ungarische, russische und tschechische Autoren erhielten in diesem Zusammenhang die ihnen in Ostdeutschland zukommende Bedeutung als Vorbilder und Vordenker von Opposition, obwohl sie nur das aussprachen, was in der Diktatur allerorts nahe lag. Auch den oppositionellen Gruppen ab Anfang der achtziger Jahre war das Charakteristikum »jung« mehrheitlich eigen. Auch hier trieben Schüler und Lehrlinge die inhaltliche wie praktische Arbeit in entscheidendem Maße mit voran. Doch stellte sich hier, wenn auch disproportional jung zuungunsten alt, ein generativer »Mix« ein. Er ermöglichte es, einmal gemachte Erfahrungen weiterzugeben. Ab Anfang der achtziger Jahre wurden nun Einsichten und Zugänge, wie es in der oppositionellen Szene anderer Ostblockstaaten üblich war, in Teilen tradiert. Im Ergebnis bedeutete es nicht nur viel, dass Erfahrenere ihre Sympathien gegenüber dem Engagement der Jüngeren und noch Unerfahrenen bezeugten. Durch ihr Mittun betteten sie das Engagement der Jüngeren in einen größeren Zusammenhang ein. In den sich vorrangig aus Jugendlichen zusammensetzenden Gruppen bildeten ihre Lebensläufe und -erfahrungen eine biographische Brücke zum Protest der fünfziger, sechziger oder siebziger Jahre. Sie hatten entweder in den Auseinandersetzungen um die Junge Gemeinde, als Bausoldaten und Teilnehmer der jährlichen Bausoldatentreffen des Evangelischen Jungmännerwerkes oder bei den Protesten gegen das DDR-Schulsystem frühzeitig Erfahrungen gesammelt. Zugleich waren sie in diesen Konflikten in ihrer Haltung zum SED-System für ihr weiteres Leben geprägt worden.

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Als Beispiel mag hier Walther Bindemann, seit 1981 Pfarrer in der Rostocker Südstadt, angeführt werden. 300 In Jena gehörte Bindemann 1968 einer Gruppe von Theologiestudenten an, die »ca. 1 000 Hetzflugblätter« anfertigten, um gegen die neue DDR-Verfassung zu protestieren. 301 Walther Bindemann wurde festgenommen und inhaftiert. Aus politisch-taktischen Erwägungen entschied der Generalstaatsanwalt, dass Bindemann aus der Haft ohne Prozess und Verurteilung freikam. 302 Die Jenenser Gruppe stand in Verbindung mit Gleichgesinnten in Greifswald, wo ebenso mehrere Flugblätter auftauchten. 303 In der Nacht vom 3. auf den 4. April 1968 fand man knapp fünfzig Flugblätter, die »in Blockschrift« ein »Nein« enthielten. Die Studenten wurden auffordert, »in der Kabine« wählen zu gehen. 304 Als Urheber ermittelte das MfS hier ebenfalls vier Theologiestudenten. 305 1981 ging Bindemann als Pfarrer nach Rostock, wo er sich an den Veranstaltungen und Protesten der neu entstehenden Friedensgruppen beteiligte und diese aktiv förderte. Zum Beispiel rief er mit zum Protest gegen die Zivilverteidigungsübung am 30. Oktober 1981 in der Rostocker Südstadt auf, zu der sich etwa 270 Gegendemonstranten einfanden. 306 Zugleich verdächtigte ihn das MfS, die »›Friedenskreise‹, die als verfassungsfeindliche Zusammenschlüsse« zu charakterisieren waren, konzeptionell zu beeinflussen. Er plädiere dafür, lautete der Vorwurf, dass sich diese als oppositionelle Kraft dem Staat entgegenzustellen und langfristig eine Strategie dafür entwickeln. 307 Laut Binde300 Morgner, Martin: In die Mühlen geraten. Porträts von politisch verfolgten Studenten der Friedrich-Schiller-Universität Jena zwischen 1967 und 1984. Weimar/Eisenach 2010, S. 325–371. 301 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat III, Eröffnungsbericht zur Anlegung des Operativvorganges »Kanzel« gem. § 106 StGB, Rostock, 24.3.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 152/86, Bd. I, Bl. 6–20, hier 8; Morgner, Martin: In die Mühlen geraten. Porträts von politisch verfolgten Studenten der Friedrich-Schiller-Universität Jena zwischen 1967 und 1984. Weimar 2010. 302 Ebenda. 303 MfS, BV Rostock, KD Greifswald, betr. Verbindungen der ESG Greifswald zur ESG Jena, Greifswald, 27.2.1969: BStU, MfS, BV Rostock, AS 82/76, Bl. 202 f. 304 BStU, MfS, BV Rostock, Kerblochkartei; sowie MfS, BV Rostock, KD Greifswald, [Bericht] Staatsgefährdende Hetze und Propaganda, Flugblätter im Stadtgebiet Greifswald gegen Volksentscheid am 06.04.68, Greifswald, 4.4.1968: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2675/69, Bl. 8–10. 305 Zwei der in Greifswald Inhaftierten wurden in die Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen überstellt. Schließlich stellte man jenes ebenso aus »taktisch-operativen Gründen« ein. Das MfS beauftragte die Universität mit der »Auswertung«. Erwartungsgemäß schloss diese den »Vorgang […] mit der Exmatrikulation des [Name]« ab. MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Beschluß, Greifswald, 8.8.1969: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2675/69, Bl. 214 f.; MfS, BV Rostock, KD Greifswald, Sachstandsbericht zum operativen Material »Linol«, Greifswald, 14.2.1969: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 2675/69, Bl. 98–112. 306 MfS, BV Rostock, Kreisdienststelle Rostock, Referat III, Einleitungsbericht zur Eröffnung der OPK »Kanzel«, Rostock, 23.3.1982: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 152/86, Bd. I, Bl. 62–72, hier 69. 307 MfS, BV Rostock, KD Rostock, Referat III, Eröffnungsbericht zur Anlegung des Operativvorganges »Kanzel« gem. § 106 StGB, Rostock, 24.3.1983: BStU, MfS, BV Rostock, AOP 152/86, Bd. I, Bl. 6–20, hier 18.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

mann besäße »der Sozialismus an sich keine Chance. Gegenwärtig sei aber noch keine revolutionäre Situation in der DDR herangereift, deshalb könne man keine größeren Umwälzungen erreichen«. Um jene zu befördern, entwarf er nach den Erkenntnissen des MfS eine »›3-Phasen-Theorie‹« zur Veränderung der Gesellschaftsordnung in der DDR«, in der den Gruppen die entscheidende Rolle zukommen sollte. 308 Zwar sei der Staat, so zitierte man Bindemann weiter, »gegen die pazifistischen Emblemträger (sic!) [den Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen«]« wirksam vorgegangen. Entscheidend seien jedoch »der Mut, die Standhaftigkeit« deren, die sich hiervon nicht einschüchtern ließen. Bindemann sprach davon, in »kleineren Gruppen [zu] erörtert, [wie] Veränderungen herbeizuführen« seien und wie man »gegen den Ansturm der Macht vorzugehen« gedenke. 309 Jener Transfer, der eine nicht zuletzt legitimatorisch wirksame Brücke von den Protesten der Sechziger und Siebziger in die Achtziger schlug, war auch anderswo wirksam. So auch im Fall von Christoph Wonneberger. 1980 begründete er in Dresden mit anderen die kirchliche Initiative zur Einführung eines »Sozialen Friedensdienstes«, der Bausoldaten und Wehrdienstverweigerern eine Alternative zum Militäreinsatz bieten sollte. 310 Als Pfarrer der Leipziger Lukas-Gemeinde zählte er ab 1985 zu den entschiedenen Förderern der Vorbereitungsgruppe der Leipziger Friedensgebete in der Nikolaikirche. Bereits während seines Theologiestudiums in Rostock geriet er in Konflikt mit dem SED-Staat. Nach einem Besuch 1968 in Prag beschloss er mit anderen Kommilitonen, bei den Theologen eine eigene FDJ-Gruppe zu gründen. 311 Jene sollte nicht – wie allgemein praktiziert – der Disziplinierung, Chancenverteilung nach politischen Kriterien und der Erziehung im Sinn der SED dienen. Vielmehr plante man die bestehenden Strukturen auf diesem Wege zu unterwandern. Man las Hegel, Feuerbach, Karl Marx und Ernst Bloch, um das herrschende System mit seinen »eigen Waffen« zu widerlegen. Der Versuch, sich so Freiräume zu erkämpfen, blieb nicht lange unentdeckt: Mehrere Studenten wurden im Folgenden festgenommen und verhört; einige von ihnen zu Haftstrafen verurteilt. Christoph Wonneberger musste seine Prüfungen vorzeitig ablegen und die Universität verlassen. Doch blieb er seinen Idealen treu. 308 Ebenda, Bl. 9. 309 Ebenda, Bl. 11. 310 Hildebrand, Gerold: Christoph Wonneberger. In: Kowalczuk, Ilko-Sascha; Sello, Tom (Hg.): Für ein freies Land mit freien Menschen. Opposition und Widerstand in Biographien und Fotos. Berlin 2006, S. 208–211, hier 208. 311 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4, Auskunftsbericht, Rostock, 18.3.1969: BStU, MfS, BV Rostock, AIM 925/69, Bl. 90–92. Inwieweit es mit dem zeitgleich existierenden »Theologischen Arbeitskreis von Studenten an den theologischen Ausbildungsstätten in der DDR«, gegen den das MfS ermittelte, Überschneidungen gab oder, ob es sich um denselben Kreis handelte, ließ sich nicht genau feststellen. Unter anderem hierzu: MfS, HA IX, Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten [Name], [Vorname], Berlin, 2.7.1969, Bl. 138–149.

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Zugleich ging er offen und sympathisierend auf jene Jugendlichen zu, die sich nach ihm zum Widerspruch und Widerstand in der DDR entschlossen. 312 Elke Miehlke zählte in Rostock ebenso zu einer Gruppe, die sich seit 1975 mit oppositionellen Schriften beschäftigte und Geld für politisch Inhaftierte in Polen sammelte. Nach der Zerschlagung der Gruppe verzog sie im Oktober 1979 nach Ost-Berlin und zählte Ende 1983 zu den Mitbegründerinnen der oppositionellen Gruppe »Frauen für den Frieden« und beteiligte sich an der Friedenswerkstatt 1982 und 1983 rund um die Berliner Erlöserkirche. 313 Die Betreffenden setzten über den Protest der späten sechziger bzw. siebziger Jahre und ihre jugendspezifischen Erfahrungen hinaus Maßstäbe: In diesem Sinne funktionierte Opposition, wollte sie mehr, als nur für sich selbst da sein, erst auf der Grundlage von Kommunikation und Interaktion. Hiervon unterschieden sich die Taten des Widerstand: Sie setzten zuallererst auf den Tabubruch, die Provokation und die Vorbildwirkung und hofften auf den Nachahmungseffekt. Opposition trat dann in Interaktion mit dem Widerstand auf der Straße und mochte eine mobilisierende Wirkung zu entfalten, wenn sich die oppositionellen Gruppen aus ihren Selbstbeschränkungen lösten. Den Gruppen der achtziger Jahre, deren Losungen »Frieden schaffen ohne Waffen« oder »Schwerter zu Pflugscharen« sich auch an Häuserwänden und auf der Straße wiederfanden, scheint dies gelungen zu sein. Hilfe leisteten dabei auch jene, die in den zurückliegenden Jahrzehnten Widerspruch und Widerstand geleistet hatten und nun den Schritt aus ihrer Jahrgangskohorte heraus auf die Jüngeren wagten.

312 Reichert, Steffen: Ein Leben im Schatten der Mauer. Er erlebte vom Westen aus den Mauerbau und wurde durch den Mauerfall gerettet: Christoph Wonneberger. In: Glaube und Heimat. Evangelisches Sonntagsblatt für Thüringen, Nr. 33, 14.8.2011, S. 4; Zu Christoph Wonneberger: Wer war wer in der DDR? Bd. 2, Berlin 2010, S. 1453 f. 313 MfS, BV Rostock, Abt. XX/3, Abschlussbericht zum OV »Michael«, Rostock, 21.11.1978, Bl. 245–250, hier 249; Westendorff, Elke: Das war schon exklusiv. Die frühen Jahre der Friedenswerkstatt. In: HuG 16 (2007) 1, Nr. 57, S. 17–19; Hildebrand, Gerold: Erzählwerkstatt Friedenswerkstatt. Wider die Militarisierung in der Gesellschaft. In: HuG 16 (2007) 1, Nr. 57, S. 1–3; Bohley, Bärbel: Wir wollten schlau sein wie die Schlangen. In: Dies.; Praschl, Gerald; Rosenthal, Rüdiger (Hg.): Mut. Frauen in der DDR. München 2005, S. 13–73.

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Schlussbetrachtung

Am Anfang der Arbeit stand die Frage nach den verschiedenen Formen der politischen Gegnerschaft und nach dem Verhältnis von Widerstand und Alltag in der Diktatur. Die hier ausgewerteten Materialien erbrachten im Ergebnis eine in dieser Breite bislang weitgehend unbekannte Anzahl von Unmutäußerungen bis Widerstandshandlungen im Norden der DDR. Jene reichten von der Nonkonformität über die offen geäußerte Kritik an den Verhältnissen im Land, Verweigerung, Protest, Widerstand bis hin zum Versuch, oppositionelle Strukturen aufzubauen und oppositionell tätig zu werden. In allen Jahrzehnten gab es die verschiedensten Formen des Aufbegehrens: häufig existierten jene zeitgleich parallel, zugleich entwickelten sie sich nicht selten in Interaktion zueinander. Verwiesen werden konnte auf die für eine bestimmte Zeit charakteristischen Formen des politisch abweichenden Verhaltens: So auf den Kampf der Ende der vierziger Jahre um ihre Eigenständigkeit ringenden Vertreter der bürgerlichen Parteien und Sozialdemokraten, die sich der Vereinnahmung durch die SED entgegenstellten. Widerspruch und Widerstand war in dieser Form mehrheitlich eine Reaktion auf die allgegenwärtigen oder ebenso konkreten Anmaßungen des SED-Staates, mit denen dieser in die Lebensbereiche der Menschen eindrang, ihnen seine Sichtweisen aufzwang und sie in ihren Eigentums-, Menschen- und Freiheitsrechten eklatant beschnitt. Deutlich wurde dies auch bei den Protesten rund um den 17. Juni 1953, dem Kampf der Kirchen um die Freiheit der Wortverkündigung und dem Ringen um eine ungehinderte Kinder- und Jugendarbeit sowie beim Widerstand der Fischer und Bauern gegen ihre De-facto-Enteignung infolge der forcierten Kollektivierung. Andere Menschen stellten sich dem System entgegen, indem sie die ihnen abverlangte Loyalitätsbekundung verweigerten. Nicht selten mündete dies im Widerspruch und Widerstand. So etwa nach dem Mauerbau am 13. August 1961, der Einführung der Wehrpflicht 1962 oder dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei 1968, der die Hoffnung auf eine Verbesserung der politischen Verhältnisse in den sozialistischen Staaten zunichtemachte. Auch später kam es immer wieder zur Verweigerung, zum Aufbegehren, zum Widerspruch und Widerstand in Reaktion auf als Anmaßung empfundene Forderungen oder Maßnahmen des Systems. Es waren vor allem Jugendliche, die so auf die Zwangsausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann reagierten oder nach der weiteren Militarisierung und der Einfüh-

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

rung des Wehrkundeunterrichtes an den Schulen und Berufsschulen vormilitärische Einsätze oder die Ausbildung an der Waffe verweigerten. Auffallend ist demgegenüber, was die Inhalte und Aktionsformen des Widerspruchs und Widerstandes betrifft, die Kontinuität in den vier Jahrzehnten der DDR. Dabei gab es zwar Schwankungen hinsichtlich der Intensität und »Fallhäufigkeit«; doch bewiesen bestimmte Themen und Erscheinungsformen des politisch abweichenden Verhaltens eine bemerkenswerte Langlebigkeit und Vitalität. Dies mochte zum Beispiel für das Delikt des Fahnenabrisses oder die »Missachtung staatlicher und gesellschaftlicher Symbole« gelten. Auch Widerstandstaten wie Sabotage und Spionage, die allgemein eher mit den fünfziger und sechziger Jahren assoziiert werden, ließen sich in den darauffolgenden Jahrzehnten immer wieder nachweisen. Auch bei den Losungen und Flugblätter dominierten drei Themen. So fand die Staatssicherheit in auffallender Häufung meist zum Jahrestag und anlässlich entsprechender Meldungen in den bundesdeutschen Medien, die in der DDR vielerorts empfangen werden konnten, Losungen und Flugblätter, die sich auf den 17. Juni 1953, die Wahlfarce und das Grenzregime an der Berliner Mauer bezogen. Immer wieder tauchten darüber hinaus Losungen auf, die sich tagesaktueller Bezüge bedienten. Bereits hier trat die Suche nach geeigneten inhaltlichen Anleihen, über die sich der Protest gegen die SED umsetzen ließ, hervor. Allzu häufig rückte der Impuls, der kämpferischen Energie oder auch nur dem Frust Ausdruck zu verleihen, vor die Abwägung, was inhaltlich vertretbar ist und die Auseinandersetzung um die Frage, aufgrund welcher vorenthaltenen Rechte und demokratischer Defizite der SED-Staat abzulehnen sei: Hauptsache irgendein Protest, schien nicht selten das Motto zu sein. Anzuführen sind in diesem Zusammenhang die hohe Zahl der Hakenkreuze und nationalsozialistische Bezüge bei Losungen, die in der DDR regelmäßig auftauchten. Zurückzuführen ist dies auf eine fehlende demokratische Werteverankerung in Teilen der Bevölkerung in einem Landstrich, der zudem traditionell obrigkeitsstaatlich geprägt worden war. Mit ihrer Alleinherrschaft schloss die SED zeitlich nahtlos als zweite Diktatur auf deutschem Boden an die vorhergehende NS-Diktatur an und konnte der Bevölkerung angesichts bestehender Analogien in der Herrschaftsausübung nur schwer erklären, welche demokratischen Partizipationsrechte der Bevölkerung in der NS-Diktatur vorenthalten worden waren. Wenn sie dies tat, dann beklagte sie die Verfolgung des kommunistischen Widerstandes, dessen Vertreter der Öffentlichkeit als diejenigen präsentiert wurden, die als einzige dem NS-Regime widerstanden. Aus dieser Schieflage bei der Geschichtsvermittlung und dem Umkehrschluss, dass es die Nationalsozialisten waren, die die Kommunisten konsequent und massiv verfolgt hatten, ergab sich jener fatale Effekt, der das Hakenkreuz in der DDR in nicht geringer Zahl an Häuser- und Toilettenwände brachte. Maßgeblich war jedoch das Motiv der Provokation: Mit keinem anderen Symbol ließ sich die SED effektiver

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Schlussbetrachtung

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herausfordern. Hinzu kam ein praktischer Vorteil: Eine Hakenkreuzschmiererei konnte schneller als andere Losungen angebracht werden – was die Verweildauer am »Tatort« verkürzte – und ließ sich graphologisch kriminaltechnisch kaum analysieren. Wer in der DDR andere zum Widerstand motivieren und diesem einen Sinn geben wollte oder trotz der polizeistaatlichen Bedrohung oppositionell tätig wurde, musste nicht nur dafür sorgen, dass sich die, die sich hierzu bereit fanden, durch Bezüge, die nach allgemeingütigen Maßstäben anstößig sind, nicht selbst disqualifizierten. Mensch, lass dich doch nicht für solch einen Scheiß einsperren, lautete die gängige umgangssprachliche Formel hierfür. Zugleich musste er Inhalte vertreten, die ihn im gesellschaftlichen Kontext nicht von vornherein isolierten oder als Agent Provocateur erscheinen ließen. Es fand eine Art Anpassung an die Systemumwelt statt. Aufgrund der weggebrochenen Opposition Ende der vierziger Jahre und der fortwährenden Flucht und Ausreise von politischen Gegnern, die ihre Erfahrungen hätten weitergeben können, zählte die Suche nach praktikablen Anleihen zu den wesentlich Charakteristika von Widerstand und Opposition in der DDR. Da nationale Symbole und Inhalte nach den Verbrechen der NSDiktatur als mehr als vorbelastet gelten mussten, fiel auch jene Bezugsebene fort, anders als beim Widerstand in den Nachbarstaaten Polen und der Tschechoslowakei. Für die ostdeutschen Regimekritiker hatte der Bezug auf die sich in den benachbarten Diktaturen äußernden Dissidenten und entwickelnden Freiheitsbestrebungen einen enorm hohen Stellenwert. Bedingt war dies durch die fortwährende Suche nach adäquaten Formen und praktikablen inhaltlichen Anleihen, die man sowohl im Westen Europas als auch in den östlichen Nachbarstaaten fand. Bei alledem handelte es sich, den Umständen geschuldet, um »Gehversuche« oppositionellen Handelns. Polnische, ungarische, russische und tschechische Autoren erhielten in diesem Zusammenhang die ihnen in Ostdeutschland zukommende Bedeutung als Vorbilder und Vordenker von Opposition, obwohl sie nur das aussprachen, was in der Diktatur allerorts nahe lag. Nach der Verhaftung und den drakonischen Haftstrafen gegen die verbliebenen, auf eine Eigenständigkeit von der SED bestehenden Vertreter der bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokraten in den späten vierziger und fünfziger Jahren schien es in der DDR zunächst keine sichtbare Opposition mehr zu geben. Auch wenn hiermit wichtige Traditionslinien fortfielen und sich die Erfahrungen in der politischen Arbeit nicht mehr weitergeben ließen, gab es selbst im Norden der DDR gelegentlich Versuche, oppositionelle Gruppen aufzubauen. Belegt sind so entsprechende Bestrebungen Ende der 50er Jahre, nach dem Mauerbau 1961, Ende der sechziger Jahre und Mitte der siebziger

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Jahre. In allen Fällen schritt das MfS massiv ein; es kam zu Repressalien, Vernehmungen, Festnahmen und Urteilen mit langjährigen Freiheitsstrafen. Erst Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre gelang es oppositionellen Gruppen, sich unter dem »Dach der Kirche« zu etablieren. Oppositionell wurde hier im Unterschied zum Widerstand über drei Kriterien definiert: Erstens über den Entschluss der hieran Beteiligten, sich zu organisieren und das Handeln als gegen das System gerichteten konzeptionell Entwurf zu begreifen. Zweitens über die Bereitschaft, für die eigenen und kollektiv vertretenen politischen Inhalte trotz der drohenden Sanktionen bis hin zur Strafverfolgung mit Namen und Anschrift öffentlich den staatlichen Instanzen entgegentreten zu wollen. Dem Streben nach einer wie auch immer gearteten Form von Gegenöffentlichkeit kam dabei eine entscheidende Funktion zu: Bei seinen Besuchen im Nachbarland Polen habe er gelernt, so der Mitbegründer der Oppositionsgruppe Neues Forum, Jens Reich, dass »politisch nicht konspirativ im privaten Schneckenhaus, sondern offen mit Namens- und Adressenangaben agiert werden muss«. 1 Als drittes stand die Absicht, auf einen wie auch immer gearteten drohenden staatlichen Eingriff nicht nur vorbereitet zu sein, sondern zugleich Sorge dafür zu tragen, dass die einmal begonnene inhaltliche Arbeit nicht gänzlich ohne Resultat blieb. Letzteres mochte in verschiedener Hinsicht geschehen und von unterschiedlichen Ansätzen und Erfolgen geprägt sein: Die entsprechenden Vorsorgehandlungen konnten von der konzeptuellen Niederschrift, der Dokumentation der eigenen Aktionen, dem Werben für die eigenen Inhalte, über eine Auseinandersetzung mit der wahrscheinlichen oder nicht mehr auszuschließenden Vernehmungssituation und Haft bis hin zum Versuch der Information von potenziellen Unterstützern – Freunde, kirchliche Stellen, westliche Einrichtungen und Medien – reichen. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre entstanden im kirchlichen Raum Friedensgruppen und –initiativen und in ihrem Gefolge Umwelt- und Menschenrechtsgruppen. Auch hier handelte es sich um eine Reaktion der Abwehr und der Selbstbehauptung. Die Jugendlichen in den Gruppen opponierten gegen das restriktive Bildungssystem, empörten sich angesichts der Militarisierung in den Schulen und zeigten sich unzufrieden in Anbetracht der ihnen vorenthaltenen Entfaltungsmöglichkeiten. Bei alldem waren sie selbst die Leidtragenden. Hinzu kamen das legimitatorische Defizit der Herrschenden und die offizielle Friedensrhetorik, die im Gegensatz zum realsozialistischen Alltag stand. Die Diskrepanz ermöglichte den Gruppen, auf konkurrierende Sinnangebote zu verweisen. Oppositionelles Handeln war nun nicht mehr nur reaktiv, sondern offenbarte einen darüber hinausgehenden An1 Zit. nach: Piotr Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle in der DDR und in der Volksrepublik Polen. Ihre gegenseitige Rezeption und Kontakte, Toruń 2004, S. 135.

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Schlussbetrachtung

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spruch. Schon der polnische Dissident Jacek Kuroń hatte einst gefordert, nicht die bestehenden staatlichen und Partei-Komitees anzuzünden, sondern eigene zu gründen. 2 Ebenfalls von Jacek Kuroń benannt wurde die gesellschaftliche Nützlichkeit. Für die oppositionellen Gruppen sollte diese zum Maßstab ihrer eigenen Daseinsberechtigung erhoben werden. Die Gruppen engagierten sich nicht nur in eigener Sache, sondern wandten sich mit Petition und Samisdatschriften an die Regierenden. Die ihnen in den westlichen Ländern zuteilwerdende Öffentlichkeit nutzten sie, um auf Defizite und Missstände im eigenen Lande hinzuweisen. Sie taten dies im Namen der Gesellschaft. Oppositionell zu sein hieß, einen über das rein reaktive Moment hinausgehenden Gestaltungsanspruch zu formulieren. Die Gruppen versuchten dementsprechend, eigene Strukturen herauszubilden. Es ging ihnen auch darum, eine Art Gegengesellschaft darzustellen, die sich über unabhängige Informationen und außerhalb der staatlich kontrollierten Strukturen verwirklichte. Zugleich verletzte jede Bestrebung, die oppositionelles Denken und Handeln in einer Diktatur zu etablieren versuchte, bereits in ihrem Ansatz die durch die politischen Vorgaben bestimmten strafrechtlichen Normen. Mit Neuauslegungen und Gesetzesnovellierungen unterbanden die Herrschenden jeden Versuch, sich dabei noch legaler Mittel bedienen zu können. Auch wenn der Oppositionsbegriff von den damaligen Akteuren häufig schon aus taktischen Überlegungen oder aufgrund des sich erst herausbildenden Selbstbewusstseins, offen als Opposition auftreten zu können, nur selten benutzt worden ist, so wurde er hier zur Beschreibung der Gruppen der sechziger und siebziger Jahre sowie der Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen der achtziger Jahre verwandt. Der andernorts getroffenen Feststellung, Opposition sei »als legales Handeln auf der Grundlage verbindlicher Normen und verbindlichen Rechts« 3 zu begreifen, musste dabei widersprochen werden. Zwar ist der Befund, dass jenen, die sich oppositionell organisierten, darum bemühten, »legalistisch« vorzugehen, in Teilen durchaus zutreffenden. Da oppositionelles Handeln häufig ebenso mit dem Gesetzesverstoß einherging, kann jene Herleitung jedoch nicht als hinreichend angesehen werden. Mitunter verfügte die eine oder die andere der angeführten Gruppen in einem der drei benannten Punkte über bedingte »Defizite«: Jene mochten der Findungsphase, in der sich die Gruppen befand, bevor sie bereits wieder zerschlagen wurde, der Suche, nach praktikablen inhaltlichen Anleihen und Bezugspunkten, um die Systemkritik in der DDR zu artikulieren, oder einfach den Verhältnissen der Diktatur allgemein geschuldet sein. 2 »Es wehte einfach ein freierer Geist …«. Interview mit Ludwig Mehlhorn. In: ad hoc international. Zeitschrift des Netzwerks für internationale Aufgaben, H. 6/2009, S. 6 f. 3 Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 346), 2. Aufl., Bonn 2000, S. 29.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Entsolidarisierung versus Solidarität, Angst versus Mut bildeten die diametralen Fixpunkte der Lebenswirklichkeit, in der sich jedes systemkritisches Engagement verwirklichte. Die Losung »Freiheit heißt, die Angst verlieren«, benannte exakt dies. Wer die Angst überwandt, vermochte sich selbst in der Diktatur ein Stück innerer Freiheit zu erkämpfen und erlangte Souveränität über jene, die ihn einschüchtern wollten und seine Gefolgschaft einforderten. Die Angst, dass die Stasi alles wissen und erfahren würde, hielt die Gesellschaft demgegenüber in Apathie und garantierte die Ruhe im Lande. Die Allwissenheit der Stasi war zwar ein Mythos; aus Gründen des Machterhalts wurde er nicht zuletzt vom MfS selbst aufrechterhalten und genährt. Die Angst und die Entsolidarisierung waren in der Konsequenz der Kitt, der die Diktatur zusammenhielt. Im Alltag existierten dessen ungeachtet, wenn auch in geringer Zahl, verschiedenste Formen der Solidarität. Sie resultierten nicht selten aus dem unmittelbaren Erleben. Den Ausschlag geben mochte eine Situation, die Menschen aus dem nahen Umfeld in Bedrängnis brachte oder auch die als belastend empfundenen Folgen, die sich für einen Mitmenschen hieraus ergaben. Nicht selten wurde der von den Denunzianten und Belastungszeugen an den Tag gelegte Eifer zum auslösenden Moment, das zur Solidarisierung führte, da die drohenden Sanktionen in diesem Fall als besondere Härte empfunden werden mussten. Trotz vieler beeindruckender Beispiele, gab es ein solches Engagement für von der Geheimpolizei bedrängte Nachbarn und Arbeitskollegen äußerst selten. Es stellte die Ausnahme in einer sich aus Angst sowie aufgrund der Sorge um die eigenen Chancenwahrnahme oder die der eigenen Kinder entsolidarisierenden Gesellschaft dar.

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Anhang

Abkürzungen Zu vielen weiteren Abkürzungen des Themenkomplexes MfS siehe auch: BStU: Abkürzungsverzeichnis. Häufig verwendete Abkürzungen und Begriffe des Ministeriums für Staatssicherheit. 140 Seiten, 10. Auflage, Berlin 2012, ISBN 978-3-942130-93-6. Bestellung und kostenloser PDF-Download:  www.bstu.bund.de/Wissen/Publikationen Direkter Online-Zugriff:  www.bstu.bund.de/Service/MfS-Abkürzungen

Abt. AKG BV DA DK EMAU FPG Gen. GHI GMS GMS HA HuG IMB IMS KD MfS MKZ MPKZ ND OV StVK WPU ZAIG ZOS Zr.

Abteilung Auswertungs- und Kontrollgruppe Bezirksverwaltung Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland Die Kirche. Evangelische Wochenzeitung Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Fischereiproduktionsgenossenschaft Genosse Geheimer Hauptinformator Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit. Hauptabteilung Horch und Guck. Zeitschrift zur kritischen Aufarbeitung der SEDDiktatur Inoffizieller Mitarbeiter (IM) [...] zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehenden Personen Inoffizieller Mitarbeiter (IM) zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung eines Verantwortungsbereiches Kreisdienststelle Ministerium für Staatssicherheit Mecklenburgische Kirchenzeitung Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung. Evangelisches Wochenblatt für Mecklenburg und Vorpommern Neues Deutschland Operativ-Vorgang Strafvollzugskommando Wilhelm-Pieck-Universität Rostock Zentrale Auswertungs- und Informations-Gruppe Zentraler Operativstab Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Auswahlbibliografie I

Erinnerungsberichte

Amthor, Artur: Ruhe in Rostock? Von wegen. Ein Oberst a. D. berichtet. Berlin 2009. Barz, Ingo: Muss denn der Junge andauernd Panzer malen. Lühburg 2010. Barz, Ingo: Verbreitung pessimistischen Gedankengutes in Tateinheit mit Gitarrenspiel. Lühburg 2005. Barz, Ingo; Boddin, Jörg: »Knospen am Baum«. Liederleute ohne ›Spielerlaubnis‹ in Mecklenburg 1979 bis 1989. Lühburg 2000. Beck, Rainer: Tango mit der Stasi, Norderstedt 2004. Conrad, Robert: Meine Zeit in Greifswald – wie ich Architekturfotograf wurde. In: Conrad, Robert (Hg.): Zerfall und Abriss. Greifswald in den 1980er Jahren. 4. überarb. Aufl., Berlin 2012, S. 33–47. Delius, Friedrich Christian: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus. Reinbek 1996. Gauck, Joachim: Winter im Sommer. Frühling im Herbst. München 2009. Gienke, Horst: Dome, Dörfer, Dornenwege. Lebensbericht eines Altbischofs. Rostock 1996. Kaven, Ewald: »Denn einmal kommt der Tag, dann sind wir frei …« DDR-Strafvollzug in Bützow. Essen 2004. Körber, Harry: Im Keller schnarchte die Katze – alternatives Altstadtleben vor der Wende. In: Ostpost. Das Magazin für die östliche Altstadt Rostocks 10 (2010) 1, S. 16 f. Maltzahn, Dietrich v.: Mein erstes Leben oder Sehnsucht nach Freiheit. 3. Aufl., München 2010. Pätzold, Horst: Nischen im Gras. Ein Leben in zwei Diktaturen (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte). Hamburg 1997. Pätzold, Horst: Von Weimar bis zur Wende. Schulerlebnisse aus sechs Jahrzehnten. Beiträge des Dokumentationszentrums des Landes für die Opfer deutscher Diktaturen. Schwerin 2004. Pfütze, Peter: Besuchszeit. Westdiplomaten in besonderer Mission. Berlin 2006. Rusch, Claudia: Meine freie deutsche Jugend. Frankfurt/M. 2003. Schacht, Ulrich: Vereister Sommer. Auf der Suche nach meinem russischen Vater. Berlin 2011. Schmidt, Martina; Schmidt Rüdiger: Mauerbruch. Eine Heimatgeschichte. Berlin 2012. Skribanowitz, Gert: »Feindlich eingestellt!« Vom Prager Frühling ins deutsche Zuchthaus. Sindelfingen 1991. Storck, Matthias: Karierte Wolken. Lebensbeschreibungen eines Freigekauften. 3. Aufl., Moers 1996. Storck, Matthia.: Wege durch Niemands Land. Rücksichten eines Freigekauften. Moers 1996. Winter, Friedrich: Meine Jahre in Greifswald zwischen 1946 und 1960. In: Zr. 6 (2002) 2, S. 79–89.

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Anhang – Auswahlbibliografie

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Wohlrab, Lutz: Über »Lyrik«, einen Operativen Vorgang der Greifswalder Staatssicherheit. In: Conrad, Robert (Hg.): Zerfall und Abriss. Greifswald in den 1980er Jahren. 4. überarb. Aufl., Berlin 2012, S. 57–68.

II

Literatur zu Widerspruch, Widerstand und Opposition – allgemein

Baus, Ralf Thomas: die Christlich-Demokratische Union Deutschlands in der sowjetisch besetzten Zone 1945 bis 1948. Gründung – Programm – Politik (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; 36), Düsseldorf 2001. Bauerkämper, Arnd: Abweichendes Verhalten in der Diktatur. Probleme einer kategorialen Einordnung am Beispiel der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR. In: Bauerkämper, Arnd; Sabrow, Martin; Stöver, Bernd (Hg.): Doppelte Zeitgeschichte. Deutsche-deutsche Beziehungen 1945–1990. Bonn 1998, S. 295–311. Bensussan, Agnès: Einige Charakteristika der Repressionspolitik gegenüber politisch abweichendem Verhalten in der DDR in den 70er und 80er Jahren. In: Kott, Sandrine; Droit, Emmanuel (Hg.): Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive, Berlin 2006, S. 71–87. Bialas, Wolfgang: Vom Eigensinn der DDR-Intellektuellen. Von Parteiarbeit und Dissidenz der scientific community. In: Berliner Debatte Initial, Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs (1993) 4, S. 77–88. Buthmann, Reinhard: Widerständiges Verhalten und Feldtheorie. Theorie versus Wirklichkeit? Eine Reminiszenz an Kurt Lewin. In: Neubert, Ehrhart; Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht. Ohnmacht. Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR (Analysen und Dokumente; 21). Bremen 2001, S. 89–120. Choi, Sung-Wan: Von der Dissidenz zur Opposition. Die politisch alternativen Gruppen in der DDR von 178 bis 1989. Köln 1999. Davis, Belinda; Lindenberger, Thomas; Wildt, Michael (Hg.): Alltag, Erfahrung, Eigensinn. Historisch-anthropologische Erkundungen. Frankfurt, New York 2008. Eisenfeld, Bernd: Die Ausreisebewegung – eine Erscheinungsform widerständigen Verhaltens. In: Poppe, Ulrike; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR (Forschungen zur DDR-Geschichte; 6), Berlin 1995, S. 192–223. Fehr, Helmut: Von der Dissidenz zur Gegen-Elite. Ein Vergleich der politischen Opposition in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und der DDR (1976 bis 1989). In: Poppe, Ulrike; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR (Forschungen zur DDR-Geschichte; 6). Berlin 1995, S. 301–334. Florath, Bernd; Gehrke, Bernd; Hürtgen, Renate; Klein, Thomas: Perspektiven künftiger Oppositionsforschung – ein Beitrag zur Diskussion, in: DA 40 (2007) 2, S. 301–306. Fricke, Karl-Wilhelm: Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report. Köln 1984. Fricke, Karl-Wilhelm: Selbstbehauptung und Widerstand in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. 2. Aufl., Bonn, Berlin (West) 1966.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Fricke, Karl-Wilhelm: Dimensionen von Opposition und Widerstand in der DDR. In: Henke, Klaus-Dietmar; Steinbach, Peter; Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand und Opposition in der DDR (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; 9). Köln, Weimar, Wien 1999, S. 20–43. Grabner, Wolf-Jürgen (Hg.): Leipzig im Oktober. Kirchen und alternative Gruppen im Umbruch der DDR. Analysen zur Wende. Berlin 1990. Hübner, Peter: Konsens, Konflikt und Kompromiß. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945-1970 (Zeithistorische Studien; 3), Berlin 1995. Jacobsen, Hans-Adolf: »Spiegelbild einer Verschwörung«. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung. Stuttgart 1984. Jander, Ingrid: Politische Verfolgung in Brandenburg 1949 bis 1953. Der Kampf gegen Ost-CDU, Bauern und Kirchen im Spiegel der Akten von SED und Staatssicherheit (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 59), Düsseldorf 2012. Jander, Martin: Die besondere Rolle des politischen Selbstverständnisses bei der Herausbildung einer politischen Opposition in der DDR außerhalb der SED und ihrer Massenorganisationen seit den siebziger Jahren. In: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Bd. VII, 1. Baden-Baden 1995, S. 896–987. Jesse, Eckhard: Artikulationsformen und Zielsetzungen von widerständigem Verhalten in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, Bd. VII, 1, Baden-Baden 1995, S. 987–1030. Ketman, Per; Wissmach, Andreas: Anders reisen DDR. Ein Reisebuch in den Alltag. Reinbek 1986. Klein, Thomas: Reform von oben? Opposition in der SED. In: Poppe, Ulrike; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR (Forschungen zur DDRGeschichte; 6). Berlin 1995, S. 142–161. Klein, Thomas: »Frieden und Gerechtigkeit!«. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre (Zeithistorische Studien; 38). Köln, Weimar, Wien 2007. Knabe, Hubertus: Was war die »DDR-Opposition«? Zur Typologisierung des politischen Widerspruchs in Ostdeutschland. In: DA 29 (1996) 2, S. 184–198. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Verschiedene Welten. Zum Verhältnis von Opposition und »SED-Reformern« in den achtziger Jahren. In: Neubert, Ehrhart; Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht. Ohnmacht. Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR (Analysen und Dokumente; 21). Bremen 2001, S. 49–75. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Artikulationsformen und Zielsetzungen von widerständigem Verhalten in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. In: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«. Bd. VII. 2. Baden-Baden 1995, S. 1201– 1284. Kunter, Katharina: Erfüllte Hoffnungen und zerbrochene Träume. Evangelische Kirche in Deutschland im Spannungsfeld von Demokratie und Sozialismus 1980–1993 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte; 46). Göttingen 2006.

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Anhang – Auswahlbibliografie

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Lindenberger, Thomas (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR (Zeithistorische Studien, 12), Köln, Weimar, Wien 1999. Löwenthal, Richard: Widerstand im totalen Staat. In: Bracher, Karl Dietrich; Funke, Manfred; Jacobsen, Hans-Adolf (Hg.): Nationalsozialistische Diktatur 1933–1945. Eine Bilanz (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 192), Bonn 1986, S. 618–632. Neubert, Ehrhardt: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; Bd. 346) Bonn 1997. Nooke, Maria: Für Umweltverantwortung und Demokratisierung. Die Forster Oppositionsgruppe in der Auseinandersetzung mit Staat und Kirche. Berlin 2008. Passens, Katrin: Der Zugriff des SED-Herrschaftsapparates auf die Wohnviertel (Beiträge zur Diktaturforschung). Schönfließ, Nordbahn 2003. Passens, Katrin: MfS-Untersuchungshaft. Funktion und Entwicklung von 1971 bis 1989. Berlin 2012. Peukert, Detlev: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde: Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982. Pollack, Detlef; Rink, Dieter: Opposition, Widerstand, Protest und Verweigerung in den 70er und 80er Jahren – zur Abgrenzung des Phänomens. In: Dies. (Hg.): Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970–1989. Frankfurt/M. 1997. Pollack, Detlef: Kulturelle, soziale und politische Bedingungen der Möglichkeit widerständigen Verhaltens in der DDR. In: Neubert, Ehrhart; Eisenfeld, Bernd: Macht. Ohnmacht. Gegenmacht. Grundsatzfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR (Analysen und Dokumente; Bd. 21). Bremen 2001, S. 349–366. Poppe, Ulrike; Eckert, Rainer; Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR (Forschungen zur DDR-Geschichte; 6), Berlin 1995. Preuschen, Henriette v.: Der Griff nach den Kirchen. Ideologischer und denkmalpflegerischer Umgang mit kriegszerstörten Kirchenbauten in der DDR (Forschungen und Beiträge zur Denkmalpflege im Land Brandenburg; 13). Worms 2011. Ringshausen, Gerhard: Widerstand und christlicher Glaube angesichts des Nationalsozialismus (Lüneburger Theologische Beiträge; 3). Berlin 2007. Ruthe, Ingeborg: Die Alternative hieß Super Acht. Filmbuch: ›Grauzone 8 mm‹ – eine Dokumentation über den autonomen Künstlerfilm in der DDR, in: Berliner Zeitung, 25.10.2007, S. 3. Steinbach, Peter: Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Steinbach, Peter; Tuchel, Johannes (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung; 323). Bonn 1994, S. 15–26. Stöver, Bernd: Leben in der deutschen Diktatur. Historiographische und methodologische Aspekte der Erforschung von Widerstand und Opposition im Dritten Reich und in der DDR. In: Pollack, Detlef; Rink, Dieter (Hg.): Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970–1989. Frankfurt/M. 1996. Tatur, Melanie: Zur Dialektik der »civil society« in Polen. In: Deppe, Rainer; Dubiel, Helmut; Rödel, Ulrich (Hg.): Demokratischer Umbruch in Osteuropa. Frankfurt/M. 1991, S. 234–255.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Veen, Hans-Joachim: Kirche und Revolution: das Christentum in Ostmitteleuropa vor und nach 1989 (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung: Schriften der Stiftung Ettersberg; 14). Köln 2009. Vester, Michael; Hofmann, Michael; Zierke, Irene (Hg.): Soziale Milieus in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Strukturen zwischen Zerfall und Neubildung, Köln 1995. Vester, Michael: Milieuwandel und regionaler Strukturwandel in Ostdeutschland. In: Vester, Michael; Hofmann, Michael; Zierke, Irene (Hg.): Soziale Milieus in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Strukturen zwischen Zerfall und Neubildung. Köln 1995, S. 7–50. Werkentin, Falco: Politische Justiz in der DDR. Erfurt 2012.

III

Literatur zu Widerspruch, Widerstand und Opposition im Bezirk Rostock

Abrokat, Sven: Politischer Umbruch und Neubeginn in Wismar von 1989 bis 1990 (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte; 21). Hamburg 1997. Abschlußbericht des Untersuchungsausschusses der Stadt Greifswald. Hg. v. Untersuchungsausschuß der Stadt Greifswald. Greifswald 1990. Ahrenholz, Gerd M.: »Alleslüge«. Leben und Überleben in Krieg und Gulag 1939–1956. Dannenberg 2011. Ammer, Thomas; Memmler, Hans-Joachim: Staatssicherheit in Rostock. Zielgruppen, Methoden, Auflösung. Köln 1991. Bartusel, Rolf: Delphin, Kolobri und Scalare. Die turbulente erste Dekade des Faltbootbaus bei der Mathias-Thesen-Werft in Wismar. In: Zr. 14 (2010) 2, S. 34–38. Beleites, Michael: Pflanzzeit. Die kirchliche Umweltbewegung in der DDR. Impulse und Wirkungen. Wittenberg 1999. Bennewitz, Inge: Die wahre Geschichte der »Glatzkopfbande«. Ein Film und seine Hintergründe. In: Apropos: Film 2001. Das Jahrbuch der DEFA-Stiftung. Berlin 2001, S. 232–260. Bennewitz, Inge: Die Glatzkopfbande – ein DEFA-Spielfilm und seine Hintergründe. In: Timmermann, Heiner (Hg.): Deutsche Fragen. Von der Teilung zur Einheit (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen; 97). Berlin 2001, S. 339–352. Berdermann, Kai: Planung und Bau der Südstadt in Rostock 1960-1968. In: Zr. 10 (2006) 2, S. 59–77. Bersch, Falk; Herrberger, Marcus: Die Verfolgung religiöser Wehrdienstverweigerer in den drei Nordbezirken der DDR (1962-1989). In: Zr. 13 (2009) 1, S. 27–36. Bispinck, Henrik: »Sie werden meinen Schritt mit Leidenschaft vor Kollegium und Klasse verurteilen.« Zur Republikflucht von Oberschullehrern in Mecklenburg. In: Zr. 14 (2010) 1, S. 32–38. Bispinck, Henrik: Bildungsbürger in Demokratie und Diktatur. Lehrer an höheren Schulen in Mecklenburg 1918 bis 1961 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 79). München 2011.

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Anhang – Auswahlbibliografie

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Bispinck, Henrik: Protest, Opposition und Widerstand an den Oberschulen in der SBZ und in der frühen DDR. In: HuG 20 (2011) 2, Nr. 72, S. 40–42. Braune, Tilo: »Das sanfte Jazzfestival von der Küste«. 30 Jahre »Eldenaer Jazz Evenings«. In: Zr. 15 (2011) 1, S. 63–69. Brunner, Detlev: Stralsund. Eine Stadt im Systemwandel vom Ende des Kaiserreichs bis in die 1960er Jahre (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 80). München 2010. Bude, Roland: Workuta – Strafe für politische Opposition in der SBZ/DDR (Schriftenreihe des LStU Berlin; 30). Berlin 2010 Busch, Philipp: Die Treffen »Konkret für den Frieden« in Schwerin (1985) und Greifswald (1989). In: Leben in der DDR, Leben nach 1989 – Aufarbeitung und Versöhnung. Zur Arbeit der Enquete-Kommission des Landtages MecklenburgVorpommern, Bd. 7 Expertisen und Forschungsstudien zum Thema »Kirche und Staat«. Schwerin 1997, S. 233–299. Conrad, Robert; Wohlrab, Lutz; Bernhardt, Martin: Zerfall & Abriß. Greifswald in den 1980er Jahren. 3., erw. Aufl., Berlin 2002. Dahlenburg, Birgit (Hg.): Künstlerisch bewundert und von der Staatssicherheit verfolgt: der Surrealist Manfred Kastner (1943–1988). Greifswald 2008. Diederich, Georg M.: Aus den Augen aus dem Sinn. Die Zerstörung der Rostocker Christuskirche 1971. 2. Aufl., Rostock 1997. Diederich, Georg M.: Die Sprengung der Rostocker Christuskirche vor 25 Jahren. Fakten und Hintergründe. In: DA, 29 (1996) 4, S. 560–568 Dirksen, Hans-Hermann: Martha Knie. Das Zeugnis einer Frau aus Vorpommern (1900-1953). In: Zr. 7 (2003) 2, S. 63–76. Dorlach, Sven: Der Fall Gauck. Berlin 1996. Drescher, Anne; Pankow, Werner: Haft am Demmlerplatz – zwei lebensgeschichtliche Erinnerungen. In: Zr. 3 (1999) 1, S. 73–77. Dürr, Martin: Aus der Geschichte der Kirchgemeinde Wismar-Wendorf. Vom Kirchwagen zum Haus der Begegnung. In: Mecklenburgia Sacra, Bd. 9 (2006), S. 108–143. Frank, Rahel: »Wagenburg« im Honecker-Staat. Ein Einblick in den Weg der mecklenburgischen Landeskirche 1971 bis 1989. In: Zr. 6 (2002) 2, S. 53–56. Frank, Rahel: »Realer – Exakter – Präziser«? Die DDR-Kirchenpolitik gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs von 1971 bis 1989. 2. Aufl., Schwerin 2008. Garbe, Irmfried: Die Staatsmacht und das Recht der Gnade: Zwei Gnadengesuche für Greifswalder Studenten von Universitätsrektor Prof. Dr. Gerhardt Katsch an Staatspräsident Wilhelm Pieck im Jubiläumsjahr 1956. In: Zr. 7 (2003) 2, S. 56–62. Garbe, Irmfried: Die Bischofsfrage in der Greifswalder Landeskirche 1989. Zwei Dokumente der damaligen Herbstsynode. In: Zr. 13 (2009) 2, S. 49–61. Garbe, Irmfried; Nixdorf, Wolfgang (Hg.): Dom St. Nikolai Greifswald. Gemeindekirche zwischen Politik und Polemik. Studien zur Greifswalder Landeskirche und zur Wiedereinweihung des Domes 1989. Schwerin 2005. Gerhold, Kirsten: Widerstand und Opposition in der ehemaligen DDR, dargestellt am Beispiel der Oberschüler in Güstrow und der Studenten in Rostock 1949–1953. Kassel 2010.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Giering, Achim: Die DDR-Veranstaltungsordnung als kirchenpolitisches Instrument am Beispiel eines Prozesses am Jahre 1962. Bernau 2003. Gräfe, Wolfgang: Ein Abhörsender des MfS in der Greifswalder Jakobikirche 19621963. In: Zr. 15 (2011) 1, S. 24–35. Grashoff, Udo: Schwarzwohnen. Die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR. Dresden 2011 Handschuck, Martin: Auf dem Weg zur sozialistischen Hochschule. Die Universität Rostock in den Jahren 1945 bis 1955 (Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns; 6). Bremen 2003. Handschuck, Martin: Studentische Opposition an der Universität Rostock 1945 bis 1955. In: Zr. 6 (2002) 1, S. 30–36. Heinz, Michael; Krätzner, Anita: Verurteilt wegen »staatsgefährdender Hetze«. Reaktionen im Bezirk Rostock auf den Mauerbau 1961. In: Zr. 15 (2011) 2, S. 39–49. Heinz, Michael: »Der Kampf um die Hirne und Herzen der Menschen tobt …« Friedliche Revolution und demokratischer Übergang in den Kreisen Bad Doberan und Rostock-Land. Rostock 2009. Heinz, Michael: Im Zeichen der Industrialisierung – Landwirtschaftliche Entwicklung im Kreis Doberan in den 1970er Jahren. In: Zr. 8 (2004) 2, S. 41–50. Herbst ‘89 – Die Wende in Rostock. Zeitzeugen erinnern sich …. Hg. v. der Universität Rostock. Rostock 1999. Herbstritt, Georg: Marlow 1968. Aufbruchstimmung und Repression in einer mecklenburgischen Kleinstadt. In: Zr. 6 (2002) 2, S. 45–52. Herbstritt, Georg: Die Lageberichte der Deutschen Volkspolizei im Herbst 1989. Eine Chronik der Wende im Bezirk Neubrandenburg. Mit einem Anhang: Studie über das Verhältnis von Volkspolizei und Ministerium für Staatssicherheit dargestellt am Beispiel des Kampfes gegen die mecklenburgische Landeskirche 1945–1989. Schwerin 1998. Herbstritt, Georg: » … den neuen Menschen schaffen.« Schule und Erziehung in Mecklenburg-Vorpommern und die Konflikte um die Schweriner Goetheschule von 1945 bis 1953. Schwerin 1996. Hinz-Wessels, Annette; Thiel, Jens: Das Friedrich-Loeffler-Institut 1910–2010. 100 Jahre Forschung für die Tiergesundheit. Berlin 2010. Höffer, Volker: »Der Gegner hat Kraft«. MfS und SED im Bezirk Rostock (BF informiert; 20). Berlin 1997. Höser, Susanne; Scherer, Richard: »Wir hatten Hoffnung auf eine Demokratie«. Rostocker Protestanten im Herbst ‘89 (Talheimer Sammlung kritisches Wissen; 26). Talheim 2000. Holze, Heinrich (Hg.): Die Theologische Fakultät Rostock unter zwei Diktaturen. Studien zur Geschichte 1933–1989. Festschrift für Gert Haendler zum 80. Geburtstag (Rostocker Theologische Studien; 13). Münster 2004. Jahnke, Karl-Heinz: Aus der Tätigkeit der Arbeitsgruppe »Opfer des Stalinismus« in Rostock. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 32 (1990) 3, S. 410–414. Karge, Wolf: Autobahnplanung und –bau im Norden der DDR. In: Zr. 13 (2009) 2, S. 39–48.

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Anhang – Auswahlbibliografie

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Kausch, Dietmar: »… sie wollten sich nicht verbiegen lassen.« Repressalien – Widerstand – Verfolgung an den Oberschulen in Bad Doberan, Bützow, Grevesmühlen, Ludwigslust und Rostock 1945–1989. Rostock 2006. Keipke, Bodo: Siegfried Witte. In: Zr. 2 (1998) 1, S. 51–56. Klietz, Wolfgang: Ostseefähren im Kalten Krieg. Berlin 2012. Köhler, Siegfried: Der Überseehafen Rostock unter Kontrolle der Staatssicherheit. Schwerin 2012. Langer, Kai: »Ihr sollt wissen, daß der Norden nicht schläft …«. Zur Geschichte der »Wende« in den drei Nordbezirken der DDR (Quellen und Studien aus den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns; 3). Bremen, Rostock 1999. Langer, Kai: Aufbegehren und Widerstand in Mecklenburg und Vorpommern 19451989, in: Brunner, Detlev; Niemann, Mario (Hg.): Die DDR – eine deutsche Geschichte. Wirkung und Wahrnehmung. Paderborn, München, Wien 2011, S. 297– 318. Lentz, Lothar: Unterhaltung – Information – Manipulation. Betrachtungen zur Rundfunkgeschichte in Rostock und Mecklenburg-Vorpommern. 80 Jahre Rundfunk in Deutschland 1923–2003. In: Zr. 7 (2003) 1, S. 49–60. Löser, Claus: Strategien der Verweigerung. Untersuchungen zum politisch-ästhetischen Gestus unangepasster filmischer Artikulationen in der Spätphase der DDR. Berlin 2011. Mäkinen, Aulikki: Friedrich-Wilhelm Krummacher – der Mann der Einheit. In: Zr. 6 (2002) 2, S. 39–44. Mäkinen, Aulikki: Der Mann der Einheit. Bischof Friedrich-Wilhelm Krummacher als kirchliche Persönlichkeit in der DDR in den Jahren 1955–1969. Greifswald 2002. Magas, Marion: Hiddensee. Inselgeschichte aus einer anderen Zeit. DDR-Zeitzeugnisse von Inselfreunden und Lebenskünstlern. Berlin 2008. Magas, Marion: Hiddensee. Versteckte Insel im verschwundenen Land. DDRZeitzeugnisse von Inselfreunden und Lebenskünstlern. 2. Aufl., Berlin 2010. Mahlburg, Caroline; Fritzsche, Christin: Grenzwertig. Ulrich Steinhauer und die Schöpfung seines Heldenkultes in Ribnitz. In: Zr. 14 (2010) 2, S. 39–49. Matthiesen, Helge: Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich, in Demokratie und Diktatur 1900–1990 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 122). Düsseldorf 2000. Mengel, Gert: »Der Anfang vom Ende der DDR«. Die ersten Bausoldaten und die Pommerische Evangelische Kirche. Teil I. In: Zr. 3 (1999) 2, S. 21–34. Mengel, Gert: »Der Anfang vom Ende der DDR«. Die ersten Bausoldaten und die Pommerische Evangelische Kirche. Teil II. In: Zr. 4 (2000) 1, S. 24–28. Melis, Damian van: Mecklenburg-Vorpommern 1945: Kommunistische Umgestaltungspolitik. In: HuG, 7 (1998) 3, Nr. 24, S. 1–7. Melis, Damian van: Entnazifizierung in Mecklenburg-Vorpommern. Herrschaft und Verwaltung 1945–1948, München 1999. Mellies, Dirk; Möller, Frank (Hg.): Greifswald 1989. Zeitzeugen erinnern sich. Marburg 2009. Müller, Werner; Lietz, Hanno: Alfred Eberlein an der Universitätsbibliothek Rostock 1954–1971 (Veröffentlichungen der Universitätsbibliothek Rostock; 125). Rostock 1997.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Morgner, Martin: Deckname »Maske«. Die Künstlergemeinschaft Mecklenburg 1980/81. Eine Dokumentation (Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs; 2). Berlin 1995. Münkel, Daniela: Nach dem Mauerbau: Bevölkerungsstimmung und besondere Vorkommnisse in den drei Nordbezirken. Dokumentation der Berichterstattung durch das Ministerium für Staatssicherheit. In: Zr. 15 (2011) 1, S. 36–46. Nitzsche, Raimund; Glöckner, Konrad (Hg.): Geistige Heimat ESG – In Freiheit leben aus gutem Grund. Erinnerungen an 60 Jahre Evangelische Studentengemeinde Greifswald, Greifswald 2006. Nixdorf, Wolfgang: Kirchliche Pressearbeit unter den Bedingungen der DDR – die Wochenzeitung »Die Kirche« (Greifswalder Ausgabe) und »Mecklenburgische Kirchenzeitung« 1976–1989. In: Zr. 7 (2003) 1, S. 36–48. Ohlemacher, Jörg; Blühm, Reimund: Repression gegen die christliche Jugend im Bildungs- und Erziehungsbereich. In: Leben in der DDR, Leben nach 1989 – Aufarbeitung und Versöhnung. Zur Arbeit der Enquete-Kommission des Landtages Mecklenburg-Vorpommern, Bd. 7 Expertisen und Forschungsstudien zum Thema »Kirche und Staat«. Schwerin 1997, S. 101–231. Onnasch, Martin: Gefährliche Jugend? Zum sogenannten »zweiten Kirchenkampf« in der pommerischen Kirche 1952/53. In: Zr. 6 (2002) 2, S. 25–38. Onnasch, Martin: Die Rolle der Kirchen im politischen System der DDR. In: Leben in der DDR, Leben nach 1989 – Aufarbeitung und Versöhnung. Zur Arbeit der Enquete-Kommission des Landtages Mecklenburg-Vorpommern, Bd. 7 Expertisen und Forschungsstudien zum Thema »Kirche und Staat«. Schwerin 1997, S. 9–100. Piechulek, Ronald: Von Rostock in die weite Welt. Passagierschifffahrt unter DDRFlagge. In: Zr. 6 (2002) 1, S. 14–20. Raillard, Susanne: Die See- und Küstenfischerei Mecklenburgs und Vorpommerns 1918 bis 1960. Traditionelles Gewerbe unter ökonomischem und politischem Wandlungsdruck (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 87). München 2012. Rautenberg, Mathias: Der Tod und die SED. Zum 65. Todestag Ernst Lohmeyers. In: Zr. 15 (2011) 2, S. 20–33. Rüchel, Uta: Denkmalschutz und Macht. Die Entwicklung des Denkmalschutzes in Stralsund zwischen 1930 und 1990. In: Zr. 8 (2004) 1, S. 39–51. Saß, Rahel von: Der »Greifswalder Weg«. Die DDR-Kirchenpolitik und die Evangelische Landeskirche Greifswald 1980 bis 1989. Schwerin 1998. Schaufuß, Thomas: Die politische Rolle des FDGB-Feriendienstes in der DDR. Sozialtourismus im SED-Staat (Zeitgeschichtliche Forschungen; 43). Berlin 2011. Schekahn, Jenny; Wunschik, Tobias: Die Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Rostock. Ermittlungsverfahren, Zelleninformatoren und Haftbedingungen in der Ära Honecker (BF informiert; 31). Berlin 2012. Scheunpflug, Robert: »Zur Herstellung von Leichtbauelementen geeignet ...«. Der Abriss der Marienkirche Wismar im Kontext von Staat, Kirche und Denkmalpflege. Schwerin 2008. Schmidt, Heike: Der 17. Juni 1953 in Rostock. Berlin 2003. Schmidt, Siegfried: Stasi-Aktion Rose, Göhren 1994. Schmidtbauer, Bernhard: »Im Prinzip Hoffnung«. Die ostdeutschen Bürgerbewegungen und ihr Beitrag zum Umbruch 1989/90. Das Beispiel Rostock. Frankfurt/M. 1996.

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Anhang – Auswahlbibliografie

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Schmiedebach, Heinz-Peter; Spiess, Karl-Heinz: Studentisches Aufbegehren in der frühen DDR (Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald; 2). Stuttgart 2001. Schnauer, Arvid: Zur Arbeit des Rostocker Gerechtigkeitsausschusses. Teil I: 1989/90: Erinnerungen, Notate, Dokumente, Schwerin 2009. Schoenemann, Julius: Der große Schritt. Die dritte Hochschulreform in der DDR und ihre Folgen, dargestellt an einem Beispiel aus der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock 1969–1972. Rostock 1998. Schwabe, Klaus: Aufstand an der Küste. Ursachen, Verlauf und Ereignisse des 17. Juni 1953. Schwerin 2003. Schwabe, Klaus: Der 17. Juni 1953 in Mecklenburg und Vorpommern (Geschichte Mecklenburg-Vorpommern; 4). Schwerin 1993. Schwießelmann, Christian: Die CDU im Norden der DDR 1952 bis 1961. Ein Blick hinter die Kulissen einer Blockpartei in den Bezirken Neubrandenburg, Rostock und Schwerin. In: Zr. 13 (2009) 1, S. 37–57. Schwießelmann, Christian: Die politische »Wende« 1989/90 und die Christdemokraten im Norden der DDR. In: Zr. 12 (2008) 2, S. 89–104. Seegers, Lu: »Die Ostsee muss ein Meer des Friedens sein« – Die Ostseewoche in Rostock als Herrschafts- und Stadtrepräsentation der DDR (1958–1975). In: Zr. 11 (2007) 2, S. 45–52. Seils, Markus: Die SED und die Universitäten in Mecklenburg-Vorpommern. Wie alles begann. In: HuG. 7 (1998) 3, Nr. 24, S. 8–15. Seiring, Wilfried: Mein einsamster Geburtstag oder die Wende meines Lebens. Hintergründe und Folgen der Flucht eines Studenten aus Greifswald. In: Zr. 8 (2004) 2, S. 63–68. Sens, Ingo; Hackbarth, Martin: Das Unmögliche wagen. Der Förderkreis St. Georgen zu Wismar von den Anfängen bis zur Gegenwart. Kiel 2013 Stunnack, Grit: Willy Jesse. In: Zr. 1 (1997) 2, S. 35–38. Vierneisel, Beatrice: Der Stralsunder Maler Manfred Kastner und der Bezirksverband Bildender Künstler Rostock in den siebziger Jahren. In: Zr. 8 (2004) 2, S. 29–40. Vierneisel, Beatrice: Der 17. Juni 1953 in Mecklenburg und Vorpommern. Begleitheft zur Ausstellung des Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Schwerin 2003. Wagner, Andreas: Das Ökumenische Zentrum für Umweltarbeit Wismar. Eine kirchliche Basisgruppe in der DDR-Endphase. In: Engelhardt, Kerstin; Reichling, Norbert (Hg.): Eigensinn in der DDR-Provinz. Vier Lokalstudien über Nonkonformität und Opposition. Schwabach 2011, S. 69–139. Wenzke, Rüdiger: Die Bedeutung des Militärstandortes Prora für die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte. In: Zr. 14 (2010) 1, S. 73–77. Winter, Friedrich: Kirche zwischen den Fronten. Der ökumenische Aufbruch der Pommerschen Evangelischen Kirche nach 1945. In: Zr. 8 (2004) 1, S. 52–63. Winter, Friedrich: Bischof Karl von Scheven (1882–1954). Ein pommersches Pfarrerleben in vier Zeiten. Berlin 2009. Wittenburg, Siegfried: Die friedliche, freiheitliche und demokratische Revolution Rostock 1989. Erlebnisberichte der Akteure. Rostock 2009. Wittenburg, Siegfried; Wolle, Stefan: Die sanfte Rebellion der Bilder. DDR-Alltag in Fotos und Geschichten. Darmstadt 2008.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Wolter, Stefan: Asche aufs Haupt! Vom Kampf gegen das kollektive Verdrängen der DDR-Vergangenheit von Prora auf Rügen. Halle/Saale 2012. Wunnicke, Christoph: Die Mobilen Friedensseminare von 1981 bis 1989 in Mecklenburg. In: Zr. 5 (2001) 1, S. 30–39. Wunnicke, Christoph: »In die Kirche können sie ruhig gehen, laß sie beten, da stören sie keinen.« Die FDJ und kirchliche Basisgruppen im Jahr 1983 in Rostock. In: Zr. 7 (2003) 1, S. 92–95. Wunnicke, Christoph: »Auf der Suche nach Leben.« Das MfS, die Westmedien, die CDU und auch ein wenig Friedensbewegung. Der Kirchentag in Stralsund vom 16. bis 18. Juni 1978. In: Zr. 8 (2004) 1, S. 72–76.

IV

Nachschlagewerke

Abkürzungsverzeichnis. Häufig verwendete Abkürzungen und Begriffe des Ministeriums für Staatssicherheit. BStU (Hg.) 140 Seiten, 10. Aufl., Berlin 2012 Das MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Hg. v. Engelmann, Roger; Florath, Bernd; Heidemeyer, Helge u. a. 2. Aufl., Berlin 2012. Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien. Hg. v. MüllerEnbergs, Helmut; Wielgohs, Jan; Hoffmann, Dieter u. a. 2 Bde. 5., aktual. und erw. Neuausgabe, Berlin 2010. Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien. Hg. v. MüllerEnbergs, Helmut; Wielgohs, Jan; Hoffmann, Dieter u. a. 2 Bde. 4. Aufl., Berlin 2006. Wörterbuch Staat und Politik. Hg. v. Nohlen, Dieter. Neuausgabe. Bonn 1995

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Personenregister Abraham, Thomas, Schüler, in kirchl. Friedensgruppen aktiv 64 f., 152 f. Adenauer, Konrad, CDU, Bundeskanzler 339 Ahrend, Thorsten, Autor 350 Albani, Bernd, Student 231 Alisch, Rainer, Student 224 Althausen, Johannes, Pfarrer 401 Ammer, Thomas, Oppositioneller, Historiker 19, 25, 518 Amthor, Artur, MfS-Funktionär 52, 342, 514 Bachmann, Ingeborg, Schriftstellerin 314 Bahro, Rudolf, Rechtsanwalt, Regimekritiker 282 Barthel, Kurt, Schriftsteller, Intendant 55 Barz, Ingo, Diakon, Liedermacher 148 f., 150, 256, 262, 514 Bauer, Babett 331 Bauerkämper, Arnd 33, 515 Bayer, Erich, Autor 331 Bäz, Fritz, Augenarzt, Schöffe 425 Beimler, Heinz, Kommunist, Spanienkämpfer 194, 247 Below, Hans-Jürgen 97 f. Bennewitz, Inge, Regisseurin 23, 30, 518 Berg, Militärstaatsanwalt (Oberleutnant) 135 Berger, Michael, Arzt, Bürgerrechtler 283 Bernhardt, Martin, Dichter 356, 358– 360, 362, 369–371 Beyer, Frank, Regisseur 341 Biermann, Wolf, Liedermacher 9, 122, 128–133, 135 f., 138 f., 163, 498, 507 Bindemann, Walther, Pfarrer 249, 503 f.

Bismarck, Otto von, Reichskanzler 51, 258 Bispinck, Henrik, Historiker 20, 518 Blanck, Horst, Landessuperintendent 365 f. Blaurock, Staatsanwalt 117 Blohm, Frank, Reisejournalist 280 f. Blumer, Herbert, Soziologe 329 Bohmann, Christoph, Umweltaktivist 387–389 Bomberg, Karl-Heinz, Liedermacher 290 Bonhoeffer, Dietrich, Theologe 293 f. Böttiger, Helmut, Journalist 280 Bourdieu, Pierre, Soziologe 329 Bowie, David, Sänger 367 Brandt, Willy, SPD, Bundeskanzler 120 Braun, Volker, Schriftsteller 265 Breymann, SED-Funktionär 188 Broszat, Martin, Historiker 32 Brüsewitz, Oskar, Pfarrer 130, 163 Bude, Roland, Soziologe 19, 519 Büdke, Herbert, Diakon 69, 82 f. Buhrow, Dietrich, Krankenpfleger, Aktionskünstler 356–359 Burkhardt, Matthias, Pfarrer 238, 243 Buthmann, Reinhard, BStUMitarbeiter 35, 515 Butzmann, Manfred, Grafiker 256 Cardenal, Ernesto, Befreiungstheologe 385 Chemnitzer, Johannes, SEDFunktionär 54 Cicourel, Aaron Victor, Soziologe 329 Clausewitz, Carl Philipp Gottlieb von, Militärtheoretiker 36, 186, 443 Coblenz, Ulrich, Pfarrer 256 Conrad, Robert, Fotograf, Bürgerrechtler 64, 248, 353, 354, 356, 358, 360, 514

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Dahlsten, Ulf, Schwedischer Staatssekretär 467 f. Dettenborn, Harry, Autor 236 Dibelius, Otto, Bischof 80, 324 Diederich, Georg M. 24, 519 Dohlus, Horst, SED-Funktionär 175 Doll, Ulrike, Pfarrerin 385 f. Domaschk, Matthias, Bürgerrechtler 372 Drescher, Anne, Bürgerrechtlerin, Landesbeauftragte 97, 519 Düben, Johannes, Diakon 249, 259, 261, 263 Düben, Sabine, Katechetin 255, 263 Dürr, Martin, Pfarrer 12, 447, 519 Eckert, Rainer, Historiker 209, 515 Eisenfeld, Bernd, Oppositioneller 293, 515 Engel, Günter, Küster 381, 400, 406 Eppelmann, Rainer, Pfarrer, Bürgerrechtler 295 Erdmann, Guntram, Küster, Bürgerrechtler, IM 284–288, 302, 309–311 Esch, Arno, Liberaldemokrat, Student 18 f., 70, 72–74, 78 Falcke, Heino, Propst 294 Fassbender, Hardy (Pseudonym) 375– 377 Fassbender, Otto, Kommunalpolitiker 413–415 Feuerbach, Ludwig, Philosoph 504 Fiedler, Jürgen, MfS-Mitarbeiter (Hauptmann) 233 f., 381 Fiegert, Herbert, Oberbürgermeister 11 Fischer, SED-Funktionär, Stellv. f. Inneres 242 f. Fischer, Kurt, SED-Funktionär 73 Fischer, Oskar, Außenminister 467 Flach, Karl-Herrmann, Redakteur 73 Fleischhauer, Richter 425 Florath, Walter, SED-Funktionär, Chefredakteur 47 Forck, Gottfried, Bischof 403 Frank, Rahel 24 f., 386, 519, 522

Frankenstein, MfS-Mitarbeiter (Major) 264 f., 342 Freese, Walter, SPD-Landrat 214 Fricke, Karl-Wilhelm, Journalist, DDRForscher 35 f., 164, 515 f. Friedrich, Caspar David, Maler 248, 460 Fröhlich, Hans-H., Autor 236 Fukarek, Künstler 356 Furian, Hans-Otto, Propst 371 Garbe, Staatsanwalt 443 f. Garfinkel, Harald, Soziologe 329 Gauck, Joachim, Pfarrer 52, 60, 249 f., 293, 390 f. Geißler, Lothar, SED-Funktionär 54 Geißler, Rainer, Soziologe 329 f. Gernentz, Jürgen, Gegendemonstrant 152 Giacometti, Alberto, Bildhauer, Maler, Grafiker 370 Gienke, Horst, Bischof 24, 155, 157, 211, 244 f. Girrmann, Detlef, Fluchthelfer 462 Gläßner, Ludwig, Staatsanwalt 206 Glöckner, Konrad, Studentenpfarrer 23 Glöckner, Reinhard, Pfarrer 156, 173 f., 248 Gloede, Erich, Rechtsanwalt 416 Gloede, Günther, Pfarrer 455 Goes, Walter, Künstler 172 Goffman, Erving, Soziologe 329 Görlich, Christopher 26 Görlich, Johannes, Pfarrer 184 Gosch, Astrid, Pfarrerin 256 Graber, Karl, Arzt 415 f. Groppler, Oliver, Bürgerrechtler 234 Grotewohl, Otto, SPD, SEDFunktionär 104, 338 f., 452 f. Guhr, Staatsanwalt 406 f. Gurke, Hans-Egon, Diakon 88 Haase, Reinhard, Künstler, Bürgerrechtler 56 Hamann, Heinrich, Propst 86 Handschuk, Martin 19

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Anhang – Personenregister Häntsch, Wolfgang, Schauspieler 198 f. Häntsch-Schubert, Helga, Schauspielerin 198 Harder, Hans-Martin, Konsistorialrat 243 f., 273 f., 315 f. Haß, Jürgen, SED-Funktionär 390 f., 398 Hauswald, Harald, Fotograf 350 Havel, Václav, Bürgerrechtler 253 Havemann, Robert, Regimekritiker 163, 224, 282, 294 Hegel, Wilhelm Friedrich, Philosoph 162, 324, 504 Heidenreich, Georg, Pfarrer 289 Heinlein, Stellv. Oberbürgermeister 266 Heinz, Michael, BStU-Mitarbeiter 22 Hengst, Adalbert, SED-Funktionär 92 Henneberg, Hellmuth, Journalist 23, 487 Hennecke, Adolf, Bergmann 190 Hennig, Torsten, Diakon 248, 263 f., 266 f., 270 Henry, Marie-Luise, Kunstwissenschaftlerin 452–454 Henselmann, Hermann, Architekt 44 Heym, Stefan, Schriftsteller 133 Hillmann, Karl-Heinz, Soziologe 328 Hirsch, Ralf, Bürgerrechtler 318 Hitler, Adolf, Reichskanzler 140, 38 f., 344, 356, 446, 472 Hồ Chí Minh, Vietnamesischer Nationaler Befreiungskämpfer 287 Hofer, Karl, Maler 370 Höffer, Volker, BStUAußenstellenleiter 26, 520 Hoffmann, Heinz, Armeegeneral 344 Homuth, Gerhard, Pfarrer 364–366 Honecker, Erich, SEDFunktionär 128, 133, 153–157, 175, 212, 228, 289, 308, 390 f., 397, 432, 434, 468 Höser, Susanne 27, 520 Husserl, Edmund, Soziologe 329

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Jacobsen, Hans-Adolf, Historiker, Politikwissenschaftler 446, 516 Jahnel, MfS-Mitarbeiter (Hauptmann) 497 Jan Rohde and the Wild Ones, Musikgruppe 490, 492 f. Jander, Martin 33, 516 Jastram, Jo, Bildhauer 127, 215 f., 357 Jelen, Frieder, Pfarrer 66, 256 f. Jeremias, Tilman, Redakteur 449 Jesse, Eckhard, Politikwissenschaftler 32, 516 Jesse, Willy, SPD 21, 70, 75 f., 78 Jewtuschenko, Jewgeni, Dichter 198 f. Kaiser, Jakob, CDU 76 Kaiser, Paul, Diakon 457 Kamiński, Aleksander 263, 469 Kaminski, SED-Funktionär 420 Kantůrková, Eva, Dissidentin 254 Kausch, Dietmar 20, 521 Ketmann, Per (Pseudonym), Reisejournalist 281 Kieckbusch, Kurt, Liberaldemokrat 74 King, Martin Luther, Prediger, Bürgerrechtler 268, 270 Kinning, CDU-Funktionär 451 Kirbach, Mühlenbesitzer 417–419 Kirsch, Sarah, Schriftstellerin 133 Kleemann, Christoph, Studentenpfarrer 52, 56, 248, 251, 276, 352, 398 f., 401 Kleinert, Rene, Bürgerrechtler 157 Klier, Freya, Bürgerrechtlerin 318 Klingenstein, Ernst August, Oberrichter 167 f. Klohr, Olaf, Atheismusforscher 153, 227 f. Knabe, Hubertus, Historiker 34, 516 Knie, Martha, Zeugen Jehovas 424 f. Kochs, Heinz, Oberbürgermeister 457 Kołakowski, Leszek, Dissident 282 Kolbe, Rechtsanwalt 413 Kolberg, Walter, Stellv. Bürgermeister 21, 70, 76–78, 182 Körner, Theodor, Dichter, Dramatiker, Freiheitskämpfer 406 f.

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Kowalczuk, Ilko-Sascha, Historiker 32, 35, 95, 516 Krätzner, Anita, Historikerin 22 Kraus, Alfred, MfS-Funktionär 55, 113–115, 461, 485 Krawczyk, Stephan, Liedermacher 283, 318 Krischer, Hans, Gegendemonstrant 152 Krolikowski, Werner, SEDFunktionär 55 Krug, Manfred, Schauspieler 341 Krummacher, Bernd-Dietrich, Pfarrer 255, 263 Krummacher, Friedrich-Wilhelm, Bischof 23 Kunert, Günter, Schriftsteller 325 Kunze, Reiner, Schriftsteller 131 Kuroń, Jacek, Dissident 282, 509 Kuske, Martin, Pfarrer 293 f. Lange, Willi, Pfarrer 283 Langer, Kai 27, 51–53, 521 Lansemann, Robert, Pfarrer 21, 69, 79–81 Lasch, Rudolf, Architekt 305 f. Laudin, Inge, Pfarrerin 320 Launicke, Kerstin, aktiv in kirchl. Friedensgruppen 234 Lehmann, A., Theologe 268 Lehmann, Generaldirektor 392 Lehmann, Theo, Pfarrer 269 f. Leifer, Horst, Maler 370 Leifer, Sibylle, Malerin 370 Lemcke, Walter, Pfarrer 454 f. Lenin (Uljanov), Vladimir Iljitsch, Revolutionär 209, 472 Leuschner, Bruno, SEDFunktionär 352, 391 f. Lewins, Kurt, Soziologe 35 Lietz, Heiko, Bürgerrechtler 52, 65, 249, 251, 255, 273, 276–278, 289 f., 388, 394 f. Lippold, Egbert, Pfarrer 248 Lissau, Margot, Heimleiterin 88 Lobedanz, Reinhold, CDUFunktionär 75

Lohmann, Johannes, Pfarrer 383–386 Lohmeyer, Ernst, Professor 21, 70–72, 77 f. Lohmeyer, Melie 71 Lucht, Harro, Studentenpfarrer 248, 360, 374 f. Luckmann, Thomas, Soziologe 331, 335 Lüdke, Günther, Pfarrer 85 Luxemburg, Rosa, Vertreterin der europäischen Arbeiterbewegung 242, 264, 267, 302, 318, 430 Macht, Roland, SEDFunktionär 239 f. Maercker, Traugott, Pfarrer 292 Mäkinen, Aulikki, Biograph 23, 521 Maltzahn, von, Albrecht, Pfarrer 388 f. Marx, Karl, Philosoph 269, 504 May, Alfons, Ingenieur 457 May, Franz, Ingenieur 457 Meckel, Markus, Pfarrer 255 Mehlhorn, Ludwig, Bürgerrechtler 223, 231 Mellies, Dirk 27, 521 Memmler, Hans-Joachim 25, 518 Menge, Marlies, Journalistin 276 Merwitt, Staatsanwalt 414 f. Mewis, Karl, SED-Funktionär 56, 115, 451–453 Meyer, Walter, Pfarrer 81 Miehlke, Elke, Bürgerrechtlerin 505 Mielke, Polizeileutnant 472 Mielke, Erich, MfS-Funktionär und -Minister 56, 157, 226, 228, 355, 467 Migge, MfS-Mitarbeiter 247, 371 Mittag, Rudolf, MfS-Funktionär 55, 137, 463 Mitzenheimer, Moritz, Bischof 157 Mix, Herrmann, Institutsdirektor 452 Möller, Frank 27 Möller, Michael, Studentenpfarrer 248, 274, 282 f., 293, 295 Möller, Thomas, Gegendemonstrant 152

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Anhang – Personenregister Mothes, Jörn, Umweltaktivist 387 Müller, Margarete, CDUMitglied 76 Müller, Peter, Oberkirchenrat 278 Münkler, Herfried, Politikwissenschaftler 36, 167 Nath, Dieter, Pfarrer 148, 255, 382 f. Neubert, Ehrhart, Pfarrer, DDRForscher 34, 165, 227, 257 f., 517 Neujahr, Karl-Heinz, Liberaldemokrat 74 Niemeyer-Holstein, Otto, Maler 127 Nitzsche, Raimund 23, 522 Noack, Arndt, Studentenpfarrer 243 f. 248 Noack, Axel, Pfarrer, Bischof 57 f. Noll, Dieter, Schriftsteller 133 Nosko, Mathias, SEDInstrukteur 418 Nuschke, Otto, CDU-Vorsitzender 76 Oestreich, Günter, MfSMitarbeiter 251 f. Ohle, Walter, Denkmalpfleger 44 Ossietzky, Carl von, Herausgeber, Nobelpreisträger 284, 292 Pahl, Michael, Bürgerrechtler 284, 309 Palme, Olof, schwedischer Ministerpräsident 308, 311, 468, 494 Pambor, Manfred, Professor 361 Pankow, Werner 97, 519 Peck, Ulrich, FDJ-Funktionär 153 Peltz, Winfried, MfS-Mitarbeiter 234– 236, 323, 500 f. Pentz, Christoph, Landessuperintendent 274, 290, 394 Peters, Abteilungsleiter 452, 455 Peukert, Detlev 33 f., 163 f., 202, 517 Pflugk, Hans, Landessuperintendent 84 f. 121 Philipp, Tobias, Bürgerrechtler 154 Pieck, Wilhelm, SED-Funktionär 75, 104, 118, 338 f. 425 Piehl, MfS-Mitarbeiter (Oberleutnant) 395 Pischner, Hans, Stellv. Minister 44

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Plath, Siegfried, Konsistorialrat 243 f., 273 f., 315 Poppe, Gerd, Bürgerrechtler 234 Poppe, Ulrike, Bürgerrechtlerin 234 Posnanski, Reinhold, Liberaldemokrat 74 Probst, Lothar 27, 52 Pufahr, Volkspolizist (Leutnant) 405 Puttkammer, Joachim, Pfarrer 156 Quitschau, Siegmund, MfSMitarbeiter 233 Radow, Roland, Bürgerrechtler 154 Raillard, Susanne 113, 522 Rassmus, MfS-Mitarbeiter (Oberleutnant) 421 Rathenow, Lutz, Schriftsteller 224, 234 Rathke, Heinrich, Pfarrer, Bischof 65, 195, 239 f., 300, 397, 448 Rau, FDJ-Funktionär 228 Reagan, Ronald, US-Präsident 307 Rebetky, Ursula, Journalistin 169 Reich, Jens, Bürgerrechtler 323, 509 Remy, Dietmar 32 Reuter, Margarete, Katechetin 79 Ringshausen, Gerhard 446, 517 Rink, Dieter 245 Röder, Hans-Jürgen, Journalist 278– 280, 402 Rödl, Ingeborg, Pfarrerin 501 Rosenthal, Rüdiger, Bürgerrechtler 234 Rössler, Thomas, Musiker 248 Roßmann, Staatsanwalt 407 Roßner, Geheimpolizei-Funktionär 73 Rothe, Aribert 245 Rousseau, Jean-Jacques, Philosoph 37 Rudi Total (Punkband) 352 Rusch, Claudia, Schriftstellerin 459, 514 Rutenberg, Staatsanwalt 418 Saeger, Uwe, Schriftsteller 314 Schacht, Ulrich, Regimekritiker, Schriftsteller 60, 514 Schacht, Wendelgard 98 Schaufuß, Thomas 26, 522

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Scherer, Richard 27, 520 Scheunpflug, Robert 24, 522 Scheven, Karl von, Bischof 23 Schirow, Maren, Umweltaktivistin 387 Schmidt, Dorothea, Umweltaktivistin 387 Schmidt, Heike 22, 522 Schmidtbauer, Bernhard 27, 522 Schmiege, Gerichtspräsident 425 Schmitz, Elke, Ausreiseantragstellerin 317–320 Schnabel, Holger, Bürgerrechtler 309– 311 Schnauer, Arvid, Pfarrer 27, 248, 523 Schneider, Rolf, Schriftsteller 133 Schnur, Wolfgang, Rechtsanwalt 310 f., 396 f. Schoenemann, Julius 20, 523 Schöne, Jens 112 Schönherr, Albrecht, Bischof 238, 403 Schrade, Stellv. Oberbürgermeister 447 Schröder, Bernd, Diakon 66, 249 Schröder, Richard, Theologe 402 Schulz, Abteilungsleiter für Inneres 191 Schulze, Rose, Malerin 325 Schumacher, Kurt, SPDVorsitzender 75 Schütz, Alfred 329, 331 Schwabe, Klaus 22, 523 Schwarz, Volkspolizist (Leutnant) 415 Schweizer, Albert, Arzt 237 Schwießelmann, Christian 21, 523 Seidlitz, Günter, Seminarbetreuer 361 Seigewasser, Hans, Funktionär 194 Semjonow, Wladimir, Hoher Kommissar 81 Semrau, Manfred, Kampfgruppenkommandeur 276 Seyppel, Joachim, Schriftsteller 132 f. Shorter, Wayne, Musiker 247 Šimečka, Milan, Dissident 299 Sloterdijk, Peter, Philosoph 16, 335, 368 Solisch, Willi, Oberbürgermeister 47

Solschenizyn, Alexander, Schriftsteller 443 Staak, Eckehard, Pfarrer 183 f. Stalin (Dshugashvili), Josef Vissarionovitsh 332 Steinbach, Peter, Politikwissenschaftler 33 f., 37, 180, 182, 246, 517 Steinbrecher, Georg, Landessuperintendent 451 Stemmler, Martin, Pfarrer 255 Stier, Christoph, Bischof 278 Stiller, Werner, MfS-Mitarbeiter und Überläufer 162, 346 Stoph, Willi, SED-Funktionär 140 Stöver, Bernd 33, 517 Swoboda, Jörg, Pfarrer 269 f. Templin, Regina, Bürgerrechtler 318 Templin, Wolfgang, Bürgerrechtler 318 Tennigkeit, Oskar, Lehrer 180–182 Thielicke, Helmuth, Theologe 80 Timm, Dietrich, Propst 85 Timm, Ernst, SED-Funktionär 56, 137, 155, 175 f., 211 f. Timm, Tilmann, Propst 333 f. Tisch, Harry, SED-Funktionär 56, 452 Torkler, Manfred, Superintendent 264 f. Tschiche, Hans-Joachim, Theologe 234 Uhlig, Max, Maler 370 Ulbricht, Walter, SEDFunktionär 48 f., 90, 118 f., 125, 128, 203 f., 338 f., 352, 409, 431–433, 449,471 Ullmann, Kulturfunktionär 172 Ullmann, Wolfgang, Theologe 402 Unverricht, Siegfried, SEDFunktionär 176 Urbanski, Wolfgang, Architekt 55, 448 Utpatel, Christian, Musiker, Bürgerrechtler 65, 151–153, 351 Utpatel, Hennig, Student, Bürgerrechtler 251, 400–402

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Anhang – Personenregister Venus, Frieder, Künstler 199 Vierneisel, Beatrice 22, 523 Voigt, Gerhard, Grafiker 262, 290 Voigt, Peter, Soziologe 174–177 Vollbrecht, Christiane, BStUMitarbeiterin 30 Volmar, Hartmut, Diakon, Pfarrer 256 Wackwitz, Superintendent 392 Wahrmann, Siegfried, Präses 195, 292 Warnke, Hans, SED-Funktionär 56 Watzke, Franz, Arzt 406 Weber, Gerhard, Fotograf 350 Weber, Max 14, 332 Wedler, Burkhard, Professor 361 Wegner, Bettina, Liedermacherin 374 Wegner, Günter, Professor 361 Weinberger, Bernhard, Minister 92 Weiß, Konrad, Theologe 452 Wellingerhof, Friedrich, Franz, Pfarrer 82 Wende, Frank, Autor 331 Wensierski, Peter, Journalist 66 Wenzke, Rüdiger 50, 523 Wetzel, Christoph, Maler 460 Wiersbitzky (Fleckstein), Ines, Studentin 152 Wigand, Volkspolizei-Vertragsarzt 416 Wilhelm II, Kaiser 339 Winkler, Heinrich August, Historiker 165 Winter, Friedrich, Studentenpfarrer 23, 514 Witte, Siegfried, CDU 70, 74 f., 78 Wohlgemuth, Franz, SEDFunktionär 71 f. Wohlrab, Lutz, Student, Künstler 356, 358 f., 361, 369–371, 515 Wollenberger, Vera, Bürgerrechtlerin 283, 499 Wolter, Cornelia, Bürgerrechtlerin 309–311 Wonneberger, Christoph, Pfarrer 504 Wunnicke, Christoph 25, 524 Wutzke, Oswald, Pfarrer 244 Zawinul, Joe, Musiker 247

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Ortsregister Ahlbeck 445 Ahrenshagen 116 Ahrenshoop 40 Altefähr 141, 255, 270, 314 f. Altenhagen 116 Altenkirchen 216, 256 Altenpleen 119 Alt Kätwin 144, 147 Anklam 74, 422–425, 444 f. Arnsdorf 413 Babelin 115 Bad Doberan 20, 27, 86, 115, 120, 160, 216, 226, 233–235, 238, 242, 272, 323, 326, 333, 340, 400, 436, 472–474, 483, 501, 521 Bandelin 125 Bansin 490 Barth 88 f., 94, 125, 213 Bautzen 74, 103 Bergen 120, 172, 256, 296, 346 f., 472, 487 Berlin 11, 18, 22, 26, 28 f., 31, 40, 42, 47, 54, 57 f., 60–66, 76, 80, 88, 90, 92, 96, 105, 115, 121 f., 128, 130, 132, 137 f., 141, 143, 151, 154, 159 f. 160, 168 f., 173, 175 f., 199, 207, 221, 223, 229–231, 238, 254, 256, 257, 263–265, 267, 270–275, 277, 278, 283–286, 290, 295, 300, 302, 304, 307, 312, 318 f. 322, 324, 339, 344, 350 f., 354, 366 f., 370, 372, 383, 387 f., 398, 401 f., 417, 423, 427, 430 f., 434, 445, 447, 451, 459, 461, 462, 483, 486 f., 489, 500, 505, 508 Berlin-Dahlem 80 Berlin-Friedrichshagen 455

Berlin-Hohenschönhausen 75, 105 f. Berlin-Marienfelde 96, 101 Berlin (Ost-Berlin) 43, 58, 62 f., 101, 127 f., 132, 138, 169, 178, 188, 203, 206, 225, 231, 236, 242, 262, 272, 275 f., 279, 302, 307, 312, 354, 401, 403, 417, 486, 505 Berlin-Pankow 263, 309 Berlin-Schmöckwitz 486 Berlin-Treptow 276 Berlin (West-Berlin) 48, 63, 69, 75, 80–83, 96, 98, 100, 101, 103, 105 f., 108, 145, 168, 185, 208, 213, 232, 234, 278 f., 301, 346, 367, 386, 489 Bessin 315 Bietekow 370 Binz 22, 85, 346 f. Bisdamitz 88 Bitterfeld 57 f. Bobbin 88 Boddin 405, 407 Boltenhagen 78, 217, 440, 467 Bonn 407 Born 479 f. Brandenburg/Havel 56, 246 Bremen 47, 330 Breslau 70 Bromberg 71 Brooklyn 423 Buckow/Mark 269 Budapest 456 Buna 57 Bützow 48 Bützow-Dreibergen 205, 308, 425, 433 Carlsdorf 199 Chemnitz (siehe auch  Karl-MarxStadt) 11, 55

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

Cottbus 59, 61, 63, 138, 149, 230, 246, 307, 403 Crivitz 48 Darß 110, 467, 479 Dassow 343, 475 Dedelow 437 Dessau 11, 246, 475 Dierhagen 462 Dranske 50, 123 Dreschvitz 435 Dresden 11, 54, 58, 61, 63, 138, 157, 223, 275, 279, 286, 311, 394, 397, 417, 449, 462 f., 504 Dreveskirchen 283 Ducherow 424 f. Eggesin 358 f. Eisenhüttenstadt 11 Elmenhorst 114 Erfurt 59, 61–63, 138, 275, 279, 294, 401, 466 Frankfurt/Main 296 Frankfurt/Oder 61–63, 238, 246, 449 Franzburg 84 Gallentin 110 Gartz 224 Genf 312 Gera 58, 61, 63, 138, 372 Glowe 88, 440 Gnoien 146, 404–406, 409 Götemitz 478 Greifswald 20 f., 23 f., 27, 39 f., 62 f., 66, 70–72, 76, 82, 86, 88, 100, 102, 108, 114, 116 f., 119, 121, 123, 126, 131, 137, 141, 146, 148, 155, 157, 160, 173, 177, 183, 185, 189–191, 211 f., 214, 243, 246–249, 252, 254, 263, 268, 272 f., 279 f., 287, 298, 303, 313, 315, 337–339, 352–361, 369– 372, 374, 391, 392, 424 f., 442, 471–474, 479, 503 Gremersdorf 201 f. Gresenhorst 96 Grevesmühlen 115, 137, 188, 343, 440, 473–475, 482 f.

Grimmen 23, 114, 201, 252, 345, 440, 474 Groß Kiesow 370 Groß Lüsewitz 139, 218 f. Groß Lüdershagen 115, 197 Grul 116 Güstrow 53, 60, 81 f., 143, 146, 168, 249, 273, 277 f., 288, 395, 402 f., 450 Gützkow 125 Halle/Saale 40, 57 f., 61–63, 72, 138, 220 f., 268 Hamburg 42, 47, 56, 131, 133, 169, 175, 303, 330, 350, 442, 481 Hannover 208, 222 Hanshagen 72 Heiligendamm 39, 193, 340 Heringsdorf 445 Herrnburg 39, 217, 482 Hiddensee 50, 53, 118 f., 122, 263, 360 Himmelmühle 101 Hinrichshagen 116 f. Hohe Düne 50 Hohenkirchen 81 Hohenleuben 320 Ilmenau 221 Jatznick 191 Jörgensdorf 421 Karlburg 254 Karl-Marx-Stadt (siehe auch  Chemnitz) 54, 58, 61, 63, 138, 205, 269, 307, 320 Karlshagen 76, 113 Kemnitz 183 Kessin 141, 148, 151 f., 233 f., 255, 261 f. 290, 326, 380–383, 393 Kirch Kogel 150 Klein Zastrow 117, 146, 190 Kleinmachnow 234 Klütz 115 Kronskamp 143, 145 Kröpelin 120, 470 Krummien 115

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Anhang – Ortsregister Kühlungsborn 98, 124, 126, 233, 235, 238, 241 f. 256, 272, 340, 462, 467 Laage 143–146, 409 Lancken 364 Langenhagen 116 Langenhansheide 88 Leipzig 11, 42, 53 f., 57, 59, 61–63, 65, 130 f., 138, 159, 223 f., 231, 275, 278, 282 f., 387, 401, 425, 445, 452, 456, 462, 466, 500, 504 Leopoldshagen 422, 424 f. Leuna 57 Levenhagen 114, 185 Lieblingshof 411 f. Lößnitz 55 Lübeck 39, 47, 53, 217, 291, 457, 462 Lubmin 137, 184, 352, 391 f., 437 f. Luckenwalde 387 Ludwigslust 227 Lüssow bei Güstrow 60 Lüssow bei Stralsund 115, 116 Magdeburg 11, 57 f., 61, 63, 97, 138, 234, 279, 423 Menzendorf 483 Meyenburg 40 Middelhagen 66, 141, 256 f. Mölln 384 Mönchgut 66, 186 Moskau 18, 74, 77, 81, 85, 100 Mühlen Eichsen 501 Mukran 49, 481 Naumburg 223, 234, 384, 401, 480 Neubrandenburg 40, 53 f., 59, 61 f., 135, 142 f. 145 f., 178, 208, 246, 384, 395, 405 f., 410, 420 f., Neubukow 132, 333 f., 455 Neuenhagen 238 Neu Lüdershagen 115, 197 Neustrelitz 142, 147, 199, 316, 376, 405, 421 Neu Ungnade 117 Nienhagen 340 Niepars 118

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Nordhausen 11 Ost-Berlin  Berlin (Ost-Berlin) Pankow  Berlin-Pankow Parchim 364, 384 Pasewalk 191, 423, 444 Peenemünde 50, 88 Peking 156, 289 Penzlin 316 Perleberg 40, 48, 348 Petersdorf 47 Plauen 54 Poggelow 408–410 Poseritz 435 Potsdam 58, 61–63, 138, 151, 154, 234, 387, 456, 497 Potsdam-Eiche 210, 232, 500 Poznań 215 Prag 111, 121 f., 127, 147, 222, 321, 504 Prag Žižkov 121 Prenzlau 40, 54, 370 Prerow 190, 470 Prora 39, 49 f. Putbus 172 Radlow 121 Ralswiek 479 Rambin 125, 255, 270, 315 f., 478 Rerik 85 f., 340 Ribnitz-Damgarten 39 f., 94, 96, 116, 135, 148 f., 188, 213, 256, 261, 272, 414, 473 f., 479 f. Rönkendorf 437 Rostock 11, 18–28, 30, 39, 41–44, 46–49, 52–57, 60, 63–65, 72– 76, 82–84, 87–94, 96 f., 99– 107, 109 f., 113, 115, 117– 119, 121, 123 f., 126–128, 132, 134, 136 f., 139–141, 143, 145 f., 148–155, 158– 160, 167, 169–171, 174–176, 197, 203–206, 208, 212, 215, 218–228, 230 f., 233, 239 f., 246–252, 254, 269, 272 f., 276, 279–281, 286, 289 f., 293, 295–298, 301, 304–307, 313, 317–319, 321 f., 330,

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»Freiheit heißt, die Angst verlieren«

338–340, 342 f., 349–352, 357 f., 372 f., 381, 387 f., 390 f., 396402, 412, 415 f., 433–435, 438–442, 444, 448– 450, 452 f., 455–460, 463– 466, 469 f., 472 f., 479–481, 483, 485–487, 490, 492–494, 496–499, 504 f. Rostock-Brinckmansdorf 194 f., 262 Rostock-Dierkow 349, 481 Rostock-Evershagen 65, 249, 349 Rostock-Gehlsdorf 90, 94, 208, 225, 251, 282, 325, 352, 488–490 Rostock-Groß Klein 349, 448 Rostock-Lichtenhagen 349 f. Rostock-Lütten Klein 349 f. Rostock-Marienehe 102, 498 Rostock-Reutershagen 139, 349, 495 Rostock-Schmarl 158, 349 Rostock-Südstadt 140, 206 f., 320, 349, 402, 448, 503 Rostock-Waldeck 28 Rostock-Warnemünde 11, 39, 50, 88, 105, 108, 128, 130, 137, 139, 140, 153, 169, 203, 205, 216, 227, 349, 436, 449, 458, 462 f., 465 f., 471 Rügen 23, 39, 50, 66, 85, 88, 120, 122 f., 125, 159, 172, 186 f., 216 f., 255 f., 296, 315, 341, 346, 434 f., 437, 459 f., 471– 474, 478 f., 481, 486 f. Ruschvitz 435 Sagard 341, 435 Samow 146 f. Samswegen 234 Samtens 159 Sanz 370 Saßnitz 44, 123 f., 217, 434, 458–463, 465–468, 472, 473, 486 Schönberg 114 Schwarze Pumpe 57, 227, 461 Schwerin 24, 27, 40, 44, 53, 58–63, 65, 69, 73 f., 76, 79, 81, 85, 138, 141, 143, 145, 151, 168, 194, 226, 239, 268, 278,

289 f., 347, 366, 383–385, 388, 395, 397, 423 f., 451, 454, 501 Seckeritz 342 Sellin 118, 471 Selmsdorf 39 Siemersdorf 437 Spantowerhagen 114 Stavenhagen 384 Steffenshagen 233, 256 Stepenitz 48 Sternberg 48 Stettin 23, 47 Stockholm 423 Stralsund 25, 44, 50, 62, 74, 82, 84, 88–91, 94, 98 f., 115, 118 f., 126, 130, 132, 137, 141, 148, 157, 159, 186, 197–199, 201, 212, 249, 254 f., 259, 261, 263–267, 269, 271, 273, 286, 298, 308–310, 312, 314, 316, 326, 339 f., 342–344, 360, 371, 431 f., 435, 437, 464, 466, 468, 470, 473 f., 480– 482, 494, 496 Stubbendorf 443 Suhl 59, 61, 63, 138 Swinemünde 39, 445, 467 Templin 40 Tessin 218, 411, 439, 444 Teterow 142, 146 f., 200, 276, 383– 386, 404 f., 408 f., 417–421 Thiessow 186 Torgau 100 Torgelow 425 Trassenheide 134 Travemünde 467 Trelleborg 217, 458 f., 461, 467 Tribsees 125 Trinwillershagen 39 Tschernobyl 392 Ückeritz 344, 490 Usedom, Insel 39, 50, 76, 113, 122, 127, 317, 432, 490 Usedom, Stadt 392 Vancouver 382

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Anhang – Ortsregister Velgast 116 Vilm 175, 186 f. Vilz 219 Vipperow 255 Waldheim 83 Wampen 252 Waren/Müritz 178 Warenshof 363 Warnemünde  Rostock-Warnemünde Wendorf 116 West-Berlin  Berlin (West-Berlin) Wilhelmsfelde 187 f. Wismar 11, 21, 24, 27, 39, 46, 49, 57, 63, 66, 69, 79-82, 88, 93, 110, 114 f., 125, 127, 136, 141, 148, 158, 186 f., 204– 206, 212, 217, 236, 246, 248, 252, 261, 271–275, 280–293, 295, 300–303, 307–309, 311, 317, 325, 339, 388, 393 f., 398, 431, 433, 435, 438, 447, 450, 452 f., 455, 457, 462– 467, 471, 473 f., 495 Wismar-Wendorf 11, 447, 519 Wittenberge 40, 48, 275, 347 f. Wittow (Halbinsel) 216 Wokuhl 363 Wolgast 131, 444 Wollin 39 Workuta 76 f. Wustrow 39, 131, 153 Ystad 467 Zempin 432 Zingst 22, 110, 216, 396, 412–415, 443, 471 Zinnowitz 76, 119, 470, 475 Züssow 121, 157, 244, 472 Zwedorf 115

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Angaben zum Autor Christian Halbrock, Dr., geboren 1963 in Crivitz, Ausbildung beim VEB Schiffselektronik Rostock. Ab 1993 Studium der Neueren/Neuesten Geschichte, der Mittelalterlichen Geschichte und der Europäischen Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2003 Promotion an der HumboldtUniversität zu Berlin. Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Bildung und Forschung des BStU. Ausgewählte Publikationen: Weggesprengt. Die Versöhnungskirche im Todesstreifen der Berliner Mauer 1961–1985. In: Horch und Guck 17 (2008) Sonderheft, S. 1–80. Evangelische Pfarrer der Kirche Berlin-Brandenburg 1945–1961. Amtsautonomie im vormundschaftlichen Staat? Berlin 2004. Stasi-Stadt – Die MfS-Zentrale in Berlin-Lichtenberg. Ein historischer Rundgang. Berlin 2009. Mielkes Revier. Stadtraum und Alltag rund um die MfS-Zentrale in BerlinLichtenberg. Berlin 2010.

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