Frauen in Duisburg-Marxloh: Eine ethnographische Studie über die Bewohnerinnen eines deutschen »Problemviertels« 9783839433812

Housewife, little education, migrant background = a problem for city development? Detailed insights into the subjective

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Frauen in Duisburg-Marxloh: Eine ethnographische Studie über die Bewohnerinnen eines deutschen »Problemviertels«
 9783839433812

Table of contents :
Inhalt
1. Einführung
2. Feldzugang, Methodik und Darstellungsweise
3. „Stadt der zwei Kulturen“? Das Setting
3.1 Zuwanderung in den Duisburger Norden bis in die 1970er Jahre
3.2 Zuwanderung und subjektive Wahrnehmung heute
3.2.1 „Die Deutschen“
3.2.2 „Die Türken“
3.2.3 „Die Bulgaren“
3.2.4 „Die Roma“
4. Die Frauen
4.1 Die „Aktiven“
4.1.1 Fallbeispiel Claudia
4.1.2 „Ich bin nicht anders!“ Freiheit und Gleichheit als Lebenskonzept
4.1.3 „Wir im Dorf halten zusammen.“ Marxloherinnen aus Passion
4.1.4 „Es gibt ja auch so viele lustige Geschichten.“ Bezug zu anderen Gruppen im Stadtteil
4.1.5 Fazit
4.2 Die „Gastarbeiterinnen“
4.2.1 Fallbeispiel Habibe
4.2.2 „Oh, Deutschland war sehr schön!“ Das Leben in der Fremde
4.2.3 „Es hat sich vieles hier verändert.“ Wahrnehmung von Wertewandel und Veränderungen im Stadtteil
4.2.4 „Wenn Ayse fährt, heult sie. Wenn sie wiederkommt, heult sie.“ Vom Leben im „Dazwischen“
4.2.5 Fazit
4.3 Die „Bildungsaufsteigerinnen“
4.3.1 Fallbeispiel Nayla
4.3.2 „Komm, nimm ein Buch und lies!“ Bildungserwerb mit Aufstiegsorientierung
4.3.3 „Etwas Soziales oder etwas Kreatives.“ Ausbildungs- und Berufswahl
4.3.4 Exkurs: Berufstätig in Marxloh – Die Geschäftsfrauen
4.3.5 „Der Richtige wird schon noch kommen.“ Vorstellungen von Heirat und Partnerschaft
4.3.6 „Man muss einfach irgendwo gebunden sein.“ Einstellungen zum Islam
4.3.7 „Ich höre eigentlich nur das Negative über Ausländer hier.“ Bezug zu anderen Gruppierungen und zum Stadtteil
4.3.8 Fazit
4.4 Die „Heiratsmigrantinnen“
4.4.1 Fallbeispiel Fatma
4.4.2 „Mein Leben geht weiter, aber ich denke immer an meine Kinder.“ Familienverhältnisse und Geschlechterrollenvorstellungen
4.4.3 Exkurs: „Ich wollte den nicht heiraten.“ Zwangsverheiratung
4.4.4 „Wie wichtig die Religion bei uns Muslimen ist, habe ich erst hier in Deutschland gelernt.“ Zur Bedeutung der Religion
4.4.5 „Wir Türken kennen uns untereinander einfach besser.“ Einstellungen zum Stadtteil und zu anderen Gruppen
4.4.6 Fazit
4.5 Die „Alteingesessenen“
4.5.1 Fallbeispiel Karin
4.5.2 „Aber für seine Kinder wollte man ja was Besseres.“ Vom Aufwachsen und Leben im Marxloh der 1960er Jahre
4.5.3 „Was die mit uns machen!“ Bezug zum Stadtteil und zu anderen Gruppen
4.5.4 Fazit
4.6 Die „Zurückgezogenen“
4.6.1 Fallbeispiel Gisela
4.6.2 „Dann war ich erst mal wieder alleine.“ Familienverhältnisse als „Patchwork“
4.6.3 Exkurs: „Die überleben nur knapp.“ Leben in relativer Armut
4.6.4 „Wobei das nicht die Kirche an sich ist, es ist eher das Drumherum“. Zur Bedeutung kirchlicher und sozialer Einrichtungen
4.6.5 „Einen Schritt voraus.“ Bezug zum Stadtteil und zu anderen Gruppen
4.6.6 Fazit
4.7 Romafrauen aus Rumänien
4.7.1 Fallbeispiel Antonia
4.7.2 „Bitte helfen!“ Familie und Gesundheit
4.7.3 „Meine Kinder sollen Bildung kriegen.“ Bildung und Berufstätigkeit
4.7.4 „Wir sind Tigani!“ Bezug zum Stadtteil und zu anderen Gruppen
4.7.5 Fazit
4.8 Frauen aus Bulgarien
4.8.1 Fallbeispiel Yildiz
4.8.2 „Immer die Kinder, mein Ehemann, Kinder.“ Familien- und Geschlechterrollenverhältnisse
4.8.3 „Mein größter Wunsch ist, dass mein Mann eine Arbeitserlaubnis erhält.“ Arbeits- und Bildungssituation
4.8.4 „Wahre Liebe, Anerkennung und Toleranz.“ Auf dem Weg zum Christentum
4.8.5 „Ausgegrenzt wird man häufig von Türken.“ Bezug zu anderen Gruppierungen im Stadtteil
4.8.6 Fazit
5. „Mehrfach benachteiligt“? Einige Aspekte der Ungleichheit im Alltagsleben von Frauen in Marxloh
5.1 Zur Bedeutung der geographischen Lokalität
5.1.1 Ortsbilder
5.1.2 Bewegungsverhalten
5.1.3 Fazit
5.2 Zur Bedeutung von Ethnizität
5.2.1 Etablierte
5.2.2 Außenseiter
5.2.3 Fazit
5.3 Zur Bedeutung des sozialen Milieus
5.3.1 „Kultur der Armut“
5.3.2 Exklusion
5.3.3 Fazit
5.4 Zur Bedeutung der Religion
5.4.1 Die Angst vor dem Islam
5.4.2 Marxlohs „neue Christen“
5.4.3 Fazit
6. Schluss
7. Literatur- und Quellenverzeichnis
7.1 Monographien und Aufsätze (Printfassungen)
7.2 Internetquellen
7.2.1 Dokumente, Berichte und Aufsätze
7.2.2 Zeitungsartikel
7.2.3 Fernsehdokumentationen, Filme und Radiobeiträge
7.2.4 Webseiten

Citation preview

Anna Caroline Cöster Frauen in Duisburg-Marxloh

Kultur und soziale Praxis

Anna Caroline Cöster (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Die Kulturwissenschaftlerin hat an der Universität Freiburg promoviert und forschte im Anschluss vier Jahre im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Projekt »Frauen in Duisburg-Marxloh«.

Anna Caroline Cöster

Frauen in Duisburg-Marxloh Eine ethnographische Studie über die Bewohnerinnen eines deutschen »Problemviertels«

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3381-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3381-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1.

Einführung | 9

2.

Feldzugang, Methodik und Darstellungsweise | 15

3.

„Stadt der zwei Kulturen“? Das Setting | 27

3.1 Zuwanderung in den Duisburger Norden bis in die 1970er Jahre | 27 3.2 Zuwanderung und subjektive Wahrnehmung heute | 38 3.2.1 „Die Deutschen“ | 46 3.2.2 „Die Türken“ | 52 3.2.3 „Die Bulgaren“ | 56 3.2.4 „Die Roma“ | 61 4.

Die Frauen | 67

4.1 Die „Aktiven“ | 70 4.1.1 Fallbeispiel Claudia | 70 4.1.2 „Ich bin nicht anders!“ Freiheit und Gleichheit als Lebenskonzept | 72 4.1.3 „Wir im Dorf halten zusammen.“ Marxloherinnen aus Passion | 76 4.1.4 „Es gibt ja auch so viele lustige Geschichten.“ Bezug zu anderen Gruppen im Stadtteil | 82 4.1.5 Fazit | 86 4.2 Die „Gastarbeiterinnen“ | 87 4.2.1 Fallbeispiel Habibe | 87 4.2.2 „Oh, Deutschland war sehr schön!“ Das Leben in der Fremde | 90 4.2.3 „Es hat sich vieles hier verändert.“ Wahrnehmung von Wertewandel und Veränderungen im Stadtteil | 101 4.2.4 „Wenn Ayşe fährt, heult sie. Wenn sie wiederkommt, heult sie.“ Vom Leben im „Dazwischen“ | 105 4.2.5 Fazit | 112

4.3 Die „Bildungsaufsteigerinnen“ | 113 4.3.1 Fallbeispiel Nayla | 113 4.3.2 „Komm, nimm ein Buch und lies!“ Bildungserwerb mit Aufstiegsorientierung | 117 4.3.3 „Etwas Soziales oder etwas Kreatives.“ Ausbildungs- und Berufswahl | 123 4.3.4 Exkurs: Berufstätig in Marxloh – Die Geschäftsfrauen | 129 4.3.5 „Der Richtige wird schon noch kommen.“ Vorstellungen von Heirat und Partnerschaft | 133 4.3.6 „Man muss einfach irgendwo gebunden sein.“ Einstellungen zum Islam | 138 4.3.7 „Ich höre eigentlich nur das Negative über Ausländer hier.“ Bezug zu anderen Gruppierungen und zum Stadtteil | 141 4.3.8 Fazit | 146 4.4 Die „Heiratsmigrantinnen“ | 149 4.4.1 Fallbeispiel Fatma | 149 4.4.2 „Mein Leben geht weiter, aber ich denke immer an meine Kinder.“ Familienverhältnisse und Geschlechterrollenvorstellungen | 151 4.4.3 Exkurs: „Ich wollte den nicht heiraten.“ Zwangsverheiratung | 161 4.4.4 „Wie wichtig die Religion bei uns Muslimen ist, habe ich erst hier in Deutschland gelernt.“ Zur Bedeutung der Religion | 170 4.4.5 „Wir Türken kennen uns untereinander einfach besser.“ Einstellungen zum Stadtteil und zu anderen Gruppen | 172 4.4.6 Fazit | 177 4.5 Die „Alteingesessenen“ | 178 4.5.1 Fallbeispiel Karin | 178 4.5.2 „Aber für seine Kinder wollte man ja was Besseres.“ Vom Aufwachsen und Leben im Marxloh der 1960er Jahre | 181 4.5.3 „Was die mit uns machen!“ Bezug zum Stadtteil und zu anderen Gruppen | 185 4.5.4 Fazit | 196

4.6 Die „Zurückgezogenen“ | 197 4.6.1 Fallbeispiel Gisela | 197 4.6.2 „Dann war ich erst mal wieder alleine.“ Familienverhältnisse als „Patchwork“ | 200 4.6.3 Exkurs: „Die überleben nur knapp.“ Leben in relativer Armut | 211 4.6.4 „Wobei das nicht die Kirche an sich ist, es ist eher das Drumherum“. Zur Bedeutung kirchlicher und sozialer Einrichtungen | 222 4.6.5 „Einen Schritt voraus.“ Bezug zum Stadtteil und zu anderen Gruppen | 226 4.6.6 Fazit | 229 4.7 Romafrauen aus Rumänien | 230 4.7.1 Fallbeispiel Antonia | 230 4.7.2 „Bitte helfen!“ Familie und Gesundheit | 232 4.7.3 „Meine Kinder sollen Bildung kriegen.“ Bildung und Berufstätigkeit | 242 4.7.4 „Wir sind Ţigani!“ Bezug zum Stadtteil und zu anderen Gruppen | 249 4.7.5 Fazit | 256 4.8 Frauen aus Bulgarien | 258 4.8.1 Fallbeispiel Yıldız | 258 4.8.2 „Immer die Kinder, mein Ehemann, Kinder.“ Familien- und Geschlechterrollenverhältnisse | 259 4.8.3 „Mein größter Wunsch ist, dass mein Mann eine Arbeitserlaubnis erhält.“ Arbeits- und Bildungssituation | 265 4.8.4 „Wahre Liebe, Anerkennung und Toleranz.“ Auf dem Weg zum Christentum | 273 4.8.5 „Ausgegrenzt wird man häufig von Türken.“ Bezug zu anderen Gruppierungen im Stadtteil | 276 4.8.6 Fazit | 280 5.

„Mehrfach benachteiligt“? Einige Aspekte der Ungleichheit im Alltagsleben von Frauen in Marxloh | 283

5.1 Zur Bedeutung der geographischen Lokalität | 287 5.1.1 Ortsbilder | 290 5.1.2 Bewegungsverhalten | 299 5.1.3 Fazit | 309

5.2 Zur Bedeutung von Ethnizität | 310 5.2.1 Etablierte | 322 5.2.2 Außenseiter | 331 5.2.3 Fazit | 343 5.3 Zur Bedeutung des sozialen Milieus | 346 5.3.1 „Kultur der Armut“ | 352 5.3.2 Exklusion | 368 5.3.3 Fazit | 378 5.4 Zur Bedeutung der Religion | 379 5.4.1 Die Angst vor dem Islam | 381 5.4.2 Marxlohs „neue Christen“ | 394 5.4.3 Fazit | 403 6.

Schluss | 407

7. Literatur- und Quellenverzeichnis | 415 7.1 Monographien und Aufsätze (Printfassungen) | 415 7.2 Internetquellen | 433 7.2.1 Dokumente, Berichte und Aufsätze | 433 7.2.2 Zeitungsartikel | 439 7.2.3 Fernsehdokumentationen, Filme und Radiobeiträge | 441 7.2.4 Webseiten | 442

1. Einführung „Sie schreiben an einer Studie über Marxloh?“, fragt die mir beim Frauenfrühstück gegenüber Sitzende, „gibt es denn keine schöneren Themen?!“1

Wer den Duisburger Stadtteil Marxloh ausschließlich aus der öffentlichen Berichterstattung kennt, wird dieser Aussage vermutlich beipflichten: Sogenannte „ethnisch verdichtete Siedlungsgebiete“ gerieten in letzter Zeit bundesweit immer wieder in den Verdacht, Probleme zu erzeugen und „Parallelgesellschaften“2 auszubilden. In diesem Kontext wird der Duisburger Stadtteil Marxloh häufig als „Paradebeispiel“ genannt3, denn mit einem Anteil von gut 27 Prozent4 Empfängern von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II – kurz SGBII-Leistungen5 –

1 2

Forschungstagebuch vom 10.09.2012. Der Begriff der „Parallelgesellschaft“ wurde von Wilhelm Heitmeyer in den 1990er Jahren geprägt, und der Politikwissenschaftler Thomas Meier hat ihn wenige Jahre später mit Inhalt zu füllen versucht. Vgl. Meier, Thomas (2006): Parallelgesellschaft und Demokratie. FES-Online-Akademie 2006 unter: http://library.fes.de/pdf-files/ akademie/online/50368.pdf (letzter Abruf: 13.12.2014).

3

So sagt eine türkeistämmige Kundin im Marxloher Friseursalon Aslan: „Wir sind zwar hier geboren, aber wir sind trotzdem fremd. Also wir gehören nicht hierher.“ N.N. (2007): „Multikulti in Duisburg. Friseursalon für türkische Bräute.“ Fernsehdokumentation, Vox, 2007. Online unter: http://www.spiegel.de/video/video-20753.html (letzter Abruf: 15.12.2014).

4

Stadt Duisburg (2013a): Interne Statistik der Stadt Duisburg. Stabsstelle für Wahlen, Europaangelegenheiten und Informationslogistik 2013. Duisburg.

5

Das SGBII (Sozialgesetzbuch II) regelt die sogenannte „Grundsicherung“ von Arbeitslosen zwischen 15 und 65 Jahren, die seit den Hartz IV-Reformen im Jahr 2005

10 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH

sowie knapp 35 Prozent6 Zuwanderern7, insbesondere solchen aus der Türkei8, gilt Marxloh schon seit geraumer Zeit, vor allem in der überregionalen Presse, als „sozialer Brennpunkt“ mit hoher Kriminalitätsrate, ja sogar als Stadtteil, in den sich „Polizisten nicht mehr alleine hinein trauen“.9 Derartig allgemein formulierte Assoziationen rühren unter anderem daher, dass über die Lebenssituationen der hier ansässigen Bevölkerung jenseits von Statistiken nur wenig bekannt ist. Das liegt zum einen daran, dass in der gesamten Bundesrepublik sowohl die Zuwanderer selbst als auch die autochthone Mehrheitsbevölkerung lange Zeit davon ausgingen, die Zuwanderer würden wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren.10 Zum anderen lässt sich dies aber auch mit der Vernachlässigung der Innensicht der in den jeweiligen Stadtteilen lebenden Bevölkerung begründen. So wird in den bislang vorrangig quantitativ arbeitenden meist stadtsoziologischen Studien11 nahezu ausschließlich eine Au-

die frühere Sozialhilfe ersetzt. Der Regelbedarf beträgt 391 Euro für Erwachsene. Unterkunft und Heizung sowie anfallende Mehrbedarfe fallen nicht darunter. 6

Nach der Einwohnerstatistik der Stadt Duisburg waren Ende des Jahres 2008 insgesamt 6077 oder 34,74 % der Einwohner Marxlohs nicht im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft.

7

Gemeint sind sowohl Personen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen als auch Eingebürgerte, sogenannte „Personen mit Migrationshintergrund“. Mehr dazu folgt im anschließenden Abschnitt.

8

Zuwanderer aus der Türkei stellen in Marxloh 56,6 % aller Personen ohne deutsche

9

Stoldt, Till-R. (2010): Polizei warnt vor Chaos in Migrantenvierteln. In: Die Welt

Staatsbürgerschaft. online vom 10.04.2010. Online unter: http://www.welt.de/politik/deutschland/ article7122561/Polizei-warnt-vor-Chaos-in-Migrantenvierteln.html

(letzter

Abruf:

14.11.2010). 10 Diese Annahme lief parallel zu der in politischen Kreisen propagierten Aussage, Deutschland sei ein „Nichteinwanderungsland“. Vgl. dazu Bade, Klaus J.; Oltmer, Jochen (2004): Normalfall Migration. Deutschland im 20. und frühen 21. Jahrhundert. Bonn. S. 83; Meier-Braun, Karl-Heinz (2003): Deutschland, Einwanderungsland. Frankfurt am Main. 11 Diese Außensicht auf Stadtteile ist bezeichnend für das siedlungssoziologische Vorgehen, bei dem die Frage nach „Konzentration oder Diffusion“ im Zentrum steht. Vgl. Häußermann, Hartmut (1998): Zuwanderung und die Zukunft der Stadt. Neue ethnischkulturelle Konflikte durch die Entstehung einer neuen sozialen „underclass“? In: Heitmeyer, Wilhelm u.a. (Hrsg.) (1998): Die Krise der Städte. Frankfurt am Main. S. 145-175. Dahinter verbirgt sich die Frage nach den positiven und negativen Folgen

E INFÜHRUNG

| 11

ßensicht eingenommen.12 Städte oder Stadtviertel werden in wirtschaftlich mehr oder weniger gut gestellte Einheiten kategorisiert und schließlich diejenigen Stadtbereiche eruiert, von denen man ausgeht, dass sie besonders von Armut betroffen oder sozial benachteiligt werden.13 Hier handelt es sich meist um Stadtteile mit hohen Sozialhilfeempfänger- und Zuwandereranteilen wie Marxloh, was zu einer gedanklichen Verknüpfung von Armut und Migration beiträgt und die einseitige Negativwahrnehmung, dass Zuwanderung primär zu Problemen führe, zementiert.14 Eine stadtethnographische Studie15, die einen ethnisch verdichteten Stadtteil zum Forschungsgegenstand erhebt, scheint hingegen auf Grund ihrer Herangehensweise, sich mit „Menschen und Gruppen als sozialen Akteuren, als Gestal-

ethnischer Segregation. Die Betonung der positiven Auswirkungen geht zurück auf die Chicagoer School um Robert Park und besagt, dass Integration auch durch Binnenintegration erfolge. Somit könnten sogenannte „natural areas“ – stark segregierte Quartiere, in denen Werte aus dem Herkunftsland gepflegt werden – Neuankömmlingen Halt bieten und ökonomische, politische sowie soziale Vorteile mit sich bringen. Das Gegenargument lautet hingegen, Binnenintegration führe zu neuen Abhängigkeiten, verstärke die Segregation, führe in die ökonomische Mobilitätsfalle und erzeuge ethnische Schichtungen. Vgl. Esser, Hartmut (2006): Integration und ethnische Schichtung. FES-Online-Akademie 2006 unter: http://library.fes.de/pdf-files/ akademie/online/50366.pdf (letzter Abruf: 06.09.2010). 12 Einzig der Soziologe Rauf Ceylan hat diese Binnensicht dargelegt, geht jedoch nicht explizit auf die weiblichen Bewohner im Stadtteil ein. Vgl. Ceylan, Rauf (2006): Ethnische Kolonien. Entstehung, Funktion und Wandel am Beispiel türkischer Moscheen und Cafés. Wiesbaden. 13 Vgl. u.a. Häußermann, Hartmut; Kapphan, Andreas (2004): Berlin. Ausgrenzungsprozesse in einer europäischen Stadt. In: Häußermann, Hartmut u.a. (Hrsg.) (2004): An den Rändern der Städte. Armut und Ausgrenzung. Frankfurt am Main. S. 203-234. 14 Die Geographin Felicitas Hillmann konstatiert, dass die deutsche Diskussion um Zuwanderung durch eine „extreme Betonung der Zuwanderung in die Städte“ gekennzeichnet sei. Ethnisierungsprozesse in Teilarbeitsmärkte würden schnell als ein Problem, „als der Beginn einer entstehenden urban underclass unter dem Vorzeichen sozialer Exklusion thematisiert“. Hillmann, Felicitas (2001): Ethnische Ökonomien. Eine Chance für die Städte und ihre Migrantinnen? In: Gestring, Norbert (Hrsg.) (2001): Jahrbuch StadtRegion 2001. Schwerpunkt Einwanderungsstadt. Opladen. S. 35-55. 15 Das Forschungsprojekt wurde von 2011 bis 2015 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unter dem Titel „Duisburg-Marxloh. Auswirkungen kultureller Heterogenität im Stadtteil auf das Alltagsleben von Frauen und Mädchen“ finanziert.

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tern urbaner Lebenswelten und Lebensformen“16 zu beschäftigen, gut geeignet, um über die bereits existierenden statistischen Daten hinaus, das soziale und kulturelle Miteinander der dort lebenden Bevölkerung „von innen heraus“ zu untersuchen. Denn es ist doch gerade die Stadtethnologie, die den Blick nach Innen herstellt und die internen Beziehungsstrukturen und Alltagroutinen der Stadtteilbewohner in den Blick rückt. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass Selbstdeutungen der Bewohner ersichtlich werden und sich Fragestellungen, die aus der Außensicht nicht angedacht wurden, explorativ eröffnen können.17 Doch nicht nur über die Bevölkerung sogenannter „Problemviertel“ allgemein liegen nur wenige Studien, die sich deren Innensicht zuwenden, vor. Vor allem in Bezug auf die weiblichen Stadtteilbewohner müssen wir noch einmal mehr feststellen, dass die Forschungslücken hier noch beträchtlicher sind. So ist das Thema „Frauen im Stadtraum“ in den letzten Jahren zwar interdisziplinär von Wissenschaftlern aus der Geographie, Kulturanthropologie und im Besonderen von Fachvertretern der Architektur untersucht worden – meist jedoch ausschließlich unter dem Aspekt von Mobilitätseinschränkungen und unter Vernachlässigung sowohl der ethnischen als auch der sozialen Dimension.18 Weibliche Personen verschiedener ethnischer Zugehörigkeiten im Stadtraum und erst recht in „Problemviertel“ wie Marxloh waren bislang von eher geringem Interes-

16 Kaschuba Wolfgang (ohne Jahr): Perspektiven ethnologischer Stadtforschung. Darmstadt. Online unter: http://www.gsu.tu-darmstadt.de/pdf/POS_Kaschuba.pdf (letzter Abruf: 14.11.2010). 17 Vgl. Mayring, Phillipp (2002): Einführung in die Qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken. Weinheim; Basel. S. 19 ff.; Lamnek, Siegfried (2005): Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch. Weinheim; Basel. S. 138-186. 18 Vgl. beispielsweise Dörhöfer, Kerstin (2002): Symbolische Geschlechterzuordnungen in Architektur und Städtebau. In: Löw, Martina (Hrsg.) (2002): Differenzierungen des Städtischen. Opladen. S. 127-140; Terlinden, Ulla (2001): Räumliche Definitionsmacht und weibliche Überschreitungen. Öffentlichkeit, Privatheit und Geschlechterdifferenzierung im städtischen Raum. In: Löw, Martina (Hrsg.) (2002): Differenzierungen des Städtischen. Opladen. S. 141-156; Lipp, Carola (1991): Die innere Ordnung der Wohnung. Geschlechtsspezifische und soziale Muster der Raumnutzung und Raumaneignung. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde, 29 (1991/92). S. 205-223; Scambor, Christian; Scambor, Elli (2007): Intersektionale Analyse in der Praxis. Grundlagen und Vorgehensweise bei der Analyse quantitativer Daten aus der Intersectional Map. In: Scambor, Elli; Zimmer, Fränk (Hrsg.) (2007): Die intersektionelle Stadt. Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit. Bielefeld. S. 43-78.

E INFÜHRUNG

| 13

se, das meist nicht über die Erhebung statistischer Zahlen hinausging. Damit unterscheidet sich die Stadtforschung auch nicht von der Migrationsforschung, in der Frauen ebenso über einen langen Zeitraum nicht eigens berücksichtigt wurden. Und sogar „in all den vielen aktuellen Forschungen zu Globalisierungsprozessen und Inter- bzw. Transkulturalität wird die Geschlechterdimension – wieder einmal – kaum bedacht“19. Die Herausforderung für mich als Verfasserin dieser Studie bestand also darin, den Fokus einerseits zwar auf Frauen zu legen, aber zugleich sowohl „die Zuwanderer“ als auch „die Deutschen“ unter ihnen jeweils nicht als homogene Gruppe wahrzunehmen. Deren nationalen, ethnischen, religiösen sowie sozialen Unterschieden sollte eine entscheidende Bedeutung beigemessen werden. Diese Notwendigkeit der stärkeren Ausdifferenzierung lässt sich exemplarisch an zwei Berichten der Bundesregierung über Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund verdeutlichen: Während im Jahr 1987 noch festgestellt wurde, Zuwandererfrauen im Allgemeinen würden bevormundet und lebten in sozialer Isolation, ohne nach der ethnischen oder sozialen Zugehörigkeit der Befragten zu unterscheiden, wurde in dem Bericht „Viele Welten leben“ aus dem Jahre 2004 die Untersuchungsgruppe nach Nationalitäten ausdifferenziert und konstatiert, dass sich das Leben von Zuwanderinnen in Deutschland weitaus vielfältiger gestalte als es 1987 festgestellt worden war. Je nach nationalem Kontext seien Zuwanderinnen in unterschiedlicher Ausprägung bildungs- und familienorientiert und hätten darüber hinaus verschiedene Vorstellungen von einem partnerschaftlichen Leben. Entgegen dem, was die Bezeichnung „mit Migrationshintergrund“20 also suggeriert, handelt es sich bei den Personen nicht um eine homogene Gruppe. Die „Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund“ existieren ebenso wenig wie die „deutschen Frauen“. Hinter beiden Gruppen verbirgt sich eine Vielfalt persönlicher und familiärer Geschichten, denen in dieser Studie ausreichend Berücksichtigung zukommen sollte, da sie, wie wir sehen werden, ganz wesentlich den Lebensalltag der Frauen in seiner jeweiligen Spezifik bestimmen. Diese Studie handelt also von der Lebenssituation völlig unterschiedlicher Frauen im Stadtteil Marxloh. Es wird die Rede sein von Habibe, die in den

19 Schlehe, Judith (2001): Lebenswege und Sichtweisen im Übergang: Zur Einführung in die interkulturelle Geschlechterforschung. In: Dies. (Hrsg.) (2001): Interkulturelle Geschlechterforschung. Identitäten – Imaginationen – Repräsentationen. Frankfurt am Main. S. 9-26. Hier: S. 9. 20 Annähernd jeder fünfte Bewohner Deutschlands verfügt über einen Migrationshintergrund. 24,3 % der Einwohner im Bundesland Nordrhein-Westfalen hatten im Jahr 2009 einen Migrationshintergrund und somit fast jeder vierte.

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1960er Jahren ihrem Mann, der als „Gastarbeiter“ in der Duisburger Industrie beschäftigt war, aus der Türkei nach Marxloh folgte, sowie von Hatice, der „Heiratsmigrantin“, und von der „Bildungsaufsteigerin“ Nayla, deren Eltern als „Gastarbeiter“ aus der Türkei nach Deutschland immigrierten. Die Studie handelt aber auch von Frauen wie der „aktiven“ Claudia, deren Überzeugung es ist, dass alle in Marxloh „gleich“ sind, aber auch von enttäuschten Marxloherinnen, den „Alteingesessenen“ wie Karin, die sich durch die Veränderungen im Stadtteil in zunehmendem Maße entmachtet sehen. Außerdem werden wir „zurückgezogen“ lebende Frauen wie Gisela kennenlernen, die in ökonomischer und sozialer Hinsicht in Armut leben, aber dennoch darauf bedacht sind, dass man ihre Würde wahrt und sie als „jemand“ anerkannt werden. Zuletzt wird es um „Romafrauen aus Rumänien“ und „Frauen aus Bulgarien“ gehen, die in Marxloh zwar am stärksten von Armut betroffen sind, aber dennoch voller Optimismus in ihre Zukunft sehen, denn in Marxloh geht es ihnen zumindest ein wenig besser als in ihren Herkunftsländern. Alle diese Frauen leben im Stadtteil Marxloh und verfügen in nationaler, ethnischer, sozialer und religiöser Hinsicht sowohl über Gemeinsamkeiten als auch über Unterschiede. Ich hoffe, dass es mir gelingt, dem Leser einen Einblick in deren subjektive Lebenswelten zu vermitteln, denn diese sind weitaus interessanter und vor allem differenzierter als es die bereits existierenden statistischen Daten und Medienberichte über Marxloh bislang zu vermitteln wussten.

2. Feldzugang, Methodik und Darstellungsweise

Mein erster Kontakt mit dem Stadtteil Marxloh kam eher zufällig im Herbst 2008 zustande. Ich nahm, damals noch aus dem Südwesten Deutschlands, der Stadt Freiburg im Breisgau, kommend, an der kanadischen MigrationsKonferenz „Metropolis“ teil, die in dem Jahr in Bonn ausgerichtet wurde. Im Zusammenhang mit dieser Konferenz wurde allen Teilnehmern angeboten, eine Exkursion zur gerade Tags zuvor eröffneten DITIB-Merkez-Moschee nach Duisburg-Marxloh zu unternehmen – und da es sich hier um die größte Moschee Deutschlands handeln sollte, war mein Interesse geweckt. Zusammen mit vielen weiteren Tagungsbesuchern fuhr ich mit dem Bus zum ersten Mal nach Marxloh – und war dort mit allen anderen gemeinsam auf der Suche nach der Moschee. Ungläubig schüttelte die Exkursionsleiterin den Kopf: Die Moschee habe doch ein 34 Meter hohes Minarett, das könne man doch gar nicht verfehlen! Doch sie irrte sich, denn die Moschee in Marxloh entpuppte sich nicht als zentral gelegen. Wir fanden sie schließlich am hinteren Ende der Warbruckstraße in Richtung Autobahn, die Marxloh vom benachbarten Obermarxloh trennt und somit bereits nahe am Ortsausgang. Das Minarett sahen wir also erst, als wir die Moschee bereits entdeckt hatten und direkt vor ihr standen. Es folgte eine Führung durch den recht prunkvollen Bau. Im Anschluss ergab sich die Notwendigkeit, wegen der mangelnden Parkmöglichkeiten für den Bus, durch den Stadtteil zurück zum Treffpunkt zu laufen. Ein wenig skeptisch sah ich mich auf den Marxloher Straßen um: Das also sollte die „Parallelgesellschaft“ sein, von der ich gelesen und gehört hatte? Natürlich entging auch mir die Vielzahl türkischer Geschäfte nicht, aber auf den Straßen schien mir eher eine Pluralität verschiedener Personen zu herrschen – keinesfalls ausschließlich türkeistämmige Zuwanderer. Meine Neugier war geweckt und ich entschied, Nachforschungen anzustellen – und wurde enttäuscht: Sowohl die geringe qualitative Datenlage als auch die Statistiken über Marxloh schienen alle eine Art „Drohszenario“ zu entwer-

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fen, das meinem ersten Eindruck des Stadtteils so zumindest zunächst1 nicht entsprach. So entschloss ich mich, dem Marxloher Alltagsleben und seinen Bewohnern selbst näher auf die Spur zu kommen. Besonders wichtig erschien es mir dabei, mein methodisches „Pfund“ als Ethnologin – die Feldforschung mit ihrem methodischen Instrumentarium der teilnehmenden Beobachtung sowie offen gehaltener Interviews – zur Anwendung zu bringen, um die für mich unbefriedigende Datenlage über Marxloh um die Innensicht seiner Stadtteilbewohner zu erweitern. Methodisch orientierte ich mich an der Stadtsoziologie aus den USA, die bekanntlich auf der sogenannten Sozialökologie der Chicagoer School ab den 1920er Jahren fußt und als Anfang einer Ethnologie, die sich dem Urbanen zuwendet, gilt. Wie mir in Bezug auf Marxloh ging es auch der Sozialökologie primär um die Erforschung des Phänomens der sozialen Segregation. Das Charakteristische für die ethnographische Vorgehensweise der Chicagoer School war es, erstmals kleinere Lebenswelten, Milieus und Szenen in ihrer urbanen Umgebung buchstäblich „in den Blick“ zu nehmen.2 Das Fundamentale an diesem methodischen Herangehen der Chicagoer School, nämlich das Studierzimmer zu verlassen und sich ins „wirkliche Leben“ zu begeben, sollte bahnbrechend für die methodische Vorgehensweise in den Kultur- und Sozialwissenschaften und auch leitend für mein methodisches Vorgehen in Marxloh werden. Der mitunter bekannteste Vertreter der Chicagoer School, Robert Park, soll zu seinen Studierenden gesagt haben, sie sollten sich „die Hände schmutzig“ machen und vollends in das soziale Geschehen der zu Erforschenden eintauchen, um deren Lebenswelt „mit allen Sinnen“ wahrzunehmen. Park als einem Verfechter der empirisch verfahrenden Soziologie ging es also darum, die verschiedenen Lebenswelten im urbanen Raum teilnehmend-beobachtend zu erforschen, den Blick zu fokussieren und auch dort hinzusehen, wo andere vielleicht lieber wegsehen. Entgegen anderer zeitgenössischer Studien gelang es der Chicagoer School somit, den untersuchten Randgruppen ohne „moralische Vorurteile oder Besserungsabsichten“3 zu begegnen. Diese Grundeinstellung sollte, so nahm ich mir vor, wegweisend für meine Marxloher Studie werden. Mittels einer Triangu-

1

Bei meinem zweiten Besuch in Marxloh war meine Wahrnehmung eine völlig andere. Vgl. Abschnitt 5.1.1.

2

Den Vertretern der Chicagoer School ging es dabei thematisch in erster Linie um „Abweichler“, wie sie sie in Prostituierten- und Strichermilieus vorfanden.

3

Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter; Wurtzbacher, Jens (2004): Stadtsoziologie. Eine Einführung. Frankfurt am Main. S. 48.

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lation qualitativer Forschungsmethoden, wie teilnehmende Beobachtung4 und offen gehaltener Befragungen habe ich, ähnlich wie von Park formuliert, „mit allen Sinnen“ untersucht, wie sich das Mit- und Nebeneinander von Frauen im Duisburger Stadtteil Marxloh gestaltet. Den ersten Zugang zum Feld bildeten verschiedene Expertenbefragungen sowie erste zaghafte Kontakte zu Marxloher „Aktiven“. Später wurde ich auch mit einigen „Bildungsaufsteigerinnen“ bekannt, und nach und nach folgten weitere Kontakte zu „Heiratsmigrantinnen“ und „Alteingesessenen“. Parallel nahm ich immer wieder an verschiedenen privaten Treffen und offiziellen Veranstaltungen teil, ging auf dem Markt einkaufen, besuchte Geschäfte, Gaststätten und religiöse Einrichtungen. Ich nahm an Hochzeiten, Trauerfeiern sowie Gottesdiensten teil und gesellte mich zu Kindergartentreffen, Frauengruppen und Frauenfrühstücken hinzu. War der Zugang zu den Experten sowie zu der Gruppe der „Aktiven“ noch vergleichsweise einfach zu bewerkstelligen, da man mir hier offen und kommunikationsfreudig begegnete, ergaben sich vor allem bei drei Marxloher Gruppierungen Zugangsschwierigkeiten: Das betraf zum einen die Gruppen der Neuzuwanderer aus Bulgarien und Rumänien, die für mich allein aus sprachlichen Gründen zunächst unerreichbar schienen. Wie es der Zufall wollte, traf ich dann jedoch eines Tages auf Ali. Ali sprach mehrere Sprachen fließend und konnte mir verschiedene Kontakte vermitteln sowie dolmetschen, bis ich irgendwann mit bruchstückhaften Wortfetzen und vor allem unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen Methoden entwickelt hatte, mit den Frauen irgendwie selbst zu kommunizieren. So entstand etwas, das man heute vielleicht als „Win-WinSituation“ bezeichnen würde: Ich half den Frauen bei Behördengängen und bürokratischen Angelegenheiten, und sie luden mich im Gegenzug zu sich nach

4

Die teilnehmende Beobachtung war das methodische Herzstück der Untersuchung, von der wir wissen, dass sie sich zwar auf der einen Seite ideal zur Erfassung und Deutung sozialen Handelns eignet, auf der anderen Seite aber auch selbst soziales Handeln ist. Aus diesem „Doppelcharakter“ ergeben sich die besonderen Probleme und Grenzen, aber auch die Vorzüge und die typischen Anwendungsfelder der Beobachtung. Gehen wir davon aus, dass soziale Akteure Objekten Bedeutungen zuschreiben und sich somit nicht starr nach Normen und Regeln verhalten, sondern soziale Situationen interpretieren und so prozesshaft soziale Wirklichkeit konstituieren, so handelt es sich bei der teilnehmenden Beobachtung, die auch nicht-verbalisiertes soziales Handeln zu fassen vermag, mit Sicherheit, wie einst von Roland Girtler formuliert, um die „Königin unter den Methoden der Feldforschung“. Girtler, Roland (2002). Methoden der Feldforschung. 4. Auflage. Wien; Köln; Weimar. S. 147.

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Hause ein. Bei diesen Begegnungen erhielten sie meine Hilfe und ich von ihnen wichtige Informationen für meine Studie. Zugangsschwierigkeiten ergaben sich aber auch bei einer weiteren, „deutschen“ Gruppe im Stadtteil, nämlich den „Zurückgezogenen“. Es handelt sich hier um Personen, die gemessen an ihrem Einkommen als „arm“ gelten und die für mich ausgesprochen schwer zu erreichen waren. Zudem benötigte ich bei dieser Gruppe mehr Zeit und Geduld als ich erwartet hatte, bis ich glaubte, ihre Perspektive verstehen und zu Papier bringen zu können. Denn die Welt mit den Augen der „zu Erforschenden“ zu sehen und diese Weltsicht schließlich „dicht“5 beschreiben zu können, sollte ja das wesentliche Ziel meiner Arbeit sein. Bei dieser Gruppe holte mich aber genau das ein, was der US-amerikanische Kulturanthropologe Oscar Lewis in seinem Buch „Die Kinder von Sanchez“ in den Worten Charles P. Snows anführt: „Leider haben die Menschen in den reichen Ländern […] so sehr vergessen, was es eigentlich bedeutet, arm zu sein, dass wir kaum mehr fähig sind, mit den weniger Glücklichen zu fühlen, mit ihnen zu sprechen. Das müssen wir wieder lernen.“6

Auch ich musste dies erst lernen und mich vor allem an spezifische Umgangsformen mit dieser Gruppe gewöhnen, von der ich erfuhr, dass sie höchstsensibel reagiert, wenn man ihr das Gefühl vermittelt, „arm“ zu sein.7 Natürlich wäre es naiv, anzunehmen, wir als Wissenschaftler könnten uns spurlos im Feld bewegen und es beobachten, ohne Einfluss auf das, was wir erforschen, zu nehmen. Wir verändern das Feld mit unserem Aufenthalt, und das Feld verändert uns. Meine drei Feldforschungsaufenthalte in Marxloh – der erste vom 01.07.2010 bis 30.09.2010, der zweite vom 01.08.2012 bis 30.01.2013 und schließlich der dritte vom 01.05.2014 bis 31.07.20148 – waren daher auch durch Fremdwahrnehmungen meiner Person durch die Marxloher geprägt. Diese

5

Vgl. Geertz, Clifford (2003): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kulturel-

6

Charles P. Snow, zitiert nach Lewis, Oscar (1991): Die Kinder von Sanchez. Selbst-

ler Systeme. Frankfurt am Main. 1. Aufl. 1983. porträt einer mexikanischen Familie. Düsseldorf; Wien. S. 23. Die Studie wurde erstmals 1961 unter gleichnamigem Titel veröffentlicht. Das Original liegt auf Englisch mit dem Titel „The Children of Sanchez“ vor. 7

Mehr dazu folgt unter Abschnitt 4.6.

8

Zu letzten Ergänzungen meiner Studie verbrachte ich noch ein drittes Mal zu Beobachtungszwecken drei Monate in Marxloh, ohne jedoch Interviewdaten zu sammeln.

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Wahrnehmungen entzogen sich zwar weitestgehend meiner aktiven Steuerung, erforderten aber dennoch stets meine Auseinandersetzung mit ihnen. Die erste Reaktion auf mich, mit der ich konfrontiert wurde, hat mit den inzwischen weit verbreiteten negativen Außendarstellungen Marxlohs zu tun. Denn auf Grund seines hohen Zuwandereranteils und nicht zuletzt wegen der im Jahr 2008 eröffneten DITIB-Merkez-Moschee ist Marxloh zum viel besuchten und untersuchten Stadtteil geworden. Relativ häufig sieht man auf der KaiserWilhelm Straße, der Haupteinkaufsstraße Marxlohs, Fernsehteams stehen, und auch Sozialwissenschaftler und Geographen haben Marxloh als ein für sie interessantes Forschungsfeld entdeckt. Doch nicht immer ist man in Marxloh von dieser Berichterstattung angetan. Marxloh fungiert nicht selten als „Paradebeispiel“ missglückter Integration, was die dort lebende Bevölkerung oft mit Unmut zur Kenntnis nimmt, da sie in vielen Fällen diese Sicht nicht teilt. Entsprechend war es nicht verwunderlich, dass man auch mir häufig mit großer Skepsis begegnete. Dies äußerte sich während meines ersten Aufenthalts darin, dass ich optisch wohl einer Journalistin ähnelte, die Wochen zuvor den Stadtteil gefilmt und offenbar keinen guten Eindruck hinterlassen hatte. Nun glaubte man, ich sei diese Journalistin und verweigerte mir daher das Interview. Einige der Stadtteilbewohner waren trotz mehrfacher Anfragen bis zum Ende meiner Forschungsaufenthalte nicht bereit, mit mir ins Gespräch zu kommen. Dieses Verhalten erscheint umso verständlicher, wenn man bedenkt, dass in Marxloh ein recht engmaschiges Kommunikationsnetz existiert und neue Nachrichten rasch „die Runde“ machen. „Marxloh ist ein Dorf“9, wurde mir oft erklärt und immer mit der Bitte verbunden, entweder über das Berichtete gar nicht zu schreiben oder die Aussage zumindest bis zur Unkenntlichkeit zu anonymisieren. Wie zügig sich Nachrichten verbreiten, wurde mir spätestens in dem Moment bewusst, als mich bereits nach kurzer Aufenthaltsdauer immer wieder Leute auf der Straße freundlich grüßten, von denen ich mir jedoch sicher war, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. Nachdem sich jedoch herumgesprochen hatte, dass es sich bei meiner Person um keine Journalistin handelte, war vielen dann rasch meine Rolle im Stadtteil als „Studentin“ klar, obgleich ich mich auch hier immer wieder bemüht zeigte, darauf hinzuweisen, dass ich keine Studentin sei und die Forschungsergebnisse nicht im Rahmen einer Seminararbeit niedergeschrieben würden, sondern eine wissenschaftliche Studie entstehen werde. Im Laufe meines zweiten Aufenthaltes, während dem ich zuweilen einige Neuzuwanderer aus Bulgarien und Rumänien zu Ämtern und Behörden begleitete, wurde ich von ihnen schließlich als „Sozialarbeiterin“ eingestuft. Dass ich Wissenschaftlerin und keine So-

9

Vgl. Abschnitt 4.1.

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zialarbeiterin war, konnte ich, unter anderem auch aus sprachlichen Gründen, oft bis zuletzt nicht ausräumen – so viel zur gut gemeinten Theorie um die viel diskutierte forschungsethische Frage der „informierten Einwilligung“10 der zu Erforschenden! Doch nicht nur in dieser Hinsicht stellte sich mir die Frage der Wahl angemessener Kommunikationsformen. Auch in Bezug auf die erhobenen Daten stand ich vor der Herausforderung, all das, was sprachlich nicht geäußert werden konnte, dennoch irgendwie fassbar zu machen und adäquat zu Papier zu bringen. Nun bedienen wir uns als Wissenschaftler ja bekanntlich einer Vielzahl verschiedener Interviewformen11, die alle auf ihr jeweiliges Ziel hinsteuern und versuchen, alles so genau wie möglich erfassbar zu machen. Probleme bekommen wir aber trotz dieser Auswahl an Möglichkeiten dann, wenn sich die Teilnehmenden aus welchen Gründen auch immer nicht verbal äußern wollen oder können12 und somit keine der Interviewmethoden angewendet werden kann. Die Methode der Interviews verlässt uns also in dem Moment, wenn es darum geht, auch Nichtsprachliches zu erfassen und darzustellen, denn Interviewaufzeichnungen sind ja bekanntlich „blind“. Nun mag sich der Leser vielleicht wundern, wie es in einem bundesdeutschen Stadtteil wie Marxloh zu etwas „Stimmlosen, Stummen, Unaussprechlichen“13 kommen kann. Doch auch in Marxloh leben Menschen, für die „Sprache“ oder das „Sichausdrücken“ aus verschiedenen Gründen ein Hindernis darstellt: Zunächst sind die Gruppen der Neuzuwanderer aus Rumänien und Bulgarien zu nennen, von denen bereits die Rede war. Auf Grund mangelnder Kenntnisse der deutschen Sprache war vor allem mit den „Romafrauen aus Rumänien“ kein Interview auf Deutsch zu führen. Bei den „Frauen aus Bulgarien“ konnte immerhin auf die türkische Sprache ausgewichen werden. Dies war auch bei der

10 Deutsche Gesellschaft für Soziologie (2014): Ethik Kodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und des Berufsverbands Deutscher Soziologen. §2. Online unter: http://www.soziologie.de/de/die-dgs/ethik-kommission/ethik-kodex.html (letzter Abruf: 27.11.2014). 11 Eine Übersicht über verschiedene Interviewformen findet sich beispielsweise bei Atteslander, Peter (2003): Methoden der empirischen Sozialforschung. 10. Aufl. Berlin; New York. S. 120-164 sowie in Flick, Uwe (2005): Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. 4. Auflage. Hamburg. S. 117-197. 12 Hirschauer, Stefan (2001): Ethnographisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen. Zu einer Methodologie der Beschreibung. In: Zeitschrift für Soziologie, 30 (2001). S. 429-451. Hier: S. 437. 13 Ebd., S. 429.

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Gruppe der türkeistämmigen „Heiratsmigrantinnen“ und einigen der türkischen „Gastarbeiterinnen“ möglich, die ebenfalls oft nicht über ausreichende deutsche Sprachkenntnisse verfügten, aber auf Türkisch durchaus in der Lage waren, sich zu artikulieren.14 Aber nicht nur bei den zugewanderten Gruppen ergab sich das Problem der „elementar unverständlich[en]“15 Kommunikation. Dieses Problem zeigte sich auch bei der Gruppe der deutschsprachigen „Zurückgezogenen“, die oft nicht in der Lage waren, mir ein Interview zu geben – und wenn doch, so oft mit großen Schwierigkeiten, sich verbal auszudrücken.16 Ein weiteres Problem des Sichausdrückens, das mir schließlich bei der Gruppe der „Alteingesessenen“ begegnete, bestand in dem, was der Soziologe Stefan Hirschauer als „Machtbeziehungen des Feldes, die ihre [die der Befragten, Anm. d. Verf.] Artikulation einschränken“17 bezeichnet. Hirschauer meint damit, dass die Befragten fürchten, „etwas Falsches“18 zu sagen und sich somit aus Angst vor Konsequenzen lieber gar nicht äußern. In Marxloh hat diese Sprachhemmnis zum einen mit dem Negativimage des Stadtteils zu tun, das man nicht zusätzlich noch nähren möchte, indem man sich kritisch zum eigenen Stadtteil äußert. Zum anderen hängt es aber auch damit zusammen, dass man besonders in der Gruppe der „Alteingesessenen“ gerne „politisch korrekt“ sein möchte und daher der Ansicht ist, sich vor allem über das Thema „Zuwanderung nach Marxloh“ nicht negativ äußern zu können, ohne als „ausländerfeindlich“ eingestuft zu werden.19 Um all diesen Formen der Nichtsprachlichkeit der genannten Gruppen gerecht werden und deren „Voicing“ dennoch ermöglichen zu können, habe ich neben Interviewzitaten auf (im Text kursiv gedruckte) Auszüge aus meinem Forschungstagebuch zurückgegriffen. Nun ist diese Darstellungsweise seit den 1980er Jahren und der „Writing Culture-Debatte“20 zwar bekanntlich stark in Verruf geraten, was jedoch an der Situation nichts ändert, dass wir nach wie vor als Wissenschaftler vor der Frage stehen, wie wir die beschriebenen „Probleme

14 Mein herzlichster Dank gilt Hülya Ceylan, die die Interviews für mich auf Türkisch geführt hat. 15 Hirschauer: 2001, S. 437. 16 Vgl. Abschnitt 4.6. 17 Hirschauer: 2001, S. 437. 18 Ebd. 19 Vgl. Abschnitt 4.5. 20 Vgl. dazu insbesondere Clifford, James; Marcus, George (Hrsg.) (1986): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley; Los Angeles; London. Besonders interessant darin ist das einleitende Kapitel von James Clifford über „Partial Truths“.

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des Stimmlosen, Stummen, Unaussprechlichen“21 lösen können. Das Hinzuziehen der Einträge aus dem Forschungstagebuch, von denen ich mir bewusst bin, dass sie durchaus subjektiver und interpretativer sind als Interviewaufzeichnungen22, erschien mir nichtsdestotrotz als einzige Möglichkeit, um zu bewerkstelligen, dass auch „etwas zur Sprache gebracht wird, das vorher nicht Sprache war“.23 Insgesamt wurden 43 Marxloherinnen unterschiedlicher ethnischer und religiöser Ausrichtungen im Alter von 18 bis 80 Jahren in Interviews befragt. Etliche weitere Gespräche kamen im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung hinzu, deren Aussagen aber nicht wörtlich aufgezeichnet, sondern im Nachhinein protokolliert wurden. Hinzu kamen 17 Expertengespräche sowie acht Interviews mit männlichen Marxlohern. Nun stehen wir als Wissenschaftler natürlich immer wieder vor der Herausforderung einer angemessenen Wahl von Methode und Analyse. Arbeiten wir etwa mit einem hohen Datenkorpus, wird das Entstehen „abstrakte[r] Generalisierungen“24 moniert. Widmen wir uns der Analyse von Einzelfällen, wird der Vorwurf laut, wir würden die Gütekriterien der Validität und Reliabilität nicht einhalten, gingen zutiefst interpretativ vor und lieferten somit keine zuverlässigen, da nicht repräsentativen Daten.25 Auch ich stand in Bezug auf Marxloh natürlich vor der Frage, welche Analyseform wohl die angemessenste ist. War zunächst, während des ersten Forschungsaufenthalts, noch schlichtweg alles rele-

21 Hirschauer: 2001, S. 429. 22 So gelten etwa die aus Befragungen entstandenen Aufzeichnungen insbesondere in der Soziologie gemeinhin als „Rohdaten“ eines Forschungsprozesses und somit als authentisch. Dennoch ist wohl unbestritten, dass auch diese Daten keineswegs völlig deutungsfrei sind. Etwas zwar „gesagt“ aber „so nicht gemeint“ zu haben, ist uns allen bekannt, und es liegt bei der Daten auswertenden Person, das „Gemeinte“ sinngemäß zu interpretieren. Vgl. dazu: Bergmann, Jörg R. (1985): Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit. Aufzeichnungen als Daten der interpretativen Soziologie. In: Bonß, Wolfgang; Hartmann, Heinz (Hrsg.) (1985): Entzauberte Wissenschaft: Zur Relativität und Geltung soziologischer Forschung (= Zeitschrift Soziale Welt, 3). Göttingen. S. 299-320. Hier: S. 305. 23 Hirschauer: 2001, S. 429. 24 Abels, Heinz (1975). Lebensweltanalyse von Fernstudenten. Qualitative Inhaltsanalyse – theoretische und methodische Überlegungen. Hagen. S. 330. Zitiert nach Lamnek, Siegfried (1993): Qualitative Sozialforschung. Band 2. Weinheim. S. 16. 25 Vgl. Lamnek: 1993, S. 15.

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vant für mich26, wurde aufgeschrieben, mit Datum versehen und abgeheftet, änderte sich dies, als sich nach und nach erste Überlappungen und Unterschiede aus dem Material heraus kristallisierten.27 Diese aus dem Material gewonnenen Parallelen und Divergenzen ließen meinen Entschluss schließlich, nach einigem gedanklichen Ringen, auf die Analyseform der empirisch begründete Typenbildung28 fallen, da diese den Vorteil besitzt, die für mein Forschungsvorhaben ja so wichtigen subjektiven Einblicke vermitteln zu können, ohne dabei die Parallelen zwischen den Einzelfällen aus dem Auge zu verlieren. So schien es mir am ehesten möglich, aufzeigen zu können, dass es sich bei den Ausführungen nicht „lediglich“ um seltene Einzelfälle handelt, sondern sie sich sowohl stark ähneln als auch gleichzeitig von anderen unterscheiden können. Dennoch sind die von mir gebildeten Typen selbstverständlich weder in sich homogen noch sind sie in ihrer Anzahl erschöpfend. Es handelt sich vielmehr um einen Versuch, die Komplexität der Alltagswelten unter den Marxloher Frauen greifbar zu machen und so dem Ziel Rechnung zu tragen dass, wie der Soziologe Philipp Mayring schreibt, „eine Fülle explorativen Materials in Ordnung gebracht werden soll, aber auf detaillierte Fallbeschreibungen nicht verzichtet werden kann“29. Dennoch soll selbstverständlich nicht bezweifelt werden, dass jedes Individuum für sich steht. Allein in sozialer Hinsicht müsste bekanntlich nach Bourdieu eigentlich jedes Individuum in seiner eigenen Weise im „Sozialraum“30 verortet werden. Da es aber sein kann, dass Individuen wenn auch nicht die gleichen so doch immerhin sehr nahe liegende Positionen darin einnehmen und so auf Grund ihrer ähnlichen Kapitalausstattung auch einen ähnlichen Habitus erwerben können, hält es zumindest Bourdieu für möglich, jede Position im Sozialraum mit einem bestimmten Lebensstil in Verbindung bringen.31 Angesichts dessen schien es auch mir letztendlich legitim, diejenigen Marxloher Frauen, unter denen sich in

26 Okely, Judith (2011): Retrospective Reading of Fieldnotes. Living on Gypsy Camps. In: Behemoth 4, 1 (2011). S. 18-42. Hier: S. 23. 27 Okely, Judith (1994): Thinking through fieldwork. In: Bryman, Alan; Burgess, Robert G. (Hrsg.) (1994): Analyzing Qualitative Data. London. S. 18-34. Hier: S. 24. 28 Vgl. Kluge, Susann (1999): Empirisch begründete Typenbildung. Zur Konstruktion von Typen und Typologien in der qualitativen Sozialforschung. Opladen. S. 260ff. 29 Mayring: 2002. S. 132. 30 Bourdieu, Pierre (1993): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main. 1. Aufl. 1987. S. 195-221. 31 Bourdieu spricht daher von einem „Raum der Lebensstile“. Vgl. ebd., S. 212-219.

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sozialer, räumlicher, ethnischer und religiöser Sicht32 Parallelen auftaten, in jeweils einem Kapitel zusammen zu fassen. Dennoch: Die jeweils fünf bis neun Frauen, um die es in den einzelnen Kapiteln gehen wird33, stellen selbstverständlich kein erschöpfendes Abbild der Marxloherinnen dar. Spreche ich etwa davon, dass die Gruppe, die ich „Heiratsmigrantinnen“ nenne, gering gebildet ist, so bezieht sich dies ausschließlich auf diejenigen Heiratsmigrantinnen, zu denen ich Kontakt hatte – nicht auf alle Marxloher Heiratsmigrantinnen und schon gar nicht auf Heiratsmigrantinnen allgemein. Es handelt sich bei den jeweiligen Gruppierungen also lediglich um einen Ausschnitt aus der Marxloher sozialen Wirklichkeit, wie er sich mir dort zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Situation präsentierte und nicht um eine erschöpfende Darstellung der Marxloherinnen allgemein. Ist daher im weiteren Verlauf von „den Marxloherinnen“ die Rede, so bezieht sich dies nicht auf die Gesamtheit aller Marxloherinnen, sondern ausschließlich auf diejenigen Personen, zu denen ich während meiner drei Feldforschungsaufenthalte Kontakt hatte. Bevor wir uns nun unserem Setting Marxloh und seinen Bewohnerinnen näher zuwenden, zuletzt noch drei weitere, abschließende Anmerkungen zur Darstellungsweise: Sprechen wir, wie ich im Folgenden, von Menschen, die sich über nationale Grenzen hinweg bewegen, so stehen wir bekanntlich immer vor der Herausforderung ihrer adäquaten Benennung. Welche Bezeichnung angemessen erscheint, hängt aber stark vom gesellschaftlichen und politischen Kontext ab. War Mitte des 20. Jahrhunderts der Begriff des „Gastarbeiters“ zur Bezeichnung derjenigen Personen, die aus dem Mittelmeerraum nach Deutschland kamen, etabliert, änderte sich dies, als sich allmählich herausstellte, dass die „Gastarbeiter“ bleiben würden: Aus den „Gastarbeitern“ wurden „Ausländer“. Als dann die Erkenntnis ins Bewusstsein trat, dass es sich hier durch die Verwendung des Präfixes „Aus-“ um ein Signal des Ausschließens handeln könnte, wurden aus den „Ausländern“ „Migranten“ – und schließlich, mit Blick auf deren in Deutschland geborene Nachkommen, „Personen mit Migrationshintergrund“. „Immer wieder“, so folgert der Soziologe Wolf-Dietrich Bukow angesichts dieser inzwischen entstandenen Begriffsvielfalt, „wird ein neuer Sammelbegriff erfunden, der zwar eine recht genaue Auskunft darüber gibt, was man ge-

32 Mehr zu dem methodischen Vorgehen folgt unter Abschnitt 5. 33 Die jeweiligen Typenbezeichnungen wurden von mir getroffen, es handelt sich nicht um Selbstbezeichnungen der Frauen.

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rade politisch denkt, aber nichts darüber aussagt, ob dies gegenüber der Bevölkerungsgruppe, die man damit definiert, überhaupt irgend einen Sinn macht“34. Ich habe mich entschieden, mich an dieser Diskussion um die „richtige“ Bezeichnung hier nicht zu beteiligen und die Menschen, deren familiäre Wurzeln nicht in Deutschland liegen, als „Zuwanderer“ zu bezeichnen. Damit meine ich sowohl Menschen mit als auch ohne deutschen Pass sowie Personen, die in aber auch außerhalb Deutschland geboren wurden. Nehme ich auf eine spezifische Gruppe Bezug, mache ich das sprachlich mit dem Hinweis auf deren nationale oder ethnische Zugehörigkeit deutlich.35 Die dabei zunächst gewählten Gruppenbezeichnungen „die Deutschen“, „die Türken“, „die Bulgaren“ und „die Roma“ stammen jedoch nicht von mir, sondern sind Gruppenbezeichnungen, welche die Marxloher stets selbst verwenden, um einerseits über „uns“ und andererseits über „die anderen“ zu sprechen. Wir werden im Verlauf der Studie noch sehen, wer sich genau hinter diesen Gruppen verbirgt und sie in ethnischer, sozialer und religiöser Sicht ein wenig ausdifferenzierter kennenlernen. Eine ähnliche Frage wie die nach der korrekten Benennung von Personen, die ich „Zuwanderer“ nenne, stellt sich auch bei der etwaigen Verwendung genderneutraler Bezeichnungen. Denn um Männer und Frauen gleichermaßen zu benennen, werden inzwischen entweder sowohl die männliche als auch die weibliche Form gebraucht („Marxloherinnen und Marxloher“) oder die männliche Form durch das Suffix -Innen ergänzt („MarxloherInnen“). Aus dem queerfeministischen Bereich kommend begegnet uns inzwischen aber zunehmend auch der sogenannte „Gender Gap“ in Form eines Unterstrichs oder eines Sternchens, um damit zu verdeutlichen, dass nicht nur die zwei Geschlechter „männlich“ und „weiblich“, sondern etwa auch „trans“ oder „intersexuell“ mit gemeint ist („Marxloher_innen“ oder „Marxloher*innen“). Auch hier habe ich mich entschieden, dieser „begrifflichen Akrobatik“36 auszuweichen und verwende aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit das generische Maskulinum. Spreche ich im Besonderen von Frauen, weise ich durch die Verwendung der weiblichen Form darauf hin. Zuletzt noch ein letzter Hinweis zur Darstellungsform der Aussagen meiner Gesprächspartner aus den Interviews: Die Transkription aller Gespräche erfolgte wörtlich und wurde von mir trotz eventuell aufgetretener grammatikalischer

34 Bukow, Wolf-Dietrich (2010): Urbanes Zusammenleben. Zum Umgang mit Migration und Mobilität in europäischen Stadtgesellschaften (= Interkulturelle Studien, 20). Wiesbaden. S. 10. 35 Vgl. Abschnitt 3.2. 36 Bukow: 2010, S. 10.

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„Fehler“ unverändert übernommen. Syntaktische Unstimmigkeiten, die auf mangelnde Sprachkenntnisse der Interviewpartner zurückzuführen waren, habe ich jedoch sinngemäß umgestellt, um dem Leser das Verständnis zu erleichtern.

3. „Stadt der zwei Kulturen“1? Das Setting

3.1 Z UWANDERUNG IN DEN D UISBURGER N ORDEN BIS IN DIE 1970 ER J AHRE Der Stadtteil Marxloh befindet sich im Norden der Stadt Duisburg und wurde im Jahr 1929, zu Hamborn gehörend, nach Duisburg eingemeindet. Er liegt heute circa zehn Kilometer vom Duisburger Stadtzentrum entfernt – das entspricht rund 25 Minuten mit der Straßenbahn. Die Anfänge der Entstehung des Stadtteils lassen sich auf das Jahr 1727 datieren, als Marxloh aus gerade einmal zwei Höfen bestand. Die Formierung Marxlohs zu einer Ortschaft geht auf die spätere Ansiedelung der Industrie zurück, denn die günstige Lage am Rhein führte im 19. Jahrhundert dazu, dass sich dort vorwiegend montanindustrielle Betriebe ansiedelten, was eine gesteigerte Nachfrage nach Arbeitskräften nach sich zog. Dies wiederum führte zu einer Intensivierung an Migrationsbewegungen in erster Linie aus dem näheren Umland, aber vor allem auch aus den oberschlesischen und später polnischen Gebieten nach Marxloh. Untergebracht wurden die Arbeiter, die man auch „Ruhrpolen“ nannte, in Zechensiedlungen und bildeten dort nahezu geschlossene Siedlungsgebiete, sogenannte „Einwandererkolonien“, aus. Der 72-jährige Erich, der bis zu seiner Verrentung bei Thyssen2 gearbeitet hatte, erinnert sich auf meine Nachfrage hin noch sehr bildhaft daran, wie es in dieser Zeit gewesen war:

1 2

„Aktive“, weiblich, 36 Jahre. Interview vom 04.08.2010. Der Name „Thyssen“ steht bei den Marxlohern für den Stahlkonzern Thyssen AG, der im Jahr 1999 mit der Friedrich Krupp AG Hoesch fusionierte und seither ThyssenKrupp AG heißt. Da die Marxloher Bevölkerung aber die Kurzfassung „Thyssen“ verwendet, übernehme ich deren Bezeichnung.

28 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH E: Jeder Pütt3, der hier war, lagen drum herum die Wohnungen der Bergleute. Und Thyssen hatte für seine leitenden Angestellten, das gehörte zum Arbeitsvertrag, die durften nicht länger als zehn Gehminuten von ihrer Stätte entfernt sein. Da ist extra eine Straßenbahnlinie gebaut worden nach Bruckhausen, von Thyssen.4

Die Häuser Thyssens für die leitenden Angestellten lagen im an Marxloh angrenzenden Stadtteil Bruckhausen und hatten villenartigen Charakter mit bis zu 4,5 Meter hohen Decken und fielen bei vielen unter den Begriff „herrschaftliche Wohnungen“.5 Abbildung 1: „Herrschaftliche Wohnung“ in Bruckhausen

Quelle: Eigenes Foto vom 19.08.2010

In Marxloh hingegen bildeten sich links und rechts neben der großen Einkaufsstraße, der Weseler Straße, zunächst reine Arbeitersiedlungen aus, die bis heute noch bestehen:

3

„Pütt“ ist die niederdeutsche Bezeichnung für „Schacht“.

4

„Alteingesessener“, männlich, 72 Jahre. Interview vom 18.08.2010.

5

Diese wurden im Zuge des sogenannten „Grüngürtelprojekts“ abgerissen. Vgl. die Pläne der Stadt Duisburg unter: http://www.duisburg.de/micro/eg-du/projekte_gruen guertel/gruenguertel_du_nord.php (letzter Abruf: 07.04.2013).

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Abbildung 2: Marxlohs Arbeitersiedlung

Quelle: Eigenes Foto vom 19.08.2010

Abbildung 3: Marxlohs Arbeitersiedlung

Quelle: Eigenes Foto vom 19.08.2010

Dieser Zustrom an Personen hatte zur Folge, dass bis zum Jahr 1914 in rasanter Geschwindigkeit verschiedene weitere Häuser und Geschäfte erbaut wurden. Marxloh entwickelte sich allmählich zu einem attraktiven Ort, wo sich zunehmend auch das Bürgertum ansiedelte – allerdings in erster Linie rund um die zwei großen Hauptstraßen Marxlohs, die Weseler Straße und die Kaiser-

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Friedrich-Straße, und somit in einem gewissen Abstand zu den Arbeitersiedlungen: Abbildung 4: Weseler Straße um 1925

Quelle: Stadtarchiv Duisburg, Sign. Hamborn

Abbildung 5: Weseler Straße um 1960

Quelle: Stadtarchiv Duisburg, Sign. Hamborn

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Abbildung 6: Weseler Straße heute

Quelle: Eigenes Foto vom 17.09.2010

Diese wirtschaftliche „Blütezeit“ Marxlohs hielt bis in die 1960er Jahre an: Im Stadtteil wurde flaniert, Marxloh als „Klein-Amerika“6 bezeichnet. Die 79jährige Marianne, die im benachbarten Stadtteil Walsum geboren und aufgewachsen war, schwärmt bei unserem zufälligen Treffen auch noch im Jahr 2010 rückblickend von den damaligen Einkaufsmöglichkeiten: M: Marxloh ist in der Zeit meiner Jugend ein schönes Flanierviertel gewesen. „Lintel“ war ein gutes Bekleidungsgeschäft oder „von der Stein“ und „Sinn“. In Marxloh gab es sehr schöne Schuhgeschäfte. Und in der Straße vor der Pollmannkreuzung war ein edles Hutgeschäft. Ich habe meine gesamte Aussteuer in Marxloh zusammengekauft.7

Im Jahr 1955 schloss die Bundesrepublik Deutschland zunächst ein Anwerbeabkommen mit Italien, gefolgt von Spanien und Griechenland im Jahr 1960, der Türkei 1961, Marokko 1963, Portugal 1964 sowie Tunesien 1965 und schließlich Jugoslawien 1968. Während dieser Zeit der sogenannten „Gastarbeiteranwerbung“ expandierte Marxloh zusehends, die Zahl der Bewohner stieg rasant an. Die ersten Arbeiter kamen, wie auch bundesweit, in erste Linie aus Italien, Spanien und der Türkei. Jugoslawen und Marokkaner waren vergleichsweise wenige unter den Arbeitern. Viele der Zuwanderer waren im Bergbau beschäf-

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„Zurückgezogene“, weiblich, 80 Jahre. Interview vom 20.08.2010.

7

„Alteingesessene“, weiblich, 79 Jahre. Forschungstagebuch vom 25.07.2010.

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tigt, aber vor allem auch in der Stahlindustrie bei Thyssen. Untergebracht wurden sie in den alten Arbeitersiedlungen in der Nähe der Zechen oder der Thyssen-Werke. Mit der Zeit ergaben sich auf Grund der steigenden Anzahl an Zuwanderern jedoch Probleme bei deren Unterbringung. Mit Hilfe der Industrie sollten diese schließlich überwunden werden, indem für die Arbeiter neue Werkswohnungen und Reihenhaussiedlungen in der Nähe ihrer Arbeitsstelle errichtet wurden. Heute ist bekannt, dass die damaligen „ausländischen“ Arbeiter zu Tätigkeiten herangezogen wurden, mit denen man die deutschen nicht beauftragte, weil sie häufig sehr gesundheitsschädigend waren.8 So erzählt auch Erich, dass die Zuwanderer, an die er sich erinnert, ausschließlich sogenannte „einfache Arbeiten“9 ausgeführt hätten. Bei Thyssen habe ihre Arbeit etwa darin bestanden, Rohre freizuhalten, oder sie seien für Aufsichtsarbeiten zuständig gewesen. Dabei war Erich durchaus nicht entgangen, mit welch hohen gesundheitlichen Risiken diese Tätigkeiten verbunden waren: E: Und wir hatten da auch Leute gehabt, das waren immer Fremdfirmen gewesen. Und die kamen dann und haben zum Beispiel Gichtgas, das ist ja voll mit Staub. Das muss ja gereinigt werden. Das geht durch Filter, durch Elektrofilter, und ab und zu muss das gereinigt werden. Und dann kamen Firmen, das war ’ne Aachener Firma, die hatte dann 30, 40 Ausländer beschäftigt, und die mussten dann unter den mörderischen Bedingungen da, das war ja voll mit Schadstoffen. Die [Firma, Anm. d. Verf.] wäre auch beleidigt gewesen, wenn man denen gesagt hätte: „Hört damit auf.“10

Den Einschätzungen der älteren Stadtteilbewohner zufolge kann das alltägliche Verhältnis der zugewanderten Bevölkerung zu der alteingesessenen in dieser Zeit als ausgesprochen gut bezeichnet werden:11 „Deutsche“ und „Türken“ arbeiteten nebeneinander in den Zechen oder bei Thyssen, lebten Tür an Tür, gingen sich besuchen oder trafen sich in den aneinander angrenzenden Gärten oder Hinterhöfen der Arbeitersiedlungen und kamen auf diese Weise häufig miteinander ins Gespräch. Zunächst verständigte man sich auf Grund der mangelnden

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Vgl. Hunn, Karin (2005): „Nächstes Jahr kehren wir zurück.“ Die Geschichte der tür-

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„Alteingesessener“, männlich, 72 Jahre. Interview vom 18.08.2010.

kischen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik. Göttingen. S. 212 ff. 10 Ebd. 11 Eine Sammlung einiger Eindrücke der in Marxloh lebenden Bevölkerung in der ersten Zeit der Gastarbeiteranwerbung findet sich in: EG DU Entwicklungsgesellschaft Duisburg mbH (2008): Erzählband Dichterviertel. Duisburg.

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Sprachkenntnisse mit Händen und Füßen, später auch verbal. Auch wenn hier mit Sicherheit in vielen Rückblicken auf diese Zeit auch eine gewisse Idealisierung der Vergangenheit mitschwingt, erinnern sich dennoch die meisten Marxloher an ein gutes Verhältnis zwischen „Deutschen“ und „Türken“ im Stadtteil. So sagt die 63-jährige Fatma, die ihrem Mann, der als „Gastarbeiter“ bei Thyssen arbeitete, im Jahr 1969 mit den gemeinsamen Kindern nach Marxloh nachgefolgt war: F: Ich hatte viele deutsche Nachbarn, die sehr hilfsbereit waren. Eine hatte mir gesagt: „Du kennst die Sprache nicht, wenn du was brauchen solltest, sag mir Bescheid, ich helfe dir, ich kann auch auf deine Kinder aufpassen.“12

Zu Weihnachten und Silvester, zwei für die Zuwanderer aus der Türkei zunächst völlig fremde Feste, wurden sie oftmals von den alteingesessenen Marxloher Nachbarn nach Hause eingeladen. Nicht selten entwickelten sich hieraus Freundschaften, die lange Zeit weiter bestanden.13 Nach dem Anwerbestopp 1973 und später nach dem Militärputsch in der Türkei 1980 nahm der Migrantenanteil aus der Türkei deutschlandweit noch einmal stark zu.14 Hier handelte es sich um „Kettenmigrationen“, und so konzentrierten sich die türkeistämmigen Zuwanderer vor allem in Stadtteilen, in denen schon Verwandte oder Bekannte lebten und wo zudem auch die Mietpreise erschwinglich schienen – solch ein Stadtteil war Marxloh. Allmählich fielen den „Alteingesessenen“ im Stadtteil vor allem die Kopftuchtragenden unter den Zuwanderern auf. Die oben bereits zitierte 79-jährige Marianne berichtet, täglich auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle mit dem Fahrrad an einem Gebäude vorbeigefahren zu sein, von dem sie annahm, dass es „die Kirche der Moslems“15 gewesen sei. Zwar sei sie von den einzelnen kopftuchtragenden Frauen befremdet gewesen, aber ansonsten habe sie wenig von ihnen mitbekommen – bis deren Anzahl im Stadtteil plötzlich stark zunahm und Marianne anfing, sich unbehaglich zu fühlen:

12 „Gastarbeiterin“, weiblich, 63 Jahre, lebt seit 1969 in Deutschland. Interview vom 03.08.2012. 13 Vgl. EG DU Entwicklungsgesellschaft Duisburg mbH: 2008. 14 Im Jahr 1975 lebten 62.307 (10,3 %) Migranten in der Stadt Duisburg. Nach der Familienzusammenführung infolge des Anwerbestopps bis 1980 waren es 72.232 (12,6 %). Vgl. Heid, Ludger (1984): Kleine Geschichte der Stadt Duisburg. S. 60 f. 15 „Alteingesessene“, weiblich, 79 Jahre. Forschungstagebuch vom 25.07.2010.

34 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH M: Dann haben sich die Ausländer aber irgendwann hier so breit gemacht, dass die Deutschen wegziehen mussten. Hier kämpft etwas in mir. Einerseits habe ich und auch meine Bekannten Angst, dass Walsum16 genauso überschwemmt werden könnte wie Marxloh, eine Moschee planen sie dort ja inzwischen auch schon. Aber keine DITIB-Moschee, eine andere. Ich habe viele Bekannte, die Wohnungen vermieten, und die Ausländer bringen Geld und mieten Wohnungen und überschwemmen so hinterrücks die Region. Natürlich bin ich auch für Integration, und so etwas wie die Judenvernichtung darf auf gar keinen Fall wiederkommen! Ich verstehe nicht, wenn manche sagen, die Ausländer sollten wieder gehen. Aber trotzdem: So ein bisschen Heimat muss doch auch sein.17

Dass „die Deutschen“ wegen der steigenden Anzahl an „Ausländern“, wie Marianne es ausdrückt, das Viertel verlassen hätten, ist eine weit verbreitete Einschätzung unter der „alteingesessenen“ aber auch der „zurückgezogenen“ Bevölkerung im Stadtteil. Nach ihrem Empfinden haben die Zuwanderer aus der Türkei „die Deutschen“ aus dem Stadtteil vertrieben. Einige fürchten, nun auch bald gehen zu müssen und fühlen sich von der Politik im Stich gelassen, wie folgender Ausschnitt aus einer Gruppendiskussion unter drei gebürtigen Marxlohern zeigt: F: Ich habe dir immer gesagt, hier kannst du nichts erreichen und man hat auch ein bisschen Angst! M: Da hast du recht, was du sagst. F: Ja, ob die dir die Fensterscheiben einschlagen, wenn du jetzt schreiben würdest oder dass die mir mein Haus anstecken, ok, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Aber ich fühle mich als deutsche Bürgerin in Marxloh nicht mehr sicher. Weil, sobald du deine eigene Meinung äußerst, musst du mit Konsequenzen rechnen. Das ist so.18

Diese Wahrnehmung liegt allerdings konträr zu den historischen Gegebenheiten. Denn die ethnische und soziale Verdichtung in Marxloh begann sich in dem Moment zu verstärken, als im Zuge der Stahlkrise und dem damit verbundenen Strukturwandel viele Zuwanderer, aber auch viele der alteingesessenen Marxloher, ihren Arbeitsplatz verloren. Wer über das notwendige ökonomische und soziale Kapital verfügte, zog weg. Unter ihnen waren meist „alteingesessene“ Marxloher aus der Bürgerschicht – die zugewanderten, nun arbeitslos geworde-

16 Walsum ist ein im Norden an Marxloh angrenzender Stadtteil Duisburgs. 17 „Alteingesessene“, weiblich, 79 Jahre. Forschungstagebuch vom 25.07.2010. 18 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre, „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre und „Alteingesessener“, männlich, 58 Jahre. Gruppendiskussion vom 03.09.2010.

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nen türkeistämmigen Arbeiter blieben.19 So entstand im Laufe der Jahre eine Zusammensetzung aus sozial und ethnisch verdichtet lebender Bevölkerung, die zu großen Teilen gering gebildet und kinderreich war. Begibt man sich heute in den Duisburger Stadtteil Marxloh, so fällt als erstes auf, dass die räumliche Konzentration vieler türkeistämmiger Zuwanderer auch das Stadtbild mit der Zeit verändert hat: An der Pollmannkreuzung, im Zentrum Marxlohs, finden sich türkisch-deutsche Werbeschilder, türkische Friseursalons, Teestuben, Spielotheken und vor allem viele türkische Brautmodengeschäfte. Geschäftsgründer transferieren zunehmend weniger ihr Geld in die Türkei, sondern investieren vor Ort. Die Geschäftswelt in Marxloh ist diversifiziert, wobei der Einzelhandel dominiert.20 Da Anfang der 1990er Jahre Marxlohs lokale Ökonomie an ihrem Tiefpunkt angekommen war, sah sich die Stadt in Handlungszwang. Der Versuch, den Stadtteil gezielt für türkeistämmige Geschäftsleute attraktiv zu machen, geht auf das in Marxloh insgesamt 15 Jahre währende Bund-Länder-Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt“ zurück.21 In der Stärkung der lokalen Ökonomie wurde eine Möglichkeit gesehen, den Kreislauf aus „keine Arbeit – Verlust von Kaufkraft – negative Auswirkungen auf den örtlichen Einzelhandel – Wegzug der Besserverdienenden – Vernachlässigung der Bausubstanz und der Infrastruktur – Verlust der Integrationskraft – Vandalismus und Kriminalität“ zu unterbrechen.22 Im Jahre 1996 wurde der türkische Unternehmerverband TIAD23 gegründet, der mit

19 Duisburg wies bereits 1975 ein Haushaltsdefizit auf und musste ein Sparkonzept vorlegen. Die Stadt drosselte während der 1980er Jahre laufende Kosten und schränkte die Infrastrukturkosten ein (beispielsweise bei Bädern und Bibliotheken). 20 Fischer, Ivonne (2001): Ethnische Ökonomie zur Stabilisierung benachteiligter Stadtteile? Unveröffentlichte Diplomarbeit an der Fakultät Raumplanung der Universität Dortmund. Dortmund. S. 7-81. 21 Die Stärkung der Lokalen Ökonomie gilt nach Einschätzung der Stadtteilakteure als ein Hauptanliegen des Programms. Vgl. Deutsches Institut für Urbanistik (2003): Strategien für die Soziale Stadt. Erfahrungen und Perspektiven – Umsetzung des Bund-Länder-Programms „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt“. Bericht der Programmbegleitung. Berlin. S. 100. 22 Hatzfeld, Ulrich (1997): Stadtentwicklung und Lokale Ökonomie. In: Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (Hrsg.) (1997): Lokale Ökonomie und Wirtschaftsförderung in Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf. Dortmund. S. 31-34. 23 An der schwierigen Entwicklung im Vorfeld der Gründung des Vereins zeigt sich, wie wenig die türkeistämmige Bevölkerung in Marxloh vorher organisiert war. Es war zu-

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Einzelberatungen viel Erfolg vorzuweisen hatte. Ehemals stand auf der Weseler Straße/Pollmannkreuzung jedes zweite Geschäft leer. Seit den letzten Jahren kommt es aber nun immer wieder zu Geschäftsneueröffnungen und mittlerweile zu einer regelrechten Etablierung des Clusters24 Brautmode, für das Marxloh inzwischen sogar international bekannt ist. Mittlerweile existieren in Marxloh über den Stadtteil verteilt über 30 Brautmodengeschäfte. Vornehmlich türkeistämmige Kundschaft reist vor allem an den Wochenenden bundesweit aber auch aus den Niederlanden, Belgien und Frankreich an, um sich und die gesamte Großfamilie hier für anstehende Hochzeiten oder andere Festlichkeiten einzukleiden. Zwar stehen immer noch gut 150 Ladenlokale leer, aber der Stadtteil wirkt durch die Etablierung des Brautmodenclusters zunehmend belebter. Abbildung 7: Brautmodengeschäft

Quelle: Eigenes Foto vom 28.01.2010

nächst schwierig, die Unternehmer davon zu überzeugen, sich dem TIAD als eigenständiger Organisation anzuschließen. Vgl. Idik, Ercan (1999): Das Büro für Wirtschaftsentwicklung in Duisburg-Marxloh. In: Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (Hrsg.) (1999): Interkultureller Dialog NRW. Stadtentwicklung und Zuwanderung. Dortmund. S. 34-36. 24 Unter „Clustern“ werden räumlich konzentrierte, miteinander verflochtene Wirtschaftszweige verstanden, von denen man ausgeht, dass sie zur Wettbewerbssteigerung beitragen.

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Abbildung 8: Beschneidungskostüm

Quelle: Eigenes Foto vom 28.01.2010

Abbildung 9: Süßwarengeschäft

Quelle: Eigenes Foto vom 28.01.2010

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3.2 Z UWANDERUNG UND SUBJEKTIVE W AHRNEHMUNG HEUTE Selbstverständlich war und ist in Marxloh nicht von der Bevölkerung zu sprechen. Die Stadtteilbewohner sind unterschiedlichen Alters, gehören verschiedenen ethnischen, sozialen und nationalen Gruppen an, und auch die Gründe, weshalb sie in Marxloh leben, unterscheiden sich erheblich. Längst stellen nicht mehr ausschließlich die „Gastarbeiter“ und ihre Folgegenerationen die zugewanderte Bevölkerung im Stadtteil – stetig ziehen Personen zu und wieder weg, und die ethnische Vielfalt nimmt zu. „Wir sind bunter geworden“, sagt ein Lehrer im Interview über die nationale Zusammensetzung seiner Schülerschaft: L: Vor zehn Jahren hatten wir 80 % mit Migrationshintergrund, 70 % davon Türken. Jetzt haben wir 84 % [mit Migrationshintergrund, Anm. d. Verf.] und 42 % davon türkisch. Wir sind bunter geworden.25

Auch in den ehemaligen Arbeiterhäusern der Firma Thyssen wohnen schon lange keine polnischen Arbeiter mehr, und die Zahl der dort lebenden türkeistämmigen Bewohner sinkt allmählich ebenfalls. Entweder stehen die Häuser leer, oder sie werden an Neuzuwanderer meist aus dem östlichen Europa vermietet. Insgesamt sind in Marxloh Angehörige von über 80 Nationen registriert: 11.085 der 17.767 Einwohner Marxlohs sind im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft.26 Entgegen dem, was oft angenommen wird27, befinden sich „die Deutschen“ somit auf dem Papier nicht in der Minderheit. Zu ihr werden sie allerdings dann, wenn man zu „den Deutschen“ nur die autochthonen Deutschen zählt. Denn mit 10.826 Personen sind es gut zwei Drittel der 17.767 Einwohner Marxlohs, die einen Migrationshintergrund aufweisen – davon allerdings „nur“

25 Interview mit einem Lehrer vom 23.11.2012. 26 Stabsstelle für Wahlen, Europaangelegenheiten und Informationslogistik der Stadt Duisburg (2012): Einwohner nach Deutschen und Ausländern, nach Ortsteilen und Stadtbezirken am 31.12.2012. Online unter: http://www.duisburg.de/vv/I-03/medien/ Einwohner_nach_Deutschen_und_Auslaendern_am_31122012.pdf

(letzter

Abruf:

07.04.2013). 27 Vgl. beispielsweise einen Beitrag in Spiegel TV vom 30.08.2010, in dem es heißt „Deutsche sind in Marxloh eine Minderheit“. N.N. (2010): „Duisburg-Marxloh. Ghetto oder Integration?“ Fernsehdokumentation, Vox, 2010. Online unter: http://www. spiegel.tv/filme/duisburg-marxloh/ (letzter Abruf: 15.12.2014).

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5871 mit einem Bezug zur Türkei.28 Von einer „türkischen Mehrheit“ kann in Marxloh demzufolge nicht gesprochen werden – allerdings von einer Mehrheit von Personen mit Migrationshintergrund durchaus. Vergleichen wir nun die nationalen Zugehörigkeiten der Marxloher zu den jeweiligen Zeitpunkten der beiden ersten Forschungsaufenthalte, so sehen wir vor allem bei der Zusammensetzung der Bevölkerung ohne deutschen Pass recht drastische Veränderungen. Unter der Bevölkerung Marxlohs29 befanden sich zum Zeitpunkt des ersten Forschungsaufenthaltes in Marxloh Ende des Jahres 2009:30 • • • • • • • • • • •

11.169 Deutsche 3390 Türken 252 Polen 225 Personen aus Bosnien-Herzegowina 219 Serben 182 Mazedonier 181 Bulgaren 120 Libanesen 102 Marokkaner 70 Ungarn 65 Iraker31

Drei Jahre später, Ende des Jahres 2012 und zum Zeitpunkt meines zweiten Forschungsaufenthalts, zeigt sich statistisch schon ein ganz anderes Bild: • • • • •

11.085 Deutsche 3556 Türken 788 Bulgaren 405 Polen 288 Rumänen

28 Stadt Duisburg (2012): Interne Statistik der Stadt Duisburg. Stabsstelle für Wahlen, Europaangelegenheiten und Informationslogistik 2012. Duisburg. 29 Betrachtet man diese Zahlen, so gilt es zu berücksichtigen, dass in bundesdeutschen Statistiken ausschließlich die nationale Zugehörigkeit der Personen erfasst ist, da nach der ethnischen Zugehörigkeit nicht gefragt werden darf. 30 Hier sind lediglich die zehn bevölkerungsstärksten Gruppen aufgeführt. 31 Stadt Duisburg (2010) Interne Statistik der Stadt Duisburg. Stabsstelle für Wahlen, Europaangelegenheiten und Informationslogistik 2010. Duisburg.

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215 Personen aus Bosnien-Herzegowina 210 Serben 155 Mazedonier 101 Marokkaner 97 Libanesen 90 Italiener32

Ein Vergleich der beiden Aufstellungen zeigt, wie sehr vor allem die Anzahl der bulgarischen Staatsbürger in den drei Jahren zugenommen hat. Werden sie im Jahr 2009 mit 181 Personen noch an sechster Stelle in der Statistik aufgeführt, so bilden sie im Jahr 2012 mit bereits 788 Personen nach den türkischen Staatsbürgern die zweitgrößte Zuwanderergruppe im Stadtteil. Auch die Zahl der rumänischen Staatsbürger, die in der Tabelle aus dem Jahr 2009 nicht einmal unter den ersten zehn der am stärksten vertretenen Zuwanderergruppen im Stadtteil vertreten waren, hat von nur 15 im Jahr 2009 auf 288 im Jahr 2012 eine deutliche Steigerung erfahren. Hingegen spielen die im Jahr 2010 mit 120 Personen als sehr präsent empfundenen „Libanesen“33 im Jahr 2012 in Relation zu den 788 bulgarischen und 288 rumänischen Staatsbürgern kaum mehr eine Rolle. Diese Zahlen könnten besser nicht demonstrieren, was in Bezug auf „ethnisch verdichtete“ Stadtteile immer wieder theoretisch dargelegt, aber in empirischen Studien oft vernachlässigt wurde: Sie befinden sich in einer permanenten Dynamik, es sind stetig neue Gruppenbildungen zu beobachten – und „die Neuen“ werden nicht immer von den schon länger Ansässigen mit offenen Armen aufgenommen. Die 36-jährige türkeistämmige „Heiratsmigrantin“ Fatma34 antwortet etwa auf die Frage, warum Marxloh ein Negativimage anhafte:

32 Stadt Duisburg: 2013a. 33 Bei dieser Gruppe handelt es sich entweder um Personen mit libanesischer Staatsangehörigkeit oder um solche, die auch als „Menschen mit undefinierter Staatsangehörigkeit“ bezeichnet werden. Mit letzteren werden Kurden aus der Türkei oder Syrien umschrieben, die nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs in den Libanon geflüchtet waren, dort aber nie eingebürgert wurden. Sie erhielten lediglich Ausreisepapiere, in denen meist „libanesisch“ oder „staatenlos“ eingetragen wurde und reisten damit in den 1970er Jahren nach Deutschland ein. Hier konnten sie, auch wenn ihr Asylantrag nicht genehmigt wurde, meist nicht abgeschoben werden, da dafür gesichert sein musste, in welches Land die Abschiebung erfolgen sollte. Diese Personengruppen leben deutschlandweit vermehrt im Ruhrgebiet. In Marxloh handelt es sich konkret um zwei „libanesische“ Großfamilien. 34 Mehr zu Fatma folgt unter Abschnitt 4.4.

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F: Weil viele Ausländer hier sind, viele Libanesen, viele Iraner. In letzter Zeit sind viele Bulgaren und Rumänen hergezogen. Die werden bewusst in diesen Stadtteil geschickt, weil man glaubt, dass sowieso alles hier nicht richtig läuft. Dass die immer mehr werden, stört schon.35

Hatice kam im Jahr 1998 als Heiratsmigrantin nach Marxloh und ist türkische Staatsbürgerin. Ihre Selbstwahrnehmung als „Ausländerin“ findet aber eine deutliche Relativierung, als sie sich selbst nicht mit autochthonen Deutschen, sondern mit Neuzuwanderern vergleicht. In dieser Konstellation wird sie zur Einheimischen, die Neuzuwanderer hingegen zu „Ausländern“. Diese Abgrenzung gegenüber den Neuzugezogenen ist ganz typisch für viele der schon länger im Stadtteil lebenden Türkeistämmigen. Die oft gestellte Frage „does ethnicity matter?“ ist in Marxloh also mit einem klaren „ja“ zu beantworten. So ist es auch der 62-jährigen „Gastarbeiterin“ Ayşe in unserem Gespräch stets sehr wichtig, zu betonen, dass viele der „Kopftuchträgerinnen“, die man auf der Straße sehe, keine „Türken“ seien: A: Früher waren hier Italiener, Spanier, Türken, jetzt Afghaner, Pakistaner, Iraker, aber die Deutschen sagen: „Es sind alles Türken.“ Das stimmt nicht, die sind anders! Kopftuch heißt nicht gleich Türke.36

Auch die türkische Sprache, die in Marxloh oft auf den Straßen zu hören sei, lasse nicht zwangsläufig auf einen „Türken“ schließen, denn die im Stadtteil lebenden Personen, die aus Bulgarien zugewandert seien, sprächen ebenfalls oft türkisch. Viele der Türkischsprechenden sind allerdings in der Lage, bei ihnen einen deutlichen bulgarischen Akzent herauszuhören, denn die türkischsprechenden Zuwanderer aus Bulgarien sprechen eine Form des Ostrumelisch, also eine Dialektform des Standardtürkischen.37 Für ungeschulte Ohren ist ein Unterschied kaum zu bemerken, aber einige der Türkeistämmigen können durchaus empfindlich reagieren, lässt man die sprachlichen Unterschiede zwischen „Türken“ und „Bulgaren“ unbeachtet. Wir werden darauf noch ausführlich zu sprechen kommen.

35 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 36 Jahre, lebt seit 1998 in Deutschland. Interview vom 07.09.2010. 36 „Gastarbeiterin“, weiblich, 62 Jahre, lebt seit 1972 in Deutschland. Interview vom 14.08.2010. 37 Mehr dazu folgt unter Abschnitt 5.2.

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Als ein weiterer ganz wesentlicher Begriff zur Grenzmarkierung gegenüber den Neuzuwanderern fungiert bei einigen türkeistämmigen Marxlohern außerdem die Kriminalität. Nach Aussage der Polizei sei in Marxloh zwar keine auffallend hohe Kriminalitätsrate zu konstatieren38, dennoch wurde Marxloh in der Vergangenheit immer wieder mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Mit der Zeit diente dieser Begriff einigen Türkeistämmigen im Stadtteil dazu, sich von den Neuzuwanderern abzugrenzen: Die „Kriminalität“, so heißt es immer wieder, schreibe man nämlich viel zu vorschnell der türkeistämmigen Bevölkerung im Stadtteil zu. Nicht „wir Türken“, sondern vielmehr „die anderen“, vornehmlich „die Bulgaren“ und „die Rumänen“, seien es, die kriminell würden. Überraschend scheint in diesem Zusammenhang der interethnischen Wahrnehmungen im Stadtteil, dass die statistisch immerhin zweitgrößte Zuwanderergruppe der polnischen Staatsbürger bei den Stadtteilbewohnern keine Erwähnung findet. „Achso, Polen gibt’s ja auch“39, äußert etwa die 48-jährige „Aktive“ Paula überrascht auf die Frage, wie sie die polnischen Zuwanderer im Stadtteil wahrnehme und folgert weiter: „Die Polen? Das sind die integrierten Deutschen“.40 Zwei Gruppen der Neuzuwanderer, von denen bereits die Rede war, sind dagegen meist negativ im Gespräch: Personen aus dem östlichen Europa, die im Stadtteil allgemein „die Bulgaren“ genannt werden, und Roma, die im Stadtteil manchmal als „die Zigeuner“41 tituliert werden. Von beiden Gruppen wollen sich die meisten anderen Stadtteilbewohner gezielt abgrenzen. Um welche ethnischen Zugehörigkeiten es sich bei diesen beiden Gruppen jedoch genau handelt, ist den meisten nicht bekannt. Will man jedoch das alltägliche Mitei-

38 Statistisch betrachtet rangiert Marxloh bei den meisten Delikten zwar im oberen Drittel, aber nie an erster Stelle. Interview mit der Polizei vom 03.08.2010. 39 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. 40 Damit spielt Paula darauf an, dass sie, wie auch andere Marxloher, manche im Stadtteil lebende Menschen für „nicht integriert“ hält und meint damit Langzeitarbeitslose, die oft eine Gewalt- und Alkoholbiographie aufweisen. Mehr dazu folgt unter Abschnitt 4.6. 41 Der Begriff „Zigeuner“ wird im Wissenschaftsdiskurs auf Grund seiner abwertenden Konnotationen meist nicht mehr verwendet oder zumindest in Anführungszeichen gesetzt. Eine Ausnahme ist der Tsiganologe Bernhard Streck, der weiterhin die Verwendung „Zigeuner“ als Oberbegriff rechtfertigt. Vgl.: Homepage des Ethnologen Rüdiger Benninghaus unter: http://www.rbenninghaus.de/zigeuner-begriff.htm (letzter Abruf: 15.12.2014). Ich verwende im Folgenden den Begriff „Roma“. Wenn in den Interviews von den befragten Personen selbst von „Zigeuner“ gesprochen wurde, übernehme ich den Begriff in Anführungszeichen.

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nander in einem Stadtteil wie Marxloh, der geprägt ist durch eine Vielfalt ethnischer Gruppierungen, verstehen, so lohnt es durchaus, einen genaueren Blick auf das Thema „Ethnizität“ und die in Marxloh lebenden ethnischen Gruppen zu werfen, da, wie wir noch sehen werden, ethnische Grenzziehungen für die in Marxloh lebenden Bevölkerungsgruppen durchaus von großer Bedeutung sind. Begeben wir uns also nun auf einen kurzen Exkurs über das Thema „Ethnizität“, bevor wir uns den konkreten Gruppen zuwenden: Sprechen wir von „Ethnizität“, so bedienen wir uns einem in den Kultur- und Sozialwissenschaften weit verbreitetem analytischem Konzept42, welches das Gefüge kultureller Vielfalt zu fassen versucht, um das aber in methodologischer wie auch in theoretischer Hinsicht bislang keine Einheitlichkeit vorherrscht.43 Ethnizität wird fälschlicherweise häufig mit Religiosität, öfter noch mit Nationalität gleichgesetzt, und die Gefahr, primordialistische ethnische Festschreibungen zu tätigen, ist ohne Zweifel nach wie vor gegeben.44 Im wissenschaftlichen Bereich wird jedoch diese primordialistische Sicht meist sehr kritisch hinterfragt und durch eine auf den Soziologen Max Weber zurückgehende konstruktivistische Sichtweise ersetzt oder zumindest durch sie ergänzt. Weber zufolge ist der subjektive Gemeinschaftsglaube zur Ausbildung von Ethnizität ausschlaggebend und nicht, ob eine an objektiven Merkmalen festellbare Verwandtschaft zwischen den Gruppenmitgliedern besteht.45 So wird erklärbar, dass, wie wir noch

42 Dieses Konzept geht ursprünglich zurück auf den russischen Anthropologen Sergej M. Shirokogoroff. Vgl. Shirokogoroff, Sergej M. (1963): Die Grundzüge der Theorie vom Ethnos. In: Schmitz, Karl (Hrsg.) (1963): Kultur. Frankfurt am Main. S. 254-286. Das Buch ist im englischen Original im Jahr 1935 unter dem Titel „Psychomental complex of the Tungus“ in London erschienen. Parallel lassen sich aber auch bereits in der Chicagoer School Hinweise auf dieses Konzept finden, das aber im USamerikanischen Raum erst im Zusammenhang mit Revival-Phänomenen in den 1960er Jahren volle Beachtung fand, als die Annahme des melting pot – also eines Schmelztiegels verschiedener Einwandererkulturen zu etwas gemeinsamen Neuem – als gescheitert betrachtet wurde. 43 Feischmidt, Margit (2007): Ethnizität – Perspektiven und Konzepte der ethnologischen Forschung: In: Schmidt-Lauber, Brigitta (Hrsg.) (2007): Ethnizität und Migration. Einführung in Wissenschaft und Arbeitsfelder. Berlin. S. 51-68. 44 Vgl. dazu: Elwert, Georg (1989): Nationalismus und Ethnizität. Über die Bildung von Wir-Gruppen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialanthropologie, 41 (1989). S. 440-464. Hier: S. 443-446. 45 Die viel zitierte Passage Max Webers lautet: „Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider

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sehen werden, in Marxloh oft auch dort ethnische Grenzen gezogen werden, wo die Gemeinsamkeiten der Gruppen objektiv vermeintlich groß sind. Ebenso kann aber eine ethnische Gruppe auch da gesehen werden, wo die Gemeinsamkeiten objektiv gering erscheinen. Vertreter des radikalen Konstruktivismus sind sogar der Ansicht, allein dieser subjektive Glaube der Gruppe an Abweichung und das Gefühl, dass man sich dadurch von anderen Gruppen unterscheide, mache bereits eine ethnische Gruppe aus. Kritiker sehen hier allerdings eine Beliebigkeit ethnischer Selbsteinordnungen, durch die es jedermann möglich sei, sich auf Grund willkürlich gesetzter ethnischer Merkmale das eine Mal der einen und das andere Mal der anderen Gruppe anzuschließen. Vertreter eines moderaten Konstruktivismus’ argumentieren aus diesem Grund dahingehend, die konstruktivistische Sicht grundsätzlich beizubehalten, zugleich aber davon auszugehen, dass „‚Wir‘-Gruppen [nicht] jederzeit und durch jeden verändert werden können“46. Wesentlich bedeutsamer als diese Frage, ob sich Individuen anhand von tatsächlich gegebenen oder eher geglaubten Gemeinsamkeiten einer (oder mehreren) ethnischen Gruppe(n) zurechnen oder zugerechnet werden, erscheint jedoch in Bezug auf den Stadtteil Marxloh die Frage danach zu sein, wie sich das Gruppengefüge entwickelt, sobald mehrere Personen, die sich unterschiedlichen Gruppen zuzählen, aufeinandertreffen. Es war der norwegische Sozialanthropologe Fredrik Barth47, der als Vertreter des konstruktivistischen Ansatzes als einer der ersten die eindeutige Forderung formulierte, die Ethnologie solle ihren Blick bei der Untersuchung von Gruppen weniger auf die kulturellen Inhalte als auf die Interaktionen zwischen verschiedenen Ethnien und somit auf die von Gruppen konstruierten48 Grenzen lenken.49 Diese Grenzen können Barth zufolge als

oder von Erinnerungen an Kolonisation oder Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, dass diese für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, wenn sie nicht ‚Sippen‘ darstellen, ‚ethnische‘ Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutgemeinschaft objektiv vorliegt oder nicht.“ Weber, Max (1921): Ethnische Gemeinschaftsbeziehungen. In: Ders. (1921): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen. S. 234244. Hier: S. 237. 46 Schlee, Günther (2000): Identitätskonstruktionen und Parteinahme: Überlegungen zur Konflikttheorie. In: Sociologus, 50 (2000). S. 46-89. Hier: S. 79. 47 Barth, Fredrik (Hrsg.) (1970): Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference. Bergen; Oslo; London. 48 Ethnische Gruppen sind nach Barth als das Resultat ethnischer Abgrenzungsprozesse zu verstehen. Ethnizitätsbildend sind ihm zufolge nur diejenigen Merkmale, die für die Gruppenmitglieder selbst relevant sind. Objektiv festellbare kulturelle Unterschie-

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dynamisch und veränderbar erlebt werden und sind in Interaktionen stetig neu verhandelbar. Auf diese Weise erscheint es möglich, Ethnizität als ein Konzept zu fassen, das nicht statisch fixiert ist, sondern das, wie inzwischen in den Sozial- und Kulturwissenschaften vielfach geschehen, als plural und relational betrachtet wird. Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten50 und hybride Überlagerungen gehören dort mittlerweile zum common sense.51 Ist also hier im Folgenden von „Ethnie“, „ethnischer Gruppe“ oder sogar noch konkreter von „Deutschen“, „Türkeistämmigen“, „Bulgaren“ oder „Roma“ die Rede, so soll dies keine Festschreibung dieser Gruppen indizieren, sondern dient lediglich als Versuch, die komplexe Gruppenvielfalt in einem Stadtteil, in dem sich verschiedene Personen völlig unterschiedlichen Gruppen zuordnen oder zugeordnet werden, zu fassen. Dabei beschränke ich mich jedoch ausschließlich auf die vier eben genannten Gruppen im Stadtteil, da sie nicht nur quantitativ die größten sind, sondern mir auch am präsentesten im Stadtteil erschienen.52 Wenn wir nun also im Folgenden einen genaueren Blick auf die genannten vier Gruppen werfen, die von der Marxloher Bevölkerung stark vereinfachend als „die Deutschen“, „die Türken“, „die Bulgaren“ und „die Roma“ benannt werden, so wird rasch klar, dass trotz dieses Versuchs der Gruppenbildung, ethnische Gruppen im Inneren heterogen sind, dass sich die Selbst- und Fremdzuordnungen ihrer Gruppenmitglieder flexibel und dynamisch gestalten und dass ethnische Grenzen, wie von Barth postuliert, variabel und verhandelbar sind. Hinzu kommt außerdem – und darin besteht ein sehr wichtiger und oft vernachlässigter Aspekt – dass sich alle genannten Gruppen in sozialer Hinsicht absolut

de gibt es damit auch nach Barth zwischen den einzelnen Gruppen nicht. Vgl. Barth: 1970. 49 In der deutschsprachigen Volkskunde waren es Annemie Schenk und Ingeborg Weber-Kellermann, die sich von der „Sprachinselvolkskunde“ wegbewegend mit „Interethnik“ beschäftigten: Vgl. Schenk, Annemie; Weber-Kellermann, Ingeborg (1993): Interethnik und sozialer Wandel in einem mehrsprachigen Dorf des rumänischen Banats. Marburg. 50 Vgl. Bhabba, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen. 51 Vgl. Schmidt-Lauber, Brigitta (2007): Ethnizität und Migration als ethnologische Forschungs- und Praxisfelder. In: Dies. (Hrsg.) (2007): Ethnizität und Migration. Einführung in Wissenschaft und Arbeitsfelder. Berlin. S. 7-27. 52 Ich erlaube mir, die polnischen Staatsbürger hier außer Acht zu lassen, da sie zwar eine von ihrer Anzahl her große Gruppe im Stadtteil bilden, aber von der Marxloher Bevölkerung mir gegenüber nie erwähnt wurden.

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heterogen gestalten: In allen Marxloher Gruppen begegnen uns Personen, die sich unterschiedlichen sozialen Milieus zurechnen lassen, wobei die Spanne bei „den Deutschen“ und „den Türken“ am größten ist und bei „den Bulgaren“ und „den Roma“ (noch) am geringsten.53 Es bleibt zuletzt anzumerken, dass diese Gruppenbezeichnungen sicher manch einem Leser als zu stark homogenisierend erscheinen. Sie entsprechen jedoch exakt dem Sprachgebrauch der Marxloher, weswegen mir, die ich ja auf die Darstellung der Innensicht der Stadtteilbewohner abzielte, deren Verwendung sinnvoll erschien. Um aber dennoch deutlich zu machen, dass es sich hier von den Marxlohern gewählte Bezeichnungen handelt, mit denen sie entweder Bezug auf die eigene Gruppenzugehörigkeit (Selbstsicht) oder auf die anderer Stadtteilbewohner (Fremdsicht) nehmen, setze ich die die Gruppenbezeichnungen in Anführungszeichen. 3.2.1 „Die Deutschen“ Die „deutsche“ Stadtteilbevölkerung in Marxloh ist bei genauerem Hinsehen gar nicht so „autochthon“ wie mancher vielleicht annehmen mag. Als sich Marxloh im 19. Jahrhundert allmählich zu formieren begann, waren unter den „deutschen“ Marxlohern bereits viele mit polnischen und schlesischen Wurzeln, die jedoch am Beginn des 20. Jahrhunderts „eingedeutscht“ wurden. Mit der Bezeichnung „Deutsche“ sind inzwischen also auch diejenigen Personen gemeint, die bereits seit Generationen in Marxloh leben und bei denen maximal noch der Nachname erahnen lässt, dass ihre Vorfahren im 19. Jahrhundert aus Polen oder Schlesien stammten. In sozialer Hinsicht handelte es sich bei der Marxloher Bevölkerung zunächst, als der Stadtteil allmählich im Aufbau war, um eine reine Arbeiterbevölkerung. Erst, als Marxloh wirtschaftlich zu florieren begann, ließ sich auch das Bürgertum, wie Kaufleute und Ärzte, hier nieder. Infolge der Kohle- und Stahlkrise waren diese Personen dann allerdings auch die ersten, die den Stadtteil wieder verließen. Einzelne ihrer Nachkommen, der „Alteingesessenen“54, von denen sich die meisten heute am ehesten der middle class55 zuordnen lassen, sind

53 Mehr dazu folgt unter Abschnitt 5.3. 54 Mehr zu den „Alteingesessenen“ folgt unter Abschnitt 4.5. 55 Die „middleclass“ wird im anglo-amerikanischen Raum gemeinhin als Gruppe angesehen, die zwischen der „upper class“ (= Oberschicht) und der „working class“ (= Unterschicht) anzusiedeln ist. Im Deutschen wird die Bezeichnung „Mittelschicht“ verwendet. Hier handelt es sich laut Goebel, Gornig und Häußermann um „Haushaltsein-

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bis heute geblieben. Wir werden aber sehen, dass sie noch heute damit hadern und überlegen, den Stadtteil zu verlassen. Neben diesen Personen, die den Stadtteil Marxloh aufgegeben zu haben scheinen, wohnen aber auch eine ganze Reihe engagierter und aktiver Marxloher im Stadtteil, die sich der gehobenen middle class zurechnen lassen. Im Unterschied zu den „Alteingesessenen“ lebt diese Gruppe jedoch nicht seit ihrer Kindheit in Marxloh, sondern ist bewusst im Erwachsenenalter in den Stadtteil gezogen, weil sie das „Bunte“56 und „Gemischte“57 gesucht und in Marxloh gefunden haben. Diese Personen, bei denen es sich in großen Teilen um Akademiker handelt, sind den Zuwanderern gegenüber meist sehr aufgeschlossen und hilfsbereit, engagieren sich aktiv im Stadtteilgeschehen und bemühen sich intensiv, das Außenimage Marxlohs zu verbessern. Schließlich leben in Marxloh aber auch eine Reihe an „Zurückgezogenen“58, die zwar nicht gerne in Marxloh wohnen, aber keine andere Wahl hatten, da sie nie über das notwendige Kapital verfügten, um woanders hinzuziehen. Viele von ihnen sind arbeitslos, arm, krank und frustriert. Hier finden sich viele gebrochene Biographien mit Alkoholsucht- und Gewalterfahrungen. Diese Personen zeigen sich oft, wie wir sehen werden, gegen Zuwanderer eingestellt, vor allem gegen die im Stadtteil lebende türkeistämmige Bevölkerung. Zuwanderung ist aber nicht das einzige Thema, das die „deutsche“ Bevölkerung in Marxloh stark beschäftigt. Viele der „aktiven“ und „alteingesessenen“ Stadtteilbewohner haben das Gefühl, dass so vieles in Marxloh gesellschaftlich „aus dem Ruder läuft“59 und sich nicht mehr von ihnen beeinflussen lässt. Das Gefühl, dass die Stadt immer wieder Entscheidungen über den Stadtteil trifft, die man als Nachteil für die Marxloher Bevölkerung betrachtet, ist stark verbreitet. Neben dem Thema „Zuwanderung“ sind zwei der bedeutendsten Themen, bei denen viele meinen, sich nicht mehr einbringen zu können, zum einen der Abriss und die weitere Gestaltung des Schwelgernbades sowie zum anderen das stadtplanerische Konzept des sogenannten „Grüngürtels“. Während die zugewanderte

kommen von mindestens 70, aber nicht mehr als 150 % des Medianeinkommens“. Im Jahr 2005 seien es in Deutschland ungefähr 1844 Euro monatlich gewesen. Vgl. Goebel, Jan; Gornig, Martin; Häußermann, Hartmut (2010): Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert. In: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.): Wochenbericht, 24 (2010). Berlin. S. 2. Online: http://www.diw.de/docu ments/publikationen/73/diw_01.c.357505.de/10-24-1.pdf (letzter Abruf: 11.07.2014). 56 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. 57 Ebd. 58 Mehr zu den „Zurückgezogenen“ folgt unter Abschnitt 4.6. 59 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010.

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Bevölkerung im Stadtteil beide Projekte in keinem unserer Gespräche erwähnt, beschäftigen sie hingegen die „alteingesessene“ und „aktive“ Stadtteilbevölkerung so stark, dass ein kleiner Exkurs in diese zwei Felder notwendig scheint: In der Zeit als Marxloh ökonomisch aufzublühen begann, wurde im 19. Jahrhundert zwischen dem Stadtteil und den Thyssenwerken ein Volksbad errichtet, das sogenannte Schwelgernbad, „mitten im Grünen“60. Historische Bilder zeigen, wie es in den Jahren 1957 und 1990 aussah: Abbildung 10: Schwelgernbad um 1957

Quelle: Klaus Windrich aus Marxloh

60 Vgl. Website mit Informationen zum Schwelgernpark in Duisburg-Marxloh. Online unter: http://www.schwelgernpark.de/Schwelgernbad/schwelgernbad.html (letzter Abruf: 03.06.2014).

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Abbildung 11: Schwelgernbad um 1990

Quelle: Klaus Windrich aus Marxloh

Ende der 1990er Jahre bildeten sich allerdings Algen auf dem Grund des Bades, und die Stadt konnte, obwohl die Firma Thyssen bereit war, weiterhin kostenfrei für die Beheizung zu sorgen, die Wartungskosten nicht mehr aufbringen. Im Jahr 1999 schloss das Bad trotz großen Protests seitens der Marxloher Bevölkerung seine Pforten. Die weitere Planung sah vor, das Bad abzureißen und eine Minigolfanlage sowie eine Sportfläche, die als Eis- und Rollschuhbahn genutzt werden sollte, zu errichten. „Doch“, so heißt es auf einer Marxloher Website, „vor jedem Training musste der Rollschuhverein das Wasser und den Thyssenstaub von der Bahn schieben“61, denn die Betonplatte, die das Schwimmbad nach der Verfüllung bedeckte, sackte immer weiter ab, so dass sie schließlich so überflutet schien, dass manch einer in Marxloh süffisant von einer „Sechsseenplatte“62 sprach. Die Rollschuhbahn und Minigolfanlage wurden wenige Jahre später wieder abgerissen und machten einer bis heute existierenden „Dirt-Bahn“ für BMX-Räder und einer Grünfläche Platz. Auf der von einer direkt neben dem Schwelgernpark lebenden Marxloher Familie betriebenen Website wird über das Schwelgernbad folgende Bilanz gezogen:

61 Vgl. Website mit Informationen zum Schwelgernpark in Duisburg-Marxloh. Online unter:

http://www.schwelgernpark.de/Umbau/Alte_Schwimmbad/alte_schwimmbad.

html (letzter Abruf: 16.05.2014). 62 Die Sechs-Seen-Platte ist ein im Großraum Duisburg gelegenes aus sechs Seen bestehendes Naherholungsgebiet.

50 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH „Die Bilanz nach einem Jahr der Fertigstellung: Das Netz der Volleyballanlage hing nur zwei Wochen. Die Profi-Dirt-Bike-Strecke wird weder benutzt noch gepflegt. Der Sand der Ballspielanlagen wird durch den Rollkies der Wege immer mehr verunreinigt. Statt auf Asphalt müssen die Jugendlichen auf schlecht verlegten Gehwegplatten spielen. Es gibt aber auch Positives zu berichten. Die Tore mit den Netzen wurden gegen Stahlrohrtore ausgetauscht und zwischen den Spielflächen wurden endlich Zäune als Ballsperren errichtet. Die Nachwuchs-Bike-Strecke wird gut angenommen, obwohl ich vermute, den Kindern gehen mittlerweile intakte Fahrräder aus. Auch werden endlich die Grillflächen regelmäßig gepflegt. Das Traurige bei der Sache ist, dass hochdotierte Leute es einfach nicht auf die Reihe kriegen, vernünftige Arbeit abzuliefern und erst auf Anfragen von Bürgern widerwillig Änderungen vollzogen werden.“63

Ähnliche frustrierte Empfindungen verbinden viele der „alteingesessenen“ und „aktiven“ Marxloher mit dem „Grüngürtelprojekt“ der Stadt Duisburg, das sich seit 2007 in der Durchführungsphase befindet. Auf ihrer Website schreibt die Stadt, Duisburg beabsichtige, seit dem Jahr 2007 in „Teilen von Marxloh einen qualitativ hochwertig gestalteten, öffentlich zugänglichen Grünbereich, den sogenannten Grüngürtel, als Puffer zwischen Industrie und Wohnbebauung zu realisieren“64. Es gehe darum, zum einen auf Grund der Feinstaub- und Lärmbelastung seitens der Industrie einen Abstand als „Immissionswall“65 zum Wohngebiet einzuhalten, aber auch darum, die Ortsteile „zu stabilisieren“66 und die „Lebensqualität zu verbessern“.67 Die Marxloher Pufferzone zwischen Industrie und Wohnviertel war bis dato besiedeltes Gebiet. Das sogenannte „Entenkarree“, ein industrienah gelegener Wohnbereich Marxlohs, sollte trotz der Proteste einiger Anwohner abgerissen werden und einer Grünfläche mit Freizeit- und Spielbereich Platz machen. Beim „Entenkarree“ handelt es sich der Stadt Duisburg zufolge um einen derjenigen Bereiche Marxlohs, „die von hohen Leerständen be-

63 Vgl. Website mit Informationen zum Schwelgernpark in Duisburg-Marxloh. Online unter:

http://www.schwelgernpark.de/Umbau/Alte_Schwimmbad/alte_schwimmbad.

html (letzter Abruf: 16.05.2014). 64 Vgl. Website der Stadt Duisburg zum „Grüngürtel Duisburg-Nord“. Online unter: http://www.duisburg.de/micro/eg-du/projekte_gruenguertel/gruenguertel_du_nord.php (letzter Abruf: 02.05.2014). 65 Vgl. Website der Stadt Duisburg „Übergreifende Informationen zum Projekt Grüngürtel Duisburg-Nord“ unter: http://www.duisburg.de/micro/ggn/infos/102010100000224 350.php (letzter Abruf: 02.05.2014). 66 Ebd. 67 Ebd.

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troffen sind und in denen sich die Gebäude häufig in einem sehr schlechten baulichen Zustand befinden“.68 Viele der „aktiven“ und „alteingesessenen“ Bewohner69 Marxlohs protestierten über Jahre hinweg und klagten sogar gegen den Abriss der Häuser. Sie wollten die Häuser retten und sanieren. Viele stießen sich vor allem an dem bundesweit erstmaligen Umstand, dass der Abriss durch ein privates Unternehmen zur Hälfte mitfinanziert wurde: Von den 71,9 Millionen Euro, die das Grüngürtelprojekt insgesamt kostete, übernahm die Firma Thyssen knapp 36 Millionen Euro.70 Ein wichtiger Geldgeber war damit das private Unternehmen Thyssen, womit sich viele Marxloher nicht abfinden wollten – nicht zuletzt aus dem Grund, weil dadurch das Argument der „Grenzwerteinhaltung der Immissionen“ ihrer Ansicht nach ad absurdum geführt werde. Dazu die 40jährige Sandra, eine der Marxloher „Aktiven“71: S: Thyssen hat Probleme, seine Grenzwerte einzuhalten. Sie haben aber auch überhaupt keine Lust, ihre Hochöfen zu sanieren. Und hier, gerade in diesen Gürteln, sind die Messwerte schlecht, und die Anwohner klagen. Und um die wegzuhaben, stehen die Messanlagen dann weiter hinten, und da sind die Werte auch nicht so schlecht. Und auf Grund der demographischen Entwicklung hat die Stadt vom Regierungspräsidenten die Auflage, so und soviel Häuser abzureißen. Die können es aber nicht bezahlen. Und Thyssen hat gesagt: „Jungs, reißt uns das hier ab und dann bezahlen wir euch das.“ Und so läuft das jetzt. Das ist Korruption.72

Trotz starker Widerstände seitens der Marxloher Bevölkerung wurde im April 2014 mit den Abrissarbeiten des „Entenkarrees“ begonnen. Das Projekt „Grüngürtel“, das im Jahr 2017 abgeschlossen sein soll, scheidet die Marxloher Stadtteilbevölkerung: Während die „Aktiven“ sich „angestachelt“ fühlen, jetzt erst recht weiterzukämpfen, haben die „Alteingesessenen“ bereits resigniert aufgegeben. Zukunftsoffen und zuversichtlich äußert sich allerdings niemand zu dem Projekt „Grüngürtel“.

68 Ebd. 69 Mehr über die „Alteingesessenen“ folgt unter Abschnitt 4.5. 70 Die Europäische Union übernahm die andere Hälfte der Kosten mit ebenfalls 36 Millionen Euro. Vgl. Website der Stadt Duisburg „Übergreifende Informationen zum Projekt Grüngürtel Duisburg-Nord“ unter: http://www.duisburg.de/micro/ggn/infos/1020 10100000224350.php (letzter Abruf: 02.05.2014). 71 Mehr zu den „Aktiven“ folgt unter Abschnitt 4.1. 72 „Aktive“, weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010.

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3.2.2 „Die Türken“ „Die Türken“ stehen bei der Marxloher Bevölkerung für eine Gruppierung von Personen, die sich aus drei verschiedenen Generationen zusammensetzt. Die meisten der Angehörigen der ersten Generation, die in den 1960er Jahren als „Gastarbeiter“ nach Marxloh gekommen waren, stammten ursprünglich aus dem Nordwesten der Türkei, was Marxloh bei vielen intern schmunzelnd den Spitznamen „Klein-Zonguldak“ eingebracht hat. Die an der türkischen Schwarzmeerküste gelegene Region Zonguldak verfügt wie das Ruhrgebiet über Kohlevorkommen und, ebenso wie im Ruhrgebiet, hatten sich auch hier mit der Zeit stahlverarbeitende Betriebe angesiedelt.73 Viele der „Gastarbeiter“ waren also bereits lange bevor sie ins Ruhrgebiet gekommen sind in der Kohle- und Stahlindustrie tätig, was sie attraktiv für die Duisburger Industrie machte. Die Generation der Marxloher „Gastarbeiter“ ist inzwischen aus dem aktiven Berufsleben ausgeschieden. Viele von ihnen gehören nun zu den sogenannten „Pendelmigranten“ und leben bis zu sechs Monate in der Türkei und den Rest des Jahres in Marxloh. Da aber auch nach der „Gastarbeiteranwerbung“ die Migrationsbewegungen aus der Türkei nach Deutschland weiterhin anhielten74, leben auch andere Personen einer ersten Generation in Marxloh, die jedoch nicht der „Gastarbeitergeneration“ angehören. Diese Personen sind meist in den 1980er oder 1990er Jahren nach Marxloh gekommen, viele von ihnen sind Heiratsmigranten und mit den Kindern der „Gastarbeiter“ verheiratet. Diese Personen haben inzwischen ebenfalls Kinder, die, wollen wir das Zählen von Generationen weiterverfolgen, so etwas wie einer „Generation zweieinhalb“ zuzuordnen wären, da ein Elternteil in erster, das andere bereits in zweiter Generation in Deutschland lebt. Unabhängig davon, welcher Generation sie zuzuzählen wären – für diese jüngeren Menschen hat sich in Marxloh im Vergleich zu den „Gastarbeitern“ einiges geändert: Fühlten sich ihre Eltern und Großeltern in Marxloh noch freundlich aufgenommen und leben nach wie vor gerne dort, monieren vor allem die gebildeteren jüngeren Personen, dass sie sich von der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptiert fühlen. Auch die älteren „Gastarbeiter“ betonen in unseren Gesprächen immer

73 Die Informationen stammen von einem Bewohner der Region Zonguldak, Erdoǧan Tan, die er auf seiner privaten Website veröffentlicht hat: http://www.singlix.com/ zonguldak/history.html (letzter Abruf: 02.06.2014). 74 Vgl. dazu eine anschauliche statistische Darstellung in: Landeszentrale für politische Bildung (2000): Türken bei uns. Texte und Materialien für Schülerinnen und Schüler (= Politik und Unterricht 3, 2000). S. 10.

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wieder, ihre Nachfahren hätten es mit türkischen Wurzeln schwerer, als sie es selbst früher gehabt hätten. So tun sich die Kinder und Enkelkinder beider ersten Generationen, die zum Teil im Vergleich zu ihren Eltern große Bildungsaufstiege vorzuweisen haben75, im Anschluss an ihren Schulabschluss oft schwer, eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle zu finden. Das erzeugt bei vielen dieser „Bildungsaufsteiger“ Frustration und Ratlosigkeit, weil sie vermuten, dass es nicht an ihrem Können, sondern an ihren „schwarzen Haaren“76 oder dem „türkischen Namen“77 liegt. So kommt es, dass einige von ihnen die Strategie entwickelt haben, die Herkunft ihrer Eltern oder Großeltern zu verschweigen. Auf Grund des Namens oder des äußeren Erscheinungsbildes ist dies aber nicht allen möglich. Eine andere Strategie entwickelten die Marxloher Geschäftsfrauen, die ebenfalls entweder nach ihrem Schulabschluss keine Ausbildungsstelle oder nach der Ausbildung keine Anstellung fanden und sich schließlich, oft nach einigen Jahren Arbeitslosigkeit, zur beruflichen Selbstständigkeit durch Geschäftsgründung entschlossen. Gemeinsam haben alle diese jüngeren Marxloher „Bildungsaufsteigerinnen“, dass sie sich von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert fühlen. Dies ist vielen vor allem deswegen unverständlich, weil viele von ihnen im Unterschied zu den ersten Generation(en) die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und meinen, damit ein deutliches Signal der Integrationsbereitschaft gesendet zu haben, zumal das Einbürgerungsprozedere von ihnen als kostenspielig und kompliziert wahrgenommen wird. Zwar besitzen viele von ihnen seit der Einführung des „Optionsmodells“78 im Jahr 2000, welches das bis dato geltende ius sanguinis79 durch das ius soli80 ergänzte, von Geburt an die deutsche Staatsange-

75 Vgl. dazu auch: Pott, Andreas (2009): Tochter und Studentin – Beobachtungen zum Bildungsaufstieg in der zweiten türkischen Migrantengeneration. In: King, Vera; Koller, Hans-Christoph (Hrsg.) (2009): Adoleszenz – Migration – Bildung. Bildungsprozesse Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund. 2. Auflage. Wiesbaden. S. 47-65. 76 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 77 Ebd. 78 Vgl. Website der deutschen Bundesregierung. Online unter: http://www.bundesregie rung.de/Content/DE/StatischeSeiten/Breg/IB/Einbuergerung/gp-optionsmodell.html (letzter Abruf: 03.06.2014). 79 Ius sanguinis benennt das Abstammungsprinzip, nach dem die Staatsbürgerschaft nur an Personen vergeben werden kann, deren Eltern bereits Staatsbürger des Staates sind oder waren.

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hörigkeit. Aber für die meisten in Deutschland geborenen Marxloher im Erwachsenenalter mit Eltern ohne deutschen Pass gilt diese Regelung nicht, da sie vor dem 1. Januar 2000 geboren wurden. Diejenigen von ihnen, deren Eltern nichtdeutsche Staatsbürger sind, müssen daher einen Antrag auf Einbürgerung stellen, für den sie verschiedene Voraussetzungen erfüllen81 und einen Betrag von 255 Euro82 entrichten müssen, bevor sie eingebürgert werden können. Wir werden noch sehen, dass diese Prozedur vielen bislang entweder zu aufwendig oder zu teuer erschien – zwei der meistgenannte Gründe dieser türkeistämmigen Marxloher dafür, die türkische Staatsangehörigkeit beizubehalten. Insgesamt leben 355683 Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit in Marxloh, weitere 2327 sind eingebürgerte deutsche Staatsbürger. Beide Gruppen bilden allgemeinhin die Gruppe der sogenannten „Türkeistämmigen“. Die Bezeichnung „türkeistämmig“ hat sich inzwischen vielerorts etabliert, da sie den Vorteil besitzt, dass sie nicht nur alle Generationen der Zuwanderer aus der Türkei zusammenfasst, sondern darüber hinaus neben ethnischen Türken auch andere in der Türkei lebende ethnische Gruppierungen, wie zum Beispiel Kurden oder Zaza, mit einschließt. Auch unter der in Marxloh lebenden türkeistämmigen Bevölkerung lassen sich sowohl ethnische, religiöse aber auch soziale Verschiedenheiten erkennen. In ethnischer Hinsicht sind in erster Linie ethnische Türken und Kurden zu unterscheiden, in religiöser Hinsicht vor allem Sunniten und Aleviten. Die auffallende Mehrheit der Marxloher Türkeistämmigen, zu denen ich Kontakt hatte, bezeichnet sich jedoch als „türkisch“ und rechnet sich dem türkischsunnitischen Staatsislam zu, der individuell mehr oder weniger intensiv praktiziert wird.84

80 Ius soli benennt das Geburtsortsprinzip, nach dem die Staatsbürgerschaft an Personen vergeben wird, die auf dem Staatsgebiet geboren wurden, auch wenn die Eltern nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. 81 Dazu zählen beispielsweise der Nachweis von ausreichenden deutschen Sprachkenntnissen, das Bestehen eines Einbürgerungstests, eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts und anderes mehr. Vgl. Website der deutschen Bundesregierung zum Thema „Einbürgerung“ unter: http://www.bamf.de/DE/Einbuergerung/InDeutschland/in deutschland-node.html (letzter Abruf: 03.06.2014). 82 Ebd. 83 Stadt Duisburg: 2013a. 84 Damit spiegelt Marxloh den Bundesdurchschnitt wider, nach dem sich 63 % der Zuwanderer aus der Türkei dem sunnitischen und 12 % dem alevitischen Islam zugehörig zählen. Vgl. dazu: von Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich (2001): Projekt Zuwanderung und Integration. Türken in Deutschland. Einstellungen zu Staat und Gesell-

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Innerhalb dieser verschiedenen Gruppierungen der türkeistämmigen Bevölkerung scheint es in Marxloh kaum zu Konflikten zu kommen. Differenzen werden zwar durchaus wahrgenommen und haben Einfluss auf Kontakte und Beziehungen untereinander, von „Konflikt“ kann jedoch nicht die Rede sein. Man scheint sich im Allgemeinen mehr über das Gemeinsame, weniger über das Unterscheidende zu definieren. Insbesondere angesichts der anhaltenden Zuwanderung von Personen aus Bulgarien und Rumänien scheinen sich viele der Türkeistämmigen zusammenzuschließen und sich gegenüber den neuzugewanderten Gruppen als die privilegiertere Zuwanderergruppe zu präsentieren. So sagt eine der „Aktiven“, die 40-jährige Sandra, die viele türkeistämmige Marxloher zu ihrem Netzwerk zählt: S: Da hat ein türkischer Freund zu mir gesagt: „Also ehrlich, diese Ausländer, die machen uns hier alles kaputt! Wir sind hier zu Hause, aber die kommen fremd, und mit Rappelketten gehen die hier durch den Stadtteil.“ Ich sagte: „Hey Cem, schüttel dich mal, die sind ganz neu hier. Bleib locker und lad die doch mal zu ’nem Tee ein.“85

Inzwischen scheinen sich viele der türkeistämmigen Stadtteilbewohner als die Etablierten zu fühlen, die Neuzuwanderer sind die Außenseiter, denen man zunächst erst einmal mit Skepsis begegnet.86 Wir werden darauf später noch zurückkommen.87 Halten wir an dieser Stelle zunächst einmal nur fest, dass seit dem Beginn der „Gastarbeiter“-Anwerbung in den 1960er Jahren mit der Zeit die Anzahl türkeistämmiger Menschen im Stadtteil zugenommen hat, was eine ethnische, religiöse und soziale Vielfalt hervorgebracht hat. Letzteres ist in Marxloh vor allem dadurch gekennzeichnet, dass immer mehr der jüngeren Personen im Vergleich zu ihren Eltern im Bildungsbereich aufsteigen – aber sich zugleich, wie wir noch sehen werden, auch immer weniger durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft angenommen fühlen.

schaft. Arbeitspapier 53. Hrsgg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sankt Augustin. S. 3. Online unter: http://www.kas.de/wf/doc/kas_12-544-1-30.pdf (letzter Abruf: 02.06.2014). 85 „Aktive“, weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010. 86 Vgl. dazu auch: Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (Hrsg.) (2001): „Eene meene Muh und raus bist du?!“ Lebenswelten türkischer Jugendlicher in benachteiligten Stadtteilen. Dortmund. S. 10-11. 87 Mehr dazu folgt unter Abschnitt 5.2.

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3.2.3 „Die Bulgaren“ Die Bezeichnung „Bulgaren“ steht bei den Bewohnern Marxlohs stellvertretend für Zuwanderer unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeiten aus Bulgarien. Je nach Eigendefinition der Befragten kann ihre ethnische Selbstzuschreibung variieren und sich von Situation zu Situation wandeln. In der Hauptsache sind unter den Neuzuwanderern ethnische Eigenbezeichnungen wie „muslimische Bulgaren“, „muslimische Bulgarientürken“ sowie „muslimische Roma“ anzutreffen. Zunehmend bezeichnen sich die Personen aber auch als „christlich-evangelikale Bulgarientürken“ oder „christlich-evangelikale Roma“, die neben bulgarisch oft türkisch, manchmal darüber hinaus auch spanisch, griechisch, holländisch und eine Variante des Romanes sprechen. Wie man sich selbst verortet, hängt zum einen davon ab, aus welcher Region des Landes man kommt, aber auch, in welcher Situation und von welchem Gesprächspartner man nach seiner ethnischen Selbsteinordnung gefragt wird. Gegenüber türkeistämmigen Marxlohern gibt man eher an, muslimischer Bulgarientürke zu sein. Gegenüber ethnischen Bulgaren verortet man sich eher als christlicher Bulgare, gegenüber muslimischen Roma als muslimischer Rom.88 Eine relativ neue Entwicklung ist die evangelikale Bewegung unter einigen der Neuzuwanderer aus Bulgarien, die zu ihrer aktiven ethnischen Selbstabgrenzung dient und den Vorteil hat, fern der bestehenden ethnischen Gruppen und deren Stigmatisierung ein eigenständiges Gruppenbewusstsein auszubilden. Wir werden darauf noch näher zu sprechen kommen.89 Die ersten Zuwanderer aus Bulgarien sind bereits nach der politischen Wende Ende der 1980er Jahre nach Marxloh gekommen. In dieser Zeit kam es in Bulgarien zu einer starken ethno-nationalen Bewegung, die Auswirkungen auf den Status der ansässigen Minderheiten hatte. Die Gruppe der „Bulgarientürken“ lebt somit im Vergleich zu den „Gastarbeitern“ aus der Türkei erst relativ kurze Zeit in Marxloh. Die weitaus größere Welle migrierte erst nach der EUOsterweiterung im Jahr 2007 in den Stadtteil. Bulgarien und Rumänien zählten ab diesem Zeitpunkt zur EU, und so sind entgegen bevölkerungswissenschaftlicher Prognosen90 schon im Jahr 2007 die ersten Zuwanderer aus Bulgarien nach

88 Ebd. 89 Mehr dazu folgt unter Abschnitt 5.4.2. 90 Fassmann, Heinz; Münz, Rainer (2002): Die Osterweiterung der EU und ihre Konsequenzen für die Ost-West-Wanderung. In: Bade, Klaus J.; Münz, Rainer (Hrsg.) (2002): Migrationsreport 2002. Fakten – Analysen – Perspektiven. Frankfurt am Main. S. 61-118.

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Duisburg gekommen. Zunächst hatten sie im Stadtteil Hochfeld gesiedelt, später aber auch vermehrt in Marxloh. 793 Personen mit bulgarischer Staatsangehörigkeit leben inzwischen in Marxloh, und stetig ziehen weitere zu.91 Marxloh ist damit nach Hochfeld der Stadtteil Duisburgs, in dem die höchste Anzahl bulgarischer Staatsbürger lebt. Warum gerade Duisburg neben Städten wie Dortmund und Berlin Migrationsziel vieler Personen aus Bulgarien ist, lässt sich aus dem Zusammenwirken verschiedener Einflussfaktoren erklären: Zunächst ist Duisburg auf Grund seiner Lage in der Nähe zu den Niederlanden und zu der „schicky-micky“-Großstadt Düsseldorf für viele Personen, die flexible Arbeitsmöglichkeiten suchen, ein geeigneter Wohnort. In den Niederlanden kann man zur Spargelsaison als Erntehelfer arbeiten und in Düsseldorf finden die Zuwanderer im Hotel- und Gastronomiegewerbe Möglichkeiten, um mit Putzjobs Geld zu verdienen. Duisburg bietet zudem im Vergleich zu anderen Städten ausreichend Wohnraum. Die Zuwanderer aus Bulgarien wohnen vorwiegend in den Stadtteilen Hochfeld (ca. 46 %), Marxloh (ca. 14 %) und Bruckhausen (ca. 9 %).92 Es handelt sich dabei um die Stadtteile Duisburgs mit dem größten Wohnungsleerstand. Hier kann man zu relativ günstigen Preisen unterkommen – wobei sich dies allmählich zu ändern beginnt: Die Mieten werden durch die Vermieter inzwischen gezielt und drastisch angehoben. Duisburg ist aber auch auf Grund der bestehenden deutsch-türkischsprachigen Infrastruktur attraktiv für die Neuzuwanderer. Da viele der aus Bulgarien zugewanderten Stadtteilbewohner der türkischen Minderheit Bulgariens angehören, können sie sprachlich in Duisburg gut an die bereits bestehende Infrastruktur anknüpfen. Schlussendlich ist Duisburg als Migrationsziel aber auch deswegen begehrt, weil die Stadt etwa im Vergleich zum benachbarten Dortmund keinen restriktiven Kurs fährt, sondern auf die Integration der Neuzuwanderer setzt. Diese seien, wie es den Medien zu entnehmen ist, „gekommen und zu bleiben“93, was von der Stadt Duisburg auch so akzeptiert und mit einem „nachhaltigen und integrativen Ansatz“94 verfolgt wird,

91 Duisburger Arbeitskreis EU-Neubürger (2013): Interne Statistik des Duisburger Arbeitskreises EU-Neubürger 2013. 92 Ebd. 93 Michel, Mike (2011): Gekommen, um zu bleiben. In: Rheinische Post online vom 29.11.2011. Online unter: http://www.rp-online.de/niederrhein-nord/duisburg/nach richten/gekommen-um-zu-bleiben-1.2620623 (letzter Abruf: 15.12.2014). 94 Vgl. Handlungskonzept der Stadt Duisburg zum Umgang mit der Zuwanderung von Menschen aus Südost-Europa vom 28.10.2011. Online unter: https://www.duisburg. de/ratsinformationssystem/bi/vo0050.php?__kvonr=20058906 (letzter Abruf: 13.08. 2012).

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da alles andere weder rechtlich durchsetzbar noch langfristig machbar erscheint. So wanderten infolge von Kettenmigrationen stetig weitere Personen aus Bulgarien zu, so dass man bei der Stadt trotz finanzieller Engpässe Duisburgs großen Handlungsbedarf in den Bereichen Bildung, Arbeit, Wohnen und Gesundheit sieht, um, wie es heißt, das Zusammenleben in der Stadt zu verbessern.95 Die Route der Zuzüglinge aus Bulgarien führte sowohl direkt aus Bulgarien ins Ruhrgebiet, als auch nicht selten über Länder wie Griechenland, Spanien, die Niederlande oder Großbritannien. So kommt es, dass einige der Zuwanderer mehrere Sprachen fließend beherrschen, oder auf den Straßen Duisburgs Autos mit englischem oder holländischem Kennzeichen zu sehen sind, deren Insassen aber einen bulgarischen Pass besitzen. Während die ersten Zuwanderer ursprünglich noch aus der nordostbulgarischen Stadt Schumen stammten, kamen später viele aus Sofia und Pasardschik, hier vor allem aus den jeweiligen Armutsvierteln der Städte. Viele Autokennzeichen in Marxloh beginnen daher mit den Buchstaben PA, was auf die Herkunft aus der Region Pasardschik Hinweise gibt. Es kommt aber auch vor, dass in den Autos mit bulgarischem Kennzeichen rumänische Staatsbürger sitzen, die ihr Auto wegen steuerlicher Vorteile in Bulgarien angemeldet haben. Das Autokennzeichen ist also kein sicheres Indiz für die Herkunft der Halter.96 Weitere Personen aus Bulgarien, deren Migrationsziel eigentlich die ebenfalls im Ruhrgebiet gelegene Stadt Dortmund gewesen war, die aber von dort verdrängt97 wurden und dann nach Duisburg ausgewichen waren, kommen ursprünglich aus der Stadt Plovdiv. Die meisten stammen aus dem dortigen zentral gelegenen Romaghetto Stolipinovo, oder aus der etwa zehn Autominuten entfernten Romasiedlung Seker Mahala. In Stolipinovo leben rund 60.000 Personen in Häusern, die in der Zeit des Kommunismus gebaut wurden. Sowohl in Seker Mahala als auch in Stolipinovo gibt es Probleme bei der Stromversorgung und Kanalisation. Die Kinder werden in einer Romaschule unterrichtet, die Grundschule und weiterführende Schule in einem ist. Eine bulgarische Marxloher Sozialarbeiterin, die bereits in der ersten Zuwandererwelle in den 1990er Jahren

95 Ebd. 96 Mehr dazu folgt unter Abschnitt 4.7. 97 Die Stadt Dortmund verfolgt eine Verdrängungsstrategie der Neuzuwanderer und hat im Jahr 2011 den offiziellen „Straßenstrich“, auf dem sich vor allem die „Frauen aus Bulgarien“ prostituierten, geschlossen. Die meisten der dortigen Zuwanderer kamen aus der Stadt Plovdiv. In Plovdiv heißt ein ganzer Häuserblock inzwischen „Dortmund“, weil fast jeder der dortigen Bewohner einen Verwandten hat, der in Dortmund lebt. Die Stadt steht dort für Reichtum.

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aus Bulgarien gekommen war und von sich sagt, dass sie Plovdiv sehr gut kenne und häufig Kontakt zu den Zuwanderern aus Bulgarien habe, schildert die dortigen Lebensumstände folgendermaßen: O: Also besonders die aus Plovdiv, Stolipinovo und es gibt auch Seker Machala, das sind so mehrere Ghettos eigentlich, die haben keine Kanalisation, keinen Strom. Die Kinder wühlen im Müll, damit die überhaupt etwas zu essen bekommen. Es ist absoluter Quatsch, dass da im Moment Sozialarbeiter etwas regeln. Also ich war da, und ich fahre jeden Sommer dort hin, und es ist wirklich sehr, sehr schwierig. […] Diejenigen, die aus Bulgarien kommen, und dieses Stolipinovo dieses Ghetto in Zentralplovdiv, die haben dort kaum die Schule besucht. Die sind da angemeldet, klar, es gibt nur eine Schule für die Romakinder. Grundschule mit weiterführender Schule. Die Bedingungen sind katastrophal. Und die gehen kaum zur Schule.98

„Seit der Demokratie“99, erklärt mir die bulgarientürkische Yıldız, hätten sie ihre Arbeitsplätze in staatlichen Firmen verloren und müssten nun auf andere Weise für ihren Lebensunterhalt sorgen. 18 Euro Kindergeld100 hätten dafür nicht ausgereicht. Um zu etwas Geld zu kommen, hätten sie alte Elektrogeräte gekauft, zerlegt und die Teile, die noch gebraucht werden konnten, weiterverkauft. Fünf bis sechs Lewa101 seien auf diese Weise pro Gerät zusammen gekommen.102 Hierbei handelt es sich um eine Art, Geld zu verdienen, die auch in Marxloh weiterhin praktiziert wird: Immer wieder sieht man alte, aufgeschraubte Fernseher, Kühlschränke und PC-Bildschirme abgekippt an den Straßenrändern liegen. Ähnlich wie in Plovdiv gestaltet sich auch die Situation in der zentralbulgarischen Stadt Pasardschik. Das dortige Viertel der Roma wird „Istok“ (= Ost) ge-

98

Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013.

99

Gemeint ist die Systemwende im Jahr 1989.

100 Kindergeld wird für jedes Kind unter 18 Jahren ausgezahlt, vorausgesetzt die Familie hat in den vorausgehenden Monaten nicht mehr als 180 Euro pro Kopf verdient. Der Durchschnittslohn eines Verdieners in Bulgarien beträgt 300 Euro. Vgl. die Homepage der Bundesagentur für Arbeit unter: http://www.ba-auslandsvermittlung. de/lang_de/nn_6848/DE/LaenderEU/Bulgarien/Arbeiten/arbeiten-knoten.html__nnn =true#doc6852bodyText9 (letzter Abruf: 15.12.2014). 101 Das entspricht ungefähr 2-3 Euro. 102 Eine detaillierte Darstellung der Verhältnisse in Plovdiv erfolgt in dem Dokumentationsfilm: Peseckas, Hermann; Kraus, Andreas (2009): „‚Im Ghetto.‘ Die Roma von Stolipinovo.“ Fernsehdokumentation, WDR, 2010. Online unter: http://www.studiowest.net/im-ghetto-die-roma-von-stolipinowo (letzter Abruf: 15.12.2014).

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nannt, und in den Medien ist von „Apartheit“ die Rede: Rund 16.000 Roma leben hier in Plattenbauten aus den 1980er Jahren räumlich segregiert von der bulgarischen Mehrheitsgesellschaft, ohne Arbeit und oft ohne Möglichkeiten für die Kinder, zur Schule zu gehen.103 Roma seien hier, so ist es den Medien immer wieder zu entnehmen, großen Anfeindungen und sogar teils pogromartigen Überfällen ausgesetzt.104 Roma trauten sich bei Umfragen oft nicht zu sagen, dass sie Roma seien. Gleichzeitig geben aber zumindest in Marxloh einige Personen an, dass sie wirklich keine Roma (mehr) seien und wieder andere wissen gar nicht so recht, als was sie sich nun bezeichnen sollen: Es ist der Geburtstag von Yıldız’ Mann Dursun, von dem ich telefonisch eine Stunde zuvor spontan zum festlichen Abendessen eingeladen wurde. Bei bulgarischem Sauerkrauteintopf und Bier sitze ich inmitten einer lustigen Männerrunde und werfe die Frage in den Raum, wer von den Anwesenden hier denn eigentlich Rom sei. Sie alle seien es, sagt Dursun und deutet der Reihe nach auf alle Männer im Raum. „Nein“, protestiert sein Sitznachbar. Er könne kein Romanes sprechen, also sei er auch kein Rom. Die Männer sind nachdenklich geworden. Nun wollen sie von mir als Wissenschaftlerin wissen, was denn einen Rom als solchen ausmache. Ich gebe mich ratlos, denn genau das wollte ich ja eigentlich gerade von ihnen wissen.105

Die ethnische Identität der in Marxloh lebenden Menschen aus Bulgarien ist ausgesprochen schillernd. Bei ihnen zeigt sich noch deutlicher als bei anderen Gruppen im Stadtteil, wie es zu hybriden Verschmelzungen kultureller Wertund Normvorstellungen kommen kann. Sie sprechen türkisch, bulgarisch und manchmal, entsprechend der Länder, über die sie gekommen sind, auch englisch, griechisch, spanisch, französisch – manche beherrschen außerdem auch eine Variante des Romanes. Wenn sie nach ihrem Namen gefragt werden, nennen sie einen türkischen Vornamen. Im Pass steht jedoch ein bulgarischer Vorname.106 Manche sagen von sich, insbesondere diejenigen, die aus Schumen kommen, sie

103 Vgl. Matter, Max (2015): Nirgendwo erwünscht. Zur Armutsmigration aus Zentralund Südosteuropa in die Länder der EU-15 unter besonderer Berücksichtigung von Angehörigen der Romaminderheiten. Schwalbach. S. 131-134. 104 So wurden in der Stadt Maglizh im Herbst 2012 30 illegal errichtete Roma-Häuser abgerissen: Vgl. N.N. (2012b): Ein Stadtviertel, kurz platt gemacht. In: Die Zeit online vom 27.09.2012. Online unter: http://www.zeit.de/politik/ausland/2012-09/fsroma-bulgarien-2 (letzter Abruf: 15.12.2014). 105 Forschungstagebuch vom 27.10.2012. 106 Vgl. dazu Abschnitt 5.2.

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seien „Türken aus Bulgarien“. Andere, vor allem diejenigen, die aus Plovdiv gekommen sind, aber auch die Zuwanderer aus Pasardschik, bezeichnen sich in bestimmten Situationen als „Roma“. Dabei schwankt die Selbstverortung allerdings, wie oben bereits dargestellt, je nach Kontext: Mal bezeichnet man sich als „Rom“, mal als „Bulgarientürke“, mal als „Bulgare“. Behalten wir also an dieser Stelle als wesentlich im Kopf, dass es sich, wie bei den anderen Marxloher Gruppen, auch bei „den Bulgaren“ keineswegs um eine homogene Gruppe handelt, sondern um eine heterogene Zusammensetzung verschiedener Individuen, die darüber hinaus über ethnische und religiöse Mehrfachidentitäten verfügen können.107 3.2.4 „Die Roma“ In sozialwissenschaftlichen Kreisen ist es inzwischen Konsens, dass es sich bei „den“ Roma um keine ethnisch homogene Gruppe handelt.108 In Marxloh werden sie dennoch oft als „die Roma“ bezeichnet, wohl auch deswegen, weil niemand so recht über deren ethnische Selbstbezeichnungen, Herkunftsstaaten oder Aufenthaltsstatus Bescheid weiß. Die ersten Personen, die man als „die Roma“ betrachtete und mit denen die Stadt Duisburg erstmals in Kontakt gekommen war, siedelten im Jahr 2008 im Stadtteil Bruckhausen. Ein evangelikaler Pfarrer hatte einige dieser Menschen in seinem Haus untergebracht, weitere kamen in Häusern unter, die ohne Heizung ausgestattet waren oder campierten auf der Straße – was die Polizei allerdings rasch zu unterbinden wusste. Als die Gruppe den Stadtteil schließlich verließ – einige der Stadtteilbewohner sagen, sie seien vertrieben worden – blieben zum Ärger vieler Bruckhausener Berge von Sperrmüll liegen. Niemand wusste im Nachhinein mehr so recht, was aus den Vertriebenen geworden war. Als dann kurz darauf eine weitere Gruppe, von der man annahm, dass es ebenfalls Roma wären, im Stadtteil Hochfeld gesichtet wurde, nahm man auch von ihr zunächst an, dass es sich wie bei den Bruckhausener Roma um Menschen handelte, die über keinen gesicherten Aufenthaltsstatus verfügten. Sie würden, so dachte man, sich nur für eine gewisse Zeit im Stadtteil aufhalten und schließlich ebenfalls weiterziehen.109 Relativ rasch stellte sich aber heraus, dass

107 Mehr dazu folgt unter Abschnitt 4.8. 108 Vgl. dazu beispielsweise Matter: 2015, S. 54-58. 109 Herberhold, Gregor; Mohrs, Willi (2008): Bruckhausen atmet auf. In: WestfälischAllgemeine Zeitung online vom 12.08.2008. Online unter: http://www.der westen.de/staedte/duisburg/Bruckhausen-atmet-auf-id1414739.html (letzter Abruf: 15.12.2014).

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es Menschen mit europäischem Pass waren, die seit dem EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens im Januar 2007 nach Duisburg zugewandert waren und sich teilweise der ethnischen Gruppe der Bulgarientürken und teilweise aber auch den bulgarischen oder rumänischen Roma zuzählen (ließen). In Duisburg weiß man jedoch, dass die ethnische Fremdzuschreibung der Gruppe als Roma nicht unproblematisch ist. Viele, insbesondere der aus Bulgarien zugewanderten Menschen, haben große Schwierigkeiten damit, als „Romni“ oder als „Rom“ bezeichnet zu werden. Im Herkunftsland waren viele auf Grund ihrer beziehungsweise der ihnen zugeschriebenen ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert und gesellschaftlich ausgeschlossen worden. Nun hoffen sie, in Deutschland, frei von antiziganistischen Vorurteilen, Fuß fassen zu können. Auf offizieller Ebene bemüht man sich seitens der Stadt Duisburg daher, möglichst keine ethnischen Unterschiede zu machen. Die Personen haben einen bulgarischen oder rumänischen Pass und werden daher statistisch als „Bulgaren“ oder „Rumänen“ geführt. So werden sie dann auch entweder als solche oder, sofern beide Gruppen zusammen gemeint sind, als sogenannte „EU-Neubürger“110 bezeichnet. Dass auf offizieller Ebene nicht zwischen Roma und Nicht-Roma unterschieden wird, bedeutet aber nicht, dass auf der Ebene des direkten zwischenmenschlichen Zusammentreffens ethnische Zuschreibungen nicht doch eine Rolle spielen. Gerade in Bezug auf Roma werden in Marxloh oft antiziganistische Stigmata bedient, die bereits seit Jahrhunderten am Wirken sind. So erwidert etwa die 21-jährige türkeistämmige Merve auf die Frage, wie sie die Zuwanderer aus Rumänien wahrnehme: „Die klauen und können sich nicht mal richtig anziehen!“111 Mit dieser Aussage meint Merve allerdings nicht in erster Linie die Zuwanderer aus Bulgarien. Gemeint sind vielmehr die rumänischen Staatsbürger im Stadtteil, von denen viele im Unterschied zu den meisten Zuwanderern aus Bulgarien stets eine klare Antwort parat haben, wenn sie nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit gefragt werden. Sie seien Roma, erklären sie auch mir gegenüber, genauer gesagt, rumänische Kalderasch. Im Ganzen seien es nach ihrer eigenen Selbsteinschätzung rund 200, die im Stadtteil lebten. In Anbetracht dessen, dass insgesamt 290 rumänische Staatsbürger in Marxloh registriert sind112, liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei dieser Gruppe nahezu ausschließlich um Kalderasch handelt.

110 Vgl. Website der Stadt Duisburg unter: http://www.duisburg.de/micro/eg-du/news/ N_Hochf_Arbeitskreis_Neu_EU_Buerger.php (letzter Abruf: 23.06.2014). 111 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 21 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010. 112 Duisburger Arbeitskreis EU-Neubürger: 2013.

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Fast alle Marxloher Kalderasch stammen ursprünglich aus der Stadt Bukarest, wo im sogenannten „Sector 5“113 der Stadt fast ausschließlich Roma in nahezu ghettoähnlichen Verhältnissen leben. In Rumänien stellen die Roma nach den Ungarn die zweitgrößte Minderheit. Den genauen Bevölkerungsanteil zu bestimmen ist jedoch, wie auch andernorts, schwierig.114 Viele der rumänischen Roma ordnen sich entweder der rumänischen Mehrheit oder den im Land lebenden Minderheiten, also den Ungarn oder den Türken, zu. Dass jemand, wie die rumänischen Kalderasch in Marxloh, offen sagt, „Ţigani“ (die offizielle Bezeichnung in Rumänien ist aber im Singular „Rroma“ beziehungsweise im Plural „Rromi“) zu sein, ist eher selten. Meist verweigern Roma aus Angst, diskriminiert zu werden, die Selbstbezeichnung als Romni oder Rom.115 Schätzungen sprechen von insgesamt 10 Prozent Romaanteil an der rumänischen Bevölkerung, die jedoch keine homogene Minderheit stellen, sondern in verschiedene Untergruppen zerfallen, wie die Corturari/Ţigani nomazi (= „Zeltzigeuner“), die Băeși (= „Korbflechter“), die Țigani de mătasă (= „Seidenzigeuner“) und die für uns hier besonders bedeutenden Kalderasch (= „Kesselflicker“).116 Die Lebenssituation der Roma in Rumänien, von wo die Marxloher Kalderasch herstammen, gleicht der in anderen osteuropäischen und ehemals kommunistischen Ländern. Während sie in der Zeit des Kommunismus nahezu alle Arbeit hatten, gehörten sie nach der politischen Wende im Jahr 1989 zu denjenigen, die als erste ihren Arbeitsplatz verloren. Kaum jemand ging danach noch dem ehemaligen Handwerk nach. „Alles wegen Privatisierung“, erklärt mir die 46-jährige Kalderasch Antonia. Auch sie hatte bis zum Zusammenbruch des Kommunismus noch vom Handwerk gelebt und war mit ihrer Familie fahrend in Rumänien umhergezogen. Der Transformationsprozess Rumäniens gestaltete sich jedoch nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht für die Roma schwierig: Menschenrechtsverletzungen gegenüber den im Land lebenden ethnischen und reli-

113 N.N. (2011): „Ghetto Bucharest Sector 5 Ferentari.“ Online unter: http://www. youtube.com/watch?v=xUHK30q553k (letzter Abruf: 15.12.2014). 114 Die Zahlen belaufen sich auf 700.000 bis 2,5 Millionen Roma. 115 Hinzu kommt, dass viele Roma nach wie vor keine Papiere haben und somit in den Befragungen unberücksichtigt bleiben. 116 Die Kalderasch leben vorwiegend in oder stammen aus slawischen Ländern. Es ist möglich, dass die Bezeichnung „Kalderasch“ eine frühere Bezeichnung des Begriffs „Rom“ ist. Die abgekürzten Formen dieser Bezeichnung finden sich nämlich auch zur Benennung von Romagruppen in Spanien (Calé/Kalé), in Wales (Kale) und in Finnland (Kaale) – es handelt sich aber auch hier um Bezeichnungen, deren Ursprung unbekannt ist.

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giösen Minderheiten, ganz besonders gegenüber Roma, waren in der Zeit von 1990 bis 1995 nicht selten. Infolge von teilweise pogromartigen Übergriffen, in denen Roma angegriffen und deren Häuser in Brand gesteckt wurden, suchten Roma in anderen europäischen Ländern um Asyl – viele auch in Deutschland. Andere wanderten nach Ungarn oder in die Türkei aus. Von 1996 bis 2002 migrierten schließlich viele nach Italien und Spanien und seit 2002 auch nach Portugal sowie nach Großbritannien.117 Auf internationalen Druck hin wurde auf politischer Ebene aktiv eine Verbesserung der Lage der Minderheiten in Rumänien angestrebt, und so gelten die Roma in Rumänien seit dem Jahr 1991 als anerkannte nationale Minderheit. Dennoch werden sie weiterhin im Lebensalltag oft benachteiligt und leben nicht nur räumlich „am Rande der Gesellschaft“. Die Europäische Union wies in verschiedenen Berichten darauf hin, dass es auch im Arbeits- und Bildungsbereich im Vergleich zu der rumänischen Mehrheitsgesellschaft weiterhin häufig zu Ungleichbehandlungen komme.118 So besuchten etwa nur 21 Prozent der Romakinder im Alter zwischen 15 und 18 Jahren eine Schule. Sie würden zudem meist in segregierten Schulen oder Klassen unterrichtet, was neben Diskriminierung auch mit ihrer räumlich segregierten Wohnsituation zu tun habe. Denn, so heißt es weiter, 66 Prozent der Roma in Rumänien lebten wie ehemals die Marxloher Kalderasch in Bukarest in Gegenden, die nahezu ausschließlich von Roma bewohnt119 und zum Teil sehr weit unter dem durchschnittlichen Wohnstandard in Rumänien liegen würden120 Besonders von Armut betroffene Roma seien dort sogar Vertreibungen ausgesetzt.121

117 Vgl. Website „Migration und Bevölkerung“, betrieben durch das Netzwerk Migration in Europa e.V. und die Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Eintrag „Länderprofil Rumänien.“ Online unter: http://www.migration-info.de/artikel/200709-26/laenderprofil-rumaenien (letzter Abruf: 03.06.2014). 118 European Commission (2011): Strategy of the government of Rumania for the inclusion of the Romanian citizens belonging to Roma minority for the period 2012-2020. Ohne Ort. S. 7. Online unter: http://ec.europa.eu/justice/discrimination/files/roma_ romania_strategy_en.pdf (letzter Abruf: 13.12.2014). 119 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2009c): EU-MIDIS. Erhebung der Europäischen Union zu Minderheiten und Diskriminierung. Erster Bericht der Reihe „Daten kurz gefasst“: Die Roma. Budapest. S. 4. Online unter: http://fra.europa. eu/fraWebsite/attachments/EU-MIDIS_ROMA_DE.pdf (letzter Abruf: 03.06.2014). Pro Land wurden 500 Roma befragt. 120 Vgl. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2009a): Housing conditions of Roma and Travellers in the European Union. Comparative Report. Wien. Der Bericht ist in englischer Sprache online verfügbar unter: http://fra.europa.eu/sites/

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Diskriminierung, darin sind sich die Marxloher Kalderasch zumindest mir gegenüber aber einig, sei nicht der Grund gewesen, weswegen sie Rumänien verlassen hätten und nach Marxloh gekommen waren. Sie seien gekommen, weil es ihnen in Rumänien vor allem ökonomisch nicht gut ging.122 Die Sozialhilfe, die sie dort als gesamte Familie bekommen hätten, habe gerade dazu gereicht, die Heizkosten zu begleichen. Aussicht auf Arbeit habe es in Rumänien für sie, von denen viele noch nie die Schule besucht hätten, jedoch nicht gegeben. Und da man bereits Bekannte und Verwandte in Marxloh hatte, reiste man schließlich ebenfalls dorthin, weil man hoffte, dort Arbeit zu finden123 sowie seinen Kindern ein besseres Leben bieten zu können.124 Dabei liefen die Migrationswege aber wie bei den Personen aus Bulgarien auch bei den Menschen aus Rumänien oft nicht direkt nach Marxloh, sondern auffallend oft über Spanien.125 Spanien fungierte für viele zunächst als eigentlich angestrebtes Zielland, aber auf Grund der Wirtschaftskrise im Jahr 2012 brachen viele der Arbeitsmöglichkeiten, in

default/files/fra_uploads/703-Roma_Housing_Comparative-final_en.pdf (letzter Abruf: 03.06.2014). 121 Amnesty International (2009): Roma in Italien und Rumänien. Rechtswidrige Zwangsräumungen – Alltag für Roma. Ohne Ort. Online unter: http://www.amnesty. de/mit-menschenrechten-gegen-armut/wohnen-wuerde/rechtswidrige-zwangsraeum ungen-alltag-fuer-roma (letzter Abruf: 03.06.2014). 122 Armut und Rassismus sind die von Roma am häufigsten genannten Gründe dafür, sich in anderen EU-Ländern niederzulassen. Armut wird jedoch öfter und spontaner als Grund genannt als Rassismus. Vgl. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2009b): Die Situation von Roma-EU-Bürgern, die sich in anderen EUMitgliedstaaten niederlassen. Brüssel. S. 8; 22. Online unter: http://fra.europa. eu/sites/default/files/fra_uploads/705-090210-ROMA-MOVEMENT-COMPARA TIVE-final_DE.pdf (letzter Abruf: 03.06.2014). 123 Vgl. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2009b): Die Situation von Roma-EU-Bürgern, die sich in anderen EU-Mitgliedstaaten niederlassen. Brüssel. S. 23. Online unter: http://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/705-090210ROMA-MOVEMENT-COMPARATIVE-final_DE.pdf (letzter Abruf: 03.06.2014). 124 Der Wunsch auf eine bessere Zukunft für die Kinder wird immer wieder in europaweiten Befragungen zur Motivation von Roma, sich in einem anderen EU-Land niederzulassen, genannt. Vgl. European Union Agency for Fundamental Rights (FRA): 2009b, S. 23. 125 Spanien war nicht zuletzt auf Grund der sprachlichen Nähe zwischen dem Spanischen und dem Rumänischen ein häufig angesteuertes Migrationsziel von Menschen, die aus Rumänien auswanderten.

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denen Roma tätig waren, weg, und die Wanderungsbewegung ging weiter. Wie bei den Zuwanderern aus Bulgarien hat die Migration nach Marxloh also auch bei den Zuwanderern aus Rumänien primär wirtschaftliche Gründe.

4. Die Frauen

Bereits dieser vorausgegangene kurze Blick auf „die Deutschen“, „die Türken“, „die Bulgaren“ und „die Roma“ zeigt, welche unterschiedlichen nationalen, sozialen, religiösen und ethnischen Hintergründe bei den Marxlohern anzutreffen sind. Angesichts dessen wird es den Leser also nicht überraschen, dass, wenn wir uns nun mit dem weiblichen Teil der Marxloher Bevölkerung befassen, die alleinige Kategorie „Geschlecht“ zur näheren Beschreibung ihrer Lebenswelten1 nicht ausreicht.2 Die Frauen als Einheit existieren in Marxloh ebenso wenig wie andernorts. Nun ist der Bedarf einer weiteren Ausdifferenzierung der Kategorie „Geschlecht“ natürlich keineswegs neu, sondern ging bereits in den 1960er Jahren von der Intersektionalitätsforschung im anglo-amerikanischen Raum aus.3 Schon in dieser Zeit warnte man vor einer Homogenisierung der Kategorie „Ge-

1

Der Begriff „Lebenswelt“ geht zurück auf den Philosophen Edmund Husserl und wurde später von seinem Schüler Alfred Schütz aufgegriffen. Mit Lebenswelt meint Husserl die Welt, die wir individuell und selbstverständlich erleben, also die Basis unseres alltäglichen Denkens und Handelns. Schütz übernimmt den Begriff später als „alltägliche Lebenswelt“. Vgl. Schütz, Alfred; Luckmann, Thomas (1979): Strukturen der Lebenswelt. Bd. 1. Frankfurt am Main. S. 25.

2

Dies ist der Ausgangspunkt der Intersektionalitätsanalyse. Mehr dazu folgt unter Abschnitt 5.

3

Das Konzept der Intersektionalität geht zurück auf die Juristin Kimberlé Crenshaw. Crenshaw stellt in ihrem Konzept verschiedener Diskriminierungsformen (race, class und gender) vor und betont, dass es sich um mehr als nur „the sum of racism and sexism“ handele. Verschiedene Dimensionen der Benachteiligung würden sich nicht addieren, sondern kreuzen (intersection = Straßenkreuzung). Vgl. Crenshaw, Kimberlé W. (1994): Mapping the Margins. Intersectionality, Identity Politics and Violence against Women of Colour. In: Fineman, Martha Albertson; Mykitiuk Roxanne (Hrsg.) (1994): The public nature of private violence. New York. S. 93-118.

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schlecht“ und wies auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung weiterer Kategorien der „Strukturierung und symbolischen Repräsentation“4 hin. Welche Kategorien dies jedoch genau sein sollen und in welcher Gewichtung sie zu analysieren sind, darüber herrscht bis heute noch keine Einigkeit.5 Wir werden im Verlauf des Abschnitts 5 auf diese Diskussion unter dem Aspekt von Machtkonstellationen und Diskriminierungserscheinungen noch ausführlicher zu sprechen kommen. Halten wir an dieser Stelle zunächst nur fest, dass wir es in Marxloh weder mit einer homogenen Gruppe der Frauen noch mit einer homogenen Gruppe der Migrantinnen zu tun haben. Was vielleicht manch einem Leser offensichtlich erscheint, ist keinesfalls eine Selbstverständlichkeit: Immer wieder wird in statistischen oder stadtsoziologischen Studien die Gruppe der Frauen der Gruppe der Männer6 oder die Gruppe der Migrantinnen der Gruppe der Autochthonen7 ohne weitere ethnische oder soziale Ausdifferenzierungen gegenüber gestellt. Doch das Marxloher Setting zeigt deutlich, dass sich neben den bereits in den Blick genommenen ethnischen und religiösen Verschiedenheiten sich die Frauen außerdem auch in sozialer und geographisch-lokaler Hinsicht und in vielem anderen mehr unterscheiden.8

4

Langreiter, Nikola; Timm, Elisabeth: Editoral: Tagung Macht Thema. In: Hess, Sabine; Langreiter, Nikola; Timm, Elisabeth (Hrsg.) (2011): Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld. S. 9-13. Hier: S. 9.

5

Diese Angst vor Auslassungen hat dazu geführt, dass inzwischen die Liste an Kategorien mit „usw.“ oder „etc.“ abgeschlossen wird. Judith Butler kritisiert diese Handhabung und plädiert dafür, anstelle von einer prinzipiellen Offenheit des Konzepts auszugehen und nicht die Liste vervollständigen zu wollen. Vgl. Butler, Judith (1990): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York. S. 143.

6

Vgl. beispielsweise: Strohmeier, Klaus Peter; Kersting, Volker (2003): Segregierte Armut in der Stadtgesellschaft. Problemstrukturen und Handlungskonzepte im Stadtteil. In: Soziale Benachteiligung und Stadtentwicklung (= ZEFIR Bochum 3, 4 (2003)). S. 231-247. Hier: S. 233.

7

Vgl. etwa den Integrationsbericht der Stadt Duisburg: Stadt Duisburg u.a. (Hrsg.) (2009): Integration zwischen Distanz und Annäherung. Die Ergebnisse der Ersten Duisburger Integrationsbefragung. Duisburg. Ein ähnliches Vorgehen erfolgt aber auch in der Studie von Scambor; Scambor: 2007.

8

Unter Umständen könnten hier noch mehr Merkmale (wie beispielsweise Behinderung) berücksichtigt werden. Ich orientiere mich aber bei der Auswahl der Merkmale an den von Helma Lutz genannten Kategorien, die auch später unter Abschnitt 5 von Bedeutung sein werden. Vgl. Lutz, Helma; Wenning, Norbert (2001): Differenzen

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Jeder der nun folgenden Abschnitte widmet sich jeweils einem Typus und beginnt mit einer kurzen Vorwegstellung eines Einzelfalls. Es handelt sich bei den Einzelfällen jedoch nicht um einen klassischen „Prototyp“ oder „Idealtyp“, der „die Charakteristika des Typs am besten repräsentieren soll“.9 Die Einzelfälle sollen lediglich dazu dienen, einen subjektiven Einblick dessen zu vermitteln, was in der dann anschließenden allgemeineren Auswertung analysiert wird, um so, über die Einzelfälle hinausgehend, „Konstruktionen zweiter Ordnung“10 herzustellen. Die Bildung der Typen erfolgte auf Grundlage der Merkmale „sozialer Hintergrund“, „ethnischer Hintergrund“, „Familien- und Geschlechterverhältnisse“, „Religion“ sowie „geographische Lokalität“ (hier der Wohn- oder Arbeitsort Marxloh).11 In all den genannten Merkmalen kommt es innerhalb eines Typus’ zu Ähnlichkeiten und im Vergleich zu anderen zu Unterschieden.12 Auf dieser Basis sind folgende acht Typen gebildet worden, denen jeweils zwischen fünf und neun Befragte zugeordnet wurden: • • • • • • • •

„Aktive“ (fünf Befragte) „Gastarbeiterinnen“ (neun Befragte) „Bildungsaufsteigerinnen“ (sieben Befragte) „Heiratsmigrantinnen“ (acht Befragte) „Alteingesessene“ (sechs Befragte) „Zurückgezogene“ (fünf Befragte) „Frauen aus Bulgarien“ (fünf Befragte) „Rumänische Romafrauen“ (fünf Befragte13)

über Differenz – Einführung in die Debatten. In: Dies. (Hrsg.) (2001): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen. S. 11-24. 9

Bohnsack, Ralf; Marotzki, Wilfried; Meuser, Michael (Hrsg.) (2011): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. 3. Auflage. Stuttgart. S. 164.

10 Schütz, Alfred (1971): Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschlichen Handelns. In: Ders. (1971): Gesammelte Aufsätze. Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Band 1. Den Haag. S. 3-54. Hier: S. 7. 11 Vgl. Lutz; Wenning: 2001. 12 Dies sind auch die wesentlichen Merkmale der Typenbildung. Vgl. Kluge, Susann (1999). Empirisch begründete Typenbildung. Zur Konstruktion von Typen und Typologien in der qualitativen Sozialforschung. Opladen. S. 26 ff. 13 Hier handelte es sich um Befragungen, die nicht wörtlich transkribiert, sondern während der teilnehmenden Beobachtung durchgeführt und im Nachhinein verschriftlicht wurden.

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Die Benennungen der Typen wurden von mir getroffen, es handelt sich hier nicht um Selbstbezeichnungen der Frauen. Zudem erfolgte die Gewichtung der jeweiligen Merkmale nicht bei jeder Gruppe in gleichem Maße, da sie für die Frauen nicht in gleicher Stärke bedeutsam sind: Während etwa in den Lebenswelten der „Frauen aus Bulgarien“ und der „Bildungsaufsteigerinnen“ das Thema „Religion“ stets eine große Rolle spielt (wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung), ist dies bei den „Alteingesessenen“ oder den „Aktiven“ nicht der Fall. Dafür ist bei ihnen die geographische Lokalität, also der Wohnort Marxloh mit seiner politischen Entwicklung des Stadtteilgeschehens, von zentraler Bedeutung, während dies auf die „Frauen aus Bulgarien“, die „Heiratsmigrantinnen“, die „Gastarbeiterinnen“ und die „Frauen aus Rumänien“ nicht zutrifft. Diese unterschiedliche Gewichtung ist ebenfalls ein weiteres Indiz dafür, wie verschieden sich die Lebenswelten der Frauen gestalten. Schließlich noch eine letzte Anmerkung vorab: Es mag in Anbetracht der acht Typen vielleicht überraschen, dass innerhalb der „deutschen“ sowie der „türkeistämmigen“ Bevölkerung jeweils drei Typen („Aktive“, „Alteingesessene“, „Zurückgezogene“ sowie „Gastarbeiterinnen“, „Bildungsaufsteigerinnen“, „Heiratsmigrantinnen“) und innerhalb der rumänischen und bulgarischen Bevölkerung jeweils nur ein Typus („Frauen aus Bulgarien“ und „Romafrauen aus Rumänen“) gebildet wurde. Dies wird jedoch dann verständlich, wenn man die Differenzen in der jeweiligen Gruppengröße und die unterschiedliche Länge ihrer Verweildauer im Stadtteil mit bedenkt: Während bei den „Deutschen“ und „Türkeistämmigen“ im Laufe der Jahre durch Zuzüge und Bildungsaufstiege die Bevölkerungsgruppen stetig größer und vor allem in sozialer Hinsicht heterogener wurden, ist dies bei den Zuwanderern aus Rumänien und Bulgarien (noch) nicht der Fall. Es wird sich im Verlauf der nächsten Jahre zeigen, inwiefern es bei diesen Gruppen vielleicht zu ähnlichen Veränderungen und Ausdifferenzierungen wie bei den anderen beiden Gruppen kommen wird.

4.1 D IE „AKTIVEN “ 4.1.1 Fallbeispiel Claudia Claudia treffe ich wie verabredet eines Morgens bei ihr in ihrer gemütlichen Wohnküche an. Ich bekomme frischen Kaffee hingestellt und fühle mich mit ihren zwei Hunden und einer Katze, die mir sogleich zwischen den Beinen herumstreicht, sofort wie zu Hause. Claudia beginnt bereits vor meiner Gesprächsaufforderung offen und mit sprechender Gestik zu erzählen. Claudia brennt für al-

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les, was mit Marxloh zu tun hat, und unser Gespräch scheint für sie eine willkommende Plattform dazustellen, ihre Ansichten kundzutun. Claudia ist 42 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Sie ist in Vollzeit in einem Sozialberuf tätig und engagiert sich ehrenamtlich in verschiedenen Marxloher Vereinen und Organisationen. Marxloh als Wohnort hat sie sich ganz bewusst ausgesucht, da es ihr dort gefällt und sie, wie sie sagt, die „vielen unterschiedlichen Menschen“14 schätzt. Zu ihrem Freundeskreis zählen in erster Linie türkeistämmige Personen, die ebenfalls im Stadtteil wohnen und zu denen sie ein solch gutes Verhältnis hat, dass einige sie gar nicht mehr als „Deutsche“, sondern als „Türkin“ betrachten, wie sie nicht ohne Stolz verkündet. Das zeige doch deutlich, dass sie als „eine von ihnen“15, wie sie sagt, angenommen worden sei. Claudia sieht sich selbst gerne in ihrer Rolle als „die, die immer mit den Türken herumhängt“16 und scheut keinerlei Einsatz für diese Gruppe. Sie begründet dies damit, dass sie schon in einem Umfeld mit vielen türkeistämmigen Zuwanderern aufgewachsen sei und bereits in dieser Zeit ihrer Jugend emsig gegen Ungerechtigkeiten angekämpft habe: C: Also [in meiner Schule damals, Anm. d. Verf.], das war eigentlich gemischt. In der Grundschule fast überwiegend türkische Freunde und dann im Gymnasium waren ja nicht mehr viele. Die türkischen Kollegen sind alle zur Hauptschule gegangen. Da hat sich bei mir schon damals, obwohl ich das nicht formulieren konnte, so ’n Unwohlgefühl eingestellt. Also der Ali ist nicht doofer als ich. Das Problem war natürlich, dass die zweisprachig aufgewachsen sind, und das Bildungssystem der zweisprachigen Alphabetisierung nicht Rechnung trägt. Und irgendwann habe ich mich gefragt: Warum gehen die alle zur Hauptschule? Und da hat man mir gesagt: „Weil die alle ein wenig zurück sind, die kommen vom Dorf.“ Und da habe ich schon als kleines Mädchen die Faust in der Tasche gemacht und gesagt: „Da stimmt was nicht.“17

Den Kampf gegen Ungleichbehandlungen hat sich Claudia seither auf die Fahnen geschrieben. So packt sie in Marxloh eifrig mit an und schreckt auch vor Auseinandersetzungen nicht zurück: Sie scheut keinen Kontakt – weder zu Alteingesessenen noch zu Neuzugezogenen im Stadtteil und fungiert mit ihrer offenen Art nicht selten als Bindeglied zwischen den verschiedenen in Marxloh lebenden Gruppen, eckt aber zugleich auf Grund ihrer Leidenschaftlichkeit, für

14 „Aktive“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 11.08.2012. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd.

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etwas zu kämpfen auch an. Claudia ist überzeugte Marxloherin und zur Verbesserung des Stadtteilimages und des sozialen Miteinanders aktiv beizutragen, ist ihr ein wichtiges Anliegen. Aus dem Kämpfen für „Freiheit und Gerechtigkeit“18 schöpft sie immer weiter Energie. Es versteht sich von selbst, dass ein Wegzug aus Marxloh für Claudia absolut nicht in Frage kommt: „Nee, nie!“19 4.1.2 „Ich bin nicht anders!“20 Freiheit und Gleichheit als Lebenskonzept Die Marxloher „Aktiven“21 wie ich die Gruppe der fünf Marxloherinnen, die mir begegnet sind, nenne, sind alle zwischen 36 und 60 Jahren alt. Da das Wort „aktiv“ auf ein Handeln verweist, das im Unterschied zu reaktivem Handeln bewusst erfolgt, um Initiative zu ergreifen, und die „Aktiven“ in Marxloh genau diese Tatkräftigkeit auszeichnet, erschien mir diese Benennung der Gruppe als treffend. Denn die „Aktiven“ sind stets auf dem Sprung, sich für etwas einzusetzen, Projekte zu entwickeln und weisen dabei durchaus kämpferische Züge auf, was sie, wie wir noch sehen werden, unter Umständen in Konflikte bringen kann. Die Gruppe der Marxloher „Aktiven“ ist meist nicht in Marxloh geboren und aufgewachsen, sondern erst im Erwachsenenalter in den Stadtteil zuzogen. Einige kommen aus anderen Gegenden Deutschlands, haben dort studiert und sind schließlich irgendwann ganz bewusst nach Marxloh gekommen, um hier zu leben und/oder zu arbeiten. Bei den meisten von ihnen handelt es sich um Akademikerinnen, die in Lehr- oder Sozialberufen tätig waren oder noch sind und sich in ökonomischer Hinsicht am ehesten der (gehobenen) middle class22 zuordnen lassen. Sie kommen aus bürgerlichen Verhältnissen und haben vergleichsweise lange und gerade Bildungs- und Ausbildungswege hinter sich. Die 48-jährige Paula etwa beschreibt ihren Werdegang in folgenden Worten: P: Meine Eltern sind beide Lehrer. Ich habe dann Abi gemacht ganz normal, also ganz normale Schullaufbahn.23

18 Ebd. 19 Ebd. 20 „Aktive“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 30.08.2012. 21 Es wurden fünf Marxloherinnen interviewt, die sich dieser Gruppe zuordnen ließen. 22 Vgl. Abschnitt 3.2.1. 23 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012.

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Mit „ganz normal“ meint Paula, dass sich in den Biographien der Frauen wie der ihrigen keinerlei Brüche finden lassen – und auch ihre Kinder scheinen ihnen keine Schwierigkeiten zu bereiten. Meist haben sie ein oder zwei Kinder, die sich inzwischen, wie einst ihre Eltern, auf einem, wie es Paula ausdrückt, „ganz normalen Bildungsweg“ einer gymnasialen oder akademischen Ausbildung befinden. Dass ihre Kinder frei wählen, was sie beruflich machen möchten, ist den „Aktiven“ zwar wichtig – aber ein akademischer Abschluss wird von ihnen durchaus favorisiert. Dennoch scheint auch Spielraum zu bestehen, so wie bei Claudias Tochter, deren Ziel nach dem Abitur zunächst erst einmal das „Nichtstun“ war: C: Es ist wirklich ein gelungenes Kind, kann ich nicht anders sagen, kann ich wirklich nur immer vor lauter Dankbarkeit in die Knie gehen. Und als ich sie gefragt hab, da ertappt man sich ja dann, dass man genauso blöd daher quatscht wie die eigenen Eltern: „Was möchtest du denn mal werden?“ Und da hat sie gesagt: „Nix.“ Ich dann gleich: „Nix? Wie, nix?! Du hast doch einen 1,9er Durchschnitt!“ Da sagt sie: „Spinnst du? Ist doch völlig egal, ich habe keine Lust, irgendwas zu machen.“ Dann stellte sich heraus, und das kann ich auch nachvollziehen, dass, sie ist der erste Jahrgang G8. Da wird ja Wissen reingeprügelt, und die haben überhaupt keine Zeit, sich zu entfalten. Die haben überhaupt keine Zeit zu überlegen: Was will ich denn eigentlich vom Leben? So dass wir jetzt beschlossen haben, dass sie jetzt erst mal nichts macht. Und wenn sie das Abitur hat, dann soll sie sich Luft verschaffen, erst mal alles sacken lassen und dann gucken, wie geht’s denn weiter.24

Verständnis und Einfühlungsvermögen für die Kinder zeichnet den autoritativen25 Erziehungsstil aller fünf „aktiven“ Frauen aus. Denn auch wenn ihre Kinder nicht ihre Ansichten teilen, äußern sich ihre Mütter nach wie vor einfühlend und tolerant – aber dennoch stets lenkend. Diese lenkende Toleranz und Hilfsbereitschaft haben sich die „Aktiven“ sowohl privat als auch beruflich zum Ziel gesetzt. Basisbildend ist dabei ihre meist links-politische Einstellung. Einige der Frauen sind mit dem Ideal der 1968er Bewegung aufgewachsen und sehen in

24 „Aktive“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 11.08.2012. 25 Die Bezeichnung „autoritative Erziehungsstil“ geht zurück auf die Entwicklungspsychologin Diana Baumrind und benennt einen Erziehungsstil, der zwischen dem autoritären und permissiven Erziehungsstil anzuordnen ist. Er ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Liebe und Einfühlungsvermögen bei gleichzeitiger Autorität, indem die Eltern klare Regeln und Grenzen setzen. Vgl. Baumrind, Diana; Black, Allen E.: (1967): Socialization practices associated with dimensions of competence in preschool boys and girls. In: Child Development, 38 (1967). S. 291-327.

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Marxloh das geeignete Pflaster, für dieses Ideal weiterhin zu kämpfen, wie die 60-jährige Hildegard: H: Ich komme ja aus der 68er Bewegung, Weltrevolution machen. Das war auch ein Grund, weswegen ich ins Ruhrgebiet gegangen bin.26

„Weltrevolution machen“ und die Gesellschaft generell im sozialistischen Sinne solidarischer, freier und egalitärer zu gestalten27 ist das bis heute erklärte Ziel der Frauen. Entsprechend dieser Weltanschauung bemühen sie sich sehr engagiert, trotz deutlicher sozialer Unterschiede zu anderen Marxloherinnen, allen stets als „Gleiche unter Gleichen“ und somit „auf Augenhöhe“28, wie es Claudia formuliert, zu begegnen. Was im privaten Bereich bei ihren eigenen Kindern auch funktioniert, die sich durch ihre Eltern motiviert sehen, eifrig mit ihren Eltern mitdiskutieren und, wie Claudia sagt, „laut sein dürfen und durchaus diskutieren sollen und auch widersprechen müssen“29, klappt im Dialog mit anderen im Stadtteil lebenden Frauen nicht immer ganz so gut. Das zeigt folgendes Ereignis aus einem Gespräch mit Claudia, in dem sie schildert, wie hartnäckig sie versucht habe, einigen Marxloher Frauen, die von Sozialhilfe leben, zu vermitteln, dass sie als Gleichgesinnte behandelt werden möchte, wozu ihrer Meinung nach nun einmal gehöre, sich zu duzen: C: Die […] Frauen, die siezen mich zum Beispiel. Das gibt’s hier überhaupt nicht. Niemand siezt sich hier. Und ich habe gesagt: „Warum siezst du mich? Ich möchte das nicht. Können wir uns nicht duzen, was soll denn das?“ Ja, wo ich denke, ich bin nicht anders! Ich habe Glück gehabt hier im Stadtteil. Aber das ist schwer zu vermitteln. Gelingt nicht.30

Nun ist es im Ruhrgebiet durchaus üblich, dass „man“ sich duzt. Was Claudia hier aber von ihrem Gegenüber erwartet, ist nicht nur ein beiläufiges „du“ es ist ein gezieltes und kompromissloses „du“, um die von ihr anvisierte „Augenhöhe“ ohne jedwede Hierarchien herzustellen. Paradoxerweise ist sie jedoch dadurch gerade diejenige, die „von oben“ bestimmt, dass man sich jetzt „auf Augenhöhe

26 „Aktive“, weiblich, 60 Jahre. Interview vom 11.08.2010. 27 Vgl. dazu den Eintrag „Sozialismus“ von der Bundeszentrale für politische Bildung unter: http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/18235/sozialismus (letzter Abruf: 11.07.2014). 28 „Aktive“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 11.08.2012. 29 Ebd. 30 „Aktive“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 30.08.2012.

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begegnet“, die Untergebenen haben kaum eine Chance, sich dieser Doktrin zu entziehen. Diese Begegnung als „Gleiche unter Gleichen“ ohne soziale Unterschiede lässt keinen Widerspruch zu und fragt nicht nach der Wahrnehmung durch die anderen. Solidarische Gleichheit lässt bei den „Aktiven“ keinerlei Alternativen zu. So sagt auch die 40-jährige Sandra: S: Ja, also sozialistisches Lebensgefühl ist vielleicht übertrieben, aber es funktioniert immer so: eine Hand wäscht die andere, beide Hände waschen Gesicht.31

„Eine Hand wäscht die andere“32 kommt in den Aussagen der Frauen immer wieder vor und symbolisiert das von ihnen so vehement angestrebte Ideal der solidarischen Gegenseitigkeit. „Eine Hand wäscht die andere“ benennt keinen einseitigen Prozess des Waschens, sondern impliziert, dass beide Hände von der jeweils anderen Hand gewaschen werden. „Gemeinsam“, fügt Sandra schließlich hinzu, würden dann „beide Hände Gesicht“ waschen. Dank des solidarischen Zusammenhalts aller würde sich also auch etwas Gemeinsames in Marxloh auf die Beine stellen und sich vielleicht sogar größere Ziele erreichen lassen. Es steht außer Frage, dass die „Aktiven“ – bleiben wir bei der Symbolik des Händewaschens – häufig die Hände anderer Stadtteilbewohner waschen. Kleidungssammelaktionen, Essenstafeln oder Spendenaktionen müssen organisiert werden und finden in Marxloh vor allem bei den Neuzuwanderern Anklang. Aber wäscht man den „Aktiven“ im Gegenzug ebenfalls die Hände? Wirft man einen Blick auf die Netzwerke und sozialen Lagen der Frauen, so wird rasch klar: Hier wird niemand zum Händewaschen benötigt, die Frauen können sich gut selbst helfen. Es kommt hier also zu einem ungleichen Verhältnis: Die Aktiven haben die Mittel und Möglichkeiten, anderen zu helfen, aber die anderen verfügen im Gegenzug nicht über das adäquate Kapital, um den „Aktiven“ zu helfen. Dieses Ungleichverhältnis macht es den „Aktiven“ vor al-

31 „Aktive“, weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010. 32 Diese für die „aktiven“ Frauen typische und in den Gesprächen immer wiederkehrende Formulierung scheint nicht nur bezeichnend für die Marxloher „aktiven“ Frauen zu sein. Auch Veronika Knauer nimmt etwa auf eine solche Persönlichkeit im Münchner „Problemviertel“ Neuperlach Bezug, und auch hier taucht zur Beschreibung des Miteinanders bei einer Frau der Satz „eine Hand wäscht die andere“ auf. Vgl. Knauer, Veronika (2010): Learning Ethnicity – Oder: Wie nehmen die Bewohner Neuperlachs ihre multikulturelle Wohnsituation wahr? In: Hess, Sabine; Schwertl, Maria (Hrsg.) (2010): München migrantisch – migrantisches München. Ethnographische Erkundungen in globalisierten Lebenswelten. München. S. 97-115. Hier: S. 110.

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lem in Bezug auf die im Stadtteil lebenden „Zurückgezogenen“ schwierig, ihnen unter die Arme zu greifen. Denn natürlich setzt der Prozess des Händewaschens voraus, dass man sich die Hände waschen lässt, was in unserem Fall der „Aktiven“ bedeutet, dass man sich von ihnen helfen, sich unterstützen und von ihnen lenken lässt. Was bei den Neuzuwanderern (noch) gut funktioniert, geht bei der Gruppe der „Zurückgezogenen“, von denen Claudia berichtet, jedoch gründlich schief. Die Frauen verweigern sich der ihnen aufoktroyiert erscheinenden Gleichstellung symbolisiert durch das „Du“ und beharren weiterhin hartnäckig auf dem distanzierenden „Sie“. Auch zu den von Claudia eigens für die Frauen initiierten Stadtteilveranstaltungen erscheinen die meisten dieser Frauen nicht. „Die haben doch nur ihr Rämpelchen gefunden“33 – mit den Worten erklärt mir sogar die „alteingesessene“ Karin34 mit süffisantem Unterton das Stadtteilengagement der „Aktiven“. Sie sei jedenfalls nicht gewillt, ihnen „Beifall zu klatschen“, wie sie sagt. Hier verweigert man sich also der Hilfestellung, das „eine Hand wäscht die andere“ wird im Keim erstickt. Das Bezeichnende für die „Aktiven“ ist jedoch, dass sie sich durch derartige Vorfälle nicht in ihren Aktionen hemmen lassen. Sie wollen etwas an der Ungleichheit der Gesellschaft ändern, und der Stadtteil Marxloh mit all seinen (sozialen) Unterschieden bietet sich für sie als das geeignete Setting an. Hier meinen sie, Gleichgesinnte mobilisieren zu können, um gemeinsam für oder gegen eine Sache zu kämpfen und auf diese Weise Änderungen zu erzielen. 4.1.3 „Wir im Dorf halten zusammen.“35 Marxloherinnen aus Passion Während die „alteingesessenen“ und „zurückgezogenen“ Marxloherinnen im Allgemeinen eher, wie wir noch sehen werden, aus Marxloh wegziehen möchten aber meinen, dies aus verschiedenen Gründen nicht tun zu können, sind die „aktiven“ Frauen die einzige Gruppe im Stadtteil, die Marxloh bewusst als Wohnort ausgewählt hat und so bald auch nicht von dort wegziehen möchte. Es reizt die Frauen, dass in dem Stadtteil gerade nicht die „Reichen und Schönen“36 wohnen und war ein wichtiges Kriterium in ihrer Wahl des Wohnorts:

33 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 34 Mehr zu Karin folgt unter Abschnitt 4.5. 35 „Aktive“, weiblich, 60 Jahre. Interview vom 11.08.2010. 36 Ebd.

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P: Einfach so unter Menschen leben, einfach Nachbarschaft leben und das nicht in einem Stadtteil, wo die Menschen gut situiert sind, sondern ausdrücklich in einem Stadtteil, wo verschiedene Kulturen zusammenkommen, wo Menschen nicht so ganz viel Geld haben, wo wir einfach mit dazwischen sein wollen.37

Das Gefühl, sich hier einbringen und etwas ändern zu können ist dabei ganz entscheidend für die Wohnortwahl. Die überzeugten „Marxloherinnen“ möchten vor allem der Menschen wegen nicht woanders leben: E: Die Leute meinen natürlich, man könnte hier [in Marxloh, Anm. d. Verf.] nicht leben (lacht). Also ich finde das immer lustig, gehe also sehr selbstbewusst damit um, weil ich gerne hier lebe und dieses Land unheimlich liebe. Das ist eine bestimmte Ästhetik, die sich mir eingeprägt hat. Ich mag dieses Gebrochene.38 H: Also mit den Menschen fühle ich mich so wohl. Sie sind sehr hilfsbereit, von der Kultur her sind sie immer sehr bemüht und fragen immer: „Wie geht’s?“39 P: Ich lebe total gerne hier. Also ich mag das, weil man mit den Menschen so unkompliziert und direkt in Kontakt kommt. Sei es auf der Weseler Straße, sei es in der Nachbarschaft. Das ist so einfach, so direkt und so unkompliziert. Und man muss sich hier nicht so verstellen. Ich habe den Eindruck, die verstellen sich nicht, aber ich muss mich auch nicht verstellen. Und dass auf so ’ner zwischenmenschlichen Ebene einfach, wo es, also mein Erleben, unkompliziert läuft. Das mag ich total gerne.40

Das Zwischenmenschliche, Unkomplizierte aber vor allem auch das Solidaritätsempfinden und die Möglichkeit, einen Beitrag zur Veränderung des Stadtteils leisten zu können, ist es, was die Frauen an Marxloh besonders schätzen. Dass die Stadtteilbevölkerung als „Wir Marxloher“ zusammenhält und man füreinander einsteht, ist immanenter Bestandteil ihres Selbstverständnisses als Marxloherinnen und Motor ihrer Aktionen. Ein gegenseitiges Geben und Nehmen, das bereits beschriebene „eine Hand wäscht die andere“ ist für sie dabei elementar und eng mit dem Stadtteil Marxloh verknüpft. Dazu noch einmal Paula:

37 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. 38 „Aktive“, weiblich, 36 Jahre. Interview vom 04.08.2010. 39 „Aktive“, weiblich, 60 Jahre. Interview vom 11.08.2010. 40 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012.

78 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH P: Klar, wenn man irgendwo gefragt wird, tun wir auch was für die, aber genauso tun die was für uns. Also, ich gehe da auch hin und frage: „Habt ihr Kartoffeln?“ Oder die fragen: „Habt ihr mal ’n Ei, mal ’ne Milch?“41

Dieser Prozess des Gebens und Nehmens wird von den Frauen in unseren Gesprächen immer wieder mit einer Reziprozität, die sie dem ländlichen Alltagsleben zuschreiben, assoziiert. Der Vergleich zum Dorf ist wesentlicher Bezugspunkt in ihren Äußerungen und wird von ihnen verwendet, um das solidarische „Wir-Gefühl“ zu unterstreichen. Im Unterschied zum Stadtleben, das sie durch Unpersönlichkeit42 gekennzeichnet sehen, kennt man sich im „Dorf“ Marxloh persönlich und hilft sich gegenseitig aus. Aussagen wie „Im Prinzip ist Marxloh ein Dorf“43 oder „Wir im Dorf halten zusammen“44 verweist darauf, wie wichtig es den Frauen ist zu betonen, Marxloherin zu sein – und nicht etwa Duisburgerin und somit Städterin. So sagen Sandra und Hildegard: S: Im Prinzip ist Marxloh ein Dorf, hier kennt jeder jeden.45 H: Und wir im Dorf halten zusammen. Und wir im Dorf denken auch eher, dass wir Marxloherinnen und Marxloher sind und nicht Duisburger.46

Nun ist das „Dorf in der Stadt“, dessen Bewohner später auch als urban villagers47 bezeichnet wurden, eine bekannte, aus der Chicagoer School stammende Bezeichnung. Dem urban village lagen die Beobachtungen vor allem Robert Parks zugrunde, dass immigrant communities in Amerika, wie etwa Little Italy

41 Ebd. 42 Es war vor allem der Soziologe Georg Simmel, der die Stadt als „Gebilde höchster Unpersönlichkeit“ beschrieben hat. Vgl. Simmel, Georg (1995): Die Großstädte und das Geistesleben. In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Gesamtausgabe Bd. 7. Hrsgg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main. 1. Aufl. 1903. S. 116-131. Hier: S. 121. 43 „Aktive“ weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010. 44 „Aktive“, weiblich, 60 Jahre. Interview vom 11.08.2010. 45 „Aktive“, weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010. 46 „Aktive“, weiblich, 60 Jahre. Interview vom 11.08.2010. 47 Dieser Terminus geht auf den Soziologen Herbert Julius Gans zurück, der ihn erstmals 1962 verwendete. Vgl. Gans, Herbert J. (1962) The Urban Villagers. Group and Class in the Life of Italian-Americans. New York.

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oder Chinatown, als „transplantierte Dörfer“48 verstanden wurden – und somit, wie man meinte, ethnisch homogene Gruppen in klar abgrenzbaren Räumen darstellten. Diese Erkenntnisse Parks sind es jedoch nicht, auf welche sich die „aktiven“ Frauen in Marxloh mit ihren Andeutungen zu „Marxloh ist ein Dorf“ beziehen. Sie wissen durchaus um die nationale und ethnische Heterogenität der Marxloher Bevölkerung und wenden sich sogar aktiv dagegen, dass Marxloh als „türkisches Viertel“ wahrgenommen wird. Da jedoch in Marxloh ihrer Wahrnehmung nach alles zusammengehört, „jeder jeden kennt“49 und man standhaft zusammenhält – liegt für sie der Vergleich zum Dorf nahe. Hinzu kommt außerdem das historische Wissen um die Stadtteilentwicklung und das Bewusstsein, dass es sich um Marxloh, bis es im Jahr 1929 nach Hamborn eingemeindet wurde, tatsächlich um ein Dorf gehandelt hat.50 So sagt die 36-jährige Elisabeth: E: Es gibt ein Buch von Detlev Vonde, das heißt „Revier der großen Dörfer“. Das ist die Geschichte [des Ruhrgebiets, Anm. d. Verf.]. Es sind einfach schnell gewachsene Dörfer, die irgendwie kleine Städte geworden sind. Man sieht das sogar hier in Duisburg. Marxloh hat mit Hamborn wenig zu tun. Jemand hat mal in der Zeitung geschrieben: „In Hamborn entsteht ein Rosengarten.“ Und da waren die beleidigt, das ist nämlich Marxloh, nicht Hamborn. Ich finde das auch richtig! Es gehört zwar dazu, aber wir empfinden das nicht so. Ich weiß nicht, ob das bei Ihnen auch so ist, dass man, wenn man in einem anderen Stadtteil lebt, also wir sagen immer: „Wir fahren nach Duisburg rüber.“ Die Wahrnehmung ist immer sehr stark auf den eigenen Stadtteil bezogen gewesen, und daran hat sich nicht viel geändert.51

Bis heute wirkt bei den Frauen somit nach, dass man sich als Marxloherin eigentlich für autonom hält und sich nicht zu Hamborn und schon gar nicht zu Duisburg zugehörig fühlt. In Marxloh ist man ihrer Ansicht nach der Dörfler „Marxloher“ und nicht der Städter „Duisburger“. Es versteht sich vor dem Hintergrund von selbst, dass die Frauen es leid sind, dass Marxloh in der öffentlichen Berichterstattung oft negativ wahrgenommen wird. Die Negativberichte stellen für sie einen Angriff auf ihr „Dorf“ und ihre Gemeinschaft dar, für die sie

48 Welz, Gisela (1991): Sozial interpretierte Räume, räumlich definierte Gruppen. Die Abgrenzung von Untersuchungseinheiten in der amerikanischen Stadtforschung. In: Kokot, Waltraut; Bommer, Bettina C. (Hrsg.) (1991): Ethnologische Stadtforschung. Frankfurt am Main. S. 29-43. Hier: S. 30. 49 „Aktive“, weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010. 50 Vgl. Abschnitt 3. 51 „Aktive“, weiblich, 36 Jahre. Interview vom 04.08.2010.

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sich hartnäckig einsetzen. Der vom „Medienbunker52 Marxloh“ geprägte Slogan „Made in Marxloh“ spricht ihnen als willkommene Entgegnung auf die Negativberichte aus dem Herzen, da er ihrer Selbstpositionierung als überzeugte „Marxloherin“ entgegenkommt – auch wenn sie selbst nicht im eigentlichen Sinne „Made in Marxloh“, sondern meist zugezogen sind. Als zentral erweist sich bei ihrer Identifikation mit dem Slogan aber weniger die Herkunft als das Selbstverorten der Frauen im Lokalen „Marxloh“ sowie der intensive Glaube an ein verbindendes solidarisches Gemeinschaftsgefühl der Stadtteilbevölkerung als „Marxloherin“: S: Unsere Väter waren alle mal von der Montankrise betroffen, alle unsere Väter waren in der IG Metall organisiert, haben alle gestreikt irgendwann. Also so sind wir hier aufgewachsen.53

Was hier in Sandras Aussage durchscheint, ist die geschichtliche Dimension der Stadtteilentwicklung, die, zu einer historisch gewachsenen kollektiven Identität der Bewohnerinnen und Bewohner geführt und diese „zusammengeschweißt“ habe. Durch die wirtschaftlichen Krisen seien zwar wichtige Teile der Infrastruktur weggebrochen, doch auf die Frage, ob denn im Stadtteil etwas fehle, antwortet etwa Claudia: C: Fehlen tut hier nichts. Wenn ich in deutsch dominierten Stadtteilen wohne, kriege ich auch nicht alles. Der moderne Mensch ist eben gezwungen, irgendwo hinzufahren.54

Einzig die 61-jährige Hildegard äußert sich in dem Zusammenhang der Infrastruktur Marxlohs ein wenig kritischer: H: Was mir nicht gefällt, im Stadtteil ist, dass es keine Szenekultur gibt oder kaum. Ich meine, dadurch, dass es jetzt den „Medienbunker“ gibt, entsteht vielleicht was. Es gibt jetzt auch ein paar Künstler, die hierher gezogen sind. Aber es gibt jetzt keine Szenekneipen, wo man abends hingeht. Wenn ich hier abends weggehe, ohne dass ich mit dem Auto

52 Der „Medienbunker Marxloh“ besteht aus einer Gruppe selbstständig tätiger jüngerer Künstler und hat sich zum Ziel gesetzt, mit verschiedenen Aktionen das Außenimage Marxlohs zu verbessern. Vgl. http://www.madeinmarxloh.com/ (letzter Abruf: 15.07.2014). 53 „Aktive“, weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010. 54 „Aktive“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 11.08.2012.

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fahre, muss ich türkisch essen gehen. Ich meine, das ist auch ganz schön und ganz lecker, und es gibt von daher auch ein Nachtleben, aber es fehlt einfach eine Kneipe.55

Die fehlende Infrastruktur ist somit das einzige, was Hildegard, wenn überhaupt, zu fehlen scheint, aber es wäre für sie niemals ein Grund, aus Marxloh wegzuziehen. Gerade der Unvollkommenheit wegen ist sie ja in den Stadtteil gezogen, so dass es für sie immer etwas im Stadtteil zu tun gibt, um das Leben dort ihrer Lebenseinstellung gemäß ein wenig „freier und gleicher“ zu gestalten. Ein wichtiges Projekt, für das man sich unter den „Aktiven“ relativ geschlossen einsetzt, besteht in einer städtebaulichen Angelegenheit der Stadt56 – der Schaffung des „Grüngürtels“ und den damit verbundenen Häuserabrissen im sogenannten „Entenkarree“.57 Die „Aktiven“ äußern sich empört darüber, wie man diese Menschen, die seit Jahren in ihren Wohnungen wohnten, zur Schaffung eines „Grüngürtels“ zum Auszug zwingen will und sagten der Stadt den Kampf an. Dazu Sandra: S: Und dann vor vier, fünf Jahren fing das mit dem Häuserabriss an, dass man diesen tollen „Grüngürtel“ schaffen wollte. Das haben wir glücklicherweise auch verhindert. Es gibt noch einen Häuserblock am Entenkarree, der noch gefährdet ist. […] Es gibt bei uns noch 19 Häuser, die vom Abriss gefährdet sind, zehn davon sind in Thyssens Hand, neun sind Privateigentümer, und die sind nach wie vor der Ansicht, sie werden auf keinen Fall verkaufen.58

Diese letzten zehn Bewohner des „Entenkarrees“, von denen Sandra hier im Jahr 2010 noch spricht, mussten aber schließlich im Frühjahr 2014 doch ihr Haus verkaufen, und bereits kurz darauf wurde mit den Abrissarbeiten begonnen. Doch wie bei den meisten Aktionen der Marxloher „Aktiven“ geht es ihnen auch hier nicht primär um das Erreichen der Ziele, sondern um die Schaffung eines solidarischen Wir-Gefühls: „Wir“ werden zusammenhalten, „wir“ werden nicht müde zu kämpfen, und auch wenn „wir“ oft verlieren, so geben „wir“ doch niemals auf. Dass diese Gruppe des „Wir“ auf Grund von derartigen Misserfolgen wie bei dem „Entenkarree“ immer weiter zu schrumpfen beginnt und sich viele Marxloher bewusst der Aktionen der „Aktiven“ entziehen, da sie sie als aus-

55 „Aktive“, weiblich, 60 Jahre. Interview vom 11.08.2010. 56 Die Gestaltung des Marxloher „Elisenhofs“ und der Abriss der „Zinkhüttensiedlung“ sind weitere Bereiche, in denen sich die Frauen engagieren. 57 Vgl. Abschnitt 3.2.1. 58 „Aktive“, weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010.

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sichtslos betrachten59, scheint die Frauen nicht zu irritieren. Denn ihr Sinn liegt im Kämpfen für andere, und das machen sie notfalls auch allein unter sich, den „Aktiven“. 4.1.4 „Es gibt ja auch so viele lustige Geschichten.“ 60 Bezug zu anderen Gruppen im Stadtteil Nicht nur aber auch durch das Engagement und die Mitarbeit der „Aktiven“ in Marxloh haben sich im Laufe der Jahre einige Initiativen herausgebildet, von denen viele an im Stadtteil lebende Frauen gerichtet sind. Diese Projekte leben zu großen Teilen von den engagierten, gebildeten „aktiven“ Frauen, denen es am Herzen liegt, dass sich in Marxloh für Frauen „etwas tut“. Dafür legen sie eine große Motivation an den Tag und verfügen über eine Vielzahl an Netzwerkkontakten im Stadtteil. Ein wesentlicher Schwerpunkt dieser Aktionen liegt neben der Verhinderung des „Grüngürtelprojekts“ auf dem Thema „Zuwanderung“. Der Weltanschauung der Aktiven entsprechend, Marxloh „freier und gleicher“ gestalten zu wollen, setzen sie sich intensiv dafür ein, Marxloh einwandererfreundlicher zu gestalten. Dabei ergeben sich ähnlich dem bereits geschilderten Konflikt mit den „Zurückgezogenen“ in Marxloh aber auch mit Blick auf die Zuwanderer Machtkonstellationen, die durch ein Paradoxon aus Anspruch und Handeln gekennzeichnet zu sein scheinen. Der Anspruch der „Aktiven“, ein solidarisches Miteinander „unter Gleichen“ in Marxloh herzustellen, ist nun schon ausreichend dargelegt worden. Zu diesem Anspruch gesellt sich ein Handeln, das „die anderen“ immer wieder in die Position der Untergebenen rückt, indem man sie beispielsweise wie Claudia zum Duzen veranlassen möchte, obgleich sie selbst das „Sie“ bevorzugen. Ähnlich gestaltet sich die Situation im Umgang mit Zuwanderern, denen die Frauen ebenfalls „unter Gleichen“ begegnen möchten (erinnern wir uns noch einmal daran, wie stolz Claudia ist, dass sie als „Türkin“ bezeichnet und anerkannt wird). Zugleich greifen sie jedoch immer wieder lenkend in die bestehenden Machtstrukturen ein und verweisen die Zuwanderer auf „ihre Plätze“. Dieses Handeln weckt Assoziationen zu einem von Jörg Hüttermann entworfenen Typus, den er „Platzanweiser mit Herz“ nennt. Der „Platzanweiser mit Herz“ war, wie der Verfasser schreibt, zum Zeitpunkt der „Gastarbeiteranwerbung“ „für die Humanisierung der Beziehungen zwischen Alteingesessenen und Zuwanderern

59 Vgl. Abschnitt 4.6. 60 „Aktive“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 30.08.2012.

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von größter Bedeutung“.61 Die Aufgabe der „Platzanweiser“ sei es gewesen, die Zuwanderer in die bereits existierenden Regeln und Normen einzuführen. Diese einheimischen „Platzanweiser“ fungierten in ihrer Rolle als Gastgeber, und die Zuwanderer seien die Gäste gewesen, die sich den bestehenden Regeln unterworfen hätten. Eine besondere Funktion sei den sogenannten „Anwälten“ zugekommen, also Alteingesessenen, die die Zuwanderer verteidigt hätten: „Die Anwaltsrolle implizierte“, so Hüttermann, „dass diejenigen, die sie spielten, Zuwanderer primär als hilflose Opfer betrachteten, die nicht für sich selbst sprechen konnten“62. Hüttermann beschreibt dies absichtlich unter Verwendung der Vergangenheitsform, da er sich mit dem Gesagten ausschließlich auf die Zeit der „Gastarbeiteranwerbung“ bezieht. Denn ab den 1970er Jahren, so seine Argumentation, hätten die Zuwanderer immer mehr Kenntnisse und vor allem das Selbstbewusstsein erlangt, sich selbst zu verteidigen. Sie seien zum „avancierenden Fremden“ und in den 1990er Jahren nach den Übergriffen von Mölln, Solingen und Hoyerswerda sogar zum „protestierenden Fremden“ geworden. „Der protestierende Fremde löste die noch aus den Reihen der Alteingesessenen stammende Anwaltsfigur zunehmend ab“63, folgert Hüttermann, und die Zuwanderer hätten sich immer mehr zu „Anwälte[n] in eigener Sache“64 entwickelt. In Bezug auf Marxloh kann jedoch gesagt werden, dass die „Platzanweiser“, vor allem die weiblichen „Platzanweiserinnen“ oder „Anwältinnen“, personifiziert durch die „Aktiven“ in Marxloh weiterbestehen. Es ist gerade diese Gruppe im Stadtteil, die eine Deutungshoheit darüber inne zu haben scheint, wie sich die anderen Gruppen verhalten sollen und welche soziale Stellung ihnen zugewiesen wird. Was Hüttermann in seiner Analyse nämlich nicht mit in den Blick nimmt, ist die anhaltende Migration von türkeistämmigen Personen aber vor allem auch von Neuzuwanderern aus dem östlichen Europa, die sich weiterhin in der Gastrolle befinden. Ihnen meinen die „Aktiven“, die hiesigen Regeln und Normen erklären zu müssen. Damit verkörpern die Neuzuwanderer, wie einst die türkeistämmigen „Gäste“, die „gutwilligen aber meist tollpatschig-naiven Zeitgenos-

61 Hüttermann, Jörg (2010): Moscheekonflikte im Figurationsprozess der Einwanderungsgesellschaft. Eine soziologische Analyse. In: Schiffauer, Werner (Hrsg.) (2010): Migrationsreport 2010. Fakten – Analysen – Perspektiven. Frankfurt am Main. S. 39-81. Hier: S. 43. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 47. 64 Ebd.

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sen“65, die „lustige Situationen“66 auslösen. Dazu ein Erlebnis aus einem Gespräch mit Claudia: C: Es gibt ja auch so viele lustige Geschichten (lacht). Also meine Freundin hatte ihrer Nachbarin [einer aus Bulgarien neuzugewanderten Frau, Anm. d. Verf.] erzählt: „Also Mülltrennung, gelb, ja, gelb, ne, da kommt der Joghurtbecher rein.“ Und dann hat sie die gesehen, dass sie versucht hat, Joghurtbecher in den Briefkasten zu stecken (lacht).67

Es sind vor allem die Gruppen der Neuzuwanderer aus Bulgarien und Rumänien, welche die „Anwältinnen“ nun für sich entdeckt haben. Ihnen werden geduldig die Regeln und Gepflogenheiten erläutert, sie werden zu Ämtern und Ärzten begleitet, und ihnen wird bei finanziellen Nöten beigestanden. Dass sich die „Anwaltsfunktion“ der „Aktiven“ nun stark auf die Neuzuwanderer konzentriert, bedeutet jedoch nicht, dass sie sich auch in ihrer Rolle als „Platzanweiserinnen“ von der türkeistämmigen Bevölkerung abgewandt haben. Vor allem die türkeistämmigen „Bildungsaufsteigerinnen“68 und „Geschäftsfrauen“69 werden von den „aktiven“ Frauen im Stadtteil stetig weiter „ihrem Platz zugewiesen“. Als etwa in der Silvesternacht 2010 einige Schaufensterscheiben in Marxloh zu Bruch gingen und die türkeistämmigen Geschäftsleute spontan die damals gerade neuzugezogenen „Libanesen“ dafür verantwortlich machten, ernannte sich Claudia kurzerhand zur „Anwältin“ der Libanesen und wies die türkischen Geschäftsleute energisch auf ihren Platz als „Gäste“ zurück: C: Ich habe mich natürlich mit den türkischen Geschäftsleuten hier angelegt. Ich kenne die ja alle und habe gesagt: „Leute, pisst doch nicht in eure eigene Teetasse.“ Als ich klein war sind die alle hier mit ihren Eltern gerade angekommen, und da waren das die schlimmsten. Meine Mutter hat mir verboten, mit türkischen Kindern zu spielen. Weil die Türken, das ist ’n altes Reitervolk, da weiß man nie, wie die so drauf sind. Und da habe ich gesagt: „Genau so hat man euch doch tituliert!“ [Die Geschäftsleute antworteten, Anm. d. Verf.] „Ja, aber nein, die [Libanesen, Anm. d. Verf.] sind aber anders!“ Das ist natürlich auch so der Stolz, man ist jetzt in der neuen Gesellschaft angekommen und man glaubt, man hat alles viel besser gemacht.70

65 Ebd., S. 41. 66 Ebd. 67 „Aktive“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 30.08.2012. 68 Vgl. Abschnitt 4.3. 69 Vgl. Abschnitt 4.3.4. 70 „Aktive“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 30.08.2012.

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Diese Aussage Claudias zeigt zum einen, wie sehr sie nach wie vor darum bemüht ist, den Türkeistämmigen im Stadtteil zu erklären, wie sie sich gegenüber anderen Gruppen, hier den Libanesen, zu verhalten haben („pisst doch nicht eure eigene Teetasse“). Zugleich zeigt die Aussage aber auch, dass Claudia als „Anwältin“ immer für diejenigen Gruppe(n) Partei ergreift, die sie für die schwächsten hält: Waren es als sie „klein“ war noch „die Türken“, so sind es für sie heute „die Libanesen“. Die „Platzanweiserinnen“ oder „Anwältinnen“ scheinen in Marxloh also nach wie vor durch die Gruppe der „Aktiven“ präsent, da deren Gerechtigkeitsempfinden sehr ausgeprägt ist und sie sich selbst in lenkender Funktion sehen. Dies betrifft, wie wir gesehen haben, migrationsspezifische Fragen genauso wie den Stadtteil Marxloh als Ganzes. Es verwundert angesichts des energischen Einsatzes dieser Frauen nicht, dass es innerhalb ihres Netzwerkes bestehend aus anderen „Aktiven“ zu Uneinigkeiten oder gar Rivalitäten kommt. Als etwa im Jahr 2010 die rechtsextreme Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) gemeinsam mit der rechtsextremen Bürgerbewegung pro Nordrhein-Westfalen (pro NRW) eine Demonstration direkt vor der Marxloher DITIB-Moschee angesetzt hatte, war für die „Aktiven“ im Stadtteil sofort klar, dass man diesen „Affront“ nicht einfach so hinnehmen könne. Aber wie die Gegenreaktion konkret auszusehen habe, da schieden sich die Geister. Hildegard schien regelrecht mit sich und anderen „Aktiven“ um eine adäquate Lösung gekämpft zu haben: H: Es gab ja hier die Nazidemo, und zum Teil war das dann hier so ’n linker Rassismus. Wo ich immer gesagt habe: „Wir müssen für etwas sein, für das friedliche Miteinander. Und da müssen wir Bilder erzeugen.“ „Willkommen in Marxloh“ gab es dann da mit den Schildern, lasst uns allen Rosen schenken, auch den Nazis von mir aus. Also einfach für etwas sein und nicht immer dieses ähhh Straßenblockaden, weißt, das machen sie alle und überall. Aber das setzt sich auch nicht so recht durch. Da gibt es zwar immer mal so ein paar, die das dann auch finden, aber so die Mehrheit hat lieber einen klaren Feind. […] Also es gab Linke, die das auch sehr stark dominiert haben und wo ich überhaupt nicht durch kam. Also da gab es schreckliche Aufrufe. Also dann gab es den Aufruf „Nazifreies Marxloh“. Da hab ich gedacht: „Oh wie schrecklich, willste denn dann die Nazis vergasen?“ War vielleicht auch überspitzt, aber das ändert ja nichts: „Judenfreies Deutschland“, „ausländerfreies Deutschland“, „nazifreies Marxloh“ das ist so schrecklich. „Was willste mit denen machen?“ „Die sollen in ihren Löchern bleiben.“ Dann bist du doch im Grunde auf der gleichen Ebene.71

71 „Aktive“, weiblich, 60 Jahre. Interview vom 11.08.2010.

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Diese Auseinandersetzungen der „Anwältinnen“ darüber, wie ihre „Klienten“ mit Zuwanderungshintergrund am Besten zu verteidigen sind, können durchaus so weit gehen, dass die „Aktiven“ zeitweise nicht mehr miteinander sprechen. Irgendwann, „rauft“ man sich aber letztendlich dann doch wieder zusammen, um gemeinsam an einer weiteren Sache im Stadtteil zu arbeiten. Denn als „Marxloherinnen“, darin ist man sich unter den „Aktiven“ einig, gehört man ja schließlich zusammen und hält entsprechend auch felsenfest zusammen. 4.1.5 Fazit Die Gruppe der fünf Marxloher „Aktiven“ bildet eine recht tatkräftige Gruppe im Stadtteil, die sich über ihr „Marxloherin“-Dasein definiert und aus ihrem sozialistischen Wir-Gefühl heraus für Freiheit und Gleichheit in Marxloh einiges bewirkt. Marxloherin zu sein bedeutet für sie ein Netzwerk „unter Gleichen“ zu haben und innerhalb dieses Netzwerks gemeinsam mit anderen „auf Augenhöhe“ aktiv zur Stadtteilveränderung beizutragen. Das bezieht sich auf Themen, die Zuwanderung betreffen, genauso wie auf stadtplanerische Veränderungen im Stadtteilgeschehen wie vor allem auf das Grüngürtelprojekt. Die „Aktiven“ sind jedoch bei ihren Aktionen stets diejenigen, die den Ton angeben, und es überrascht nicht, dass sie sich damit nicht nur Freunde machen. So setzen sie sich selbst an die Position als „Anwälte“ der Neuzuwanderer, die dies aus ihrer Minderheitenposition heraus (noch) dankend annehmen. Anders ist dies inzwischen aber bei vielen Türkeistämmigen, denen durch die „Aktiven“ zwar immer noch ein Platz zugewiesen wird, die jedoch zunehmend beginnen, dagegen zu rebellieren.72 Aber auch innerhalb der Gruppierung der „Aktiven“ kommt es zu Rivalitäten auf Grund von Machtaushandlungen. Insgesamt scheinen die Frauen aber auf Grund ihres Engagements und ihrer Einstellung als „Gleiche unter Gleichen“ keinerlei Kontaktscheue zu haben und sind damit ein wichtiges Bindeglied zwischen den verschiedenen Marxloher Gruppierungen im Stadtteil, durch die sich auch auf Grund ihrer erstklassigen Vernetzung einiges bewegt.

72 Vgl. dazu insbesondere Abschnitt 5.2.

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4.2 D IE „G ASTARBEITERINNEN “ 4.2.1 Fallbeispiel Habibe Habibe treffe ich spontan bei ihr zuhause an. Eine der „aktiven“ Frauen, der ich im Stadtteil vorher zufällig begegnet bin und der ich von meiner Suche nach Interviewpartnerinnen erzählt hatte, war gerade auf dem Weg zu ihr, und ich darf sie begleiten. Bei Habibe angekommen stehen wir in einer schlauchförmigen Wohnung. An der Wand hängt ein Bild von Atatürk, und der Fernseher läuft. Meine Begleiterin verabschiedet sich nach einigen Minuten wieder. Ich bin mit Habibe und ihrer Tochter Arzu allein und bekomme freudig strahlend ein Schälchen Schokolade hingestellt. Im Hintergrund höre ich zwei wild brabbelnde Wellensittiche. Unser Gespräch läuft ein wenig schleppend, denn Habibe versteht kaum Deutsch. Wie auch die anderen Frauen der „Gastarbeitergeneration“ möchte Habibe daher vor allem aus sprachlichen aber auch aus emotionalen Gründen eine vertraute Person während des Interviews an ihrer Seite haben. Arzu bleibt angesichts dessen bereitwillig ein wenig länger bei ihrer Mutter, zumal, so erfahre ich, sie zwar nicht mehr bei Habibe wohnt, sie aber drei bis vier Male die Woche besuchen geht. Arzu übersetzt in unserem Gespräch, und Habibe benutzt außerdem Hände und Füße, um sich verständlich zu machen. Habibe ist 62 Jahre alt, geschieden, hat fünf Kinder und kommt aus der Stadt Istanbul. Die Familie lebte dort mit fünf Kindern in einer Zweizimmerwohnung. Habibe ist die älteste unter fünf Geschwistern. Als sie 14 Jahre alt war und die fünfte Klasse abgeschlossen hatte, begann sie in einer Fabrik zu arbeiten, um der Familie ein Zubrot zu verschaffen. „Wir waren arme Leute“, sagt Habibe: „Hier sind auch viele arme Leute, aber früher waren es nur arme Leute.“ Als ich Habibe frage, ob sie damals in Istanbul denn männliche Freundschaften gepflegt habe, antwortet sie: H: Morgens wurde ich zur Fabrik hingebracht, abends von der Fabrik abgeholt. Wohin hätte ich da gucken sollen? Welche Männer angucken?73

Im Alter von 17 Jahren heiratete Habibe und ging fortan auf Wunsch ihres Mannes nicht mehr arbeiten. Rückblickend, sagt sie, habe sie zwar nicht heiraten

73 „Gastarbeiterin“, weiblich, 62 Jahre, lebt seit 1972 in Deutschland. Interview vom 14.08.2010.

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wollen, aber es sei selbstverständlich für sie gewesen, in die Heirat einzuwilligen: H: Einmal gesehen und mein Papa hat mich gegeben. Es war klar, dass ich „ja“ sage, aber ich wollte nicht. Früher hat man nicht „nein“ gesagt. Man hat gesagt: „Du kennst diesen Menschen, dann ist das ok.“74

Bei Habibes Mann handelte es sich um einen Bekannten ihres Großvaters, den Habibe vor der Hochzeit einmal gesehen hatte, wie sie sagt. Die Ehe lief bereits von Beginn an nicht gut. Habibes Mann war Alkoholiker und spielsüchtig. Regelmäßig übte er Gewalt an Frau und Kindern aus. Habibe trennte sich mehrere Male von ihm und suchte Zuflucht bei ihren Eltern, doch auf Veranlassung ihres Vaters kehrte sie jedes Mal zu ihrem Mann zurück: H: Ich bin oft abgehauen, aber mein Vater hat mich zurückgeschickt, weil ich drei Kinder von dem Mann hatte.75

Als ihr Mann entschied, als „Gastarbeiter“ nach Deutschland zu gehen, zog Habibe zu ihren Eltern. 1972 wurde sie von ihrem Mann nachgeholt. Eigentlich wollte sie ihm nicht folgen, reiste ihm aber dann schließlich doch auf Wunsch ihrer Eltern nach Marxloh hinterher. Die zwei älteren Töchter ließ sie zunächst in der Türkei, bis sich das dritte Kind ankündigte, und Habibe alle Kinder nach Marxloh nachholte. Habibes Mann war in der Duisburger Industrie als Schweißer tätig. Habibe war tagsüber mit den Kindern auf sich allein gestellt, was sie sehr genoss. Die Kommunikationsschwierigkeiten beim Einkaufen nahm sie mit Humor. Mit Händen und Füßen habe sie sich verständigt und außerdem oft Hilfe von ihren Nachbarn erhalten. Das Verhältnis zu den alteingesessenen Nachbarn schildert Habibe als gut. An Weihnachten seien ihre Kinder beschenkt und zu Ostern Eier für sie versteckt worden. War ihr Mann jedoch zuhause, sah sich Habibe immer mehr in ihrem Freiraum eingeschränkt, denn seine gewalttätigen Übergriffe hörten auch hier nicht auf. Vor allem abends schlug er unter Alkoholeinfluss die ganze Familie und vergewaltigte seine Frau. Habibe gab sich zunächst noch stark und ließ sich vor dem Umfeld nichts anmerken.

74 Ebd. 75 Ebd.

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H: Aber ich habe da schon dafür gesorgt, dass es keiner mitbekommen hat, was zuhause los war.76

Mit den Jahren jedoch wurde die Situation für sie unerträglich: H: Immer wieder habe ich ihm verziehen und gesagt: „Bessere dich.“ Dann kam aber eine Zeit, wo ich es nicht mehr ausgehalten habe, und da haben meine deutschen Nachbarn gesagt: „Du, in Deutschland gibt es Frauenhäuser. Nimm deine Kinder und geh da rein.“77

Es waren ihre Kinder, die insistierten und der Mutter immer wieder rieten, ins Frauenhaus zu gehen. Nach 18 Jahren Gewalt in der Ehe ging Habibe schließlich ins Frauenhaus und ließ sich scheiden. Um für ihre Kinder sorgen zu können, suchte sie sich eine Arbeit als Putzfrau. Zwar habe sich die älteste Tochter inzwischen in ihrer Ausbildung befunden und etwas Geld zum Familienunterhalt beigesteuert, aber dennoch sei es schwer gewesen, als allein stehende Frau mit inzwischen fünf Kindern eine Wohnung zu finden, sagt Habibe: H: Das war sehr schwer. Mit fünf Kindern! [Äfft nach, Anm. d. Verf.] „Die Frau hat fünf Kinder, wie soll sie die Miete aufbringen?“ Dabei wollte ich nie etwas vom Sozialamt wissen. Ich wollte meine Kinder allein durchbringen.78

Eine Wohnung fand die Familie schließlich auf der Weseler Straße und blieb elf Jahre dort wohnen. Erst im Rentenalter zog Habibe in eine kleinere Zweizimmerwohnung um. Bis heute lebt sie allein und ist zufrieden. Nie, sagt sie, würde sie in Erwägung ziehen, in die Türkei zurückzukehren. Dort leben zwar ihre Geschwister und ihre Mutter, und der Gedanke an die Türkei lässt sie während unseres Gesprächs sichtlich aufatmen, letztendlich überwiegt jedoch die Bindung an ihre Kinder in Deutschland: H: Ich gehe nur zum Urlaub in die Türkei. Zwei Wochen. Meine Kinder sind ja hier und alles.79

76 Ebd. 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Ebd.

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Wegen ihrer Kinder will Habibe unter keinen Umständen dauerhaft in die Türkei zurückkehren. Sie bedeuten ihr alles und geben ihr – da sie alleine wohnt – auch ein Gefühl der Sicherheit: H: Ich habe gesagt: „Jeden Tag müsst ihr mich anrufen.“ Ich lebe alleine hier. Vielleicht bin ich tot! I: Rufen denn alle Kinder jeden Abend an? H: Alle.80

Neben ihrer Familie hat Habibe aber auch einige Freundinnen im Stadtteil, mit denen sie sich regelmäßig zu Kaffee und Baklava81 trifft, den Koran liest, sich austauscht und Karten spielt. Alles in allem scheint Habibe mit ihrem Leben in Marxloh zufrieden zu sein: I: Lebst du gerne hier? H: Ja. Mein Leben ist gut.82

4.2.2 „Oh, Deutschland war sehr schön!“ 83 Das Leben in der Fremde Die neun Marxloher Frauen der sogenannten „Gastarbeitergeneration“84, mit denen ich ins Gespräch kam, hatten alle, wie Habibe, so gut wie gar keine Bildung genossen, bevor sie nach Deutschland kamen.85 Einige sind wenige Jahre zur Schule gegangen, manche überhaupt nicht, weil die Familien in so ärmlichen Verhältnissen lebten, dass jede Arbeitskraft gebraucht wurde. Darüber hinaus hat man aber auch vor allem bei den Mädchen eine Ausbildung nicht für notwendig gehalten. So schildert die 65-jährige Halide:

80 Ebd. 81 Baklava ist ein süßes Blätterteiggebäck, das mit gehackten Walnüssen, Mandeln oder Pistazien gefüllt und anschließend in Zuckersirup eingelegt wird. 82 „Gastarbeiterin“, weiblich, 62 Jahre, lebt seit 1972 in Deutschland. Interview vom 14.08.2010. 83 Ebd. 84 Da es bei den „Gastarbeitern“ nicht um „Gäste“ im eigentlichen Sinne handelte, ist es inzwischen üblich, diesen Begriff nur noch in Anführungszeichen zu verwenden. 85 Es wurden neun Marxloherinnen interviewt, die sich dieser Gruppe zuordnen ließen.

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H: Ich habe leider keine Schule besucht. Ich durfte nicht. Man sagte damals, wenn Mädchen zur Schule gehen, werden sie schlecht.86

Dass die Zuwanderer aus der Türkei, die im Zuge der „Gastarbeiteranwerbung“ nach Deutschland kamen, meist gering qualifiziert waren, ist inzwischen hinlänglich bekannt.87 Weit weniger bekannt ist jedoch, dass viele der Frauen zunächst allein nach Deutschland kamen, um zu arbeiten und schließlich Mann und Kinder nachholten. Von diesen Frauen begegnete mir in Marxloh allerdings nur eine, die heute 79-jährige Selma. Selma wurde jedoch nicht von der Duisburger, sondern von der Berliner Industrie angeworben und kam erst wesentlich später, im Alter von 50 Jahren nach Marxloh, weil dort ihr Sohn lebte. Gearbeitet hat sie in Duisburg dann nicht mehr. Dies ist kein Zufall. Die Mehrheit der angeworbenen „Gastarbeiterinnen“ waren nämlich, wie Selma, im Bereich der Elektrotechnik, der Textil- und Bekleidungs- sowie der Nahrungs- und Genussmittelindustrie beschäftigt, die zwar sehr wohl in Berlin nicht jedoch in Duisburg angesiedelt war.88 Für weibliche „Gastarbeiter“ bestand hier in der Schwerindustrie neben gelegentlichen Arbeiten in der Wäscherei also kein Bedarf. Nach Duisburg sind somit nur sehr wenige Frauen gekommen, die eigens als „Gastarbeiterin“ angeworben wurden. Die Mehrheit der Marxloher Frauen war vielmehr wie Habibe ihrem Ehemann nach Marxloh gefolgt und ging hier keiner Berufstätigkeit nach. Aus diesen unterschiedlichen Hintergründen der Frauen ergeben sich jedoch verschiedene Lebensweisen in der Anfangszeit ihres Deutschlandaufenthaltes und schließlich auch Differenzen in der aktuellen Lebensgestaltung und Einstellung zum Wohnort Marxloh: Während sich die „Pioniermigrantin“ Selma bereits im Herkunftsland gegen den Willen ihrer Familie durchsetzen musste, um allein nach Deutschland einzureisen, wurde der Nachzug der anderen Frauen zu ihren in Deutschland lebenden Ehemännern in ihren Herkunftsfamilien als Selbstverständlichkeit betrachtet – in Habibes Fall, wie wir gesehen haben, sogar als ihre Pflicht. Frauen wie Habibe standen somit seit Beginn ihres Aufenthaltes an der Seite mindestens eines männlichen Familienmitglieds, während Selma, zumindest zunächst, völlig auf sich allein gestellt war. Wir werden darauf später nochmals zurückkommen.

86 „Gastarbeiterin“, weiblich, 65 Jahre, lebt seit 1968 in Deutschland. Interview vom 19.01.2013. 87 Vgl. Kleff, Hans-Günther (1985): Vom Bauern zum Industriearbeiter. Zur kollektiven Lebensgeschichte der Arbeitsmigranten aus der Türkei. Ingelheim; Mainz. 88 Vgl. Mattes: 2005b, S. 296-297.

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Gemeinsam war allen neun Marxloher „Gastarbeiterinnen“ zunächst ihr ambivalenter erster Eindruck ihres neuen Wohnumfeldes. Das Ruhrgebiet, das sich in dieser Zeit noch mit seinen „rauchende[n] Stahlwerksschlote[n], surrende[n] Fördertürme[n], krachende[n] Stahlpressen und gelben Chemierauch“89 präsentierte, erschien den Frauen alles andere als anziehend: Die Farbe Grau in Kombination mit Dreck und Lärm prägte die erste Wahrnehmung ihrer neuen Lebensumgebung. So sagt die heute 53-jährige Meliha: M: Dann kam Duisburg. Und die Umgebung war grau, Regen, braune Häuser, schwarze Häuser, die Bäume kahl und steile Wände auf den Autobahnen. Da war die Depression für mich da.90

Diese negative Wahrnehmung der Region Ruhrgebiet galt in ähnlicher Weise auch für die Wohnverhältnisse im Duisburger Norden. Nur die 66-jährige Ayşegül, die aus einer dörflichen Gegend der Türkei kam, zeigte sich beeindruckt vom Stadtteil Marxloh: A: Fasziniert war ich anfangs von den Straßen hier im Stadtteil. Für mich war hier alles so ordentlich. Die Straßen sind gerade, kann man gar nicht mit dem Dorf vergleichen.91

Die anderen Frauen äußern alle, schockiert über die Wohnverhältnisse im Duisburger Norden gewesen zu sein. Die dortigen Arbeiterwohnungen waren in dieser Zeit mit ausgesprochen niedrigem Standard versehen, oft ohne Badezimmer, und die Toilette befand sich auf dem Gang. Bei den Frauen rief dies, auch im Nachhinein, entrüstetes Erstaunen hervor. Viele von ihnen verfügten bereits in der Türkei über ein Bad in den eigenen Räumlichkeiten. Umso befremdlicher war es für sie, diesen Komfort in Deutschland plötzlich nicht mehr vorzufinden. Dazu noch einmal Meliha: M: Wir haben eine dreiräumige Wohnung gehabt, aber wir hatten kein Badezimmer. Was ist das denn? Ich kenne das überhaupt nicht! Da war das ganze Haus ohne Bad, 1974! Was

89 Hierbei handelt es sich um eine vom „Medienbunker Marxloh“ gewählte Beschreibung des Ruhrgebiets, mit der eine Veranstaltung angekündigt wurde. Vgl. http:// www.madeinmarxloh.com/ (letzter Abruf: 15.07.2014). 90 „Gastarbeiterin“, weiblich, 53 Jahre, lebt seit 1974 in Deutschland. Interview vom 16.08.2010. 91 „Gastarbeiterin“, weiblich, 66 Jahre, lebt seit 1979 in Deutschland. Interview vom 15.01.2013.

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ist das denn? Wieso ist das so, warum sind alle Häuser ohne Bad hier? Ich bin in Europa! Das war ein Schock für mich.92

Dieses erste Entsetzen der Frauen über ihr neues Wohnumfeld legte sich aber bald, als man sich langsam mit den Gegebenheiten arrangierte und allmählich, wie Habibe, zu improvisieren begann: H: Wir lebten in einer Zweizimmer-Wohnung mit vier Kindern. Es gab keine anderen Wohnungen, ehrlich! Und Toilette im Treppenhaus! (lacht) Und keine Dusche! Keine, ehrlich! Wo sollte ich die Kinder waschen? Es gab so ’n Sofa, wo die Badewanne drin war, wenn du die Klappe hoch gemacht hast. Das hab ich gekauft. Und einen Schlauch durch die Wohnung zur Toilette gelegt. Und das Wasser wurde [mit einem Tauchsieder, Anm. d. Verf.] warm gemacht.93

Die meisten Familien in Marxloh hatten zumindest eine Zinkwanne in der Wohnung stehen, in der die Kinder samstags gebadet werden konnten. Letztendlich waren es vor allem die positiven zwischenmenschlichen Kontakte zum nachbarschaftlichen Umfeld, die die Unzufriedenheit über die Wohnverhältnisse bei den Frauen relativ rasch eindämmen konnten. Bei Habibe trugen sie sogar zu einer positiven Wahrnehmung von Deutschland als Ganzes bei: H: Oh, Deutschland war sehr schön! Ich kannte eine spanische Frau. Sie hat spanisch gesprochen, ich türkisch (lacht). Auch die Deutschen hatten für alle die Tür auf, so: „Komm rein!“94

Dass sie der deutschen Sprache zunächst nicht mächtig waren, wurde von allen Frauen zwar als Hindernis betrachtet, aber mit der Zeit schien man sich zurechtzufinden, die nötigsten Begriffe zu beherrschen, und vor allem stieß man auf ein verständnisvolles Umfeld unter seinen Marxloher Nachbarn. Dennoch schien es mit dem Erlernen der deutschen Sprache bei einigen der Frauen auch nach jahrelanger Aufenthaltsdauer in Deutschland nicht so recht zu klappen. Zwar nahmen sie an den von der Stadt oder von den Firmen angebotenen Sprachkursen teil, die von ihnen regelmäßig besucht wurden – die 63-jährige Emine verkündet in unse-

92 „Gastarbeiterin“, weiblich, 53 Jahre, lebt seit 1974 in Deutschland. Interview vom 16.08.2010. 93 „Gastarbeiterin“, weiblich, 62 Jahre, lebt seit 1972 in Deutschland. Interview vom 14.08.2010. 94 Ebd.

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rem Gespräch sogar stolz, ein Zertifikat erhalten zu haben. Aber zu Hause und im Stadtteil, wo sich die Frauen in ihrem Alltag bewegten, wurde mit steigender Tendenz ausschließlich türkisch gesprochen. War es während ihrer Anfangszeit in Marxloh für die Frauen noch schwierig, einkaufen zu gehen, weil sie sich der deutschen Sprache nicht mächtig fühlten, so entspannte sich die Lage im Laufe der Jahre mit der Etablierung türkischer Geschäfte im Stadtteil immer mehr – sehr zur Erleichterung der heute 66-jährigen Ayşegül und der 65-jährigen Halide: A: Anfangs gab es beim Einkaufen große Probleme. Wir kannten viele Namen nicht, konnten viele Dinge nicht finden. Wir hatten damals große Sehnsucht nach türkischem Weißkäse und Oliven. Es gab so viele türkische Familien nicht. Jetzt fühle ich mich aber sehr wohl. Wir sind hier mit meinen Nachbarn wie eine Familie.95 H: Hier im Stadtteil ist es Gott sei Dank wie im Himmel. Auch wenn ich die Sprache nicht beherrsche, habe ich meinen Sohn, meine Schwiegertochter, meine Nachbarn, die mich unterstützen. Kleinigkeiten kann ich auch schon selber erledigen. Alle Geschäfte sind türkisch. Ärzte sind Türken. Sogar in der Apotheke spricht man türkisch. Früher gab es Schwierigkeiten beim Einkaufen.96

Das Gesagte trifft auf alle befragten Frauen zu, die ihrem Mann, der als „Gastarbeiter“ bereits nach Deutschland gekommen war, gefolgt und die nie berufstätig gewesen waren. Sie haben sich um ihre Kinder und den Haushalt gekümmert und dies für sich nie in Frage gestellt. So sagt Emine: E: Ich musste zum Glück nicht arbeiten. Mein Mann war der Herr, der uns versorgt hat. Zum Glück.97

Die Mehrheit der Frauen betont, sie hätten nie einer außerhäuslichen Berufstätigkeit nachgehen müssen oder wollen, da der Mann das gesamte Haushaltseinkommen sicherte. Diese Aufgabenverteilung war für sie eine Selbstverständlichkeit. Während der Mann arbeiten ging, blieben die Frauen zu Hause, kümmerten

95 „Gastarbeiterin“, weiblich, 66 Jahre, lebt seit 1979 in Deutschland. Interview vom 15.01.2013. 96 „Gastarbeiterin“, weiblich, 65 Jahre, lebt seit 1968 in Deutschland. Interview vom 19.01.2013. 97 „Gastarbeiterin“, weiblich, 63 Jahre, lebt seit 1969 in Deutschland. Interview vom 03.08.2012.

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sich um Haushalt und Kinder und trafen sich mit anderen, damals oft auch noch alteingesessenen Marxloher und türkischen Frauen. Sie verrichteten Handarbeiten und tranken Tee im Hinterhof der Marxloher Arbeitersiedlungen: E: Sobald die Kinder in der Schule waren, setzten wir uns mit den Frauen in der Nachbarschaft zusammen. Täglich aßen wir und tranken gemeinsam Tee oder Kaffee bis die Männer und Kinder nach Hause kamen.98

Obwohl deutschlandweit viele der Frauen, die als „Gastarbeiter“ kamen, Hausfrauen waren, gab es jedoch auch Frauen wie Selma, die nicht ihrem Mann gefolgt waren, sondern als eigenständige Arbeitskraft angeworben wurden. Die Erkenntnis, dass Frauen von deutschen Unternehmen für bestimmte Tätigkeiten systematisch angeworben worden sind, ist allerdings in den Sozialwissenschaften, nach deren anfänglicher kurzer Beachtung99, mit der Zeit wieder aus den Augen verloren worden. Die Historikerin Monika Mattes100 sieht diese wissenschaftliche und politische Vernachlässigung der weiblichen „Gastarbeiter“ vor allem im „lange Zeit unbestrittenen gesellschaftspolitischen und kulturellen Konsens darüber, dass Männer und Frauen komplementäre Zuständigkeitsbereiche haben“101. Männern würde der außerhäusliche Bereich als Tätigkeitsbereich zugeschrieben, für Frauen hingegen gelte der Haus- und Familienbereich als der „natürliche Beruf“.102 Mattes’ ausführliche Analysen zeigen deutlich, dass dies bei der Anwerbung der „Gastarbeiterinnen“ in der Bundesrepublik nicht der Fall gewesen war: Seit Mitte der 1960er Jahre haben „Gastarbeiterinnen“ aus der

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Ebd.

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Sanders, Helma; Ören, Aras (1975): Shirins Hochzeit. Fernsehdokumentation. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=_UC7Hx8krCE (letzter Abruf: 03.01.2015).

100 Mattes, Monika (2005a): „Gastarbeiterinnen“ in der Bundesrepublik. Frankfurt am Main. Vgl. dazu auch: Jamin, Mathilde; Aytaç, Erylimaz (Hrsg.) (1998): Fremde Heimat – Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei. Hrsgg. vom Ruhrlandmuseum und DoMIT – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei. Essen. 101 Mattes, Monika (2005b): Zum Verhältnis von Migration und Geschlecht. Anwerbung und Beschäftigung von „Gastarbeiterinnen“ in der Bundesrepublik 1960-1973. In: Motte, Jan; Ohlinger, Rainer; von Oswald, Anne (Hrsg.) (1999): 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte. Frankfurt am Main. S. 285-309. Hier: S. 286. 102 Ebd.

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Türkei in die Bundesrepublik immer weiter an Bedeutung gewonnen.103 Als im Jahr 1964 dem einmillionsten „Gastarbeiter“ Armando da Rodrigues ein Riesenempfang bereitet wurde, haben sich zu diesem Zeitpunkt statistisch betrachtet bereits 220.000 ausländische Frauen in Westdeutschland befunden, die versicherungspflichtig beschäftigt waren.104 Dass die Unternehmen besonders auch an weiblichen Arbeitskräften interessiert gewesen waren und diese sogar in ihren Herkunftsländern anwarben, findet sich auch in der Biographie Selmas wieder, die mit ihrer Bewerbung als „Gastarbeiterin“ einem Aufruf im Radio folgte, mit dem gezielt Frauen angesprochen werden sollten: S: Jeden Tag habe ich im Radio gehört: „Deutschland braucht Arbeiterinnen, kommen Sie!“ Und da habe ich gedacht, wieso sitze ich zu Hause? Dann gehe ich! Wenn man so viel Reklame macht.105

Gemeinsam mit fünf anderen türkischen Frauen reiste Selma nach Deutschland ein. Mit einem gewissen Amüsement blickt sie auf ihren Tag der Aus- beziehungsweise der Einreise zurück: S: Im Flugzeug dann, wir waren vier Frauen, hat ein Mann mir eine Mappe gegeben und gesagt: „blablabla“. Aber ich verstand ihn nicht. Ich habe aber den Mund gehalten, weil die Frau neben mir war von einem kleinen Ort und wenn ich gesagt hätte: „Ich weiß nicht, wohin es geht“, dann hätte die gleich angefangen zu weinen. Dann sind wir angekommen, und ich habe gesagt: „Jetzt warten wir, was passiert.“ Und dann kam einer und sagte immer: „Frau Zeilan, Frau Zeilan!“ Und irgendwann habe ich zu den anderen Frauen gesagt: „Ob der wohl mich meint?“ Ich heiße Ceylan (lacht). Und dann ist der gekommen, ich habe ihm die Mappe gegeben und der hat uns ins Heim gefahren.106

Selma kam nach Berlin und wurde dort mit einer „frauentypischen“ Tätigkeit, die üblicherweise durch einen „unzumutbar niedrigen Lohn“107 gekennzeichnet war108, eher zufällig als Wicklerin in die Siemenser Produktion vermittelt:

103 Ebd., S. 293. 104 Mattes, Monika (2005a): „Gastarbeiterinnen“ in der Bundesrepublik. Frankfurt am Main. S. 9. 105 „Gastarbeiterin“, weiblich, 79 Jahre. Interview vom 14.08.2010. 106 Ebd. 107 Mattes: 2005b, S. 298. 108 Weitere typische Tätigkeitsfelder im Niedriglohnsektor waren neben der Elektrotechnik, Eisen- und Metallwarenindustrie außerdem die Textil- und Bekleidungsin-

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S: Und dann hat jede von uns 25 Mark gekriegt, und am nächsten Tag sollten wir zur Arbeit gehen. Aber das war Feiertag irgend so etwas. Pfingsten oder so etwas. Ich bin am 10. Mai gekommen. Es muss irgend so etwas gewesen sein. Dann habe ich zwei Tage im Heim gewartet, es war ein schönes Heim. Und dann am nächsten Tag ist der Dolmetscher gekommen und hat uns mitgenommen. Hat uns jede Etage gezeigt. Damals war ja viel Arbeit, wenig Geld. Und der siebte Stock hat mir sehr gut gefallen, alle Frauen so in weißer Kleidung. Und da habe ich gedacht, hier gefällt es mir. Und der Dolmetscher hat es gesagt. Ich habe gefragt: „Woher weißt du?“ Er sagte, er hat es an meinem Gesicht gesehen. Und ich habe gesagt: „Ja, wenn ich hier bleiben kann, bleibe ich.“ Das war Kupferdraht mit der Maschine wickeln. Auch die anderen Frauen haben gesagt: „Deinetwegen haben wir so schöne Arbeit gekriegt!“ (lacht).109

Allgemein ist über die Lebens- und Arbeitssituation der „Gastarbeiterinnen“ in dieser Zeit noch nicht viel bekannt geworden. Oftmals werden Schwierigkeiten genannt, die mit der häufig dörflichen Herkunft der Zuwanderinnen zu tun hatten, wie Heimweh sowie die mangelnde Kenntnis von technischen Neuerungen.110 Neben diesen Problemen, die Selma zwar auch in das Gespräch einbringt, war für sie aber vor allem auch die industrielle Arbeitsweise ungewohnt.111 Meist arbeitete Selma, wie die meisten „Gastarbeiterinnen“, Akkord, was für sie sehr anstrengend und ungewohnt war. Doch aus finanziellen Gründen ertrug sie die Arbeitsumstände und hielt durch: S: Erwartungen an Deutschland? Geld, nur Geld! (lacht). Ansonsten habe ich nur schlecht [über Deutschland, Anm. d. Verf.] gedacht. Immer arbeiten. In der Türkei waren wir ja Hausfrauen, so Nachbarn. Heute da, morgen da [zu Besuch, Anm. d. Verf.]. Aber hier war es für uns dann ein bisschen so wie Gefängnis.112

Dass das Geld ein Anreiz für die aus der Türkei stammenden Frauen war, nach Deutschland zu kommen, mag angesichts der niedrigen Löhne vielleicht über-

dustrie sowie die Nahrungs- und Genussmittelindustrie, aber auch im Dienstleistungsbereich und Reinigungsgewerbe arbeiteten viele Frauen. Vgl. Mattes: 2005b, S. 296-297. 109 „Gastarbeiterin“, weiblich, 79 Jahre. Interview vom 14.08.2010. 110 Vgl. Trottnow, Barbara (2006): „Emine aus Incesu. Die Geschichte einer Migration. Aus der Fremde – In die Fremde“. Fernsehdokumentation, 3sat, 2006. Online unter: http://www.bt-medienproduktion.de/ (letzter Abruf: 15.12.2014). 111 Vgl. Kleff: 1985. 112 „Gastarbeiterin“, weiblich, 79 Jahre. Interview vom 14.08.2010.

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raschen, stellte aber im Vergleich zu ihrer finanziellen Lage im Herkunftsland einen deutlichen Aufstieg dar. Dennoch: Die Arbeitsbedingungen waren für die Frauen ausgesprochen anstrengend. Sie mussten die meisten Tätigkeiten im Stehen verrichten und nicht selten Überstunden machen. Hinzu kamen der für Akkordarbeit typische Zeitdruck und die nur kurzen Pausen sowie die generelle zeitliche Taktung des Arbeitstages, der sich in Arbeitsschichten einteilte. Man musste also zu einer bestimmten Zeit zur Arbeit erscheinen und konnte erst zu einer bestimmten Zeit wieder gehen.113 Vergleicht man, wie Selma, diese Arbeitsweise mit dem Alltag auf dem Dorf, den sie vorher gewohnt war, so wird durchaus verständlich, warum sie ihr Arbeitsumfeld, das ihr deutlich weniger Freiraum als zuvor zugestand, als „Gefängnis“ bezeichnet. Mit der Zeit arrangierte sich Selma jedoch mit den Arbeitsbedingungen und begann allmählich, auf eigene Faust ihr Umfeld zu erkunden und Deutsch zu lernen: S: Und dann haben wir einen Heimlehrer gekriegt und haben angefangen, Deutsch zu lernen. Das war ein Student. Der kam jeden Sonntag und hat uns Bücher gegeben und Stift und alles. Aber leider, viele Frauen wollten das nicht. Zu teuer. Aber meine Nichte und ich, wir wollten. Ich war aber faul, habe nicht schreiben, sondern wie ein Papagei gelernt (lacht). Aber nach einem halben Jahr hatte ich kaum noch Schwierigkeiten mit Deutsch. Ich spreche viel falsch, aber es geht.114

Viele andere Frauen in Selmas Heim hätten, so sagt sie, auf Grund ihrer Rückkehrgedanken für Sprachkurse keinen Bedarf gesehen und den Unterricht daher nicht in Anspruch genommen. Das Geld für die Kurse hätten sie lieber sparen wollen, um baldmöglichst wieder in die Türkei zurückzukehren, was allerdings, wie Selma meint, nur einige wenige von ihnen tatsächlich getan hätten. Diese Frauen könnten bis heute wenig oder gar kein Deutsch. Wir wissen inzwischen, dass insbesondere in den Familien, in denen sich das gewohnte Rollenbild umkehrte, indem die Frau das Geld verdiente und nicht der Mann, es zu einigen Schwierigkeiten in der Partnerschaft kommen konnte.115 Während diejenigen Marxloher „Gastarbeiterinnen“, die ihren Männern nachgereist und nicht berufstätig waren über keine nennenswerten Veränderungen in ih-

113 Vgl. Kleff: 1985. 114 „Gastarbeiterin“, weiblich, 79 Jahre. Interview vom 14.08.2010. 115 Vgl. beispielsweise: Schiffauer, Werner (1991): Die Migranten aus Subay. Türken in Deutschland. Eine Ethnographie. Stuttgart. Vgl. darin insbesondere das Kapitel „Fatma. Die Auseinandersetzung mit der männlichen Ordnung“.

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rer Partnerschaft berichten, ist dies bei Selma, die berufstätig war, auffallend anders: Das familiäre Miteinander war für Selmas Familie, nachdem ihr Mann nach Deutschland nachgekommen war, für alle Familienmitglieder nicht leicht. Selmas Mann fühlte sich in Deutschland um seine Stellung als Familienoberhaupt gebracht, denn schließlich war es nun nicht mehr er, sondern seine Frau, die das Familieneinkommen sicherte und auch sonst einiges plötzlich eigenständig regelte. Besonders deutlich wird dies an Selmas Schilderung zur Wohnungssuche: Über Beziehungen zu ihren Kolleginnen wurde Selma auf eine werkseigene Wohnung aufmerksam, die an Personen, die im Werk arbeiteten, vermietet wurde. Selma nutzte die Gelegenheit, sich die Wohnung anzusehen und sagte zur Vermieterin fast entschuldigend: S: „Mein Mann arbeitet allerdings nicht hier, ich bin es.“ Da sagte die Vermieterin: „Kein Problem.“ Und so haben wir endlich eine Wohnung gekriegt.116

Es ist leicht vorstellbar, wie sich Selmas Mann in diesem Moment gefühlt haben musste.117 War er in der ländlichen Türkei noch derjenige, der das Familieneinkommen sicherte, tat er sich in Deutschland bis zuletzt schwer, eine Arbeitsstelle zu finden und blieb bis zu seiner Scheidung arbeitslos. Selmas Gehalt war bis dahin das einzige Einkommen der Familie. Ihr Mann kam mit den nun umgekehrten Rollenverteilungen nicht zurecht und lehnte rigoros alles ab, was den Anschein erwecken könnte, dass er in seiner Familie der „Hausmann“ sei: S: Beispiel: Ich hatte meine kleine Nichte zu Besuch, die immer hädädä [am Quengeln war, Anm. d. Verf.]. Ich habe zu ihm gesagt: „Geh mit ihr doch spazieren, kauf ihr Schokolade, dann ist das Kind zufrieden.“ „Ha, ich bin hier nicht die Kinderhüterin!“ schrie er. Wenn ich heute alte Männer mit Enkeln sehe, werde ich traurig. Er hat nie dieses Gefühl gehabt. Er denkt immer, er ist Dienstmann.118

116 „Gastarbeiterin“, weiblich, 79 Jahre. Interview vom 14.08.2010. 117 Eine ähnliche Situation schildert der Ethnologe Werner Schiffauer anhand der Biographie einer Frau, die er Fatma nennt. Gleich der Situation in Selmas Familie ist auch hier die Frau, die als „Pioniermigrantin“ nach Deutschland kam. Als ihr Mann mit Kind nachreiste, fand dieser keine Arbeitsstelle, so dass Fatma allein das Familieneinkommen sicherte. Ihr Mann Ramis verfällt schließlich der Spielsucht. Vgl. Schiffauer: 1991, S. 203. 118 „Gastarbeiterin“, weiblich, 79 Jahre. Interview vom 14.08.2010.

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Diese Unzufriedenheit über die veränderte Rollenverteilung führte bei Selmas Mann zu dem intensiven Wunsch, in die Türkei zurückzukehren, und nur durch einen „Trick“ Selmas ließ er sich dazu überreden, von diesem Wunsch wieder Abstand zu nehmen: S: Er sagte immer: „Habe ich dich verhungern lassen? Was machen wir hier? Fahren wir zurück!“ Aber ich wollte nicht. Hier war es doch gut, hier habe ich Geld verdient. Aber an einem Tag hat er gesagt, er hat Fahrkarten und wir fahren weg. Ich habe gedacht, wenn ich jetzt nein sage, dann schreit er. Also habe ich gesagt, als wir allein waren: „Weißt du, was ich die ganze Zeit überlege?“ „Ja, was überlegst du?“ „Wenn wir jetzt in die Türkei zurückgehen, heißt es dort bestimmt, du hättest etwas Schlimmes gemacht, und die Deutschen haben dich weggejagt (lacht). Alle Leute gehen dort Geldverdienen, und du kommst ohne Arbeit zurück.“ Und die Nichte, das ist seine Schwestertochter, die hat auch immer gesagt: „Willst du den Druck der Leute?“ Da sind wir geblieben (lacht).119

Es war Selmas Entschluss, in Deutschland bleiben zu wollen. Ihr Leben in Deutschland bedeutete für sie Geld zur Verfügung zu haben, das sie unter sehr anstrengenden Umständen selbst verdiente und durch das sie ein Stück Unabhängigkeit erlangte. Beides wollte sie durch eine Rückwanderung in die Türkei nicht wieder aufgeben. Selma hatte sich im Laufe nur weniger Jahre daran gewöhnt, die Alleinverdienerin zu sein. Ihrem Mann jedoch machte es stark zu schaffen, von seiner Frau abhängig zu sein. Er wollte zurückkehren, um die ehemaligen Familienverhältnisse wieder herzustellen. Seinem Rückkehrtraum ins Dorf seiner Herkunft begegnet Selma jedoch gezielt und unter für ihren Mann durchaus realistischem Bezug auf sein dörfliches Umfeld, in das er zurückkehren will: Selma weiß, was das gesellschaftliche Ansehen ihrem Mann bedeutet und nimmt bewusst genau darauf Bezug, um ihren Mann zum Bleiben zu bewegen. Der Ruf, so ihr Argument, könnte auf diese Weise zerstört werden, da allen im Dorf klar werden würde, dass es ihr Mann in Deutschland nicht geschafft habe. Selma schätzt ihren Mann in der Hinsicht exakt richtig ein. Schlagartig scheint ihm bewusst zu werden, dass die Situation im Dorf vielleicht nach seiner Rückkehr gar nicht mehr in der ihm bekannten Weise bestehen wird. Auch in seinem Dorf wird er vielleicht als gescheiterter Mann betrachtet werden – in Deutschland lässt sich zumindest der Schein noch wahren. Wie viele andere Familien der „Gastarbeitergeneration“ blieb somit auch Selmas Familie in Deutschland und kehrte bis zum Eintritt ins Rentenalter nur alle paar Jahre für wenige Wochen zu Urlauben in die Türkei zurück.

119 Ebd.

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4.2.3 „Es hat sich vieles hier verändert.“120 Wahrnehmung von Wertewandel und Veränderungen im Stadtteil Bei allen befragten „Gastarbeiterinnen“ zeigt sich, dass vor allem der Bereich der Familie und besonders der der Kinder die höchste Priorität einnimmt. Alle neun Frauen haben mindestens ein Kind, die meisten jedoch zwei oder mehr. Die Kinder der Frauen kamen entweder noch in der Türkei oder bereits in Deutschland zur Welt. In jedem Fall sind sie in Deutschland zur Schule gegangen und haben hier die Schullaufbahn zumindest partiell durchlaufen. Es fällt auf, dass die Frauen, die selbst kaum Bildung genossen haben, für ihre Kinder stets eine höhere Ausbildung anstrebten. So sagt Emine: E: Für uns war es immer wichtig, dass die Kinder einen Beruf erlernen.121

Emine hatte in der Türkei durch ihre Mutter Nähen gelernt, aber dort nie die Schule besucht. Nach der Hochzeit mit ihrem Mann brachte er ihr ein wenig Lesen bei, und als sie ihm ein Jahr nach seiner Ausreise nach Deutschland folgte, besuchte sie einen von der Familienbildungsstätte finanzierten Deutschkurs. Nebenher arbeitete sie als Schneiderin von zu Hause aus und zog fünf Kinder groß. Emines Tochter, die „Bildungsaufsteigerin“ Nayla122, hat ihre Mutter auch aus diesem Grund als sehr aktives Vorbild wahrgenommen: N: Meine Mutter war auch eigentlich aktiv, obwohl die meisten behaupten, dass türkische Frauen unterdrückt wurden, aber das stimmt nicht. Wenn ich überlege, jetzt vor 35 Jahren, war meine Mutter nicht die einzige, die diesen Kurs besucht hat. Sie hat noch Fotos davon. Also Interesse war da. Also es war nicht so, dass die Frauen unterdrückt wurden, kann ich mir nicht vorstellen, weil die eigentlich auch einen Plan hatten. Die haben diesen Kurs besucht, wenn wir in der Schule waren. Also das gab es schon damals.123

Obgleich sich einige der Frauen durch die Sprachkurse weiterbildeten, reichte das angeeignete sprachliche Wissen dennoch nicht aus, um ihren Kindern in der

120 „Gastarbeiterin“, weiblich, 63 Jahre, lebt seit 1969 in Deutschland. Interview vom 03.08.2012. 121 Ebd. 122 Mehr zu Nayla folgt unter Abschnitt 4.3. 123 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010.

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Schule helfen zu können. Daher wird die Schulzeit der Kinder von ihren Müttern durchweg als schwierig beschrieben, weil sich die Frauen zwischen ihrer Rolle als Mutter und somit als Autoritätsperson und ihrem fachlichen Unvermögen, den Kindern bei ihren Hausaufgaben helfen zu können hin- und hergerissen fühlten: M: Für meine Kinder habe ich versucht, das Beste zu geben. Große Schwierigkeiten hatte ich aber während der Schulzeit meiner Kinder. Ich konnte ihnen nicht helfen. Ich konnte die Lehrer nicht verstehen. Es war nicht einfach für eine Mutter. Einerseits ist man eine Autorität, andererseits kann man einfache Fragen der eigenen Kinder nicht beantworten. Das hat mir sehr weh getan.124

Die Frauen wollten für ihre Kinder zwar, dass sie es „einmal besser haben“ werden, aber helfen konnten sie ihnen in fachlicher Hinsicht nicht. Dennoch betonen sie, stets ihr Möglichstes getan zu haben, die Kinder zu einer höheren Ausbildung zu motivieren, denn sie selbst hätten es als mühsam empfunden, als Analphabeten zurecht kommen zu müssen. „Kleine Dinge“125, sagt etwa Halide, mache sie inzwischen allein, aber dennoch sei sie weiterhin auf Hilfe ihrer Familienmitglieder oder Freunde und Bekannten angewiesen. Das wünsche sie sich für ihre Kinder anders. Dass sich die Wertigkeit der Bildung vor allem für die Mädchen bei den folgenden Generationen geändert hat, betrachten die Frauen daher als eine positive Entwicklung bei den jüngeren Generationen: M: An der zweiten Generation sehe ich große Unterschiede. Unsere Kinder können ihren Kindern viel mehr geben. Sie verstehen alles. Sie unterstützen ihre Kinder bei ihren Hausaufgaben und können den Lehrern Fragen stellen. Sie unternehmen viel mit ihren Kindern. Es wird immer besser.126

Doch auch hier werden deutliche Unterschiede erkennbar zwischen Selma und später auch Habibe, die beide berufstätig waren und den Marxloher „Gastarbeiterinnen“, die es nicht waren. Während Selma und Habibe Eigenständigkeit und berufliche Unabhängigkeit ihrer Kinder stets befürwortet haben, ist es etwa Emi-

124 „Gastarbeiterin“, weiblich, 55 Jahre, lebt seit 1975 in Deutschland. Interview vom 17.01.2013. 125 „Gastarbeiterin“, weiblich, 65 Jahre, lebt seit 1968 in Deutschland. Interview vom 19.01.2013. 126 Ebd.

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ne zwar wichtig, dass vor allem die Töchter als Frauen „klug“ sind, aber dennoch primär im Inneren der Familie Verantwortung tragen: E: Es hat sich vieles verändert. Heutzutage ist es nicht einfach als Frau. Aber die Frau sollte klug sein. Sie sollte Ihre Aufgaben annehmen und sie vollständig durchführen. Sie sollte nicht auf das Umfeld hören. Sie muss anerkennen, dass Sie die Herrin zu Hause ist.127

Klugheit ist für Emine also bedeutsam, aber als Frau solle man sich dennoch darauf besinnen, dass man im Haus das Sagen habe und die „Herrin“ sei. Dass sich Emine hier wünscht, Frauen sollten nicht auf das „Umfeld hören“, nimmt Bezug auf den schon im Zusammenhang mit Habibe und Selma erwähnten „Ruf“ in der Gesellschaft. Hier bei Emine steht er jedoch im direkten Widerspruch zu einer ihrer späteren Äußerungen: Scheint es zunächst, dass Emine deutlich auf Distanz zum Ruf geht, äußert sie sich später im Zusammenhang mit den Werten „Ehre“ und „Respekt“ deutlich anders und sagt: „Alle diese Werte sind wichtig.“128 Es bleibt zu vermuten, dass Emine durchaus der Meinung ist, als Frau müsse man sich der Werte Ehre, Respekt und Ansehen annehmen, aber zugleich auch in der Lage sein, das Umfeld, das auch falsche Gerüchte streuen kann129, zu ignorieren. Wie bei den „Heiratsmigrantinnen“130 scheint sich auch bei den „Gastarbeiterinnen“ hinsichtlich der Werte Ehre, Ansehen und Respekt ein ähnliches Muster abzuzeichnen: Sie sind für die Frauen so lange wichtiges Fundament, wie sie sich nach ihnen richten können. So bedauert Halide, die nie mit dem strikten Ehrkonzept in Konflikt geraten ist, dass „die Jugend“ diese Werte nicht mehr für wichtig erachten würde, Eltern und vor allem Ehepartner nicht mehr ausreichend respektiert würden und sich zu früh scheiden ließen. Halide fürchtet um den Verfall dieser ihr so wichtigen Werte:

127 „Gastarbeiterin“, weiblich, 63 Jahre, lebt seit 1969 in Deutschland. Interview vom 03.08.2012. 128 Ebd. 129 Zu der Bedeutung von Gerüchten im Mittelmeerraum vgl. beispielsweise: Giordano, Christian (1994): Der Ehrkomplex im Mittelmeerraum: sozialanthropologische Konstruktion oder Grundstruktur mediterraner Lebensformen? In: Vogt, Ludgera; Zingerle, Arnold (Hrsg.) (1994): Ehre. Archaische Momente in der Moderne. Frankfurt am Main. S. 172-192. Hier: S. 183. 130 Vgl. Abschnitt 4.4.

104 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH H: Die heutige Jugend ist sehr respektlos. Es gab damals nicht so viele Scheidungen. Auch wenn der Mann die Frau geschlagen hat, er soll das natürlich nicht, aber die Frau blieb zu Hause. Es spielte damals keine Rolle, ob man zehn oder fünf Kinder hatte. Man blieb zu Hause. Vielleicht hat der Mann getrunken, aber warum hat er getrunken? Er hatte doch bestimmt einen Grund dafür. Die Heutigen schmeißen das gute Essen in den Müll, nur weil es nicht mehr frisch ist. Die wissen nicht, was Sünde ist. Nach einer kleinen Auseinandersetzung verlassen sie ihren Mann. Ist das richtig? Man sollte für seine Ehe kämpfen und nicht sofort aufgeben.131

Für die Ehe zu „kämpfen“, auch wenn einem Gewalt und Alkoholsucht das Leben schwer machen – eine Trennung kommt für Halide nicht in Frage. Halide hat jedoch nie Gewalt seitens ihres Mannes erlebt, wohingegen Habibe und Selma von ihren Ehemännern massiv misshandelt wurden. Wie Halide waren aber auch diese beiden Frauen zumindest zunächst davon überzeugt, dass „auch wenn der Mann seine Frau geschlagen hat“ die Frau „zuhause“ blieb. Auf Grund dieser Einstellung gelang es Selma und Habibe anfangs noch, nach außen hin ihr Ansehen weiterhin zu wahren, indem sie entweder, wie Selma, bei ihrem Mann blieben oder, wie Halide, immer wieder zu ihm zurückkehrten. Bei beiden waren es schließlich jedoch die Kinder, die ihre Mütter unter Druck setzten, sich doch endlich von dem Mann zu trennen. Bei Habibe kamen zudem die „deutschen Nachbarn“ hinzu, die gemeint hätten: „Du, in Deutschland gibt es Frauenhäuser“.132 Für Selma und Habibe war es also trotz der Gewalt, die ihre Männer an ihnen ausübten so lange selbstverständlich, bei ihnen zu bleiben, bis sie durch andere Personen darauf aufmerksam wurden, eine andere Lebensform wählen zu können und sich von ihren Männern zu trennen. Dieser Prozess hat bei beiden Jahre gedauert – Selma reichte mit über 50 Jahren die Scheidung ein, Habibe war 34 Jahre alt. Zunächst, sagen beide, hätten sie sich als geschiedene Frau vor dem Umfeld in Marxloh geschämt, aber inzwischen hörten sie nicht mehr auf das, was „die Leute“ sagen würden.133 „Nase oben behalten“, erläutert etwa Habibe, sei ihre Strategie gewesen, dem Umfeld zu begegnen: „Nur nicht unterkriegen lassen.“134 Im Unterschied zu Halide, die nie Gewalt erfahren hat, haben bei Habibe und Selma also die Gewalterfahrungen seitens ihrer Ehemänner dazu geführt, dass

131 „Gastarbeiterin“, weiblich, 65 Jahre, lebt seit 1968 in Deutschland. Interview vom 19.01.2013. 132 Ebd. 133 Vgl. Abschnitt 5.3.1. 134 Ebd.

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sie sich deutlich von den Werten Ehre und Ansehen sowie schließlich sogar von der Religion entfernt haben. Beide sagen von sich, sie seien ehemals bekennende Sunnitinnen gewesen, würden sich aber heute nicht mehr als religiös bezeichnen. Dass sie mit ihrer Scheidung auch ihrem Glauben entsagten, mag zunächst überraschen. Dies erklärt sich jedoch dann, wenn man bedenkt, dass die Frauen die Werte Ansehen, Ehre und Respekt eng mit der Religion verknüpfen. Besonders deutlich zeigt sich dies in Emines Aussage: E: Alle Werte sind mir sehr wichtig. Ehre, Respekt, all diese Werte. Die Religion ist das Fundament für diese Werte. Sobald die Religion ausgeübt und gelebt wird, werden diese Werte automatisch mit berücksichtigt.135

Im Umkehrschluss bedeutet das im Falle von Habibe und Selma also auch, dass, sobald sie sich von dem Wert der Ehre distanzieren, konsequenter Weise auch die Religion, die sie ja als „Fundament“ dieses Wertes betrachten, verwerfen. Ehrlos aber zugleich weiterhin religiös zu sein, schließt sich demnach hier aus. 4.2.4 „Wenn Ayşe fährt, heult sie. Wenn sie wiederkommt, heult sie.“ 136 Vom Leben im „Dazwischen“ Die Marxloher Frauen, die als „Gastarbeiterinnen“ nach Deutschland kamen, sind heute, bis auf Habibe, alle Rentnerinnen. Sie leben inzwischen seit mehr als 30 Jahren im Stadtteil und haben Kinder und Enkelkinder. Marxloh ist ihr Zuhause geworden, hier leben ihre Familien, ihre Freunde und Bekannten. Sie fühlen sich im Stadtteil sicher, dank ihrer persönlichen Netzwerke und der türkischsprachigen Infrastruktur gut versorgt, und auch über die Veränderungen im Stadtteil, die durch die Neuzuwanderung entstehen, äußern sie sich gelassen und zeigen sich sogar solidarisch. Dazu Ayşegül: A: Ich fühle mich von denen [den Neuzuwandereren aus Bulgarien und Rumänien, Anm. d. Verf.] nicht gestört. Wir waren auch mal so wie sie. Die brauchen auch Zeit, bis sie hier alles kennenlernen.137

135 „Gastarbeiterin“, weiblich, 63 Jahre, lebt seit 1969 in Deutschland. Interview vom 03.08.2012. 136 „Aktive“, weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010. 137 „Gastarbeiterin“, weiblich, 66 Jahre, lebt seit 1979 in Deutschland. Interview vom 15.01.2013.

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Emine berichtet zwar, negative Erfahrungen mit „Bulgaren“ gemacht zu haben, denen sie zweimal ein Zimmer vermietet habe und von ihnen bestohlen worden sei. Aber, so relativiert sie ihre Aussage, das könnten auch nur zwei Einzelerfahrungen gewesen sein, eigentlich habe sie nichts gegen die Neuzuwanderer im Stadtteil einzuwenden. Im Großen und Ganzen sind die Frauen mit ihrem Leben in Marxloh also zufrieden, aber dennoch ist ihnen in den Gesprächen eine gewisse Unruhe anzumerken. So zeigte sich bereits während meines ersten Forschungsaufenthalts im Jahr 2010, dass viele der Frauen in den Sommermonaten zum Zeitpunkt des Fastenmonats Ramadan nicht im Stadtteil anzutreffen waren. Sie pendeln während des Jahres zwischen der Türkei und Marxloh – leben bis zu sechs Monate in der Türkei und den Rest des Jahres über in Marxloh. Sandra, eine der „Aktiven“138, die schon seit Jahren häufig und gern Kontakt zu vielen „Gastarbeiterinnen“ im Stadtteil hat, deutet dieses Pendeln in unserem Gespräch folgendermaßen: S: Und die sind immer auf der Suche und finden nicht. Und sie haben dann die Zerrissenheit. Die Kinder sind hier und tun den Teufel mitzugehen. Drüben liegt aber der Mann begraben oder die Geschwister. Egal, wo sie sind, sie sind nie glücklich. Wenn Ayşe fährt, heult sie. Wenn sie wiederkommt, heult sie. Immer so dieses, man muss sich trennen und ist nirgendwo angekommen.139

„Nirgendwo angekommen“ – diese Formulierung Sandras verweist auf eine Wahrnehmung von Migration, die in den Sozialwissenschaften inzwischen sehr kritisch hinterfragt worden ist. Dass für viele Zuwanderer die Wanderung nicht als grenzüberschreitende Einmal-, sondern als komplexe Pendelbewegung zu verstehen ist, wurde spätestens ab den 1990er Jahren zum Phänomen erklärt, das man mit dem Aufkommen der Transnationalismusforschung verstärkt zu berücksichtigen begann.140 Zugleich schloss sich daran allerdings auch die Kritik an, dass „Migration“ nicht die adäquate Bezeichnung für solche Bewegungen sei, da

138 Vgl. Abschnitt 4.1. 139 „Aktive“, weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010. 140 Vgl. Glick-Schiller, Nina; Basch, Linda; Blanc-Szanton, Cristina (1992): Towards a Transnational Perspective on Migration, Race, Class, Ethnicity and Nationalism Reconsidered. New York. Im deutschsprachigen Raum sind vor allem Ludger Pries’ Studien zum Transnationalismus zu nennen, darunter erstmalig: Pries, Ludger (1996): Transnationale Soziale Räume. Theoretisch-empirische Skizze am Beispiel der Arbeitswanderungen Mexiko – USA. In: Zeitschrift für Soziologie, 25, 6 (1996). S. 456-472. Diesem Aufsatz folgten diverse weitere.

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Migration ein Verlassen des Herkunftsraumes und späteres Ankommen im Zuzugsland benenne141, was jedoch bei Pendelmigranten so nicht gegeben sei. Ungeachtet dieser Diskussion um den Begriff „Migration“ bietet es sich hier an, das Phänomen der Pendelmigration bei den Marxloher „Gastarbeiterinnen“ aus Sicht der Transnationalismusforschung anzugehen, deren Ansatz es ja gerade ist, die Mehrfachbezüge zu verschiedenen Ländern in den Blick zu nehmen. Dass hier ausgerechnet die Marxloher Frauen der „Gastarbeitergeneration“ als Transmigrantinnen verstanden werden sollen, mag vielleicht zunächst überraschen. Denn es war gerade diese Gruppe, die zumindest anfangs als typisches Beispiel für unidirektionale Einmalbewegungen, als „Immigranten“ oder häufiger noch als „Rückkehrmigranten“, angeführt wurde.142 Und tatsächlich sah es auch in den Biographien der Marxloher „Gastarbeiterinnen“, zu denen ich Kontakt hatte, vorerst bei allen so aus, als seien sie, nach einer Phase der Unsicherheit, ob man denn in Deutschland bleiben solle oder nicht, schließlich doch dauerhaft in Marxloh angekommen: Man erwarb im Laufe der Jahre Eigentum, bekam Kinder und Enkelkinder. Mit Eintritt in das Rentenalter eröffnete sich für die Frauen aber dann die Möglichkeit, nicht mehr dauerhaft in Marxloh leben zu müssen, sondern zeitlich flexibel, vorrangig in den Sommermonaten, ihre Sachen packen und einige Monate pro Jahr in der Türkei verbringen zu können. Dieses häufige Wechseln von Orten und der dadurch entstehende pluri-lokale Bezug führe dazu, so der Soziologe Ludger Pries, dass die Transmigranten spezifische, „multiple Identitäten“ ausbildeten, die dadurch gekennzeichnet seien, dass sie „Elemente der Herkunfts- und der Ankunftsregion aufnehmen und zu etwas Eigenem und Neuen transformieren“143 würden. Dieses „Neue“ ist bei den befragten Marxloher Frauen jedoch schwer zu greifen. Denn auf die Frage, wie sie sich ethnisch und national verorten, lautet bei allen stets die klare Antwort: „Als Türkin“. Was sie mit Deutschland verbindet, ist „das Geld“144, wie Selma betont, und ganz be-

141 Ein typisches Modell zur Assimilation entwickelte Hartmut Esser. Vgl. Esser, Hartmut (1980): Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse. Darmstadt; Neuwied. 142 Pries, Ludger (2003): Transnationalismus, Migration und Inkorporation. Herausforderungen an Raum- und Sozialwissenschaften. In: Geographische Revue, 2 (2003). S. 23-39. Hier: S. 28. 143 Ebd., S. 29. 144 „Gastarbeiterin“, weiblich, 79 Jahre. Interview vom 14.08.2010.

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sonders ihre familiären Bindungen zu Kindern und Enkelkindern.145 Deutschland sei daher inzwischen „schon so etwas wie eine Heimat“146, sagt die heute 58jährige Türkan. Dass jedoch auch sie nicht ausschließlich in Deutschland leben möchte, hat damit zu tun, dass einige ihrer Familienmitglieder noch in der Türkei wohnen und sie vor allem die Erinnerung an die Zeit ihrer Jugend emotional an ihr Herkunftsland bindet: T: Ich bin ja seit 1971 in Deutschland. Ist also schon wie eine Heimat. Aber meine ganze Sozialisation habe ich in der Türkei erlebt. Deswegen hält mich dieses Land. Auf Grund meiner Kindheit und Jugend und so weiter. Beide Länder fehlen mir. Ich fühle mich hier wohl, aber wenn ich in der Türkei bin, ist es, als ob ich immer da gewesen wäre.147

Beide Länder fehlen Türkan wenn sie sich im jeweils anderen aufhält, und beide Länder betrachtet sie als ihre „Heimat“. Sie befindet sich damit im typischen „in between“ einem transnationalen Zwischenraum, in dem sie versucht, ihren Bezug zur Türkei mit ihrem Bezug zu Deutschland zu vereinen.148 Rein räumlich äußert sich das bei Türkan wie bei den anderen acht Frauen darin, dass sie zwischen der Türkei und Deutschland hin- und herpendeln und in sozialer Hinsicht darin, dass sie in Deutschland ausschließlich türkisches Fernsehen konsumieren und wenn sie in der Türkei sind, regelmäßig mit ihren Verwandten in Deutschland telefonieren. Denn diese Nähe zu ihren Kindern und Enkelkindern ist für die Frauen sehr bedeutsam und der entscheidende Grund dafür, nicht ausschließlich in der Türkei leben zu wollen. Deutschland, das meint für die Frauen ihre Kinder. Ihre Kinder sind für die „Familienfrauen“149 das Wichtigste im Leben,

145 Vgl. dazu auch: Carnein, Marie; Baykara-Krumme, Helen (2013): Einstellungen zur familialen Solidarität im Alter. Eine vergleichende Analyse mit türkischen Migranten und Deutschen. In: Zeitschrift für Familienforschung, 25 (2013). S. 29-52. 146 „Gastarbeiterin“, weiblich, 58 Jahre, lebt seit 1971 in Deutschland. Interview vom 02.09.2010. 147 Ebd. 148 Baykara-Krumme, Helen (2013): Returning, staying, or both? Mobility patterns among elderly Turkish migrants after retirement. In: Transnational Social Review, 3 (2013). S. 11-29. 149 Diese Bezeichnung stammt von der Sozialwissenschaftlerin Ingrid Matthäi, die alleinstehende Migrantinnen untersucht hat. Die „Familienfrauen“, wie sie sie nennt, orientieren sich stark an ihren Familien und zeigen kein Interesse daran, darüber hinaus Kontakte zu anderen Personen aufzubauen. Vgl. Matthäi, Ingrid (2006): Alleinstehende Migrantinnen: Integriert – isoliert – segregiert? In: Aus Politik und Zeit

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und für sie sind sie bereit, auch einiges zu geben. So betont Emine, die wegen der Nähe zu ihren Kindern jährlich „nur“ zwei Monate in die Türkei fährt: E: Für mich ist es sehr wichtig, dass meine Kinder glücklich sind. Deshalb muss eine Mutter vieles von sich selber opfern, sofern die Kinder ihr wichtig sind. Ich helfe und unterstütze sie soweit ich kann. Ich weiß, dass ich damit in vieler Hinsicht eingeschränkt bin, aber für mich kommt das Wohlbefinden meiner Kinder an erster Stelle.150

Die „Gastarbeiterinnen“ sind ihren Kindern also durchaus eine Hilfe, können aber zugleich auch Motor der Erzeugung eines schlechten Gewissens bei ihren Kindern sein.151 Denn den Kindern sind ihre Familien, wie wir noch sehen werden, zwar ebenfalls ihr „Ein und Alles“152, aber rein zeitlich ist es für sie oft nicht machbar, sich länger mit ihren Müttern zu beschäftigen.153 Die Kinder sind berufstätig und wohnen zwar meist in der Nähe, aber sie haben nicht immer Zeit für die Älteren. Obwohl sich hier durchaus eine Diskrepanz zwischen den Wünschen der Mütter und dem Handlungsspielraum ihrer Kinder ergibt, wissen die älteren Frauen um die Beanspruchung ihrer Kinder und wollen ihnen nicht zur Last fallen.154 Habibe, das haben wir gesehen, hat sich daher inzwischen damit abgefunden, ihre Kinder nicht täglich sehen zu können. Umso wichtiger sind ihr jedoch die täglichen Anrufe aller Kinder jeden Abend zur gleichen Uhrzeit,

geschichte, 40/41 (2006). Online unter: http://www.bpb.de/apuz/29499/alleinstehen de-migrantinnen-integriert-isoliert-segregiert?p=all (letzter Abruf: 18.07.2014). 150 „Gastarbeiterin“, weiblich, 63 Jahre, lebt seit 1969 in Deutschland. Interview vom 03.08.2012. 151 Vgl. dazu Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2005): Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen. Bericht der Sachverständigenkommission. Berlin. S. 429. 152 Diese Formulierung stammt von Emines Tochter Nayla, einer „Bildungsaufsteigerin“. Vgl. Abschnitt 4.3. 153 Im Vergleich zu „deutschen“ Familien ergeben sich hier zwischen den Generationen weniger Hinweise auf einen intergenerationalen „acculturation gap“. Vgl. Carnein, Baykara-Krumme: 2013. Mehr dazu folgt unter Abschnitt 4.3. 154 Vgl. dazu auch Matthäi, Ingrid (2005): Die „vergessenen“ Frauen aus der Zuwanderergeneration. Zur Lebenssituation von alleinstehenden Migrantinnen im Alter. Wiesbaden. Vgl. außerdem Altıntop, Nevin (2011): Aufgaben für die Altenpflege von türkischsprachigen Migrant/inn/en. In: pflegenetz, 5 (2011). S. 23-26.

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durch die sie sich versichern können, dass es ihrer Mutter gut geht und sie nicht „tot“ ist, wie Habibe sagt. Habibe hat dadurch zugleich das Gefühl, nicht allein zu sein und fühlt sich sicher. Trotz alledem können sich bei allein stehenden älteren Frauen wie Habibe offenbar durchaus auch eine gewisse Traurigkeit und ein Gefühl der Einsamkeit einstellen. So sagt zumindest die „aktive“ Sandra: S: Also, den Wunsch, etwas für sich zu machen, den haben die schon ganz, ganz lange begraben. Vielleicht konnten sie den nie entwickeln. Die Identität definiert sich dann nur über die Kinder. Jetzt ist das aber dumm, dass viele Kinder studieren gehen und sind dann weg. Und was bleibt, ist nichts.155

„Nichts“ ist an dieser Stelle allerdings eine typische Wertung aus der Perspektive einer „aktiven“ Frau im Stadtteil, die darüber hinaus nicht nur bei Sandra zu beobachten ist: Auch die 61-jährige Hildegard, ebenfalls eine der Marxloher „Aktiven“156, beklagt, dass sie auf Grund unterschiedlicher Interessenlagen zu gleichaltrigen türkischen Frauen nicht in Kontakt treten könne. Hildegard, die zwei erwachsene Kinder hat, die nicht mehr in ihrem Haushalt leben, empfindet die Marxloher Frauen der „Gastarbeitergeneration“ als, wie sie sagt, „zu langweilig“157: H: So alte Frauen, die machen gar nichts mehr. Die sitzen nur noch da und gucken.158

Die „Gastarbeiterinnen“ selbst berichten allerdings nie von Langeweile oder Sinnlosigkeit in ihrem Alltagsgeschehen. Sie sehen ihre Familien so oft es geht, gehen mit ihnen einkaufen, sehen mit Vorliebe türkische Fernsehserien, treffen sich mit Freundinnen, passen auf die Enkelkinder auf und kochen vor allem viel. Bei all den genannten Tätigkeiten sind sie nur selten allein und schätzen das: E: Ich bin in einer Großfamilie aufgewachsen und habe in eine große Familie hineingeheiratet. Ich kenne das nicht anders. Daher kann ich nicht alleine bleiben. Ich möchte meine Kinder um mich haben. Meine Enkelkinder sind immer in meiner Nähe. Sie kommen nach der Schule zu mir, wenn die Mütter nicht zu Hause sind.159

155 „Aktive“, weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010. 156 Vgl. Abschnitt 4.1. 157 „Aktive“, weiblich, 60 Jahre. Interview vom 11.08.2010. 158 Ebd. 159 „Gastarbeiterin“, weiblich, 63 Jahre, lebt seit 1969 in Deutschland. Interview vom 03.08.2012.

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Hat aber nun tatsächlich niemand aus der Familie Zeit für die Frauen, können sich manche offenbar durchaus sehr vernachlässigt fühlen oder gar skurrile Verhaltensweisen an den Tag legen, wie mir noch einmal Sandra aus ihrem Bekanntenkreis berichtet: Eine an Demenz erkrankte „Gastarbeiterin“ koche täglich für ihre neun Kinder, obwohl sie alle längst das Elternhaus verlassen hätten. Inzwischen sei man deswegen dazu über gegangen, das übriggebliebene Essen an die Armenküche abzugeben. Durch diese Kochtätigkeiten, die für die Frauen tagesfüllend und ausgesprochen sinnstiftend sind, lassen sie sich zudem besonders in Moscheetätigkeiten mit einbinden. Vor allem zu den sogenannten „Kermes-Veranstaltungen“160 oder zum Fastenbrechen im Ramadan liefern die Frauen Brot, Lahmacun161 und andere Speisen und sind so, wie es Sandra ausdrückt, „mittendrin“.162 „Mittendrin“ zu sein meint in diesem Zusammenhang auch, dass man seitens der Moscheegemeinde gezielt versucht, die älteren Frauen von ihrem Zuhause in die Gemeinde zu integrieren, denn die Frauen halten sich oft mit anderen Frauen zu Hause auf und kommen nur selten mit dem äußeren Bereich in Kontakt, denn dieser Bereich gilt bei ihnen als der männliche Bereich. Diese geschlechtergetrennte Aufteilung des inneren und äußeren Bereichs kommt den Frauen jedoch aus ihrer Sicht sehr entgegen. So können sie unter sich sein, kochen, Fernsehen und Freundinnen empfangen, ohne auf ihr Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht achten zu müssen.163 Aber auch die Männer, so wurde mir eines Tages deutlich vor Augen geführt, können es durchaus begrüßen, dass sie nicht zu Hause bei den Frauen sein müssen, wie folgende Anekdote abschließend zeigt: Auf dem Rückweg vom Einkaufen beschließe ich, einen Abstecher in den hinteren, an den Stadtteil Walsum angrenzenden Teil Marxlohs zu machen, wo einige Schrebergärten liegen. Ein älterer Mann steht an der Ecke und erntet von der Außenseite seines Zaunes Brombeeren. „Hallo!“ grüßt er fröhlich. „Hier nimm“, fordert er mich auf und drückt mir

160 Hierbei handelt es sich um Wohltätigkeitsbazare. Die Einnahmen kommen der Moscheegemeinde zu Gute. 161 Lahmacun wird auch als „türkische Pizza“ bezeichnet. Es handelt sich um einen Hefeteig, belegt mit Hackfleisch, Zwiebeln und Tomaten. 162 „Aktive“, weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010. 163 Darauf hatte bereits Evelin Lubig mit Bezug auf eine ländliche Gegend in der Türkei hingewiesen. Vgl. Lubig, Evelin (1997): Ehre im Wandel – Erfahrungen mit dem Ehrbegriff in einem türkischen Dorf. In: Der Ausländerbeauftragte des Senats von Berlin (Hrsg.) (1997): Die Ehre in der türkischen Kultur – ein Wertsystem im Wandel. Berlin. S. 26-43. Hier: S. 31.

112 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH die gerade geerntete Handvoll Beeren in die Hand. Ich bedanke mich, und der Mann beginnt sofort in sehr gebrochenem Deutsch zu erzählen. Er liebe seinen Garten, ob ich einen Blick hineinwerfen wolle. Ich zögere zunächst, lasse mich aber schließlich doch von seiner freundlichen Hartnäckigkeit leiten, mich im Garten herumführen, mir Blumen und Gemüse zeigen und bekomme schließlich sogar in der Laube Tee serviert. „Hier“, verkündet mein Gastgeber stolz, indem er mir sein improvisiertes „Plumpsklo“ zeigt, habe er sich ein ganzes eigenes Zuhause errichtet. Er habe alles, was er brauche, sogar eine Dusche mit kaltem Wasser habe er sich gebaut und führt mir diese sogleich vor. Ich frage, warum er denn nicht zu Hause duscht und die Toilette benutzt, und er erwidert: „Ach, weißt du, meine Frau redet so viel, da bin ich lieber hier.“ Ich frage, warum er dann nicht tagsüber mit anderen Männern in die Teestuben geht und er sagt: Nein, mit denen habe er nichts am Hut, er lebe lieber in seinem Garten. Mit mehr Zucchini und Bohnen als ich essen kann beschenkt, kehre ich nach Hause zurück.164

4.2.5 Fazit Die neun befragten Marxloher Frauen der „Gastarbeitergeneration“, die in den 1960er und 1970er Jahren nach Deutschland kamen, folgten entweder ihren Ehemännern oder, und das war lange weitaus weniger bekannt, reisten allein als „Gastarbeiterinnen“ ein, wohingegen der Mann zunächst in der Türkei blieb. Unter den befragten Frauen in Marxloh war jedoch nur Selma als eine solche „Pioniermigrantin“, die zudem nicht direkt nach Marxloh kam, sondern erst im Alter von 50 Jahren wegen ihrer Kinder, die im Stadtteil lebten, dorthin gezogen ist. Diejenigen Marxloher Frauen, deren Migrationsziel von vornherein Marxloh war, folgten alle ihren Männern nach Marxloh und waren Hausfrauen oder gingen kleineren beruflichen Tätigkeiten, etwa als Schneiderinnen, nach. Der Eindruck aller neun befragten Frauen von Marxloh war gut. Sie schätzten das Miteinander im Stadtteil, äußerten allerdings, sprachliche Probleme beim Einkaufen gehabt zu haben. Dies änderte sich jedoch, als sich die türkische Ökonomie in Marxloh auszuweiten begann. Der Vorteil dieser Entwicklung war für die Frauen, dass es sprachlich für sie einfacher wurde. Der Nachteil bestand darin, dass zeitgleich ein großer Anteil ihrer ehemaligen alteingesessenen Nachbarinnen, mit denen sie einst viel Zeit verbracht hatten, auf Grund der ökonomischen Krise den Stadtteil verließ und man immer weniger in nachbarschaftlichen Kontakt trat. Aber nicht nur die alteingesessenen Nachbarinnen sind fortgezogen, auch die türkischen Marxloher „Gastarbeiterinnen“ sind inzwischen oft nur noch halbjährig im Stadtteil anzutreffen. Die Frauen sind im Rentenalter zu Pen-

164 Forschungstagebuch vom 26.09.2012.

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delmigrantinnen geworden und „altern transnational“.165 Während der Zeit, in der sie sich in Marxloh aufhalten, vermissen sie jedoch die ehemaligen nachbarschaftlichen Kontakte, die sie in der Türkei noch vorfinden und konzentrieren sich in ihrem Marxloher Alltag daher vor allem auf ihre Kinder, Enkel und den Haushalt, denn das Wichtigste für die Frauen sind ihre Kinder und die Möglichkeit, bei ihnen in der Nähe zu wohnen. Auch wenn viele von den Frauen die Türkei mit ihren sozialen Netzwerken sehr vermissen, so steht für sie dennoch außer Frage, im Stadtteil Marxloh wohnen zu bleiben: T: Nein, ich würde nicht so ganz weggehen […]. Ich habe ja meine Familie hier, meine zwei Kinder und sogar ein Enkelkind.166

4.3 D IE „B ILDUNGSAUFSTEIGERINNEN “ 4.3.1 Fallbeispiel Nayla Nayla ist eine meiner skeptischsten Interviewpartnerinnen. Ich benötigte mehrere Anläufe, um mit ihr ein Gespräch zu vereinbaren, das schließlich eines Abends bei ihr zu Hause stattfindet. Aber auch hier gibt sie mir deutlich zu verstehen, nicht viel Zeit zu haben. Im Verlauf des Interviews, nachdem wir eine Weile miteinander geredet und viel gelacht haben, legt sich Naylas Misstrauen jedoch ein wenig. Nayla führt mich ins Wohnzimmer, in einen sehr stattlich anmutenden Raum mit pompösen Gardinenvolants und edler Sitzgarnitur. Als ich die Volants betrachte, erfahre ich, dass Nayla sie entworfen, geschneidert und dekoriert hat, weil sie das gerne in ihrer Freizeit tut. Das Eis zwischen uns beginnt ein wenig zu schmelzen. Naylas eigene private Räumlichkeiten in dem Haus bekomme ich jedoch bis zum Schluss nicht zu Gesicht. Dies erscheint mir als Sinnbild dafür, wie klar Nayla zumindest zunächst sämtliches Private aus unserem Gespräch heraushalten will:

165 Stumpen, Sarina (2010): Grenzen überschreitendes Altern?! Altern in Pendelmigration bei Türkeistämmigen. Präsentation vom 24.06.2010. Online verfügbar unter: http://www.sektion-altern.de/shareddocs/presentations/strumpen_06_2010.pdf (letzter Abruf: 18.07.2014). 166 „Gastarbeiterin“, weiblich, 58 Jahre, lebt seit 1971 in Deutschland. Interview vom 02.09.2010.

114 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH N: Wohnung und Familie, das ist für mich Privatsphäre. Also ich muss nicht jeden hierher einladen.167

Wie die anderen „Bildungsaufsteigerinnen“ in Marxloh, ist auch Nayla sehr überlegt in allem, was sie sagt und sehr kontrolliert, wenn es auch nur andeutungsweise um Themen geht, die etwas mit „Integration“ zu tun haben. Ihr scheint es in unserem Gespräch im Wesentlichen darum zu gehen, das Negativbild, das in den Medien über Marxloh und das Thema „Integration“ gezeichnet wird, zu entkräften. Wenige Tage vor unserem Gesprächstermin war Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“168 auf dem Buchmarkt erschienen, dessen Inhalt bundesweit für Aufsehen gesorgt hatte. Genetisch argumentierende Thesen, etwa dass „auch Erbfaktoren für das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung im deutschen Schulsystem verantwortlich“169 seien, wurden bundesweit diskutiert.170 Der Inhalt des Buches scheint Nayla auch während unseres Treffens noch immer sehr aufzuwühlen. Immer wieder betont sie, wie fleißig sie und ihre Geschwister seien, dass sie seit jeher Verantwortung trügen, und sie es Leid sei, stets als „gelungene Ausnahme“ angeführt zu werden. Zur Mitte unseres Gesprächs offenbart sie mir sogar, sie habe vorgehabt, mit mir „eigentlich über nichts Negatives sprechen“ zu wollen. Nayla ist 35 Jahre alt. Sie wurde als das vierte Kind unter fünf Geschwistern geboren und hat drei ältere Schwestern und einen jüngeren Bruder. Nayla ist unverheiratet und lebt gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder bei ihren Eltern. Naylas Geschwister wohnen mit ihren Familien ebenfalls mit im Haus der Eltern, aber in ihren eigenen Wohnungen. Bis auf die älteste Schwester wurden Nayla und ihre Geschwister alle in Deutschland, in einem an Marxloh angrenzenden Stadtteil, geboren und sind dort aufgewachsen. Als Nayla 22 Jahre alt war und sich gerade im Studium befand, kaufte ihr Vater ein Haus in Marxloh, und die gesamte Familie zog dort hin. Ihren Eltern, vor allem ihrem Vater, war es ausgesprochen wichtig, dass Nayla und ihre Geschwister in der Schule erfolgreich waren, dass sie Leistungsstreben zeigten und sich anstrengten. Das

167 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 168 Sarrazin, Thilo (2010): Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München. 169 Ebd., S. 316. 170 Das Buch verkaufte sich über 1,5 Millionen Male.

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wurde von Nayla so sehr internalisiert, dass sie sich selbst als „Workaholic“ beschreibt: N: Meine Schwester sagt immer: „Ich glaube, mein Vater hat irgendetwas falsch gemacht, er hat uns nur Arbeiten beigebracht“ (lacht).171

Zielstrebig durchlief Nayla die Schullaufbahn, ohne jedwede Probleme. Nach dem Abitur stand außer Frage, dass sie sofort im Anschluss studieren würde, aber bei der Wahl dessen, was für sie wohl das Richtige wäre, tat sich Nayla schwer: N: Ich wollte eigentlich Modedesign studieren, aber das war in Bielefeld. Und meine Freunde haben sich in Duisburg eingeschrieben. Ich habe dann mit Wirtschaftswissenschaften angefangen, hier in Duisburg, aber dann abgebrochen. Dann bin ich rüber gewechselt zu Sozialwissenschaften, das hat mir mehr Spaß gemacht.172

Nayla entschied sich, ihren primären Studienwunsch gegenüber ihrem Bedürfnis, in der Nähe von ihren Freunden und vor allem ihrer Familie in Duisburg zu sein, zurückzustellen. Sie begann, in Duisburg mit dem Ziel zu studieren, anschließend „etwas mit Integration [zu, Anm. d. Verf.] machen oder zumindest etwas Soziales [zu, Anm. d. Verf.] machen, mit Kontakt zu den Menschen“.173 Neben ihrem Studium jobbte sie als Schneiderin, half immer wieder bei Bekannten aus und verfügte über eine ganze Palette an Hobbys: Sie las, trieb Sport, musizierte und ging diversen ehrenamtlichen Tätigkeiten nach: „Das war für mich wie ein Zirkeltraining. Ich habe nur mit Terminplaner gearbeitet.“174 Das Geld, das sie beim Jobben verdiente, floss nicht in den Familienhaushalt, sondern war für Naylas privaten Gebrauch bestimmt: N: Ja, bei uns gibt es ein Wort, ich sage zu meinem Vater immer: „Mein Geld ist mein Geld, dein Geld ist unser Geld“ (lacht).175

171 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 172 Ebd. 173 Ebd. 174 Ebd. 175 Ebd.

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Nayla genoss es, dank ihres selbst hinzuverdienten Geldes ihren Eltern keine Rechenschaft darüber ablegen zu müssen, wofür sie das Geld ausgab. Nach Erhalt ihres Hochschuldiploms schien es für sie zum ersten Mal einen Dämpfer in ihrer Bildungslaufbahn zu geben. Nayla wollte arbeiten, fand aber zunächst keine Anstellung. Im Interview zeigt sie sich im Nachhinein durchaus selbstkritisch: N: Ich habe mich nicht viel beworben. Ich weiß nicht, irgendwie hatte ich damit Schwierigkeiten. Ich habe gedacht, irgendein Arbeitgeber wird mich entdecken, und ich werde dann sofort anfangen (lacht). So war es aber natürlich nicht.176

Die Hauptursache dafür, dass sie sich, wie sie meint, schwer tat, eine Arbeitsstelle zu finden, sieht Nayla aber nicht primär darin, dass sie nicht viele Bewerbungen geschrieben hatte. Es habe vielmehr an ihren, wie sie sagt „schwarzen Haaren“, dem türkischen Namen und ihrer Herkunft aus Marxloh gelegen. Nayla fühlt sich diskriminiert. Zweimal hatte sie sich beworben, bis es beim dritten Mal klappte. Besonders deprimierend war es für sie, dass sie, nachdem sie sich auf ein unbezahltes Praktikum beworben hatte, schon zwei Tage später eine Absage erhielt. N: Das hat mich so ein bisschen runtergezogen. Dann dachte ich: Von wegen Integration! Es ist egal, ob du die Sprache kannst, ob du studiert hast, auch wenn du deine Wertschätzungen aufgibst. Ich glaube, das war der Punkt, an dem ich gesagt habe: „Es soll dir doch egal sein, was andere denken. Ich ziehe jetzt mein Ding durch.“ Ich meine, ich habe immer gearbeitet. Ich habe weder Hartz IV beantragt. Also wenn die Leute sagen: „Ich gehe für 7 Euro nicht arbeiten!“ Dann denke ich, in welchem Film bin ich? Da denk ich halt, welche Vorurteile haben die Leute denn gegen Ausländer, wenn die wüssten für wie wenig Geld die arbeiten gehen. […] Dann hatte ich noch ein anderes Vorstellungsgespräch, und da sagte man mir schon vorher, der Vorsitzende hätte eine Antipathie gegen Ausländer, und ich sollte mit meinen Aussagen vorsichtig sein. Das waren die zwei Erlebnisse, damit hat es angefangen. Und im Endeffekt war das auch eine Absage.177

„Damit hat es angefangen“ – Nayla meint damit den Beginn ihrer veränderten Einstellung darüber, was andere von ihr halten. Hatte Nayla zunächst noch sehr darunter gelitten, in Marxloh zu leben, begann sie mit dem Einstieg in die Berufstätigkeit selbstbewusster zu werden und sich für den Stadtteil und das Thema

176 Ebd. 177 Ebd.

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„Integration“ zu engagieren. Nach wie vor fühlt sie sich aber auf Grund ihrer Herkunft aus Marxloh und wegen ihrer türkischen Wurzeln stigmatisiert. Das Thema „Diskriminierung“ wird von ihr immer wieder angeschnitten und scheint alle ihre Lebenslagen zu durchziehen. Nayla bringt zwar zum Ausdruck, nicht aus dem Stadtteil wegziehen zu wollen, aber dennoch ist sie der Ansicht, dass es ihr nicht leicht gemacht werde, dort zu leben: N: Nicht nur Marxloh hat einen schlechten Ruf, sondern die Leute, die hier einen akademischen Abschluss haben, die werden auch noch runtergezogen. Die machen es einem nicht einfach, muss ich sagen. Es ist schwierig, hier zu leben. Ich bin aktiv, ich mache Sport, ich mache Musik, meine Eltern setzen sich überall ein, aber irgendwo wird man halt benachteiligt. Wegen des Stadtteils und auch wegen dem Migrationshintergrund.178

4.3.2 „Komm, nimm ein Buch und lies!“179 Bildungserwerb mit Aufstiegsorientierung Wie wir bereits gesehen haben, kamen viele der „Gastarbeiter“180 und so auch Naylas Eltern181 mit dem festen Vorsatz nach Deutschland, nur kurze Zeit zu bleiben, um Geld zu verdienen. Nach wenigen Monaten war aber in Naylas Familie bereits das erste der fünf Kinder eingeschult, die anderen Kinder folgten, und der Abreisetermin rückte in immer weitere Ferne. Für Naylas Vater wurde die Ausreise jedoch weiterhin als Argument verwendet, die Kinder zum Lernen zu animieren. Sobald die Kinder ihre Ausbildung beendet hätten, sollte die Familie zurückkehren. Dass die gesamte Familie aber wirklich wieder in die Türkei ziehen würde, konnte sich im Laufe der Jahre keiner mehr so richtig vorstellen. Nayla glaubt sogar, ihr Vater hätte an die Ausreise schon selbst nicht mehr geglaubt und sie lediglich als strategisches Mittel eingesetzt: N: Ich glaube, mein Vater hat das nur gesagt, damit wir die Ausbildung schnell durchziehen.182

178 Ebd. 179 Ebd. 180 Vgl. Abschnitt 4.2. 181 Es wurden sieben Marxloherinnen interviewt, die sich dieser Gruppe zuordnen ließen. 182 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010.

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Die Ausbildung seiner Kinder war für Naylas Vater der Hauptgrund, in Deutschland zu bleiben. Es war ihm wichtig, dass alle seine fünf Kinder eine gute Ausbildung absolvierten, um sozial aufsteigen zu können183 – und das vor allem auch bei den Mädchen. N: Also es war wichtig, dass wir als Mädchen einen Job haben und ungebunden auf den Beinen stehen. […] Ich hatte einen strengen Vater, also beruflich bezogen streng. Er hat sich nach der Arbeit hingelegt, und zu mir hat er gesagt: „Komm, nimm ein Buch und lies!“ Und ich musste dann halt lesen. Mein Bruder hat immer geschimpft, wenn mein Vater zu ihm gesagt hat: „Lern!“184

Naylas Vater war als ungelernter Arbeiter bei Thyssen tätig. Seinen Kindern wollte er jedoch andere Berufsperspektiven ermöglichen, aber wie er seine Kinder darin konkret unterstützen konnte, war ihm auf Grund mangelnder eigener Erfahrungen im Bildungsbereich fremd. So beschränkte sich seine Unterstützung auf die Worte „Lern!“ oder „Lies!“ Nayla scheint bewusst zu sein, dass diese Art der Unterstützung ausschließlich auf seine „Unbeholfenheit“ zurückzuführen und es ihm wichtig war, seinen Kindern den Bildungsaufstieg zu ermöglichen. Dieser Wille reichte Nayla als Motivation aus, um sich in der Schule anzustrengen und sogar später ihr Studium abzuschließen. Ähnliche Leistungsansprüche wie Nayla hat auch die 42-jährige Arzu erfahren, bei der es allerdings nicht der Vater, sondern die Mutter war, die von ihren Kindern gute schulische Leistung erwartete: A: Sie [meine Mutter, Anm. d. Verf.] hat dafür gesorgt, dass alle ihre Kinder Abitur machen, das war Pflicht bei uns. Dann Ausbildung und Arbeiten. Das war Pflicht. Ist egal, ob wir Abitur machen können oder nicht, ob wir zu dämlich sind oder nicht, wir mussten das machen. Wenigstens Fachabi, wenn wir unser Abi nicht kriegen.185

183 Vgl. dazu auch Kaya, Daniela (2011): Die neuen Bildungsaufsteigerinnen. Aufstiegsorientierte Postmigrantinnen in der Einwanderungsgesellschaft. Marburg. S. 60 ff. 184 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 185 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 42 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 14.08.2010.

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Wie bereits dargelegt186 handelt es sich bei den Frauen der „Gastarbeitergeneration“ in Marxloh, und so auch bei Arzus Mutter, um Frauen mit einer geringen schulischen Qualifikation, denen jedoch zugleich die Bildung ihrer Kinder sehr am Herzen liegt. Einige der Mütter der „Gastarbeitergeneration“, die ihren Männern nach Deutschland folgten187 oder später als Heiratsmigrantin einreisten, können oft zu ihrem großen Bedauern selbst weder lesen noch schreiben, möchten aber ihren Töchtern alle nur möglichen Bildungschancen einräumen, damit diese es einmal „besser“188 haben werden – dies jedoch, ohne das deutsche Bildungssystem und die Anforderungen, denen ihre Kinder ausgesetzt sind, aus eigener Erfahrung zu kennen. Daher beginnt das „Fördern und Fordern“ der Eltern oft schon im jüngsten Alter der Kinder, so dass die pädagogischen Betreuerinnen von Marxloher Erziehungseinrichtungen diesem elterlichen Engagement sogar in einigen Fällen entgegenzuwirken versuchen: S: Und die Frauen jetzt, da denk ich manchmal: „Zügelt euch.“ Fördern bis der Arzt kommt! In der ersten Klasse schon Nachhilfeunterricht, und wenn ihre Kinder zum Eintritt in das erste Schuljahr nicht lesen und schreiben können, dann werden sie nervös. Da sag ich in den Gruppen: „Hey, ganz langsam. Die müssen spielen. Die jetzt schon in so ein Leistungsschema zu pressen, ist total falsch.“ Und dann wollen die plötzlich kein Türkisch mit den Kindern reden! Aber die sollen zweisprachig aufwachsen. Sie sollen erst mal die Muttersprache, also die Sprache, die zu Hause gesprochen wird, die sollen sie sprechen. Und dann lernen sie Deutsch.189

Dass die Kinder zu Hause nur türkisch sprechen (sollen), wird in den Marxloher Bildungseinrichtungen jedoch unterschiedlich bewertet. Ursprünglich steht hinter der Idee, die Kinder erst einmal die Muttersprache erlernen zu lassen, eine Erkenntnis aus linguistischen Studien der 1970er und 1980er Jahre, die besagte, dass Kinder, die erst die Muttersprache beherrschten, wesentlich besser auch die Zweitsprache erlernten.190 Das bedeutet in der Praxis in Marxloh jedoch auch, dass die Kinder manchmal ein oder sogar zwei Jahre länger brauchen, um auf

186 Vgl. Abschnitt 4.2. 187 Zu den „Gastarbeiterinnen“ vgl. Abschnitt 4.2. 188 Vgl. Kaya: 2011, S. 61. 189 „Aktive“, weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010. 190 Ursprünglich entwickelt wurde diese Theorie in Form der „Interdependenzhypothese“ von dem kanadischen Pädagogen Jim Cummins. Vgl. u.a. Cummins, Jim (1979): Linguistic Interdependence and the Educational Development of Bilingual Children. In: Review of Educational Research 49, 2 (1979). S. 222-251.

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Grund der fehlenden deutschen Sprachkompetenz191 die ersten vier Grundschuljahre erfolgreich zu durchlaufen.192 Bis zum Eintritt in das Schulalter ausschließlich die Herkunftssprache zu sprechen, entspricht somit nicht dem Konsens in allen Marxloher Bildungs- und Jugendeinrichtungen. So sagt ein Lehrer an einer der Marxloher Schulen: L: Irgendein Linguist hat mal gesagt, es wäre wichtig, zuerst die Muttersprache zu erlernen und dann könnte man ganz schnell und ganz leicht auch die deutsche Sprache erlernen. Und das hat sofort die Runde gemacht. Und das haben die dann aufgegriffen: „Ja, dann brauchen wir ja gar nicht unsere Qualifikation, die wir mühsam erworben haben, weiterzugeben, dann sprechen wir zu Hause türkisch und bringen den Kindern Türkisch bei. Und dann geben wir die der Schule ab.“ Das türkische Sprichwort „die Knochen gehören mir, das Fleisch gehört dir, Lehrer“. Also nach dem Motto: Wir geben sie ja ab in die Schule, das ist unser Beitrag zur Bildung. Und für den Rest ist der Kindergarten und die Schule zuständig. Da gibt es Leute, die im feinsten Hamborner Deutsch hier herkommen, in feinstem Hamborner Deutsch, soweit man das in Hamborn kann (lacht). Die würden Sie am Telefon nicht identifizieren können – als Rheinländer ja, aber nicht als irgendwas anderes. Die kommen her, stellen ihr Kind bei der Einschulung vor, und wenn Sie mehr fragen als „wie heißt du?“ fangen sie an zu übersetzen.193

Dass die Kinder zu Hause oft kein Deutsch sprechen, lässt sich also zum einen darauf zurückführen, dass die Eltern, die zwar selbst Deutsch können, meinen, damit die ideale Basis für spätere Bildungserfolge zu schaffen, was durchaus auch dem pädagogischen Konzept einiger Marxloher Einrichtungen entspricht. Dass zu Hause oft ausschließlich türkisch gesprochen wird, kommt aber vor allem auch in Familien vor, in denen ein Heiratspartner aus der Türkei nach Deutschland zugereist ist. Hier sprechen die Kinder meist bis zum Eintritt in den Kindergarten oder gar in die Grundschule kein oder nur rudimentäres Deutsch. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie dann im Anschluss nicht doch „so richtig

191 Von dieser mangelnden Sprachkompetenz sind nachweislich nicht nur Zuwandererkinder, sondern auch „deutsche“ Kinder betroffen. Vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (2002): Bärenstark. Berliner Sprachstandserhebung und Materialien zur Sprachförderung für Kinder in der Vorschul- und Schuleingangsphase. Berlin. 192 Vgl. die IGLU-Studien, hier die letzterschienene aus dem Jahr 2006: Bos, Wilfried u.a. (Hrsg.) (2008): IGLU-E 2006. Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im nationalen und internationalen Vergleich. Münster u.a. 193 Interview mit einem Lehrer vom 28.01.2010.

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durchstarten“194 können, wie mir die 21-jährige Meryem ihren schulischen Werdegang beschreibt. Meryem ist Abiturientin und angehende Medizinstudentin mit türkischer Mutter. Meryem gehört also zur sogenannten Generation „zweieinhalb“195, denn Meryems Vater wurde als Kind türkischer Eltern in Duisburg geboren. Meryems Mutter hat er in der Türkei kennengelernt und geheiratet. Sie folgte ihm später nach Marxloh. In Meryems Familie wird zu Hause ausschließlich türkisch gesprochen. Meryem macht unter anderem dies dafür verantwortlich, dass sie, wie sie meint, „Deutsch bis heute nicht perfekt“196 beherrsche. In der Grundschule sei es für sie schwer gewesen, Deutsch zu lernen, zumal sie auf Grund der mangelnden deutschen Sprachkompetenz nicht viele deutschsprachige Freunde gehabt hätte. Es sei ihr nicht möglich gewesen, mit ihnen flüssig und ohne Komplikationen auf Deutsch zu kommunizieren: M: Ich hatte viele deutsche Freunde und hab mit denen was unternommen. Aber überwiegend türkische. Die Sprache war leichter, ich kann Deutsch bis heute nicht perfekt. Ich konnte in der Grundschule kein Deutsch. Alles, Rechtschreibung und Grammatik nur mit Fehlern. Deshalb war es schwer, sich auszudrücken. Und die deutschen Kinder damals hatten viele Vorurteile. Deswegen hat man sich nicht ausgetauscht. Ich hatte auch viele arabische, marokkanische Freunde. Wenn du die deutsche Sprache nicht kennst und der andere kann sie auch nicht perfekt, dann ist das zwar nicht die türkische Sprache, aber der versteht es ja auch nicht und kann es auch nicht. Das ist einfacher.197

Auf was Meryem hier neben der Einfachheit, die die türkische Sprache für sie im Vergleich zur deutschen hatte, verweist, ist, dass sie die marokkanischen und arabischen Klassenkameraden den deutschen als Freunde vorzog, da auch sie kein fehlerfreies Deutsch beherrschten und so ihre Unsicherheiten nicht so groß waren wie gegenüber deutschsprachigen Schulkindern. Es kam hier also zu einer Zweiteilung der Schulkinder in diejenigen, die zu Hause deutsch sprachen und diejenigen, die dies nicht taten. Sprachlich fühlte sich Meryem gegenüber den deutschsprechenden Kindern minderwertig, und es kostete sie gezielte Anstrengungen, in diesem Umfeld die deutsche Sprache zu erlernen, von der sie bis heu-

194 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 21 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010. 195 Vgl. Abschnitt 3.2.2. 196 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 21 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010. 197 Ebd.

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te sagt, sie „nicht perfekt“ zu beherrschen. Ein Teil des Minderwertigkeitsgefühls gegenüber den Muttersprachlern des Deutschen besteht bei ihr also bis heute. Meryem, Arzu und Nayla haben es trotz ihrer anfänglichen sprachlichen Schwierigkeiten geschafft, das Abitur zu erlangen. Es war für sie jedoch sehr mühsam, wie sie im Nachhinein sagen, und ohne die Unterstützung ihrer Eltern sei dies undenkbar gewesen. Zwar haben die Frauen keinerlei fachliche Hilfe durch ihre Eltern erfahren können198, aber allein dadurch, dass ihre Mütter sie bekräftigten und ihre Väter mit den Worten „setz dich und lies“199 auf ihre Weise den Bildungsfortschritt ihrer Töchter förderten, trug dazu bei, dass sich die Frauen mit diesem Anspruch solidarisch200 zeigten, dass ihnen Bildung wichtig wurde und sie ein ausgeprägtes Leistungsstreben entwickelten.201 Dabei scheuten die Eltern weder Zeit noch Geld für motivierende Gespräche oder Nachhilfestunden, um ihre Töchter so gut es ihnen möglich war, zu unterstützen. Diese wichtige persönliche Ressource in Form der unterstützenden Eltern ist es offenbar, die den Marxloher „Bildungsaufsteigerinnen“ die notwendige Kraft und auch den Ehrgeiz gab, in der Schule und auf dem weiteren Bildungsweg gute Leistungen zu erzielen.202

198 Gerade in den höheren Schulformen wird nahezu selbstverständlich das Mitwirken der Eltern vorausgesetzt, was die Eltern der „Bildungsaufsteigerinnen“ jedoch auf Grund ihrer geringen Bildung meist nicht leisten können. Vgl. Boos-Nünning, Ursula; Karakaşoğlu, Yasemin (2004): Viele Welten leben. Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen mit griechischem, italienischem, jugoslawischem, türkischem und Aussiedlerhintergrund. Hrsgg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (BMFSFJ). Berlin. S. 13. 199 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 200 Boos-Nünning; Karakaşoğlu: 2004, S. 13. 201 Die Bildungserfolge der Frauen sind somit nicht auf eine autoritäre Erziehungsform der Eltern zurückzuführen, sondern müssen als freiwillig begriffen werden. Vgl. dazu auch Boos-Nünning; Karakaşoğlu: 2004, S. 15. 202 Auch Kaya sieht in der „familialen Unterstützung als Ressource“ die wesentliche Grundlage für den Bildungserfolg der von ihr untersuchten Bildungsaufsteigerinnen. Kaya: 2011, S. 64.

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4.3.3 „Etwas Soziales oder etwas Kreatives.“ 203 Ausbildungs- und Berufswahl Bildung, so heißt es immer wieder, sei der „Schlüssel zum Erfolg“.204 Wer über gute Bildungsabschlüsse verfüge, erhöhe nachweislich seine Chancen auf einen erfolgreichen Zugang zum Arbeitsmarkt und auf gesellschaftliche Partizipation. Über Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen oder mit Hochschulabschluss wird gesagt, sie seien „offener, innovativer und sozial aktiver als gering Gebildete und brächten damit ein besonderes Potenzial für die Gesellschaft mit“205. Verschiedene Zuwanderergruppen, das ist inzwischen ebenfalls verdeutlicht und diskutiert worden, weisen oftmals Defizite im Bildungsbereich auf.206 Die türkeistämmige Zuwanderergruppe schneidet in den Statistiken meist besonders schlecht ab, wenngleich sie allmählich stark am Aufholen ist. So ist in Duisburg statistisch betrachtet die Gruppe der Jugendlichen ohne deutschen Pass dabei, inzwischen starke Fortschritte bei ihrer schulischen und beruflichen Qualifikation zu erzielen, was sich darin zeigt, dass deren Abiturientenanteil stetig ansteigt.207 Dennoch sind auch in Duisburg Kinder ohne deutschen Pass nach wie vor vermehrt auf Hauptschulen und Förderschulen und nur zu einem geringen Teil auf Gymnasien vertreten. Über die Hälfte dieser Gymnasiasten sind Mädchen.208 In dieser relativ kleinen Gruppe befanden sich die „Bildungsaufsteigerinnen“ Nayla, Arzu und Meryem, die zum Teil gute Schulabschlüsse erzielten, denen aber dann die anschließende Berufswahl nach dem Real- oder Gymnasialabschluss schwer fiel. Nach wie vor ist sowohl bei Mädchen jedweder ethnischer Zugehörigkeit in Deutschland eine geschlechtertypische Wahl bei den Ausbildungsberufen erkennbar: Während Mädchen häufig einer Ausbildung als Friseurin oder Verkäu-

203 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 204 Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hrsg.) (2009): Ungenutzte Potenziale. Zur Lage der Integration in Deutschland. Berlin. S. 51. 205 Ebd., S. 30. 206 Vgl. beispielsweise Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: 2009. 207 Stadt Duisburg: 2009, S. 64. 208 38,7 % der Kinder ohne deutschen Pass werden auf Hauptschulen, 31,5 % auf Förderschulen und 9,1 % auf Gymnasien beschult. Vgl. Amt für Soziales und Wohnen der Stadt Duisburg (Hrsg.) (2008): Sozialbericht 2008. Duisburg; Bremen. S. 99.

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ferin nachgehen, streben Jungen eher technische Berufe an.209 Die Berufswünsche der Mädchen, so auch die Einschätzung der Lehrer in Marxloh, seien meist einseitig und entsprächen nicht ihren häufig guten Bildungsabschlüssen. Die Mädchen verfügten oft über sehr gute fachliche Voraussetzungen und hohe soziale Kompetenzen, wählten aber dann doch die „klassischen Frauenberufe“ im Dienstleistungsbereich sowie Berufe in der Körperpflege und als Verkaufspersonal.210 Auch die Frauen, mit denen ich zu tun hatte, wählten Berufe, die etwas mit Kreativität zu tun hatten, also Modedesign oder Schneiderin – aber auch der Beruf der Friseurin oder Einzelhandelskauffrau wird von den Frauen als ein Beruf beschrieben, in dem sie meinen, ihrem Hang zur Kreativität nachgehen zu können. Außerdem wird von den Frauen häufig „etwas Soziales“ angestrebt, also Berufe wie Lehrerin, Ärztin, Arzthelferin oder Sozialpädagogin. Nach Ansicht der Lehrer seien die Schülerinnen zwar durchaus qualifiziert für weitere Berufe, nutzten aber das Potenzial oft nicht – auch deswegen, weil sie in Marxloh nicht die Möglichkeiten hätten, weitere Berufsfelder kennenzulernen.211 Eine neue Berufsperspektive außerhalb dieser für Marxloherinnen typischen Berufsfelder zu bekommen, bedeutet für die Mädchen nämlich, dass sie Marxloh und die direkte Nähe zu ihrer Familie zu Ausbildungszwecken verlassen müssten, was vielen jedoch sehr schwer fällt, da sie in der Nähe ihrer Familie bleiben wollen. Auch das im Duisburger Norden gelegene Mädchenzentrum „Mabilda“ stellt immer wieder fest, dass vielen Mädchen aus diesem Grund entweder die Motivation fehle oder sie gar nicht auf die Idee kämen, sich auch außerhalb des Stadtteils auf Praktikums- oder Ausbildungsstellen zu bewerben: M: In erster Linie sind wir für die Mädchen da, um zu gucken, was will ich eigentlich. Wo will ich hin, wo sind die Wege. Viele kennen auch nicht so viel. Deswegen ist es bei den Projekten wichtig, aus dem Stadtteil rauszufahren. Sie orientieren sich eben viel im eigenen Umfeld, weil sie sich da sicher fühlen. Wobei letztes Jahr hat aber sogar eine ein Praktikum in Düsseldorf gemacht. Das fand ich super. Die ist immer 45 Minuten mit der Bahn gefahren. Sie wollte unbedingt Modedesignerin werden, und da hatten wir ein Vor-

209 Landesamt für Statistik Nordrhein-Westfalen (2011): Berufswahlverhalten von Frauen und Männern in Nordrhein-Westfalen 1999 und 2009. Online unter: http:// www.it.nrw.de/statistik/querschnittsveroeffentlichungen/Statistik_kompakt/ausgabe 3_2011.html (letzter Abruf: 16.06.2011). 210 Vgl. Landesamt für Statistik Nordrhein-Westfalen: 2011. 211 Interview mit einer Lehrerin vom 19.02.2010.

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gespräch, sie hat das gefunden, sich beworben, und das hat geklappt. Da war sie auch ganz stolz.212

Das Ziel, die Schülerinnen in ihren Qualifikationen zu stärken, bezieht sich aber nicht nur auf die leistungsstarken unter ihnen. Es kommt auch vor, dass sich die Schülerinnen überschätzen. So wollen oder sollen manche auf Wunsch der Eltern die „Prestigefächer“213 Jura und Medizin studieren, um Rechtsanwältin oder Ärztin zu werden und sind völlig frustriert und demotiviert, wenn sie nicht einmal zum Studium zugelassen werden: M: Es gibt welche, da kümmern sich die Eltern heftig, also so: „Du musst das und das werden“. Die machen den Mädchen Druck. Und wenn ich frage: „Was willst du werden?“ sagen sie: „Ja, meine Eltern sagen, ich soll Ärztin oder Rechtsanwältin werden aber ich will das nicht.“ Und wenn ich frage: „Was willst du werden?“ sagen sie: „Ja, Friseuse oder Verkäuferin“, manchmal auch Erzieherin oder Sozialpädagogin in Einzelfällen.214

Eine dieser Frauen, bei denen die Eltern große Hoffnungen hatten, welche die Tochter aber nicht erfüllte, ist die 26-jährige Güzel. Wie bei Meryem kamen auch Güzels Großeltern aus der Türkei – und ebenso wie Meryems wuchs auch Güzels Vater in Marxloh auf. Er heiratete Güzels Mutter in der Türkei, und sie folgte ihm nach Marxloh. Güzels Mutter hatte keinen Beruf erlernt und war Hausfrau, Güzels Vater arbeitete als ungelernter Arbeiter bei Thyssen. Güzel wurde wie ihre vier Geschwister in Marxloh geboren und ist dort bis zum Abitur zur Schule gegangen. Als es an die Berufswahl ging, überlegte Güzel zunächst, wie auch Nayla, Modedesign zu studieren oder zumindest wie ihre Mutter Schneiderin zu werden. Der Wunsch ihrer Mutter war es aber, dass Güzel studieren gehen und Ärztin werden würde. Also absolvierte Güzel ein Praktikum im Krankenhaus, merkte dann aber rasch, dass der Arztberuf nicht geeignet für sie ist – sehr zur Enttäuschung ihrer Mutter:

212 Interview mit „Mabilda“ vom 16.04.2010. 213 Eine Interviewpartnerin Kayas sagt dazu: „Das ist auch total das türkische Denken. Jura und Medizin sind voll Standard. Das finden alle Eltern immer supertoll.“ Kaya: 2011, S. 80. 214 Interview mit „Mabilda“ vom 16.04.2010.

126 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH G: Obwohl meine Mutter immer wollte, dass ich studiere, dass ich woanders bin und Ärztin oder Lehrerin werde. Das sagt sie immer noch, das ist ihr Traum. Da habe ich sie, glaube ich, ein bisschen enttäuscht.215

Auch wenn Güzel dem Anspruch ihrer Mutter nicht vollends genügen konnte, so ist der von ihr gewählte Beruf als Einzelhandelskauffrau ein Beruf, der ihrem Interesse näher kam als der Arztberuf. Dass sie damit ihre Mutter enttäuschte, nahm sie in Kauf. Güzels Berufswahl als Einzelhandelskauffrau fällt allerdings auch in die typischen Berufsfelder vieler Marxloher „Bildungsaufsteigerinnen“, die im Ausbildungsbereich vorzugsweise Friseurin oder Einzelhandelskauffrau lernen. Wenn sie ein Studium aufnehmen, wählen sie entweder sozialwissenschaftliche Fächer oder Medizin, denn der Wunsch, Ärztin zu werden, ist sehr verbreitet. Eine dieser Frauen, die inzwischen Medizin studiert, ist Meryem. Im Unterschied zu Güzel fand sie durch ein Praktikum heraus, dass der Arztberuf genau das ist, was sie machen möchte. Bei der Entscheidung, Ärztin zu werden, stellte sie aber weniger das medizinische Interesse am Körper in den Vordergrund, als den Wunsch, „helfen“ zu wollen: M: Dann habe ich ein Praktikum in einem Krankenhaus in Hamborn gemacht und habe gemerkt, das passt zu mir. Hilfsbereit sein, den Menschen helfen. […] Besonders später, wenn man den Beruf in der Hand hat. Man heilt Menschen, man macht sie glücklich. Wenn man das Krankenhaus verlässt, ist man sich sicher, man hat heute viel Gutes getan. Dann schläft man gut ein. Man hat etwas Positives im Herzen.216

Etwas „Soziales“ tun und „helfen“ zu wollen begründet sich bei Meryem zu einem großen Teil aus ihrer Religiosität. Meryem gehört mit Güzel und Nayla zu den religiösen Frauen unter den „Bildungsaufsteigerinnen“. So erklärt sich, warum auch Nayla in unserem Gespräch angibt, unbedingt „etwas Soziales oder etwas Kreatives machen“217 und „mit Menschen“218 zu tun haben zu wollen, denn dies entspricht ihrer religiösen Vorstellung eines guten zwischenmenschlichen Miteinanders.

215 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 26 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 30.08.2012. 216 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 21 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010. 217 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 218 Ebd.

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Neben diesem Faktor, beruflich „etwas Sozialem“ nachgehen zu wollen spielt aber auch der Faktor „Kreativität“ eine wesentliche Rolle bei der Berufswahl der Frauen, was sich mit einem raschen Blick auf ihre Sozialisierung leicht erklären lässt: Die Frauen haben alle durch ihre Mütter Nähen gelernt, und so nähen sie in ihrer Freizeit gerne Kleider, dekorieren die eigene Wohnung und die von Familienmitgliedern. Sie lieben das Gestalten. Mit dem Beruf Friseurin oder Einzelhandelskauffrau, insbesondere im Textilbereich, glauben die Frauen, einen Beruf gefunden zu haben, der diesem Bedürfnis nach Gestaltung gerecht wird. Dass die Berufsfelder recht eng und spezifisch ausfallen, hat aber auch noch mit einem weiteren Grund zu tun: Es ist inzwischen bekannt, dass gut qualifizierte Personen mit Zuwanderungshintergrund in adäquate Berufspositionen oft nicht hinein kommen, da sie Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt sind.219 Vor allem die „sichtbaren Fremden“, also Frauen wie Nayla, die auf Grund ihrer dunklen Haare oder wie Meryem und Güzel auf Grund des Tragens des muslimischen Kopftuchs unter Umständen sofort als „Fremde“ eingestuft werden, sprechen das Thema „Diskriminierung“ immer wieder von sich aus an: N: Also meine Schwester hat erzählt, die Tochter ist auf einem Gymnasium in Walsum. Auf jeden Fall hat die Lehrerin so eine Andeutung gemacht in die Richtung „die ausländischen Kinder“. Und dann hat sie [die Tochter, Anm. d. Verf.] wohl gesagt: „Mama, ich bin doch keine Ausländerin!“ (lacht). Wir haben uns kaputt gelacht, denn du hast halt schwarze Haare. Und was ist mit den Namen? Also Vorurteile sind immer da.220

Nayla fühlt sich auf Grund der „schwarzen Haare“, wegen ihres türkischen Vorund Nachnamens, Meryem und Güzel außerdem auf Grund ihres Kopftuchs221 diskriminiert, und alle drei sehen sich wegen dieser Merkmale bei ihrer Berufswahl eingeschränkt. Meryem etwa sagt, sie habe eigentlich Lehrerin werden wollen, „aber leider geht das nicht mit Kopftuch“.222 Auch Güzel wollte eigentlich nicht in der ethnischen Ökonomie Marxlohs, einem türkischen Brautmoden-

219 Stadt Duisburg: 2009, S. 22. 220 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 221 Mehr zur Bedeutung des Kopftuchs für die Kopftuchträgerinnen und ihr Umfeld folgt unter Abschnitt 4.3., 5.3.4 sowie 5.4.1. 222 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 21 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010.

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laden, arbeiten, sondern bei C&A. „Aber“, so sagt sie, „das ging dann nicht. Wahrscheinlich wegen dem Kopftuch.“223 Das äußere Erscheinungsbild ist bei den Frauen jedoch nicht der einzige Grund für Diskriminierung. Die 42-jährige Arzu etwa hat in beruflicher Hinsicht ebenfalls einige Schwierigkeiten, obwohl sie keine „sichtbare Fremde“ ist: Arzu ist blond und blauäugig und wirkt von ihrer Art her fast ein wenig burschikos. Im Unterschied zu den anderen Frauen, macht sich Arzu nichts aus Schmuck oder schicker Kleidung. Ihre Interessen liegen weder im Schneidern von Kleidungsstücken noch im Dekorieren der Wohnung, wie bei den anderen Frauen. Ihr ist es wichtig, praktisch und sportlich gekleidet zu sein. Arzu ist auch die einzige unter den Frauen, die beruflich in einer Männerdomäne Fuß gefasst hat: Arzu ist Elektrikerin. Und auch hier kämpft sie mit Zuschreibungen als „Türkin“ aber auch als „Frau“. Gegenüber ihrer Kundschaft hat sie mittlerweise die Strategie entwickelt, ihre türkischen Wurzeln zu verheimlichen: A: Das ist ’ne reine Männerdomäne. Da hast du als Frau und schon gar nicht als Türkin, hast du nichts zu suchen. Vor den Türken hier habe ich mein Ansehen verloren. Selbst wenn die sagen: „Boah, Respekt, vor dir ziehe ich den Hut“, hinter meinem Rücken reden sie dann schlecht über mich. Arbeitet auf dem Bau mit 1500 Männern und drei Frauen. „Man muss sich ein dickes Fell anschaffen“, hat mein Chef gesagt. Er sagte, er macht das seit 17 Jahren, aber wo sind die Frauen? Ich warte ja darauf, dass ein paar Türkinnen kommen, oder auch Deutsche, da bin ich auch froh. […] Als Türkin könnte ich den Beruf nicht machen, den ich mache. Wenn die erfahren, dass ich Türkin bin, stempeln die mich als wer weiß was ab. Aber ich lass die dann auch links liegen. Du kannst mit allen vernünftig reden, aber nicht mit meinen eigenen Landsleuten. Kann man nicht, tut mir Leid, kann man nicht. Und danach sehen sie, die arbeitet mit den Männern, aber lässt sich von den Männern nicht anpacken. Dann habe ich bei denen ein hohes Ansehen. Dann kommen sie und entschuldigen sich persönlich bei mir.224

Arzu hat zwar das eine Problem, das sie mit ihrer Kundschaft hatte, lösen können, indem sie sich als „Deutsche“ ausgibt, aber mit ihren „Landsleuten“, wie sie ihr Umfeld aus Türkeistämmigen nennt, hat sie weiterhin Schwierigkeiten. Arzu ist, wie die anderen „Bildungsaufsteigerinnen“, unverheiratet225, arbeitet aber

223 „Bildungsaufsteigerin“, 26 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 30.08.2012. 224 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 42 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 14.08.2010. 225 Vgl. Abschnitt 4.3.5.

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ausschließlich mit Männern zusammen. Das passt nicht in das bei ihren männlichen Kollegen offenbar verbreitete Bild einer ehrbaren Frau hinein und gibt Anstoß, schlecht über Arzu zu reden. Erst als sie „beweisen“ kann, dass sie sich „von keinem anpacken lässt“, gewinnt sie ihr Ansehen zurück. Für Arzu war das jedoch ein Kampf, und bis heute ist sie noch aufgeregt, wenn sie darüber spricht. Als „Frau“ und als „Türkeistämmige“ tun sich die „Bildungsaufsteigerinnen“ schwer, sich beruflich einen Platz zu verschaffen, aber letztendlich haben sie es alle geschafft. Welche Möglichkeiten bleiben aber Frauen, die es im Bildungssystem entweder auf Grund ihrer Leistungen oder auf Grund von Diskriminierungserscheinungen beim Berufseinstig oder während ihrer Berufstätigkeit nicht „geschafft“ haben, in dem Beruf, den sie eigentlich ergreifen wollten, Fuß zu fassen? Einige weichen in andere Sparten aus, wobei die Tätigkeit dann oft nicht ihrer beruflichen Qualifikation entspricht. Manchen gelingt es aber auch, wie wir im Folgenden sehen werden, in der beruflichen Selbstständigkeit Fuß zu fassen. Bei diesen Frauen handelt es sich jedoch nicht um Marxloherinnen im eigentlichen Sinne. Marxloh ist für sie ausschließlich der Arbeitsort, Wohnort ist der Duisburger Süden oder andere neben Duisburg gelegene Ruhrgebietsstädte.226 4.3.4 Exkurs: Berufstätig in Marxloh – Die Geschäftsfrauen Es wurde bereits gesagt227, dass sich in Marxloh im Laufe der Zeit das Cluster „Brautmode“ etabliert hat, was von der Stadtteilbevölkerung teils skeptisch, zu großen Teilen aber auch mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen wird. Unter den türkeistämmigen Unternehmern in Marxloh sind vergleichsweise viele Frauen, was den Vorsitzenden des türkischen Unternehmerverbandes in Marxloh dazu veranlasst, in unserem Gespräch zu prognostizieren, die geschäftliche Zukunft in Marxloh gehöre den Frauen. Eine dieser Frauen, die ein Geschäft betreibt, ist die 31-jährige Nurten. Nurten präsentiert sich mir gegenüber als offene und gesprächige junge Frau, und als ich Nurtens Geschäft, das sie ihren „Laden“ nennt, zum ersten Mal betrete, erscheint es mir als Muster der von Frauen geführten türkischen Geschäfte in Marxloh: Als ich Nurtens „Laden“ zum vereinbarten Interviewtermin betrete, werde ich freudig von ihr begrüßt. Strahlend führt sie mich durch ihren kleinen, liebevoll dekorierten Laden. Wir ziehen uns zum Gespräch in den hinteren Teil zu Tee und Zitronenkeksen zurück, wo ich allerdings bei jeder Bewegung aufpassen muss, an keinen schillernd-glitzernden Dekora-

226 Mehr dazu folgt unter Abschnitt 4.3.7. 227 Vgl. Abschnitt 3.2.

130 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH tionsgegenstand anzustoßen oder einen Stapel aufgetürmter Warenkartons umzureißen. Aber hier können wir ungestört reden und Nurten zugleich auch immer wieder einen Blick in ihren „Laden“ werfen, wenn sich Kundschaft ankündigt. Da Nurten parallel gerade auch auf den benachbarten „Laden“ aufpasst, weil sich der Besitzer im Urlaub befindet, unterbrechen wir unser Gespräch nicht nur dann, wenn Kundschaft in Nurtens „Laden“ kommt, sondern auch dann, wenn die Ladenklingel des benachbarten Geschäfts ertönt und so unmissverständlich deutlich macht, dass ein Kunde das Geschäft betreten hat. Entweder verschwindet Nurten dann für ein paar Minuten nach nebenan, oder ich muss meinen Platz räumen, damit Nurtens Kundinnen die Ware anprobieren können. Eine Umkleidekabine gibt es nämlich nicht, aber die Frauen huschen ohne Hemmungen in das hintere kleine „Räumchen“ und ziehen sich dort um. Anschließend wird vor dem Spiegel posierend beratschlagt, was von der Ware zu halten sei, und sogar ich werde mit zu Rate gezogen, welches Kleidungsstück denn nun das geeignetste sei. Nach einem ausführlichen „Plausch“ und einem herzlichen Abschied können Nurten und ich uns dann jedes Mal wieder unserem Gespräch zuwenden, bis nach einer gewissen Zeit die nächste Kundin das Geschäft betritt. Nicht allen geht es dabei darum, Kleidungsstücke anzusehen, anzuprobieren oder gar etwas zu kaufen. Einige, die Nurten „Stammkunden“ nennt, kommen auch nur zu einem mehr oder minder ausführlichen Gespräch bei einem Kaffee vorbei.228

Nurtens „Laden“ ist weitaus mehr als nur ein Geschäft. Für die Kundinnen ist er eine Anlaufstelle, die man aufsucht, um Bekannte zu treffen, sich auszutauschen oder einfach einmal nur vorbeizusehen. Nurten scheint das muntere Treiben in ihrem „Laden“ zu genießen und sieht es als Kompliment an, dass Kundinnen gerne in ihren „Laden“ kommen, auch wenn sie nichts kaufen. Wichtig sei es, so erklärt sie mir, im Gespräch zu bleiben und so zu gewährleisten, dass die Kundinnen sich wohl fühlen. Außerdem ist es Nurten gerade vormittags oft langweilig, da die Kundschaft eher an den Abenden und ganz besonders an den Samstagen zum „Hochzeitsshopping“ nach Marxloh kommt. Nurten genießt es also, während der ruhigen Öffnungszeiten ein bisschen Gesellschaft zu haben. Ihr „Laden“ ist für Nurten ihr „Baby“229 wie sie sagt. Er ist ihr Projekt, in das sie viele Hoffnungen gesteckt hat und bislang nicht enttäuscht worden ist. Es sind im Wesentlichen zwei Faktoren, die im Allgemeinen für das Zustandekommen ethnischer Ökonomien angeführt werden: Zunächst sind externe, strukturelle Faktoren zu nennen, wie das Vorhandensein eines potenziellen Marktes oder hohe Arbeitslosigkeit unter der zugewanderten Bevölkerung. Hin-

228 Forschungstagebuch vom 31.08.2010. 229 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 31 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 31.08.2010.

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zu kommen interne Faktoren wie das „kulturelle Kapital“ in Form innerfamiliärer Netzwerke, die als Ressource genutzt werden, indem Familienmitglieder mehr oder minder sporadisch aushelfen und/oder finanziell Unterstützung leisten.230 Bei den von mir befragten Marxloher Geschäftsfrauen waren beide Faktoren entscheidend, sich zur Selbstständigkeit zu entschließen. Alle kamen entweder aus der Arbeitslosigkeit oder fühlten sich in ihrem Beruf nicht wohl und suchten nach beruflichen Alternativen. Nurten etwa hatte nie zuvor im Einzelhandel gearbeitet. Sie hat im Anschluss an eine für sie schwierige Schullaufbahn nach Vollendung ihres Realschulabschlusses keine Ausbildungsstelle bekommen und, da sie Geld brauchte, angefangen zu jobben. An ihrer Arbeitsstelle fühlte sich Nurten aber diskriminiert und meinte, als „Türkin“ immer die unbeliebten Nacht-und Feiertagsschichten zugeteilt zu bekommen. Als sie merkte, dass sie „das Lachen verlernt“231 hatte, beschloss Nurten, sich selbstständig zu machen. Die Geschäftsgründung war für sie also ein Ausweg aus einer beruflich für sie sehr unerfüllten Situation, die von ihr darüber hinaus als diskriminierend empfunden wurde. Ähnlich erging es auch der 23-jährigen Merve. Im Unterschied zu Nurten schloss sie zwar eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau ab, aber bereits während der Ausbildung fühlte sie sich diskriminiert, ohne allerdings ein konkretes Ereignis nennen zu können: M: Auch wenn die das nicht direkt neben mir gemacht haben, hat man es doch gemerkt. Wir waren im Ganzen 300 Mitarbeiter und davon drei Ausländer. Ich war die einzige Türkin.232

Im Anschluss an ihre Ausbildung fand Merve keine Anstellung. Sie versuchte, neben dem Textilbereich, der ihr eigentlicher Favorit war, sich in weiteren Bereichen des Einzelhandels zu bewerben, aber nirgends bekam sie eine Zusage. Merve war über ein Jahr arbeitslos als sie sich schließlich entschloss, sich selbstständig zu machen. Die konkrete Geschäftsidee ergab sich aber eher zufällig:

230 Vgl. Light, Ivan; Bhachu, Parminder; Karageorgis, Stavros (1993): Migration Networks and Immigrant Entrepreneurship. In: Light, Ivan; Bhachu, Parminder (Hrsg.) (1993): Immigration and Entrepreneurship: culture, capital and ethnic networks. New Brunswick. S. 25-46. 231 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 31 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 31.08.2010. 232 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 23 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010.

132 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH M: Ich habe zwar im Einzelhandel gelernt, aber das [die Sparte Brautmode, Anm. d. Verf.] war eher die Idee von meiner Schwester. Ihr Mann kommt aus der Türkei, und sie ist da sechs, sieben Monate geblieben. Dort hat sie die Marken kennengelernt und als sie wieder hier war, haben wir gesagt, wir sollten das machen statt arbeitslos zu sein. Und dann haben wir das halt gemacht.233

Bei der Geschäftsgründung der Frauen ist also zunächst ausschließlich der Wunsch vorhanden, sich selbstständig zu machen, erst danach folgt, meist relativ spontan, die Geschäftsidee. Dabei entwickeln sie einen beeindruckenden Blick für Marktlücken, indem sie merken, dass im Stadtteil „etwas fehlt“. Marxloh war als Standort für sie interessant, da das etablierte Cluster „Brautmode“ viel Raum für weitere Geschäftsideen bot: Hochzeitskarten, Schmuck, Kosmetik, Taschen, Blumensträuße, Unterwäsche oder Porzellan. Dazu Nurten: N: Ich wollte mich zwar selbstständig machen, aber als was und wie? Und da ich sehr viele Freunde hatte und die am Heiraten waren oder es vorhatten, die haben gemeint: „Boah, mein Brautkleid habe ich zwar gefunden, aber mein Diadem fehlt, meine Handtasche fehlt, mein Schmuck fehlt.“ Und dann hier, Marxloh, ich war vielleicht drei, vier Mal da, obwohl ich ja auch hier [in Duisburg, Anm. d. Verf.] lebe. Als Cousins und Cousinen geheiratet haben, habe ich mir hier auch so ’n paar Abendmoden geholt. Und auf einmal war Marxloh für mich interessant. Warum denn nicht, die Leute kommen ja sowieso, um hier Brautkleid zu kaufen und brauchen dann auch [die von Nurten angebotenen Produkte, Anm. d. Verf.].234

Bei der Geschäftsgründung standen alle Frauen keineswegs allein. Als die Frauen keine Ausbildungs- und Arbeitsstelle fanden, überlegten die Familien gemeinsam, welchen Ausweg man finden könnte. Und als die Entscheidung gefallen war, fasste die gesamte Familie mit an. So stammte das Startkapital meist von Familienangehörigen und auch das Ladeninnere wurde mit vereinten Kräften ausgestattet. Dazu Nurten: N: Der Rest [an Möbeln, Anm. d. Verf.] kommt aus Papas Garage, weil er Antiksachen verkauft. Also der Spiegel zum Beispiel. Bei der Platte hier habe ich meinem Bruder erklärt, wie ich es gern hätte, und dann hat er das gemacht.235

233 Ebd. 234 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 31 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 31.08.2010. 235 Ebd.

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Die Unterstützung seitens der Familien geht durchaus auch über die Geschäftsgründungsphase hinaus. Auch im alltäglichen Geschäftsbetrieb springen immer wieder einzelne Familienmitglieder für ein paar Stunden im Geschäft ein, wenn die Ladeninhaberin etwas erledigen muss, einmal ausschlafen möchte oder im Urlaub ist. Über private Kontakte lässt man Visitenkarten oder Werbeflyer drucken, die von Familienmitgliedern und Freunden verteilt werden. Alles, was man über Steuern, Verzollung und Verschickung der Ware wissen muss, lernt man durch Kontakte auf Messen oder im Stadtteil durch andere Geschäftsleute. Verwandte und Bekannte helfen sich dabei gegenseitig, ohne dass sie vertraglich eingebunden werden.236 Sich gegenseitig auszuhelfen, ist für alle Beteiligten eine Selbstverständlichkeit. Obgleich die geschäftsführenden Frauen vergleichsweise jung und oftmals zu Beginn der Geschäftsgründung berufsunerfahren waren, laufen ihre Geschäfte gut. Zwar war es für viele eine Herausforderung, aber bei den Verwandten und Bekannten und nicht zuletzt bei anderen Marxloher Geschäftsleuten findet man reichlich Unterstützung. Den Geschäftsfrauen ist es gelungen, ihren Wunsch nach „Kreativität“ und das Bedürfnis „mit Menschen zu arbeiten“ beruflich umzusetzen. Alle sind ausgesprochen zufrieden mit ihrem „Laden“ – einige expandierten im Laufe der Jahre sogar oder zogen mit ihrem Geschäft von einer kleinen Seitenstraße auf die viel besuchte Weseler Straße um. Es sind viele Erfolgsgeschichten unter den Marxloher Geschäftsfrauen – wenn da nicht der Wermutstropfen wäre, dass die Geschäftsgründungen ursprünglich dem Gefühl der Inhaberinnen entsprangen, mit türkischen Wurzeln nirgends sonst eine adäquate Anstellung zu finden. 4.3.5 „Der Richtige wird schon noch kommen.“ 237 Vorstellungen von Heirat und Partnerschaft Es ist bereits deutlich geworden, dass die Eltern der „Bildungsaufsteigerinnen“ der Bildung und beruflichen Unabhängigkeit ihrer Töchter einen großen Wert beimessen. So erscheint es auch nicht überraschend, dass eine Heirat der Mädchen aus Sicht der Eltern während der Zeit ihrer Ausbildung zunächst nicht in

236 Das wird als Teil eines „informellen Arbeitsmarktes“ bezeichnet. Vgl. Hillmann, Felicitas (2000): Ethnisierung und Internationalisierung? Ethnische Ökonomien als Schnittpunkt von Migrationssystem und Arbeitsmarkt in Berlin. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 120, 30 (2000). S. 415-432. 237 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010.

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Frage kommt. Auch hier zeigt sich, wie sehr die „Bildungsaufsteigerinnen“ im Konsens mit ihren bildungsorientierten Eltern handeln, denn diese Vorstellungen der Eltern werden von ihnen ausnahmslos adaptiert. Dazu noch einmal die Medizinstudentin Meryem: M: Meine Eltern wollen natürlich nicht, dass ich heirate. Die sagen: „Wir wollen, dass du erst einmal Karriere machst und deinen Beruf in der Hand hast. Erst danach heiraten. Einen Mann kannst du immer finden, einen Beruf aber nicht.“ Das war immer das Motto von meinen Eltern (lacht). Und meins auch.238

Das „Motto“ der Eltern, von dem Meryem spricht, die berufliche Ausbildung einer Heirat voranzustellen, ist von Meryem internalisiert und zu ihrem eigenen „Motto“ geworden. Dass Heirat und Bildung beziehungsweise „Karriere“ sich erst einmal auszuschließen scheinen, zeigt jedoch auch, dass Meryem erwartet, dass mit der Heirat eine Veränderung einhergehen wird, insbesondere dann, wenn sie Kinder bekommen sollte. Dass dies so ist – darauf weisen Statistiken hin, nach denen etwa die Erwerbstätigkeit bei türkeistämmigen Frauen nach der Heirat abnimmt.239 Auch Ursula Boos-Nünning verweist darauf, dass sich türkeistämmige Frauen zwar „in das Gesamtbild als Vertreterinnen einer eher egalitären Geschlechterrolle ein [reihen, Anm. d. Verf.], stimmen aber der Aussage, dass eine berufstätige Mutter ein ebenso gutes Verhältnis zu ihren Kindern haben kann wie eine nicht-berufstätige weniger deutlich zu als die übrigen [befragten, Anm. d. Verf.] Gruppen“240. So erklärt sich, dass auch Nurten wie selbstverständlich sagt, sie würde ihren „Laden“ schließen, wenn sie heiraten und ein Kind bekommen sollte:

238 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 21 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010. 239 Vgl. zusammenfassend: Below, Susanne (2003): Schulische Bildung, berufliche Ausbildung und Erwerbstätigkeit junger Migranten. Ergebnisse des Integrationssurveys des BiB (= Materialien zur Bevölkerungswissenschaft, 105b (2003)). Wiesbaden. S. 54. 240 Boos-Nünning, Ursula (2007): Selbstverständlich gleichberechtigt!? In: Röper, Ursula; Hockenjos, Ruthild (2007): Geschlechterrollen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen. Bonn. S. 24-36. Hier: S. 27.

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N: Ich bin ja ledig und wenn ich jetzt heiraten sollte, kann ich den Laden immer noch verkaufen bis ich Baby kriege.241

Der Berufstätigkeit per se stehen die Frauen also ausgesprochen positiv gegenüber. Wird jedoch die Berufstätigkeit in eine hierarchische Reihenfolge zur Kinderbetreuung gestellt, so ändert sich ihre Einstellung: Dann steht für die Frauen außer Frage, dass sie diejenigen sein werden, die aus der Berufstätigkeit aussteigen und zuhause bleiben werden, sollten sie Kinder bekommen. Für die „Bildungsaufsteigerinnen“, zu denen ich Kontakt hatte, sind das alles jedoch hypothetische Fragen, denn sie sind alle noch unverheiratet und kinderlos. Bei denjenigen, die über dreißig Jahre alt sind und ihre Ausbildung bereits absolviert haben, löst das Unverheiratetsein jedoch zwiespältige Empfindungen aus. Zunächst empfinden sie es auf Grund ihres Lebensalters als ungewöhnlich, noch ungebunden zu sein, wie Arzu in ihrer humoristischen Art zum Ausdruck bringt: A: 42 [Jahre, Anm. d. Verf.] und nicht verheiratet! Wenn das die Leute lesen, werden die auch sagen: „Was ist denn? Ist die so hässlich?“ Kannst ja schreiben, die ist kackfrech.242

Die Bedenken darüber, was „die Leute“ annehmen könnten, begleitet alle unverheirateten „Bildungsaufsteigerinnen“, zu denen ich Kontakt hatte. Und tatsächlich kommt es mir immer wieder im Stadtteil zu Ohren, dass es doch schon sehr ungewöhnlich für eine Frau sei, im Alter von über dreißig Jahren noch unverheiratet zu sein. Sogar über Nayla, die offen, optimistisch und selbstbewusst mit ihrem Unverheiratetsein umgeht und betont, „der Richtige wird schon noch kommen und mich entdecken“243, wird mir zugetragen, dass es ja jetzt wohl zu spät für sie sei. Sie werde sicher niemanden mehr finden, der sie heiraten wolle. Wie groß der innere Zwiespalt in dieser Hinsicht für die Frauen selbst sein kann, erfahre ich, als mich Arzu, die in unseren Gesprächen bis dato immer sehr fröhlich und „tough“ gewirkt hatte, in ihrem Auto zur Straßenbahnhaltestelle fährt.

241 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 31 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 31.08.2010. 242 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 42 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 14.08.2010. 243 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010.

136 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH Arzu fährt mich in ihrem Kleinbus zur Straßenbahnhaltestelle. Wir unterhalten uns spaßhaft über Beziehungen und „Männer an sich“ als sie plötzlich und für mich unverhofft hinter dem Steuer in Tränen ausbricht. Sie habe es im Interview nicht sagen wollen, aber sie sei schon einmal verlobt gewesen, erklärt sie mir. Keiner aus ihrer Familie wisse davon. Der Mann habe sie zutiefst enttäuscht. Er habe ihr Bankkonto abgeräumt und sei dann mit dem Geld in die Türkei verschwunden. Arzu traut sich nicht, jemandem davon zu erzählen, denn ihre Scham ist zu groß. Sie glaubt nicht, dass sie jemals wieder einem Mann vertrauen kann, aber eine kleine Hoffnung habe sie, dass „der Richtige“ doch noch kommen werde.244

Das Selbstbewusstsein der Frauen darüber, noch unverheiratet zu sein, scheint also nicht so ausgeprägt wie sie es bei unseren Gesprächen vorgeben zu sein. Sie spüren den gesellschaftlichen Anspruch, und eigentlich wünschen sie es sich auch selbst, verheiratet zu sein. Zugleich haben einige jedoch, wie Arzu, auch Erfahrungen mit Partnerschaften gemacht und festgestellt, dass sie statt in einer unzufriedenen Beziehung lieber in keiner Beziehung leben. Die für Nurten sehr drastisch gewählte Aussage „die Männer sind – tut mir Leid – Arschlöcher, ist so.“245 zeigt deutlich, wie enttäuschend auch Nurtens Erfahrungen mit Beziehungen bislang gewesen sein müssen. Dennoch hofft auch sie, wie Arzu und Nayla, darauf, dass „der Richtige“ noch kommen wird. Auf die Frage, ob es für sie eine Schwierigkeit darstellen würde, sollte sie unverheiratet bleiben, falls „der Richtige“ nie kommen wird, antwortet Nayla: N: Ein Problem wird es nicht sein, wieso sollte es ein Problem sein? Das wäre es nur, wenn ich mir Kinder wünsche, und das wird dann vielleicht nicht verwirklicht. Letztens war eine Verwandte hier, und die hatten eine Ehekrise, und meine Eltern haben versucht, die Ehe wieder zusammenzubringen, aber das hat nicht geklappt. Und da sagte mein Vater: „Meine Tochter, auch wenn die 40 oder 50 ist, sie muss nicht heiraten.“ Also ich habe keinen Druck von meinen Eltern. Weswegen auch? Meine Eltern sind froh, dass sie so eine Tochter wie mich haben.246

Nayla hegt keinerlei Zweifel daran, dass ihre Eltern stolz auf sie sind. Ob sie verheiratet ist oder nicht, scheint für sie keine Rolle zu spielen. Als ich Nayla je-

244 Forschungstagebuch vom 14.08.2010. 245 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 31 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 31.08.2010. 246 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010.

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doch nach ihren eigenen Zukunftsplänen frage, erwähnt sie neben ihrer Karriere dann schließlich doch den Wunsch nach Familie: „Ziel und Herausforderung wäre auch, eine Familie eventuell zu gründen.“247 Der Wunsch nach Familie ist somit verankert, aber der geeignete Partner ist dafür noch nicht gefunden. Sollte Nayla tatsächlich irgendwann „entdeckt werden“248 und heiraten, so ist ihr die Nationalität des Partners zwar nicht wichtig, aber die Religion dafür umso mehr: Ihr Ehemann soll unbedingt Muslim sein, sagt sie: N: Wir wissen ja schon, dass es Diskussionen geben kann in Bezug auf die Nationalität. Und da möchte ich nicht auch noch Diskussionen führen müssen in Bezug auf die Religion. Da sollte schon Einstimmigkeit bestehen. Aber ob das jetzt ein deutscher Moslem ist, ist für mich nicht wichtig. Auch für meine Familie wäre das nicht wichtig.249

Die Religion ist allen muslimischen Marxloher „Bildungsaufsteigerinnen“ generell sehr wichtig. Sie ist für sie Ausdruck eines starken Charakters und eines bestimmten Lebensstils. Ihre Einstellung zum Islam und religiösen Vorschriften wie das Fasten oder auch das Kopftuchtragen möchten sie, wie Nayla erklärt, ihrem künftigen Lebenspartner nicht erst erklären müssen. Daher kommt für sie als Heiratspartner eigentlich nur ein „wahrer Muslim“250 in Frage – aber völlig sicher meint man sich darüber doch erst sein zu können, wenn „der Richtige“ gekommen ist: N: Diese Fragen stellt man sich erst, wenn man den Richtigen getroffen hat. Ich meine, man kann so viel reden. Aber was die Zeit bringt, wird sich herausstellen.251

247 Ebd. 248 Ebd. 249 Ebd. 250 Nökel, Sigrid (2002): Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam. Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken. Bielefeld. S. 232-233. 251 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010.

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4.3.6 „Man muss einfach irgendwo gebunden sein.“ 252 Einstellungen zum Islam Ähnlich wie im Bildungs- und Ausbildungsbereich, leben die Marxloher „Bildungsaufsteigerinnen“ auch im Hinblick auf die Religion ausnahmslos im Gleichklang mit ihren Eltern. Sind die Eltern gläubige Muslime und lassen der Religion eine große Bedeutung zukommen, so ist dies bei den Töchtern auch der Fall. Ist den Eltern die Religion weniger oder überhaupt nicht wichtig, nehmen auch die Töchter eine eher distanzierte Haltung dazu ein. Hinzu kommen auch Frauen, deren Eltern zwar religiös sind, aber der Religiosität bei der Erziehung ihrer Kinder wenig Bedeutung zumaßen und sich so auch ihre Töchter von religiösen Weltanschauungen distanzieren. Damit handeln aber auch diese Töchter im Konsens mit ihren Eltern. Konflikte um die religiöse Ausrichtung existieren zwischen Eltern und Töchtern bei den Marxloher „Bildungsaufsteigerinnen“, mit denen ich zu tun hatte, nie. Die Religiosität war für die religiösen unter ihnen bereits als Kind etwas Selbstverständliches, in das sie „hineingewachsen“ sind. In den Familien sind alle gläubig und die Töchter wurden auf diese Weise mit der Religion vertraut gemacht. Dazu Meryem: M: Ja. Das ist genauso wie wenn ein deutsches Kind zur Kirche geht, freitags, oder? I: Sonntags. M. Ja, sonntags. Wenn das Kind nicht zur Kirche geht, dann fehlt irgendetwas. Man muss einfach irgendwo gebunden sein, und das war bei mir auch der Fall. Damals hat mir das sehr viel Spaß gemacht, zur Moschee zu gehen. Allein bin ich nicht auf die Religion gekommen, sondern durch meine Mama.253

„Irgendwo gebunden sein“ – mit diesen Worten verweist Meryem auf die tiefe Verwurzelung, die sie mit ihrer Religion empfindet. Zum einen deswegen, weil es für sie als Kind eine wöchentliche Konstante darstellte, mit ihrer Mutter zur Moschee zu gehen, die sie auch im Erwachsenenalter weiter fortführen möchte, zum anderen aber auch deswegen, weil ihr die Religion eine innere Gebundenheit verschafft, auf die sie sich in Zeiten der Unsicherheit stützen kann. So käme sie, erzählt sie später, wenn es ihr manchmal schlecht gehe, immer in die Marxloher DITIB-Moschee, und sofort würde es ihr besser gehen. Was also zunächst

252 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 21 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010. 253 Ebd.

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mit einem für Meryem schönen Mutter-Tochter-Ereignis begonnen hat, wurde im Adoleszenzalter noch einmal vertieft. Irgendwann im Alter zwischen zehn und 20 Jahren erfolgte dann nicht nur bei Meryem, sondern auch bei den anderen „Bildungsaufsteigerinnen“ die bewusste Entscheidung dafür, sich zum Islam zu bekennen. Die Frauen setzten sich intensiv mit ihrem Glauben auseinander und entschieden sich bewusst für eine islamische Lebensweise.254 In diesem Zusammenhang nahmen bestimmte Werte eine zentrale Bedeutung ein, die sie mit der Religion verbanden und nach denen sie leben wollten. Diese Werte umfassen verschiedene Lebensbereiche, von der Körperpflege bis hin zu Aspekten, die den Umgang mit anderen betreffen. Immer wieder wird mir erklärt, das persönliche, auch durch die Religion vermittelte Ziel der Frauen sei es, ein „guter Mensch“255 zu sein, womit sie in erster Linie die Ausbildung „innerer Werte“256, wie Ehrlichkeit und Toleranz gegenüber ihren Mitmenschen und auch gegenüber anderen Religionen meinen. Die Religion helfe ihnen dabei, diese Werte zu leben. Manche begannen dann ab einem bestimmten Zeitpunkt auch das Kopftuch zu tragen – unter Umständen sogar wie Meryem gegen den Willen ihrer ebenfalls religiösen Eltern. Dadurch gab sie der Religion, mit der sie aufgewachsen war, erstmals eine eigene, zur Meinung ihrer Eltern leicht differierende Note257: M: Ich wollte ab der fünften Klasse Kopftuch tragen, aber mein Papa hat gesagt: „Nein, dann wirst du bestimmt viele Probleme haben in der Klasse. Die werden sagen: ‚Nee, mit der wollen wir nichts zu tun haben.‘“ Und das ist eigentlich auch so gewesen, ab der fünften Klasse. Und als es dann anfing mit den Hänseleien, habe ich gedacht: „Oh, soll ich es vielleicht doch abnehmen?“258

Das, was Meryem hier in der Schule erlebt, nennt die Soziologin Sigrid Nökel unter Bezugnahme auf Robert Kegans259 eine „Krise in Bezug auf das Verhältnis

254 Das „Motiv der eigenen Wahl“ ist auch bei Nökels Interviewpartnerinnen von zentraler Bedeutung. Vgl. Nökel: 2002, S. 102. 255 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 32 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 30.08.2010. 256 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 257 Nökel: 2002, S. 102. 258 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 21 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010. 259 Kegan, Robert (1986): Die Entwicklung des Selbst. Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben. München.

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zwischen dem Selbst und den anderen“260. Diese Krise entsteht dadurch, dass eine Neuorganisation des Selbst bereits begonnen hat, die mit dem Kopftuch symbolisiert wird und vor anderen vertreten werden muss, aber innerlich noch nicht vollends ausgereift ist. In Meryems Fall geschieht dies gleich in doppelter Weise, denn sie muss sich sowohl vor ihrem Vater als auch gegenüber ihren Klassenkameraden behaupten, was ihr zuletzt, nach einigem Ringen mit ihrem Selbst, auch gelingt. Wie es bereits die Erziehungswissenschaftlerin Yasemin Karakaşoğlu261 in Bezug auf die Rolle und Bedeutung des Kopftuchs bei jungen Akademikerinnen festgestellt hat, wird auch bei den Marxloher „Bildungsaufsteigerinnen“ durch das Kopftuch in erster Linie die Religiosität ausgedrückt. Das Kopftuch symbolisiert für die Marxloher „Bildungsaufsteigerinnen“ die „Bekräftigung einer echten islamischen Lebensführung“262, was jedoch nicht mit einer konservativen, dogmatischen Weltsicht einhergeht. Vielmehr gelingt es den jungen Musliminnen durch eine Re-Interpretation des Islam263, einer modernen Lebensweise nachzugehen.264 Immer wieder betonen sie, dass sie an einer gleichberechtigten, freien und individuellen Lebensweise, die sie zudem nicht nur für sich, sondern auch für andere beanspruchen, interessiert seien.265 Daher äußern sie sich enttäuscht darüber, dass man ihnen auf Grund des Kopftuchs gerade das Gegenteil unterstellt und sie in ihrer freien Wahlmöglichkeit, insbesondere in beruflicher Hinsicht, eingeschränkt werden. Dazu die 32-jährige Almıla:

260 Nökel: 2002, S. 106. 261 Karakoşuğlu: 2003. 262 Klinkhammer, Grit: Moderne Formen islamischer Lebensführung, Musliminnen der zweiten Generation in Deutschland. In: Rumpf, Mechthild; Gerhard, Ute; Jensen, Mechthild (Hrsg.) (2003): Facetten islamischer Welten. Geschlechterordnungen, Frauen- und Menschenrechte in der Diskussion. Bielefeld. S. 257-271. Hier: S. 264. 263 Es geht ihnen um die Lektüre des Islam und nicht um den von den Eltern mündlich überlieferten Islam, der von ihnen nicht zuletzt deswegen kritisiert und abgelehnt wird, weil er von türkischer Kultur überformt sei. 264 Vgl. dazu auch Şahin, Reyhan (2014): Die Bedeutung des muslimischen Kopftuchs. Eine kleidungssemiotische Untersuchung Kopftuch tragender Musliminnen in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin. S. 448 ff. 265 Vgl. dazu auch Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.) (2006): Das Kopftuch – Entschleierung eines Symbols? Sankt Augustin; Berlin.

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A: Die Sache ist, dass viele Stellen von Anfang an für mich erst gar nicht in Frage kommen, zum Beispiel bei der AWO266, Caritas oder Diakonie habe ich überhaupt gar keine Chancen.267

Die „Bildungsaufsteigerinnen“ sind die Gruppe in Marxloh, die in der Außenwahrnehmung des Stadtteils stets als die „Kopftuchtragenden“ auffallen und nicht selten als Beispiel missglückter Integration betrachtet werden.268 Doch im Eigentlichen ist es gerade diese Gruppe Frauen in Marxloh, die in Bezug auf Bildung besonders positiv auffallen müsste. Denn diese Gruppe zeichnet sich durch einen relativ hohen Bildungsgrad aus, den sie auch deswegen erlangt hat, weil ihre Familien fest an ihren Erfolg geglaubt und so gut es geht mit ihren persönlichen und materiellen Ressourcen in sie investiert haben. 4.3.7 „Ich höre eigentlich nur das Negative über Ausländer hier.“ 269 Bezug zu anderen Gruppierungen und zum Stadtteil Fragen wir nach dem Verhältnis der „Bildungsaufsteigerinnen“ zu Marxloh und anderen Gruppen im Stadtteil, so ist „Früher“ eine häufig genannte Bezugsgröße. „Früher“ war das Leben in Marxloh anders und besser. In den Schilderungen Naylas kommen sogar zwei „Früher“ zum Vorschein: ihre Kindheit und die Zeit vor ihrem Eintritt in die Berufstätigkeit. Die Zeit ihrer frühen Kindheit in Marxloh sei gekennzeichnet gewesen durch Toleranz, Hilfsbereitschaft und Multikulturalität. Man lebte solidarisch als Arbeiterkind unter Arbeitern – unabhängig von der Hautfarbe oder der Nationalität und half einander. Schließlich, nach der Kohle- und Stahlkrise Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, nahmen die „Bildungsaufsteigerinnen“ – die meisten waren in dieser Zeit im Kindes- und Jugendalter – Veränderungen im Stadtteil wahr: Immer mehr Personen verließen Marxloh, Naylas Familie verlor sogar „Tante Emma“, zu der Nayla ein „Oma-

266 Bei der AWO handelt es sich um die Arbeiterwohlfahrt, die schon in den 1960er Jahren türkische Mitarbeiter angestellt hatte. Vgl. dazu Hunn: 2005, S. 157. Entweder hat sich Almıla in unserem Gespräch hier also versprochen oder die Ablehnung ihrer Bewerbung hatte andere Gründe als ihre türkischen Wurzeln. 267 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 32 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 30.08.2010. 268 Vgl. Abschnitt 5.4.1. 269 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010.

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verhältnis“ aufgebaut hatte270, aus den Augen. Die ansässigen Geschäfte wie „Lintel“ und „Sinn“ schlossen, und Marxlohs Infrastruktur erlebte Ende der 1990er Jahre seinen Tiefpunkt. Es verwundert nicht zu hören, dass auch die Marxloher „Bildungsaufsteigerinnen“ wie Nayla in dieser Zeit begannen, sich für ihren Wohnort zu schämen: N: Wenn ich früher gefragt wurde, wo ich wohne, habe ich nicht gesagt: „Ich wohne in Marxloh.“ Ich hatte irgendwie das Gefühl, ich muss mich rechtfertigen. Das fand ich schlimm.271

Wie viele andere Bewohner Marxlohs ist Nayla nicht bewusst nach Marxloh gezogen, sondern „es hat sich so ergeben“272, wie sie sagt. Ihre Familie wollte ein Haus kaufen, und in Marxloh waren die Objekte auf Grund relativ niedriger Preise erschwinglich. Dass die „Bildungsaufsteigerinnen“ trotz ihrer guten Bildungsabschlüsse und nur wenigen Arbeitsmöglichkeiten weiterhin in Marxloh wohnen bleiben, liegt im Wesentlichen daran, dass ihre Familien in Marxloh wohnen und sie nicht lange von ihnen getrennt leben wollen. Als ich etwa im Sommer 2010 mit Meryem darüber spreche, wie es denn für sie sein werde, zum anstehenden Studium in eine knapp 400 Kilometer entfernte Stadt zu ziehen, äußert sie sich ausgesprochen skeptisch: M: Meine Eltern fangen jetzt schon an: „Ja, was ist wenn wir dich vermissen, wir wollen dich doch besuchen kommen, geht das nicht?“ Ich werde ja in einer Wohngemeinschaft wohnen. Ja, mal schauen, vielleicht wird daraus ja nichts, ich weiß es noch nicht. […] Das wird bestimmt sehr schwer sein, sich dort zu integrieren, Freunde zu finden. I: Würdest du gerne wieder zurückkommen? M: Ja. Ich weiß ja nicht, wie das Leben dort sein wird für mich. Ich habe zu negative Sichtweisen.273

Zwei Jahre später erfahre ich, Meryem habe den Studienplatz mit einer anderen Studentin tauschen können und sei nun überglücklich, wieder bei ihrer Familie in Marxloh zu leben. Auch Nayla hat außerhalb ihrer Familie eher wenige tiefer-

270 Vgl. Abschnitt 4.3. 271 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 272 Ebd. 273 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 21 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010.

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gehende soziale Kontakte in Marxloh. Eine Freundin von ihr lebt dort, aber die restlichen Bekannten, die sie hat, leben über Duisburg verteilt. Ihre Bindung an die Familie ist jedoch so stark, dass Nayla nie daran gedacht hat, aus Marxloh weg- und woanders hinzuziehen. „Ich wohne hier, weil wir haben hier eine schöne Wohnung und meine Familie lebt hier.“274 Die Familie ist für sie also das Wesentliche: N: Wenn ich so ’ne Richterskala hätte, würden meine Eltern ganz oben sein. Also ich würde alles für meine Eltern machen. Ich kann schlecht nein sagen. Wenn es irgendeine Situation gibt, wo ich einspringen muss, jeder ist füreinander da. Jeder ist bereit, dem anderen zu helfen. Ohne irgendeine Gegenleistung. Meine Eltern, die sind mein Ein und Alles.275

Obgleich die „Bildungsaufsteigerinnen“ nie Zweifel darüber gehegt zu haben scheinen, ob sie in Marxloh bei ihren Familien wohnen bleiben wollen, zeigen sie sich während unserer Gespräche gespalten gegenüber dem Stadtteilgeschehen. Alle monieren das Negativimage, das Marxloh anhafte und es ihnen und vor allem den Kindern und Jugendlichen schwer mache, in Marxloh zu leben. Gleichzeitig vermissen sie aber auch eine bessere Infrastruktur und Einkaufsmöglichkeiten: M: Eigentlich kann man hier gar nichts machen, außer wenn man mal Abendgarderobe braucht. Zum Beispiel, wenn ich mal ein bisschen Auszeit brauche, dann möchte ich rausgehen […]. Aber man kann hier nirgends hingehen. Außer vielleicht „Rossmann“ und „Aldi“. Und jeden Tag da hinzugehen, macht auch keinen Spaß.276

Neben der Infrastruktur mangele es in Marxloh aber auch, wie die Frauen immer wieder betonten, an „Deutschen“, wie sie sagen, die ihnen gegenüber aufgeschlossen seien. Es ist sehr typisch für die „Bildungsaufsteigerinnen“, sich am Beginn unserer Gespräche gegenüber „den Deutschen“, häufig auch unter Bezugnahme auf die Religion, offen und tolerant zu geben, schließlich aber, im Laufe des Gesprächs nach größerer Vertrautheit, dann schließlich doch vorsich-

274 Den Auszug aus ihrem Elternhaus und den Wegzug aus Marxloh würde sie nur dann in Erwägung ziehen, sagt sie, falls sie heiraten würde. 275 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 34 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 276 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 23 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010.

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tig Vorbehalte zu äußern. Auf die Frage, wie ihr Verhältnis zu den im Stadtteil lebenden „Deutschen“ sei, äußert sich etwa Nayla am Anfang des Interviews, als die noch den Vorsatz hat, mir „nur Positives“277 zu erzählen, sehr neutral: I: Was sind das für Personen? N: In welcher Hinsicht? I: Zum Beispiel vom sozialen Stand her? N: Also die Familie erscheint jung und gepflegte Erscheinung. Mehr kann ich dazu nicht sagen.278

Diese sachlich-neutrale Einschätzung der im Nebenhaus lebenden Familie ändert sich jedoch im Laufe des Gesprächs. Nach und nach wird Nayla gelöster und ihre Aussagen emotionaler – und auch deutlich negativer: N: Das [der Anteil der im Stadtteil lebenden „Deutschen“, Anm. d. Verf.] wird wohl so gering sein, dass da nichts so richtig rüberkommt. Ich höre eigentlich nur das Negative über Ausländer hier. Aber ich sehe auch, dass einige Leute hier sehr kreativ sind. Aber die Deutschen – ich sehe die, aber ich kenne keinen. Ok, unsere Nachbarschaft. Ich glaube aber nicht, dass die aktiv sind. Ich glaube nicht, dass die überhaupt arbeiten, geschweige davon, dass die an irgendeiner Veranstaltung teilgenommen haben. Es sind ja auch nicht mehr viele Deutsche, die in Marxloh leben.279

Integration, darin sind sich die „Bildungsaufsteigerinnen“ einig, sei als ein beidseitiger Prozess zu verstehen. In Marxloh haben sie aber das Gefühl, dass von „den Deutschen“ zu wenig kommt. Es seien nur wenige einzelne, die sich in der Stadtteilarbeit engagierten, zugleich sei aber die Beschwerde von „deutscher“ Seite groß. Nayla verdeutlicht das im Gespräch am Beispiel der ethnischen Ökonomie Marxlohs: N: Freunde von mir beklagen sich einerseits, dass ständig Türken hier was aufmachen und beklagen sich aber, dass es keine Cafés gibt zum Draußensitzen. Ich sage immer: „Bitte, das können ja auch die Deutschen machen.“ Ich meine, es gibt so viele Arbeitslose, die

277 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 278 Ebd. 279 Ebd.

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können sich doch mal Gedanken machen. Die ärgern sich, dass Türken sich selbstständig machen, tun aber selber nichts. Nur kritisieren bringt nichts.280

Fragen wir nun abschließend nach dem Bezug der Geschäftsfrauen wie Nurten, Güzel und Merve zum Stadtteil, so ist zunächst, wie eingangs bereits gesagt, auffallend, dass sie alle selbst nicht in Marxloh wohnen. Es handelt sich bei den Geschäftsleuten um Berufspendler aus anderen Duisburger Stadtteilen, die ausschließlich zum Arbeiten in den Stadtteil hinein- und abends wieder hinausfahren. Alle sagen von sich ohne Zögern, dass sie nicht in Marxloh leben wollen: N: Also, ich sag mal so, ich würde niemals hier leben wollen. […] Auch wenn man mir jetzt sagen würde: „Hier hast ’ne Wohnung, brauchst gar keine Miete zahlen“, würde ich nicht umziehen.281

Auch Merve nimmt in unserem Gespräch eine deutliche Abwehrhaltung gegenüber Marxloh als Wohnort ein: M: Nein. Auf keinen Fall. Hier zu wohnen würde gar nicht in Frage kommen. Also die Mieten sind ja schon sehr günstig, aber durch die ganzen Ausländer hier, würde ich nicht gerne hier wohnen.282

Es ist bezeichnend für die die „Bildungsaufsteigerinnen“, dass sie sich selbst nicht als „Ausländerinnen“ sehen, aber sich dennoch als solche behandelt fühlen.283 „Ausländer“ – darunter fällt in ihren Augen nicht die türkeistämmige Bevölkerung, die schon seit Jahrzehnten im Stadtteil lebt und somit auch nicht sie selbst, die in Deutschland geboren sind. „Ausländer“ sind die Neuzugezogenen, denen man meist nicht positiv gegenüber eingestellt ist.284 Vor allem den Romafrauen aus Rumänien begegnet man mit Skepsis oder gar Abwehr: Mit den Worten „die klauen und können sich nicht mal richtig anziehen!“285, bringt etwa

280 Ebd. 281 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 31 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 31.08.2010. 282 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 23 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010. 283 Vgl. Abschnitt 5.2. 284 Ebd. 285 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 21 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010.

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Merves Schwester ihre deutliche Abneigung zum Ausdruck. Nur eine der Geschäftsfrauen, die 42-jährige Ipek, die aber im Unterschied zu den jüngeren Frauen in der Türkei geboren wurde und so der ersten Generation zuzurechnen ist, scheint sich reflektiert mit der Bezeichnung der „anderen“ als „Ausländer“ auseinandergesetzt zu haben: I: Wir nennen sie immer Ausländer, aber ich bin ja auch ein Ausländer. Ich komme aus Holland und bin in der Türkei geboren. Aber ich weiß nicht, hier fehlt etwas. Von deutschen Kunden habe ich gehört, dass Marxloh mal ein schöner Stadtteil war. Aber irgendwie ist Marxloh kaputt gegangen. Früher gab es ganz schöne Geschäfte und besondere Leute. Was ich gehört habe, sagen viele: „Hier sind so viele Ausländer, wir können nicht nach Marxloh gehen.“ Wirklich, die haben mir Marxloh richtig schlecht gemacht, meiner Angestellten auch. Irgendwie haben die mir Angst gemacht, weil so viele Ausländer hier sind. Die wollen hier alle sammeln, Arbeitslose und Asylsuchende. Ich weiß nicht, in Holland ist das anders, gemischter. Wenn das so gesammelt ist, will ich hier nicht leben und auch nicht meine Kinder erziehen. Aber bisher ist alles ok. Ich habe noch nichts Schlechtes gesehen.286

„Ich habe noch nichts Schlechtes gesehen“ ist eine auffallend aufgeschlossene Einstellung dem Stadtteil gegenüber. Sie begegnet mir unter den Marxloher „Bildungsaufsteigerinnen“ bei Ipek allerdings als einziger. Die anderen Frauen bestätigen ausschließlich das Negative an Marxloh: „Viele Ausländer“, „Dreck“, „Lärm“ und „Kriminalität“ sind die oft genannten Assoziationen – da aber entweder ihre Familien dort leben oder ihr Arbeitsplatz hier ist, steht es für die Frauen außer Frage, dass sie sich mit dem Stadtteil zumindest in Teilen solidarisch erklären. 4.3.8 Fazit Das Wichtigste für die Marxloher „Bildungsaufsteigerinnen“ sind zweifelsohne ihre Familien. Obwohl die Frauen oft unverheiratet sind, leben sie nicht allein, sondern bei ihren Eltern oder mit anderen Familienmitgliedern zusammen. Die Familien sind, wie es Nayla ausdrückt, ihr „Ein und Alles“287. Die Frauen verstehen sich mit ihren Eltern so gut, dass sie nicht von Marxloh wegziehen möch-

286 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 42 Jahre, lebt in Holland. Interview vom 01.09.2010. 287 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010.

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ten und sogar lange Anfahrtswege zu ihrer Arbeitsstelle in Kauf nehmen oder auf Ausbildungsmöglichkeiten verzichten, um in der Nähe von ihnen wohnen bleiben zu können. Diese Nähe zu ihren Familien ist für die Frauen keine Verpflichtung, sondern sie wollen aus eigenem Antrieb die Familie in Reichweite wissen. Die Familien stellen die wichtigste Ressource für die Frauen dar, auch im Hinblick auf ihren Bildungs- und Berufsweg. Obgleich die Frauen zwar meist keine fachliche Unterstützung von ihnen erfahren (haben), so stehen die Familien doch voll und ganz hinter ihnen – sei es auf ihrem Weg zum Studium, bei der Berufswahl oder auch bei dem Schritt in die berufliche Selbstständigkeit. Nicht alle können oder wollen den Wunsch der Eltern erfüllen und Ärztin, Rechtsanwältin oder Lehrerin werden. Aber auch diejenigen, die es wollen und können, sehen sich vor der Schwierigkeit, dass ihnen der Zugang zu diesen Berufsfeldern verwehrt wird – hier insbesondere denjenigen Frauen, die nicht im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft sind, aber auch den Kopftuchträgerinnen. Doch auch bei Arzu haben wir gesehen, dass sie als blonde und blauäugige Elektrikerin lieber ihre türkischen Wurzeln verheimlicht, weil sie neben der von ihr negativ erfahrenen Behandlung als Frau auch die negative Behandlung als „Türkin“ fürchtet. Die Diskriminierungserfahrungen der Frauen beziehen sich aber nicht nur auf das Berufsleben, sondern auch auf den Wohnbereich. Der türkisch klingende Name und die „schwarzen Haare“, so Nayla, hätten in ihrem Umfeld oft zu Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche geführt. Alle beklagen sich über eine subtil empfundene alltägliche gesellschaftliche Diskriminierung. Dabei beziehen sie sich sowohl auf ihre Stellung als „Frau im Allgemeinen“ (Arzu), als auch als „Frau mit türkischem Migrationshintergrund“ (Merve) sowie als „Kopftuchträgerin“ (Meryem) und nicht zuletzt als „Marxloherin“ (Nayla). Dabei beherrschen alle Frauen die deutsche Sprache fließend, verfügen über einen relativ hohen Ausbildungsgrad und haben ein ausgesprochen aktives Freizeitleben: Sie treiben Sport, musizieren, reisen oder treffen sich mit Freunden und Bekannten – zu denen allerdings in erster Linie Türkeistämmige zählen, was die Frauen jedoch vor allem auf ihr Wohnumfeld zurückführen: In Marxloh leben kaum jüngere Nicht-Türkeistämmige mit mittlerem oder höherem Bildungsabschluss, denen sie sich hätten anschließen können, da sie den Stadtteil nach dem Abitur meist verlassen. Meryem berichtet, sie hätte in der Schule zwar noch deutschsprachige Freunde gehabt, aber die seien nach dem Abitur aus Marxloh weggezogen. Und zu den Verbliebenen, so geben die Frauen mehr oder weniger offen zu, wollen sie bis auf einzelne Ausnahmen keinen Kontakt haben, da sie in sozialer Hinsicht keine Gemeinsamkeiten zu ihnen sehen.288

288 Mehr zu den Gründen dafür folgt unter Abschnitt 5.2.

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Zuletzt ist noch etwas auffallend: Die Frauen sind zwar, bis auf eine Ausnahme, alle in Deutschland geboren, sind aber nicht im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft. Inzwischen ist bekannt, dass auf Grund dessen gerade im beruflichen Bereich viele Wege verschlossen bleiben. Den Marxloher „Bildungsaufsteigerinnen“ ist dies jedoch meist nicht bewusst. Allein aus der Tatsache, dass die Frauen nicht die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben, kann jedoch nicht geschlossen werden, dass sie nicht gerne in deren Besitz wären. Ganz im Gegenteil: Sie haben sich bereits informiert, wie sie diese erlangen könnten, scheitern aber an den bürokratischen Hürden, und auch der finanzielle Aspekt, die Einbürgerungskosten von 255 Euro289, wirken auf sie abschreckend. Dazu Nurten: N: Ich habe mir das alles besorgt, aber was Bürokratie anbelangt, bin ich sehr, sehr faul. Habe alles stehen gelassen und inzwischen frage ich mich, wozu den ganzen Stress? Hingehen und Geld investieren.290

Ein männlicher türkeistämmiger studierter Marxloher mit deutscher Staatsangehörigkeit erklärt mir in dem Zusammenhang, er werde von seinen Arbeitskollegen als „eingekaufter Deutscher“ aufgezogen. Zwar sei er sich darüber bewusst, dass es sich hier um einen Scherz handeln soll, aber dennoch äußert er sich erregt darüber, dass er für die deutsche Staatsbürgerschaft diese komplizierten bürokratischen Wege auf sich nehmen und Geld habe zahlen müssen. Er verstehe, dass viele Personen diesen Weg nicht gehen wollten oder könnten. Dennoch frage er sich, ob er nun durch die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft „integriert“ sei. An dieser Frage scheitern auch die weiblichen „Bildungsaufsteigerinnen“. Nayla, die als einzige der Frauen im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft ist, sagt dazu aufgebracht: N: Integration? Was ist Integration? Mit der Integration hin und her, das interessiert mich ehrlich gesagt nicht. Was ist Integration? Sorge ich dafür, dass die Leute, die im Integrationsbereich arbeiten, dass die ihren Job behalten? Integration ist für mich ein erfundenes Wort für diesen Bereich. Das passiert nach 20 Jahren. Nach 20 Jahren haben alle den deutschen Pass. Heißt das, dass die Leute integriert sind? Also für mich gibt es keine Definiti-

289 Vgl. Website der deutschen Bundesregierung mit Informationen zur Einbürgerung. Online unter: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/StatischeSeiten/Breg/IB/ Einbuergerung/es-erste-schritte.html (letzter Abruf: 04.04.2013). 290 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 31 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 31.08.2010.

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on. Im Moment gibt es Vereine, die die Integration erhöht haben. Aber die sollte man mal fragen, wen sie integriert haben. Was ist die Integration? Bin ich integriert? Ich weiß es nicht. Ich will es auch gar nicht wissen. Ich bin ja immer ’ne Ausnahme. Es gibt ja immer Leute, die die deutsche Sprache sprechen und einen akademischen Abschluss haben. Wobei ich jetzt wieder einen Minuspunkt hätte, weil ich aus Marxloh komme. […] Man sagt immer, die Türken sind nicht integriert, aber man sollte sich mal die Frage stellen, wie viele Türken kenne ich überhaupt? Die meisten [Deutschen, Anm. d. Verf.] haben keinen Kontakt und grüßen nicht mal.291

Es ist also das offene Aufeinanderzugehen seitens der anderen Marxloher, das Nayla vermisst. Dass sie wenig in Kontakt zu ihnen kommt, hat aus ihrer Sicht weniger mit ihrem eigenen Willen als vor allem mit den fehlenden Möglichkeiten und mangelnder Bereitschaft „der Deutschen“ zu tun.

4.4 D IE „H EIRATSMIGRANTINNEN “ 4.4.1 Fallbeispiel Fatma Fatma treffe ich an einem völlig verregneten Nachmittag vor der Marxloher DITIB-Moschee an. Die Moschee als Interviewort wurde von ihr gewählt. Sie zeigt sich mir gegenüber sehr schüchtern und wagt sich offenbar kaum an mich heran. Ich trete auf sie zu und versuche, mit ihr „Smalltalk“ über das Wetter zu halten, aber sie erweckt den Eindruck, mich kaum zu verstehen. Wir warten auf die Dolmetscherin, und kaum sitzen wir zu dritt zusammen, wirkt Fatma plötzlich sehr aufgeweckt und beginnt sogar, deutsch zu sprechen. Sie erzählt, sie sei eigentlich in einem Nachbarort Marxlohs zur Welt gekommen, aber die Familie sei in die Türkei zurückgekehrt als Fatma acht Jahre alt war. In der Türkei sei sie bis zum Abitur in die Schule gegangen, fiel aber dann durch die Aufnahmeprüfung an der Universität und wurde nicht zum Studium zugelassen. Fatma begann, in einem Computerladen als Verkäuferin zu arbeiten. „Und dann“, frage ich, „hast du deinen Mann kennengelernt?“ „Nein“, sagt sie und lacht:

291 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010.

150 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH F: Das lief durch eine Heiratsvermittlung. Das läuft meistens so. Da kommt jemand, dann geht man hin zum Teetrinken, und dann lernt man sich kennen. Ja, und dann habe ich „ja“ gesagt.292

Ihr erster Eindruck ihres zukünftigen Ehemanns war jedoch in optischer Hinsicht kein positiver, wie sie im Nachhinein amüsiert berichtet: F: Und als ich meinen Mann zum ersten Mal sah, fand ich ihn zu mollig. Da war ich etwas geschockt. Aber danach im Gespräch hat das dann nicht mehr gestört. Jetzt ist er nicht mehr dick (lacht).293

Fatmas Mann ist in Marxloh geboren und aufgewachsen. Dass er sie in der Türkei getroffen hat, bezeichnet Fatma als „Schicksal“ (kismet). Überhaupt glaubt Fatma viel an „Schicksal“. Immer wieder betont sie, dass das, was in ihrem Leben bislang geschehen ist, Schicksal gewesen sei. Auch dass die Ehe mit einem Mann, den sie vor der Heirat mit ihrem jetzigen Ehemann geliebt hatte, nicht zustande kam, weil die Familien dieser Beziehung entgegen standen, bezeichnet sie als „Schicksal“. Den Grund, warum die Familien diese Beziehung nicht gut hießen, möchte sie mir aber nicht verraten. Er scheint für sie ohnehin nicht mehr relevant zu sein, denn auch wenn sie ihren jetzigen Mann nicht wie den Mann davor von Anfang an geliebt habe, ist Fatma mit ihrer Ehe doch sehr zufrieden. Als Fatma im Jahr 1999 im Alter von 22 Jahren nach Marxloh kam, lebte sie sich schnell ein. Mit der Familie ihres Mannes habe sie nie Probleme gehabt, sagt sie. Als sie 29 Jahre alt war, brachte Fatma ihr erstes Kind zur Welt, zwei weitere folgten. Nach der Hochzeit und ihrem Umzug nach Marxloh ging Fatma nicht mehr arbeiten und fing an, das muslimische Kopftuch zu tragen. Das sei „einfach so gekommen“, sagt sie: F: Das kam ganz plötzlich. Ich wollte rausgehen, und dann habe ich ein Kopftuch getragen. So ist es geblieben.294

Den Grund für ihr Kopftuch sieht Fatma in ihrer Religion: „Die Religion will es so“, erklärt sie mir. Der Stellenwert der Religion im Allgemeinen ist bei Fatma sehr hoch. Sie betet fünf Mal am Tag und geht gerne in die Marxloher DITIB-

292 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 36 Jahre, lebt seit 1999 in Deutschland. Interview vom 07.09.2010. 293 Ebd. 294 Ebd.

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Moschee. Neben der Religion sind weitere für Fatma wichtige Werte die „Ehre“ und der „Ruf“: F: Ehre ist für mich sehr wichtig. Es ist wichtig, dass sie [die Frau, Anm. d. Verf.] vorher [vor der Heirat, Anm. d. Verf.] nichts hatte. Das erwarte ich auch von meiner Tochter. Ehre ist wichtig. Ich möchte auf keinen Fall, dass meine Tochter eine Beziehung hat und dann die nächste. Und der Ruf ist auch sehr wichtig. In Marxloh kennt jeder meinen Mann.295

Wenn Fatma von „jedem“ spricht, so meint sie damit die türkeistämmige Bevölkerung im Stadtteil, zu der sie einen regen Austausch pflegt und oft andere besuchen geht oder Besuch empfängt. Zu weiteren Gruppen im Stadtteil habe sie keinen Kontakt, sagt sie. Dass ausschließlich Kontakte zu Türkeistämmigen zustande kämen, hänge vor allem mit den Verständigungsmöglichkeiten zusammen, habe aber auch kulturelle Gründe, gibt sie zu verstehen. Während sich Fatma durchaus mehr Kontakt zu „den Deutschen“ wünscht, betrachtet sie den Zuzug anderer ethnischer Gruppen und vor allem „der Bulgaren“ mit großer Skepsis: F: Das sind jugendliche Schlägertypen. Die Kinder sind aggressiv. Die belästigen die Kinder in der Schule.296

Wegen dieses Umfeldes überlegt Fatma inzwischen, vor allem mit Blick auf ihre Kinder, aus Marxloh wegzuziehen, da ihr, wie sie sagt, „zu viele Ausländer“297 im Stadtteil leben. 4.4.2 „Mein Leben geht weiter, aber ich denke immer an meine Kinder.“ 298 Familienverhältnisse und Geschlechterrollenvorstellungen Fatma gehört mit den anderen sieben „Heiratsmigrantinnen“299 zu denjenigen Frauen Marxlohs, deren größter Teil ihrer familiären Sozialisation in der Türkei vonstatten ging und die durch ihre Heirat mit einem türkeistämmigen Marxloher

295 Ebd. 296 Ebd. 297 Ebd. 298 Ebd. 299 Es wurden acht Marxloherinnen interviewt, die sich dieser Gruppe zuordnen ließen.

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der zweiten Generation in den Stadtteil gezogen sind.300 Fatma ist allerdings die einzige der befragten Frauen, die in der Türkei das Abitur erworben hat.301 Die anderen sieben „Heiratsmigrantinnen“ sind in bildungsfernen Familien in ländlichen, selten auch in städtischen Regionen der Türkei aufgewachsen und dort, wenn überhaupt, nur wenige Jahre zur Schule gegangen. Sie arbeiteten entweder mit den Eltern auf dem Feld, gingen einer anderen Tätigkeit, meist als ungelernte Schneiderin, nach oder halfen im Haushalt. Während die Brüder der Frauen durchaus längere Zeit zur Schule gingen, war dies bei den Frauen nicht der Fall.302 Sie seien, so erklären sie ganz entsprechend Lubigs303 und Schiffauers304 Ausführungen über die ländliche Türkei in den 1980er und 1990er Jahren, Teil des inneren, häuslichen Bereichs und nicht der männlichen Öffentlichkeit gewesen. Es seien die männlichen Familienmitglieder gewesen, die für das Ansehen der Familie zuständig gewesen seien, und die die Frauen als „ihre Ehre“305 be-

300 Lucy Williams weist darauf hin, dass die Termini für dieses Phänomen im internationalen Bereich vielfältig seien. So werde die Bezeichnung „family-related migration“, „spouse migration“ oder „family-forming migration“ ebenso verwendet wie „transnational marriage“, „intermarriage“, „cross-cultural marriage“ oder „mixed marriage“ sowie der relativ neutrale Terminus „cross-border-marriage“. Vgl. Williams, Lucy (2010): Global Marriage. Cross-Border Marriage Migration in Global Context. Basingstoke. S. 8-10. Ich verwende den im Deutschen gängigen Begriff „Heiratsmigration“. 301 Obgleich dies hier durchaus eine Ausnahme sein kann. Meryem Reiter weist in ihrer Masterarbeit etwa darauf hin, dass die Heiratsmigrantinnen aus der Türkei im Vergleich zu Arbeitsmigrantinnen vergleichsweise gut gebildet sind. Vgl. Reiter, Meryem (2009): Depressionen bei türkischen Frauen in Deutschland. Unterschiede zwischen Heiratsmigrantinnen und Arbeitsmigrantinnen. München. Masterarbeit. S. 98. Als Download verfügbar unter: http://www.diplom.de/e-book/227723/depressionbei-tuerkischen-frauen-in-deutschland (letzter Abruf: 21.08.2014). 302 Straube, Hanne (2002): Reifung und Reife. Eine ethnologische Studie in einem sunnitischen Dorf der Westtürkei. Frankfurt am Main. S. 180-182. 303 Lubig:1997, S. 29-30. 304 Schiffauer, Werner (1983): Die Gewalt der Ehre. Frankfurt am Main. S. 65. 305 Im Nahen Osten wie im Maghreb liegt die Ehre der Frau in ihrer züchtigen Haltung, die Ehre des Mannes hingegen ist an seine Frau gebunden. So sagen zum Beispiel die Beduinen, wenn sie von ihrer Frau sprechen, „meine Ehre“ (irdi), oder auch „die mir Erlaubte“ (halali) – mit anderen Worten: „die Frau, die mir rechtmäßig zusteht“. Chebel, Malek (ohne Jahr): Die Welt der Liebe im Islam. Eine Enzyklopädie. Wiesbaden. S. 102.

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schützt hätten. So seien es schließlich auch die Väter gewesen, welche die Entscheidung darüber getroffen hätten, ob die Töchter heiraten sollten oder nicht. Als ganz entscheidend für die letztendliche Zusage der Väter benennen die Marxloher „Heiratsmigrantinnen“, dass die Familien, die um die Bräute warben, aus Deutschland gekommen seien, wie hier die 35-jährige Aydin und die 41jährige Ferda: A: Mein Vater willigte sofort ein, ohne mich zu fragen. Sie [die Familie meines Mannes, Anm. d. Verf.] kamen ja aus Deutschland.306 F: Im Winter 1988 kamen einige Besucher aus Deutschland ins Dorf. Ich kannte sie nicht, aber meine Eltern schon. Sie kamen eines Tages auch uns besuchen. Sie brachten Schokolade mit. Ich hatte davor noch nie Schokolade gegessen. Es war sehr lecker. Eigentlich kamen sie, um für ihren Sohn um meine Hand anzuhalten. Ich habe es viel später erfahren. Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich die Schokolade nicht gegessen. Mein Vater willigte ein. Er war bestimmt froh, dass er eines der Mädchen los wird.307

Zwar deutet Ferda hier implizit an, dass sie mit der Heirat nicht einverstanden war, indem sie betont, dass sie, wenn sie davon gewusst hätte, die von der Familie mitgebrachte Schokolade nicht gegessen hätte. Aber im weiteren Verlauf des Gesprächs wird diese Situation für sie immer weniger von Belang, denn das Verhältnis zu ihrer Schwiegerfamilie in Marxloh entwickelte sich positiv. Ihre Anfangszeit in Marxloh bezeichnet Ferda jedoch noch als ausgesprochen schwierig und bringt zum Ausdruck, sehr gelitten zu haben. Das Paar lebte bei den Schwiegereltern, ihr Mann war ihr „fremd“308, wie sie sagt. Sie durfte das Haus nicht verlassen, und vor allem im Umgang mit ihrer Schwiegermutter hatte Ferda große Probleme: F: Meine Schwiegermutter zählte mir jeden Tag die Gerichte auf, und ich kochte sie. Sie half mir dabei nie. Ich widersprach ihr auch nie.309

306 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 35 Jahre, lebt seit 1997 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013. 307 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 41 Jahre, lebt seit 1989 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013. 308 Ebd. 309 Ebd.

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Konflikte mit den Schwiegermüttern treten in dieser Gruppe der „Heiratsmigrantinnen“ häufig auf, legen sich aber meist, wenn die Frau ihr erstes Kind geboren und mit dem Mann in eine eigene Wohnung gezogen ist – so auch bei Ferda. Das Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter bezeichnet sie heute gar als ein „fürsorgliches“310, und auch die Ehe mit ihrem Mann gestaltete sich mit der Zeit immer besser. Ferda begann, wie sie sagt, „zu kochen wann und was ich wollte“311, und die Beziehung zu ihrem Ehemann entwickelte allmählich sogar zärtliche Züge: F: Mein Mann hat mich manchmal gestreichelt. Er rief plötzlich von der Arbeit an und fragte, wie es mir und dem Kind geht. Das hat mich sehr gefreut.312

Zwar spricht Ferda auch hier noch nicht von Liebe, aber die Liebe wächst im Verständnis der Frauen erst nach Jahren, und sie schätzen sich glücklich, wenn der Mann sie in der Anfangszeit zumindest respektiert. So sagt Aydin: A: Mein Mann hat mich immer gut behandelt. Liebe gab es zunächst nicht. Er war eben mein Mann. Heute liebe ich ihn natürlich.313

Wie man das Eheleben unter den „Heiratsmigrantinnen“ wahrnimmt, hat also ganz wesentlich damit zu tun, unter welchen Umständen man vorher in der Türkei lebte, welche Hoffnungen mit der Heirat und der Migration nach Deutschland verbunden waren und nicht zuletzt damit, wie die Ehe schließlich in Deutschland verlief. Deutlich wird dies, wenn wir einen vergleichenden Blick auf die 34-jährige Zeyneb und die 35-jährige Aydin werfen, die beide zunächst völlig unterschiedliche Hintergründe und Erfahrungen aufweisen: Zwar wurden beide Ehen der Frauen, wie auch die von Fatma und Ferda, arrangiert, und beide folgten ebenfalls als Heiratsmigrantinnen ihren Ehemännern nach Marxloh. Aber ihre Wahrnehmung der dortigen für beide eigentlich ähnlichen Lebenssituationen ist auf Grund ihrer unterschiedlichen Hintergründe und vorherigen Lebensstandards von Grund auf verschieden. Wenden wir uns dazu zunächst Zeyneb zu. Zeyneb sagt, sie stamme aus Izmir, ist jedoch in ihrem Leben mehrere Male umgezogen. Izmir war lediglich die letzte Station der Familie, bevor Zeyneb nach Deutschland migrierte. Sie ist nie

310 Ebd. 311 Ebd. 312 Ebd. 313 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 35 Jahre, lebt seit 1997 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013.

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zur Schule gegangen und sagt, dass sie sich Lesen und Schreiben selbst beigebracht habe. Im Alter von 14 Jahren begann Zeyneb, in einem Schneideratelier als Schneiderin zu arbeiten und genoss es, finanziell etwas Spielraum zu haben. Wöchentlich sei sie zum Friseur gegangen, schwärmt sie noch heute. Als die Familie ihres künftigen Ehemannes um ihre Hand anhielt, glaubte die Familie, dass Zeyneb sozial aufsteigen und dass es ihr in Deutschland „sehr gut gehen“314 werde und willigte in die Heirat ein: Z: Meine Mutter sagte: „Mädchen, dir wird es in Deutschland sehr gut gehen.“315

Auch Zeyneb freute sich darauf, nach Deutschland zu kommen. In Deutschland, so nahm sie an, sei es ordentlich und sauber, und auch das Geldverdienen falle dort leichter als in der Türkei.316 Doch in Marxloh angekommen, wurde sie bitter enttäuscht: Z: Das war aber nicht der Fall. Mein Mann hatte nie eine feste Arbeit, wir hatten immer finanziell Schwierigkeiten. Ich konnte mir nie richtig was leisten. Ich musste immer Prioritäten setzen, was jetzt sehr wichtig ist und [was, Anm. d. Ver.] nicht.317

Zeynebs Enttäuschung ist leicht nachzuvollziehen: Als sie noch in der Türkei lebte, hatte sie ihr eigenes, wenn auch recht kleines Einkommen, über das sie frei verfügen konnte. Nun, in Deutschland angekommen, steht es für sie und ihre Familie außer Frage, dass sie ihrer Berufstätigkeit mehr nachgehen wird, insbesondere von dem Zeitpunkt an, an dem die gemeinsame Tochter zur Welt kam.318 Zu ihrer Unzufriedenheit trägt aber auch bei, dass Zeynebs Mann nie

314 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 34 Jahre, lebt seit 2009 in Deutschland. Interview vom 04.03.2013. 315 Ebd. 316 Zu Deutschlandbildern unter Türken vgl. Straube, Hanne (2001): Der kandierte Apfel. Türkische Deutschlandbilder. Berlin. 317 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 34 Jahre, lebt seit 2009 in Deutschland. Interview vom 04.03.2013. 318 Ahmet Toprak sieht dies als Grund dafür an, dass die Frauen nicht berufstätig seien und relativ isoliert leben würden. Vgl. Toprak, Ahmet (2014): Türkeistämmige Mädchen in Deutschland. Erziehung – Geschlechterrollen – Sexualität. Freiburg im Breisgau. S. 25.

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„länger als drei Monate einen Job behalten“319 kann, und die gesamte Familie immer wieder in finanzielle Engpässe gerät. Zeyneb äußert sich in unserem Gespräch völlig frustriert und resigniert über ihre Lebenssituation in Marxloh, denn das Leben in Deutschland hatte sie sich völlig anders vorgestellt:320 Z: Früher habe ich mir für meine Pflege viel Zeit genommen. Heute habe ich gar keine Motivation mehr, irgendwas an mir zu machen. Ich bin einfach enttäuscht. Ich hatte andere Erwartungen von Deutschland. Meine Verwandten in der Türkei denken, dass wir das Geld hier leicht verdienen. Wenn die wüssten!321

Anders hingegen ist es der 35-jährigen Aydin ergangen. Zwar hat auch sie, wie Zeyneb, nie die Schule besucht, ist aber im Unterschied zu ihr im östlichen, ländlichen Bereich der Türkei in der Nähe von Kars aufgewachsen und verbrachte die meiste Zeit arbeitend auf dem Feld oder mit Haushaltstätigkeiten zu Hause. Aydin war in ihrer Familie die „büyük abla“, die älteste Schwester, der die Rolle zukam, der Mutter stark zur Hand zu gehen.322 Im Unterschied zu ihren Geschwistern ging Aydin daher nicht zur Schule, denn, wie sie sagt, „weil ich die Älteste der Mädchen war, erwarteten mich andere Aufgaben.“323 In der Retrospektive bezeichnet sie sich in der Zeit als sie noch in der Türkei lebte, als „Dienstmädchen“324 in ihrer Familie: A: Morgens gingen alle nach dem Frühstück aus dem Haus. Ich musste den Haushalt erledigen, Wäsche waschen, Kühe melken, das Abendessen vorbereiten und anschließend wieder aufräumen, spülen und so weiter. Die Tage vergingen immer gleich.325

319 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 34 Jahre, lebt seit 2009 in Deutschland. Interview vom 04.03.2013. 320 Ähnliche Situationen von Heiratsmigrantinnen beschreibt Ahmet Toprak. Vgl. Toprak: 2014, S. 25. 321 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 34 Jahre, lebt seit 2009 in Deutschland. Interview vom 04.03.2013. 322 Pfluger-Schindlbeck, Ingrid (1989): „Achte die Älteren, liebe die Jüngeren.“ Sozialisation türkischer Kinder. Frankfurt am Main. S. 165-166. 323 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 35 Jahre, lebt seit 1997 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013. 324 Ebd. 325 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 35 Jahre, lebt seit 1997 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013.

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Als Aydin 18 Jahre alt war und der Heiratsantrag und die damit verbundene Aussicht, nach Deutschland kommen zu können, erfolgte, war für sie die Zeit gekommen, sich „völlig neu zu entdecken“, wie sie sagt.326 Für Aydin wartete in Deutschland „eine neue Welt“.327 A: Für mich war Deutschland eine neue Welt. So richtig hatte ich mir aber keine Gedanken machen können. Ich habe mir nur gewünscht, dass es besser sein soll. Ich musste nicht mehr hart arbeiten. Ich hatte eine Spülmaschine. Es war alles viel einfacher für mich. Wäsche wurde in der Maschine gewaschen. Es gab Fernsehen, Telefon, viele Autos. Warum sollte ich denn Sehnsucht haben? Ich war befreit. Ich vermisse mein Dorf überhaupt nicht. Wenn ich ehrlich sein soll, vermisse ich meine Eltern eigentlich auch nicht so sehr.328

Für Zeyneb und Aydin bot Deutschland also vor dem Hintergrund ihres jeweiligen Erfahrungshorizontes ganz unterschiedliche Perspektiven: Für Zeyneb bedeutete das Leben in Marxloh im Vergleich zu ihrem Leben in der Türkei eine Einschränkung ihrer Freiheit und finanzieller Spielräume. Die Enttäuschung macht ihr inzwischen so sehr zu schaffen, dass sie stark an Körpergewicht zugenommen und sich äußerlich „völlig gehen gelassen“329 hat, wie sie sagt. Für Aydin war Deutschland hingegen wie eine „Befreiung“.330 Im Unterschied zur Türkei fühlt sie sich in Marxloh als „etwas Besonderes“331 und nicht mehr als „Maschine“.332 Im Unterschied zu Zeyneb blickt Aydin positiv in ihre Zukunft in Marxloh. Wir sehen also, wie ungleiche Erfahrungen, die man in der Türkei gemacht hat, die Wahrnehmungen der Einwanderungssituation beeinflussen und das Leben in Marxloh in unterschiedlichem Licht erscheinen lassen können. Sind für Aydin die Spülmaschine und die technischen Möglichkeiten, über die sie nun im Stadtteil verfügt wie eine „Befreiung“, fühlt sich Zeyneb durch ihren neuen All-

326 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 41 Jahre, lebt seit 1989 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013. 327 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 35 Jahre, lebt seit 1997 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013. 328 Ebd. 329 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 34 Jahre, lebt seit 2009 in Deutschland. Interview vom 04.03.2013. 330 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 35 Jahre, lebt seit 1997 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013. 331 Ebd. 332 Ebd.

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tag „wie im Käfig“333 und möchte unbedingt bald wieder einer Berufstätigkeit nachgehen. Beide Frauen haben also eine völlig unterschiedliche Sicht auf ihre Lebenssituation, die sich allerdings in ihren alltäglichen Ablauf verblüffend gleicht: Die Frauen sind beide nicht berufstätig, weil, wie sie sagen, die Ehemänner dies nicht wollen. Erst dann, wenn finanzielle Engpässe drohen würden, beschließe man unter Umständen, dass die Frau eine Arbeitsstelle brauche. In beiden Fällen hat man dies jedoch noch nicht als notwendig befunden, und so definieren sich die Frauen seit ihrer Heirat über das Hausfrauen- und vor allem das Muttersein. Dementsprechend besteht auch der Tagesablauf der Frauen in erster Linie aus Familienleben, Haushalt, Einkaufen und vor allem der mühevollen, nicht selten Stunden andauernden Zubereitung von Speisen: Morgens wird das Frühstück bereitet, dann werden die Kinder zur Schule gebracht. Anschließend wird aufgeräumt und gegebenenfalls auch die Zimmer der Schwiegereltern mit in Ordnung gebracht. Schließlich widmen sich die Frauen der Hausarbeit, insbesondere dem Kochen, und warten, bis die Kinder aus der Schule kommen. Anschließend gehen sie sich nachmittags gegenseitig, sofern niemand aus der Familie verlangt, dass sie zu Hause bleiben, mit den Kindern besuchen. Hier bespricht man das „Neueste“ und tauscht Kochrezepte aus. Schließlich gehen die Frauen mit ihren Kindern wieder nach Hause, und es wird das Abendessen zubereitet. Allen Tätigkeiten können sich die Frauen am Besten zuwenden, wie sie sagen, wenn der Mann außer Haus unterwegs ist: „Wenn der Mann zu Hause ist, geht das alles nicht“334, erklärt mir auch Fatma. Das Alltagsleben der Frauen rankt sich also ganz zentral um den Haushalt, dem sie sich am liebsten ohne die Anwesenheit der Männer widmen, um ihre Schwiegereltern und vor allem um ihre Kinder. Ihre Kinder sind für die Frauen das Wesentlichste. Ihnen kommt eine ganz besondere Wertigkeit zu. Habe die Frau eigene Kinder, wird mir erklärt, wachse ihr Ansehen in der Gemeinschaft – habe sie keine, stehe der Verdacht im Raum, dass mit ihr irgendetwas „nicht stimmt“. So wird es verständlich, dass die 39-jährige Songül nahezu verzweifelt ist, denn sie hat trotz intensiven, inzwischen 20 Jahre andauernden Kinderwunsches noch kein Kind zur Welt gebracht. Intensiv bemüht sie sich von dem Anspruch, Mutter zu werden, abzulenken, aber der soziale Druck steigt:

333 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 34 Jahre, lebt seit 2009 in Deutschland. Interview vom 04.03.2013. 334 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 36 Jahre, lebt seit 1999 in Deutschland. Interview vom 07.09.2010.

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S: Ich habe so einiges gemacht. Ich habe meinen Führerschein. Ich habe zwei Jahre lang einen Integrationskurs besucht. Ich habe einige Nähkurse besucht. Mein Mann möchte aber nicht, dass ich arbeite. Eigentlich tue ich alles nur, um mich abzulenken. Mein größter Wunsch ist es, ein gesundes Kind zu bekommen. Manchmal komme ich mir wie ein halber Mensch vor. Alle in meiner Umgebung haben Kinder, nur wir nicht […]. Die Rolle als Frau in der Familie ist nicht einfach, vor allem in meinen Fall. Man hat eine Erwartung von mir. Mein größter Wunsch ist es, ein Kind zu bekommen. Ich möchte endlich Mutter werden.335

Die Rolle als Mutter nimmt eine zentrale Rolle für alle acht befragten Frauen ein. Dies hat zum einen mit dem bereits angesprochenen Ansehen in der Gemeinschaft zu tun, aber auch ein weiterer Aspekt scheint bei den „Heiratsmigrantinnen“ in Marxloh bedeutend zu sein: Es erweckt den Anschein, als kompensierten die Frauen durch ihre Kinder etwas, das ihnen bisher selbst nicht vergönnt war. Wie unglücklich Zeyneb mit ihrer Situation als Hausfrau und Mutter ist, ist bereits deutlich geworden. Aber auch das Bedauern der anderen Frauen, ihrem „größten Wunsch“336, wie sie sagen, nämlich „Deutsch zu lernen“337, „den Führerschein zu machen“338, „arbeiten“339 oder „studieren“340 zu wollen, jedoch die Möglichkeit dazu nicht (gehabt) zu haben, ist bei den Frauen groß. Seine eigene Zukunft scheint man schier aufgegeben zu haben, aber an die der Kinder stellt man dafür umso höhere Erwartungen. So sagt Fatma: F: Mein Leben geht weiter, aber ich denke immer an meine Kinder. Dass die weiterkommen und was schaffen. Das wird so weitergehen. Da wird sich nichts ändern. Die sollen in gute Positionen kommen.341

335 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 39 Jahre, lebt seit 1993 in Deutschland. Interview vom 08.03.2013. 336 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 34 Jahre, lebt seit 2009 in Deutschland. Interview vom 04.03.2013. 337 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 41 Jahre, lebt seit 1989 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013. 338 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 36 Jahre, lebt seit 1995 in Deutschland. Interview vom 04.03.2013. 339 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 34 Jahre, lebt seit 2009 in Deutschland. Interview vom 04.03.2013. 340 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 36 Jahre, lebt seit 1999 in Deutschland. Interview vom 07.09.2010. 341 Ebd.

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Es wurde bereits im Zusammenhang der Gruppe der „Gastarbeiterinnen“ gesagt, dass der Anspruch der Frauen der ersten Generationen an ihre Kinder zum Teil recht hoch sein kann.342 „In der ersten Klasse schon Nachhilfeunterricht“343 oder „Fördern bis der Arzt kommt“344 waren die saloppen Umschreibungen des Bildungseifers der Frauen seitens einer Expertin, die im Marxloher Bildungsbereich tätig ist. Ähnlich der „Gastarbeiterinnen“ oder der „Romafrauen aus Rumänien“345 sowie der „Frauen aus Bulgarien“346 sollen auch die Kinder der „Heiratsmigrantinnen“ „klug“ und „gebildet“ sein – sich aber zugleich von den Werten Ehre, Ansehen, Respekt (und auch die Religion zählen sie dazu) nicht entfernen, denn, wie es Nurhan ausdrückt: „Es gibt im Leben wichtige Dinge, die ändern sich nie“347 – und dazu zählt sie wie auch Songül und Ferda gerade diese vier Werte: N: Respekt, Ehre, Religion und Ruf sind sehr wichtige Werte für mich. Mit diesen Werten wurde ich erzogen, so werden auch meine Kinder erzogen. Es gibt im Leben wichtige Dinge, die ändern sich nie. Das sind meiner Meinung nach diese Werte.348 S: Respekt, Ehre, Keuschheit und Religion sind sehr wichtige Werte. Alle Werte ergänzen sich meiner Meinung nach. Keiner kann ohne das andere. Ich würde meinen Kindern viele Werte vermitteln, die ich auch vermittelt bekommen habe.349 F: Wir leben doch für unsere Ehre.350

Für die Frauen sind Ehre, Ansehen, Respekt und die Religion derart fundamentale Werte, dass Ferda sie sogar als Mittelpunkt ihres Lebens betrachtet. Die Frauen sind mit diesen Werten aufgewachsen, und sie wurden von ihnen bislang noch

342 Vgl. Abschnitt 4.2. 343 „Aktive“, weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010. 344 Ebd. 345 Vgl. Abschnitt 4.7. 346 Vgl. Abschnitt 4.8. 347 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 36 Jahre, lebt seit 1999 in Deutschland. Interview vom 04.03.2013. 348 Ebd. 349 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 39 Jahre, lebt seit 1993 in Deutschland. Interview vom 08.03.2013. 350 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 41 Jahre, lebt seit 1989 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013.

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nicht in Frage gestellt – vielleicht auch deswegen, weil sie selbst noch nie in Konflikt mit ihnen geraten sind. Denn, wie wir gleich sehen werden, kann sich die Einstellung zu den Werten bei den Frauen komplett ändern, sobald sie in eine Situation kommen, in der sie die Familienehre verletzt und dem Ruf der Familie geschadet haben. Zu den Werten Ehre, Ansehen und sogar zu der Religion nehmen diese Frauen dann, ebenso wie die Frauen der „Gastarbeitergeneration“351, eine völlig veränderte Sicht ein und sprechen auch hinsichtlich ihrer Eheschließung aus ihrer heutigen Sicht nicht wie Fatma von „Heiratsvermittlung“352, sondern von einer „Zwangsverheiratung“. 4.4.3 Exkurs: „Ich wollte den nicht heiraten.“353 Zwangsverheiratung Bislang sind uns von den acht Marxloher „Heiratsmigrantinnen“ ausschließlich Frauen begegnet, deren Ehen von den Familien arrangiert wurden. Und auch wenn manche der Frauen sagen, sie hätten noch nicht heiraten wollen, äußern doch alle im Nachhinein, zufrieden mit ihrer Ehe zu sein. Ihre Ehemänner und deren Familien würden sie respektvoll behandeln, und die Liebe zwischen dem Paar sei mit den Jahren gewachsen. Unter den „Heiratsmigrantinnen“ finden sich aber auch zwei Frauen, die ausgesprochen unglücklich mit der durch ihre Familien arrangierten Ehe sind, die große Probleme mit ihren Ehemännern und deren Familien haben und zusammen mit ihren Kindern seit Jahren unter häuslicher Gewalt leiden. Die Frauen durften seitens der Familie ihres Mannes nicht ohne Begleitung auf die Straße gehen und hielten sich ausschließlich innerhalb der eigenen vier Wände auf, da dies von ihren Familien so verlangt und auch von ihnen selbst zumindest zunächst nicht in Frage gestellt wurde. Auf die Frage, mit welchen Tätigkeiten sie den Tag verbracht hätten, lautet ihre Antwort knapp „Kochen“. Täglich erschien an den Nachmittagen nachbarschaftlicher Besuch, den es zu bewirten galt. Die zwei Frauen, zu denen ich Kontakt aufbauen konnte, ich nenne sie Ayşe und Hülya, sprechen beide aus der Retrospektive, denn sie beide haben irgendwann durch den Einfluss von Nachbarn oder Freundinnen die Auseinandersetzung mit ihrer Familie gesucht und sich schließlich von ihrem Mann getrennt – für beide ein Prozess, der sich über Jahre hinstreckte und bis heute durch große Ängste und durch Gewalt gekennzeichnet ist.

351 Vgl. Abschnitt 4.2. 352 Ebd. 353 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 39 Jahre, lebt seit 1986 in Deutschland. Interview vom 21.08.2010.

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Die Gründe und Ursachen, die zu einer Verheiratung führen, die von den Betroffenen als Zwang empfunden wird, da sie mit ihrem „Nein“ „kein Gehör finden“354, können bekannter Maßen unterschiedlich sein. Wirtschaftliche Gründe sind oben bei den arrangierten Ehen der „Heiratsmigrantinnen“ Ferda, Aydin, Zeyneb und Songül schon angesprochen worden, deren Familien davon ausgingen, ihren Töchtern werde es durch eine Heirat mit einem türkeistämmigen Marxloher in Deutschland besser gehen. Dies war offenbar auch der wesentliche Grund für Ayşes Familie, sie gegen ihren ausdrücklichen Willen zu verheiraten: I: Und warum musstest du heiraten? A: Ich weiß nicht. Vielleicht wegen Deutschland, in Deutschland zu leben ist gut.355

Die heute 44-jährige Ayşe wuchs als eines von fünf Geschwistern in der im südostanatolischen Teil der Türkei gelegenen Stadt Kahramanmaraş auf. Sie ging bis zur fünften Klasse zur Schule und begann im Anschluss in einer Gardinenfabrik als Schneiderin zu arbeiten. Dort wurde sie im Alter von 15 Jahren von der aus Marxloh zur „Brautschau“ angereisten Mutter ihres künftigen Ehemannes entdeckt. Die Mutter habe „ein Mädchen gesucht, ganz jung, frisch, gut aussehend.“356 Als sie Ayşe gesehen und sie, wie Ayşe sagt, „bis nach Hause verfolgt“357 hatte, fragte sie nur wenig später bei Ayşes Mutter an, ob Ayşe ihren Sohn heiraten würde. Ayşes Eltern hofften darauf, dass ihre Tochter in Deutschland ein besseres Leben haben werde und willigten trotz Ayşes ausdrücklichen „Neins“ ein. In ihrer Familie, so erklärt mir Ayşe, habe eine Familienstruktur

354 Dieser Ausdruck stammt von Ipek Gedik, an deren Definition von Zwangsverheiratung ich mich im Folgenden orientiere. Gedik rückt die subjektive Einschätzung der jeweiligen Betroffenen in den Vordergrund und definiert Zwangsverheiratungen folgendermaßen: „Eine Zwangsheirat liegt dann vor, wenn die betroffene Person sich zur Heirat gezwungen fühlt und mit ihrer Weigerung kein Gehör findet oder nicht wagt, sich zu widersetzen, weil Eltern, Familie, Verlobte und Schwiegereltern mit unterschiedlichsten Mitteln versuchen, psychischen oder sozialen Druck sowie emotionale Erpressung auf sie auszuüben.“ Gedik, Ipek (2005): Zwangsheirat bei Migrantinnenfamilien in der Bundesrepublik. In: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.) (2005): Jahrbuch Menschenrechte 2005. Schwerpunkt: Frauenrechte durchsetzen. Frankfurt am Main. S. 318-325. Hier: S. 320. 355 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 44 Jahre, lebt seit 1981 in Deutschland. Interview vom 21.08.2010. 356 Ebd. 357 Ebd.

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vorgeherrscht, in der die Individuen nicht autonom gehandelt, sondern sich dem Hierarchiehöheren unterordnetet hätten. Für sie stand es daher außer Frage, sich dem Entschluss ihrer Eltern358 nicht zu wiedersetzen. Sie begründet dies mit dem Wert „Respekt“: A: Wegen dem Respekt hatte ich keine Wahl.359

Respekt bedeutet für Ayşe hier – anders etwa als für ihre Tochter, die 18-jährige Melek, von der gleich noch die Rede sein wird – der reine Gehorsam. Auf Grund ihrer Erfahrung hat sich ihre Einstellung zu diesem Wert jedoch komplett gewandelt, und es sei ihr wichtig geworden, sagt sie, diese veränderte Wahrnehmung an ihre Kinder weiter zu geben. So verfolgt Ayşe stolz-lächelnd wie mir ihre Tochter Melek ihre eigene Auffassung von Respekt erklärt: M: Respekt ist mir schon wichtig, aber nicht so wie früher, also wie meine Mutter das eben gemacht hat. Ich höre halt zu, was die mir alle sagen. Also zum Beispiel bei meiner Oma, die redet sehr oft: „Du musst das machen, du musst das machen und das machen.“ Ich sage zwar: „Ok Oma, aber wenn ich das machen würde, dann so und so.“ Ich bin jetzt nicht respektlos, aber ich sage schon meine Meinung. Weil ich will jetzt nicht so sein, wie die das wollen. Keine Ahnung, die wollen halt, dass wir so werden wie sie sich das vorstellen. Also wie sich ein Mädchen zum Beispiel verhalten soll. Zum Beispiel so ’ne Hose (deutet auf ihre zerfetzte, locker sitzende Jeans, die sie gerade trägt, Anm. d. Verf.) könnte ich dann halt nicht tragen (lacht). Aber das ist mir egal. Ich gehe zu denen auch in so ’ner Hose. Ich passe schon auf, aber nicht so extrem, weil die sollen das auch sehen und sich dran gewöhnen.360

Nicht so sein zu wollen „wie die das wollen“ und ihre „Meinung sagen“ zu können ohne dabei „respektlos“ zu werden – auf diese Weise schafft es Melek so-

358 Auf der Website zwangsheirat.ch wird darauf hingewiesen, dass die Rolle der Mütter und Schwiegermütter im Moment noch vernachlässigt werde. Es bleibe aber weiterhin zu fragen, „zu welchem Zweck und in welchem spezifischen Migrationskontext auf tatsächliche oder angebliche Traditionen zurückgegriffen wird und was damit wovor ‚bewahrt‘ werden soll“. http://www.zwangsheirat.ch/ (letzter Abruf: 04.06.2014). 359 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 44 Jahre, lebt seit 1981 in Deutschland. Interview vom 21.08.2010. 360 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 18 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 22.08.2010.

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wohl ihre als auch die Interessen ihrer Großeltern miteinander zu vereinbaren. Hierbei handelt es sich um ein Verhalten, das zu vermitteln Ayşe sehr wichtig war, das sie aber zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit selbst niemals in Erwägung gezogen hätte, wie sie sagt. Den Eltern in einer solchen Situation zu widersprechen, galt für Ayşe damals als „ayip“, als „ungezogen“, und wurde von ihr nicht in Betracht gezogen. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Faktor habe jedoch auch in der Wahrung des Rufs der Familie in der Gemeinschaft bestanden: A: Mein Vater hat mich gefragt und ich habe gesagt: „Ich möchte nicht heiraten.“ Ich habe auch meiner Mutter erzählt: „Ich will nicht heiraten.“ Meine Mutter ging zu der Mutter meines Mannes, um zu sprechen: „Meine Tochter will nicht, bitte nicht kommen.“ Aber sie sagte, nein, sie wolle einmal mit dem Mädchen sprechen, also mich. Dann kam sie abends und fragte, warum ich nicht will. Sie sagt allen Nachbarn: „Hier sagt ein schönes Mädchen ab!“ Ich habe gesagt: „Nein, ich will nicht.“ Sie hat Druck gemacht und mit meinem Vater gesprochen. Und er hat auch Druck gemacht, mein Onkel-Sohn [Cousin, Anm. d. Verf.] möchte auch. Aber ich möchte nicht meinen Cousin, ich will nicht. Mein Vater hat gesagt: „Das oder das.“ Ich musste, denn meinen Cousin wollte ich noch weniger.361

Ayşe wurde hier also vor die Wahl gestellt: Nimmt sie diesen Mann nicht, so heiratet sie ihren Cousin, die Wahl liegt bei ihr. Da Ayşe hier nur sehr eingeschränkt zwischen zwei Männern wählen kann, wird aus westlichen Kreisen die Zwangsverheiratung oft auf eine mangelnde emotionale Bindung zwischen den Eltern und der Tochter zurückgeführt362, was jedoch auf Ayşes Familie so nicht zutraf. Ayşe berichtet, eine ausgesprochen schöne und gewaltfreie Kindheit gehabt zu haben. Zwar sei die Mutter manchmal streng gewesen, aber mit dem Vater habe sie mit ihren vier Geschwistern viel Spaß gehabt und oft etwas unternommen. Umso überraschender war es für sie, dass letztlich er derjenige war, der darauf bestand, dass sie heiratete.

361 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 44 Jahre, lebt seit 1981 in Deutschland. Interview vom 21.08.2010. 362 Vgl. dazu: Strobl, Rainer; Lobermeier, Olaf (2007): Zwangsverheiratung: Risikofaktoren und Ansatzpunkte zur Intervention. In: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ); Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.) (2007): Zwangsverheiratung in Deutschland. (= Forschungsreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1.) Baden-Baden. S. 27-71. Hier: S. 54.

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Ähnlich erging es auch der heute 39-jährigen Hülya. Wie Ayşe wurde auch sie im Alter von 15 Jahren gegen ihren Willen mit einem türkeistämmigen Marxloher verheiratet. H: Ich war schockiert. Ich will nicht heiraten, aber muss. Ich wollte den nicht heiraten und generell nicht. Ich war 15. Ich bin noch zu jung.363

Im Unterschied zu Ayşe, die völlig verblüfft war, dass ausgerechnet ihr Vater, zu dem sie ein gutes Verhältnis gehabt hatte, vehement auf der Heirat bestand, kam für Hülya der Entschluss ihres Vaters nicht völlig überraschend. Hülya ist unter einem strikten Ehrkonzept erzogen worden, und ihre Familie schreckte auch vor der Anwendung von Gewalt nicht zurück. Als Mädchen, sagt Hülya, habe sie „nichts draußen unternehmen dürfen“.364 Dennoch habe sie sich immer wieder heimlich von zu Hause weggeschlichen und zuletzt sogar einen Freund gehabt. Als dies ihren Eltern zu Ohren kam, bezog Hülya Prügel, und kurz darauf war die Hochzeit beschlossen. Die rigide Ehrvorstellung ihrer Eltern verlangte es unter den gegebenen Umständen, dass die Verheiratung möglichst rasch vollzogen wurde, um die sexuelle Unberührtheit Hülyas vor der Ehe gewährleisten zu können. Hülya war bereits auf dem besten Wege ihre Jungfräulichkeit zu verlieren, wie sie selbst lachend sagt, und ihre Eltern fühlten sich unter Druck, die Tochter rechtzeitig zu verheiraten, bevor der Verlust ihrer Jungfräulichkeit noch vor der Eheschließung möglicherweise Schande über die Familie gebracht hätte. Bei beiden Frauen ging ab diesem Zeitpunkt alles sehr schnell. Innerhalb von zwei Wochen waren sie verheiratet und folgten ihren Ehemännern nach Marxloh. Ihr Leben in der Ehe war für sie eine große Umstellung, denn im Vergleich zu ihren Herkunftsfamilien hatten die Frauen hier für sie unverhoffter Weise noch weniger Freiheiten. Der Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak lässt in einer seiner Studien eine Heiratsmigrantin zu Wort kommen, die davon spricht, in der Familie eine „Sklavin mitten in einem hoch modernen Industrieland“365 gewesen zu sein – eine für Ayşes und Hülyas anfängliche Lebenssituation in Marxloh ebenfalls treffende Bezeichnung. Denn ihr Leben bei den Schwiegereltern war gekennzeichnet durch familiäre Aufgaben, die stets unter deren strenger Kontrolle erledigt wurden: Sie bestimmten, wie sich das Paar einrichtete, was es

363 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 39 Jahre, lebt seit 1986 in Deutschland. Interview vom 21.08.2010. 364 Ebd. 365 Toprak: 2014, S. 22.

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miteinander unternehmen konnte und auch, wie sich die Frauen in der Öffentlichkeit zeigen durften. Dazu Ayşe: A: Ja, [meine Schwiegereltern und ich lebten, Anm. d. Verf.] in einer Wohnung. Das war schlecht (lacht). Ich war ja nicht freiwillig hier. Ich konnte nicht einfach nach draußen gehen, nicht einfach einkaufen oder einen Nachbarn besuchen. […] „Du bist noch so jung, du kannst nicht gut deutsch sprechen, du kennst dich nicht aus, du darfst nicht allein einkaufen, du darfst nicht andere besuchen gehen.“366

Ayşe und Hülya durften beide weder allein und auch nicht ohne Kopftuch das Haus verlassen. Bei beiden wurde das Kopftuch als Mittel der Repression eingesetzt, denn der Zwang, das Kopftuch tragen zu müssen setzte stets nach einer Konfliktsituation ein, in der die Frauen ihrem Mann widersprachen. In Ayşes Ehe kam es jedoch auch einmal zu einem zaghaften Annäherungsversuch ihres Ehemannes, den allerdings Ayşes Schwiegereltern rasch zu unterbinden wussten: Als ihr Ehemann den Versuch startete, etwas gemeinsam und allein mit seiner Frau zu unternehmen, verstand es seine Familie, Ayşe mahnend auf ihre Haushaltspflichten hinzuweisen und den Ausflug platzen zu lassen. Bei Hülya hingegen kam es nicht einmal zu einem solchen Versuch seitens ihres Mannes. Auch er hatte, wie sie, nicht freiwillig geheiratet, und so war es ihm nur angenehm, dass Hülya ihm auswich. Tagsüber war er ohnehin meist nicht zu Hause und Hülya wusste nicht, was er tat oder an welchem Ort er sich gerade aufhielt. Das kümmerte sie jedoch wenig, denn auch sie hatte kein Interesse an dem Leben ihres Mannes: H: Nein, was macht er draußen, was macht er bei der Arbeit – nichts erzählt. Ich konnte mich gar nicht mit ihm unterhalten. Ich hatte auch keine Lust, mich mit ihm zu unterhalten. Keine Gemeinsamkeiten.367

Die Aufgaben der Frauen beschränkten sich also darauf, den Haushaltspflichten nachzugehen. Ihren Tagesablauf beschreibt Hülya folgendermaßen: H: Wir waren zu Hause sechs, sieben Leute. Jeden Tag das gleiche Thema. Ich musste früh aufstehen, spätestens halb sieben. Wenn meine Schwiegereltern wach sind, dann

366 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 44 Jahre, lebt seit 1981 in Deutschland. Interview vom 21.08.2010. 367 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 39 Jahre, lebt seit 1986 in Deutschland. Interview vom 21.08.2010.

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muss ich ja auch aufstehen. Dann Frühstück, Mittagessen, dies und das. Ich musste immer zu Hause bleiben. Manchmal gingen wir zur Hochzeit, zwei drei Mal im Jahr.368

Auch in diesen Familien, in denen die „gelin“ zunächst bei den Schwiegereltern wohnt, ist es jedoch durchaus üblich, dass das Paar irgendwann, vor allem dann, wenn Kinder geboren werden, die Wohnung der Schwiegereltern verlässt und in eine eigene Wohnung zieht. Wir haben bei den „Heiratsmigrantinnen“ Ferda, Aydin, Zeyneb und Songül bereits gesehen, dass dies eine Verbesserung der Situation für das Paar bedeuten kann und es sich näher kommt. Für Ayşe und Hülya blieb die Situation hingegen auch fortan unverändert, da nach wie vor von ihnen erwartet wurde, sich um den Haushalt der Schwiegereltern zu kümmern. Dazu ein Ausschnitt aus dem Interview mit Ayşe: I: Wie sah denn dein Alltag aus in der Zeit, was hast du gemacht? A: Ich war bei den Schwiegereltern. I: Und was habt ihr gemacht? A: Essen, Kochen, Tee machen, sich unterhalten. Habe mich mit meinen zwei Schwägerinnen unterhalten und zusammen gekocht.369

An diesen Nachmittagen, an denen stets auch Besuch von der Familie oder Nachbarn empfangen wurde, kam es zu einer geschlechtsspezifischen räumlichen Trennung, bei der sich die Frauen in der Küche und die Männer im Wohnzimmer aufhielten. Für die Frauen bedeutete dies, dass sich ihre Netzwerkkontakte ausschließlich auf weibliche Familienmitglieder beschränkten, die in einer ähnlichen Situation lebten wie sie selbst, und durch die sie sich verstanden fühlten: I: Hast du mit jemandem darüber gesprochen, dich ausgetauscht? A: Ja, mit meiner Schwägerin. Aber es ging ihr auch so, da kann man nichts machen. Wir müssen durchhalten und weitermachen.370

Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass die Frauen eine Trennung von ihren Ehemännern zunächst erst einmal nicht in Betracht zogen, denn sie stellten ihre Situation nicht in Frage. Da es auch anderen in ihrem Umfeld

368 Ebd. 369 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 44 Jahre, lebt seit 1981 in Deutschland. Interview vom 21.08.2010. 370 Ebd.

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genauso erging, war das Leben, das sie führten, Teil ihrer selbstverständlichen und unhinterfragten Normalität. Melek erklärt mir das „Durchhalten und Weitermachen“371 ihrer Mutter in folgenden Worten: M: Sie [meine Mutter, Anm. d. Verf.] hatte Angst davor, allein zu leben. Hat ja keine Familie in Deutschland. Und war innerlich noch so gezwungen: Ich muss so bleiben. Ich muss weiter so leben. Das ist mein Mann, das ist meine Schwiegermutter, Schwiegervater.372

Diese „inneren Zwänge“, die Melek hier beschreibt, erklären sich einerseits daraus, dass die Frauen in Marxloh außer der Familie ihres Mannes niemanden kannten373 sowie andererseits auch aus den von ihnen internalisierten geschlechterspezifischen Werten und Normen, die stets auf das Familienkollektiv ausgerichtet waren und deren Einhaltung unter permanenter Kontrolle des sozialen Umfelds stand. Was „die Leute“ reden könnten nahm für die Frauen lange Zeit einen hohen Stellenwert ein, bis sie Stück für Stück, durch zufälligen Kontakt zu anderen Frauen, eine gewisse Distanz erlangten. In Kombination mit immer drastischer werdenden Formen Häuslicher Gewalt der Männer gegenüber ihren Frauen, aber vor allem gegenüber den Kindern (Melek: „richtige Ohrfeigen, so dass du nur dachtest, der Kopf fliegt dir weg. Ohne Grund. Und du durftest auch nicht heulen. Du musstest echt stark sein“374) wurde den Frauen bewusst, dass nur ein Ausbruch aus ihren „inneren Zwängen“ und der Ehe eine Änderung der Situation herbeiführen konnte. Dazu wieder Melek: M: Sie [meine Mutter, Anm. d. Verf.] hat gesehen, dass sie gar keine andere Möglichkeit hat, weil sie uns anders ohne Gewalt nicht großziehen kann. Wenn sie hinhören würde [was die Leute sagen, Anm. d. Verf.], müsste sie wieder das Kopftuch tragen, und darauf hatte sie keine Lust.375

Mit ihrem Ausbruch aus ihrer Ehe hatten die Frauen dann aber das gesamte Familienkollektiv und auch das soziale Umfeld gegen sich und mussten völlig

371 Ebd. 372 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 18 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 22.08.2010. 373 Vgl. Toprak: 2014, S. 28-31. 374 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 18 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 22.08.2010. 375 Ebd.

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allein einen Weg finden, denn aus ihrem näheren Umfeld erfuhren sie keine Unterstützung. Ayşe ist noch immer den Tränen nahe als sie berichtet, wie alleine sie sich in dieser Zeit der Trennung gefühlt hatte: A: Die Leute reden immer dies und das. Aber glaubst du, es klopft mal einer und fragt: „Brauchst du vielleicht etwas für die Kinder oder Hilfe?“ Der Umzug [aus der gemeinsamen Wohnung, Anm. d. Verf.] ist doch ganz schwer allein. Für eine alleinstehende Frau ist es noch schwerer. Aber keiner fragt. Und deswegen habe ich gesagt: „Hör nicht auf das Gerede, ich muss mein Leben leben, nicht für andere Leute.“376

Dieser Wertewandel weg vom aufs Kollektiv ausgerichteten Familienansehen hin zu ihren individuellen Bedürfnissen verlangte den Frauen sehr viel Kraft ab. Kontakte zu anderen Frauen haben sie bis heute nur sehr wenige, und selbst engste Vertraute wissen über die Biographien der Frauen selten Bescheid. Splitterfasernackt, erklärt mir Melek, sei ihre Mutter nachts auf die Straße gelaufen, da sie die Vergewaltigungen nicht mehr ertragen habe. Aber zu ihren Freundinnen habe sie nie etwas gesagt, dafür sei ihre Mutter zu stolz gewesen. Das sei der „türkische Stolz“377, den auch sie selbst habe. Den „türkischen Stolz“, wie ihn Melek nennt, hat Ayşe bis heute nicht abgelegt. Auch wenn sie versucht, sich völlig frei von dem zu machen, was andere Leute über ihre Familie reden, so ist ihr der Ruf der Familie doch weiterhin noch sehr bedeutsam. Ayşe war es daher bei allen ihren vier Kindern wichtig, dass sie Abitur machen, denn, so Melek: M: Sie wollte nie von jemandem zu hören kriegen: „Guck dir mal an, die hat ihren Mann verlassen und was ist jetzt aus ihren Kindern geworden!“378

Für die Frauen und ihre Kinder war es also letztendlich eine Erleichterung als sie sich aus ihrer Beziehung lossagten und in eine eigene Wohnung zogen. Ayşe legte das ihr auferzwungene Kopftuch ab und sagt heute erleichtert, zu Hause sei es nun endlich viel „ruhiger geworden“379. Dennoch werden Ayşe und ihre Kinder noch immer von ihrem Mann verfolgt und am Telefon beschimpft, und auch

376 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 44 Jahre, lebt seit 1981 in Deutschland. Interview vom 21.08.2010. 377 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 18 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 22.08.2010. 378 Ebd. 379 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 44 Jahre, lebt seit 1981 in Deutschland. Interview vom 21.08.2010.

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das Gerede im sozialen Umfeld macht der Familie weiterhin zu schaffen. Denn „ehrenmäßig“380, erklärt mir Melek, sei es eigentlich notwendig, dass ihre Mutter zu ihrem Mann zurückkehre und die Familie ihren guten Ruf zurückerlange. Aber weder Ayşe noch ihre Kinder können sich das vorstellen. Ayşe hat sich inzwischen in psychologische Behandlung begeben und nimmt Antidepressiva. Einer von Ayşes Söhnen hat einen Selbstmordversuch unternommen, ein anderer ist von zuhause ausgerissen, und Melek ist zum Zeitpunkt des Interviews nur kurz zu Besuch bei ihrer Mutter, da sie in einem Schlaflabor auf Grund ihrer massiven Schlafstörungen untersucht wird. Die Trennung ist also vollzogen, aber die gesamte Familie hat noch immer mit deren Folgen zu kämpfen. 4.4.4 „Wie wichtig die Religion bei uns Muslimen ist, habe ich erst hier in Deutschland gelernt.“ 381 Zur Bedeutung der Religion Die acht befragten Marxloher „Heiratsmigrantinnen“ zählen sich alle dem muslimischen Glauben zu und gehen regelmäßig und, wie sie sagen, gern in die Marxloher DITIB-Moschee. Diese Orientierung am Islam ist für die Frauen jedoch vergleichsweise neu und entstand erst aus ihrer Situation als „Heiratsmigrantin“ im Marxloher Kontext heraus. Hatte der Islam für sie in der Türkei noch keinerlei Bedeutung, so änderte sich das mit der Migration nach Marxloh. Dazu Aydin und Ferda: A: Wie wichtig die Religion bei uns Muslimen ist, habe ich erst hier in Deutschland gelernt. Wir gehen hier sehr oft zur Moschee.382 F: Die Religion spielte leider in meiner Familie keine wichtige Rolle. Zu der Religion bin ich erst hier in Deutschland gekommen. Wir gehen hier zum Koran lesen. In der Fastenzeit kommen wir jeden Tag zur Moschee. Es gibt religiöse Veranstaltungen hier in der Moschee.383

380 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 18 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 22.08.2010. 381 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 35 Jahre, lebt seit 1997 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013. 382 Ebd. 383 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 41 Jahre, lebt seit 1989 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013.

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Was hat sich verändert, dass sich die Frauen, die in der Türkei noch nicht religiös waren, in Marxloh zu gläubigen Musliminnen entwickelt haben? Der vielleicht wichtigste Aspekt ist mit Sicherheit in dem Unterschied zwischen der Herkunftsregion der Frauen und dem Marxloher Kontext zu suchen. Die Sozialisation der Frauen in der Türkei lief ohne expliziten Bezug zum Islam ab. Die Frauen hatten somit kaum Möglichkeiten, durch ihr soziales Umfeld mit dem Islam in Kontakt zu kommen. Erinnern wir uns im Vergleich etwa an die religiöse „Bildungsaufsteigerin“384 Meryem zurück, die seit Kindesbeinen durch ihre Eltern mit der Religion vertraut gemacht wurde, so wird verständlich, dass den „Heiratsmigrantinnen“, deren Eltern mit Religion eher wenig anfangen konnten, der Islam nicht explizit nahegebracht wurde. Die Frauen beschreiben ihre Eltern als bildungsfern und an Religion wenig interessiert. Nur Songül berichtet, sie sei von ihren Eltern in eine kleine in ihrem Dorf gelegene Moschee geschickt worden und habe dort das arabische Alphabet gelernt. Dies habe aber nicht gereicht, um den Koran zu verstehen, so dass sie davon bald wieder abgelassen habe. In den Herkunftsregionen der Frauen gab es also für sie wenige Möglichkeiten, vertiefend mit dem Islam in Kontakt zu kommen. Dies änderte sich schlagartig mit ihrem Umzug nach Marxloh: Die Ehemänner und deren Familien waren praktizierende Muslime und die meisten Freunde und Bekannten ebenfalls, so dass es für die Frauen rasch selbstverständlich wurde, die Religion in ihr eigenes Leben zu integrieren. Wie bei den „Gastarbeiterinnen“385 sind es vor allem die mit der Moschee verbundenen Kochtätigkeiten, während derer man mit anderen Frauen Speisen zubereitet, welche dann auf den von der Moschee ausgerichteten Festen verkauft werden, die einen wichtigen sozialen Bezugspunkt für die Frauen darstellen. Zu diesen Anlässen kommt man zusammen und trifft andere Frauen. Zudem werden die Kochtätigkeiten auch seitens der Gemeindemitglieder wertgeschätzt, denn der durch den Verkauf der Speisen entstandener Erlös kommt der Moscheegemeinde zugute.386 Hinzu kommt, dass die im Stadtteil seit dem Jahr 1985387 existierende DITIB-Gemeinde, der die Frauen angehören, ein wichtiger Teil ihrer Identität geworden ist. Vor allem seit dem Jahr 2008, dem Zeitpunkt der Eröffnung der europaweit größten Moschee, ist der Islam in Verbindung mit der recht imposanten Gebetsstätte in Marxloh zu etwas geworden, auf das man stolz ist. Die Marx-

384 Vgl. Abschnitt 4.3. 385 Vgl. Abschnitt 4.2.3. 386 Diese Information stammt aus einem Interview mit einem Vorstandsmitglied der DITIB-Merkez-Moschee vom 10.08.2010. 387 Mehr dazu folgt unter Abschnitt 5.4.1.

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loher Moschee ist im Stadtteil so präsent und scheint so klar mit der dortigen türkischen Kultur verbunden, dass es fast schwierig scheint, sich nicht dazugehörig zu fühlen. Sogar eine alewitische „Gastarbeiterin“ aus der Türkei gesteht mir unter vorgehaltender Hand lachend und mit gespielter Schamhaftigkeit, sie würde ebenfalls gerne in die Moschee gehen, obwohl sie Alewitin sei.388 Für die Marxloher „Heiratsmigrantinnen“ bietet die Moschee also eine Anlaufstelle, die Geborgenheit vermittelt, und es erscheint allen Familienangehörigen legitim, dass die Frauen das eigene Zuhause verlassen, um dort hinzugehen. Die Religion bedeutet für sie somit, sich nach draußen zu begeben, mit anderen Frauen in Kontakt zu kommen und ein Stück Autonomie, das sie innerhalb der eigenen vier Wände oft zumindest zunächst nicht haben, zu erlangen. Es sind vor allem die speziell für diese Frauen angebotenen Aktivitäten, an denen sie gerne teilnehmen, aber auch der Bau an sich beeindruckt viele. Die Frauen halten sich einfach gerne in der Nähe der Moschee auf. Dazu Fatma: F: Die Moschee ist so unheimlich schön und so nah an meiner Wohnung. Ich komme gern mit den Kindern her. Die Jungs gehen immer mit dem Papa zum Freitagsgebet.389

Ein letzter wesentlicher Punkt für das plötzliche Sichzuwenden der „Heiratsmigrantinnen“ zum Islam mit ihrer Migration nach Marxloh scheint mir aber schließlich vor allem im Faktor Zeit zu liegen. Alle Frauen betonen, in der Türkei keine Kindheit gehabt zu haben, da sie von früh bis spät hätten arbeiten müssen. Zwar konzentriert sich nun auch in Marxloh ihr Leben von früh bis spät auf Haushalt und Kinder, aber dennoch bleibt nachmittags immer genug Zeit, um sich gegenseitig zu besuchen, mit anderen religiösen Frauen ins Gespräch zu kommen und auch dazu, fünf mal am Tag das Gebet zu verrichten. 4.4.5 „Wir Türken kennen uns untereinander einfach besser.“390 Einstellungen zum Stadtteil und zu anderen Gruppen Die meisten der acht „Heiratsmigrantinnen“, zu denen ich Kontakt hatte, haben mit ihrem Schritt nach Deutschland zu kommen, ihre ehemaligen Kontakte zur Herkunftsregion abgebrochen. Die zwangsverheirateten Frauen Ayşe und Hülya

388 Alewiten beten eigentlich nicht in Moscheen. „Gastarbeiterin“, weiblich, 62 Jahre, lebt seit 1972 in Deutschland. Interview vom 14.08.2010. 389 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 36 Jahre, lebt seit 1999 in Deutschland. Interview vom 07.09.2010. 390 Ebd.

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deswegen, weil sie von ihren Familien auf Grund der Umstände ihrer Heirat massiv enttäuscht wurden. Fatma hat keine Kontakte mehr zur Türkei, weil sämtliche Familienmitglieder, die dort lebten entweder gestorben oder von dort weggezogen sind. Und Aydin meidet die Türkei, weil sie sich mit ihrer dort lebenden Familie nicht mehr gut versteht. Andere der „Heiratsmigrantinnen“ sehnen sich zwar nach ihren Familien in der Türkei, aber den Wunsch, irgendwann dorthin zurückzukehren, äußert keine von ihnen. In Marxloh hat man sein neues Zuhause gefunden, hier lebt die Familie des Mannes, hier gehen die Kinder zur Schule, hier ist, wie es sogar die unzufriedenste der Frauen, Zeyneb, ausdrückt, „Heimat“, denn: Z: Heimat ist nicht dort, wo man aufgewachsen ist, sondern wo man satt wird.391

Den Stadtteil, in dem sie leben, nehmen die Frauen im Ganzen damit positiv wahr. Die Verwunderung darüber, dass „die Deutschen“, wie es Fatma erzählt, den Stadtteil stets negativ darstellen würden, ist groß. Marxloh sei schön, darin sind sich alle einig, und man wohnt gerne dort. Insbesondere deswegen, weil die Familie ebenfalls dort lebt, aber vor allem auf Grund der türkischen Infrastruktur schätzen die „Heiratsmigrantinnen“ den Stadtteil: S: Ich fühle mich hier in Marxloh sehr wohl. Es sind sehr viele Türken hier. Man findet alles aus der Türkei hier.392 F: Ich fühle mich hier sehr wohl, sowohl als Frau als auch Migrantin. Mir ist alles sehr vertraut. Es gibt viele Türken hier.393

Die türkischsprachige Umgebung verschafft den Frauen Sicherheit und Zufriedenheit mit ihrem Wohnort Marxloh. Der Vergleich mit der Türkei, den Songül und Ferda hier anstellen, verweist darauf, wie verwurzelt sie sich mit ihrem türkischen Umfeld fühlen. Marxloh wird von den Frauen nicht etwa deswegen geschätzt, weil, wie es beispielsweise in der Gruppe der „Aktiven“ der Fall ist, so viele, wie Hildegard es ausdrückt, „verschiedene Kulturen zusammenkom-

391 Zeyneb sagt diesen Satz auf Türkisch: „Hani derler ya vatan insanin yasadigi yer degil doyduyu yerdir.“ 392 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 39 Jahre, lebt seit 1993 in Deutschland. Interview vom 08.03.2013. 393 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 41 Jahre, lebt seit 1989 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013.

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men“394, sondern weil man hier, wie Ferda sagt, „vertraut ist“395 und alles hat, was man aus der Türkei bereits kennt und einem dies Halt vermittelt. Erinnern wir uns allerdings an Fatmas anfängliche Einschätzung und ihre Unzufriedenheit mit ihrer Wohnumgebung, so scheinen bei ihr doch Zweifel darüber aufzukeimen, ob sie, vor allem mit Blick auf ihre Kinder, dauerhaft im Stadtteil bleiben will. Denn es gibt eine Entwicklung in Marxloh, die auch den „Heiratsmigrantinnen“ größtenteils missfällt, und das ist die anhaltende Zuwanderung von Personen aus Rumänien und Bulgarien. „Wir Türken kennen uns einfach besser“396 – mit diesen Worten umschreibt Fatma vorsichtig, dass sie zu den Neuzuwanderern eigentlich keinen Kontakt eingehen möchte. Drastischer äußert sich Aydin: A: Mir fallen häufig rumänische Frauen und Kinder auf. Sie betteln draußen. Sie sind sehr dreckig und haben komische Kleider an. Mit einigen Frauen habe ich Mitleid. Manche stillen ihre Babys auf der Straße. Zum Glück wohnen sie nicht bei uns in der Nähe. Wir wohnen nur unter Türken. Ich finde, wir Türken können uns benehmen. Wir sind nicht so – sie sind auf der Straße sehr laut.397

Da man sich unter den „Heiratsmigrantinnen“ von den Gruppen der Neuzuwanderer gerne abheben möchte, ist es stets wesentlicher Bestandteil in unseren Gesprächen, zu betonen, dass die Neuzuwanderer aus Bulgarien zwar türkisch sprächen, aber definitiv keine Türken seien. Unterschiede werden von den Frauen vor allem an alltagsweltlichen Dingen festgemacht, die sie umgeben, wie Sprache, Kleidung und vor allem das für viele den Alltag bestimmende Kochen. So sagt Fatma: F: Bis zur türkischen Küche. Bis dahin haben wir Unterschiede.398

394 „Aktive“, weiblich, 60 Jahre. Interview vom 11.08.2010. Vgl. Abschnitt 4.1.3. 395 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 41 Jahre, lebt seit 1989 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013. 396 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 36 Jahre, lebt seit 1999 in Deutschland. Interview vom 07.09.2010. 397 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 35 Jahre, lebt seit 1997 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013. 398 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 36 Jahre, lebt seit 1999 in Deutschland. Interview vom 07.09.2010.

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Die Gruppe der „Heiratsmigrantinnen“ steht den Neuzuwanderern also nicht immer aufgeschlossen und vorurteilslos gegenüber, doch zumindest eine der Frauen, Songül, äußert sich in unseren Gesprächen offener: S: Wir müssen lernen, Menschen zu respektieren, die uns fremd sind und anders denken. Hier leben so viele Rumänen und Bulgaren. Jeder lästert hinter ihnen. Ich finde es nicht richtig. Wir wissen nicht, warum sie hier sind, warum sie so sind. Keiner möchte von uns Türken mit ihnen reden. Ist das menschlich? Bei uns in der Nähe wohnen aber keine Rumänen oder Bulgaren.399

Dass jeder „hinter ihnen“ lästert, ist etwas, das in den Interviews so deutlich zwar nicht geäußert wird, aber im Alltag des Stadtteilgeschehens, wenn man nicht mehr gemeinsam vor einem Aufnahmegerät sitzt, doch hin und wieder durchscheint. Dass sich dies durchaus auch in drastischer Weise äußern kann, zeigt folgender Ausschnitt aus dem Forschungstagebuch, in dem eine „Heiratsmigrantin“ den „Bulgaren“ eine der altbekannten antiziganistischen Eigenschaften zuschreibt: Ich sitze bei einem Amt auf dem äußeren von rund zehn in einer Reihe aufgereihten Stühlen im Wartebereich. Eine Frau betritt den Raum und setzt sich neben mich. Wir sitzen beide eine Weile schweigend da, bis eine weitere Frau im Jogginganzug mit zwei kleinen Kindern an der Hand den Raum betritt und zügig zum nächstbesten Beratungsschalter läuft, auf den die Frau und ich seit Minuten gewartet hatten. „Diese Bulgaren“, sagt die Frau neben mir „das sind keine Menschen.“ Ungläubig schaue ich sie an. „Ja wirklich“, sagt sie und fügt hinzu: „Die handeln mit menschlichen Organen!“ Besonders als Frau und Jugendliche müsse man aufpassen und nachts nicht mehr raus gehen, sonst würden sie einen umbringen und die Organe verkaufen. Wir kommen ein wenig ins Gespräch und ich erfahre, dass die Frau vor über dreißig Jahren als Heiratsmigrantin aus der Türkei nach Marxloh gekommen ist, drei Söhne im Alter zwischen 15 und 24 Jahren hat, gläubige Muslima ist, aber raucht. Außerdem lebt sie im Moment von ihrem Mann getrennt, da er ein „schlechter Ehemann“ sei. Sie deutet Alkoholprobleme als Grund an, genauer erklärt sie mir die Situation bei ihr zu Hause jedoch nicht. Sie sei aber froh, dass ihre Söhne nicht „nach dem Papa kommen“.400

399 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 39 Jahre, lebt seit 1993 in Deutschland. Interview vom 08.03.2013. 400 Forschungstagebuch vom 12.05.2014.

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Das „Nichtmenschsein“ ist etwas, das uns aus Zeiten des Kolonialismus’ nur allzu bekannt ist. Vornehmlich aus Afrika und Südamerika stammende Menschen wurden als „Nichtmenschen“ betrachtet, da sie eine fremde, unverständliche Sprache sprachen oder sich, wie man meinte, „eigentümlich“ verhielten. Sie wurden herangezogen, um fremde Kulturen zu beschreiben oder gar zur Schau zu stellen.401 Derartige „nichtmenschliche“ Züge sieht meine Gesprächspartnerin hier nun auch bei den Neuzuwanderern aus Bulgarien. Es ist jedoch nicht ihre Sprache, die sie brüskiert, denn schließlich sprechen die bulgarischen Zuwanderer ebenfalls türkisch. Es ist vielmehr das ihr zu Ohren gekommene Gerücht, „die Bulgaren“ würden mit menschlichen Organen handeln. Aus ihrer Sicht ist eine solche Praxis derart barbarisch, dass man diesen Personen das Menschsein absprechen muss. Beim Organhandel handelt es sich um eine Zuschreibung, die besonders häufig auf die Gruppe der Roma angewendet wird, und ist keineswegs neu. Zuletzt wurde dieser Stereotyp öffentlich im Jahr 2013 herangezogen, als in Griechenland ein blondes Mädchen in einer Romafamilie entdeckt wurde und der Verdacht im Raum stand, die Familie wolle das Mädchen nur großziehen, um seine Organe zu verkaufen.402 Zudem wird seit einigen Jahren in einer sogenannten „Urban Legend“ ein Kidnapping in einem Kaufhaus beschrieben, in dem ein Kind vor den Augen seiner Mutter entführt wird und die Haare zur Vorbereitung auf einen Organhandel abrasiert bekommt. Hierbei handelt es sich um eine Meldung, die von der Polizei nie bestätigt wurde, und, häufig angereichert mit der Information, die Entführer seien „Zigeuner“ oder „Rumänen“, weiterkursiert. Faktisch haben wir es hier mit einer sogenannten HOAX zu tun, also einem derben Jux oder einem Scherz und somit einer Falschmeldung, die mit stetig wechselnden Orten im Umlauf ist403 und offenbar auch bis Marxloh zu einigen der türkischen „Heiratsmigrantinnen“ ihre Wege gefunden hat.

401 Man denke zum Beispiel an Carl Hagenbecks „Völkerschauen“ in der Mitte des 19. Jahrhunderts. 402 Tatsächlich jedoch hatte die Familie das Mädchen als Säugling von ihrer biologischen Mutter übergeben bekommen, die meinte, sich nicht ausreichend um das Kind kümmern zu können. Vgl. Dimitrov, Vesselin; Ertel, Manfred; Heyer, Julia Amalia; Puhl, Jan (2013): Blond, blauäugig, entführt? In: Spiegel online vom 28.10.2013. Online unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-118184417.html (letzter Abruf: 21.08.2014). 403 Vgl. die Website der Technischen Universität (TU) Berlin: http://hoax-info.tubit.tuberlin.de/hoax/showtxt.shtml?kidnapping (letzter Abruf: 21.08.2014).

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4.4.6 Fazit Die Gruppe der „Heiratsmigrantinnen“ wird in Deutschland oftmals als die am „wenigsten integrierte“ Gruppe in Deutschland bezeichnet, da sie auf Grund sprachlicher Defizite und weil sie relativ rasch nach der Heirat Kinder bekäme sowie (zunächst) nicht berufstätig sei, relativ isoliert leben würde.404 Auch die acht Marxloher „Heiratsmigrantinnen“, mit denen ich ins Gespräch kam, lebten zumindest am Beginn ihres Marxlohaufenthalts nahezu ausschließlich auf den häuslichen Bereich beschränkt und waren dort – sprechen wir über die Gruppe der Zwangsverheirateten – großem Druck durch die Schwiegerfamilie und unter Umständen auch Häuslicher Gewalt ausgesetzt. Wie wir gesehen haben, erweist sich in der Einschätzung um arrangierte Ehen und Zwangsehen bei den Frauen jedoch vor allem als zentral, wie das Leben nach der Hochzeit wahrgenommen wird: Läuft die Ehe gut und behandelt der Ehemann seine Frau mit Respekt oder ist gar zärtlich zu ihr, so sagen die Frauen, die Liebe sei mit der Zeit gewachsen. Ist dies nicht der Fall, und kommt es am Ende gar zu Häuslicher Gewalt, sprechen die Frauen von „Zwang“. Für alle acht Frauen dieser Gruppe bieten die Religion und die Moschee wichtige Bezugspunkte. Waren die Frauen in der Türkei noch nicht explizit religiös und keine regelmäßig praktizierenden Musliminnen, so wenden sie sich im Marxloher Umfeld dem Islam zu. Die Religion vermittelt den Frauen jedoch weniger, wie dies etwa bei den „Bildungsaufsteigerinnen“405 der Fall ist, Halt in einer durch Unsicherheiten und Diskriminierung geprägten Umgebung als vor allem soziale Anknüpfungspunkte. Denn dass die Frauen die Moschee aufsuchen, wird in den Familien als legitim betrachtet, und die Frauen können sich hier mit Kochtätigkeiten einbringen aber auch an Frauenfrühstücken oder Sprach- und Alphabetisierungskursen teilnehmen. Das Wichtigste ist aber wahrscheinlich, dass in der Moschee, wie einer der Vorstandmitglieder im Interview zu verstehen gibt, „jeder sich dort einbinden kann. Jeder kann mitmachen. Da haben wir überhaupt keine Einschränkung“406. Und die Frauen nehmen gerne an den Aktivitäten teil und bringen sich ein. Dennoch: Auch hier sind die DITIB-Frauen meist unter sich. Kontakt zu Neuzuwanderern oder anderen Marxloher Gruppen haben die Frauen hier nicht.

404 Toprak: 2014, S. 28-31. 405 Vgl. Abschnitt 4.3.6. 406 Interview 10.08.2010.

mit

einem Vorstandsmitglied der

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Inzwischen ist jedoch die Moschee dabei, zusammen mit der katholischen Kirche im Stadtteil ein „Internationales Frühstück“ anzubieten – vielleicht ist dies eine Möglichkeit für die Frauen, in Zukunft auch zu Neuzuwanderern, gegen die man häufig negativ eingestellt ist, in einen ersten Kontakt zu treten.

4.5 D IE „ALTEINGESESSENEN “ 4.5.1 Fallbeispiel Karin Karin ist 57 Jahre alt und gebürtige Marxloherin. Sie zeigt sich ausgesprochen gesprächig und äußert sich wohl informiert und eloquent, hält sich aber, was ihr Privatleben anbelangt, recht bedeckt. Das drückt sich darin aus, dass ich Karin zu unserem Gespräch auf ihren Wunsch hin nicht zu Hause in Marxloh treffe, sondern in einem Restaurant im Duisburger Stadtzentrum. Karins Privatleben scheint für sie vor dem Hintergrund der Entstehung einer wissenschaftlichen Studie über Marxloh weniger im Vordergrund zu stehen als der Stadtteil als solcher mit all seinen Entwicklungen in den letzten Jahren. Um über diese Veränderungen sprechen zu können, so scheint es, geht sie lieber auf räumliche Distanz und stellt so den für sie geeigneten Rahmen her, um frei über Marxloh sprechen zu können, ohne jedoch physisch Teil davon zu sein. Karin ist in den 1950er Jahren als Kind einer Arbeiterfamilie in Marxloh aufgewachsen, und noch immer ist ihr die Begeisterung deutlich anzumerken, wenn sie von der Zeit ihrer Kindheit erzählt. Prägend waren für Karin vor allem die in dieser Zeit in Marxloh herrschenden sozialen Unterschiede: „Die Elite“ auf der einen und „Wir Arbeiter“ auf der anderen Seite bilden in Karins Ausführungen über das Marxloh der 1960er Jahre den immer wieder aufkommenden Bezugsrahmen. Bezieht sie sich auf die heutige Zeit, werden diese sozialen Pole „Arbeiter“ und „Elite“ durch ethnische ersetzt:„Uns Deutschen“ werden dann „Die Türken“ gegenüber gestellt. Karins Mutter war Hausfrau, ihr Vater arbeitete im Bergbau, und die ganze Familie bemühte sich zeitlebens, den sozialen Aufstieg zu schaffen, um „aus der Kolonie“, wie man die Arbeitersiedlung, in der Karins Familie lebte, nannte, herauszukommen: K: Meine Oma und Opa, die waren Arbeiter. Aber für seine Kinder wollte man ja was Besseres. Man wollte ja aus dieser Kolonie, das nannte man Kolonie, wollte ja jeder auch raus. Man wollte ja was Besseres sein. So. Und da hat man schon gestrampelt und gemacht, damit das so wurde, dass man da irgendwo raus kam. Es war schon so irgendwo

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’ne Schmäh407 zu sagen: „Ich komm aus der Kolonie.“ Weil, dann hieß das schon: „Ah ja, hm.“408

Schnellstmöglichst wollte man also aus der „Kolonie“ wegziehen, und den Weg dahin meinte man in Karins Familie ausschließlich durch ein hohes Arbeitspensum bewältigen zu können. Dass dies auch mit Bildung hätte ermöglicht werden können, wurde von Karins Eltern nicht in Betracht gezogen. So kam es, dass Karin als 10-Jährige zwar die Gymnasialempfehlung bekam, die Familie sich allerdings ausgesprochen überrascht und unbeholfen zeigte: K: Und dann mussteste ja irgendwann zur Schule und da musste man damals so ’n Test machen, ob man auf das Gymnasium kommt. Ich habe zu Hause gar nix gesagt, weil, das war nicht so das Thema. Wir sollten zwar was Besseres werden, aber naja. Und da hab ich so ’n Test in der Schule da gemacht, Volksschule, damals hieß das [...]. Ja, und dann wurden die Eltern benachrichtigt, und dann war ja anerkannt ohne Aufnahmeprüfung aufs Gymnasium. Meine Mutter und mein Vater: „Ja wie äh?“ „Ja, ich hab da so ’n Test gemacht.“ „Achso, ja, ok.“ Also bin ich dann zum Gymnasium. Und da musste man auch schon gucken. Da waren dann ja auch schon andere Kinder, ich sag mal, die aus reicheren Familien kommen. Auf ’m Elly Heuss409 war viel auch Elite. Jetzt immer noch.410

Laut Karin war es in Marxloh in dieser Zeit eher ungewöhnlich, dass ein Arbeiterkind auf das Gymnasium ging. Sie hat ihre Schulzeit als sehr anspruchsvoll und anstrengend empfunden. Häufig sei sie von Lehrern schikaniert und diskriminiert worden und dies ihrer Einschätzung nach vor allem deswegen, weil sie eben nicht der „Elite“, sondern der Arbeiterschicht angehörte. Aber auch in umgekehrter Hinsicht, in ihrem Wohnumfeld in der „Kolonie“, wurde es für Karin und ihre Familie fortan komplizierter, denn dass ein Arbeiterkind auf das Gymnasium ging, galt nahezu als Verrat:

407 Karin meint hier nicht das österreichische Wort „Schmäh“ für Spaß oder Scherz, sondern vermutlich „Schmach“, also eine Art Makel oder Schande. 408 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 409 Gemeint ist das Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium Marxlohs. Elly Heuss-Knapp, deren ganzer Vorname Elisabeth Eleonore Anna Justine lautete, war die Frau des ehemaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss und eine engagierte Politikerin und Sozialreformerin. 410 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010.

180 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH K: Doch, also meine Eltern hatten sogar Probleme, da, in der Kolonie sage ich jetzt mal, wir wären was Besseres: „Tut hier eure Blagen411 aufs Gymnasium!“ Dann kriegte man noch Klavierunterricht und oh Gott, ne!412

Nach nur wenigen Jahren gab Karin schließlich auf, mit den „Elitekindern“ auf dem Gymnasium mithalten zu wollen. Sie wechselte auf die Realschule. Zeitgleich schafften es ihre Eltern, ein Haus im „Eliteteil“ Marxlohs zu kaufen, und die gesamte Familie zog aus der Arbeitersiedlung in den besser gestellten Bereich Marxlohs. Für Karin ist dies noch heute ein einschneidender Moment, ab dem sich alles gebessert hat: K: Ab 1966, als wir dann da das Haus hatten, da war dann alles in Ordnung.413

Karin schloss schließlich die Realschule ab, ergriff einen Beruf im industrielltechnischen Bereich und blieb in dem Mehrfamilienhaus ihrer Eltern wohnen. Zuletzt lebte ihr Vater im ersten Stock und sie eine Etage darüber. Nach dem Tod des Vaters vor wenigen Jahren gehört das Haus jetzt Karin allein. Sie hat neben ihrer Familie viele Freunde, die aber über die ganze Bundesrepublik verstreut leben und vor denen sie sich wegen ihres Wohnortes so sehr schämt, dass sie sie selten besucht: K: [Ein Freund von mir, Anm. d. Verf.] hat mich eingeladen, aber ich war noch nie da. Der ist ja überall und nirgendwo und wenn ich da komme, dann krieg ich ja Minderwertigkeitskomplexe.414

In Marxloh selbst hat Karin keine Bekannten mehr, und sie unternimmt auch kaum noch etwas. Ihr fehlt inzwischen der Anreiz. Sie hat sich einmal stark für Marxloh eingesetzt: Das Schwelgernbad415 und die Zuwanderung waren wichtige Themen, bei denen sie politisches Engagement gezeigt hat. Inzwischen hat sie aber aufgegeben, daran zu glauben, dass sie etwas bewirken könne. Sie verändere in Marxloh nichts mehr, gibt sie resigniert zu verstehen, und es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis sie wegziehen werde.

411 „Blagen“ ist ein umgangssprachlicher Begriff für „nervende Kinder“. 412 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 413 Ebd. 414 Ebd. 415 Vgl. Abschnitt 3.2.1.

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4.5.2 „Aber für seine Kinder wollte man ja was Besseres.“416 Vom Aufwachsen und Leben im Marxloh der 1960er Jahre Die hier als „Alteingesessene“417 bezeichnete Gruppe setzt sich aus insgesamt neun Marxloher Frauen zusammen. Die Bezeichnung „Alteingesessene“ fußt darauf, dass ihre Familien seit Generationen im Stadtteil leben. Die Frauen sind alle in Marxloh als „Arbeiterkinder“ geboren, aufgewachsen und seither dort wohnen geblieben. Sie sind über 40 Jahre alt, die meisten Ende 50 oder im Seniorenalter. Auffallend ist, dass sich die Frauen in den Gesprächen in Bezug auf Marxloh durchweg rückwärtsgewandt äußern. Einer Fremden zu erzählen, wie es „früher in Marxloh gewesen ist“ scheint ein starkes Bedürfnis der Frauen zu sein. In ihrem Unmut und ihrer Trauer um das, was der Stadtteil einmal war und inzwischen nicht mehr ist, fühlen sich die Frauen durch niemanden wahrgenommen, und unsere Gespräche scheinen eine willkommene Gelegenheit darzustellen, ihre Emotionen kundzutun418, ohne mit dem, wie wir noch sehen werden, üblichen „erhobenem moralischen Zeigefinger“ darauf hingewiesen zu werden, dass man dies, wie es die 42-jährige Angelika immer wieder relativierend zum Ausdruck bringt, „so eigentlich nicht sagen darf“.419 Wie Karin stammen auch die anderen acht Frauen alle aus Arbeiterfamilien, in denen die Väter entweder im Marxloher Bergbau oder in der Industrie tätig waren. Die Mütter der Frauen waren Hausfrauen. Gewohnt hat man dem Beruf der Väter entsprechend zumindest zunächst in den industrienah gelegenen Arbeitersiedlungen. Einerseits schämte man sich, von dort zu kommen, andererseits bot die „Kolonie“ aber auf Grund ihrer Gemeinschaftlichkeit der Bewohner auch so einiges Reizvolles, wie folgender Auszug aus einer Gruppendiskussion mit

416 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 417 Es wurden sechs Marxloherinnen interviewt, die sich dieser Gruppe zuordnen ließen. Weitere drei Frauen kamen im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung hinzu, ohne dass allerdings ein Interviewgespräch aufgezeichnet wurde. 418 Dies ist recht typisch für den Forschungsprozess im Rahmen einer Feldforschung. Dem Forscher, von dem man weiß, dass er bald wieder gehen wird, werden häufig Dinge anvertraut, die man sonst nicht preisgeben würde. Vgl. dazu: Wolff, Stephan (2000): Wege ins Feld und ihre Varianten. In: Flick, Uwe; von Kardorff, Ernst; Steinke, Ines (Hrsg.) (2000): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Hamburg. S. 334-349. Hier: S. 348. 419 „Alteingesessene“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 10.09.2012. Mehr zu diesem Gefühl der „Alteingesessenen“, manche Dinge nicht äußern zu dürfen, folgt unter Abschnitt 4.5.3.

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der 57-jährigen Franziska, der 57-jährigen Dorothea und deren 58-jährigen Ehemann Manfred zeigt: D: Und die Kinder haben auf der Straße gespielt, und man konnte auch auf der Straße spielen. M: Ja, das Miteinander war absolut. F: Oder wir haben, weiß ich nicht, so Fallen selber gebaut und Go-Carts, auf den Hinterhöfen, da konnteste tun und lassen. Hühner! Meine Eltern hatten noch Hühner! 40 Hühner hatten wir noch. Jeder hatte das irgendwie. D: Hasen, Tauben.420

Das Arbeiterleben im Ruhrgebiet ist bekannt für sein soziales Leben, das vor allem für die Frauen und Kinder größtenteils auf den Hinterhöfen stattfand. Dort hielt man Kleintiere, baute Gemüse an, ließ die Kinder spielen und kam oft mit Nachbarn in Kontakt.421 Entsprechend wurde die Zeit ihrer Kindheit von den Frauen als eine Jugend draußen und als ein „Miteinander“422 in „großer Gemeinschaft“423 unter starkem solidarischem Zusammenhalt erlebt. Dazu nochmals Dorothea und Franziska: D: Ich bin also auch auf der Straße groß geworden nur mit Jungs. Das war ’ne ganz, ganz tolle Zeit. Im Winter haben wir Gartenreise gemacht. Durch die Gärten gezogen, das war so toll. F: Neeee, haben wir nicht gemacht. D: Das war dunkel und dann sind wir mit ’n paar, fünf sechs Kinder durch die Gärten. Das waren ja so kleine Jägerzäune. Das war ganz einfach schön. Das war so ’n Brauchtum. Man hat draußen auf der Straße gelebt, da war ’ne Bank vorne, man hat sich unterhalten, man kannte die Nachbarn, das war eine große Gemeinschaft. F: Eine Oma hat 48 Butterbrote aus dem Fenster geschmissen, jaja. D: Genau, eine hat gekocht und die ganzen Kinder kamen dann essen, das war toll. Oder abends haben wir Feuerchen gemacht im Garten, da wurden die Kartoffeln reingehalten. F: Kartoffelfeuerchen, ja. War toll.424

420 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre, „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre und „Alteingesessener“, männlich, 58 Jahre. Gruppendiskussion vom 03.09.2010. 421 Vgl. EG DU Entwicklungsgesellschaft Duisburg mbH: 2008. 422 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre, „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre und „Alteingesessener“, männlich, 58 Jahre. Gruppendiskussion vom 03.09.2010. 423 Ebd. 424 Ebd.

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Dennoch haftete der „Kolonie“ stets ein Negativimage an, und es war Ziel sämtlicher dort lebender Arbeiterfamilien, irgendwann von dort wegzukommen. Wir haben gesehen, dass sich auch Karin erst in dem Moment entspannte, als sie als Dreizehnjährige mit ihrer Familie endlich aus der Arbeiterkolonie wegziehen konnte. Von dem Moment an konnte sie Freunde einladen, ohne sich für ihr Wohnumfeld zu schämen: K: Und mit 13 [Jahren, Anm. d. Verf.], also das war dann 1966, da haben meine Eltern das Haus gekauft. Und dann sind wir da [aus der Kolonie, Anm. d. Verf.] raus, und das war dann auch das erste Mal, dass ich gesagt habe: „Ok, ihr könnt zu mir nach Hause kommen.“ Ich hätte vorher nie Kinder mit nach Hause gebracht. Wo ich erwachsen war, dachte ich, hä, irgendwie hast du deine Eltern ja irgendwie, ja wie soll ich sagen, im Regen stehen lassen. Du hast da nicht zu gestanden. Aber das war so.425

Bei den Arbeiterhäusern in Marxlohs „Kolonie“ handelte es sich um kleine, zweigeschossige Zweifamilienhäuser426, die in jeweils einer Haushälfte mit einem Wohnzimmer inklusive Küche und einem Schlafzimmer unter dem Dach ausgestattet waren. Viel Platz gab es für die dort lebenden oft kinderreichen Familien also tatsächlich nicht. Das neue Haus von Karins Familie bot hingegen weitaus mehr Raum: Es war ein mehrgeschossiges Mehrfamilienhaus, in dem man als Familie großzügig unterkommen konnte und diente zugleich dem Umfeld als Statussymbol dafür, dass man den ökonomischen und sozialen Aufstieg geschafft hatte und „etwas Besseres“427 geworden war. Denn wer, wie Karins Familie, die „Kolonie“ verlassen hatte, das war allen klar, hatte hart dafür gearbeitet. Das war vor allem für das Selbstbewusstsein der Familien wichtig, denn die Scham, Arbeiter zu sein, war groß. Immer wieder wird in den Gesprächen betont, dass man nicht „blöd“ gewesen sei, nur weil man Arbeiter(-Kind) gewesen und aus Marxloh gekommen sei: M: Man kann ja auch nicht sagen, dass jeder Arbeiter doof ist, oder die haben einen IQ von fünf. Ok und wenn die dann „mir“ und „mich“ verwechseln, das spielt ja für mich auch keine Rolle. […] Letzten Endes zählt ja irgendwo auch so ’n Mensch. […] Ich wollte nur sagen, dass in Marxloh auch unheimlich gute Leute waren, das waren keine Dummköpfe oder dass da Idioten waren. Ganz das Gegenteil.428

425 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 426 Vgl. Bilder unter Abschnitt 3.1. 427 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 428 „Alteingesessene“, weiblich, 59 Jahre. Interview vom 30.08.2010.

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Dass man auch als Arbeiter nicht „doof“ ist und keinen „IQ von fünf“ hat, konnte man sich und seinem Umfeld dadurch beweisen, dass man aus der „Kolonie“ wegzog – natürlich um den Preis, dass man vom ehemaligen Arbeiterumfeld fortan gemieden wurde, weil man ja jetzt „was Besseres“429 war. Die „große Gemeinschaft“430 in der „Kolonie“ war also durchaus auch durch Konkurrenzdruck geprägt. Eigentlich wollten zwar alle das Arbeitermilieu verlassen – hatte man es dann aber geschafft, gehörte man fortan nicht mehr dazu. Das nur wenigen vergönnte Ziel allen Aufstrebens war es, entlang der Marxloher Hauptstraßen, der Weseler Straße und der Kaiser-Friedrich-Straße, dort also, wo die bürgerliche „Elite“431 Marxlohs wohnte, Wohneigentum zu erwerben. Diese Straßen werden von den Frauen noch heute als „bürgerliche Promenade“432 bezeichnet, wo im Erdgeschoss ein Ladenlokal und oben die Privatwohnungen der Geschäftsbetreiber gelegen waren. Diese Mehrfamilienhäuser, die inzwischen seit Generationen im Besitz der Familien sind und in denen die Familien gemeinsam unter einem Dach wohnten, existieren bis heute in Marxloh. Das einst betriebene Ladenlokal ist allerdings schon seit Jahren geschlossen. Dass aber mehrere Generationen der Familie in diesen Häusern zusammen leben, ist nach wie vor der Fall. Die „Alteingesessenen“ wohnen mit Eltern und Kindern gemeinsam im Haus, und man hilft sich aus. Es passiert in den Familien selten, dass ältere Generationen im Altenheim betreut werden. Es sind hier vor allem die Frauen, die aushelfen, denn sie sind diejenigen, die meist keiner Berufstätigkeit nachgehen und somit zeitlich flexibel sind. Vor allem, sobald das Paar Kinder hat, bleiben die Frauen zu Hause – aber auch wenn die Kinder das Elternhaus im Erwachsenenalter bereits verlassen haben, gehen die Frauen meist über die gesamte Zeit des Berufslebens ihrer Männer keiner außerhäuslichen Berufstätigkeit nach. Im Unterschied zu den „Zurückgezogenen“433 finden sich hier jedoch keine von Sozialhilfe lebenden Familien. Es handelt sich vielmehr um Personen, die im Vergleich zu ihren Eltern den sozialen Aufstieg aus der Arbeiterschicht vollbracht oder zumindest den sozialen Aufstieg der Eltern miterlebt haben, der zudem in eine Zeit fiel, in der es mit Marxloh wirtschaftlich stark bergauf ging. Die Erinnerungen an diese Zeit sind bei den Frauen noch so präsent, dass sie stets als Vergleichsfolie zum heutigen Marxloh herangezogen werden, wie hier von Karin:

429 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 430 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre, „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre und „Alteingesessener“, männlich, 58 Jahre. Gruppendiskussion vom 03.09.2010. 431 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 432 Ebd. 433 Vgl. Abschnitt 4.6.

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K: Ich weiß noch, da gab’s hier auf der Weseler Straße eine Diskothek, „Funzel“, wie hieß die vorher eigentlich? Na, ist ja egal. Auf jeden Fall, da traf man sich, da gingen die Jugendlichen hin […]. Das war ’n Kino. Wir hatten fünf Kinos auf engstem Raum, wo, ich meine gut, das war vor meiner Zeit, aber wo dann hier so Stars von früher, das weiß ich von meinen Eltern, von meiner Mutter, da kamen so, wie hießen die denn alle, sag mal, diese Sänger. Rudi Schuricke, René Caroll, schöne Männer damals, Frauenschwarm. Meine Mutter ist ins Kino, und die kamen nach Marxloh! Die sind da aufgetreten. Und in jeder zweiten Bude434 war da Tanz. Am Wochenende, da war der Bär los. Wir hatten fünf Kinos: Roxie, Atlantis, Profi, Lichtburg und noch eins. Fünf Stück auf engstem Raum! Das war schon letztendlich Weltstadt.435

Die Wahl des Begriffs „Weltstadt“, der eine weltweite wirtschaftliche und kulturelle Ausbreitung einer Stadt benennt, ist an dieser Stelle historisch betrachtet in Bezug auf Marxloh selbstverständlich übertrieben, aber dennoch zeigt Karins Wortwahl, wie Marxloh bei ihr bis heute in Erinnerung geblieben ist: Als ein Ort, an dem „der Bär los war“ und wo man Luxus schnuppern und ihn, sofern man hart dafür gearbeitet hatte, sogar auch erreichen konnte – bis „die Krise“436 eintrat und sich alles zu verändern begann. 4.5.3 „Was die mit uns machen!“ 437 Bezug zum Stadtteil und zu anderen Gruppen Ich nehme an einem Frauentreffen einiger „alteingesessener“ katholischer Frauen teil. Viele der Frauen sind zwar nicht gläubig, aber sie fühlen sich in diesem Kreise aufgehoben und verstanden. Mit mir in der Runde sitzen fast nur ältere Frauen im Seniorenalter, einige wenige sind jünger. Ich bin mit Abstand die jüngste in der Runde, werde aber offen und freudig aufgenommen. Etwas schleppend kommen wir ins Gespräch über Marxloh. Die Scheu, sich diesem Thema zuzuwenden, scheint groß. Annemarie, die mir gegenüber sitzt und zunächst etwas gesprächiger als die anderen scheint, ist die einzige, die damit startet, dass Marxloh einmal sehr schön gewesen sei. „IST noch schön!“ fällt ihr Sieglinde sofort ins Wort. „Marxloh IST immer noch schön!“ „Ja natürlich“, lenkt Annemarie scheu ein und zieht sich bis auf Weiteres schweigsam aus der Gesprächsrunde zurück.438

434 Als „Bude“ wurden und werden im Ruhrgebiet die Kioske und Kneipen benannt. 435 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 436 Vgl. Abschnitt 3.1. 437 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Gruppendiskussion vom 03.09.2010. 438 Forschungstagebuch vom 19.09.2012.

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Dieser kurze Dialog zwischen Annemarie und Sieglinde zeigt bereits, welchen Spannungen die Frauen ausgesetzt sind, wenn sie sich mit Marxloh auseinandersetzen. Alle haben die Veränderungen des Stadtteils in den letzten 30 Jahren miterlebt und mit der Zeit recht ambivalente Gefühle entwickelt: Einerseits fühlt man sich, wie Annemarie nur andeuten kann, bevor sie von Sieglinde unterbrochen wird, von den Entwicklungen förmlich „überrannt“. „Angst“, „Unwohlsein“ und „Unsicherheit“ sind die zentralen Begriffe, welche die Frauen mit Marxloh seither in Verbindung bringen. Andererseits sind die Erinnerungen an das wirtschaftlich boomende Marxloh der 1960er Jahre in ihnen noch so lebendig, dass es fast als ein Verrat erscheint, wenn man sich negativ über den Stadtteil äußert. Hinzu kommt aber auch, dass man, und das mag in dem Dialog zwischen Annemarie und Sieglinde wohl das Ausschlaggebende sein, meint, viele Dinge aus Gründen der „political correctness“ nicht sagen zu dürfen. Dies drückt sich in dem zumindest anfänglichen Schweigen aller Frauen aus, die deutlich zerrissen scheinen zwischen ihren positiven Erinnerungen an die Vergangenheit, den negativen Empfindungen bezüglich der wirtschaftlichen Veränderungen und seiner Folgen sowie dem irritierenden Gefühl, sich darüber nicht beklagen zu dürfen, weil man, wie es die 42-jährige Angelika immer wieder während unseres Gesprächs zu Bedenken gibt, „das so ja eigentlich nicht sagen darf“.439 So häufig wie in keiner anderen Gruppe begegnen uns hier Aussagen wie: „Oh Entschuldigung, das kommt ja da drauf [deutet auf das Aufnahmegerät, Anm. d. Verf.]“440, oder: „Das sage ich jetzt aber nur in unserem Kreise hier.“441 Am häufigsten jedoch sagt man lieber gar nichts und zieht sich aus dem Gespräch zurück. Diese grundsätzliche Empfindung, fremdbestimmt zu sein und „nichts mehr sagen zu dürfen“442 lässt sich an zwei für die Frauen prägenden Ereignissen in der jüngeren Vergangenheit Marxlohs verdeutlichen: am Abriss des Schwelgernbades443 und am zunehmenden Abbau der kirchlichen Angebote im Stadtteil. Beides zeigt, warum man unter den „Alteingesessenen“ auch dem Thema „Zuwanderung“ gegenüber meist skeptisch eingestellt ist und mir im Gespräch lieber wortlos gegenüber sitzt, um nicht Gefahr zu laufen, etwas zu sagen, das man im Nachhinein vielleicht bereuen könnte.

439 „Alteingesessene“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 10.09.2012. 440 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 441 „Alteingesessene“, weiblich, 59 Jahre. Interview vom 30.08.2010. 442 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 443 Vgl. Abschnitt 3.2.1.

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Die Hintergründe der Schließung des Schwelgernbades in Marxloh sind bereits dargelegt worden.444 Es wurde erörtert, dass es massive Proteste gegen diesen Abriss seitens der Marxloher Bevölkerung gegeben hat. Viele der „alteingesessenen“ Frauen waren unter den Protestierenden, denn das Schwelgernbad war für die Frauen ein Highlight – und das nicht nur zu Zeiten ihrer Kindheit: M: Ja, und da unten ist ja auch der Schwelgernpark, und da war mal ein Schwimmbad. Wir Kinder sind dann da oder auch später, ja, ins Freibad. F: Und zwar konnten sie das auch gut halten, weil von Thyssen kam die Wärme, also das war auch angenehme Wassertemperatur, das hat Thyssen gesponsert. Und an jedem Tag oder in den Ferien oder wann auch immer zog man mit Adidas-Plastiktasche (lacht), mit Kartoffelsalat – D: Ja, Würstchen und Frikadellen – F: In den Schwelgernpark.445

Ein wesentlicher Vorteil des Bades war es, dass es unter großem, alten Baumbestand gelegen und der Eintritt für die oft nur gering verdienenden Marxloher Freibadbesucher erschwinglich war. So sagt die 47-jährige Annegret: A: Schwelgern war wirklich eine schöne Ecke auch. Also erst mal im Park, dann war in der Mitte das Bad und drum herum eine riesengroße Liegewiese. Und weil das ja so alt war mit großen schattigen Bäumen. Und das war immer voll und gut besucht. Also, da habe ich meine Kinder im Sommer alleine hingeschickt. Und da hatten die dann mit diesen Ferienausweisen, das hatte die Stadt gemacht, dass die im Sommer in den Ferien umsonst da reindurften. Und für uns, das war für uns das Beste, was es gab!446

Auffallend ist, dass die Frauen in diesem Kontext des Schwelgernbades stets in die Wir-Form wechseln, um damit ihr Marxloher Gemeinschaftsgefühl im Kampf um den Erhalt des Bades unterstreichen. Wenn es nämlich um Marxloh oder um Entscheidungen geht, die ohne die Einbindung der Bevölkerung gefällt wurden, hielt man ehemals unter den „Alteingesessenen“, ähnlich wie die „Aktiven“447 noch heute, felsenfest zusammen. Als sich dann auf dem Grund des Bades Algen zu bilden begannen, und die Stadt entschied, dass das Bad finanziell

444 Ebd. 445 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre, „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre und „Alteingesessener“, männlich, 58 Jahre. Gruppendiskussion vom 03.09.2010. 446 „Alteingesessene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 09.09.2012. 447 Vgl. Abschnitt 4.1.

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nicht mehr tragbar sei, machte sich große Trauer und Wut breit. Das Schwelgernbad gehörte ebenso zu Marxloh wie zur Arbeiterfreizeitkultur seiner Bewohner. Dass es das nicht mehr geben sollte, wollten die Frauen nicht akzeptieren, und so beschloss man, für den Erhalt des Bades zu kämpfen – aber, so erklärt mir Annegret, die sich sehr engagiert eingesetzt hatte: A: Das haben wir aber nicht geschafft. Das ist weg, das ist komplett weg.448

Die Marxloher konnten nur ohnmächtig zusehen, wie das Bad seine Pforten schloss und mit den Abrissarbeiten begonnen wurde. Die Frustration darüber, trotz des langen Kampfes nichts erreicht zu haben, ist bis heute unter den „Alteingesessenen“ verbreitet und hat sich bei einigen zu einer allgemeinen Unzufriedenheit entwickelt: M: Was die mit uns machen! Wir können sagen, was wir wollen, wir kommen einfach nicht durch mit unserer Meinung, oder wir haben keine Lobby. F: Vor zehn Jahren, als wir gesprochen haben, hab ich dir gesagt: „Lass mich bitte mit dem ganzen Kram in Ruhe, hier kannst du nichts erreichen, hier wirst du nichts durchsetzen, weil das sind alles Machtspielchen.“449

Mit „Machtspielchen“ sind die Verbindungen zwischen der Firma Thyssen und der Stadt Duisburg gemeint. Da das Schwelgernbad im Rahmen des „Grüngürtelprojekts“ abgerissen wurde, das Thyssen zur Hälfte mitfinanziert450, gehen die „Alteingesessenen“ wie auch die „Aktiven“451 davon aus, Thyssen habe mit dem Abriss ausschließlich seine eigenen Interessen fördern wollen. Und da Thyssen der größte Arbeitgeber der Region ist, habe die Stadt Konflikte mit Thyssen vermeiden wollen – auf diese Weise habe das Schwimmbad weichen müssen und die Interessen der „Alteingesessenen“ seien zerrieben worden zwischen den Belangen der Industrie und der Stadtpolitik. Ein weiteres Beispiel für enttäuschtes Engagement der „Alteingesessenen“ betrifft die katholische Kirche in Marxloh. Auch hier hat es infolge von Sparmaßnahmen in jüngerer Vergangenheit einige Veränderungen gegeben, denen die Frauen sich nur machtlos fügen konnten. Annegret etwa hat nach jahrelanger

448 „Alteingesessene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 09.09.2012. 449 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre, „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre und „Alteingesessener“, männlich, 58 Jahre. Gruppendiskussion vom 03.09.2010. 450 Vgl. Abschnitt 3.2.1. 451 Vgl. Abschnitt 4.1.

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für sie nicht einfacher Zeit zu Hause als Hausfrau und Mutter Anschluss durch die Kirche an andere Frauen gefunden. Im Rahmen eines Cafés, das als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme geführt wurde, begann sie, mit anderen Frauen in Kontakt zu treten. Doch auch das Café wurde auf Grund von Sparmaßnahmen geschlossen, und der Pastor verließ den Stadtteil. Zuletzt musste schließlich auch der von Annegret hoch geschätzte Chorleiter, den sie solidarisch als „Marxloher Kind“452 bezeichnet, gehen. Den Versuch, ihn zu halten, bezeichnet Annegret als ihren „letzten Kampf“453 in Marxloh – und auch den hat sie verloren: A: Das war für mich mein letzter Kampf. Das war das Letzte, was bei uns kaputt gemacht wurde. Und dann der ganze Umbruch mit den Kirchen. Es will keiner mehr. Die haben alle keine Lust mehr. Da kommt ein Bischof dahin und erzählt uns irgendetwas von Kostenersparnis. Das will überhaupt keiner mehr hören! Wir wollen was anderes hören.454

„Was anderes hören“ meint etwas Positives zu hören, etwas im Aufbau Begriffenes, auf das man sich verlassen und in Zukunft hinarbeiten kann. Sowohl der Abriss des Schwelgernbades als auch die Veränderungen in der katholischen Kirche Marxlohs zeigen jedoch das Gegenteil auf, nämlich wie in den letzten 15 Jahren ganz wesentliche Dinge, die eine gewisse Stetigkeit für die „Alteingesessenen“ hatten und die ihnen wichtig waren, aus Kostengründen abgebaut wurden. Die Frauen haben sich engagiert, haben für den Erhalt gekämpft und den Kampf jedes Mal verloren. Im Unterschied zu den nach Marxloh zugezogenen „Aktiven“455, die sich dadurch noch weiter angespornt fühlen, weiterzukämpfen, haben die „Alteingesessenen“ durch den für sie als sinnlos empfundenen Kampf alle Energie verloren und resigniert aufgegeben: K: Ich entwickele Marxloh nicht mehr. Das ist vorbei.456 A: Ich fühle mich für Marxloh ausgepowert.457

Dieses subjektive Gefühl der „Sinnlosigkeit“, das viele der „Alteingesessenen“ verspüren, wird mir nur wenige Wochen nach meinem Interview mit Annegret

452 „Alteingesessene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 09.09.2012. 453 Ebd. 454 Ebd. 455 Vgl. Abschnitt 4.1. 456 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 457 „Alteingesessene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 09.09.2012.

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auch selbst deutlich vor Augen geführt, als der Runde Tisch Marxloh e.V. im Herbst 2012 zu einem Dialogabend einlädt. „Pass auf“, sagt eine Frau, die mir gegenüber sitzt, bereits bevor der offizielle Teil beginnen soll, „es wird keinen Dialog geben, nur Informationen und die müssen wir schlucken.“458 Sie sollte Recht behalten, wie folgender Auszug aus dem Forschungstagebuch zeigt: Für mein Empfinden relativ kurzfristig hatte der Runde Tisch Marxloh e.V. nur einige wenige Tage zuvor zu einer Sondersitzung in den Saal des Schützenhofes Marxloh eingeladen. „Durch den starken Anstieg von Asylantragstellern, speziell aus dem südosteuropäischen Raum“, heißt es im Einladungsschreiben an die Marxloher Bürger, „reicht der vorhandene Platz für die Unterbringung nicht aus. Die Stadt wird nun im Duisburger Süden eine Möglichkeit schaffen, um die nach Duisburg zugewiesenen Personen unterzubringen. Die Fertigstellung kann jedoch noch rund sechs Monate dauern. Bis dahin sollen die Antragsteller eine vorübergehende Unterkunft im weitestgehend leer stehenden „Entenviertel“ in Marxloh erhalten. Die Häuser sind für den Rückbau459 im Rahmen des Projektes „Grüngürtel-Nord“ vorgesehen, befinden sich aber in einem bewohnbaren Zustand, so dass sie kurzfristig zwischengenutzt werden können.“ Im Saal sitzen zu meisten Teilen „Alteingesessene“ und vor allem viele der „Aktiven“. Das Geschlechterverhältnis scheint ausgewogen. Es erfolgt der Hinweis darauf, dass man sich mit der Teilnahme an der Sitzung automatisch einverstanden erkläre, vom Fernsehen gefilmt zu werden. Die mir gegenüber sitzende Frau sagt plötzlich: „Ich habe Angst, dass man mir das Fahrrad draußen klaut. Jetzt haben ja die Geschäfte zu, da bemerkt das keiner.“ Zeitgleich beginnt der Dezernent seine Rede. Er sei persönlich gekommen, weil es ein schwieriges Thema sei. Ein sarkastisches Lachen ist aus dem Raum zu vernehmen. Als er die Lage schildert und beteuert, es werde einen Hauswart und erhöhte Polizeipräsenz im Stadtteil geben, werden die ersten Zwischenrufe laut. Diese kommen allerdings für mich überraschender Weise nicht in bestätigender Weise aus den Mündern der „Alteingesessenen“, von denen ich zumindest bei einigen Zuspruch erwartet hätte, sondern von den anwesenden „Aktiven“, die immer wieder dem Dezernenten ins Wort fallen und harsche Kritik an seinen Aussagen üben. „Rassist“, murmelt schließlich auch eine „aktive“ Frau neben mir, „der streut doch gleich Gift!“ Der Dezernent spricht ungeachtet der Zwischenrufe weiter von „Zuflüssen“ und „Abflüssen“ der Asylbewerber. Am Ende der Diskussion tritt kurz vor dem Schlusswort der Landtagsabgeordnete in den Saal und gibt ein Interview vor der Kamera, bevor er den Saal verlässt. Die mir gegenüber sitzende Frau sagt: „Doch, ich bin sicher, dass mein Fahrrad noch draußen steht.“460

458 Forschungstagebuch vom 19.11.2012. 459 Mit „Rückbau“ ist der Abriss der Häuser gemeint. 460 Forschungstagebuch vom 19.11.2012.

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Zum einen hat das Thema des Informationsabends an sich schon etwas Skurriles: Das „Entenkarree“, das, wie bereits dargelegt, dem Grüngürtel weichen soll, war noch bis vor dem endgültigen Beginn der Abrissarbeiten von „alteingesessenen“ Marxlohern bewohnt, die nicht ausziehen wollten – aber letzten Endes dann doch weichen mussten. Darüber, wie sich diese Leute am Runden Tisch gefühlt haben müssen, als man überlegte, Asylbewerber in ihre Wohnungen, aus denen sie nie ausziehen wollten, bis auf Weiteres wohnen zu lassen, lässt sich nur spekulieren: Es mag Aggression eventuell sogar Hass dabei gewesen sein auf diejenigen, die in ihren früheren Wohnungen wohnen dürfen. Von diesen Menschen äußert sich an dem Abend aber niemand – wohl auch deswegen, weil man „das ja so eigentlich nicht sagen“461 darf. Zu Wort melden sich ausschließlich einige der „Aktiven“ und das stets in ihrer Rolle als „Anwälte“462 der Asylsuchenden, aus der heraus sie den Dezernenten als „Rassisten“ beschimpfen, um die Asylbewerber in Schutz zu nehmen. Die „Alteingesessenen“ hingegen scheinen sich eher wie die mir gegenüber sitzende Frau zu verhalten, die sich in einem für diese Frauen typischen Übergangsprozess von aktivem Engagement hin zur Resignation befindet. Bereits im Vorfeld des Abends weiß sie, dass es keinen Dialog geben wird. Also nimmt sie zumindest noch insofern teil, dass sie körperlich anwesend ist. Gedanklich ist sie aber bei ihrem Fahrrad und bei der Sorge, ob es gestohlen werden könnte. Es bleibt zu vermuten, dass sie beim nächsten Mal wie viele der „Alteingesessenen“ zu den Informationsveranstaltungen nicht mehr kommen und irgendwann komplett den Stadtteil verlassen wird. Behalten wir das Gesagte im Kopf und fragen uns nun, wie die „Alteingesessenen“ auf die anhaltende Zuwanderung reagieren, so stoßen wir hier ebenfalls auf das dominante Gefühl von „Sinnlosigkeit“. Denn die stetige Zunahme an Zuwanderern im Stadtteil ist von den „Alteingesessenen“ ebenfalls nicht steuerbar und entzieht sich, wie wir am obigen Beispiel des Runden Tisches in Bezug auf die Unterbringung von Asylbewerbern gesehen haben, ihrem direkten Mitspracherecht. Ähnlich wie im Zusammenhang der städteplanerischen Angelegenheiten haben sie auch hier das Gefühl, nur machtlos zusehen zu können, wie andere Zuwanderung gestalten. Daraus mag sich erklären, warum sich viele der „Alteingesessenen“ nicht positiv über den steigenden Anteil an Zuwanderern in Marxloh äußern. Die 77-jährige Gertrud etwa, die sich nach einer schweren Beinoperation nur mit Hilfe eines Rollators und der tatkräftigen Unterstützung ihres Sohnes durch den Stadtteil bewegen kann, erscheint fast ein wenig stolz, als sie mir an einem Abend berichtet, dass in ihrem Haus ausschließlich

461 „Alteingesessene“, weiblich, 42 Jahre. Forschungstagebuch vom 10.09.2012. 462 Mehr zur „Anwaltsrolle“ der „Aktiven“ vgl. Abschnitt 4.1.

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„Deutsche“ wohnen würden. Und auch Angelika sagt bei ausgeschaltetem Aufnahmegerät mit der üblichen Relativierung: A: Zu viele Ausländer hier, aber das darf man so ja eigentlich nicht sagen.463

Dass „zu viele Ausländer“ im Stadtteil leben, ist einer der wesentlichen Gründe, warum die Marxloher „alteingesessene“ Bevölkerung überlegt, aus dem Stadtteil wegzuziehen.464 Von den Frauen wird jedoch immer wieder betont, man habe nichts gegen „die Ausländer“ an sich. Es sei vielmehr eine Enttäuschung über die stadtpolitische Entscheidung, Marxloh so viele Zuwanderer „zuzuschieben“, als eine Aversion gegen die Menschen selbst. Rufen wir uns dazu noch einmal die Situation des Runden Tisches ins Gedächtnis, so wird offensichtlich, dass es hier offenbar tatsächlich weniger um eine ethnische Grenzziehung zwischen „Ausländern“ und „Deutschen“ geht als um die Angst des Verlustes von Eigentum und Lebensstandard.465 Und vor allem geht es um das Gefühl der Entmachtung, das sich in der Wahrnehmung äußert, von niemandem gehört und ernst genommen zu werden. Dazu noch einmal Marion über ein anderes Treffen eines Runden Tisches, an dem sie im Jahr 2010 teilnahm: M: Da war mal sowas wie der Runde Tisch von allen Vereinen. Und da wollte er als Polizist zu der ganzen Sache was sagen. Und da hat man ihn mundtot gemacht. […] Und da ist der raus gegangen, das fand ich sowieso sehr mutig, dass der überhaupt was gesagt hat. Weil, ich weiß ja auf der einen Seite, wie soll ich das sagen, Angst muss er keine haben (lacht), dass er, wie wir sagen, einen auf die Schnauze kriegt, weil er die Polizei hinter sich hat. Auf der anderen Seite fand ich das so schlimm, so, ich bin dann nachher zu ihm hingegangen. Ich hab gesagt: „Ich fand das gut, dass du das gesagt hast, dass du es probiert hast zumindest.“ Ich fand das von den anderen so schäbig, dass sie den mundtot gemacht haben. Der wollte sagen, es ging auch darum, solche Sachen mal aufzuzeigen, da stand der auf, ich weiß gar nicht, ob der eine Uniform an hatte und sagte: „Ich kann Ihnen hier aus eigener Erfahrung, ich bin Polizist hier und so weiter, ich könnte Ihnen –“ und plötzlich: „Nein, das wollen wir jetzt nicht hier haben und so weiter. Wir haben alle

463 „Alteingesessene“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 10.09.2012. 464 Vgl. dazu auch Schröder, Helmut u.a. (2000): Desintegration und Konflikt. In: Heitmeyer, Wilhelm; Anhut, Reimund (2000): Bedrohte Stadtgesellschaften. Weinheim; München. S. 79-176. 465 Vgl. dazu Abschnitt 5.2.

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Angst, wenn einer die Wahrheit sagt.“ Sprich Sarrazin466, sag ich jetzt mal so. Man muss immer gewisse Unterschiede machen. Nur muss man sich langsam, wenn ich so unsere Geschichte dabei mit im Kopf parallel laufen lasse, dann muss ich mir langsam überlegen: Früher durften die Menschen zu bestimmten Zeiten – deine Eltern werden das wissen oder dein Opa, Oma werden das sagen können aus Kriegszeiten – die durften zu gewissen Zeiten auch irgendetwas nicht sagen. So, und soll das jetzt in der Demokratie in der heutigen Form, wie das heute ist, soll das auch so sein? Muss es so sein? Was können wir tun? Wir, und da kreide ich mir sehr viel an, wir waren zu ruhig. Das muss man ganz einfach auch mal zugeben.467

„Die Wahrheit sagen“ meint hier, sagen zu dürfen, dass „Ausländer“ im Stadtteil wohnen würden, von denen einige kriminell seien. Falschparken und Geldwäsche, erläutert Marion im weiteren Verlauf des Gesprächs, gäbe es im Stadtteil vor allem unter „den Türken“, die dafür aber im Unterschied zu den Deutschen polizeilich nicht belangt würden, da ihnen eine zu große Macht im Stadtteil zukäme. Gleichzeitig lacht Marion jedoch auch selbst über ihre Aussage und gibt zu: „Angst muss er [der Polizist, Anm. d. Verf.] ja keine haben“. Es geht ihr also weniger darum, dem Polizisten in seiner Aussage inhaltlich beizupflichten als darum, zu kritisieren, dass man ihn an dem Runden Tisch nicht hat zu Wort kommen lassen. „Mundtot“ gemacht zu werden und nicht darüber klagen zu dürfen, dass es einem nicht gut geht – die „Alteingesessenen“ Marxlohs fühlen sich in diesem ihrem Gefühl nicht wahrgenommen und entmachtet. Der angedeutete Vergleich zum Dritten Reich in Marions Aussage erscheint drastisch und hinkt selbstverständlich insofern, als dass es hier darum geht, auch sagen zu dürfen, dass man das Gefühl hat, dass „zu viele Ausländer“ im Stadtteil wohnen und nicht umgekehrt. Dennoch zeigt der von der eigentlich sehr vorsichtigen Marion mit Sicherheit sorgfältig gewählte Vergleich, wie verzweifelt sie darüber ist, ihre Empfindungen nicht zum Ausdruck bringen zu dürfen. Hier zeigt sich ein interessantes Phänomen, das schon Jörg Hüttermann vor 15 Jahren in Bezug auf den Marxloher Kontext beschrieben hat: Die Zuwanderer werden zunehmend zum „avancierenden Fremden“, dem die „Alteingesessenen“

466 Gemeint ist das viel diskutierte und umstrittene Buch Thilo Sarrazins über Zuwanderung nach Deutschland. Trotz des Vorwurfs, er argumentiere unzulässiger Weise mit genetischen Thesen, verteidigte der Autor sein Buch mit den Worten, „niemand werde geschont“. Darauf bezieht sich Marion hier an dieser Stelle. Vgl. Sarrazin: 2010. 467 „Alteingesessene“, weiblich, 59 Jahre. Interview vom 30.08.2010.

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mit großer Skepsis begegnen, da sie das Gefühl haben, dass er ihnen Stück für Stück den Etabliertenstatus nimmt.468 Allein durch die stetig steigende Zahl an Zuwanderern und die ebenfalls kontinuierlich wachsende ethnische Ökonomie erreichen sie rein visuell schon eine gewisse Präsenz im Stadtteil. Und sogar wenn man, wie es bei allen der „Alteingesessenen“ bereits der Fall gewesen ist, überlegt, den Stadtteil zu verlassen und sein Eigenheim zu veräußern, stellt man fest: Nicht mehr man selbst kann den Preis bestimmen, sondern die Zuwanderer, da diese die einzigen potenziellen Käufer sind. Dazu Karin: K: Bis vor zehn, 15 Jahren war das so, da konntest du, wenn du dein Haus verkauft hast in Marxloh – die [Türkeistämmigen, Anm. d. Verf.] sind mit Geldsäcken gekommen. Die zahlen ja nicht mit Überweisung oder von Konto zu Konto. Die haben gesagt: „Hier hast du Geld, aus.“ Heute kommen die, und du hast ein Fünffamilienhaus: „Was willst du? Kriegst du 40.000 Euro.“ Und dann sagst du: „Hä?“ „Ja, was willst du? In Marxloh kriegst du nichts für die Häuser. Hier will doch kein Mensch leben.“469

Auch die 60-jährige Brigitte, deren Familie wie Karins Familie seit zwei Generationen in einem Marxloher Mehrfamilienhaus mit inzwischen geschlossenem Ladenlokal im Erdgeschoss lebt, überlegt schon seit geraumer Zeit, ihr Haus zu verkaufen und den Stadtteil zu verlassen. Sie und ihr Mann haben bereits eine Wohnung im östlichen Teil des Ruhrgebiets erworben und pendeln zwischen dieser Wohnung und Marxloh hin und her. Eigentlich war es ihr Plan, das Haus zu verkaufen, aber der durch die potenziellen türkeistämmigen Käufer gebotene Preis lässt auch sie bislang noch hadern: B: Wir haben ja das Haus, und die Türken würden es schon nehmen – aber zu was für einem Preis!470

Es sind hier also nicht mehr die alteingesessenen Hausbesitzer, die den Verkaufspreis festsetzen, es sind die meist türkeistämmigen potenziellen Käufer, die die Preise bestimmen, und der Verkäufer kann einwilligen oder auch nicht. Bislang wollten sich die „Alteingesessenen“ jedoch noch nicht auf ein solches Geschäft einlassen, aber sie sind sich durchaus bewusst, dass sie irgendwann nach-

468 Hüttermann, Jörg (2000) : Der avancierende Fremde. Zur Genese von Unsicherheitserfahrungen und Konflikten in einem ethnisch polarisierten und sozialräumlich benachteiligten Stadtteil. In: Zeitschrift für Soziologie, 29, 4 (2000). S. 275-293. 469 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 470 „Alteingesessene“, weiblich, 60 Jahre. Forschungstagebuch vom 31.01.2013.

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geben und das Haus zum genannten Preis veräußern werden, sollten sie nicht in Marxloh alt werden wollen. Doch diese Entwicklung der türkeistämmigen Zuwanderer vom „Außenseiter“ zum „avancierenden Fremden“, der zunehmend einen Führungsanspruch im ökonomischen Bereich in Anspruch zu nehmen scheint, ist, wie wir gesehen haben, nur ein Teil des Problems der „Alteingesessenen“. Die für viele weitaus wesentlichere Schwierigkeit ist, dass sie sich in ihrer Situation nicht verstanden und vor allem von den Duisburger Parteien im Stich gelassen fühlen. Jedwede Entscheidungen über den Stadtteil werden ihrem Empfinden nach ohne Einbezug ihrer Interessen getroffen, und trotz ihres intensiven Einsatzes für eine Sache einzustehen, fühlen sie sich nicht gehört. Das betrifft städtebauliche Entscheidungen wie den Schwelgernpark und das Grüngürtelprojekt ebenso wie Beschlüsse, die die Kirche betreffen und letztendlich auch die Frage, wie man mit dem Thema „Zuwanderung“ umgeht. Vor diesem Hintergrund erklärt sich vielleicht, dass die Frauen lieber mit den wenigen verbliebenen ebenfalls „Alteingesessenen“ im Stadtteil, mit denen sie ihre Situation teilen, interagieren, als sich zugewanderten Marxlohern zuzuwenden. Viele der „alteingesessenen“ Frauen in Marxloh tun sich sehr schwer damit, Kontakte zu Zuwanderern aufzubauen, insbesondere die älteren, aber häufig auch die jüngeren Frauen. Nachbarschaftliche Kontakte zu Zuwanderern werden zwar durchaus sporadisch eingegangen, doch diese beschränken sich meist auf das Sichgrüßen auf der Straße oder auf kürzere Alltagsgespräche – näher möchte man ihnen dann doch nicht kommen: Ob irgendjemand denn türkeistämmige Bekannte habe, frage ich in die Frauenrunde beim Treff einiger katholischer Frauen. Die Frauen schütteln alle den Kopf. Nur Annemarie erzählt stolz, sie sei von einer türkischen Frau, der sie einmal geholfen habe, nach Hause eingeladen worden. Wie es denn dort gewesen sei, frage ich. Nein, der Besuch habe sich bislang noch nicht ergeben, erwidert Annemarie. Es stellt sich heraus, dass die Einladung seit nunmehr vier Jahren im Raum steht.471

Man trifft sich nicht mit anderen Gruppen im Stadtteil, sondern bleibt weitestgehend unter sich, unter denjenigen, die ebenfalls in Marxloh geboren und inzwischen „mit einem Bein hier und mit dem anderen weg“472 sind. Aber sogar hier kommt man selten in Marxloh zusammen, sondern bevorzugt das Duisburger Stadtzentrum als Treffpunkt, um dort in einer Kneipe oder Gaststätte zu sit-

471 Forschungstagebuch vom 19.09.2012. 472 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010.

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zen. Die Gruppe der „Alteingesessenen“ fühlt sich zunehmend unwohler in Marxloh, zumal der Austausch mit Personen, von denen man meint, dass es ihnen ähnlich ergeht auf Grund deren hoher Abwanderungszahlen immer schwieriger wird: Es ist schlichtweg niemand mehr da, von dem man sich verstanden fühlt. Und wäre da nicht das von den Eltern unter großer Anstrengung erworbene Eigenheim, das als das Symbol des sozialen Aufstieges der Familie fungierte, und das man jetzt gefühlt unter Wert verkaufen müsste, würden wahrscheinlich die wenigsten von ihnen noch im Stadtteil leben. 4.5.4 Fazit Für die „alteingesessenen“ Bewohnerinnen, die in Marxloh in den 1960er Jahren oder früher geboren und aufgewachsen sind, hat sich der Stadtteil im Laufe der Jahre stark verändert. Marxloh war für die Frauen zur Zeit ihrer Kindheit ein ökonomisch blühendes Viertel, das ihnen und ihren Familien den ökonomischen und sozialen Aufstieg ermöglichte. Durch die Arbeit der Väter im Bergbau oder bei Thyssen konnten die Familien im Laufe der Jahre Eigentum erwerben, aus der „Kolonie“ wegziehen und sich „was Besseres“ leisten – wohl wissend, viel und hart dafür gearbeitet zu haben. Die Wirtschaftskrise brachte dann jedoch viele Veränderungen mit sich: Die Stadt legte Sparprogramme auf und nahm Veränderungen in der Infrastruktur vor. Zeitgleich nahm die Zahl der Zuwanderer zu – die „Alteingesessenen“ sahen sich immer mehr entmachtet. Sei es durch stadtpolitische oder kirchliche Entscheidungen oder durch die steigende Anzahl an Zuwanderern in Marxloh – die „Alteingesessenen“ fühlen sich in ihren Interessen nicht gesehen und haben irgendwann gemerkt, dass es nicht mehr so wie „früher“ ist und sie nicht mehr viel ausrichten können. Fortan haben sie aufgegeben, sich zu engagieren. „Früher“, da war aus ihrer Sicht noch alles schön in Marxloh: Die Häuser wurden von anderen „Alteingesessenen“ bewohnt, der Stadtteil boomte wirtschaftlich. „Später“, das war nach der Krise und nach der Einwanderung der „Ausländer“, als es mit dem Stadtteil bergab ging und die altbekannten Geschäfte schlossen. „Die Türken“ fungieren dabei als Sinnbild dieser negativen Veränderung.473 Dabei hat man das Gefühl, dass „alle immer nur über die Türken sprechen“474 und vermisst, ebenfalls wahrgenommen zu werden. Da dies nicht der Fall ist, rückt ein Wegzug aus Marxloh für die „Alteingesessenen“ immer näher: „Oh Gott, jetzt ist es passiert. Jetzt sind die ersten Türken bei uns eingezogen“, höre ich ei-

473 Vgl. dazu Abschnitt 3.1. und 5.2. 474 „Alteingesessene“, weiblich, 59 Jahre. Interview vom 30.08.2010.

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ne Frau im Kindergarten sagen. Jetzt müsse sie dann wohl doch wirklich überlegen, ob sie nicht bald wegzieht. Wegziehen wollen sie alle früher oder später – es ist ausschließlich die Erinnerung an das frühere Marxloh und vor allem dessen Symbol, das durch die Familie erwirtschaftete Eigenheim, das sie noch im Stadtteil hält.

4.6 D IE „Z URÜCKGEZOGENEN “ 4.6.1 Fallbeispiel Gisela Gisela empfängt mich herzlich aber auch ein wenig schüchtern in ihrem Wohnzimmer. Ich setze mich auf die Couch, und mein Blick fällt auf eine massive Schrankwand mit Bildern ihrer drei inzwischen erwachsenen Söhne. Ich starte ein Gespräch über die Kinder, und Gisela öffnet sich mir gegenüber ein wenig. Ihre Söhne scheinen ihr sehr wichtig zu sein und würden bei Problemen noch immer, wie sie nicht ohne Stolz sagt, „die Mama um Rat fragen“. Gisela ist in den 1960er Jahren als drittes von fünf Kindern im Duisburger Norden zur Welt gekommen und eingeschult worden. Als sie sieben Jahre alt war, zog die Familie innerhalb des Duisburger Nordens in einen anderen Stadtteil und wenige Jahre später ein weiteres Mal um. Bei diesem letzten Umzug fing für Gisela eine schwere Schulzeit an. Auf Grund von Leistungsunterschieden zwischen der einen und der anderen Schule wurde sie zunächst auf eine Sonderschule475 umgeschult. Als die Familie wenige Jahre später abermals umzog und in den Stadtteil zurückkehrte, sollte Gisela wieder in ihre alte Schule, ja sogar in ihre ursprüngliche Klasse, gehen. Dort war sie den Lehrinhalten aber trotz Sonderschulbeschulung weit voraus. Sie langweilte sich, übersprang ein Schuljahr und war letztendlich, am Ende der neunten Klasse, 14 Jahre alt und somit noch schulpflichtig. Also wiederholte sie das Schuljahr nochmals und hielt schließlich ihren Hauptschulabschluss in den Händen. Für Gisela war dies rückblickend eine Schullaufbahn, die sie als „ganz blöden Werdegang“ bezeichnet und als ein Beispiel dafür, „was alles falsch gemacht werden kann“. Gisela begann eine Ausbildung, lernte mit 17 Jahren ihren zukünftigen Ehemann kennen und wurde

475 Diese Schulen wurden in dieser Zeit auch „Hilfsschulen“ genannt. Mir wurde berichtet, dort seien Arbeiterkinder ausschließlich auf Grund ihres sozialen Hintergrundes beschult worden, denn ihre schulische Leistung hätte oft dem Besuch der Regelschule entsprochen, die allerdings für die Kinder der „Elite“ vorgesehen gewesen wären.

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mit 19 Jahren schwanger. Sie beendete ihre Ausbildung, bevor das Kind geboren wurde und brachte drei Jahre später ein weiteres Kind zur Welt. Ein Kind hatte bereits ihr Mann aus seiner ersten Ehe mitgebracht. In dieser Zeit der „Kindererziehung“ war Gisela über zehn Jahre lang nicht berufstätig. Nach der Hochzeit zog sie zu ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter ins Haus ein – ein Schritt, den sie im Nachhinein zwar bereut, den sie aber vor dem Hintergrund ihres damaligen jungen Alters nachvollziehen kann. Nach einigen Jahren setzte Gisela auf Grund von Schwierigkeiten in der Beziehung zu ihrer Schwiegermutter ihren Mann unter Druck auszuziehen, und die Familie zog im Jahr 1989 nach Marxloh. Die Wohnortwahl war dabei jedoch eher dem Zufall geschuldet: G: Ich wollte gar nicht nach Marxloh. Ich wollte einfach nur da [von der Schwiegermutter, Anm. d. Verf.] weg. Weit weg, war klar, wollte ich nicht.476

Dennoch lief die Ehe für Gisela auch in dem neuen Zuhause nicht richtig gut. Zunächst konnte sie jedoch gar nicht recht benennen, was sie so unzufrieden machte: G: Ich konnte nicht sagen, was mich stört. Mein Mann ist nicht fremd gegangen, der hat mich nicht geschlagen, der hat nicht gesoffen – in dem Sinne. Also es gab nichts.477

Dennoch trennte sich Gisela schließlich von ihrem Mann. Aber erst eine Weile nach der Trennung konnte sie konkret benennen, was das Problem war: G: Ein Problem, das ich zu Hause hatte: Ich hatte nicht das Gefühl, dass das, was ich zu Hause tue, dass das anerkannt wird. Ich kenne das, wenn ich das von anderen gehört habe. Aber wenn man das selbst erlebt, kommt man nicht drauf. Die Kinder können es nicht anerkennen. Habe ich mir natürlich gewünscht, aber das kam natürlich nicht, und das sehe ich auch heute so. Aber auch mein Mann hat das nicht gemacht.478

Nach zehn Jahren Ehe trennte sich Gisela von ihrem Mann und wurde zur Sozialhilfeempfängerin, da sie nach der Geburt ihrer Kinder nie berufstätig gewesen war und ihr ehemaliger Mann ihr nur wenig Unterhalt zahlen konnte. Für Gisela begann in finanzieller Hinsicht eine schwierige Zeit:

476 „Zurückgezogene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 31.08.2012. 477 Ebd. 478 Ebd.

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G: Ich war dann ein Sozialfall – das war schwer für mich.479

Diese Zeit, obgleich finanziell für sie sehr problematisch, beschreibt sie dennoch als eine „sehr schöne und intensive Zeit“480 mit ihren Kindern. Gisela kam über den Marxloher katholischen Kindergarten, in den ihre Kinder gingen, in Kontakt mit der Kirche und begann schließlich, sich dort zu engagieren und in Teilzeit zu arbeiten. Die Kirche mit ihrem Pastor und Sozialarbeiter gab ihr Halt und brachte ihr eine Wertschätzung entgegen, die sie jahrelang in ihrer Ehe vermisst hatte: G: Dem Pastor habe ich so viel zu verdanken. Dass ich heute so bin wie ich bin. Dass ich weiß, ich kann auch was sagen. Am meisten verdanke ich dabei aber diesem Sozialarbeiter. Der hat ein Händchen dafür gehabt, nicht nur bei mir, auch bei vielen anderen, die so anzufassen, so zu kitzeln, dass die aus sich raus kommen. Dass die ihre Talente rauskriegen. Das war einfach klasse gewesen, und mir hat das auch Spaß gemacht. Ich habe gesagt: „Du hast gute Arbeit geleistet.“ Die Frauen gehen arbeiten. Oder sie sind komplett weggezogen und haben gesagt: „Für meine Kinder möchte ich was Besseres“, oder haben neue Partner kennengelernt, oder das meiste von den Frauen, die ich heute sehe, die gehen arbeiten. Wir haben dieses Café geleitet als ABM481-Job. Und dadurch sind wir ja in die Arbeit gegangen. Nur, wir waren eine riesengroße Gruppe von Frauen und wenn wir nach und nach arbeiten gegangen sind, wir fanden das immer toll. Aber die Person hat dann gefehlt. Also das Café wurde immer kleiner, immer kleiner. Die Leute waren nicht mehr da, und es sind keine nachgerückt.482

Gisela ist inzwischen in Vollzeit beschäftigt. Das Café, die Organisatoren und auch die engagierten Frauen, die in dem Café mitgewirkt hatten, gibt es inzwischen nicht mehr. Giselas Kontakte beschränken sich seither wieder ausschließlich auf ihre Familie. Nun war Gisela zwar nie eine überzeugte Marxloherin, doch sie hat sich viel für den Stadtteil eingesetzt und einst gekämpft, wie heute manch eine der „Aktiven“.483 Aber sie hat die Erfahrung gemacht, die Kämpfe nur noch zu verlieren. In der Folge hat sie aufgegeben, sich zu engagieren und hat jüngstens ihren letzten Vorsitz bei einem Marxloher Verein, bei dem sie sich bis dato engagiert hat-

479 Ebd. 480 Ebd. 481 ABM steht für Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. 482 „Zurückgezogene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 31.08.2012. 483 Vgl. Abschnitt 4.1.

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te, abgegeben – für sie der erste Schritt, um ihren baldigen Wegzug aus Marxloh einzuleiten: G: Ich würde umziehen. Ich würde ausziehen, ich würde auch heute ausziehen, wenn ich was Gleichwertiges finde.484

4.6.2 „Dann war ich erst mal wieder alleine.“485 Familienverhältnisse als „Patchwork“ Das Kennzeichnende der fünf „zurückgezogenen“ Frauen486 in Marxloh ist ihre nahezu ausschließliche Konzentration auf sich selbst und ihr innerfamiliäres Netzwerk. „Zurückgezogene“ scheint daher zu ihrer Bezeichnung etwa im Unterschied zu dem Wort „Isolierte“487 geeignet, da die Frauen sich aktiv außerfamiliären Kontakten entziehen. Denn auch dann, wenn die Frauen durch „Aktive“488 gezielt angesprochen und zu Frauentreffen eingeladen werden, ziehen sie sich aus dem Geschehen in ihre Familien zurück. Sofern sie keine Familien haben, erfolgt der Rückzug in die eigenen vier Wände. Diese Frauen, denen wir uns im späteren Verlauf dieses Abschnittes zuwenden werden, leben dann tatsächlich weitestgehend isoliert. Die Gründe für dieses Verhalten erklären sich aus den gesammelten Erfahrungen innerhalb der jeweiligen Biographien der Frauen. Denn die Frauen, die alle aus ärmlichen und häufig aus von Sozialhilfe abhängigen Elternhäusern stammen, verfügten lebenslang weder über ausreichend ökonomisches noch über hinlängliches soziales Kapital, um außerhalb ihrer Familien Kontakte aufzunehmen. Wenn sie es doch versucht haben, sind sie stets enttäuscht worden: Man wurde von Freunden und manchmal sogar auch von der Familie verraten oder im Marxloher Stadtteilgeschehen in seinen Belan-

484 „Zurückgezogene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 31.08.2012. 485 Ebd. 486 Es wurden drei Marxloherinnen interviewt, die sich dieser Gruppe zuordnen ließen. Weitere zwei Frauen kamen im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung hinzu, ohne dass allerdings ein Interviewgespräch aufgezeichnet wurde. 487 Diese Bezeichnung stammt von Ingrid Matthäi, die allerdings allein stehende Migrantinnen untersucht hat. Die „Isolierten“ sind nach Matthäi durch Brüche in ihrer Biografie gekennzeichnet und pflegen kaum noch verwandtschaftliche Beziehungen. Vgl. Matthäi: 2006. Dies trifft in Marxloh jedoch nicht auf die Gesamtgruppe der „Zurückgezogenen“ zu, sondern nur auf einen Teil, dem wir uns unter Abschnitt 4.6.3 näher zuwenden werden. 488 Vgl. Abschnitt 4.1.

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gen nicht wahrgenommen. Zudem kommen die Frauen aus bildungsfernen Elternhäusern, und die Eltern waren weder an den Bildungserfolgen ihrer Kinder interessiert noch wurden sie sonst motiviert, sich für eine Sache einzusetzen. Im Unterschied etwa zu den türkeistämmigen „Bildungsaufsteigerinnen“489, denen die Eltern zwar fachlich ebenfalls nicht helfen konnten, sie aber stets ermutigten, in der Schule erfolgreich zu sein, ist das bei den „Zurückgezogenen“ nicht der Fall. Man schien in diesen Familien allgemein für die Belange der Kinder, von denen man stets mehrere hatte, nicht viel Empathie aufzubringen und überließ sie größtenteils sich selbst. Das innerfamiliäre Miteinander beschreiben die Frauen als ein Leben in finanzieller Armut, aber auch Spracharmut wird von ihnen thematisiert. Für längere Gespräche hätten ihre Eltern „nie Zeit gehabt“490, erklärt mir etwa die 45-jährige Ingrid. Das führte dazu, dass sich die Frauen bis heute schwer tun, sich verbal zu äußern: „Ich hab noch nie viel geredet“491, sagt etwa Gisela über sich selbst. Vor allem die Mütter der Frauen werden als „stumme Hausfrau und Mutter“492 beschrieben, die im jungen Alter schwanger wurden, und „alle drei Jahre kam dann mal so ’n Kind“.493 Über Probleme konnten die Frauen mit ihren Müttern nicht sprechen, deren Rollen in den Familien eher den Eindruck einer Hausangestellten erweckt: G: Meine Mutter war dazu da, dass immer wer da war, die Tür war offen, und sie hat Essen gemacht.494

Dieses Rollenbild der Mütter scheint von den Frauen so sehr internalisiert worden zu sein, dass sie, wie ehemals ihre Mütter, bereits im Teenageralter ihr Elternhaus verließen, entweder noch während der Schulzeit oder während ihrer Ausbildung heirateten, Kinder bekamen und zumindest zunächst erst einmal nicht berufstätig waren – manche sind es bis heute nicht. Hier spaltet sich die Gruppe der Frauen allerdings in diejenigen, deren Ehe gut lief und die finanziell bis heute vergleichsweise gut gestellt in einer Familiensituation leben, in welcher der Mann der alleinige Ernährer ist und in diejenigen, bei denen der Mann gestorben oder deren Ehe gescheitert ist. So zeigt etwa Giselas Beispiel, was mit Frauen, die zunächst in finanziell relativ gesicherten Verhältnissen lebten und

489 Vgl. Abschnitt 4.3. 490 „Zurückgezogene“, weiblich, 45 Jahre. Interview vom 30.08.2012. 491 „Zurückgezogene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 31.08.2012. 492 „Zurückgezogene“, weiblich, 45 Jahre. Interview vom 30.08.2012. 493 „Zurückgezogene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 31.08.2012. 494 Ebd.

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bei den Kindern zu Hause blieben, geschehen kann, wenn sie sich scheiden lassen und bis dato noch nicht in die Sozialsysteme eingezahlt haben: Sofern sie nicht direkt im Anschluss eine Arbeitsstelle finden, oder die Unterhaltszahlung des Mannes ausreichend ist, werden sie zu Sozialhilfeempfängerinnen.495 Die Ursache dafür, dass die Frauen aber auch nach ihrer Scheidung als Alleinerziehende keiner Berufstätigkeit nachgehen, steht zum einen mit fehlenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten in Marxloh in Zusammenhang496, hat aber darüber hinaus noch einen weiteren Grund: Zumindest für die gering qualifizierten Marxloher „zurückgezogenen“ Frauen, die oft weder eine Berufsausbildung noch Berufserfahrung vorzuweisen haben, gestaltet es sich schwer, eine Arbeitsstelle zu finden. Zudem ist es für die Frauen aus ihrem internalisierten Rollenverständnis als Mutter heraus selbstverständlich, zumindest zunächst, keiner Berufstätigkeit nachzugehen, sondern voll und ganz für ihre Kinder da zu sein. Gisela wehrte Unterstützung bei der Betreuung ihrer Kinder sogar aus ihrem nahen familiären Umfeld vehement ab: G: Die [Schwiegermutter, Anm. d. Verf.] wollte auf die Kinder aufpassen, aber ich wollte das nicht.497

Kindererziehung ist für die Frauen ausschließliche Angelegenheit der Kindsmütter, und es steht für sie außer Frage, dass man als Frau für die Kinder sorgt und zu Hause bleibt, denn so hat man es von den eigenen Müttern, die, wie Gisela sagt, dazu da waren „dass immer wer da war, die Tür war offen, und sie hat Essen gemacht“498, gelernt. Zu der Verwirklichung ihres Familienideals gehört es jedoch eigentlich auch, einen Mann zu haben, der einer Berufstätigkeit nachgeht und der so das Familieneinkommen sichert. So sagt Gisela: G: Für mich war immer wichtig, die Männer gehen arbeiten. Das war so das A und O.499

495 Schramm, Barbara (2009): Trennung, Scheidung, Unterhalt – für Frauen. 3. Auflage. München. S. 39-40. 496 Scheffler, Gabriele (2001): Mit wenig Geld leben. In: Bayrisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung , Familie und Frauen (Hrsg.) (2001): Das Familienhandbuch des Staatsinstituts für Frühpädagogik. Online unter: http://www.familien handbuch.de/teil-und-stieffamilien/teilfamilien/mit-wenig-geld-leben (letzter Abruf: 22.07.2014). 497 „Zurückgezogene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 31.08.2012. 498 Ebd. 499 Ebd.

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Während es Giesela als selbstverständlich ansieht, dass man als Frau, vor allem wenn man Mutter ist, zu Hause bleibt, erwartet sie jedoch von den Männern das Gegenteil. Daher reagierte sie sogar fast wütend, als ihr zu Ohren kam, dass ein mit ihr verwandter Mann sich einmal nicht bemüht zeigte, eine Arbeitsstelle zu finden: G: Von meinem Neffen die Freundin, die haben auch zwei Kinder, die wohnen auch hier. Und die ist schon in einer Familie aufgewachsen, die nur Sozialhilfe hat.500 Also die ist da rein geboren und lebt jetzt selbst auch so. Mein Neffe hat jetzt Gott sei Dank eine Arbeit bekommen. Aber erst seit ein paar Wochen. Da weiß man noch nicht, weil, der hat das schöne Leben auch kennengelernt. Die sind ja schon ewig lange zusammen die zwei, und das ist schön! Das ist schön, ne, wenn man so als Familie immer zu Hause [ist, Anm. d. Verf.]. Die Kinder, also die Große, die ist drei, und der Papa ist immer zu Hause. Ist ja schön. Glaube ich ihr! Aber das ist nicht der Sinn der Sache.501

Es ist also die Aufgabe des Mannes, Geld zu verdienen. Ist er nicht berufstätig, so stimmt in Giselas Augen etwas nicht. Dass die Frau jedoch ebenfalls nicht berufstätig und „immer zu Hause“ ist, wird von Gisela damit entschuldigt, dass sie in die Sozialhilfe „rein geboren“ sei und somit als selbstverständlich betrachtet. An sie stellt Gisela also keine Erwartungen, einer Berufstätigkeit nachzugehen, wohingegen sie von ihrem Neffen durchaus erwartet, dass er schnellstmöglich Arbeit findet, um finanziell für die Familie zu sorgen. Für die Familien der Frauen bedeutet diese Einstellung zu Familie und Geschlechterrollen, dass entweder das Einkommen des Mannes oder das Arbeitslosengeld beziehungsweise die Sozialhilfe für die gesamte Familie reichen muss – unabhängig davon, wie viele Kinder das Paar hat. So ist das auch bei der 33-jährigen Jennifer, Mutter von acht Kindern, der ich eines Tages beim Frauenfrühstück begegne. Ihre Jugend war gekennzeichnet von Gewalt seitens ihrer Eltern und Drogenkonsum. Mit 17 Jahren brach sie die Schule ab, riss von zu Hause aus und wurde bald darauf schwanger. Sie heiratete den Vater des gemeinsamen Kindes, und das Paar zog bei seinen Eltern in Marxloh ein. Sieben weitere Kinder sollten im Laufe der nächsten Jahre folgen. Dank des relativ guten Einkommens ihres Mannes sei die inzwischen zehnköpfige Familie zwar Jennifers

500 Diese Frau sollte mir eigentlich ebenfalls zum Interview vermittelt werden, sagte aber kurz vor dem Termin ab. Diese Scheu und vielleicht auch Scham vor einem Gespräch ist typisch für die Marxloher „Zurückgezogenen“. Mehr dazu folgt unter Abschnitt 4.6.3. 501 „Zurückgezogene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 31.08.2012.

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Einschätzung nach nicht „arm“502, müsse aber dennoch die Finanzen stets gut im Blick behalten: Die 33-jährige Jennifer und achtfache Mutter, die ich immer wieder im Kindergarten antreffe, hat zuerst 16 Jahre in Marxloh gelebt, bevor sie für ein halbes Jahr in den benachbarten Stadtteil Walsum zog. Als sich dort aber immer wieder die Nachbarn über den Lärm ihrer spielenden Kinder beschwerten, zog sie zurück nach Marxloh, wo man sich, wie sie sagt, gegenüber Kinderlärm toleranter zeige. Ob es finanziell denn mit ihren acht Kindern gehe, frage ich. Ja, alles in allem hätten sie mit Wohngeld, Kindergeld und dem Gehalt ihres Mannes, der 1900 Euro monatlich verdiene, schon genug. Es sei zwar nicht viel finanzieller Spielraum vorhanden, aber es gehe schon halbwegs. Im Gespräch zeigt sich, dass sie jedoch überlegt, ob ein Besuch im Schwimmbad mit zehn Personen noch im Monatsbudget liegt oder nicht. Die Familie überlegt also, ob sie dafür 15 Euro erübrigen kann oder nicht.

Mit acht Kindern aus erster und einziger Ehe ist Jennifer allerdings eine Ausnahme unter den „zurückgezogenen“ Frauen in Marxloh. Obgleich die Frauen zwar alle mehrere Kinder haben, stammt nicht jedes vom gleichen Vater und der gleichen Mutter. Die weitaus häufiger gelebten Familienmodelle bei den „zurückgezogenen“ Marxloher Frauen, die mir begegneten, ist entweder das (zumindest zeitweise) Alleinleben oder, wie in Giselas Familie, die „Patchwork-“ oder „Stieffamilie“. Nun sind Stieffamilien503 oder Patchworkfamilien in Deutschland keine Seltenheit. Sie entstehen meist nach Scheidungen oder Trennungen zweier Partner und kommen je nach Statistik bei sieben bis 13 Prozent der Familien vor. Kommt die Familie im „Patchwork“ zusammen, so handelt es sich dann tendenziell um kinderreiche Familien mit drei oder mehr Kindern.504 Der Terminus Stief- und Patchworkfamilien bildet allerdings nur einen Überbegriff für ver-

502 Mehr zum Thema „Armut“ vgl. Abschnitt 5.3. 503 Das Präfix „stief“ geht auf die althochdeutsche Silbe „stiof“ zurück und bedeutet so viel wie „verwaist“ oder „beraubt“ und wurde ursprünglich für ein elternloses, verwaistes Kind verwendet. Heute entstehen Stieffamilien jedoch meist nicht mehr nach dem Tod eines Elternteils, sondern in Folge von Scheidungen. Vgl. dazu: Krähenbrühl, Verena u.a. (Hrsg.) (2007): Stieffamilien. Struktur – Entwicklung – Therapie. 6. Auflage. Freiburg im Breisgau. S. 19. 504 Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend (Hrsg.) (2013): Stiefund Patchworkfamilien in Deutschland. Monitor Familienforschung. Beiträge aus Forschung, Statistik und Familienpolitik. Berlin. S. 12.

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schiedene Beziehungskonstellationen, die allesamt vielfältig und daher nur schwer zu greifen sind. Allein auf struktureller Ebene werden je nach Kombination verschiedene Formen unterschieden, die jedoch, wie wir sehen werden, nicht auf alle Marxloher „Zurückgezogenen“ anzuwenden sind, da sie nur von einer neu entstandenen Konstellation ausgehen, die nach einer Trennung entstanden ist. Giesela und Ingrid aber verfügten beispielsweise beide über häufig wechselnde Partnerschaften und haben somit mehrere Kinder aus mehreren vorangehenden Beziehungen, was die Anwendung eines der bislang existierenden Modelle erschwert. Greifen wir dazu als Beispiel die wohl populärste und relativ einfach gehaltene Unterteilung der Psychologin Patricia Papernow heraus: Papernow differenziert Patchworkfamilien in „simple patchwork family systems“, die aus einem Eltern-Kind-Teil und einem Stiefelternteil bestehen und in „multiple families“, also „kombinierte Familien“, bei denen beide Elternteile schon Kinder mit in die neue Partnerschaft bringen.505 Versuchen wir aber nun, dieses Modell allein bei Gisela anzuwenden, so stoßen wir rasch an die Grenzen dieses Modells.506 Werfen wir dazu kurz einen schematischen Blick auf Giselas Familie: Abbildung 12: Giselas Familienkonstellation

Kind 2 Kind 3

Mann 1

Gisela

Frau 1

Mann 2

Mann 4

Kind 1 Frau 2

Mann 3

Kind 5

Kind 4

505 Papernow, Patricia. L. (1984): The Stepfamily Cycle: An experimental model of stepfamily development. In: Family Relations, 33, 3 (1984). S. 355-363. 506 Vgl. Krähenbühl, Verena; Schramm-Geiger, Anneliese; Brandes-Kessel, Jutta (2000): Meine Kinder, deine Kinder, unsere Familie. Wie Stieffamilien zusammenfinden. Reinbek bei Hamburg. S. 30.

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Das Schema zeigt, dass Giselas Ehemann (Mann 1) bereits einen Sohn (Kind 1) aus seiner ersten Beziehung (Frau 1) mit in die Ehe brachte und zwei gemeinsame Kinder mit Gisela (Kind 2 und Kind 3) folgten. Nach der Scheidung lernte Gisela wieder einen Mann (Mann 2) kennen und baute eine Beziehung mit ihm auf. Dieser Partner (Mann 2) hatte ebenfalls bereits ein Kind (Kind 4) aus erster Ehe (Frau 2) und ein weiteres Adoptivkind (Kind 5) aus erster Ehe seiner Frau (Frau 2 mit Mann 3), das er alle zwei Wochen über das Wochenende zu sich holte. So ergab sich in Giselas Familie nach ihrer Scheidung abermals eine neue Familienkonstellation: Sie lebte mit einem Sohn aus der geschiedenen Ehe ihres Mannes, zwei Kindern aus ihrer eigenen geschiedenen Ehe und den zwei Kindern aus erster und zweiter Ehe ihres neues Lebensgefährten zusammen. Seit der Trennung von diesem Mann lebt Gisela nun mit einem neuen kinderlosen Partner zusammen (Mann 4). Zu ihrem ehemaligen Lebensgefährten (Mann 3) und seinen Kindern (Kind 4 und Kind 5) hat sie keinen Kontakt mehr. Wir sehen also, dass Giselas Familienkonstellation das Papernows’sche Modell der „kombinierten Stieffamilie“ weitaus überschreitet. Es entsteht eine neue Kombination aus Giselas ehemaliger „einfacher Stieffamilie“, zu der dann aber auch eigene Kinder hinzukamen (der Sozialwissenschaftler Walter Bien spricht hier in Erweiterung von Papernows Modell von einer „komplexen Stieffamilie“507) und ihrer neuen „kombinierten Stieffamilie“, bei der ihr Stiefkind, ihre eigenen Kinder und die zwei Kinder ihres neuen Lebensgefährten zusammen lebten, bis auch diese Beziehung auseinanderging. Es steht außer Frage, dass eine solche komplexe Familienkombinatorik, die aus stetig neuen Trennungen und Partnerschaften resultiert, für alle Beteiligten spezifische Herausforderungen mit sich bringt, die bewältigt werden müssen. Das zunächst wesentlichste Problem hat wohl mit der Akzeptanz des jeweils neuen Partners durch die Kinder zu tun, denn durch die mehr oder länger dauernden Phasen des Alleinlebens mit einem Elternteil bilden sich in den Familien feste Strukturen aus, die durch neue ersetzt werden müssen, was durchaus zu Schwierigkeiten führen kann.508 Gisela benennt im Unterschied zu Ingrid jedoch keines dieser Probleme. Obgleich sie nach der Trennung von ihrem Mann über

507 Bien, Walter; Hartl, Angela; Teubner, Markus (2002): Stieffamilien in Deutschland. In: DJI Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.) (2002): Das Forschungsjahr 2001. München. S. 86-108. Hier: S. 88. 508 Vgl. Maier-Aichen, Regine; Friedl, Ingrid (1997): Zusammenleben in Stieffamilien. In: Menne, Klaus; Schilling, Herbert; Weber, Matthias (Hrsg.) (1997): Kinder im Scheidungskonflikt. Beratung von Kindern und Eltern bei Trennung und Scheidung. Weinheim; München. S. 307-322. Hier: S. 308.

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zehn Jahre alleinerziehend war, scheint es keinerlei Anerkennungsprobleme ihres neuen Lebensgefährten durch die Kinder gegeben zu haben – vielleicht bedingt dadurch, dass ihre Kinder beim zweiten Partner noch relativ jung und beim dritten schon volljährig waren. Ingrid hingegen, die nach ihrer Trennung eine Beziehung zu einem nahen Verwandten einging, hatte große Schwierigkeiten dabei, ihren neuen Lebensgefährten in die Familie zu integrieren. Im Unterschied zu Giselas Kindern war Ingrids Tochter im Teenageralter und hatte massive Probleme damit, den neuen Partner ihrer Mutter, der bis dato zudem ausschließlich ihr Cousin gewesen war, als Vaterfigur zu akzeptieren: I: Die Große hatte Probleme am Anfang, aber das war auch klar. Die hätte mit jedem Mann Probleme. Und dann kam auch noch ihr Cousin. Den mochte sie am Anfang gar nicht. Wobei, eigentlich mochte sie den, aber da nicht.509

Dass es sich hier um einen nahen Verwandten handelt, den Ingrid als neuen Partner kennengelernt hat, ist kein Einzelfall unter den „Zurückgezogenen“. Es ist auffallend, wie oft die Frauen Liebesbeziehungen zu Männern aus ihrem nahen Familienkreis eingehen. Auch dies zeigt uns nochmals deutlich, wie eng die Netzwerkkontakte der „Zurückgezogenen“ bedingt durch die geringen ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen gefasst sind. Alltägliche Dinge erledigt man ausschließlich mit der Familie. Oft wechselt man, um sich gegenseitig zu besuchen sogar nur das Stockwerk, da die ganze Familie unter einem Dach wohnt. Innerhalb dieses Netzwerkes hilft man sich aus, unterstützt sich, die Familie vermittelt Sicherheit. Da andere Personengruppen nicht zum engeren Netzwerk zählen, beschränken sich auch die Partnerwahlmöglichkeiten auf einen engen Kreis an Personen. Auch Gisela berichtet das aus ihrem Bekanntenkreis: G: Aber dann hatte der […] schnell eine neue Freundin gehabt […]. Das war seine Cousine. Ich hab mich da aber schlau gemacht, rechtlich dürfen die das.510

Wie bei Ingrid schon deutlich wurde, sind es vor allem die Kinder, die bei einer solchen Konstellation unter Umständen Schwierigkeiten haben, den neuen Lebensgefährten der Mutter, zu akzeptieren511 – vor allem dann, wenn sie den neu-

509 „Zurückgezogene“, weiblich, 45 Jahre. Interview vom 30.08.2012. 510 „Zurückgezogene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 31.08.2012. 511 Vgl. Theissig, Katharina (2008): Schwierige Wege und Brücken zum neuen Glück. Stieffamilien mit ihren vielfältigen Herausforderungen. Eine Aufgabe der institutionellen Erziehungs- und Familienberatung. Diplomarbeit. Ohne Ort. S. 26.

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en Partner bis dato noch aus seiner Rolle als „Cousin“, „Onkel“, „Partner der Schwester“, oder anderes kannten und nun als Lebensgefährten der Mutter anerkennen sollen. Ein weiteres Problem innerhalb der Marxloher „Patchworkfamilien“ kann durch unterschiedliche Vorstellungen in der Erziehung entstehen.512 Im Unterschied zu Kernfamilien, in denen das Paar zunächst alleine lebt und sich schließlich Kinder einstellen, werden in Stieffamilien beide Elternteile vor die Herausforderung gestellt, vergleichsweise rasch mit dem neuen Lebensgefährten, eigenen Kindern und Stiefkindern adäquate Umgangsformen zu entwickeln, und nicht immer herrscht darüber Einigkeit zwischen beiden Partnern.513 So wurde es von Gisela als eine Selbstverständlichkeit betrachtet, dass sie ihren Stiefsohn aus erster Ehe, den dreijährigen Dominik, wie ihren eigenen Sohn behandeln würde, vermisste aber eine entsprechende Verhaltensweise bei ihrem Mann. Von ihm und ihrer Schwiegermutter fühlte sie sich im Umgang mit ihrem Stiefsohn oft übergangen und ausgegrenzt, was häufig eine Ursache für Familienstreitigkeiten darstellte: G: Ich habe [von meinem Mann, Anm. d. Verf.] einmal klipp und klar zu hören gekriegt: „Wenn ich einmal mitkrieg’, dass du deine Kinder dem Dominik vorziehst, dann kriegst du es aber.“ Kann ich verstehen. Aber auf der anderen Seite haben sie mir nicht die Möglichkeit gelassen, alle drei gleich zu erziehen, weil sie mir den Dominik immer wieder ein Stück weit weggenommen haben. Da war ich mal so unheimlich enttäuscht, war ich irgendwo gewesen, komme zurück, war der Dominik weg. „Ja, der schläft bei einer Tante.“ „Schön, dass ihr mich auch mal fragt!“ „Ja, das ist doch nicht böse gemeint.“ Aber das hätten die mit den anderen beiden [biologischen Kindern, Anm. d. Verf.] nie gemacht, nie! Und dann habe ich gesagt: „Ich muss hier raus.“514

Gisela begann, ihren Mann unter Druck zu setzen, und kurze Zeit später zog das Paar nach Marxloh. Ihr Stiefsohn wurde von Gisela schließlich so intensiv aufgenommen, dass sie nach der Scheidung ihres Mannes Angst hatte, ihr Mann könne ihn, da sie Dominik nie adoptiert hatte, zu sich holen wollen. Ihr Mann

512 Wilk, Lieselotte; Knall, Isabella; Riedler-Singer, Renate u.a. (2001): Rechte und Pflichten im Alltag. In: Bayrisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen (Hrsg.) (2001): Das Familienhandbuch des Staatsinstituts für Frühpädagogik. Online unter: http://www.familienhandbuch.de/teil-und-stieffamili en/stieffamilien/rechte-und-pflichten-im-alltag (letzter Abruf: 22.07.2014). 513 Krähenbrühl: 2000, S. 26. 514 „Zurückgezogene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 31.08.2012.

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ging aber rasch nach der Trennung von seiner Frau eine Beziehung zu seiner ehemaligen Schwägerin ein und hatte kein Interesse daran, seinen Sohn bei sich wohnen zu lassen. Gisela lebte also mit den drei Kindern allein, bis sie einen neuen Partner kennenlernte. Dieser entpuppte sich allerdings rasch als Alkoholiker und als spielsüchtig, aber für Gisela war es damals vor allem bedeutend, dass sie wieder einen Mann hatte und zugleich auch jemanden, der das Familieneinkommen sicherte. Erinnern wir uns an ihren Satz: G: Für mich war immer wichtig, die Männer gehen arbeiten. Das war so das A und O.515

Ihr Lebensgefährte war zwar berufstätig, aber dennoch war auch diese Partnerschaft nicht von langer Dauer. Der Mann verlor seinen Arbeitsplatz und seine Alkohol- und Spielsucht wurde immer mehr zur Belastung der ganzen Familie, so dass sich Gisela schließlich schweren Herzens trennte. Diese häufigen Trennungen wie wir sie hier bei Gisela kennenlernen, sind in Stieffamilien offenbar keine Seltenheit. Bien u.a. haben in ihrer Studie herausgestellt, dass etwa in Bezug auf die wirtschaftlichen Verhältnisse, Partnerschaftszufriedenheit und Schulergebnisse der Kinder keine wesentlichen Differenzen zu Kernfamilien festzustellen sind516, wohingegen jedoch ein wesentlicher Unterschied darin bestehe, dass Stieffamilien im Unterschied zu Kernfamilien anfälliger für weitere Trennungen seien.517 Dies bestätigt sich in Giselas Biographie. Nach ihrer Scheidung folgten häufig wechselnde Partnerschaften, und sie war nie lange allein: G: Dann war ich erst mal wieder alleine. I: Ein paar Jahre? G: Nee, (lacht) ein paar Jahre nun auch wieder nicht! (lacht) Das war dann Silvester, und ein paar Wochen später hatte ich dann wieder die ersten Kontakte. Und im April habe ich dann meinen Partner kennengelernt. I: Den jetzigen?

515 Ebd. 516 Vgl. Bien u.a.: 2002. 517 Nach Schätzungen aus den USA in den 1980er Jahren trennten sich in dieser Zeit 40 % der wiederverheirateten Paare innerhalb der ersten vier Jahre wieder. Vgl. Visher, Emily B.; Visher, John S. (1995): Stiefeltern und ihre Familien. Probleme und Chancen. Weinheim; München. S. 4.

210 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH G: Nee, nee! Davor hatte ich einen, mit dem war ich sechs Jahre zusammen. Das war mein Traummann, sag ich mal, wenn er nüchtern war.518

Alkohol-, Spiel- und Drogenprobleme der Beziehungspartner sind die am häufigsten genannten Trennungsgründe der „zurückgezogenen“ Frauen. Nach der Trennung begeben sich die meisten rasch wieder in eine neue Beziehung, denn dauerhaft ohne einen Mann zu leben, kommt für die Frauen nicht in Frage. Auf die Frage, warum sie denn ihren zweiten Lebensgefährten trotz der Gewalt, die er an ihr ausübte, geliebt habe und bei ihm geblieben sei, antwortet Gisela: G: Wenn er nüchtern war, das [zögert] wie soll ich sagen. […] Ich fand ihn so aufmerksam. So, wenn ich Mittag gekocht habe, der hat jeden Tag hat der sich bedankt für das Essen und [gesagt, Anm. d. Verf.]: „Das war lecker“. Jeden Tag! Die ganzen Jahre! Dann fand ich das noch toll, der hatte ja auch aus erster Ehe ein Kind und eine Adoptivtochter, der hätte nie ein Wochenende sausen lassen. Der hat sein Kind immer geholt. Ob der sich dann immer um den gekümmert oder ihn an den PC gesetzt hat, das will ich jetzt mal nicht beurteilen. Ja, aber das fand ich toll. Das waren so die Hauptmerkmale.519

Die Kombination daraus, dass der Mann ihr Wertschätzung entgegenbringt, und wenn es auch nur ein „Danke“ fürs Mittagessen ist, und er sich als „guter Vater“ erweist, ist für Gisela Grund genug, in der Beziehung zu bleiben und dafür auch physische und psychische Gewalt („er hat mich mit Worten geschlagen“520) auszuhalten. Einen Lebensgefährten zu haben ist also ausgesprochen wichtig für das Selbstwertgefühl der Frauen, und auch für die Kinder wünscht man sich eine Vaterfigur. Da aber die Beziehungen meist nie lange halten, werden Hoffnungen immer wieder aufs Neue enttäuscht. Vor allem, wenn der neue Partner möglicherweise seinen Job verliert, und er oder man selbst Halt in Alkohol, Drogen oder Geldspielen sucht, kann das neben den emotionalen Problemen auch Konsequenzen für das Familienbudget haben. Und die Frauen können sich dann unter Umständen, wie wir im Folgenden sehen werden, in einer Abwärtsspirale der Armut verfangen, aus der sie nur schwer wieder herauskommen.

518 „Zurückgezogene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 31.08.2012. 519 Ebd. 520 Das sagt Gisela über ihren zweiten Lebenspartner. „Zurückgezogene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 31.08.2012.

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4.6.3 Exkurs: „Die überleben nur knapp.“ 521 Leben in relativer Armut In Marxloh leben zum einen „zurückgezogene“ Frauen wie wir sie mit Gisela, Ingrid und Jennifer kennengelernt haben, die statistisch betrachtet auf Grund ihres geringen Einkommens in ökonomischer Hinsicht zwar als „arm“522 gelten, die aber in sozialer Hinsicht durchaus über Kapital verfügen. Diese Personen haben, wenn auch kein großes, so doch ein familiäres Netzwerk, und sie machen darüber hinaus, wie wir noch sehen werden, von einigen kirchlichen Angeboten Gebrauch. Andere Marxloherinnen besitzen dieses Netzwerk aus unterschiedlichen Gründen jedoch nicht mehr. Möglicherweise haben sie nie eines gehabt, oder sie waren nie in der Lage, sich eines aufzubauen. Diese Frauen verfügen somit nicht nur über kaum ökonomisches, sondern auch über fast kein soziales Kapital (mehr). Bei vielen Marxlohern erwecken diese Personen daher den Anschein, als „überleb[t]en [sie, Anm. d. Verf.] nur knapp“523, wie es ein Lehrer im Interview ausdrückt. Diese Gruppe Frauen lebt meist noch zurückgezogener als Gisela, Ingrid und Jennifer, und ihre einzige Einnahmequelle ist die Sozialhilfe. Diese Gruppe kann mit Fug und Recht sowohl als „relativ arm“ als auch als „gefühlt arm“ bezeichnet werden.524 Nun ist „Armut“ allerdings bekanntermaßen aus soziologisch-wissenschaftlicher Sicht nicht eindeutig zu definieren. Bislang existiert weder eine das Phänomen erklärende Theorie noch eine es näher bestimmende Empirie.525 Der Armutsbegriff bleibt daher stark relational und in seiner Definition weiterhin inkonkret. Allgemeinhin gelten in Deutschland diejenigen Personengruppen als arm, „die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in

521 Interview mit einem Lehrer vom 28.01.2010. 522 Zur Definition von Armut folgt unten mehr. Vgl. außerdem Abschnitt 5.3. 523 Interview mit einem Lehrer vom 28.01.2010. 524 In Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland spricht man von relativer Armut im Unterschied zur absoluten Armut. Während absolute Armut das Leben am Rande der Existenz und ein Fehlen der lebensnotwendigen Grundversorgung benennt, bezieht man sich mit dem Begriff der relativen Armut auf eine Unterversorgung, die sich am Wohlstand der jeweiligen Gesellschaft misst. Jemand, der als relativ arm gilt, muss also nicht zwangsläufig Hunger leiden, hat aber dennoch deutlich weniger Ressourcen zur Verfügung als sein Umfeld. 525 Butterwegge, Christoph (2012): Armut in einem reichen Land. 3. Auflage. Frankfurt am Main. S. 11.

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dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“526. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dieses „Minimum“, weniger als 60 Prozent des Nettodurchschnittseinkommens monatlich zur Verfügung zu haben527, was in Marxloh bei mehr als jeder dritten Person der Fall ist.528 Wir werden auf das Thema „Armut“ unter Abschnitt 5.3.1. noch ausführlicher zu sprechen kommen. Für uns ist hier an dieser Stelle erst einmal nur wichtig, dass der Begriff schwer zu fassen ist und zudem nicht nur von einer Armutsursache gesprochen werden kann. Die Ursachen von Armut sind vielfältig. Mangelnde Bildung wird ebenso dafür verantwortlich gemacht wie geringe Entlohnung, Arbeitslosigkeit, Alleinerziehen, Kinderreichtum oder auch das Leben in einer Einwanderungssituation.529 Das vielleicht Problematischste an der Armut ist jedoch, dass es schwer ist, aus ihr herauszukommen. Aus dem Grund ist Armut auch als „Vicious Circle“530, als „Teufelskreis“, bezeichnet worden, da in diversen Studien mit Blick auf Industrienationen immer wieder festgestellt worden ist, dass Kinder, die in Armut aufwachsen oft Parallelen zu ihren Eltern entwickeln: Sie verfügten über eine schlechtere gesundheitliche Verfassung und seien weniger erfolgreich im Bildungssystem. Zudem brächen sie die Schule früher ab, würden häufig im Teenageralter selbst Eltern, rauchten und konsumierten öfter Drogen. Außerdem seien sie später als Erwachsene häufiger arbeitslos als Kinder, die nicht in Armut aufwachsen würden.531 Es

526 Deutscher Bundestag (2001): Lebenslagen in Deutschland. Erster Armuts- und Reichtumsbericht. Bonn. S. 10. 527 Sowohl die OECD als auch die EU definieren Armut als dann gegeben, wenn das Haushaltseinkommen unter 60 % des durchschnittlichen Einkommens fällt. 528 In Marxloh leben allein 40 % der Bevölkerung von Sozialhilfe. Es ist zu vermuten, dass viele weitere zwar mehr Geld als die Sozialhilfe zur Verfügung haben, aber deren Haushaltseinkommen trotzdem noch lange nicht 60 % des Median (1793 Euro im Jahr 2011) entspricht. Stadt Duisburg (Hrsg.) (2013b): Sozialbericht 2012 Stadt Duisburg. Schwerpunktthema Prekäre Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen. Duisburg, Bremen. S. 16. 529 Vgl. die vom World Vision Instituts für Forschung und Innovation betrieben Website über das Thema „Armut“: http://www.armut.de/definition-von-armut.php (letzter Abruf: 20.05.2014). 530 Vgl. einen Onlineartikel der Weltbank über das Thema „Poverty“ online unter: http://www.worldbank.org/depweb/beyond/beyondbw/begbw_06.pdf (letzter Abruf: 27.05.2014). 531 Vgl. dazu: Pungello, Elizabeth P; Campbell, Frances A. (2006): Poverty and Early Childhood Educational Intervention. North Carolina. Online unter: http://www.

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war der nordamerikanische Anthropologe Oscar Lewis, der angesichts dieser von ihm bereits in den 1950er Jahren beobachteten sozialen „Weitervererbung“ von Armut bei mexikanischen Einwanderern in den USA532 den Begriff einer „Culture of Poverty“, einer „Kultur der Armut“, geprägt hat.533 Hierbei handelt es sich um einen zwar umstrittenen Begriff534, der jedoch die Lebenswelt eines Teils der Marxloher „Zurückgezogenen“ treffend zu beschreiben vermag. Wir werden im weiteren Verlauf des Abschnitts und vor allem noch an anderer Stelle535 sehen, welch eindrucksvolle Parallelen zwischen einigen der Marxloher „zurückgezogenen“ Frauen und Lewis’ Theorie der „Culture of Poverty“ bestehen, die in Marxloh allgegenwärtig scheint: Allein 40 Prozent der Marxloher Kinder536 leben von Sozialhilfe und gelten damit als „arm“.537 Insgesamt ist es mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung Marxlohs, das von Sozialleistungen lebt, 60 Prozent davon sind weiblich.538 Die meisten von ihnen leben nicht freiwillig in Marxloh, sondern sind, wie es Paula, eine der „aktiven“ Frauen, treffend sagt, „einfach hier gelandet“539: P: Die sind hierher geschwemmt worden und irgendwie hier geblieben. Zum Teil sind die auch schon ganz lange hier, leben in ’ner Wohnung oder in so ’nem Heim. Biographien halt häufig so: Scheidung, Arbeitsplatzverlust, Alkoholmissbrauch, dann halt irgendwann viel auf der Straße, aber die haben alle ein Obdach.540

Dass sie „alle ein Obdach“ haben541, heißt jedoch nicht, dass sie nicht jederzeit die Wohnung auf Grund von Räumungsklagen verlieren könnten, da die Miete von ihnen nicht bezahlt wird, oder man mit dem Vermieter aus unterschied-

law.unc.edu/documents/poverty/publications/pungelloandcampbellpolicybrief.pdf (letzter Abruf: 23.05.2014). 532 Vgl. Lewis, Oscar (1959): Five Families. Mexican Case Studies in the Culture of Poverty. Dublin sowie ebd.: 1991. 533 Lewis: 1959. 534 Vgl. Abschnitt 5.3. 535 Vgl. Abschnitt 5.3.1. 536 Kinderarmut ist derzeit die am weitesten verbreitete Form der Armut in Deutschland. Vgl. Butterwegge: 2012, S. 91. 537 Stadt Duisburg: 2013b, S. 16. 538 Ebd., S. 62. 539 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. 540 Ebd. 541 Offiziell gibt es in Duisburg keine Obdachlosen.

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lichsten Gründen in Streit gerät. Bei diesen Frauen kommen die von Lewis benannten „gebrochenen Biographien“ mit Alkohol- und/oder Drogensucht zusammen: Bildungswege wurden abgebrochen, Kinder kamen früh und oft ungeplant „dazwischen“, man lebt seit Generationen von Sozialhilfe. Das äußere Erscheinungsbild ist oft kein gepflegtes mehr. Die Frauen haben nicht selten mehrere Zahnlücken, da die Kosten für den Zahnersatz von ihnen nicht zu erbringen sind, bewegen sich auf Grund von Krankheiten oder Sucht häufig schwerfällig, rauchen und trinken. In manchen Fällen mangelt es offenbar sogar auch an Körperhygiene. Die Haare wirken ungewaschen, die Frauen riechen nach Alkohol und/oder Zigarettenrauch. Diese Gruppe der Frauen ist oft nicht in der Lage, ein längeres Gespräch zu führen, sei es, weil sie eine ausgesprochene Kontaktscheue an den Tag legen542 oder weil sie nur schwer „am Ball“ bleiben und ihre Aufmerksamkeit nicht lange bei einer Sache halten können. Oft springen sie zwischen grundverschiedenen Themen hin- und her, so dass nicht mehr eindeutig erkennbar ist, wovon die Person eigentlich gerade spricht. Dagmar, eine dieser Frauen, kann sogar physisch während unseres Gesprächs nicht sitzen bleiben, sondern muss aufstehen und umhergehen während sie vor sich hin schimpft. Ihre Sprache ist unverständlich und mit Fäkalausdrücken durchsetzt. Sie scheint in ihrer eigenen Welt zu leben und, ob durch Drogeneinfluss oder Krankheit bedingt, unter Wahnvorstellungen zu leiden. So entwickelt sie etwa eine diffuse Angst davor, bestohlen oder verfolgt zu werden. Betrachten wir dazu meine erste Begegnung mit Dagmar am „Anderen Heiligabend“ 2012: Es ist der 24. Dezember, und ich nehme am „Anderen Heiligabend“ teil. Der „Andere Heiligabend“ wird von Spendenmitgliedern der katholischen Kirchengemeinde finanziert und soll Menschen, die alleine leben oder kein Geld für eine Mahlzeit haben, eine Möglichkeit zum gemeinsamen Miteinander geben. Der Raum ist liebevoll gestaltet und weihnachtlich dekoriert. Und er ist voll besetzt. An Sechsertischen sitzen Männer, Frauen und Kinder. Einige kennen und verstehen sich, andere können sich offensichtlich nicht ausstehen, die Mehrheit scheint aber niemanden zu kennen. Neben mir sitzt eine rund vierzigjährige Frau, Dagmar, und eine rund fünfzigjährige Frau Sigrid. Letztere ist in Begleitung ihrer zwei Töchter im Alter von 27 und 20 Jahren. Dagmar hat ein eher lautes Naturell und drückt sich – vorsichtig gesagt – salopp aus und hat keine Scheu vor Schimpfwörtern oder sexuellen Themen. So habe sie, wie sie mir spontan erzählt, mit einem ihrer

542 Das Vertrauen der Menschen zu erlangen, ist ausgesprochen schwierig, wie auch der Verein „Gemeinsam gegen Kälte Duisburg e.V.“, der Marxloh regelmäßig aufsucht, feststellt: http://www.gemeinsam-gegen-kaelte-duisburg.de/pdf/JahresberichtProzent 202010.pdf (letzter Abruf: 23.05.2014).

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„Ex“ „nur mit Rausziehen verhütet“. Männer würden ja immer glauben, dass das sicher sei. So sei dann ihre erste Tochter entstanden, die sie im Alter von 18 Jahren zur Welt gebracht hat. Die Schule habe sie aber vorher schon „geschmissen“. Sprunghaft wechselt sie das Thema. Es ist für sie offenbar schwierig, sich länger auf eine Sache zu konzentrieren. Plötzlich teilt sie mir mit, sie könne keine Leute ausstehen, die sich hängenlassen und streckt unverblümt einem Mann, der am Nachbartisch sitzt und herüberschaut, die Zunge heraus. Solche Menschen könne sie nicht leiden, der sei doch völlig kaputt. Sie würde zwar auch „saufen“, erst kurz zuvor habe sie zwei Bier getrunken, aber man würde es ihr nicht anmerken. Ich sehe sie skeptisch an, denn Dagmar steht für mich eindeutig unter Alkoholeinfluss. Ich habe große Schwierigkeiten, ihr gedanklich zu folgen. Sie spricht undeutlich und ohne Sinnzusammenhang. Sie ist von ihren Expartnern von denen sie mir nicht mehr sagen kann, wie viele es waren, geschlagen und betrogen worden und hatte kürzlich eine Räumungsklage hinter sich. Da sie dann plötzlich keine Wohnung mehr hatte, ist sie bei einem ihr bis dato fremden Mann eingezogen, der sie ebenfalls misshandelte. Aber was hätte sie denn sonst tun sollen, fragt sie mich. Die Sache mit der Wohnung sei sowieso unfair gelaufen. Die Vermieterin habe sie „gelinkt“, und ihre beste Freundin habe zuerst mit ihrem Freund geschlafen und dann ihre Möbel aus der Wohnung, aus der Dagmar ausziehen musste, geklaut. Sie würde nun gegen Vermieterin und Freundin klagen. Inzwischen sei sie damit beschäftigt, ihre neue Wohnung einzurichten – aber nein, nicht mit Schrott. Sie würde nicht zu den Hartz IV-Leuten gehören, die ihre Wohnung mit Sperrmüll einrichten und wo der Dreck auf dem Boden liegt. Dagmar betont so oft, dass sie Geld habe, dass es schon unrealistisch erscheint. Sie zeigt mir in einem Prospekt einen viertürigen Kleiderschrank aus Massivholz für 1300 Euro, den sie sich kaufen möchte. Er sei aber eigentlich zu klein, sie hätte viel mehr Klamotten. Ich schaue Dagmar an und kann eigentlich nicht glauben, was ich höre. Diese Frau, mit hennarot gefärbtem Haar, gekleidet mit alten Jeans und Kapuzensweatshirt hat sichtbar sehr wenig Geld. Ihrem Dobermann, so erzählte sie mir erst wenige Minuten zuvor, könne sie nicht einmal Hundefutter kaufen, weil ihr das Geld ausgehe. Sie füttere ihn stattdessen mit günstig gekaufter Schokolade, da er die so gern möge. Sie raucht und trinkt offensichtlich. Außerdem scheint sie wütend auf die ganze Welt zu sein, die sie alle nur betrogen, belogen, beklaut und hintergangen hätten. Auch ihre Sozialarbeiterin würde sie nie verstehen und einfach nicht wissen, was für sie gut sei. „Die sitzt nur auf ihrem Sessel mit so ’nem Arsch und hat von dem Leben keine Ahnung.“543

Was an dieser Situation als erstes auffällt, ist zunächst, wie sehr Dagmar zwischen dem, was ihr gerade durch den Kopf geht, hin- und herwechselt und nur schwer bei einem Thema verharren kann. Ihre Worte und Handlungen wirken

543 Forschungstagebuch vom 24.12.2012.

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unüberlegt und unkoordiniert. Außerdem scheint sie zeitweise eine provokante Aggression gegenüber einem anderen Teilnehmer des „Anderen Heiligabends“ zu entwickeln. Dennoch sticht gleich als nächstes hervor, wie sehr Dagmar während des Gesprächs bemüht ist, nicht wie eine „typische Hartz IV-Empfängerin“ zu wirken. Sie betont, sie wohne in einer sauberen Wohnung, mit neuen Möbeln und stellt heraus, sie habe so viele Kleidungsstücke, dass sogar ein viertüriger Kleiderschrank nicht einmal alle fassen könne. Auch wenn Dagmar in ihrer Ausdrucksweise unbeholfen wirkt, so ist sie doch darauf bedacht, ihre Würde oder das, was Oscar Lewis das „Streben nach individueller Geltung“544 nennt, zu wahren und nicht den Eindruck eines „typischen Hartz-IV“-Empfängers zu hinterlassen. Wie sehr dieses „Streben nach individueller Geltung“ für in Armut lebende Personen in Marxloh von Bedeutung ist, erlebe ich auch, als ich die 80-jährige Else besuche. Ähnlich wie bei Dagmar bin ich auch hier zunächst irritiert, da ich nicht weiß, ob das, was mir Else erzählt, stimmt oder nicht. Ich bin verunsichert, ob Elses Aussagen „meine Tochter bestiehlt mich“ und ihre Ausführungen darüber, welche Dinge sie schon im Hause wiederbeschafft hätte, da ihre Tochter sie ihr alle entwendet hätte, ein Symptom einer eventuell bestehenden Alzheimererkrankung sind, oder ob ihre Schilderungen den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen. Auf ersteres deutet hin, dass Else sich während unseres Gesprächs mehrfach an verschiedene Dinge plötzlich nicht mehr zu erinnern scheint und immer wieder „den Faden verliert“. Für letzteres sprechen die deutlich erkennbaren Einbruchspuren an der Tür. Bis zuletzt ist es mir jedoch nicht gelungen, darüber Klarheit zu erhalten. Wie Dagmar weist auch Else eine Biographie voller Gewalt auf und hat einen abgebrochenen Bildungs- und Ausbildungsweg hinter sich. Ebenfalls wie Dagmar springt auch Else zwischen den Themen während unseres Gesprächs hin- und her, verwendet Fäkalausdrücke und wirkt in ihrer Art eher schroff. Dennoch ist der erste Eindruck, den ich von ihr in ihrer Wohnung bekomme, ein ausgesprochen rührender: Ich betrete Elses Wohnung und überreiche ihr als kleines Dankeschön für ihre Bereitschaft, mir ein Interview zu geben, eine Rose. Else ist außer sich vor Freude. Mehrmals bedankt sie sich und schenkt mir nervös Kaffee ein. Sie selbst trinkt keinen, und ich kann nur vermuten, dass sie am Kaffee spart, denn Kaffee sei für sie Luxus, erklärt sie später im Gespräch. Ich setze mich auf einen Stuhl und sehe mich um: Elses Wohnung ist dunkel aber blitzsauber. Sie besteht aus einem Zimmer, in dem sie schläft, kocht und fernsieht.

544 Lewis: 1961, S. 11.

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Auf der Couch neben meinem Stuhl sammeln sich dutzendweise Porzellanpuppen – eine Sammelleidenschaft Elses, wie sie lächelnd erläutert. Außer diesen Puppen habe sie niemanden mehr, fügt sie traurig hinzu: „Ich bin ganz allein“. Ich lasse meine Augen schweifen: Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, ein Herd mit zwei Kochplatten und die unzähligen aber liebevoll aufgereihten Puppen auf dem Sofa sind das einzige, was ich sehe. Hier lebt eine Frau, die nicht viel besitzt, aber das wenige offenbar liebevoll behandelt und so dekorativ wie möglich arrangiert.545

Elses Biographie ist zwar nicht von ihrer eigenen Alkoholvergangenheit durchsetzt wie Dagmars, aber auch Else hat viele Brüche und Gewalt erfahren. Else wurde nicht nur von ihrem Mann, der Alkoholiker war, misshandelt („Ich habe Schläge gekriegt und was für welche! Sogar hochschwanger hab ich Schläge von dem gekriegt!“546), sondern auch von den Partnern ihrer Kinder. Scheinbar grundlos kam es in der Familie bei den kleinsten Anlässen zu Gewalt. Dabei scheint es zunächst, als entstünden diese Gewalttätigkeiten aus einer gewissen Willkür heraus. Betrachtet man die Situationen jedoch genauer, so wird deutlich, dass es einem Unvermögen an sprachlicher Ausdrucksfähigkeit verschuldet zu sein scheint, durch das familiären Konflikten nicht anders als mit verbaler oder physischer Gewalt entgegnet werden kann. Eines dieser Beispiele ist Elses Konflikt mit dem Lebensgefährten ihrer ältesten Tochter: E: Da war ich Flurputzen wie ich noch hier gewohnt habe. Meine Tochter mit ihrem Schwulen, kam er mit dem Hund runter, stellt sich mit dem Hund vor mir, und ich hatte den Putzeimer an meine Tür und wollte den Flur putzen, freitags, so wie heute. Morgens um acht Uhr. Kam er runter, stellt sich mit dem Hund vor mir, nimmt die linke Hand und schlägt mich direkt hier in die Leber- und Magengegend rein. Einfach so. „Bist heute nicht dran mit Putzen.“547

Die Aggression des Mannes ihrer Tochter wirkt erschreckend. Ganz spontan schlägt er seine Schwiegermutter in den Magen und erklärt ihr erst danach den Grund, der darin besteht, dass sie den Flur putzte obwohl sie nicht an der Reihe war. Warum, so ließe sich fragen, werden Konflikte hier nicht verbal geklärt? Nehmen wir zur Erklärung Elses Familiengefüge genauer in den Blick: Else war über 40 Jahre lang verheiratet. Sie hatte mit ihrem Mann zwei gemeinsame Kinder und zog zudem auch ein Kind ihrer Schwester mit auf, das sie, da die Mutter

545 Forschungstagebuch vom 20.08.2010. 546 „Zurückgezogene“, weiblich, 80 Jahre. Interview vom 20.08.2010. 547 Ebd.

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des Kindes im Gefängnis war, bei sich wohnen ließ, bis dieses mit 17 Jahren seine Sachen packte und gemeinsam mit einem Freund von zu Hause ausriss. Während der gesamten Ehe leiden Else und die Kinder unter der Gewalt ihres Mannes. Konflikte werden in der Familie nie verbal, sondern stets körperlich ausgetragen. Else sagt zwar, nie körperliche Gewalt ausgeübt zu haben, aber wenn wir uns die Beziehung zu ihrer ältesten Tochter näher betrachten, so kann Elses Umgangsweise durchaus als psychische Gewalt aufgefasst werden. Immer wieder betont sie, wie enttäuscht sie von ihrer Tochter, die sie „faule Kuh“548 nennt, ist. Deren Lebensgefährte nennt sie im Interview nie bei seinem Namen, sondern spricht stets abfällig nur vom „Schwulen“.549 Die Tochter, die die Schule vorzeitig abbrach, heiratete, alkoholsüchtig wurde, und, als sie finanzielle Hilfe brauchte, sich an ihre Mutter wandte und, wie Else meint, sie zu bestehlen begann, ist bereits seit ihrem ebenfalls frühzeitigen Auszug mit 17 Jahren bei ihr „unten durch“.550 Dieses Gefühl steigert sich im Laufe unseres Gesprächs in eine fast ordinär anmutende Wut: E: Da muss ich für die faule Kuh [meine Tochter, Anm. d. Verf.] auch noch aufkommen. Die war das zweite Mal verheiratet und die hat nur rumgesoffen und Spieler gewesen. Und dann wurde sie wieder geschieden!551

Es fällt auf, dass Else, wie auch Dagmar, rasch an ihre sprachlichen Grenzen stoßen und schnell Beschimpfungen zur Hand haben, sobald das Gespräch auf Menschen kommt, von denen sie sich in irgend einer Weise nicht verstanden oder gar verraten fühlen. Körperliche und verbale Handlungsformen, die auch in Gewalt ausarten können, ersetzen dann die sprachlichen Möglichkeiten, um Konflikte zu klären. Else beschimpft ihre Tochter als „faule Kuh“ sowie den Mann ihrer Tochter als „Schwulen“ und wird als Reaktion darauf von ihm auf der Treppe nahezu grundlos in den Magen geschlagen. Else wurde damit zum Täter und Opfer Häuslicher Gewalt zugleich. Mit „geringer Frustrationstoleranz“ und „keine guten Möglichkeiten, sich auszudrücken“, benennt eine Sozialarbeiterin die Ursachen einer solchen Gewaltsituation im Interview.552 Beides sei auf Erlebnisse in den Biographien der Menschen zurückzuführen und mache sie „in-

548 Ebd. 549 Ebd. 550 Ebd. 551 Ebd. 552 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 14.01.2013.

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nerlich und äußerlich aggressiv“.553 Tatsächlich scheinen weder Else noch Dagmar mit niemandem so richtig klar zu kommen und umgekehrt. Es existieren nicht einmal mehr familiäre Netzwerke. Es herrscht der Eindruck, als würde man sich sogar in den Familien permanent hintergehen, betrügen und bestehlen. In der Folge sind beide Frauen „grottenallein“554, da sie Kontakte nicht halten können und offenbar auch nicht die Fähigkeit erlernt haben, neue Kontakte zu knüpfen. Nun ist inzwischen bekannt, dass in Armut lebende Personen in ihren Aktivitäten vor allem deswegen stark eingeschränkt sind, weil die meisten mit einem gewissen Kostenaufwand verbunden sind, der von ihnen nicht zu erbringen ist.555 Aber sogar an vielen eigens für sie geschaffenen Aktivitäten im Stadtteil, von denen viele von kirchlichen Einrichtungen ausgerichtet werden und Frauen wie Dagmar und Else nichts kosten würden, wollen sie nicht teilnehmen. Betrachten wir dazu folgenden Eintrag aus dem Forschungstagebuch: Ich sitze im Kindergarten morgens in kleiner Kaffeerunde beim Frauenfrühstück. Ungefähr fünf Frauen, die gefragt werden, ob sie sich nicht dazusetzen wollen, verneinen hektisch mit der Begründung, sie hätten einen Arzttermin. „Das Standardprogramm“, sagt Jennifer erklärend zu mir. „Sie müssen immer schnell weg, und alle haben angeblich Arzttermine. Dabei kann man sich doch die Zeit nehmen. Ich habe auch acht Kinder und nehme mir die Zeit.“556

Zwei Gründe lassen sich als Erklärungen dafür, dass die Frauen zu solchen Treffen nicht kommen, heranziehen: Zum einen ist inzwischen bekannt, dass Armut, gerade über Jahre hinweg, zu Frustration und Resignation, Passivität, ja sogar zu Apathie führen kann.557 Die Frauen sehen also unter Umständen keinen Sinn in der Teilnahme an solchen Treffen, und/oder es fehlt ihnen die Energie dazu. Blicken wir aber auf Dagmar und Else, so scheint ein ganz wesentlicher Grund auch darin zu bestehen, dass sie sich nicht mit anderen Sozialhilfeempfängern zusammensetzen möchten, weil diese sie damit konfrontieren, einer Gruppe zuzugehören, zu der sie nicht dazugehören möchten. Dagmar und Else sind beide Hartz-IV-Empfängerinnen, aber keine „richtigen“, wie sie betonen. Sie seien

553 Ebd. 554 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. 555 Vgl. dazu auch Butterwegge: 2012, S. 28. 556 Forschungstagebuch vom 10.09.2012. 557 Vgl. Butterwegge: 2012, S. 50.

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„etwas Besseres“558 (Else) und „lassen sich nicht hängen“559 (Dagmar), weswegen sie derartige Aktivitäten für Hartz-IV-Empfänger nicht benötigen würden, denn sie gehören ja eigentlich gar nicht dazu. So liegt es auf der Hand, dass es schwer fällt, die Frauen ins Stadtteilgeschehen einzubinden. Eine Organisatorin von Müttergruppen im Kindergarten, die „Aktive“ Claudia, berichtet: C: Also ich erreiche keine deutschen Frauen. Es kommen nur muslimische Frauen. Ich bin dann losgezogen und habe Hausbesuche gemacht. „Äh nö.“ Also sie wollen dann nicht, schlagen im Prinzip die Tür zu. Ich habe zuerst gedacht, ich bin verschrien als, „die macht ja eh nur mit den Türken rum“. Da habe ich zuerst gedacht, dass es das ist. Aber auf der anderen Seite hat jetzt die Frau, die das ein Jahr für mich gemacht hat, genau die gleichen Probleme.560

Es steht außer Frage, dass diese schwere Erreichbarkeit der Frauen für soziale Aktivitäten außerhalb ihres gewohnten Umfeldes neben den schon erwähnten grundsätzlichen Auswirkungen des Aufwachsens in Armut auch weitere Auswirkungen auf ihre Kinder hat. Claudia etwa berichtet, eines ihrer Kinder sei mit einem Jungen befreundet gewesen, dessen Stiefvater unter Alkoholeinfluss regelmäßig die gesamte Familie schlagen würde und dessen Mutter geistig behindert sei. Dinge, die für ihre Kinder „ganz selbstverständlich“ seien, seien diesem Jungen gänzlich unbekannt: C: Und an diesem Sohn stellt man dann fest, dass Sachen, die für unsere Kinder ganz selbstverständlich sind, für diesen Jungen völlig fremd waren. Also dass man gemeinsam am Tisch sitzt und isst. Dass man sich „Gute Nacht“ wünscht. Dass man sich mit Kindern an den Tisch setzt und Karten kloppt, Spiele macht. Dass Kinder laut sein dürfen und durchaus diskutieren sollen und auch widersprechen müssen. Der guckte mit solchen Augen, immer wenn unsere Kinder rotzig waren und hat sich gefragt: „Grundgütiger, was passiert denen jetzt?“ Und hat das gescannt, gefilmt und überlegt so. Und der taute dann auf. Wo ich schon wieder dachte, hoffentlich praktiziert der das jetzt nicht in seiner eigenen Familie. Also der hat noch nie ’ne Kuh in echt gesehen. Der kennt nur Marxloh! Der kannte auch bis vor Kurzem den Rhein561 nicht. Und als wir ihn dann mitgenommen

558 „Zurückgezogene“, weiblich, 80 Jahre. Interview vom 20.08.2010. 559 Forschungstagebuch vom 24.12.2012. 560 „Aktive“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 30.08.2012. 561 Das Rheinufer ist rund 2 Kilometer von Marxloh entfernt und fußläufig in ungefähr 30 Minuten zu erreichen.

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haben zum Rhein, da hat er gesagt: „Ist das das Meer?“ Also solche Geschichten, und davon gibt es tatsächlich viele.562

Dass die Kinder in den Familien nicht genug gefördert, ja sogar vernachlässigt werden könnten, ist eine häufige Sorge und der Grund, weswegen viele der „zurückgezogenen“ Frauen im Kontakt mit dem Jugendamt stehen. Die Frauen haben zahlreiche Kinder, viele von ihnen kamen ungeplant zur Welt. Diese ungewollten Schwangerschaften rühren in erster Linie daher, dass man entweder das Geld zur Finanzierung von Verhütungsmitteln nicht aufbringen kann, aber vor allem auch daher, dass man schlichtweg zu wenig über Verhütungsmittel und deren korrekte Anwendung weiß.563 Denken wir etwa nochmals an Dagmars Satz zurück: „Mit Rausziehen – Männer denken ja immer, das ist sicher“, so stellt sich die Frage, warum sie nicht selbst interveniert und auf einem sichereren Verhütungsmittel bestanden hat. Möglich ist, dass Dagmar selbst nicht wusste, wie unsicher diese Methode ist. Zudem wird aber auch ihre allgemeine Einstellung gegenüber Männern dazu geführt haben, nicht zu protestieren, denn Männer haben bei dieser Gruppe Frauen insgesamt einen auffallend hohen Stellenwert. Aus der Beziehung zu einem Mann speisen sie ihr Selbstwertgefühl, auch wenn der Mann alkoholabhängig ist, sie betrügt und schlägt. Die Sozialarbeiterin Helga sagt daher im Interview: H: Insgesamt finde ich, dass Frauen sehr leidensfähig sind in Beziehungen. Die halten ziemlich viel aus zugunsten von „einen Mann haben“ oder zugunsten von „den Kindern den Vater nicht nehmen“. Da lassen die sich ziemlich viel gefallen. Ich vermisse manchmal so dieses, dass die sich emanzipierter verhalten, dass die sagen: „Das ist für mich nicht auszuhalten, deswegen gehe ich. Und zwar gehe ich nicht, wenn es erst ganz schlimm ist, sondern wenn ich merke, es wird immer schlimmer. Dann gehe ich.“564

Auffallend ist, dass es in dieser Gruppe der „Zurückgezogenen“ jedoch nie die Frauen selbst sind, die „gehen“, sondern immer die Männer. Die Frauen sind

562 „Aktive“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 30.08.2012. 563 Diese Information stammt aus einem Gespräch mit einer Sozialarbeiterin. Manchen Frauen werde, führt sie aus, „eine Sterilisation auch vom Arzt angeraten und dann sagen die, es wäre gut, wenn diese Frau jetzt keine Kinder mehr kriegen würde. Mit Verhütungsmitteln kommt sie nicht gut klar, die vergisst sie, hat kein regelmäßiges Einkommen, um Hormonstäbchen oder sowas zu finanzieren“. Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 14.01.2013. 564 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 14.01.2013.

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dann mit Stief-, Adoptiv- und biologisch eigenen Kindern wieder alleine und auf Hilfe angewiesen. 4.6.4 „Wobei das nicht die Kirche an sich ist, es ist eher das Drumherum.“ 565 Zur Bedeutung kirchlicher und sozialer Einrichtungen Die katholische Kirche in Marxloh und ihre Angebote wie der Kindergarten, das regelmäßig stattfindende Frauenfrühstück und die Kleiderkammern ist die wohl bedeutendste Anlaufstelle in Marxloh, von der sich die „zurückgezogenen“ Frauen helfen und auf verschiedenen Wegen einbinden lassen. Sei es durch soziales Engagement, den Kindergarten oder den Kirchenchor – hier scheinen sich die Frauen auch außerhalb ihrer eng gestrickten Netzwerke wohl zu fühlen. Giselas Augen leuchten noch heute, als sie mir von den kirchlichen Angeboten berichtet, die ihr aus einer „Phase, wo ich total überfordert war“566, wie sie sagt, herausgeholfen haben. Sie befand sich gerade mitten im Scheidungsprozess und war zum „Sozialfall“567 geworden, was an ihrem Selbstbewusstsein nagte. Durch ihre Kinder und die Einbindung in den katholischen Kindergarten sowie den Kontakt zu Frauen, denen es ähnlich wie ihr erging, fühlte sie sich aufgehoben. Eine wichtige Rolle schreibt sie dem damaligen Sozialarbeiter der Caritas zu, der es offenbar verstand, sie und andere Frauen in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken und sie über ihre Kinder in Aktivitäten einzubinden. G: Die haben hier Projekte ins Leben gerufen, die für uns toll waren, weil wir hatten nur unsere Kinder. Die meisten hatten keine Arbeit, weil wir viele Kinder hatten.568

Gisela begann, sich im Kindergarten zu engagieren, im sogenannten „Elterntreff“. Später wurde ein Café als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ins Leben gerufen, und sie genoss es, dort zu arbeiten und vor allem für ihre Arbeit zum ersten Mal Wertschätzung entgegen gebracht zu bekommen: G: Und da habe ich für alles meine Anerkennung bekommen. Der [Pastor, Anm. d. Verf.] hat sich sogar bedankt, wenn ich während meiner Arbeitszeit da gearbeitet habe. Das habe

565 „Zurückgezogene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 31.08.2012. 566 Ebd. 567 Ebd. 568 Ebd.

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ich gebraucht. Das habe ich aufgesogen wie ein Schwamm und habe mich dann in der Kirche wohler gefühlt als zu Hause.569

Auf die Frage, ob sie denn religiös sei und die Kirche regelmäßig besucht habe, antwortet sie mit einem klaren „Nein“: I: Aber Sie sind vorher schon zur Kirche gegangen? G: Neee. Also zur Kommunion ja, aber danach nicht mehr. […] Wobei das nicht die Kirche an sich ist, es ist eher das Drumherum. Also die Gemeinde drum herum.570

Was Gisela also Halt gab, waren die Menschen in der Gemeinde, die sie umgaben, mit denen sie etwas erschaffen konnte und die ihr das Gefühl gaben, gebraucht zu werden und die ihre Arbeit wertschätzten – es war nicht die Religion als solches. Sporadisch ging sie zwar auch sonntags in die Kirche, aber nur, wie sie sagt „wenn ich Lust dazu hatte“.571 Nach und nach gewann Gisela Selbstvertrauen und nahm schließlich sogar eine Arbeitsstelle außerhalb Marxlohs in Vollzeit an. Der „Elterntreff“ hatte sie und, wie sie sagt, viele andere Frauen motiviert, ihr Leben zu verändern – sei es, indem sie aus Marxloh wegzogen, sich von ihrer unglücklichen Beziehung lossagten oder begannen, einer Berufstätigkeit nachzugehen. Doch Marxloh wurde auch in dieser Hinsicht gebeutelt von Sparmaßnahmen: Die Caritas verließ den Stadtteil, der Sozialarbeiter wurde nicht ersetzt. Das Café wurde geschlossen und der „Elterntreff“ löste sich auf. Für Gisela ist das bis heute etwas, was sie stark berührt: G: Ich weiß gar nicht, wie viel Tränen ich vergossen habe, weil der [Pastor, Anm. d. Verf.] gehen musste.572

Gisela ist bitter enttäuscht worden und ist auch in unserem Gespräch, Jahre nachdem man das Café geschlossen hat, noch immer den Tränen nah: „Immer nimmt man uns das wieder weg!“ beklagt sie sich: G: Wir kriegen Zückerchen hingeschmissen und dann nimmt man uns den Teller wieder weg, den wir uns aufgebaut haben. Wenn der Teller voll ist, klauen sie uns den wieder.573

569 Ebd. 570 Ebd. 571 Ebd. 572 Ebd.

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Gisela, die sich anderen Menschen gegenüber nur schwer öffnet und sich als eher still und zurückgezogen beschreibt, hatte durch die Kirche Vertrauen zu anderen gefasst. Dieses dünne Eis bricht allerdings sofort, als man den Pastor und Sozialarbeiter aus dem Stadtteil abzieht und das Café schließt. Für Gisela ein Verrat, dem sie in ihrem Leben schon mehrere Male begegnet ist und der offene Wunden aufreißt. Denn etwas „weggenommen“ zu bekommen zieht sich wie ein Strang durch ihr Leben: Angefangen bei ihrer Schulzeit, während der man ihr „Chancen genommen“574 hat, über die Ehejahre hinweg, in denen ihr Mann und ihre Schwiegermutter ihr den Stiefsohn „immer wieder weggenommen haben“575, ihrem letzten Lebensgefährten, den ihr eine andere Frau „weggeschnappt“576 hat, bis hin zum Pfarrer zusammen mit dem „Elterntreff“, die man ihr nun ebenfalls beide „wegnimmt“577. Immer wieder, wenn sie sich für etwas engagiert habe, sei dies durch andere kaputt gemacht worden: G: Und ich komme einfach nicht damit zurecht, dass ich mich da wieder voll einsetze und wieder – die machen mich kaputt! Seelisch gehe ich kaputt!578

Als Konsequenz zieht sich Gisela dieses Mal komplett in ihr Eigenes zurück: Sie gibt alle Verantwortlichkeiten, die sie mit der Kirche verbunden hatte ab und bereitet sich auf einen Wegzug aus Marxloh vor. Doch nicht nur für Menschen wie Gisela, die gegenüber Treffen mit anderen Frauen zumindest ein wenig aufgeschlossen sind und sich nach und nach in Aktivitäten integrieren lassen (und möglicherweise wie Gisela bitter enttäuscht werden, wenn diese aus finanziellen Gründen nicht mehr weitergeführt werden), sind die Einrichtungen der katholischen Kirche in Marxloh wertvoll. Denn auch für die Gruppe der „Isolierten“, wie Dagmar und Else, die zurückgezogen und einsam leben, bietet die Kirche eine wichtige Anlaufstelle und gibt den Frauen das, wonach sie sich besonders sehnen: Anerkennung. Es ist bereits deutlich geworden, dass vor allem die Gruppe der „Isolierten“ gegen das Image ankämpft, als „sozial schwach“ zu gelten und vor sich selbst und vor anderen darauf bedacht ist, ihre „individuelle Geltung“579 zu wahren, denn ihr Ansehen ist nach-

573 Ebd. 574 Ebd. 575 Ebd. 576 Ebd. 577 Ebd. 578 Ebd. 579 Lewis: 1961, S. 11.

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weislich nicht nur in Marxloh ein schlechtes: Der Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, der in seiner Langzeitstudie über „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ im Jahr 2007 auch der Frage nach der Abwertung von Langzeitarbeitslosen nachgegangen ist, kam zu dem Ergebnis, dass dieser Gruppe deutschlandweit „mangelnde Nützlichkeit“ vorgeworfen werde. 47 Prozent der Befragten unterstellten ihnen, dass sie gar nicht daran interessiert seien, eine Arbeitsstelle zu finden.580 Mit diesem Image kämpfen auch die Marxloher Sozialhilfeempfängerinnen wie Dagmar und Else, die man durchaus auch mal abfällig als „assi“581 oder „Gesocks“582 bezeichnet und ihnen lieber aus dem Weg geht. Kirchliche Vertreter und religiöse Menschen in Marxloh aber sind gegenüber dieser Gruppe meist offen und positiv eingestellt. So sagt Paula, eine der „aktiven“583 Frauen, die sich kirchlich engagiert, über diese Gruppe der „Zurückgezogenen“: P: Und was die trotzdem, so finde ich, haben, ist so diese Mentalität des direkten unkomplizierten Inkontaktkommens. Das haben die sich irgendwie bewahrt. Oder so ein ganz feines Gespür.584

Die Marxloher Kirchenvertreter sehen in den „Zurückgezogenen“ also in erster Linie Menschen und Persönlichkeiten, und geben sich Mühe, sich auf sie einzulassen, ihnen zuzuhören und sie zu ermutigen, sich selbstbewusster wahrzunehmen. Blicken wir etwa nochmals auf den „Anderen Heiligabend“ zurück, so mag vielleicht bei manchem Leser der Eindruck einer gewissen Schroffheit Dagmars haften geblieben sein. Aber auch wenn sie vielleicht nicht zu einem verbalen Ausdruck der Dankbarkeit in der Lage war, und der Pastor im Nachhinein beklagte, kaum jemand würde zur anschließenden Messe bleiben, so ist der „Andere Heiligabend“ doch in Marxloh die einzige Möglichkeit für in Armut lebende Menschen, die alleine leben, an diesem Abend mal nicht allein zu sein und ein Weihnachtsgefühl aufkommen zu lassen – oder auch „nur“ eine warme Mahlzeit zu erhalten.

580 Vgl. Website des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung unter: http://www.uni-bielefeld.de/Prozent28deProzent29/ikg/projekte/GMF/Langzeitar beitslosen.html (letzer Abruf: 23.07.2014). 581 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 582 „Alteingesessene“, weiblich, 59 Jahre. Interview vom 30.08.2010. 583 Vgl. Abschnitt 4.1. 584 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012.

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4.6.5 „Einen Schritt voraus.“585 Bezug zum Stadtteil und zu anderen Gruppen Fragen wir nach den Einstellungen der „zurückgezogenen“ Frauen zu anderen Gruppen im Stadtteil, so ist auffallend, dass sie sich deutlicher gegen „Ausländer“ äußern und abweisendere Züge zeigen, als es etwa bei der Gruppe der „Alteingesessenen“586 und vor allem bei den „Aktiven“587 der Fall ist. Kommen wir dazu noch ein letztes Mal auf den „Anderen Heiligabend“ zurück und widmen uns dem weiteren Verlauf der Veranstaltung: Mein Gespräch mit Dagmar wird unterbrochen, denn nun sollen Weihnachtslieder gesungen werden. Die Texte werden ausgeteilt und eine der ehrenamtlichen katholischen Frauen beginnt, auf dem Klavier eine Melodie anzustimmen. Zwischendurch werden kurze Geschichten aus der Bibel vorgelesen. Einige singen mit, aber das Gros redet einfach weiter. Auch Dagmar plappert munter auf mich ein. Als ich signalisiere, mitsingen und zuhören zu wollen, beschränkt sie sich auf die in regelmäßigen Abständen eingestreute Äußerung, sie werde jetzt dann wohl mal rauchen gehen, ohne es aber tatsächlich zu tun. Eine Gruppe männlicher afrikanischer Flüchtlinge geht nach vorn zum Klavier und singt leise „Merry Christmas“. Es wird applaudiert. Als Dagmar dann doch rauchen geht, habe ich ein wenig Ruhe und komme mit den zwei jungen Frauen, die mit ihrer Mutter mit am Tisch sitzen, ins Gespräch. Beide äußern, eine große Aversion gegen „die Türken“ zu haben. Die vierte Generation solle doch in die Türkei zurückkehren, gibt mir die ältere der beiden Schwestern zu verstehen. Die seien frech. Und das Kopftuch sei sowieso ein Anzeichen mangelnder Integrationsbereitschaft. Die Mutter unterbricht und wendet ein, es gäbe solche und solche. Ihre Kinder scheinen sich aber nicht überzeugen zu lassen. Es sei keiner „der Türken“ bei der Tafel. Warum nicht? Ja weil sie entweder nur in ihren Familien aufeinander hocken würden oder jede Menge Geld hätten. Die würden die dicksten Autos fahren. Und die Deutschen seien vertrieben worden. Marxloh habe keine Geschäfte mehr, hier könne man nicht leben. Beide jungen Leute möchten wegziehen, haben aber bisher noch keine Arbeitsstelle gefunden.588

585 „Zurückgezogene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 31.08.2012. 586 Vgl. Abschnitt 4.5. 587 Vgl. Abschnitt 4.1. 588 Forschungstagebuch vom 24.12.2012.

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Was die zwei Jugendlichen hier äußern, weckt Assoziationen zu dem, was Wilhelm Heitmeyer als „Etabliertenvorrechte“589 bezeichnet: Denjenigen, die schon längere Zeit da sind, in unserem Fall also „die Deutschen“, sollen mehr Rechte zugestanden werden als denjenigen, die später kamen, also „den Türken“. An dem von der Kirche ausgerichteten „Anderen Heiligabend“ nehmen nun allerdings ausschließlich die in Armut lebenden „Zurückgezogenen“ teil. „Die Türken“ hingegen, so nehmen es die „zurückgezogenen“ Frauen an meinem Tisch zumindest wahr, befinden sich zeitgleich bei ihren Familien, wo sie „aufeinander hocken“ – bei den Familien, die die „Zurückgezogenen“ selbst nicht (mehr) haben. Also werden „die Türken“ als „frech“ bezeichnet und sollen Marxloh wieder denjenigen, die als erstes da waren, überlassen und in die Türkei zurückkehren. Diese Argumentation wird dann verständlich, wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, dass es in Marxloh zunehmend zu einer Knappheit an Ressourcen kommt, die besonders die „Zurückgezogenen“ zu spüren bekommen. Während die „Aktiven“590 und die „Alteingesessenen“591 ökonomisch relativ gut abgesichert sind, ist dies bei den „Zurückgezogenen“ nicht der Fall. So nehmen die Aversionen gegen „die Türken“ hier eine schärfere und persönlichere Note an. Es ist nicht mehr wie bei den „Alteingesessenen“ die Politik, von der man sich allein gelassen fühlt, es sind hier konkret „die Türken“, die alles verschlechtert haben. Dass diese Abwehr mit der Angst um Machtverluste einhergeht, zeigt sich darin, dass man sich nicht auf die Neuzuwanderer, sondern ausschließlich auf „die Türken“ bezieht. Während man selbst am 24. Dezember beim „Anderen Heiligabend“ essen geht, fahren „die Türken“ die „dicksten Autos“ und haben es „nicht nötig“ beim „Anderen Heiligabend“ zu erscheinen, da sie auf familiäre Ressourcen zurückgreifen können. Was hier bei den „Zurückgezogenen“ aufkeimt, ist Eifersucht und Wut auf diejenigen, von denen man das Gefühl hat, dass sie einem alles weggenommen hätten, und dass es ihnen deswegen nun besser gehe als einem selbst. Es entsteht wie bei den „Alteingesessenen“ ein Wettbewerb zwischen türkeistämmigen Personen und einem selbst, wobei man sich im Unterschied zu den „Alteingesessenen“ auf Grund des mangelnden sozialen und ökonomischen Kapitals bereits im deutlichen Rückstand sieht, und dies darüber hinaus auch noch von anderen Marxlohern gespiegelt bekommt. Ein Lehrer et-

589 Heitmeyer, Wilhelm (2006): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Gesellschaftliche Zustände und Reaktionen in der Bevölkerung von 2002-2005. In: Ders. (Hrsg.) (2006): Deutsche Zustände. Folge 4. Frankfurt am Main. S. 15-38. Hier: S. 21. 590 Vgl. Abschnitt 4.1. 591 Vgl. Abschnitt 4.5.

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wa, der die Zustände in den „zurückgezogenen“ Familien mit türkeistämmigen Familien in zynischer Weise in Vergleich setzt, äußert sich über die „zurückgezogenen“ Frauen nahezu abwertend: L: Wir haben deutsche Kinder, unvollständige Familie, also die Mutter mit fünf Kindern und sechs Ehemännern oder Männern und zwei großen Hunden. Die überleben nur knapp. Und da kommen die Kinder ohne Söckchen im Winter. Ungepflegt, unglücklich – das sind unsere integrierenden Deutschen. […] Und die türkischen Kinder sind in der Regel frisch geküsst, Schleife im Haar, mit Butterbrot.592

Hier zeigt sich, wie stereotyp die Wahrnehmung von „den Türken“ und „den Deutschen“ im Stadtteil ausfallen kann. Die Gruppe der „Zurückgezogenen“, geschieden mit vielen Kindern und Expartnern werden als „ungepflegt“ und „unglücklich“ geschildert. Die Reaktion der derart Abgewerteten ist im Umkehrschluss Abwehr derjenigen Personen, die ihnen als „frisch geküsstes“ Vorbild „mit Schleife im Haar“ vorgeführt werden, von denen man sich überholt oder gar bedroht fühlt, da sie einem etwas voraus haben, und man meint, nicht mehr mithalten zu können. Das zeigt sich besonders in einer Aussage Giselas, in der sie deutlich macht, sie habe schon oft daran gedacht, Türkisch zu lernen – aber das nicht etwa aus dem Grund, um zur verbesserten Kommunikation und einem Herstellen von „Augenhöhe“ beizutragen, wie es bei den Marxloher „Aktiven“593 der Fall ist, sondern um die Vormacht im Stadtteil (zurück) zu erlangen und das von ihr als „Ausspielen“ empfundene Verhalten der Türkeistämmigen zu unterbinden: G: Ich stand manchmal ganz kurz davor, Türkisch zu lernen, also um nicht mehr wie blöd dazustehen, wenn die sich türkisch unterhalten. Wirklich nur aus dem Grund. Wir hatten hier mal eine Nachbarin gehabt, eine ältere Dame, da bin ich immer Hausflurwischen gegangen und so. Und die hat mal zu mir gesagt: „Alle beschweren sich über die Türken. Aber die sind uns alle ein Stück voraus. Die können Deutsch und Türkisch. Und wenn wir mit denen mithalten möchten, dann müssen wir Türkisch lernen, damit die uns nicht mehr einen Schritt voraus sind. Wir können uns doch nicht beschweren, sollen wir das doch auch lernen, die haben doch auch Deutsch gelernt. Damit wir dann nicht mehr sagen können: ‚Die spielen uns aus.‘ Dann haben sie auch gar nicht mehr die Möglichkeit, uns aus-

592 Interview mit einem Lehrer vom 28.01.2010. 593 Vgl. Abschnitt 4.1.

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zuspielen.“ Das fand ich immer so toll. Das war eine ältere Dame, die das immer gesagt hat.594

„Einen Schritt voraus zu sein“ auf Grund der Zweisprachigkeit und der „dicksten Autos“, die man selbst nicht hat sowie einem familiären Netzwerk an Weihnachten, über das man vielleicht selbst nie verfügte und nicht zuletzt das Image als die „Besser-Integrierten“595 nagt an den in Armut lebenden „zurückgezogenen“ Marxloherinnen. Zumal man doch selbst zuerst da war und so das Gefühl hat, dass einem so eigentlich doch auch mehr zustehen müsste. Die türkeistämmige Bevölkerung befindet sich in den Augen vieler Marxloher gegenüber Langzeitarbeitslosen in der Vorzeigerolle und im Umkehrschluss in den Augen der „Zurückgezogenen“ in der typischen Rolle des „Sündenbocks“. 4.6.6 Fazit Die fünf „zurückgezogenen“ Frauen bilden in Marxloh eine Gruppe, die ökonomisch betrachtet als „arm“ betrachtet werden kann. Dennoch hat auch das Leben in Armut dieser Frauen eine Spannweite: Während die eine Gruppe immerhin ein geringes Einkommen hat und über ein familiäres Netzwerk verfügt, das sie umgibt, lebt die andere Gruppe ausschließlich von Sozialhilfe und verfügt über keinerlei Netzwerkkontakte (mehr). Gemeinsam ist allen „zurückgezogenen“ Frauen, dass sie viele Kinder haben, die aus mehreren Partnerschaften stammen, was für die Frauen nicht immer komplikationslos ist. Viele haben oder hatten alkoholabhängige oder spielsüchtige Partner seitens derer sie teils extreme Formen Häuslicher Gewalt aushielten oder aushalten. Am drastischsten ist dies bei der zweiten Gruppe der Fall, die entweder unter Krankheiten oder Alkohol- beziehungsweise Drogensucht leidet und im Unterschied zur ersten Gruppe keinerlei Kapital und Motivation hat, etwas an ihrer Situation zu ändern. Kirchliche Einrichtungen fungieren in Marxloh für viele der „zurückgezogenen“ Frauen als „Rettungsanker“ – sei es, indem sie an Aktivitäten teilnehmen oder indem sie mit basalen Dingen wie Nahrung und Kleidung versorgt werden. Nicht zuletzt finden die Frauen aber durch die Vertreter kirchlicher Einrichtungen Anerkennung und eine würdevolle Behandlung vor, die ihrem „Streben nach individueller Geltung“ entgegenkommt und die ihnen im Marxloher Umfeld oft nicht entgegen gebracht wird. Vor allem, dass die türkeistämmige Bevölkerung im Stadtteil als „besser-integriert“ angesehen wird, macht den Frauen zu schaf-

594 „Zurückgezogene“, weiblich, 47 Jahre. Interview vom 31.08.2012. 595 Interview mit einem Lehrer vom 28.01.2010.

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fen und führt zu einem marathonhaften Mithaltenwollen. Bei denjenigen, bei denen der Abstand schon groß zu sein scheint, zeigt es sich in einer rigorosen Abwehr der Zuwanderer. Je ärmer die Gruppe ist, desto größer die Frustration und desto extremer tritt auch die Abwertung der Zuwanderer hervor. Gemeinsam ist allen Frauen schließlich eine zunehmende Negativeinstellung zum Stadtteil, in den man nur gezogen ist, weil man es musste, da die Mieten günstig sind und es „eh schon allen dreckig geht“ (Dagmar). Entsprechend negativ ist die Einstellung zu Marxloh. So beschreibt die 52-jährige Christiane, mit der ich im Sommer 2010 zufällig in einem Eiscafé kurz ins Gespräch komme, und die vor der Häuslichen Gewalt ihres Partners mit ihren drei Kindern durch die Hilfe eines Frauenhauses in eine eigene Wohnung nach Marxloh floh, ihren ersten Eindruck folgendermaßen: C: Ach du Scheiße, das darf doch nicht wahr sein, wo bin ich hier gelandet! Ja und jetzt bin ich hier seit zehn Jahren.596

Bei meinem zweiten Forschungsaufenthalt zwei Jahre später erfahre ich, dass Christiane nicht mehr im Stadtteil lebt. Keiner wusste, wo sie verblieben war und ob sie überhaupt noch lebt. Ein weiteres Zeichen dafür, wie allein Christiane gewesen sein musste.

4.7 R OMAFRAUEN

AUS

R UMÄNIEN

4.7.1 Fallbeispiel Antonia Antonia ist 46 Jahre alt, wirkt auf mich jedoch älter. Das Leben scheint sie gezeichnet zu haben, doch wenn sie herzhaft lacht, blitzen die Goldkronen in ihrem Mund, und Antonia sprüht vor Herzlichkeit. Mit ihrer warmen und aufmerksamen Art lädt sie mich und meinen Romanes sprechenden Begleiter Ali bereits kurz nach unserer ersten Begegnung auf der Straße in zwei Stunden zu sich nach Hause ein. Ein wenig skeptisch, ob der Termin als solcher auch wirklich bestehen bleiben wird597, kehren Ali und ich zur verabredeten Zeit in die Straße zurück, in die Antonia uns nach Hause eingeladen hatte. Antonias Klingel ist ka-

596 „Zurückgezogene“, weiblich, 52 Jahre. Forschungstagebuch vom 17.08.2010. 597 Vgl. Koch, Ute (2005): Herstellung und Reproduktion sozialer Grenzen. Roma in einer westdeutschen Großstadt. Wiesbaden. Die Autorin gibt an, mehrere Male zum vereinbarten Gesprächstermin von ihren Interviewpartnern versetzt worden zu sein.

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putt, und so rufen wir, wie vereinbart, zu ihrer Wohnung herauf, doch niemand öffnet. Natürlich haben wir mit unseren fensteraufwärts gerichteten Rufen inzwischen die Aufmerksamkeit einiger im Nachbarcafé sitzender Männer erregt, die uns amüsiert nachäffen – aber mit Erfolg: Antonias Mann erscheint am Fenster, und wir werden eingelassen. Wir betreten einen Hausflur, in dem sich einiger Müll angesammelt hat. Zwei Fenster im Treppenhaus wurden eingeworfen und notdürftig geflickt. Vor einer Eingangstür stapeln sich Schuhe. Der Eingangsbereich von Antonias Familie im zweiten Stock erscheint hingegen sehr aufgeräumt, und wir betreten eine gründlich gereinigte und ordentliche Wohnung. Es gibt nicht viele Möbel in der 100 qm großen Wohnung, wo im Ganzen offiziell sechs Familienmitglieder leben (tatsächlich sind es neun): ein Bett und ein Teppich im ersten, ein Sofa, ein weiterer Teppich und ein an der Wand lehnendes Bild im zweiten Raum – mehr Interieur existiert nicht. Wir werden von fünf Männern begrüßt, weitere zwei gesellen sich dazu, und wir geraten ins Gespräch. Nach und nach füllt sich der Raum mit Männern, Frauen und Kindern. Auch Antonia kommt etwa eine Stunde nach unserem vereinbarten Termin nach Hause und setzt sich zu der Runde dazu. Relativ rasch wird klar, dass die Frauen zwar bereitwillig zusagen, mir ein Interview zu geben, aber ich nicht lange ihre Aufmerksamkeit halten kann. Immer wieder stehen die Frauen auf, um etwas aus einem anderen Zimmer zu holen, beginnen ein Gespräch mit anderen Personen oder wechseln abrupt das Thema. Ich entscheide, meine Interviewidee zu verwerfen und lieber so viel Zeit wie möglich mit der Familie zu verbringen, um auf diesem Wege möglichst viel über sie zu erfahren. Antonia und ihre Familie zählen sich selbst zur Romagruppe der Kalderasch, der ehemaligen Kesselflicker. Als Antonia klein war, zog sie noch mit ihrer Familie auf Wanderschaft, um selbst hergestellte Bleche zu verkaufen. Mit Beginn des Schulalters ging sie bis zur vierten Klasse zur Schule und blieb anschließend als ältestes von neun Kindern zu Hause, um auf die Geschwister aufzupassen, während die Eltern weiter umherzogen, um Geld zu verdienen. Auf meine Frage, ob sie denn eine Ausbildung absolviert habe, antwortet Antonia wie selbstverständlich: „Natürlich!“ Das Handwerk habe sie schon mit elf Jahren von ihrem Vater erlernt. Die Familie konnte aber immer weniger von dem Geld, das das Handwerk einbrachte, leben und wurde zusehends ärmer. Als Antonias Geschwister alt genug waren, dass sich Antonia nicht mehr um sie kümmern musste, heiratete sie mit 25 Jahren und brachte nach und nach fünf eigene Kinder zur Welt. Die beiden ältesten sind inzwischen erwachsen und leben mit Antonias Mutter in Spanien. Die 16-jährige Daniela und die 14-jährige Marina sowie der siebenjährige Silvio sind aber mit Antonia und ihrem Mann nach Marxloh gezogen. Zuvor lebte die Familie in der rumänischen Stadt Bukarest von insgesamt

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150 Euro Kindergeld. Antonia sagt, das habe zuletzt gerade dafür gereicht, die Gaskosten der Zweizimmerwohnung, mit denen sie beheizt wurde, zu begleichen. Die Familie hatte schon Bekannte, die in Marxloh lebten, und so entschied sich Antonia, ihr Hab und Gut in ein Auto zu packen und mit ihrer Familie nach Deutschland zu fahren, um, wie sie sagt, ihren Kindern eine gute Zukunft zu bieten.598 4.7.2 „Bitte helfen!“599 Familie und Gesundheit Über die Gruppe der Kalderasch wird immer wieder gesagt, ihr zentrales Element sei die Großfamilie, auch cerha (= Zelt) genannt. Mehrere cerha zusammengenommen ergeben eine vica (= Sippe). Mehrere vici ergeben die jeweilige Untergruppe der Roma als natia (= Stamm), also in unserem Fall der rumänischen Kalderasch.600 Bei den Heiraten der Kalderasch, so heißt es außerdem, handele es sich oft um endogame Eheschließungen innerhalb einer vica. Als ich jedoch Antonia frage, ob ihr Mann ein Verwandter sei, lacht sie. Nein, sie würden sich doch nicht verhalten wie Tiere, sagt sie. Die Familie, die bei den Kalderasch, wie es bereits Liégeois schreibt, „mehrere Kernfamilien mit ihren Kindern und mehrere Generationen“601 umfasst, ist bei den Marxloher Kalderasch, mit denen ich zu tun hatte602, durch die Migration aus Rumänien transnational auseinandergefallen. Zwar sind viele Mitglieder der Großfamilien gemeinsam nach Marxloh gereist oder Familienangehörigen gefolgt, aber sowohl die älteren Mitglieder als auch viele der erwachsenen Kinder leben meist nicht in Marxloh. Sie sind entweder im Herkunftsland Rumänien verblieben oder leben in anderen Ländern, wie in Spanien oder England. Auch Antonia macht sich während meines Aufenthalts in Marxloh für drei Monate auf nach Spanien, um ihre beiden ältesten Kinder und ihre Mutter zu besuchen. Überhaupt scheinen die Marxloher Kalderasch stets in Bewegung zu sein, um Familie oder Freunde zu

598 Forschungstagebuch vom 10.09.2012. 599 Forschungstagebuch vom 12.09.2012. 600 Teichmann, Michael (2002): Traditionelle Sozialstruktur. Online unter: http://roma ni.uni-graz.at/rombase/cd/data/ethn/social/data/trad.de.pdf (letzter Abruf: 20.06. 2014.) 601 Liégeois, Jean-Pierre (2002): Roma, Sinti, Fahrende. Berlin. S. 107. 602 Mit dieser Gruppe wurden aus Gründen, die im Folgenden noch erläutert werden, keine Interviews geführt. Alle Daten zu dieser Gruppe stammen aus der Phase der teilnehmenden Beobachtung bei insgesamt fünf „Romafrauen aus Rumänien“ und ihren Familien.

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besuchen. Auch im Stadtteil ist man nie allein unterwegs. Männer, Frauen und Kinder gehen sich gegenseitig besuchen, treffen sich in Gruppen an Straßenecken oder Parks, grillen im Schwelgernpark, trinken Kaffee, unterhalten sich und machen Musik. Wie bei anderen Romagruppierungen ist auch bei den Marxloher Kalderasch eine deutliche Rollenverteilung innerhalb der Familien zu beobachten: „Traditioneller Weise“, erklärt mir Antonia, seien „Männer und Frauen unterschiedliche Menschen und haben unterschiedliche Aufgaben im Leben“.603 Der Mann werde zwar grundsätzlich als der Ernährer der Familie betrachtet und die Frau als diejenige, die die Kinder gebärt und aufzieht, aber auf Grund ihrer geschichtlichen Erfahrungen, in der die Männer oft gefangen genommen oder verfolgt worden sind, hätten die Frauen auch allein in der Lage sein müssen, für die Familie zu sorgen.604 Wie sehr sich die historisch geprägte Notwendigkeit der Frauen, notfalls auch ohne Mann auskommen zu müssen605 auf das Alltagsleben auswirkt, zeigt sich in Marxloh recht deutlich: Einige Frauen leben ohne Mann dort, versuchen aber dennoch, den Lebensunterhalt für sich und die Kinder zu verdienen. In sozialer Hinsicht werden sie aufgefangen durch die vica, die Gemeinschaft der anderen. Im allgemeinen schien mir bei den Marxloher Kalderasch alles, was mit Organisation der Familien zu tun hat, Frauensache zu sein. Es ist Antonia, die die Behörden- und Schulgänge erledigt, die das gesamte Haushaltsgeld verwaltet, die die Einkäufe tätigt und die alle wichtigen Dokumente der gesamten Familie in einer Plastiktüte ordentlich sortiert verwahrt. Ist die Frau berufstätig, so wird ihr Geld als Haushaltsgeld verwendet, das Geld des Mannes wird nur für besondere Anlässe ausgegeben. Auf Grund dieser vielseitigen Tätigkeiten und der damit verbundenen im Vergleich zum Mann relativ häufigen Kontakte zu Nicht-Roma wird die Frau auch als „das entscheidende Bindeglied zwischen den Gesellschaften der Roma und der Gadže“606 betrachtet. Und tatsächlich ist es Antonia, die immer wieder zu Veranstaltungen, Sprachkursen und Schultreffen erscheint. Sie spricht besser

603 Vgl. dazu auch: Gay y Blasco, Paloma (1997): A „Different“ Body? Desire and Virginity Among Gitanos. In: Journal of the Royal Anthropological Institute, 3 (1997). S. 517-535. Hier: S. 522. Online unter: http://www.uibk.ac.at/news/romani-travellerstudies/tauber_lektueredifferent-body.pdf (letzter Abruf: 20.06.2014.) 604 Vgl. auch Liégeois: 2002, S. 108. 605 Eder-Jordan, Beate (1998): Die Frau war Mann und Frau. Zur Stellung der Frau bei Sinti und Roma. Gespräch über ein tabuisiertes Thema. In: Stimme. Zeitschrift von und für Minderheiten, 28, 3 (1998). S. 12-15. 606 Teichmann: 2002.

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Deutsch als ihr Mann. Dieser sei, wie die meisten Marxloher Kalderaschmänner, häufig unterwegs, um, wie Antonia sagt, „Kontakte zu pflegen“. Von „Familie“ spricht man bei den Kalderasch, sobald das erste Kind geboren ist, wobei dies meist vergleichsweise früh geschieht. Das relativ frühe Heiraten und Kindergebären ist laut der Sozialanthropologin Gay y Blasco darauf zurückzuführen, dass vor allem die Mädchen am Beginn ihrer Adoleszenzzeit als fruchtbar und somit als heiratsfähig gelten würden, wobei es wichtig sei, dass sie jungfräulich in die Ehe gehen. In der Hochzeitsnacht werde das Mädchen entjungfert und das Laken als Beweis ihrer Jungfräulichkeit von den verhei rateten Frauen überprüft.607 Die Jungfräulichkeit sei ausgesprochen wichtig und zeige, dass die Frau „anständig“ gewesen sei.608 Anders als bei den aus Bulgarien Zugewanderten 609 konnte ich jedoch bei den rumänischen Roma in Marxloh kein Treffen konkreter Maßnahmen beobachten, um die Mädchen im heiratsfähigen Alter vom anderen Geschlecht fern zu halten. Die Mädchen sieht man vielerorts allein unter sich auf den Marxloher Straßen, im Park und auf den Schulhöfen. Relativ lautstark bewegen sie sich in Gruppen durch den Stadtteil, lachen und haben scheinbar Spaß miteinander. Die Mädchen halten sich gerne draußen auf, und es wird ihnen offenbar auch gestattet. Auch Kontakte zum anderen Geschlecht schien man mir nicht gänzlich unterbinden zu wollen – sie sind erlaubt, solange sie „oberhalb der Taille“ bleiben. Beobachtet man aber das Alltagsleben der Marxloher „Romafrauen aus Rumänien“ über einen längeren Zeitraum, so wird vor allem eines deutlich: Sie sind gekommen, um sich und ihren Kindern eine Zukunft zu bieten und haben große Angst, dass ihnen das vielleicht nicht möglich sein wird und sie weiterreisen müssen. Diese Angst scheint alles Weitere zu überlagern. Wie kaum eine andere Gruppe in Marxloh müssen die rumänischen Kalderasch mit sehr wenig Geld auskommen und wissen nicht, wie sie die laufenden Ausgaben bewältigen sollen, denn sie leben zu großen Teilen ausschließlich vom Kindergeld. Das Kindergeld wird unabhängig vom Einkommen ausgezahlt und beträgt für das erste und zweite Kind monatlich 184 Euro, für das dritte Kind monatlich 190 Euro und für das vierte und jedes weitere Kind monatlich 215 Euro.610 Antonia erhält damit für ihre drei Kinder monatlich 558 Euro, 500 Euro davon zahlt sie bereits an Miete. Dabei kann sich Antonia jedoch noch glücklich schätzen, dass sie das Kindergeld vergleichsweise früh, nach vier Monaten, ausgezahlt bekommen

607 Vgl. Gay y Blasco: 1997, S. 527. 608 Vgl. ebd., S. 517. 609 Vgl. Abschnitt 4.8. 610 Bundeszentralamt für Steuern (2012): Merkblatt Kindergeld. Berlin. S. 20.

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hat, denn die Beantragung bei der Familienkasse ist für die Neuzuwanderer immer schwieriger geworden. Eines der Probleme besteht in ihren Wohnbedingungen: Um Kindergeldanspruch zu haben, müssen die Antragsteller mit Wohnsitz in Deutschland gemeldet sein, was die meisten auch vorweisen können. Da aber gerade bei den aus Rumänien zugezogenen Familien eine hohe Fluktuation vorherrscht, weil die Familien, wenn sie keine Arbeit finden, wenige Wochen später bereits weiterziehen611, kann es passieren, dass jemand von der Ausländerbehörde kommt, um zu prüfen, ob die gemeldete Person wirklich unter der angegebenen Adresse wohnt. Da aber viele Häuser wie das, in dem Antonia wohnt, weder über eine funktionsfähige Klingel noch über Briefkästen verfügen, ist der Name der betreffenden Person oft nicht unter der Adresse anzufinden, und die Person wird „von Amts wegen“ abgemeldet. Für die Familien bedeutet das, dass die Beantragung des Kindergeldes dann von vorn beginnen muss, und man weitere Wochen, wenn nicht gar Monate, ohne Einkünfte lebt. In einigen Fällen scheint man bei den Familienkassen aber auch bemüht zu sein, möglichst viele formale Hemmschwellen für die Neuzuwanderer aufzubauen, um das Kindergeld nicht auszahlen zu müssen oder den Prozess zumindest zeitlich zu verzögern. Wie das bei einzelnen Behörden unter Umständen von statten gehen kann, erfahre ich, als ich Antonia und ihre Familie im Herbst 2012 zum Einwohnermeldeamt begleite, um ihre, bis Ende 2013 noch notwendige, Freizügigkeitsbescheinigung abzuholen612 – ein Dokument, dass Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien auf Grund der eingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit brauchten und von dem es hieß, dass es unter Vorlage des Ausweises „unverzüglich auszustellen“613 sei:

611 Darauf weisen inzwischen auch Marxloher Statistiken hin, denen zufolge zu Beginn des Jahres 2014 sogar mehr rumänische Staatsbürger den Stadtteil verlassen hätten als zugezogen sind. Vgl. Duisburger Arbeitskreis EU-Neubürger (2014): Interne Statistik des Duisburger Arbeitskreises EU-Neubürger 2014. Duisburg. 612 Bis Ende 2013 wurde EU-Bürgern aus Bulgarien und Rumänien als Bescheinigung über ihr Aufenthaltsrecht eine Freizügigkeitsbescheinigung ausgestellt. Nur unter Vorlage dieser Bescheinigung war es vielen erst möglich, bei den Familienkassen Kindergeld zu beantragen. 613 Vgl. „Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht“ in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom 26. Oktober 2009. Online abrufbar unter: http://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/ bsvwvbund_26102009_MI19371156524.htm (letzter Abruf: 20.06.2014).

236 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH „Hallo, hier ist Antonia!“ Um 10 Uhr morgens hat mein Handy geklingelt und mich vom Schreibtisch weggeholt. „Du musst heute mit uns zum Rathaus kommen wegen Freizügigkeitsbescheinigung. Kommst du in einer Stunde?“ „Wie bitte?“ Ich verstehe zunächst nicht, denn Antonias Deutsch ist sehr bruchstückhaft, und auch gedanklich muss ich mich erst einmal auf die für mein Empfinden sehr direkt gestellte Frage einstellen. Erst allmählich beginne ich, zu begreifen: Heute ist der Tag, an dem Antonias Familie laut Behördenbescheid ihre Freizügigkeitsbescheinigung beantragen kann, und sie braucht meine sprachliche Hilfe. Seufzend mache ich mich auf den Weg, denn ich hatte für diesen Tag eigentlich andere Pläne. Als ich bei der Familie ankomme, springt mir aber schon Antonias Mann freudig dankend entgegen, und ich lege den Unwillen, den ich hatte, sofort wieder ab. Diese Familie zeigt sich offensichtlich sehr dankbar für meine Hilfe. Oben in der Wohnung sitzen friedlich aufgereiht Antonias drei Kinder Daniela, Marina und Silvio auf der Couch. Der kleine Silvio schenkt mir sofort ein Kaugummi und ich übe mit ihm, auf Deutsch bis zehn zu zählen, solange ich auf Antonia warte. Als sie den Raum schließlich betritt, trägt sie eine für mein Empfinden sehr auffällige Kleidung: Mit ihrem tief dekolletierten roten Kleid, weißer Teddyfell-Jacke und pink farbenem Glitzerschal, den sie locker über das Haar gelegt hat, hat sich Antonia aus ihrer Sicht heute besonders schick gemacht. Es ist deutlich zu sehen, wie nervös sie wegen des bevorstehenden Termins beim Rathaus ist. Ich versuche, meine Kontakte zu Beratungsstellen der „EU-Neubürger“ zu aktivieren und telefoniere herum, um herauszufinden, was die Familie mitbringen soll, um eine Freizügigkeitsbescheinigung zu erhalten, damit wir nicht irgendetwas versäumen, was vorher hätte bedacht werden können. Mit Händen und Füßen versuche ich, Antonia zu vermitteln, auf was es ankommt: Sie braucht die gültigen Pässe aller Familienmitglieder, eine Meldebestätigung, und es ist wichtig, dass keines der Familienmitglieder je ausgewiesen wurde. Antonia versichert, an alles gedacht zu haben, und wir machen uns auf den Weg. Antonia begleitet mich aufgeregt in den Beratungsbereich hinein, während die restlichen Familienmitglieder vor dem Büro auf den Wartestühlen geduldig ausharren. Zunächst sieht alles gut aus, wenngleich es ein wenig überraschte Blicke erzeugt, dass Antonia zwar angibt, verheiratet zu sein, aber keine offizielle Heiratsurkunde besitzt. Nach deutschem Recht ist Antonia ledig, was sie aber nicht weiter zu stören scheint. Die Pässe der Familienmitglieder werden abgehakt, doch als Antonia überraschender Weise die Geburtsurkunden der Kinder vorlegen soll und diese zu meinem Erstaunen sogar dabei hat, kommt es zu Komplikationen: Bei der Geburtsurkunde der ältesten Tochter handelt es sich um kein europäisches Dokument, sondern um ein rumänisches, und es muss übersetzt werden. Auf meine Frage, wo dies geschehen könne, erhalte ich den knappen Hinweis, das solle ich im Telefonbuch nachschlagen und bekomme kurzerhand den gesamten Stapel von Antonias Dokumenten in die Hand gedrückt. Antonias Familie ist am Boden zerstört, und auch ich kann ihnen nicht erklären, warum man wegen einer noch nicht übersetzten Ge-

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burtsurkunde, die ja offiziell gar nicht vorliegen muss, der gesamten Familie keine Freizügigkeitsbescheinigung ausstellt.614

Was ich hier mit Antonias Familie erlebe, ist offenbar keine Ausnahme. Waren es bis 2013 noch die Probleme mit den Freizügigkeitsbescheinigungen, so sei es inzwischen das Problem mit der Auszahlung des Kindergeldes, wird mir von Sozialarbeitern berichtet. Die Familienkassen würden, wie ehemals die Ämter bei der Ausstellung der Freizügigkeitsbescheinigungen, die abstrusesten Ideen entwickeln, welche Dokumente vorliegen müssten, um die Zahlung des Kindergeldes hinauszuzögern. Da das Kindergeld für die Familien aber oft die einzige Einnahmequelle darstellt, ist es vor allem für die Frauen, die ja meist für das Haushaltseinkommen verantwortlich sind, niederschmetternd, wenn es zu Verzögerungen oder gar zu Abweisungen kommt. Als ich mit Antonia wieder aus dem Büro herausgehe, bricht sie in Tränen aus und fleht mich an: „Bitte, helfen, ich habe kein Geld für Wohnung, kein Geld für Wäsche und für Essen!“ Die Familie hat, seit sie vor vier Monaten nach Marxloh kam, keinerlei Einkünfte, und die Beantragung des Kindergeldes dauert, sofern alles gut gehen und sie bald ihre Freizügigkeitsbescheinigung erhalten wird, weitere vier bis sechs Wochen. Das Kindergeld wird dann zwar nachträglich zurückgezahlt, aber dennoch hat die Familie für mindestens einen oder zwei Monate kein Geld, um ihre Existenz zu bestreiten.615 Der Alltag der Marxloher Kalderaschfrauen besteht also zu einem großen Teil darin, die Existenz der Familie zu sichern, dazu die entsprechenden Behördengänge zu erledigen, die Kinder zu versorgen und es sich in der Wohnung ohne Geld zumindest halbwegs angenehm zu machen, was in vielen Fällen nicht selbstverständlich ist. Denn die Wohnhäuser in Marxloh, in denen die Neuzuwanderer aus Rumänien leben, sind oft in einem derartig desolaten Zustand, dass in einigen Fällen weder Strom noch warmes Wasser verfügbar ist. Als besonders drastisches Beispiel ist das Marxloher „Rattenhaus“616 bekannt geworden. Der Hinterhof des von ausschließlich aus Rumänien zugewanderten Familien bewohnten Hauses war vom Vermieter so mit Müll zugestellt worden, dass Ratten Einzug gehalten hatten. Die Bewohner lebten dort mit offenen Ka-

614 Forschungstagebuch vom 12.09.2012. 615 Ebd. 616 Balke, Christian (2012b): Hilfe für Roma im verdreckten Rattenhaus in DuisburgMarxloh. In: Westfälisch-Allgemeine Zeitung online vom 18.07.2012. Online unter: http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/nord/hilfe-fuer-roma-im-verdrecktenrattenhaus-in-duisburg-marxloh-id6890716.html (letzter Abruf: 20.06.2014).

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beln, unter einem zerstörten Dach und mit offenen Fenstern, so dass die Ratten offenbar auch ins Haus kamen.617 Im Sommer 2012 wurden die Bewohner an einem anderen Ort untergebracht und der Müll von den Bewohnern mit Unterstützung der Entwicklungsgesellschaft Duisburg in einer Aufräumaktion beseitigt. Alle rumänischen Mieter dieses Hauses hatten aber immerhin einen Mietvertrag, was in Marxloh nicht zwingend der Fall ist. Die meisten Kalderaschfamilien, zu denen ich Kontakt hatte, besitzen nämlich keinen Mietvertrag. Die Miete wird bar an den Vermieter bezahlt und kann von ihm willkürlich erhöht werden. Zudem handelt es sich bei den Mietobjekten oft um sogenannte „Schrottimmobilien“, deren Innenräume in solch hohem Maße vermüllt sind, dass die Neuzuwanderer nach dem Einzug erst einmal Ordnung schaffen müssen und den (Sperr-)Müll – wie sie es aus Rumänien kennen – auf die Straße stellen. Der Sperrmüll auf den Straßen Marxlohs, über den sich vor allem die „alteingesessenen“ und „zurückgezogenen“ Marxloher oft beschweren und die Neuzuwanderer dafür verantwortlich machen618, entstammt damit zwar tatsächlich aus deren Wohnungen. Aber er steht deswegen auf der Straße, weil sie als die neuen Mieter erst einmal den Müll der Vormieter aus den Häusern schaffen müssen, bevor die Häuser bewohnbar sind. Die geschilderten maroden Wohnbedingungen in Marxloh betreffen im Besonderen die Frauen und Kinder, da sie in der Regel mehr Zeit zu Hause verbringen als die Männer.619 Die Kinder müssen gewaschen und versorgt werden, aber mit wenig Geld und ohne warmes Wasser ist das für viele nur schwer zu bewerkstelligen. Zudem fehlt es oft an weiteren basalen Dingen in den Familien, wie Essen und Kleidung, was die Frauen gerade in Bezug auf ihre Kinder sehr belastet. Immer wieder sieht man Kalderaschfrauen auf den Straßen in Marxloh, die keine Strümpfe, Winterschuhe oder Winterjacken besitzen und denen es teilweise an Nahrung für sich und ihre Kinder fehlt. Einigen der stillenden Frauen bleibt auf Grund von Mangelernährung die Muttermilch weg, aber Geld, um Milch für den Säugling zu kaufen, ist oft nicht vorhanden. So erzählt mir die „aktive“ Claudia, die mit einer „Romafrau aus Rumänien“ Bekanntschaft machte, weil sie sich in ihrer Not an sie gewendet hatte:

617 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013. 618 Vgl. Abschnitt 5.2. 619 Vgl. dazu auch Agentur der Europäischen Union für Grundrechte: 2009b, S. 63.

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C: Der Sohn der Frau war im Flaschenalter. Die [Frau, Anm. d. Verf.] kam mit einer leeren Dose Milumil [Milch für Babys, Anm. d. Verf.] und hat gezeigt, Kind hat Hunger. So einfach. Und das glaube ich ihr auch. Sie selber ist in einem erbärmlichen Zustand.620

Die Hilfe, die man diesen Frauen zukommen lässt, beschränken sich in Marxloh jedoch auf Maßnahmen, die „unter der Hand“ laufen. Da die Neuzuwanderer keine SGBII-Leistungen beziehen621, können die Frauen und Kinder nicht an der Duisburger Tafel teilnehmen622 und sind darauf angewiesen, dass sie durch Privatleute Nahrung oder andere Hilfe erhalten. Viele der türkeistämmigen Marxloher Geschäftsinhaber stellten eine Zeit lang Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden konnten, vor die Tür – bis dies angeblich die Ausländerbehörde mitbekam und vor allem die sich illegal in Marxloh aufhaltenden Flüchtlinge gezielt vor den Läden abgefangen habe. Seither stehen keine Lebensmittel mehr vor den Türen, aber die meisten Geschäftsleute geben nach wie vor Lebensmittel an die vor den Geschäften bettelnden Frauen ab. Viele der helfenden Personen sagen jedoch, sie seien inzwischen nicht mehr in der Lage, allen zu helfen. Es seien mittlerweile zu viele Menschen, die Hilfe brauchten. Die Hilfe, die die Menschen benötigen, bezieht sich aber nicht ausschließlich auf Nahrung, sondern auch auf Behördengänge, Alltagserledigungen und vor allem bei den Frauen und Kindern auf den gesundheitlichen Bereich. Silvios sechsjähriger Cousin, so erfahre ich beispielsweise eines Tages von Antonia, könne seit Geburt an sehr schlecht hören. Aber ein Hörgerät für ihn zu beschaffen oder gar eine teure

620 „Aktive“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 30.08.2012. 621 Zwar wurde in einem Urteil des Essener Landgerichts entschieden, dass eine RomaFamilie, die auf den Erhalt von Sozialhilfe klagte, berechtigt sei, sie zu erhalten, faktisch sei die Familie aber, da sie seit 2009 erfolglos Arbeit suche, „Ausländer ohne Aufenthaltsgrund“ und könne entsprechend von Seiten der Ausländerbehörde abgeschoben werden, da sie nicht mehr als „arbeitssuchend“ gelten. Klagen Roma also einen Anspruch auf Sozialhilfe ein, laufen sie Gefahr, abgeschoben zu werden. Diese Regel galt so bis Ende 2014. Vgl. Urteil des Landessozialgerichtes NordrheinWestfalen vom 13.10.2013 unter: http://www.lsg.nrw.de/behoerde/presse/archiv/ Jahr_2013/Hartz-IV_-_Anspruch_fuer_Migranten/index.php (letzter Abruf: 19.06. 2014). 622 Als Tafelempfänger berechtigt sind nur Personen mit SGB II-, SGB III-, SGB VI-, SGB VII-, oder SGB XII- Bescheid, sowie mit Arbeitslosengeldnachweis, Kleinrente, Wohngeldbescheid, mit Aufenthaltserlaubnis von Asylbewerbern (Asyl-BLG) oder BAFÖG Bescheid. Vgl. Website der Tafel unter http://www.erkrather-tafel.de (letzter Abruf: 19.06.2014).

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Operation zu finanzieren, könne sich die Familie nicht leisten. Nun bitten sie mich um Hilfe und fragen, was sie machen sollen, und wieder einmal muss ich sie enttäuschen, denn die Familie hat keine Krankenversicherung – ein weiteres Problem vieler Marxloher Kalderasch: Zwar gewährt die Europäische Krankenversicherungskarte theoretisch allen EU-Bürgern den Zugang zum jeweiligen nationalen Gesundheitssystem623 – allerdings nur solange wie „der betreffende Unionsbürger seinen Wohnort im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 nicht in den Aufnahmemitgliedstaat verlegt und solange er die Absicht hat zurückzukehren“624. Sinn der Europäischen Krankenversicherungskarte ist es also, etwa während Ausbildungszeiten oder auf Reisen in dem jeweiligen EU-Land krankenversichert zu sein. Wenn man sich jedoch dauerhaft in einem anderen EU-Land aufhält und sogar dort gemeldet ist, muss man sich in diesem Land versichern. Für die meisten aus Rumänien zugewanderten Menschen ist der Beitragssatz der deutschen Krankenversicherung jedoch zu teuer, so dass sie oft nicht krankenversichert sind. Vor allem die Frauen brauchen jedoch auf Grund von Geburten und deren Nachsorge relativ häufig ärztliche Betreuung. Zwar verweigern die Krankenhäuser nicht die Aufnahme der Frauen ohne Krankenkarte, aber die Behandlung wird ihnen später in Rechnung gestellt. Eine dieser Frauen ist Florentina, eine 20-jährige Frau aus Bukarest, die zu Hause ihr zweites Kind entbunden hat. Da der Säugling jedoch eine Lungenentzündung bekam, wandte sie sich in ihrer Not ans Krankenhaus, das Mutter und Kind zwar sofort aufnahm, aber ihr nach der Entlassung eine Rechnung über 5000 Euro und für den Sohn ein Selbstzahlerrezept für Antibiotika über 45 Euro ausstellte. Beides kann Florentina nicht bezahlen, ihr Sohn muss ohne Antibiotika auskommen. Vor allem nach Entbindungen haben die Frauen oft Tausende von Euro Schulden beim Krankenhaus und wissen nicht, wie sie das zurückzahlen sollten. Eine weitere Frau mit ähnlicher Erfahrung ist Antonias Schwägerin Maria, die ich eines Tages bei der Bank antreffe, um ihr zu zeigen,

623 Informationen zur Europäischen Krankenversicherungskarte vgl. http://europa. eu/legislation_summaries/internal_market/living_and_working_in_the_internal_mar ket/free_movement_of_workers/c10123_de.htm (letzter Abruf: 13.01.2013, danach leider nicht mehr verfügbar). 624 Europäische Kommission (2009): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat. Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Brüssel. S. 4. Online unter: http://europa.eu/legislation_summaries/internal_market/living_ and_working_in_the_internal_market/l33152_de.htm (letzter Abruf: 13.12.2014).

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wie man Bankauszüge aus dem Automaten zieht, da Maria der festen Überzeugung ist, das Krankenhaus habe ihre Schulden mit dem Kindergeld verrechnet: Maria zeigt mir eine Rechnung über 3000 Euro, die sie gerade vom Krankenhaus erhalten hat. Nach der Geburt ihres Kindes hatten die Ärzte es noch kurz zur Kontrolle in der Klinik behalten. Das Kind ist inzwischen vier Monate alt, aber Maria hat seither noch kein Kindergeld erhalten. Sie ist im festen Glauben, das Krankenhaus hätte sich über das Kindergeld das Geld, das sie dem Krankenhaus schulde, zurückgeholt. Dies versetzt sie in Panik, denn die Familie ist jetzt seit vier Monaten ohne Einkommen, und wie ich selbst an den Auszügen sehe, hat Maria gerade noch 20 Euro auf dem Konto. Sie ist den Tränen nahe als sie mir ihre Situation schildert. Es dauert ein wenig, bis ich ihr verständlich machen kann, dass das eine mit dem anderen nicht zusammenhängen kann und dass das Krankenhaus nicht ohne ihr Einverständnis auf ihr Konto zugreifen darf und dass wir die Sache mit dem Kindergeld mit der Familienkasse klären müssen.625

Diese oft nicht ausreichende gesundheitliche und alltägliche Versorgung gepaart mit großen Unsicherheiten, da man nicht weiß, ob man nicht doch von irgendjemandem betrogen worden ist, stellt für die Frauen eine große Belastung dar. Es überrascht daher nicht, dass diese Umstände auch Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit der Frauen haben. Doris, eine Sozialarbeiterin, die viel mit „Romafrauen aus Rumänien“ zu tun hat, sagt: D: Die Frauen, […] die sind psychisch vollkommen fertig. Also die kommen zum Teil gar nicht mehr raus. Wenn ich die mal treffe, dann freuen die sich, dann quatschen wir auch so weit es geht, und wenn ich dann sage, „Mensch kommt doch mal!“ „Ich kann nicht“. Die Frauen sind einfach durch diesen Druck, durch diese Angst, also Druck, ne, wir haben kein Geld, wir werden permanent hier irgendwie beschimpft und angemacht auf der Straße626, wir werden immer für schmutzig, dies, das, jenes erklärt, da versuchen die gar nicht mehr rauszugehen. Also die sind einfach psychisch richtig krank. Ganz viele, die ich kenne.627

Auf Grund der schlechten finanziellen Lage, die bei vielen an blanke Existenznot grenzt und dem ihnen gegenüber oft skeptisch eingestellten Marxloher Umfeld628, halten sich die Frauen immer weniger außerhalb des Hauses, son-

625 Forschungstagebuch vom 12.01.2013. 626 Mehr dazu folgt unter Abschnitt 5.2. 627 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.08.2012. 628 Mehr dazu folgt unter Abschnitt 5.2.

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dern verstärkt in den eigenen vier Wänden auf und gehen nur noch selten aus dem Haus. Wenn sie rausgehen, dann um Verwandte zu besuchen oder mit dem wenigen Geld, das sie haben, einzukaufen. Bei vielen Frauen wurden die Träume, die sie hatten, nämlich in Deutschland Arbeit zu finden, enttäuscht. Dennoch möchte man für seine Kinder weiterhin etwas erreichen und ihnen eine bessere Zukunft ermöglichen. Also bleibt man, in der Hoffnung, vielleicht irgendwann doch noch Arbeit zu finden. 4.7.3 „Meine Kinder sollen Bildung kriegen.“629 Bildung und Berufstätigkeit Es wurde bereits gesagt, dass die Marxloher „Romafrauen aus Rumänien“, die mir begegnet sind, über kaum Bildungsressourcen verfügen. Dennoch zeigen sie sich stark motiviert, Arbeit zu finden. Es versteht sich von selbst, dass die Bewerbungsstrategie bei ihnen, die meist weder lesen noch schreiben können, nicht auf dem Schriftweg erfolgen kann. Die Frauen gehen vielmehr von Tür zu Tür und fragen mündlich, ob jemand Arbeit für sie hat, bekommen aber meist Absagen. Daher leben die „Romafrauen aus Rumänien“ in Marxloh entweder vom Auskommen des Mannes, der oft mit Schrott handelt oder weitaus häufiger, wie Antonias Familie, ausschließlich vom Kindergeld.630 Einige wenige derjenigen Frauen, die eine Arbeitsstelle gefunden haben, verkaufen „Fifty-Fifty“, die Duisburger Obdachlosenzeitung. 1,50 Euro kostet die Zeitung, 75 Cent davon sind für den Verkäufer gedacht. Was oft nicht bekannt ist, ist, dass die Frauen, die „Fifty-Fifty“ verkaufen unter Umständen auch Opfer von sexuellen Übergriffen werden.631 Andere Frauen gehen daher lieber in Privathaushalten putzen, oder sie gehen betteln.632 Dabei fühlen sich aber gerade die bettelnden Frauen nicht wohl bei ihrer Tätigkeit. Das Betteln wird nur als vorläufige Strategie verfolgt, um zu etwas Geld zu kommen, eigentliches Ziel ist es, eine andere Arbeit zu finden.633 Das Betteln beschränkt sich, wie wir gesehen haben, nicht

629 Forschungstagebuch vom 02.09.2012. 630 European Union Agency for Fundamental Rights (FRA): 2009b, S. 56. 631 Kupczyk, Maria (2011): „Ruşine – Ich schäme mich“. Sexuelle Belästigungen für Roma-Frauen in der Düsseldorfer Innenstadt In: NRhZ-Online – Neue Rheinische Zeitung online vom 05.10.2011. Online unter: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag. php?id=16994 (letzter Abruf: 20.06.2014). 632 Letzterem gehen mehr Frauen als Männer nach. Vgl. European Union Agency for Fundamental Rights (FRA): 2009b, S. 61. 633 Ebd.

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nur auf das Um-Geld-Betteln auf den Marxloher Straßen: Abends, kurz vor Geschäftsschluss sieht man immer wieder einzelne oder mehrere Frauen vor den Lebensmittelgeschäften stehen, die die türkeistämmigen Ladenbesitzer um die überschüssigen Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können, anbetteln. Aber auch dies geschieht inzwischen mit abnehmendem Erfolg, denn die Zahl der Frauen nimmt stetig zu, während die Anzahl der abzugebenden Lebensmittel gleich bleibt. Bei allen genannten Tätigkeiten der Frauen handelt es sich jedoch nicht um frei gewählte. Die meisten wünschen sich, Arbeit auf dem formellen Arbeitsmarkt zu finden.634 Da sie aber keine Anstellung finden, gehen sie den oben genannten Tätigkeiten nach, um den Familienunterhalt zumindest ein wenig aufzustocken. Dass die Frauen in keinem anderen Bereich Arbeit finden, hatte bis Ende 2013 noch damit zu tun, dass sie noch nicht überall arbeiten durften.635 Inzwischen besteht diese rechtliche Einschränkung zwar nicht mehr, aber die Frauen haben nach wie vor einen ausgesprochen geringen Bildungsgrad. Wenn sie Lesen und Schreiben können, dann meist auf Kyrillisch. Auch Antonia lässt lieber ihren Mann schreiben, aber nahezu problemlos liest sie mir einen Flyer auf Rumänisch vor. Sie ist in Rumänien trotz der fahrenden Lebensweise ihrer Eltern im Ganzen vier Jahre zur Schule gegangen. Für ihre Kinder wünscht sie sich aber ein anderes Leben und möchte, dass sie die Schule besuchen. Vor allem aus diesem Grund sei sie nach Marxloh gekommen, sagt sie. Antonias Töchter, das sind die 14-jährige Marina und die 16-jährige Daniela. Beide tanzen wie ihre Mutter leidenschaftlich gerne und haben einen Faible für auffälligen Haar- und Körperschmuck. Sie tragen lange bunte Röcke und tief

634 Ebd., S. 8. 635 Nach den beiden EU-Osterweiterungen im Jahr 2004 und 2007 taten sich einige der „alten“ EU-Länder schwer damit, den Bürgern der „neuen“ EU-Staaten die volle Freizügigkeit zu gewähren. Nach der ersten Erweiterungsrunde im Jahr 2004 machten daher zunächst nur Deutschland und Österreich und nach der zweiten Runde im Jahr 2007 auch andere Länder von den sogenannten „Übergangsbestimmungen“ Gebrauch. Nach ihnen durfte zwar nicht die allgemeine Reisefreiheit, wohl aber das Recht auf Ausübung einer Beschäftigung eingeschränkt werden. Die maximale Frist dieser sogenannten „zeitweiligen Bestimmungen“ betrug zunächst zwei, dann weitere drei und schließlich noch weitere zwei Jahre und wurde daher auch „2+3+2Modell“ genannt. Im konkreten Fall Deutschlands bedeutete dies, dass EU-Bürger aus der ersten EU-Osterweiterungsrunde im Jahr 2004 bis Mai 2011 eine Arbeitsgenehmigung brauchten, und EU-Bürger aus Bulgarien und Rumänien noch bis Ende 2013 nur eingeschränkt berechtigt waren, einer Berufstätigkeit nachzugehen.

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dekolltierte Oberteile, wobei ihre Kunstlederjacke und der trenchcoatähnliche Parka, die sie darüber tragen, eher der bei vielen Marxloher Jugendlichen angesagten Kleidung ähnelt. Alle Fingernägel sind sorgfältig und knallbunt lackiert. Liebevoll nennt Antonia ihre Töchter „meine Mädchen“. Beide sind in Rumänien nie zur Schule gegangen. Inzwischen leben sie seit fünf Monaten in Marxloh und haben auch hier bislang nicht die Schule besucht. Gerade in Bezug auf die rumänischen Zuwanderer wird immer wieder moniert, die Kinder würden gar nicht, unregelmäßig oder zu spät zur Schule kommen. Ich frage Antonia, warum Daniela und Marina seit die Familie in Marxloh lebt noch nicht in der Schule waren. Sie erwidert, sie würden von Seiten der Schule noch nicht dürfen. Als ich in der Schule nachfrage, bekomme ich dezidertere Informationen über das mühsame Prozedere bei der Einschulung der Kinder aus den neuen EULändern: Kommt ein Kind zum ersten Mal in die Schule, so wird es zunächst in der sogenannten Schuleingangsuntersuchung eingehend ärztlich untersucht. Darauf warten Marina und Daniela im Moment, denn bislang haben sie noch nicht einmal einen Termin erhalten. Das Gesundheitsamt der Stadt Duisburg, das diese Untersuchungen durchführt, beklagte einen großen Personalmangel, daher verzögerten sich die Untersuchungen zunächst. Im Frühjahr 2012 entschied sich das Gesundheitsamt, die Schuleingangsuntersuchung für Neuzuwanderer nicht mehr durchzuführen. Hierbei handele es sich um eine „freiwillige Leistung“, die nun eingestellt werde. Doch die Schulleiter bestanden auf den Untersuchungen,636 woraus folgte, dass etliche neuzugewanderte Kinder nicht eingeschult werden konnten und weiterhin – wie Daniela und Marina – auf einen Schulplatz warten. Wenn die Kinder dann schließlich eingeschult worden sind, aber noch kein Deutsch können, werden sie zunächst in den sogenannten Seiteneinsteigerklassen, auch Auffangklassen oder Vorbereitungsklassen genannt, beschult. Viele Kinder und Jugendliche gehen in Marxloh wie Marina und Daniela das erste Mal zur Schule, unabhängig von ihrem Alter. Wie lange die Kinder in diesen Klassen bleiben, hängt vom jeweiligen Lernerfolg des Kindes ab. Bei manchen geht es

636 N.N. (2012a): Ärger über Verzögerung bei Einschulungsuntersuchung in Duisburg. In: Westfälisch-Allgemeine Zeitung online vom 15.03.2012. Online unter: http:// www.derwesten.de/staedte/duisburg/aerger-ueber-verzoegerung-bei-einschulungsun tersuchung-in-duisburg-id6459418.html (letzter Abruf: 20.06.2014); Endell, Stefan (2012): Duisburg streicht Gesundheits-Checks für Migrantenkinder. In: WestfälischAllgemeine Zeitung online vom 29.02.2012. Online unter: http://www.derwesten.de/ staedte/duisburg/duisburg-streicht-gesundheits-checks-fuer-migrantenkinder-id6412 169.html (letzter Abruf: 20.06.2014).

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rasch, andere bleiben bis zu drei Jahre in den Seiteneinsteigerklassen und werden erst dann vollkommen in den Regelunterricht überführt. Für den Schulabschluss stehen die Schulen noch vor unklaren Herausforderungen, wie ein Lehrer im Interview zu Bedenken gibt: L: Das hat dann aber zur Folge, wenn wir uns ernsthaft mit diesen Kindern beschäftigen, dass die auch viel älter sind, wenn sie die Schule verlassen. Das ist noch die Frage, wie das dann geht. Wie das auch formal gesehen wird von Schulaufsichtsseite.637

Doch nicht nur in dieser formalen Hinsicht, sondern auch in der praktischen Beschulung der Kinder bestehen aus Sicht der Marxloher Lehrer spezielle Herausforderungen, denn den Kindern müsse, so wird mir gesagt, nicht nur Deutsch und der gängige Schulstoff vermittelt werden, sondern auch Grundfertigkeiten, die im Kindergarten geübt werden, wie Ausmalen, Schneiden oder sich im Sitzkreis zu äußern.638 Außerdem müssten sich die Kinder an ein ihnen völlig ungewohntes Lernumfeld gewöhnen: L: Das fängt da an, dass man die erst einmal alphabetisieren muss. Das ist das erste. Dann müssen sie sozialisiert werden. Das als Allererstes eigentlich. Weil die überhaupt keine Schulerfahrung haben. Und auch keine Erfahrung in unserem Sinne haben, wie man in einer Gruppe umgeht. Wie man in einer Gruppe agiert. I: Wie äußert sich das? L: Aggressivität, keine Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum mitmachen zu können. Die Aufmerksamkeit ist dann gleich ganz weg. Das hat aber auch mit der Sprache zu tun, und die Anforderungen an die Kinder sind dadurch natürlich sehr hoch. Da kommt jemand und will mit denen Unterricht machen, das sind die gar nicht gewöhnt. Es ist ja schon ein Problem, pünktlich zu kommen. Die Eltern schicken ihre Kinder auch. Aber dann ist es ein Problem, sich auf einen Stuhl zu setzen und da zu warten. Das muss man erst mal

637 Interview mit einem Lehrer vom 23.11.2012. 638 Schäfer, Michael; Heilmann, Bettina (2011): Begegnung und Verständigung – Sinti und Roma in NRW. Schulische und schulbegleitende Förderung und Initiativen für Kinder aus Sinti- und Roma-Familien. Hrsgg. von den Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwanderfamilien, NRW-Hauptstelle. Arnsberg. S. 51. Online verfügbar unter: http://www.sintiundroma-nrw.de/_NAVI GATION/Downloads=downloadszwei.htm/begegnung_verstaendigung111031nt.pdf (letzter Abruf: 20.06.2014).

246 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH hinkriegen. In Ruhe zu arbeiten mit anderen Kindern, sich auszutauschen mit anderen Kindern.639

Der französische Soziologe Jean-Pierre Liégeois hat bereits in den 1980er Jahren auf einige dieser Schwierigkeiten bei der schulischen Betreuung ethnischer Minderheiten, insbesondere bei Romagruppen, hingewiesen.640 Im Unterschied zu Nicht-Roma, denen es bei der Kindererziehung um den Wert des Gehorsams gehe, würde bei Romagruppen „Erfahrung, Eigeninitiative und Verantwortlichkeit“641 der Kinder besonders gefördert. Es verstehe sich von selbst, so Liégeois damals, dass es im Schulbereich zu Konflikten kommen müsse, wenn ein Kind, das zu Hause in seinem Entdeckungsdrang und dem Ergreifen von Eigeninitiative gefördert worden sei, in der Schule lernen solle, stillzusitzen und zuzuhören. Neben diesen Diskrepanzen im Schulalltag spricht Liégeois in Bezug auf die Romaminderheiten allgemein von einem Teufelskreis aus mangelnder Bildung der Gruppe und mangelnder sozialer Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft. Fühlten sich die Kinder in der Schule nicht wohl oder gar schlecht behandelt, würden sie nicht mehr in die Schule geschickt.642 Ein geringes Bildungsniveau, mangelnde gesellschaftliche Teilhabe und Anerkennung seien das anschließende Resultat, und der Teufelskreis beginne erneut. Keine der rumänischen Roma in Marxloh äußern jedoch, dass sie Angst hätten, ihre Kinder würden in der Schule schlecht behandelt werden. Zudem sind die meisten der Eltern inzwischen – anders als von Liégeois konstatiert – sehr ambitioniert, ihren Kindern Bildungschancen einzuräumen. „Meine Kinder sollen Bildung kriegen!“ sagt etwa Antonia und gemeinsam mit ihren Töchtern träumt sie davon, dass sie etwas „Großes“ werden643 – vor allem in Bezug auf ihre jüngere Tochter Marina: Ich sitze mit Ali zusammen bei Antonias Familie auf dem Sofa. Wir bekommen Cola eingeschenkt und ich frage mich, wie die Familie es schafft, ohne zu wissen, woher sie die Miete für den nächsten Monat bezahlen kann, ihren Gästen großzügig Cola einzuschenken. Aber Gastfreundschaft wird in Antonias Familie sehr groß geschrieben. Die meisten von ihnen würden im Moment vom Kindergeld leben, erklärt Antonia. Gut der Hälfte der rund 15 im

639 Interview mit einem Lehrer vom 23.11.2012. 640 Liégeois, Jean-Pierre (1999): Die schulische Betreuung ethnischer Minderheiten. Das Beispiel der Sinti und Roma. Berlin. 641 Liégeois: 2002, S. 109. 642 Liégeois: 1999, S. 123-124. 643 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte: 2009b, S. 70-71.

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Raum stehenden und sitzenden Männer und Frauen sei allerdings keine Freizügigkeitsbescheinigung erteilt worden, so dass sie nicht berechtigt seien, Kindergeld zu erhalten. Dies erscheint den Männern und Frauen als eine Katastrophe, denn schließlich haben sie keine anderen Einkünfte. Sie wären bereit, jegliche Jobs anzunehmen, beteuern sie. Die Frauen sprechen davon, einer Putztätigkeit nachgehen zu wollen. Das größte Problem aller ist es aber, dass im Moment die Kinder noch nicht zur Schule gehen dürfen. Antonias Schwager Valentin betont immer wieder, sie hätten mit der Tradition gebrochen, die Kinder früh arbeiten zu schicken. Sie sollen die Möglichkeiten bekommen, die sie selbst nicht gehabt hätten und möglichst lange zur Schule gehen. Die 14-jährige Marina, die ich vom Sehen als selbstbewusste, die Weseler Straße entlang marschierende junge Frau kenne, sitzt jetzt eher schüchtern in der Ecke. Ich denke daran, dass es in vielen Romagruppierungen ein Tabu für junge Frauen darstellt, unaufgefordert Aufmerksamkeit zu erregen. Daher wende ich mich an die Eltern und frage, ob Marina selbst schon Kinder habe, woraufhin die Familie lacht. Nein, Marina sei doch erst 14. Wieder über die Eltern wende ich mich indirekt an Marina und frage, was sie denn nach der Schulzeit werden wolle. Dem Mädchen wird zu verstehen gegeben, zu antworten. Es lächelt verlegen und sagt: „Doktor“.644

Der Wille, Bildung zu erhalten ist also bei den meisten Eltern und ihren Kindern vorhanden. Sie können aber, da sie selbst nicht die Erfahrung gemacht haben, wie man Bildung erwirbt, offenbar oft nicht einschätzen, was dies konkret bedeutet. So sagt ein Lehrer: L: Die Eltern haben keinen Begriff von Bildung, wollen aber, dass ihre Kinder Bildung erhalten. Weil sie das schon erkannt haben, dass man mit Bildung sein Leben anders gestalten kann.645

Dass die Eltern „keinen Begriff von Bildung“ hätten, erläutert er weiter, zeige sich vor allem darin, dass ein regelmäßiger Schulbesuch nicht immer gewährleistet werde. Die Familien reisten immer mal wieder über Monate hinweg aus unterschiedlichen Gründen mit ihren Kindern ins Herkunftsland oder in andere Länder. Nun wird bei der fahrenden Lebensweise der Roma per se, wie sie lange Zeit als Problem gesehen wurde, nicht mehr als Hauptschwierigkeit bei der Beschulung von Romakindern gesehen – vor allem deswegen nicht mehr, weil die meisten Roma in Deutschland und Europa sesshaft sind und somit, wie man meint, die Basis für einen regelmäßigen Schulbesuch gelegt zu sein scheint.

644 Forschungstagebuch vom 02.09.2012. 645 Ebd.

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Zweifelsohne reisen auch die rumänischen Roma in Marxloh nicht mehr von Berufs wegen durch die Lande, aber in Marxloh geschieht es dennoch häufig, dass sie aus anderen Gründen, wie zu Besuchen von Verwandtschaft oder weil sie auf Grund enttäuschter Hoffnungen auf Arbeit und ein gesichertes Einkommen weiterreisen646, sehr mobil sind, was auch Auswirkungen auf den regelmäßigen Schulbesuch und den Lernerfolg der Kinder hat. So schildert eine Sozialarbeiterin, dass sie lange auf einen einmaligen Schultermin hingearbeitet und die Familie der Schülerin aus Rumänien im Voraus mehrfach angerufen habe, um sich den Termin bestätigen zu lassen, zuletzt einen Tag vor dem Termin. Als die Familie dennoch nicht erschienen sei und sie auf dem Handy versucht habe, sie zu erreichen, habe sie sich in Rumänien befunden. Anfangs hätten sie solche Vorkommnisse noch „aus dem Ruder“ geworfen, erzählt sie, aber inzwischen habe sie sich eine gewisse Gelassenheit angeeignet.647 Nach wie vor sehen aber die Lehrer in dem unsteten Schulbesuch der Kinder die größte Schwierigkeit in deren Beschulung. Dazu noch einmal ein Lehrer: L: Ich habe da zwei Hausbesuche gemacht, um Alina in die Schule zu kriegen. Und dann waren die auch weg. Da sind die Ostern abgehauen und nach den großen Ferien standen sie wieder hier. […] Alina hängt in den Seilen, die ist jetzt in einer Auffangklasse. Ich habe die praktisch neu aufgenommen. Und die wird da auch länger brauchen. Sie spricht zwar Deutsch, aber die Zeit fehlt ihr massiv! Sie ist ganz schwach, ne, sie ist nicht so ein starkes Kind, aber die Kollegin war gerade dabei, die richtig zu fördern, und dann war sie weg: April, Mai, Juni, Juli, August. Und als die Schule wieder anfing, stand die hier vor der Tür. Da hatten wir ein wenig einen Hals. Weil Briefe kamen zurück als nicht zustellbar. Dann haben wir den Ermittlungsdienst eingeleitet, aber die standen nicht am Briefkasten.648

Wenden wir zur Erklärung dieses Verhaltens den Blick nochmals auf Antonia und ihren Satz „meine Kinder sollen Bildung kriegen“, so zeigt sich ein Verständnis, nach dem Bildung etwas darstellt, das man bekommt und dann besitzt. Bildung erfährt also eine Versachlichung, die wie ein Gegenstand erworben, zurückgegeben und wiedererworben werden kann. Daher verlässt Antonia ebenso wie offenbar auch andere Marxloher Kalderaschfamilien während des laufenden

646 European Union Agency for Fundamental Rights (FRA): 2009b, S. 32-34. 647 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 24.01.2012. Das Gespräch durfte nicht aufgezeichnet werden. Das Gesagte stammt daher aus meinem im Nachhinein formulierten Gedächtnisprotokoll. 648 Interview mit einem Lehrer vom 23.11.2012.

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Schuljahres den Stadtteil und kehrt nach Monaten wieder nach Marxloh zurück und meint, mit der Bildung der Kinder könne es jetzt „einfach weitergehen“. Ein weiterer oft angesprochener Aspekt, der dem Bildungserfolg der Kalderaschkinder im Wege zu stehen scheint, betrifft vor allem die Mädchen: Auch wenn es in Antonias Familie kein Thema darzustellen scheint, dass Marina und Daniela bald heiraten und Kinder bekommen werden, so wird von Seiten der Schulen und der Jugendeinrichtungen doch immer wieder festgestellt, dass vor allem die Mädchen ab einem gewissen Alter aus den Einrichtungen „verschwinden“. Einige von ihnen würden arbeiten gehen, andere würden heirateten und bekämen Kinder: D: Gerade rumänische Roma, die sind mit 14 [Jahren, Anm. d. Verf.] weg. Aus der Schule, aus den Jugendzentren. Wenn man dann fragt, hier der Kollege von der [Jugendeinrichtung, Anm. d. Verf.], wir tauschen uns auch immer aus, der sagt, wirklich, so mit 14 sind die weg. […] Und wenn wir, also der Kollege und ich, die Jungen fragen: „Ja, wo sind denn diese Mädchen?“, entweder: „Wie, die ist doch verheiratet“ oder: „Die arbeitet.“ Und wenn er dann fragt: „Ja, wo arbeitet die denn?“ „Weiß ich nicht, die arbeitet eben.“ Also man kommt da unheimlich schwer hinter. Und, was wir natürlich auch haben, wir haben viele, viele, viele Frauen, die 16 sind und entbinden.649

Dass die Mädchen früh heiraten und Kinder bekommen, hat, wie oben bereits dargelegt, damit zu tun, dass sie unter Umständen ab dem Adoleszenzalter als fruchtbar und heiratsfähig gelten und eine eigene Familie mit Kindern gründen könnten, was im Besonderen die Frauen in ihrem Ansehen aufwertet. Dass dies jedoch im Widerspruch zu „Bildung kriegen“ steht, ist diesen Familien meist nicht bewusst, denn nach ihrem Verständnis haben die Kinder ja immerhin bis zur Heirat „Bildung gekriegt“. 4.7.4 „Wir sind Ţigani!“ 650 Bezug zum Stadtteil und zu anderen Gruppen Die Gruppe der „Romafrauen aus Rumänien“, mit der ich im Stadtteil zu tun hatte, tritt im Marxloher Stadtbild als eine vergleichsweise auffällige Gruppe in Erscheinung. Allein auf Grund der Kleidung der Frauen unterscheidet sie sich sichtbar auch von anderen Romagruppierungen, die in Marxloh leben. So sagt auch die Sozialarbeiterin Doris:

649 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.08.2012. 650 Forschungstagebuch vom 02.09.2012.

250 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH D: Bei den rumänischen [Frauen, Anm. d. Verf.] sieht es wieder anders aus. Da gibt es eher dieses Damit-nach-außen-gehen, auch kleidungsmäßig. Die Frauen, die erkennt man von Weitem an langen Röcken und langem Haar. Das ist halt bei den bulgarischen Frauen überhaupt gar nicht.651

„Wir sind Ţigani!“ – mit den Worten stellt sich mir auch Antonia in den ersten Minuten unserer Bekanntschaft vor. Was das „Ţigani-sein“ denn ausmache, frage ich sie. Ohne Zweifel sei es das Beherrschen des Romanes, das alle Kalderasch in Marxloh von klein auf erlernt hätten, erwidert Antonia nicht ohne Rührung in der Stimme. Romanes sei für sie die Sprache des Herzens. Für Außenstehende noch auffälliger als die Sprache ist jedoch wahrscheinlich Antonias äußere Erscheinung: glänzender Goldschmuck, lange Haare, langer, bunter Rock. Als ich Antonia auf ihre Kleidung anspreche, glänzen ihre Augen. Sofort beginnt sie die Arme schnipsend über ihrem Kopf auszubreiten und auf der Stelle zu tanzen. Ja, Kleidung und Tanz, das seien zwei ebenfalls wichtige kulturelle Werte für sie und ihre Familie. Sie sähen es als Tradition an, mit ihrer Kleidung ihre Weiblichkeit zu unterstreichen.652 Warum sie denn die weiten Ausschnitte und die auffallend bunten Röcke tragen würden, frage ich auch Antonias Schwägerin Maria eines Tages. Das sei Tradition, antwortet sie wie Antonia. Vielen Frauen sei es wichtig, diese Kleidung zu tragen und so ihre weiblichen Reize zur Schau zu stellen. Bei anderen Gruppen im Stadtteil eckt jedoch genau das an: „Hast du die Möpse gesehen?!“ fragt mich etwa die türkeistämmige „Bildungsaufsteigerin“ Almıla, mit der ich gerade durch Marxloh schlendere, als eine Romni vorbeiläuft. Besonders für muslimische Frauen wie Almıla wird die als freizügig wahrgenommene Art der Kalderaschfrauen sich zu kleiden als beschämend wahrgenommen. Vor allem bezüglich der Nacktheit der weiblichen Brust kommt es zu kulturellen Differenzen: Während das Zeigen der Brust während des Stillens ihrer Kinder für Nicht-Roma in Marxloh wie Almıla ein Tabu darstellt, ist dies etwa bei der rumänischen Romni Maria, mit der ich des Öfteren durch den Stadtteil laufe, nicht der Fall. Sie stillt ihr Kind, wo sie sich gerade befindet, auch wenn andere Personen gerade anwesend sind. Allein diese Auffälligkeiten in der Kleidungs-und Verhaltensweise machen Antonia und Maria zu sichtbar anderen im Stadtteil. Ihre Männer wirken dagegen eher unsichtbar. Es handelt sich also gerade bei dem weiblichen Teil der rumänischen Kalderasch um die Auffälligen. Es ist offensichtlich, dass daher auch vor allem die Frauen auf Grund ihrer Kleidung schnell der Kategorie „Zigeuner“

651 Ebd. 652 Vgl. Gay y Blasco: 1997, S. 524.

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zugeordnet und gemieden werden. Die Roma aus Rumänien sind diejenige Gruppe im Stadtteil, der oft mit altbekannten antiziganistischen653 Ressentiments entgegen getreten und die möglichst gemieden wird.654 „Wenn ich einem Deutschen auf der Straße begegne, wechselt er die Straßenseite“, berichtet Maria. Antiziganistische Bilder sind aber nicht nur unter Erwachsenen, sondern nach Einschätzung der Lehrer offenbar auch unter Schülern in Marxloh verbreitet. Zwar würden sie versuchen, Diskriminierungserscheinungen mit Nachdruck entgegenzuwirken655, aber dennoch käme es zu unkontrollierten Hänseleien unter den Schülern: L: Alina haben sie mal als Roma beschimpft, dann hat die sich bitterlich beschwert. Die haben nicht Roma gesagt, die haben Zigeuner gesagt. Die konnten kein Deutsch, aber Zigeuner kriegten sie raus.656

Auch ich werde eines Tages in eine allerdings weniger eindeutige Situation verwickelt, in der ich erfahre, wie man sich fühlen kann, auch wenn man nur das vage Gefühl hat, auf Grund äußerer Merkmale anders behandelt zu werden:

653 Antiziganismus ist ein „Sammelbegriff für alle gegen die Minderheit als ‚Zigeuner‘ gerichteten Vorstellungen, Vorurteile, Gefühle und Verhaltensweisen. Während der Begriff ‚Antiziganismus‘ seinen Ursprung zwar erst in den 1970er Jahren hat, sind seine Inhalte nicht neu“. Krausnick, Michail; Strauß Daniel (2008): Von Antiziganismus bis Zigeunermärchen. Informationen zu Sinti und Roma in Deutschland. Neckargemünd. S. 6. 654 Negative Zuschreibungen der Roma von Nicht-Roma sind bekannter Weise Jahrhunderte alt und basieren oft nicht einmal auf selbst gemachten Erfahrungen. Die wenigsten Menschen in Deutschland haben dauerhaften direkten Kontakt zu Angehörigen der Roma, aber sie haben meist ein fest ausgefeiltes Bild von ihnen, das sich zwischen den bekannten Wahrnehmungen „Holt die Wäsche rein, die Zigeuner kommen“ und „lustig ist das Zigeunerleben“ bewegt. Vgl. Randjelovic, Isadora (2007): Diskriminierung von Zuwanderern. Roma im Bildungssystem. In: Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (Hrsg.) (2011): Sinti und Roma. Bürger/-innen unseres Landes. Berlin. S. 26-33. 655 Zur Diskriminierung im Bildungssystem wegen schlechter Lebensbedingungen und hoher Arbeitslosigkeit vgl. European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (2006): Roma and Travellers in Public Education. Wien. In englischer Sprache verfügbar unter: http://www.fra.europa.eu/fraWebsite/attachments/roma_report.pdf (letzter Abruf: 20.06.2014). 656 Interview mit einem Lehrer vom 23.11.2012.

252 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH Mal wieder hat mich Antonia gebeten, ihr zu helfen, da sie Schwierigkeiten hat, das Kindergeld zu erhalten. Ich fühle mich damit fachlich überfordert, mache aber einen Termin bei einer Beratungsstelle in einem anderen Stadtteil aus. Ich verspreche Antonia, sie dorthin zu begleiten, denn wie so oft ist sie nervös wegen des bevorstehenden Termins. Als ich Antonia abholen will, stellt sich heraus, dass neben ihr auch ihr Schwager, ihre Tochter Daniela und ihre Schwägerin Maria mit ihrem Baby mitkommen wollen – und dass ich das Auto fahren soll. Verblüfft frage ich nach dem Grund und erfahre, dass ihrem Schwager, dem der Wagen gehört, sein Führerschein entzogen wurde, und die Frauen alle nicht fahren können. Seufzend setze ich mich hinter das Steuer des Autos mit bulgarischem Kennzeichen. (Während der Fahrt erfahre ich, dass wohl einige Rumänen ihr Fahrzeug in Bulgarien anmelden, da es dort für sie steuerlich günstiger ist.) Die Fahrt verläuft nicht nur deswegen turbulent, weil bei dem Auto immer wieder aus heiterem Himmel die Gangschaltung automatisch in den Leerlauf springt, sondern auch deswegen, weil mein Beifahrer mir nonstop verbal Komplimente macht, die ich versuche, zunächst noch freundlich abzuweisen. Auf dem Rückweg – ich bin wegen der nicht aufhörenden Äußerungen meines Beifahrers inzwischen schon recht ungehalten – sehe ich, gerade in Marxloh ankommend, einen Polizisten am Ortseingang stehen. Ich bemerke, dass er einen Blick auf das Kennzeichen wirft und mich dann herauswinkt. Verwundert fahre ich rechts ran, denn ich wurde in den 12 Jahren, die ich meinen Führerschein habe, noch nie von der Polizei angehalten. Es würde Anschnallpflicht für alle Insassen gelten, und das Baby brauche einen Kindersitz, erklärt mir der Mann höflich. Er nehme an, ich hätte die Leute aus einem sozialen Grund gefahren und dies sei nicht mein Auto. Ich darf weiterfahren, aber Maria muss mit ihrem Kind den Rest der Strecke laufen. Kurz darauf geht der Beamte noch um das Auto herum Richtung Beifahrertür und murmelt, dass er den Pascha vorne aber noch zurechtweisen werde. Kurz darauf wird mein rumänischer Beifahrer gemaßregelt, dass er sich anzuschnallen habe.

Wir haben es hier mit einer Situation zu tun, die unbestritten rechtswidrig ist: Zwei Frauen auf dem Hintersitz waren nicht angeschnallt, und das Baby im Auto saß nicht auf einem Kindersitz. Es bleibt aber der unschöne Beigeschmack, dass der Polizist mir höflich die Situation erklärt, wohingegen er die restlichen rumänischen Insassen anherrscht. Zudem ist da noch der unzweifelhafte Blick des Beamten auf das bulgarische Kennzeichen, bevor ich heraus gewunken werde. Gleichzeitig muss ich zugestehen, dass das Auto mit dieser Gangschaltung nicht den deutschen Sicherheitsstandards im Straßenverkehr entspricht und kann es dem Beamten nicht verübeln, dass er ein schepperndes Auto zum Anhalten auffordert. Schlussendlich ist dieses Erlebnis aber vor allem ein Beispiel dafür, dass Diskriminierung subjektiv ist und im Nachhinein objektiv nicht mehr prüfbar ist, ob mich mein Empfinden täuschte oder nicht. Meinen Mitinsassen im Auto ist

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jedenfalls in dieser Situation mit dem Polizeibeamten nichts dergleichen anzumerken. Der Beamte ist für sie im Recht, also besteht kein Grund, sich zu beschweren. Einer Umfrage zufolge, die die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) durchgeführt hat, gab im Jahr 2009 jeder vierte in Rumänien lebende Rom an, Diskriminierung erfahren zu haben. Das Diskriminierungsniveau war in Rumänien im Vergleich zu den anderen Ländern, die Gegenstand der Untersuchung waren, wie die Tschechische Republik mit 64 %, Ungarn mit 62 %, Polen mit 59 %, Griechenland mit 55 % und die Slowakei mit 41 % überraschender Weise mit 25 % am niedrigsten.657 Wie kommt es zu dieser Diskrepanz der Daten? Sehr vorsichtig wird in der Studie die Vermutung geäußert, dass diese positiven Ergebnisse daher rühren könnten, dass Roma in Rumänien und Bulgarien, „wie die Erhebung ergab, relativ isoliert von der Mehrheitsgesellschaft in einer Art Parallelgesellschaft leben, in der sie wenig mit der Außenwelt in Kontakt kommen“658. Gleichzeitig muss aber wohl auch gefragt werden, welche Situationen als Diskriminierung aufgefasst werden. So wussten nur die wenigsten der in dieser Studie Befragten, dass Diskriminierung EU-weit gesetzeswidrig ist. Viele waren sich zudem nicht darüber bewusst, dass es Stellen gibt, an die man sich bei Diskriminierung wenden kann, oder sie empfanden das Erleben von Diskriminierung als selbstverständlich. Auch mit Antonia mache ich noch ein weiteres Mal die Erfahrung, dass sie eine Situation als selbstverständlich betrachtet, die ich allerdings bereits als diskriminierend wahrgenommen hätte: Ich begegne Antonia wieder einmal zufällig auf der Straße, und wir geraten ins Gespräch. Sie hat ein kleines Kind an der Hand und fällt mir freudig in die Arme. Sie hatte gedacht, ich sei schon abgereist. Ich sage ihr, dass sie mich doch jederzeit anrufen könne und Antonia erwidert, dass sie meine Telefonnummer nicht mehr habe. Sie hat ein Werbeprospekt in der Hand und bittet mich, ihr meine Nummer nochmals aufzuschreiben. Keiner von uns beiden hat einen Stift, also fragt sie eine vor der Tür stehende Verkäuferin eines Brautmodenladens, ob sie sich einen Stift ausleihen könnte. Die Frau nickt, verschwindet im Geschäft, kommt allerdings nicht mehr heraus. Etwas irritiert folge ich ihr schließlich und frage die gleiche Frau ebenfalls, ob ich mir einen Stift leihen könnte. Freundlich lächelnd bekomme ich ihn ausgehändigt. Antonia ist über diese ungleiche Behandlungsweise im Unterschied zu mir gar nicht verwundert. Ich vermute, dass sie solche Situationen schon oft erlebt hat.659

657 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte: 2009c, S. 4. 658 Ebd., S. 12. 659 Forschungstagebuch vom 23.10.2012.

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Diskriminierung ist ein Phänomen, das sich auf unterschiedlichen Ebenen zeigen kann, zu dem aber eine allgemein akzeptierte Definition bislang noch fehlt. In der soziologischen Diskriminierungstheorie wird zwischen der individuellen, strukturellen, institutionellen sowie symbolischen Ebene unterschieden, aber was genau unter Diskriminierung zu verstehen ist, wird auch hier nicht einstimmig festgelegt.660 Diskriminierung, so viel steht aber dann doch fest, ist nichts Stetiges. Sie ist kontextabhängig, historisch wandelbar und beinhaltet immer auch eine politische sowie eine kulturelle Dimension. Was also zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort als gesellschaftlicher Konsens betrachtet wird, wird später oder an einem anderen Ort möglicherweise als Diskriminierung bewertet. Diskriminierungserscheinungen sind aber vor allem eines: subjektiv. Nicht ohne Grund fragt die EU in ihren Erhebungen inzwischen nach der subjektiven Wahrnehmung von Diskriminierung661 und nicht nach vermeintlich objektiv feststellbaren Diskriminierungserscheinungen. Diskriminierung hängt somit von mehreren Faktoren ab: ob derjenige, der diskriminiert oder derjenige, der

660 Eine Definition legt die EU vor und versteht unter Diskriminierung eine Ungleichbehandlung auf Grund von Eigenschaften wie Herkunft, Weltanschauung, Behinderung, Geschlecht, sexuelle Orientierung, ethnische Zugehörigkeit, Alter oder Religion. Vgl. dazu Europäischer Rat (2000): Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft. Luxemburg. Online unter: http://eurlex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2000:180:0022:0026:de:PDF (letzter Abruf: 13.12.2014); Europäischer Rat (2000):Richtlinie 2000/78/EG vom 27. September 2000 zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Luxemburg. Online unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:32 000L0078:de:HTML (letzter Abruf: 13.12.2014); Europäischer Rat (2002): Richtlinie 2002/73/EG vom 5. Oktober 2002 zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern beim Zugang zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg. Luxemburg. Online unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/? uri=CELEX:32002L0073 (letzter Abruf: 13.12.2014); Europäischer Rat (2004): Richtlinie 2004/113/EG vom 13. Dezember 2004 zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern außerhalb des Beschäftigungsbereichs. Luxemburg. Online unter: http://europa.eu/legislation_summaries/employment_and_social_policy/equality_bet ween_men_and_women/c10935_de.htm (letzter Abruf: 13.12.2014). 661 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte: 2009c.

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diskriminiert wird, sie als solche betrachtet und in welchem zeitlichen, kulturellen und politischen Kontext ein bestimmtes Verhalten eingebunden ist.662 Dem Gesagten entsprechend nimmt Antonia die Verweigerung der Verkäuferin, ihr einen Stift zu geben, den ich kurz darauf problemlos ausgehändigt bekomme, nicht als diskriminierend wahr, wohingegen ich kurz davor war, die Frau zur Rede zu stellen, warum sie mir den Stift gibt aber Antonia nicht. Erst dann, wenn Antonia mit für mein Empfinden sehr drastischen Formen von rassistischer Diskriminierung, die verbal oder sogar körperlich geäußert werden, konfrontiert wird663, spricht auch sie von Diskriminierung. Wie unterschiedlich aber sogar auch in völlig ähnlichen sozialen Kontexten Diskriminierung subjektiv erfahren werden kann, zeigen die Aussagen Antonias und ihres Schwagers Cosmin, die beide in dem gleichen Stadtviertel in Bukarest gewohnt haben und zeitgleich nach Marxloh kamen. Auf die Frage, ob ihnen in Rumänien Diskriminierung widerfahren sei, nickt Antonia und Cosmin schüttelt den Kopf. Nach wie vor, das steht außer Frage, sind die in Marxloh lebenden Romafrauen mit antiziganistischen Einstellungen im Stadtteil konfrontiert. Mein Eindruck war zwar, dass sie vergleichsweise viel ertragen, aber sobald die Ressentiments antiziganistische Züge annehmen, reagieren sie mit Rückzug in die eigene Community, in der sie sich sicher fühlen. Ist es so weit gekommen, ist es schwer, sie wieder zu erreichen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Hat man aber das Vertrauen einer Person erlangt, so meine Erfahrung, wird man auch von anderen Angehörigen dieser Gruppe sehr herzlich aufgenommen. Im Großen und Ganzen leben alle der von mir befragten „Romafrauen aus Rumänien“ gerne in Marxloh. Keine von ihnen äußert, gegen eine bestimmte Gruppe im Stadtteil negative Einstellungen zu hegen. Gleichzeitig merken sie jedoch, dass sie nirgends so recht angenommen werden. Zudem wurden ihre Hoffnungen auf ein „besseres“ Leben in Marxloh enttäuscht. Rufen wir uns ins Gedächtnis, dass vor allem Rassismus und Armut die Hauptgründe sind, weswegen Roma sich in anderen EU-Ländern niederlassen664, so werden viele von ihnen in Marxloh ernüchtert. Denn antiziganistische Ressentiments sind auch im Stadtteil vorhanden und wirken sich auf den Alltag der Frauen aus. So hatten die Frauen nach einem Überfall665 in Marxloh Angst, ihre Kinder zur Schule zu

662 Dies ist auch als „Thomas-Theorem“ bekannt und geht zurück auf die Sozialpsychologen Thomas und Thomas. Vgl. Thomas, William Isaac; Thomas, Dorothy Swaine (1928): The child in America. Behavior problems and programs. New York. 663 Vgl. dazu auch Abschnitt 5.2. 664 Vgl. Abschnitt 3.2.4. 665 Mehr dazu folgt unter Abschnitt 5.2.

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schicken, aber auch bei der Arbeitssuche tun sich viele auf Grund mangelnder Sprachkenntnisse und antiziganistischer Einstellungen, mit denen man ihnen begegnet, schwer. Die Frauen können oft zu wenig Deutsch – und Türkisch überhaupt nicht – um sich Arbeit in Marxloh zu suchen. Es ist aber auch nicht zu vernachlässigen, dass seitens potenzieller Arbeitgeber Abneigungen bestehen, eine rumänische Romafrau beispielsweise zum Putzen einzustellen. Sie würde auch die gesamte Pollmannkreuzung von Schmutz befreien, wenn sie jemand anstellen würde, sagt Antonia. Aber ihre Suche nach Putzjobs war bisher nicht erfolgreich. In ihrer Hoffnung Arbeit zu finden, wurden viele der Marxloher Kalderasch also enttäuscht. Zwar bekommen sie in Deutschland mehr Kindergeld, aber das Leben ist zugleich auch teurer als in Rumänien. Mit ihrer Suche nach Arbeit befinden sich die „Romafrauen aus Rumänien“ schließlich in einer Sackgasse: Denn zum einen ist „der Wunsch nach einer formalen Beschäftigung […] der definitive Auswanderungsgrund in allen Herkunftsländern und der Einwanderungsgrund für alle Zielländer“666. Aber: „Eine kontinuierliche Ausgrenzung ist vor allem dann verbreitet, wenn Roma keine Beschäftigung im formellen Sektor finden können.“667 Als arbeitsloser Angehöriger von einer Romaminderheit Arbeit zu finden ist also an sich schon schwierig, doch wird es noch mehr erschwert, wenn man wie viele der Marxloher Kalderasch vorher noch nie auf dem formellen Arbeitsmarkt tätig war. 4.7.5 Fazit Die Romabevölkerung, über die Liegéois bereits in den 1980er Jahren geschrieben hat, dass sie ein „Mosaik aus Elementen ist, die in bestimmter Weise miteinander verbunden sind“668, stellt selbstverständlich auch heute keine Einheit. Bleiben wir bei Liegéois’ Metapher des Mosaiks, so könnten wir sagen, dass lediglich ein einziger Mosaikstein, der aus der rumänischen Stadt Bukarest stammt, nach Marxloh gekommen ist. Hier ist aber festzustellen, dass einige der Personen die den Kalderasch oft zugeschriebenen Werte nicht (mehr) für wichtig erachten – da, wie sie sagen, ihre Kinder es einmal besser haben sollen als sie selbst. Mit den ehemaligenWerten verbinden die Marxloher Kalderasch also ihre sozial oft schwierige Lage und hoffen durch einen Wandel dieser Werte bei ihren Kindern, ihnen den sozialen Aufstieg ermöglichen zu können. So kommt

666 Agentur der Europäischen Union für Grundrechte: 2009c, S. 54. 667 Ebd., S. 11. 668 Liégeois: 2002, S. 77.

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der Familie zwar nach wie vor eine große Bedeutung zu, aber es ist nicht zwingend erforderlich, unbedingt innerhalb einer vica zu heiraten. Auch dass die gesamte Großfamilie in sich geschlossen mit mehreren Generationen zusammenlebt, ist in Marxloh nicht der Fall. Es handelt sich bei den Marxloher Kalderaschfamilien, denen ich begegnet bin, vielmehr um transnational lebende Großfamilien, deren Mitglieder in ganz Europa verstreut leben. Sie äußern sich in den Gesprächen flexibel und mobil sowie prinzipiell bereit, weiterzuziehen, falls es keine Arbeit für sie geben sollte. Sie kamen nach Marxloh, um zu arbeiten und sich und ihren Kindern eine Zukunft zu bieten. Dabei sind sie sich um den Wert der Bildung für ihre Kinder durchaus bewusst und wünschen sich eine gute Ausbildung für sie. Hier mangelt es also keineswegs am Willen, aber zumindest nach Ansicht der Marxloher Lehrer an einer konkreten Vorstellung dessen, was es bedeutet, Bildung zu erlangen. Die meisten Kinder kämen ohne jegliche Schulerfahrung nach Marxloh und müssten die deutsche Sprache erlernen, alphabetisiert werden und sich an das ihnen ungewohnte schulische Lernumfeld gewöhnen. Mütter wie Antonia, denen die Kindererziehung obliegt, können ihnen bei schulischen Belangen jedoch nicht helfen. Zum einen deswegen nicht, weil sie selbst gering gebildet sind, zum anderen aber auch aus dem Grund nicht, weil sie große existenzielle Sorgen haben, die ihren Alltag dominieren: Es sind im Besonderen die Frauen, die für organisatorische Angelegenheiten, wie Behördengänge, Arztbesuche und Finanzen zuständig und verantwortlich sind, und dabei immer wieder auf Hindernisse stoßen. Sie sind gesundheitlich und wohnräumlich unterversorgt und finden nur sehr selten Arbeit, weil man zum einen ihnen gegenüber Vorurteile hat und zum anderen die Frauen auf Grund ihrer mangelnden Sprach- und Schriftkenntnisse des Deutschen nicht in der Lage sind, sich zu bewerben oder auch nur Kontakte zu anderen Gruppierungen im Stadtteil aufzubauen. Auch ich stieß immer wieder in der Alltagkommunikation bei dieser Gruppe an sprachliche Grenzen und war auf einen Dolmetscher oder auf nichtverbale Kommunikationsformen mit Händen und Füßen angewiesen. Wegen dieser sprachlichen Schwierigkeiten aber vor allem auch wegen antiziganistischer Ressentiments, auf Grund derer die Gruppe diskriminiert und rassistisch beschimpft, manchmal auch körperlich angegriffen wird, kommt es nur selten zu Kontakten zu anderen Gruppen im Stadtteil. Man kann im Hinblick auf die wirtschaftliche und soziale Lage der Kalderasch in Marxloh also mit Fug und Recht von exklusionsartigen Tendenzen sprechen669, so dass es scheint, als müsse man sich auf diese Gruppe erst einmal besonders einstellen.

669 Vgl. Abschnitt 5.3.2.

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4.8 F RAUEN

AUS

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4.8.1 Fallbeispiel Yıldız Yıldız lerne ich, wie auch die anderen „Frauen aus Bulgarien“, über ihren Ehemann kennen. Da die „Frauen aus Bulgarien“ sich meist eher selten länger in der Öffentlichkeit aufhalten, war es für mich leichter, erst den Kontakt zu den Männern zu knüpfen und über sie weitere Verbindungen zu den Frauen herzustellen. Yıldız ist eine kleine, zierliche Person mit perfekt gezupften Augenbrauen, schwarz umrandeten Augen, langem schwarzen Haar, hell gefärbten Strähnen und einer insgesamt sehr gepflegten Erscheinung. Mir gegenüber gibt sie sich stets sehr schüchtern, was ich darauf zurückführe, dass Yıldız nur bruchstückhaft deutsch spricht. Als ich mich aber eines Abends neben sie setze und beginne, mit ihrer kleinen Tochter Maria zu spielen, öffnet sich Yıldız mir gegenüber ein wenig und beginnt scherzhaft, mir zusammen mit Maria einzelne bulgarische Wörter beizubringen. Yıldız kommt aus der westbulgarischen Stadt Pasardschik und hat viele Verwandte und Bekannte, die ebenfalls in Marxloh wohnen. Nur ihre Eltern sind in Bulgarien geblieben, fügt sie traurig hinzu. Am meisten habe sie Sehnsucht nach ihrer Mutter, gibt sie zu verstehen. Dennoch fühlt sich Yıldız in Marxloh sehr wohl. Zwar habe sie auf Grund der ihr fremden Sprache Schwierigkeiten sich zu verständigen, aber sie habe sich immerhin bislang noch nie alleine gefühlt. Yıldız ist in Bulgarien bis zur fünften Klasse zur Schule gegangen. Länger durfte sie von Seiten ihrer Eltern nicht, da, wie sie erklärt, viele Mädchen von wildfremden Personen entführt und verheiratet wurden und ihre Eltern Angst hatten, dass auch ihr etwas zustoßen könnte. Mehrmals habe sie erlebt, wie plötzlich ihre Freundinnen aus der Schule verschwunden seien und niemand mehr etwas von ihnen gehört habe. Ihre Eltern waren so besorgt um ihre einzige Tochter, dass sie Yıldız nicht mehr zur Schule gehen ließen. Yıldız stammt ursprünglich aus einer muslimischen Familie und konvertierte mit 16 Jahren zum Christentum. Der Grund dafür lag darin, dass Yıldız „von Geistern besessen“ war, wie sie sagt. Das habe sich darin geäußert, dass sie in ihren Träumen belästigt worden sei und aus Angst vor diesen Träumen nachts nicht mehr hätte einschlafen können. Ihre Eltern suchten diverse muslimische Geistliche auf, doch keiner von ihnen habe ihr helfen können. Zuletzt hatte man ihr Suren aus dem Koran auf kleine Zettel geschrieben, die sie als Schutz an ihrer Kleidung trug. Da jedoch auch das nichts half, empfahl eine Nachbarin ihrer Mutter, zu einem evangelikalen Priester zu gehen. Aus Verzweiflung sei ihre Mutter mit Yıldız tatsächlich zu der in direkter Nachbarschaft gelegenen evange-

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likalen Kirche gegangen und habe um Hilfe angesucht. Der Priester bat Yıldız, sämtliche Koranverse, die für sie gefertigt wurden, mitzubringen, damit er sie verbrennen könne. Ab diesem Tag der Verbrennung, sagt Yıldız, sei sie von allen Geistern befreit worden und habe wieder in Frieden schlafen können. Auch im Nachhinein gibt sich Yıldız noch stark beeindruckt: Sie könne es selbst nicht fassen, es sei ein Wunder gewesen. Seitdem hat sich Yıldız intensiv mit der Bibel beschäftigt und ging heimlich in die Kirche. Als ihre Eltern davon erfuhren, wurde sie geschlagen und bekam Hausarrest. Yıldız ließ sich davon jedoch nicht abschrecken und fand weiterhin Wege, heimlich in die Kirche zu gehen. Ihre Eltern hatten sich schon allmählich damit abgefunden, als Yıldız mit 17 Jahren ihren Mann Dursun in der Kirche kennenlernte. Da Yıldız sich sicher war, dass ihre Eltern gegen die Heirat mit einem christlichen Mann gewesen wären, verließ sie heimlich ihr Elternhaus und ging zu Dursun.670 Nach einer Woche kehrten sie gemeinsam zu Yıldız’ Eltern zurück, und es kam zur Versöhnung. Nach dem ersten Ehejahr brachte Yıldız ihr erstes Kind, den heute 13jährigen Aleko zur Welt. Nach sieben Jahren bekam sie einen weiteren Sohn, Can, weitere vier Jahre später folgte ihre Tochter Maria. Die Kinder, ihre Ehe und die Religion stehen im Mittelpunkt von Yıldız’ Alltagleben und füllen ihren Tagesablauf vollkommen aus, so dass keine Zeit mehr für sie selbst bleibe, wie sie sagt. Da ihr Verwandten- und Bekanntenkreis recht groß ist, bleibt Yıldız mit all den ihr vertrauten Personen aus Pasardschik meist unter sich. Zu anderen Stadtteilbewohnern hat sie nur beim Einkaufen Kontakt. Sie gibt an, bislang keine Diskriminierung im Alltag erlebt zu haben, hegt aber Abneigungen gegenüber den Zuwanderern aus Rumänien. Sie könne nicht verstehen, warum sie so „aufgetakelt“671 herum laufen würden, warum sie wegen ihrer lauten Art auffallen müssten und wirft ihnen vor, dass sie nicht wüssten, wie man sich benehme. Yıldız’ intensiver Wunsch für die Zukunft ist, dass ihr Mann eine Arbeitserlaubnis erhält, damit die gesamte Familie ein besseres Leben beginnen kann. 4.8.2 „Immer die Kinder, mein Ehemann, Kinder.“672 Familien- und Geschlechterrollenverhältnisse Ähnlich wie bei einigen der türkeistämmigen „Gastarbeiterinnen“ und „Heiratsmigrantinnen“ in Marxloh673, ist auch bei den acht aus Bulgarien zugewanderten

670 Yıldız spricht auf Türkisch von „kactim“, was so viel wie „abhauen“ bedeutet. 671 Frau aus Bulgarien, weiblich, 32 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 672 Ebd.

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Frauen674, mit denen ich zu tun hatte, eine relativ strikte Grenzziehung zwischen dem weiblichen, inneren Bereich der Familie und dem männlichen, äußeren Bereich zu beobachten.675 Während die Männer des Öfteren auf der Straße allein anzutreffen sind und mich problemlos spontan zu Kaffee oder Pizzaessen draußen treffen, ist das bei den Frauen nicht der Fall. Der weibliche Bereich ist das Zuhause, der männliche Bereich ist die Öffentlichkeit. Die räumliche Trennung des männlichen und weiblichen Bereichs zeigt sich bereits bei einer meiner ersten Begegnungen mit Yıldız’ Familie: Relativ spontan werde ich zu Dursun zum Geburtstag eingeladen. Die Feier soll in einer Stunde beginnen, und ich habe gerade noch genug Zeit, mich fertig- und auf den Weg zu machen. Freudig werde ich begrüßt, einige Kinder springen um mich und die von mir mitgebrachte Konfektschachtel herum. Ich werde gebeten, in einem Zimmer, in dem schon ein paar wenige Männer sitzen, auf einer Couch Platz zu nehmen. In dem Moment sehe ich einen älteren Herrn mit muslimischer Gebetskappe aufstehen und sich verabschieden. Vorsichtig frage ich den Gastgeber, ob er meinetwegen gegangen sei, aber dieser beteuert, er habe sich wahrscheinlich daran gestoßen, dass der Mann ihm gegenüber eine Bierflasche geöffnet habe. Der Mann sei nämlich Muslim. Ich unterhalte mich ein wenig, und der Raum füllt sich immer mehr mit Männern. Etwas irritiert frage ich Dursun, wo denn die Frauen seien. Die würden das Essen zubereiten und dann kommen, sie seien moderne Leute und würden gleichberechtigt leben. Tatsächlich betritt immer wieder Yıldız das Zimmer, um etwas auf den Tisch zu stellen, aber sie selbst setzt sich nicht dazu. Nach dem Essen beschließe ich, mich selbst auf die Suche nach den Frauen zu machen und finde sie im Nebenraum. Sie sitzen auf dem Fußboden mit einer Horde spielender Kinder um sich herum. Es ist entsprechend laut, manchmal werden Pralinen herumgereicht, aber es finden kaum Gespräche statt. Ich versuche immer mal wieder anzuregen, über die Situationen in den Herkunftsregionen zu sprechen. Eine Frau sieht sehr müde aus, und ich erfahre, dass sie vor wenigen Tagen aus Plovdiv gekommen ist. „Aus Stolipinovo?“ frage ich, und sie nickt. Wie sie dort gelebt habe, frage ich. Es sei schon ok dort gewesen erwidert sie, tätschelt einem Kind zärtlich die Wange und spricht auf Türkisch auf es ein. Sichtbar hat sie kein weiteres Interesse mehr an unserem Gespräch.676

673 Vgl. Abschnitt 4.2 und 4.4. 674 Es wurden fünf Marxloherinnen interviewt, die sich dieser Gruppe zuordnen ließen. Weitere drei Frauen kamen im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung hinzu, ohne dass allerdings ein Interviewgespräch aufgezeichnet wurde. 675 Schiffauer: 1983, S. 75. 676 Forschungstagebuch vom 27.10.2012.

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Die geschlechtergetrennte Einnahme der Mahlzeiten konnte ich bei verschiedenen Gruppen im Stadtteil unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeiten beobachten: Roma, Bulgarientürken, Türkeistämmige – in allen diesen Gruppen kommt es hin und wieder bei einzelnen Personen zur zumindest zeitweiligen Geschlechtertrennung. Der Vorteil dieser räumlichen Trennung, so wurde mir erklärt, bestehe darin, dass beide Geschlechter in ihren eigenen Räumen relativ autonom agieren und sich innerhalb der eigenen vier Wände frei und ungezwungen bewegen und unterhalten könnten, ohne sich nach den gesellschaftlich von ihnen erwarteten Verhaltensweisen gegenüber dem anderen Geschlecht richten zu müssen.677 Dass Dursun betont, sie seien eine „moderne Familie“ und die Geschlechtertrennung sei rein zufällig entstanden, zeigt, dass es ihm offenbar bewusst ist, dass ich die Geschlechtertrennung als etwas „Traditionelles“ einstufen könnte. Dursun ist aber gerade aktiv bemüht, unter dem Einfluss des Christentums in seiner Familie Änderungen zu erwirken.678 Meine Frage nach der geschlechtergetrennten Einnahme der Mahlzeit scheint ihm diese aber erst bewusst zu machen und vor Augen zu führen, dass dies in das Bild einer „modernen Familie“, die er zu sein anstrebt, möglicherweise nicht hinein passen könnte. Und tatsächlich gesellt sich nur wenig später Yıldız als mit mir einzige Frau in die Männerrunde hinzu – so, als wolle man mich nun endlich davon überzeugen, dass man „eine moderne Familie“ ist. Kurz darauf, nach unserem Abschied erfahre ich aber, dass es auch in Yıldız’ „moderner Familie“ selbstverständlich ist, dass man als Frau den geschützten Raum des weiblichen Inneren nicht ohne Weiteres ohne männliche Begleitung679 verlässt – und wenn es nur, wie es Evelin Lubig in Bezug auf die ländliche Türkei berichtet680, ein Junge ist, der einen begleitet. Nach dem ersten Treffen mit Yıldız’ Familie werde ich von ihrem ältesten Sohn, dem 13-jährigen Aleko, nach Hause gebracht, weil Marxloh, wie man mir sagt, nachts zu gefährlich sei für eine Frau. Da der Bereich des Inneren als der weibliche Bereich betrachtet wird, solle die Frau das Haus generell nicht ohne männliche Begleitung verlassen, es sei denn, es sei „notwendig und zweckbestimmt“.681 So verlässt man in Yıldız’ Familie das Haus als Frau nicht zum Vergnügen, sondern nur, um etwas zu erledigen, meistens sind es Einkäufe, Besuche bei Verwandten und Bekannten oder andere Erledigungen. Dabei bewegen sich die Frauen gezielt und mit raschen

677 Vgl. dazu auch Lubig: 1997, S. 31. 678 Mehr dazu folgt unter Abschnitt 5.4.2. 679 Straube: 2002, S. 201. 680 Lubig: 1997, S. 40. 681 Schirrmacher: ohne Jahr. Vgl. außerdem: Lubig: 1997, S. 29-30.

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Schritten durch den Stadtteil, und wird es Abend, ist man stets in männlicher Begleitung. Der Hauptgrund für dieses Verhalten ist, so wurde mir erklärt, dass man nicht möchte, dass den Frauen etwas zustößt. Es gehe aber auch darum, die Familienehre, der man in Yıldız’ Familie eine große Bedeutung zumisst, zu schützen. Als ehrbare Frau gehe man nachts eben einfach nicht allein auf die Straße, wird mir erklärt. Die 18-jährige Gül fühlt sich in Marxloh sogar tagsüber auf den Straßen nicht wohl, weil sie das Verhalten von Männern und Frauen in der Öffentlichkeit als unehrenhaft empfindet und sie sich sexuell belästigt fühlt: G: Wenn die Mädchen ihre Keuchscheit nicht schützen, schützen Männer sie doch erst recht nicht.682

Die Ehre der Frau (und damit auch die des Mannes683) besteht für Yıldız und Gül in der sexuellen Reinheit der Frauen und somit in erster Linie im Bewahren ihrer Jungfräulichkeit bis zur Ehe und der anschließenden permanenten Treue während der Ehe.684 Entsprechend werden auch in beiden Familien bei den Mädchen voreheliche Kontakte zum anderen Geschlecht nicht ohne Weiteres geduldet. Bereits Gespräche mit dem anderen Geschlecht können bei den Mädchen recht strenge Sanktionen nach sich ziehen, wie hier auf Grund eines Skype-Telefonats in einem Internetcafé: O: Also ein Vater sagte: „Ich schicke jetzt die Ehefrau mit Oma, also mit meiner Mutter und die ganze Verwandtschaft da zurück.“ Ich fragte: „Warum?“ „Ja, die gehen hier zu Internetcafés da gibt es auch Skype.“ Das ist die einzige kostenlose Möglichkeit zur Kommunikation. Da hat der Papa die Tochter erwischt, die 15 oder 16 [Jahre alt, Anm. d. Verf.] ist, mit einer männlichen Person gesprochen hat. Und das war schon ein Grund zum Kofferpacken und zurück. Also das darf man einfach nicht.685

Bis zur Hochzeit soll die Frau sexuell unberührt bleiben. Dabei geht es aber nicht nur um die tatsächliche Unberührtheit, sondern auch darum, den gesellschaftlichen Ruf zu wahren.686 Die Reaktion des Vaters in obigem Beispiel wäre

682 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 18 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 683 Schiffauer: 1983, S. 75. 684 Straube, Hanne (1987): Türkisches Leben in der Bundesrepublik. Frankfurt am Main. S. 109. 685 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013. 686 Schiffauer, Werner (2002): Migration und kulturelle Differenz. Studie für das Büro der Ausländerbeauftragten des Senats von Berlin. Berlin. S. 31.

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also vielleicht nicht so harsch ausgefallen, hätte er seine Tochter zu Hause und nicht in einem Internetcafé, also quasi in aller Öffentlichkeit, beim „Skypen“687 mit einem Jungen erwischt. Die Angst, dass die Mädchen noch vor der Eheschließung ihre Jungfräulichkeit verlieren könnten, führt dazu, dass die Mädchen aus Bulgarien oft noch in recht jungem Alter heiraten.688 Heiratsversprechungen bestehen manchmal schon seit Jahren und dienen meist dazu, Familienverbindungen aufrechtzuerhalten. Wie auch bei einigen Familien aus der Türkei689 oder einigen rumänischen Kalderasch690 ist die Heirat also keine ausschließliche Angelegenheit des Heiratspaares, sondern eine Familienangelegenheit. Dass die Frauen einem Heiratspartner „versprochen“ sind, bedeutet jedoch nicht, dass es keine Möglichkeiten gibt, dem elterlichen Entschluss zu widersprechen. Eine der Möglichkeiten, sich dem Willen zu widersetzen, haben wir durch Yıldız bereits kennengelernt: Das Paar „haute zusammen ab“, um im Anschluss die Brauteltern um Versöhnung zu bitten. Diese Art zu heiraten, so wird mir von den Frauen erklärt, stelle eine Normalität dar, die für sie zum Heiraten mit dazugehöre. So sagt die 23-jährige Meryem: M: Das ist eben so bei uns. Wenn man sich liebt, wartet man nicht auf das Einverständnis der Eltern. Man hat Angst, dass sie „nein“ sagen.691

Sei die Frau schließlich verheiratet, so Meryem weiter, bestehe ihre Rolle darin, Hausfrau zu sein. Im Unterschied zu den Männern gehe man als Frau nach der Heirat dann meist nicht mehr zur Schule, und man absolviere auch keine Ausbildung. In Marxloh hat man in den Schulen daher große Schwierigkeiten, die Mädchen im Alter von 13 und 14 Jahren weiterhin „bei der Stange“ zu halten, da sie in dem Alter oft heiraten und „Schluss machen mit der Schule“692, wie es eine Sozialarbeiterin ausdrückt. So wird erklärbar, dass unter den aus Bulgarien zugewanderten Männern zwar einige sind, die in Bulgarien ein sogenanntes „Technikum“ erworben haben, das ihnen eine vollendete Ausbildung auf dem Bau bescheinigt, die Frauen aber meist, außer ihrer Schulbildung, die oft selten weiter als bis zur 8. Klasse reichte, keine berufliche Qualifikation erlangt haben. Sie haben geheiratet und Kinder bekommen und verbringen seither die meiste Zeit

687 „Skypen“ ist eine Form des Telefonierens über das Internet. 688 Straube: 1987, S. 109. 689 Vgl. Abschnitt 4.2. und 4.4. 690 Vgl. Abschnitt 4.7. 691 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 23 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 692 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013.

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zu Hause. Ihr Aufgabenbereich bezieht sich auf die Familie und den Haushalt. Möchte die Frau teilhaben an der dem Mann zugeschriebenen Öffentlichkeit, bittet sie ihn vorher um Erlaubnis. So ist es zwar ein großer Wunsch Meryems, den Führerschein zu erwerben, um mobil zu sein, ihr Mann erlaubt es ihr jedoch nicht. Auch wünscht sie sich, arbeiten zu gehen, was ihr Mann aber ebenfalls nicht möchte. Auf die Frage, warum er ihr dies verbiete, erwidert Meryem: M: So sind sie eben, die Männer. Sie erwarten es so.693

Dieses selbstverständliche Annehmen der von ihren Ehemännern getroffenen Entscheidungen scheint mir typisch für die Einstellungen der „Frauen aus Bulgarien“ zu sein. Aufgabe der Männer sei es, so wird mir immer wieder erklärt, Entscheidungen zu treffen, Aufgabe der Frauen sei es, diese Entscheidungen zu respektieren und vor allem die Ehre zu wahren. So sagt auch Yıldız: Y: Egal, was passiert in deiner Ehe, du musst deine Ehre bewahren, deinen Ruf nicht beschmutzen. Für deine Ehre, deine Ehe und für einen guten Ruf, musst du Geduld zeigen.694

Was genau in Yıldız’ Ehe „passiert“ war, möchte sie mir jedoch nicht verraten. Die 18-jährige Gül hingegen zeigt sich im Hinblick auf ihre Ehe gesprächiger: Bereits nach den ersten Monaten nach der Hochzeit sei sie immer wieder von ihrem Mann geschlagen worden. Sie habe aber Unterstützung bei ihren Eltern gefunden, ihren Mann verlassen und sei in ihr Elternhaus zurückgekehrt, so dass sie sich somit wieder unter deren familiärem Schutz befinden würde. Die gemeinsame Tochter sei jedoch bei ihrem Mann geblieben, weil, wie Gül sagt „das Kind zum Mann gehört“695. Gül hat ihre Tochter vor einem Jahr zuletzt gesehen. Inzwischen sagt sie, habe sie sich aber „damit abgefunden“.696 Es wird deutlich, wie sehr das Selbstverständnis der Frauen an ihre Rolle als Ehefrau geknüpft ist. Ihre Aufgabe ist es, eine gute Ehefrau zu sein, die Ehre zu bewahren und dabei auch einen gewissen Langmut zu zeigen. Neben ihrer Funktion als Ehefrau tritt zusätzlich die Funktion als Mutter. Wie bei den „Heiratsmigrantinnen“697, den „Gastarbeiterinnen“698 sowie den „Romafrauen aus Rumä-

693 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 23 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 694 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 32 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 695 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 18 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 696 Ebd. 697 Vgl. Abschnitt 4.4. 698 Vgl. Abschnitt 4.2.

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nien“699 steigt auch bei den „Frauen aus Bulgarien“ ihr Ansehen, wenn sie Kinder (insbesondere Söhne) geboren haben, und es ist die Schmach der Frau, wenn sie nicht schwanger wird. So berichtet mir Yıldız von einer Bekannten, die nach vier Jahren Ehe noch kein Kind zur Welt gebracht habe. Mittlerweile seien deren Schwiegereltern aus Bulgarien angereist, um der 21-jährigen Frau Fruchtbarkeitstees zu kochen und täglich Temperatur zu messen. Die Frau dürfe nun ihr zu Hause nicht mehr verlassen, bis sie schwanger würde. Kinder sind aber nicht nur gesellschaftlich für das Ansehen der Frau als Mutter wichtig, sie sind auch das zentrale Element im Alltagsleben der „Frauen aus Bulgarien“. Ihr Leben als Ehefrau und Mutter scheint den Alltag der Frauen völlig auszufüllen. So sagt Meryem: M: Immer die Kinder, mein Ehemann, Kinder.700

Es versteht sich von selbst, dass die Frauen, die von sich sagen, am Tag keine verbleibende Zeit mehr für sich selbst zu haben, keine Kapazität für Beruf oder Weiterbildungen sehen. Doch obgleich es für die meisten Frauen und Männer aus Bulgarien selbstverständlich ist, dass die Frau zu Hause bleibt, ist sie, wie wir gleich sehen werden, in manchen Familien diejenige, die einer Berufstätigkeit nachgeht, damit die Familie neben dem Kindergeld zumindest ein wenig zusätzliches Geld zur Verfügung hat. 4.8.3 „Mein größter Wunsch ist, dass mein Mann eine Arbeitserlaubnis erhält.“701 Arbeits- und Bildungssituation Im Vergleich zu den in Marxloh lebenden „Romafrauen aus Rumänien“ oder auch den meisten „Heiratsmigrantinnen“ aus der Türkei sind die „Frauen aus Bulgarien“ zwar schulisch etwas höher qualifiziert, haben aber meist ebenfalls keine Berufsausbildung abgeschlossen. Da die Männer zwar höher qualifiziert sind, sich jedoch oft ebenfalls schwer tun, eine Anstellung zu finden, leben viele der Familien aus Bulgarien zunächst ebenso wie die meisten der Zuwanderer aus Rumänien ausschließlich vom Kindergeld, ohne zusätzliches Einkommen. Die Familien benötigen also einen gewissen Erfindungsreichtum, um aus ihrer finanziellen Notlage herauszufinden, ohne mit einer besonderen Berufsausbildung aufwarten zu können. In Marxloh arbeiten die meisten der Männer auf dem Bau,

699 Vgl. Abschnitt 4.7. 700 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 23 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 701 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 32 Jahre. Interview vom 07.12.2012.

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während die Frauen, wenn sie denn berufstätig sind, einer Putztätigkeit nachgehen. Im Arbeitsbereich sind die Neuzuwanderer für viele andere Stadtteilbewohner dabei ein „gefundenes Fressen“. Vor allem türkeistämmige Auftraggeber, so wird mir berichtet, ließen vornehmlich „Frauen aus Bulgarien“ „schwarz“ in ihren Privatwohnungen putzen, da diese oftmals kein Deutsch sprächen und keinerlei Handhabe hätten gegenüber Ausbeutung. Eine dieser Frauen ist die 36jährige Hülya. Sie sei beim Putzen von einer türkeistämmigen Frau betrogen worden, sagt sie, indem diese ihr nach erbrachter Arbeit den Lohn vorenthalten habe. Derartige Erlebnisse werden von den Frauen immer wieder berichtet und betreffen nicht nur das Putzen in Privathaushalten. Viele Frauen putzen auch in größeren Unternehmen sowie in Hotels verschiedener Ruhrgebietsstädte und werden dort zum Teil massiv um ihren Lohn betrogen. Selbst wenn die Frauen Geld erhalten, so handelt es sich meist um einen sehr geringen Betrag, der zwischen 1 und 5 Euro pro Stunde liegt. Davon müssen die Frauen noch Gewerbesteuer abführen – sofern sie das überhaupt wissen und nicht „schwarz“ arbeiten. Einige der Frauen geben nach diesen Erfahrungen auf, fahren zurück ins Herkunftsland oder ziehen weiter in ein anderes EU-Land, um dort ihr Glück zu versuchen. Wieder andere wechseln aber offenbar auch in die Prostitution. Nun ist die Prostitution jedoch ein Bereich, über den ich nur sehr schwer Näheres herauszufinden konnte, da die Frauen darüber meist nicht offen sprechen. Es kann aber gesagt werden, dass die Prostitution bei den Familien aus Bulgarien keine Tätigkeit darstellt, welche die Frauen selbst anstreben. Sie ist vielmehr aus der Not heraus geboren, „weil die Kinder weinend vor Hunger zu Hause sitzen“702, wie es eine Sozialarbeiterin sagt. Die Tätigkeit wird also nicht deswegen ausgeübt, weil es der Wahlberuf der Frauen ist, sondern weil viele Familien darin die einzig verbleibende Möglichkeit sehen, um Geld zu verdienen. Die Scham der Frauen scheint groß, denn selbst Frauen, von denen mir gesagt wurde, dass sie sich definitiv prostituieren würden, verneinen das mir gegenüber im Gespräch. Man präsentiert sich offenbar lieber als „ehrbare Frau“, stets bemüht, die Rolle als Mutter und Hausfrau aufrechtzuerhalten. Alles, was im Folgenden über die Prostitution gesagt wird, stammt daher aus Erzählungen über die Frauen, denn die Frauen selbst sprechen zumindest mir gegenüber nicht darüber. Der einzige Ort, an dem nachweislich „Frauen aus Bulgarien“ „anschaffen“ gehen, sind die im Duisburger Stadtzentrum gelegenen Bordelle. Die Bordellprostitution ist daher auch die für Außenstehende am ehesten zugängliche Form der Prostitution. In Duisburg gibt es im Zentrum der Stadt insgesamt elf Bordelle

702 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013.

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mit zusammen 441 Zimmern.703 Die Bordelle sind zu 50 bis 65 Prozent ausgelastet. Insgesamt sind in diesen Bordellen 224 Frauen tätig, viele von ihnen kommen aus Bulgarien und Rumänien, und deren Anteil steigt stetig. Die größte Gruppe bilden mit 69 Frauen die Rumäninnen, gefolgt von 56 Frauen aus Bulgarien.704 80 bis 180 Euro sind von den Frauen dort an Zimmermiete täglich aufzubringen.705 Gemessen daran, dass eine übliche „sexuelle Verrichtung“706 (die Frauen sprechen von „Verkehr und Französisch“707) 20 bis 30 Euro kostet, stehen die Frauen zum Teil unter massivem Druck, um genug Geld zu verdienen, so dass auch noch genug für ihre Familien übrig bleibt. Denn erst dann, wenn man die Miete abgearbeitet hat, fängt man an, für sich und seine Familien zu verdienen. Die Frauen arbeiten 12 bis 16 Stunden am Tag und bedienen rund fünf bis sechs Freier täglich – zuweilen auch mehr. Etwa 144 sind es dieser Rechnung zufolge im Monat.708 Nebenher noch eine Wohnung zu unterhalten und die Familie zu ernähren, erscheint nahezu unmöglich. So sind die Frauen oft die einzigen, die längerfristig in Deutschland bleiben, die Familie kehrt meist irgendwann

703 Stand November 2012. Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 19.12.2012. 704 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 19.12.2012. 705 Die Steuern sind in der Miete mit enthalten. Die Zahlung der Steuern von Prostituierten läuft über das sogenannte „Düsseldorfer Verfahren“: Der Bordellbetreiber zieht zusammen mit der Zimmermiete 6 Euro pro Tag Steuern ein und führt diese in regelmäßigen Abständen an das Finanzamt ab. Es handelt sich hierbei offiziell um eine Einkommenssteuervorauszahlung, die zwar die Frauen offiziell nicht von der Einkommensteuererklärung befreit, aber faktisch wird von ihnen keine Einkommenssteuererklärung mehr erwartet. Das ist einerseits für die Frauen zwar formell einfach und kommt gerade Frauen, die keine oder nur geringe Deutschkenntnisse haben, entgegen, hat aber auch deutliche Nachteile: Denn nur dann, wenn die Frau die Prostitution als Gewerbe (die Prostitution ist gewerbefähig aber nicht gewerbepflichtig) angemeldet hat und eine Einkommenssteuererklärung macht, kann sie damit belegen, dass sie gearbeitet hat und wie viel sie verdient hat. Das wäre sowohl zur Beantragung von Leistungen des Jobcenters notwendig als auch dafür, wenn sich die Frau bei einer Krankenkasse anmelden möchte. Die meisten Frauen, die in den Bordellen tätig sind, sind darüber jedoch nicht informiert und haben meist auch keine Krankenversicherung, da das Geld dafür einfach nicht ausreicht. 706 Dies ist zwar die offizielle Bezeichnung, Frauenrechtlerinnen bezeichnen diesen Begriff aber als unangemessen, da er Assoziationen zur Verrichtung der Notdurft hervorruft. 707 „Verkehr und Französisch“ meint Sexual- und Oralverkehr. 708 Unveröffentlichte Angaben von Solwodi.

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doch wieder nach Bulgarien zurück. Als Wohnung fungiert für die Frauen dann ausschließlich das Bordellzimmer, und das dazuverdiente Geld schicken sie den Familien nach Bulgarien. Die Entscheidung, dass sich die Frau prostituiert, geht jedoch in nur seltenen Fällen von den Frauen selbst aus. Auf Grund der bestehenden Geschlechterrollenverhältnisse709 sind es oft die Männer der Frauen, die darüber entscheiden, ob sich die Frau prostituiert oder nicht. Die Frauen, so wurde mir erklärt, folgten aus ihrem Selbstverständnis heraus der Entscheidung ihres Mannes. In Marxloh wird daher von anderen Männern und Frauen aus Bulgarien oft abwertend gesagt, diese Männer würden ihre Frauen „verkaufen“. Dursun, Yıldız’ Mann, scheint über diese Praxis besonders erbost und meint, beobachtet zu haben, dass in Marxloh die Ehemänner auf der Straße stünden und die Freier hinein winken würden. Auch seiner Frau Yıldız sei von anderen in Marxloh lebenden Zuwanderern aus Bulgarien immer wieder versucht worden, die Prostitution schmackhaft zu machen. Aber das seien schlechte Ehemänner, die dies von ihren Frauen verlangen würden. Außerdem würde dann die Familie auseinanderbrechen, dazu könne er unzählige Beispiele anführen. Worauf Dursun sich hier bezieht, ist nicht die Bordellprostitution, sondern die private Wohnungsprostitution. Über diese ist jedoch noch weniger bekannt als über die Situation in den im Duisburger Stadtzentrum gelegenen Bordellen. Wir haben es hier mit einem, deutlichen „leck of knowledge and research“710 zu tun, denn es gestaltet sich als ausgesprochen schwierig, Zugang zu den Gruppen zu finden. In Marxloh gibt es zwei türkische Cafés, von denen man sagt, dass sie abends zum Bordell werden. Die Frauen, so erklärt man mir, würden in den Zimmern über dem Café wohnen. Über einen türkeistämmigen „Stammkunden“ dieser Cafés versuche ich mehrfach, Zugang zu erhalten, doch ich werde immer wieder kurzfristig angerufen, und der Termin wird abgesagt. Einmal mit der Begründung, dass gerade eine Polizeirazzia stattfinde, dann, weil der Chef es für keinen guten Zeitpunkt halte und schließlich, weil „heute sowieso nichts los sein wird“.711 Das gesamte Treiben in den Cafés scheint man mir als Außenstehender offenbar nicht gerne präsentieren zu wollen. Daher frage ich eines Tages Dursun, der vorgibt, einige der dort beschäftigten Frauen zu kennen, was man in dem Café denn verdienen könne:

709 Vgl. Abschnitt 4.8.2. 710 United Nations Office on Drugs and Crime (2012): Global Report on Trafficking Persons. Wien. S. 89. Online unter: http://www.unodc.org/documents/data-and-ana lysis/glotip/Trafficking_in_Persons_2012_web.pdf (letzter Abruf: 24.06.2014). 711 Forschungstagebuch vom 13.01.2013.

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I: Wie viel verdient man denn in der Woche ungefähr? D: Etwa dreihundert Euro. I: Und wieviel sind dreihundert Euro in Bulgarien? D: Ungefähr 600 Lewa, immer das Doppelte. I: Und wie lange arbeitet man in Bulgarien für 600 Lewa? D: Etwa ein bis zwei Monate.712

Auch wenn ein Einkommen von 300 Euro wöchentlich doch recht hoch gegriffen erscheint, so wird dennoch deutlich, dass viele der Frauen offenbar in der Hoffnung kommen, in Deutschland Geld zu verdienen, um dieses für die Familien zurückschicken zu können. In der Prostitution sehen sie eine Möglichkeit, genug Geld zu verdienen, um sich und ihren Familien in Bulgarien einen besseren Lebensstandard zu ermöglichen – oder um Zeit zu überbrücken und in Deutschland vielleicht irgendwann einen anderen Job zu finden. Neben den türkischen Cafés wurden mir in Marxloh auch immer wieder verschiedene Straßen genannt, auf denen bulgarische Frauen auf einer Art selbst ernanntem „Marxloher Straßenstrich“ stehen sollen, um ihre sexuellen Dienste anzubieten. Als ich aber an Wochenenden nachts zu unterschiedlichen Zeiten an den Stellen vorbeigehe, sind nie Frauen dort anzutreffen. Es bleibt zu vermuten, dass sich die sich prostituierenden Frauen in Marxloh weniger auf die Straße stellen, um „anschaffen“ zu gehen als sich in die Wohnungsprostitution zu begeben und sexuelle Dienste in der eigenen Privatwohnung anbieten.713 Statistisch betrachtet ist die Wohnungsprostitution nach der Bordellprostitution allerdings auch die zweithäufigste Form zur Prostitutionsausübung von nach Deutschland illegal gehandelten Frauen.714 Immer wieder wurde ich in Marxloh darauf hingewiesen, dass neben den Frauen, die sich freiwillig prostituieren, einige auch dazu gezwungen würden. Sei es, weil es der Ehemann von seiner Frau verlange, damit wieder Geld in die Familienkasse komme und/oder weil die Frauen Opfer von Menschenhandel geworden seien. Der Menschenhandel ist etwas, wovor viele in Marxloh lebende „Frauen aus Bulgarien“ besonders in Be-

712 Forschungstagebuch vom 27.10.2012. 713 Dass dies jedoch unter Umständen auch gefährlich sein kann, zeigt ein Film mit dem Titel „Der Weg der Wanderhuren“. Vgl. Remmel, Edeltraud; Mogul, Esat (2012): „Der Weg der Wanderhuren. Zwischen Dortmund und Stolipinovo.“ Fernsehdokumentation, WDR, 2012. Online unter: http://www.wdr.de/mediathek/html/regional/ 2012/02/07/wdr-weltweit.xml (letzter Abruf: 15.12.2014). 714 Bundeskriminalamt (2012): Menschenhandel. Bundeslagebild 2012. Wiesbaden. S. 9.

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zug auf ihre Töchter große Angst haben. Die Angst des „Geklautwerdens“ scheint wie ein Gespenst über den Familien zu schweben und begleitet sie unentwegt, wenn sich ihre Töchter allein im Stadtteil bewegen. Wir haben schon bei Yıldız gesehen, dass die Angst der Eltern, Yıldız könne entführt werden, dazu führte, dass sie in Bulgarien nach der fünften Klasse die Schule abbrach. Diese Angst der Eltern kommt nicht von ungefähr: Fälle von Menschenhandel aus Bulgarien wurden in den letzten Jahren mit stetig steigender Tendenz registriert.715 Die steigenden Zahlen haben zum einen damit zu tun, dass die Prostitution seit dem Jahr 2002 bundesweit als Beruf anerkannt wurde und sich Deutschland seither, wie es in den Medien heißt, „zum größten Puff Europas“716 entwickelt habe. Deutschland gilt in Europa als Hauptzielland des Menschenhandels.717 Die gehandelten Frauen kommen meist aus Rumänien und Bulgarien. Sozialarbeiterinnen in Duisburg meinen aber auch beobachtet zu haben, dass die Frauen in der letzten Zeit auch aus Griechenland und Spanien stammen. Es handelt sich also im Allgemeinen um Länder, zwischen denen und Deutschland das wirtschaftliche Gefälle hoch ist. In der Hoffnung auf ein besseres Leben, heißt es, würden die Frauen in die Hände von Zuhältern geraten. 10.000 bis 30.000 Frauen sollen jährlich nach Deutschland verschleppt und zur Prostitution gezwungen werden.718 In Marxloh wurde mir allerdings lediglich von einem solchen Fall berichtet: O: Ich hatte vor einem halben Jahr so einen Fall, da rief mich die Frau vom Jugendamt an und sagte: „Eine Frau steht hier am Rathaus, weinend mit einem Baby im Arm. Ohne Pass, ohne Anmeldung, ohne nichts.“ Schritt für Schritt: „Also woher kommst du?“ „Bulgarien.“ „Wo?“ „Burgas, also Schwarzes Meer“. Geklaut worden, ohne Papiere ohne nichts. Jahrelang Prostituierte gewesen, schwanger geworden, Baby zu Hause entbunden, glücklicherweise alles in Ordnung mit ihr und mit dem Baby. Und mit diesem Baby stand

715 Ebd., S. 6. 716 Vgl. Kennebeck Sonia; Soliman Tina (2011): „Liberales Prostitutionsgesetz. Wie Deutschland zum Puff Europas wurde.“ Fernsehdokumentation, ARD, 2011. Online unter: http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2011/prostitution129.html (letzter Abruf: 15.12.2014). 717 United Nations Office on Drugs and Crime: 2012, S. 89. 718 Vgl. die Website des Aktionsbündnisses gegen Frauenhandel unter: http://www. gegen-frauenhandel.de/ueber-das-aktionsbuendnis/ueber-frauenhandel (letzter Abruf: 07.04.2013).

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die nun vor dem Rathaus. Die wusste nicht mal, wo sie war. Ob Holland oder Deutschland.719

Obwohl es sich hier offenbar um einen Einzelfall handelte, führte dessen Bekanntwerden dazu, dass die Angst vor Menschenhandel, die man bereits in Bulgarien hatte, sich auch auf das Leben in Marxloh auswirkte und man große Angst um seine Töchter bekam. Bereits eine halbe Stunde vor Schulbeginn sehe ich immer wieder viele der „Frauen aus Bulgarien“ mit ihren Töchtern vor den Marxloher Schulen stehen und ebenso lange vor Schulende auf ihre Töchter warten. Man bringt die Kinder zur Schule und holt sie wieder ab, aus Angst dass sie „geklaut“ werden könnten. Bislang wurde allerdings „nur“ ein Fall bekannt, in dem zwei junge Frauen aus Marxloh verschwunden und in Holland in einem Bordell ausfindig gemacht werden konnten. Für diese Mädchen war jedoch klar, dass sie nicht mehr in die Familien zurückkehren konnten, denn die Mädchen galten nun, da sie nicht mehr jungfräulich waren, als beschmutzt. Auch aus dem Grund, so wird vermutet, seien vor allem Roma eine häufige Opfergruppe von Menschenhandel, da davon auszugehen ist, dass viele von ihnen nicht so ohne Weiteres zu ihren Familien zurück gehen, wenn sie erst einmal „anschaffen“ waren. Die Sorge, dass ihre Töchter „geklaut“ werden könnten, begleitet viele der Marxloher „Frauen aus Bulgarien“ permanent. Dieser „ständige Hochalarm“720 führt dazu, dass diese Eltern dann große Probleme damit haben, ihre Töchter auf Klassenfahrten mitgehen zu lassen, selbst wenn es sich um eintägige Schulausflüge handelt. Mehrtägige Fahrten sind für viele Familien ausgeschlossen. Das hängt allerdings nicht nur mit der Angst zusammen, die Mädchen könnten Opfer von Menschenhandel werden, sondern, wie oben bereits dargelegt, auch damit, dass die Eltern Angst haben, die Mädchen könnten Kontakt zum anderen Geschlecht aufnehmen und dadurch ihre Jungfräulichkeit verlieren.721 Es verwundert nach dem Gesagten nicht, dass das Thema „Prostitution“ bei den Frauen ein Tabuthema darstellt: Viele der Frauen meinen zwar, eine weitere zu kennen, die sich prostituiert, aber dann wird lieber doch wieder rasch das Thema gewechselt. Dass man selbst aus Armutsgründen der Prostitution nachgeht, scheint nicht so ganz in das Image einer „ehrbaren Frau“, das man Außenstehenden wie mir gerne vermitteln möchte, hineinzupassen. Unabhängig davon, was die Frauen beruflich machen und ob sie überhaupt berufstätig sind – sie sind alle nach Marxloh gekommen, um ihren Kindern eine

719 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013. 720 Ebd. 721 Vgl. Abschnitt 4.8.2.

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bessere Zukunft bieten. Sei es, indem sie Geld für ihre Kinder und Familien nach Bulgarien schicken oder ihre Kinder in Deutschland aufwachsen lassen wollen. Bei denjenigen, die ihre Zukunft auf eine längerfristige Verweildauer in Marxloh ausrichten, nimmt die Bildung ihrer Kinder einen hohen Stellenwert ein. Manche berichten sogar, primär wegen der Ausbildung ihrer Kinder nach Deutschland gekommen zu sein. So sagt die 31-jährige Luba, die bis zur neunten Klasse zur Schule ging, bevor sie heiratete und Kinder bekam: L: Mein größter Wunsch ist, dass meine Kinder studieren und sich hoch arbeiten.722

Bildung sei etwas Wichtiges, das geben die Frauen immer wieder zu verstehen. Aber auf Grund mangelnder eigener Erfahrungen im Bildungsbereich fällt es ihnen oft schwer einzuschätzen, was das für ihre Kinder konkret bedeutet. Ähnlich wie bei den rumänischen Romakindern sind auch viele der Kinder aus Bulgarien bis zu ihrem Zuzug nach Marxloh noch nie zur Schule gegangen, und viele von ihnen müssen nun ihnen völlig fremde Dinge von Grund auf erlernen. Manche halten in den Marxloher Schulen zum ersten Mal einen Buntstift in der Hand.723 Neben dem Erlernen von Grundfertigkeiten müssen die Kinder die deutsche Sprache lernen, sich an den Schulalltag gewöhnen, alphabetisiert werden und schließlich natürlich auch die Lehrinhalte erfassen – und das alles zwar mit Unterstützung der Schule und einem hohen Leistungsanspruch seitens ihrer Eltern – aber ohne konkrete fachliche Hilfe von ihnen. So erzählt mir die aufgeweckte zehnjährige Ayşe, als ich ihr bei ihren Hausaufgaben helfe, sie wäre im Sommer zwar in die fünfte Klasse versetzt worden, aber ihr Vater (auch in dieser Familie ist es der Vater, der die Entscheidung trifft) möchte, dass sie auf das Gymnasium geht. Daher wiederhole sie nun die vierte Klasse, um ihre Noten zu verbessern und die Gymnasialempfehlung zu erhalten. Bei den Hausaufgaben helfen könne ihr aber keiner ihrer Elternteile, sagt sie. Auch von Yıldız’ Sohn Aleko, der inzwischen das Gymnasium besucht, werde ich angestaunt: „Oh, Doktor, Doktor möchte ich auch mal werden, das findet mein Vater toll – wie wird man das?“ Als ich ihm den Bildungsweg erläutere, ändert er aber seine Meinung: Nein, dann wolle er doch lieber Fußballstar werden.

722 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 31 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 723 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013.

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4.8.4 „Wahre Liebe, Anerkennung und Toleranz.“ 724 Auf dem Weg zum Christentum Die Einstellung zur Religion erscheint bei den zugewanderten „Frauen aus Bulgarien“ ebenso schillernd und möglicherweise für Außenstehende ebenso verwirrend wie ihre ethnischen Zugehörigkeiten. Als ich etwa einen Lehrer nach der Religion der Menschen aus Bulgarien frage, erwidert er: L: Das sind auch viele Muslime. Die geben das auch an. Die ersten haben angegeben „evangelisch“.725 Die nächsten haben wieder „Muslim“ gesagt. Was die nun genau sind, weiß ich nicht.726

Zunächst sind unter den Frauen, mit denen ich zu tun hatte, tatsächlich viele anzutreffen, die sich als Muslime bezeichnen. Allerdings fastet keine dieser Frauen während des Fastenmonats Ramadan, niemand von ihnen betet fünf Mal täglich, und das Geben von Almosen und die Fahrt nach Mekka sind den meisten gänzlich unbekannt. Aber: Die Frauen gehen mit Vorliebe in die Marxloher DITIBMoschee. Dies aber nicht deswegen, weil sie dort beten, sondern weil ihnen der Bau gefällt und sie sich hier wohl fühlen. Ein weitaus größerer und stetig wachsender Anteil der Frauen bezeichnet sich inzwischen jedoch nicht mehr als muslimisch, sondern als evangelikal. Neben Yıldız ist eine der zum evangelikalen Glauben727 konvertierten Frauen, zu denen ich Kontakt hatte, die 43-jährige Hanife. Hanife war mit ihrem Mann eine der ersten, die im Jahr 2007 nach der EU-Osterweiterung aus Bulgarien in den Stadtteil Marxloh zog. Damals herrschte noch keine Arbeitnehmer-Freizügigkeit, so dass sie wegen des Ablaufs ihres Touristenvisums alle drei Monate ins benachbarte Holland ausgereist seien, bevor sie wieder nach Marxloh zurückkehrten. Hanife war in dieser Zeit sehr krank, ihr Mann arbeitete „schwarz“, und sie hatten ein kleines Kind. Beide brauchten Hilfe beim Gang zu Ämtern, zu Ärzten und überhaupt in der Bewältigung ihres damals recht schwierigen Alltags. Die

724 Forschungstagebuch vom 27.10.2012. 725 Gemeint ist mit Sicherheit nicht das Wort evangelisch, sondern evangelikal. Mir zumindest sind keine evangelischen Christen aus Bulgarien in Marxloh begegnet. 726 Interview mit einem Lehrer vom 23.11.2012. 727 Ich bin mir durchaus bewusst, dass „evangelikal“ kein trennscharfer Begriff ist, sondern nur grob mehrere evangelikale Gruppen zusammenfasst. Da aber die Marxloher „Evangelikalen“ auf meine Frage nach ihrer Konfession stets mit „evangelikal“ antworteten, übernehme ich diesen Begriff im Folgenden trotz seiner Uneindeutigkeit.

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Begegnung mit einem Marxloher evangelikalen Prediger, der bereit war, ihnen kontinuierlich unter die Arme zu greifen, kam für sie einer Errettung gleich. „Ohne diesen Prediger wären wir sicher weitergezogen“, erzählt mir Hanife. Aber dank ihm habe sie „Hilfe und später durch das Christentum wahre Liebe, Anerkennung und Toleranz“728 erfahren. Hanife und ihr Mann ließen sich von den Bibelinhalten überzeugen und begannen, sich selbst in Eigenlektüre mit der Bibel zu beschäftigen. Im Unterschied zu den muslimischen „Frauen aus Bulgarien“ setzen sich nämlich auch die zum Christentum konvertierten Frauen sehr intensiv mit ihrer Religion auseinander. Es sei Teil des evangelikalen Glaubens, dass auch Frauen die Religion verstünden, erklären sie mir. So findet in Marxloh einmal pro Woche ein Frauenabend statt, an dem sich die Frauen zum Gebet treffen und über Bibelinhalte sprechen. Yıldız ist eine der Frauen, die sich engagiert für diese Abende einsetzt. Ihr ist die Gemeindearbeit sogar so wichtig, dass sie sagt, neben Familie, Ehemann und der Gemeinde keine Zeit für sich selbst und schon gar nicht für einen Beruf zu haben. Diese Entwicklung hinsichtlich der Einstellung zur Berufstätigkeit von konvertierten Frauen ist nicht neu. Ellen Sato war eine der ersten, die sich bereits in den 1980er Jahren mit den beruflichen Veränderungen bei amerikanischen Romafrauen, die zum evangelikalen Glauben übertraten, beschäftigt hat.729 Seien die Frauen zuvor noch dafür verantwortlich gewesen, das „täglich Brot“ zu beschaffen und ihr Geld mit Weissagungen zu verdienen, so habe sich das bei den Konvertiten völlig geändert. Weissagung sei nach der Bibel etwas Verachtenswertes. Was, so fragt die Autorin, täten nun also die Frauen? Sato vermutet vorsichtig, sie würden nun nichts mehr zum Familieneinkommen beitragen. Eine Vermutung, die sich zumindest in Marxloh zu bestätigen scheint. Im Unterschied etwa zu den „Romafrauen aus Rumänien“, die mit Betteln und durch den Verkauf der Obdachlosenzeitung „Fifty-Fifty“ versuchen, etwas Geld zu verdienen, sind die „Frauen aus Bulgarien“ nahezu ausschließlich Hausfrauen.730 Die Marxloher Konvertitinnen wid-

728 Forschungstagebuch vom 27.10.2012. 729 Sato, Ellen B. L. (1988): The Social Impact of the Rise of Pentecostal Evangelicalism Among American Rom. In: da Silva, Cara u.a. (Hrsg.) (1988): Papers from the 8th and 9th Annual Meetings of the Gypsy Lore Society North American Chapter (= GLS-Publications).Cheverly. S. 69-93. Hier: S. 70. 730 Dazu muss aber auch gesagt werden, dass die Bedeutung des Geldes sich bei den Konvertiten gewandelt hat: Ist etwa Gold bei anderen Gruppen noch das Zeichen für Erfolg – wie es auch bei den rumänischen Roma in Marxloh der Fall ist – so ist dies bei den Konvertiten nicht (mehr) der Fall. Das Geschenk der „Erlösung“, „Gottesge-

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men sich also in erster Linie ihren Aufgaben in der Familie – und vor allem ihrer Arbeit in der Gemeinde. Dieses Verhalten der Frauen ist aber zumindest in Marxloh nicht auf die evangelikalen „Frauen aus Bulgarien“ wie Yıldız und Hanife beschränkt, sondern ebenso bei den muslimischen zu beobachten, die sich ebenso auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau konzentrieren. Aber im Unterschied zu den muslimischen „Frauen aus Bulgarien“, die diese Rollenverteilung hinnehmen und auch dann, wenn sie arbeiten oder Autofahren möchten, das Verbot ihres Mannes akzeptieren (erinnern wir uns an Meryems Satz: „So sind sie eben, die Männer, sie erwarten es so“), beziehen sich die zum Christentum konvertierten Frauen in den Gesprächen stets auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau und betonen, es sei ihre eigene freie Entscheidung, nicht arbeiten zu gehen. Wenn sie es wollten, dürften sie jederzeit, meinen sie.731 Als christliche Frau fühlt man sich hier dem Mann gleichgestellt. So sagt Yıldız: Y: Im Christentum sind Frau und Mann gleichberechtigt und auf Augenhöhe zueinander.732

Mit der Konversion zum Christentum vollziehen sich also ganz grundlegende Veränderungen in den Familien der aus Bulgarien Zugewanderten – und das mit steigender Tendenz. Denn in Marxloh wächst die Anzahl ehemals muslimischer Personen aus Bulgarien, die zum Christentum konvertieren und darin ihre wahre religiöse Bestimmung sehen, rapide.733

horsam“ und die Gewissheit eines „ewigen Lebens“ sind die neuen Ziele. Vgl. dazu auch: Sato: 1988, S. 76. 731 Im Koran ist zwar an verschiedenen Stellen von Gleichberechtigung von Mann und Frau die Rede (vgl. Paret, Rudi (Übers.) (1979): Der Koran. Stuttgart. Sure 2: 187; 9: 72; 39: 6), aber die zum Christentum konvertierten Frauen stellen dies in unseren Gesprächen anders da. Sie verbinden mit dem Islam eine Ungleichbehandlung von Mann und Frau und mit dem Christentum eine Gleichbehandlung. 732 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 32 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 733 Mehr zu den Gründen, warum diese Gruppe zum evangelikalen Christentum konvertiert, folgt unter Abschnitt 5.4.2.

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4.8.5 „Ausgegrenzt wird man häufig von Türken.“ 734 Bezug zu anderen Gruppierungen im Stadtteil Die insgesamt acht Neuzuwandererinnen aus Bulgarien, zu denen ich Kontakt hatte, sprechen alle bulgarisch, türkisch und manche auch eine Variante des Romanes fließend. Allein aus den sprachlichen Verbindungen ergibt sich, dass sie sich in Marxloh am ehesten an die türkische Bevölkerung anzunähern versuchen. Während man mit türkischsprachigen Personen schon in Kontakt getreten ist, hat man sich etwa über „die Deutschen“ im Stadtteil noch nicht einmal ein konkretes Bild gemacht. Je nachdem, ob die Frauen positive Erfahrungen in diesen Begegnungen gemacht haben oder nicht, ist auch ihr Bild von ihnen. Während Meryem „die Deutschen“ im Stadtteil als „freundliche und warme“735 Menschen wahrnimmt, vergleicht Luba sie mit ihren Erfahrungen, die sie mit Spaniern gemacht hat und sagt enttäuscht: L: Sie [die Deutschen, Anm. d. Verf.] grüßen uns nicht. Im Vergleich zu den Spaniern sind Deutsche sehr kalte Menschen. Spanier helfen einem sofort, ohne dich zu kennen.736

Grundsätzlich äußern sich die Frauen gegenüber den Marxloher „Deutschen“ sehr unsicher, weil sie sich im Unterschied zu den türkeistämmigen Bewohnern im Stadtteil sprachlich nicht mit ihnen verständigen können und darauf angewiesen sind, auf irgend eine Weise nonverbale Zeichen zu deuten. So sagt Nurhan: N: Auf der Straße erlebe ich, dass die Deutschen was sagen, aber ich kann es nicht einordnen.737

Die Frauen sind bei der Kommunikation mit „den Deutschen“ also darauf angewiesen, nichtsprachliche Zeichen zu deuten. Anders ist das bei den türkischsprechenden Marxlohern, deren Sprache sie sehr gut verstehen. Und hier beschweren sich die Frauen explizit über Ausgrenzung. Dazu Meryem: M: Sie [die türkeistämmige Bevölkerung, Anm. d. Verf.] lästern über uns, sie denken, dass ich sie nicht verstehe, aber ich höre alles.738

734 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 31 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 735 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 23 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 736 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 31 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 737 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 38 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 738 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 23 Jahre. Interview vom 07.12.2012.

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Auch Luba beklagt, im Marxloher Alltagsgeschehen oft Ausgrenzungen seitens Türkeistämmiger erlebt zu haben. Manchmal spreche sie sie an und frage, ob sie ihr kurz behilflich sein könnten, was meist verneint werde: L: Ausgegrenzt wird man häufig von Türken. Manchmal spreche ich Türken an und frage, ob sie mir kurz bei der Überweisung in der Bank helfen können. Ich erhalte nur Absagen. Sie sagen dann: „Ich weiß es nicht.“ Sie lügen.739

Die Kontakte zwischen den türkeistämmigen Personen im Stadtteil und den Neuzuwanderern aus Bulgarien sind zwar häufiger als zwischen den aus Bulgarien Zugewanderten und anderen Gruppen im Stadtteil, aber sie sind dennoch nicht intensiv. Die Frauen treffen auf Türkeistämmige beim Einkaufen oder wie Luba bei der Bank, wohingegen sie den „Alteingesessenen“, „Zurückgezogenen“ oder „Aktiven“ sogar nur „auf der Straße“740 begegnen. Kontakte zur türkeistämmigen Stadtteilbevölkerung bestehen darüber hinaus aber auch im beruflichen Umfeld und im Wohnbereich – wobei beides durchaus auch problembehaftet sein kann: Es wurde bereits dargelegt, dass einige der Frauen die Erfahrung gemacht haben, in ihren Putzjobs um ihr Honorar betrogen worden zu sein. Und auch Yıldız erzählt, sie habe immer wieder versucht, als Friseurin eine Anstellung zu finden, aber niemand habe sie einstellen wollen. „Ach, das sind Türken, die sind manchmal arrogant“741, winkt ihr Mann Dursun ab als ich frage, warum Yıldız denn von keinem der Geschäftsleute eingestellt werde.742 Aber auch im Wohnungsbereich kann es dazu kommen, dass die Zuwanderer aus Bulgarien in ähnlicher Weise behandelt werden wie die rumänischen Neuzuwanderer. So wird mir berichtet, man würde ab und an den Familien gegen sexuelle Dienste der Frau die Kaution erlassen. Aber auch hier sprechen die Frauen selbst nicht darüber, die Information stammt entweder von den Männern oder aus Experteneinschätzungen von Sozialarbeitern im Stadtteil, wie der folgenden: O: Ja, es gibt Konflikte oft. Auch mit den türkischen Vermietern. Da sind Leute, die hier die Häuser vermietet haben und ohne Kaution. Die haben gesagt: „Ok, du kommst zu mir putzen oder was anderes [sexuelle Dienste, Anm. d. Verf.].“ Es gibt auch solche Fälle. […] Und wenn ich die frage, bei einigen traue ich mich, nicht bei jeder. Aber wenn ich bei einigen die Frage stelle: „Und, was wollte er dafür? Habt ihr es gemacht?“ Dann rollen die

739 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 31 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 740 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 38 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 741 Forschungstagebuch vom 05.01.2013. 742 Vgl. Abschnitt 5.2.

278 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH Tränen. […] Und die Frauen sind bereit für alles. Also die können nicht auf der Straße mit den Kindern bleiben. Und es kommt zu großen Konflikten, wenn in zwei oder drei Monaten der türkische Vermieter sagt: „Ich brauche aber bitte meine Miete.“ Und das funktioniert nur mündlich. Oder die Roma unterschreiben irgendwelche Papiere, wo sie überhaupt keine Ahnung haben, was das ist. Das ist mein erster Satz, wenn sie zur Beratung kommen: „Bitte nichts unterschreiben.“ Sie können nicht lesen also bitte nichts unterschreiben. Weil eine Unterschrift ist schon rechtskräftig. Aber viele Frauen unterschreiben.743

Auch hinsichtlich der Kinder wird mir mitgeteilt, sie hätten häufig Probleme, sich gegenüber anderen Kindern zu behaupten. Besonders Romakinder müssten sich antiziganistischen Ressentiments, sie seien „dreckig“ und „faul“ stellen. Auch Yıldız erzählt mir, Aleko sei in der Anfangszeit seines Aufenthaltes in Marxloh auf Grund von Beschimpfungen als „dreckiger Zigeuner“ weinend nach Hause gekommen und habe die Schule nicht mehr besuchen wollen. Aber auch diejenigen, die von sich sagen, nicht „Rom“, sondern „Bulgare“ oder „Bulgarientürke“ zu sein, geraten offenbar in Bedrängnis: Zwar türkisch zu sprechen aber kein Türke, ja, häufig auch nicht einmal Muslim zu sein, bildet offenbar eine Angriffsfläche unter den Marxloher Schulkindern: O: Also die Kinder weinen sehr oft und sagen: „Die türkischen Kinder im Hof sagen zu uns: ‚Du Zigeuner, du bist dreckig‘ oder: ‚Warum isst du Schweinefleisch, aber sprichst türkisch?!‘“ Und das tut ihm weh. Die Türken definitiv profitieren viel von dieser Gruppe, also Miete und auch von den Frauen, reichlich, aber gleichzeitig bezeichnen sie diese Gruppe als „dreckige Zigeuner“. Die mögen die einfach nicht.744

Auch hier fällt auf, dass es zwischen den Kindern der „Alteingesessenen“, den der „Aktiven“ sowie den der „Zurückgezogenen“ und den Neuzuwanderern aus Bulgarien offenbar zu keinen Konflikten zu kommen scheint. Dabei sollten wir allerdings auch mitberücksichtigen, dass etwaige Beleidigungen seitens der deutschen Kinder selbstverständlich auf Deutsch erfolgen würden, was die Neuzuwanderer aber oft noch nicht beherrschen. Wenn also ein türkisches Kind ein Kind aus Bulgarien auf Türkisch beschimpft, schmerzt es, aber es versteht die Beschimpfungen zumindest. Auf Deutsch nimmt es eine Beschimpfung, wenn überhaupt, dann vermutlich wesentlich verzögerter wahr.

743 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013. 744 Ebd.

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Diskriminiert zu werden, das wissen wir, bedeutet allerdings nicht, dass man nicht selbst auch diskriminiert. Betrachten wir dazu folgenden Ausschnitt aus dem Forschungstagebuch: Ich nehme am Abschlusstreffen eines Anfängersprachkurses Deutsch teil, während dem die teilnehmenden Frauen ihre Teilnahmebestätigung überreicht bekommen sollen. In der ersten Reihe sitzt eine Gruppe „Romafrauen aus Rumänien“, dahinter in zwei Reihen einige „Frauen aus Bulgarien“. Ich setze mich auf den einzigen freien Platz in der hintersten Reihe und beobachte, wie die Frauen der Reihe nach vorne gerufen werden, um sich ihre Bestätigung abzuholen. Yıldız, die neben mir sitzt, faltet ihr Dokument gleich nach Erhalt zusammen und gibt es einer Bekannten zur Verwahrung, die es in ihre Handtasche stopft. Die Gruppe der „Romafrauen aus Rumänien“, die schon die ganze Zeit nervös auf ihrem Stuhl umher rutschten, sind nun an der Reihe. Aus einem Laptop an der Ecke erklingt Musik, und die jungen Romafrauen und -männer führen eine kurze Tanzchoreographie vor. Einige klatschen mit, aber neben mir bleibt es ruhig. Ich drehe mich zu meiner anderen Sitznachbarin und sage mitklatschend, dass es doch toll wäre, dass hier auch mal Männer tanzen. Nein, sie fände das überhaupt nicht schön. Mit unbewegter Mimik beobachtet sie die Präsentation ohne Anteilnahme.745

Die „Frauen aus Bulgarien“ zeigen sich in Bezug auf die „Romafrauen aus Rumänien“ nicht nur an diesem Abend ausgesprochen distanziert. Hinsichtlich der Wahrnehmung der Personen aus Rumänien präsentiert man sich auch in den Interviews zum Teil stark abweisend. So sagen Yıldız und Meryem: Y: Ich kann nicht verstehen, warum die so aufgetakelt herum laufen und immer auffallen. Sie können sich einfach nicht benehmen.746 M: Ich verstehe nicht, warum sie sich so kleiden. Ich möchte nicht in derselben Gegend mit denen wohnen.747

Die den rumänischen Roma zugeschriebenen Attribute sind deckungsgleich zu den Attributen, die die türkeistämmige Bevölkerung den Zuwanderern aus Bulgarien zuschreibt. „Die Roma“ könnten sich „nicht richtig kleiden“, sie gelten als „dreckig“ und „faul“. Im Frühjahr 2012 kam es infolge einer verbalen Auseinandersetzung im Zentrum Marxlohs sogar zu einer Massenschlägerei zwischen

745 Forschungstagebuch vom 11.12.2012. 746 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 32 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 747 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 23 Jahre. Interview vom 07.12.2012.

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beiden Gruppen, in deren Folge die Polizei mit einem Großaufgebot einschreiten musste.748 Im Nachhinein konnte mir jedoch niemand mehr die Ursache nennen. Man sei auf „die Rumänen“ einfach nicht gut zu sprechen, wird mir gesagt. Es verwundert nicht, dass man auf Grund dieser Ressentiments wenig in Kontakt zu der Gruppe tritt, ganz im Gegenteil: Die Zuwanderer aus Bulgarien, so mein Eindruck, weichen den Zuwanderern aus Rumänien möglichst aus. 4.8.6 Fazit Die Gruppe der seit dem Jahr 2007 aus Bulgarien nach Marxloh zugewanderten Menschen präsentiert sich ethnisch ausgesprochen heterogen: Die Personen kommen aus unterschiedlichen Regionen Bulgariens und bezeichnen sich selbst als „Bulgarientürken“, als „Bulgaren“ oder auch als „Roma“. Manche sehen sich als „Muslime“ und andere bezeichnen sich wiederum als „evangelikale Christen“. Trotz dieser lokalen, ethnischen und religiösen Unterschiede ist es allen Frauen dieser Gruppe gemeinsam, dass sie meist gering gebildet und arm sind, aber ihren Kindern eine gute Zukunft bieten wollen. Dies haben sie mit den zugewanderten „Romafrauen aus Rumänien“ gemeinsam und stehen auch im beruflichen Bereich vor ähnlichen Schwierigkeiten. Im Unterschied zu den „Romafrauen aus Rumänien“ jedoch, die zu großen Teilen für das Familieneinkommen sorgen, sind die „Frauen aus Bulgarien“ meist nicht berufstätig. Für das Familieneinkommen sorgen hier die Männer. Die Frauen gehen einkaufen, putzen, kochen und kümmern sich um den Mann und die Kinder. Immer wieder erklären sie mir, keine Zeit für etwas anderes zu haben. Dennoch scheint es einige zu geben, die der Schwarzarbeit oder der Prostitution nachgehen, um wenigstens ein wenig Geld zu verdienen. Da aber gerade die Prostitution in starkem Kontrast zu ihren Vorstellungen einer „ehrbaren Frau“ empfunden wird, wird darüber eher nicht gesprochen. Das Thema „Prostitution“ öffnet somit neue Bereiche, deren Erforschung bislang noch nicht weit fortgeschritten ist. Gemeint ist dabei auch der Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung, von dem deutschlandweit offenbar vor allem bulgarische und rumänische Frauen betroffen sind. Zwar haben die Marxloher „Frauen aus Bulgarien“, mit denen ich ins Gespräch kam, selbst keine Erfahrung damit gemacht, aber dass in Bulgarien in den Schulen

748 Balke, Christian (2012a): Bulgaren und Rumänen liefern sich Massenschlägerei in Duisburg-Marxloh. In: Westfälisch-Allgemeine-Zeitung online vom 23.03.2012. Online unter: http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/nord/bulgaren-und-rumae nen-liefern-sich-massenschlaegerei-in-duisburg-marxloh-id6489676.html Abruf: 24.06.2014).

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oder auf der Straße Mädchen entführt wurden, haben sie selbst auch in ihrem direkten Umfeld erfahren. Die Angst, dass den Töchtern in Marxloh ähnliches widerfahren könnte, begleitet viele der Frauen in ihrem Alltagsgeschehen. Auch wenn mir von lediglich einem Fall berichtet wurde, in dem zwei Mädchen in Marxloh verschwunden und in einem Bordell in den Niederlanden wieder gefunden wurden, so scheint die Angst um ihre Töchter bei vielen „Frauen aus Bulgarien“ doch allgegenwärtig.

5. „Mehrfach benachteiligt“1? Einige Aspekte der Ungleichheit im Alltagsleben von Frauen in Marxloh

Was sich in den vorausgehenden Abschnitten bei der Schilderung des Lebens der Marxloherinnen gezeigt hat, weist über das, was bislang über Frauen in der Stadt, und insbesondere über das Alltagsleben in sogenannten „benachteiligten Stadtteilen“, bekannt ist, hinaus. Vor allem, dass das Leben von Frauen auch in diesen Stadtteilen viele Gesichter hat, wird bislang noch viel zu wenig wahrgenommen. Sie unterscheiden sich nicht nur in nationaler und ethnischer Hinsicht, sondern auch in sozialer, religiöser und geographischer Perspektive – und möglicherweise noch anderem mehr. Insbesondere bei der Gruppe der aus Bulgarien zugewanderten Frauen haben wir hinsichtlich der Themen „Religion“ und „Ethnizität“ gesehen, wie sehr sie sich bereits innerhalb ihrer eigenen Gruppierung aber vor allem auch von den aus Rumänien zugewanderten Personen unterscheiden, mit denen sie zusammen aber dennoch aus der Außensicht häufig generalisierend als „EU-Neubürgerinnen“ oder als „Roma“ bezeichnet werden. Für uns bedeutet das, dass wir, wenn wir Migration in Stadtteilen wie Marxloh, die sich durch hohe Zuwandererzahlen auszeichnen, ausschließlich als Ursache der Entstehung ethnischer Vielfalt wahrnehmen, verkennen, dass Kulturen zum einen im Inneren zu differenzieren und zum anderen nicht statisch sind, sondern einer permanenten Veränderung unterliegen. Hinzu kommt, dass sowohl unter Zuwanderern als auch unter Autochthonen (seien sie weiblich oder männlich) ein zum Teil recht großes soziales Gefälle herrscht. Die Vernachlässigung sozialer

1

Dieses Zitat stammt aus dem Bericht zur ersten Integrationsumfrage der Stadt Duisburg. Vgl. Stadt Duisburg u.a. (Hrsg.) (2009): Integration zwischen Distanz und Annäherung. Die Ergebnisse der Ersten Duisburger Integrationsbefragung. Duisburg. S. 43.

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Unterschiede birgt jedoch das Risiko in sich, soziale Gegensätze als kulturelle Kontraste zu interpretieren und somit zu kulturalisieren.2 Soziale Auseinandersetzungen werden dann möglicherweise als kulturelle gewertet und als unlösbar begriffen.3 In Marxloh können wir gut beobachten, wie sehr sich die nationalen Gruppierungen in sozialer Hinsicht unterscheiden: So sehen wir auf der einen Seite die gebildeten und gut vernetzten „aktiven“ Frauen mit deutschem Pass sowie auf der anderen Seite die gering gebildeten und in Armut lebenden „Zurückgezogenen“ – ebenfalls mit deutschem Pass. Ebenso begegnen uns unter den türkeistämmigen Frauen einerseits die gebildeten und gut vernetzten „Bildungsaufsteigerinnen“ – andererseits aber auch die „Heiratsmigrantinnen“ und „Gastarbeiterinnen“, die nur wenige Jahre zur Schule gegangen sind. Alle diese genannten Gruppen werden jedoch gerade in statistischen Untersuchungen zur Stadt meist allgemein entweder als „Migrantinnen“ oder als „Deutsche“ zusammengefasst, was der Vielfalt ihrer Lebenswelten, wie sie sich uns in Marxloh darbietet, nicht gerecht wird. Nun stellt der Anspruch, die soziale Dimension der Stadtteilbewohnerinnen zu berücksichtigen und dabei gleichermaßen ethnische, geschlechtliche und andere Dimensionen nicht aus dem Auge zu verlieren, bereits seit geraumer Zeit eine der zentralen Herausforderungen für die Erforschung des inner- und interethnischen Miteinanders verschiedener Bevölkerungsgruppen (nicht nur aber auch) im städtischen Raum dar.4 Es war vor allem das Verdienst der USamerikanischen Geschlechterforschung der 1970er Jahre, auf die Notwendigkeit der Verknüpfung mehrerer sozialer Kategorien, zumindest in theoretischer Sicht, aufmerksam gemacht zu haben. Allmählich wird seither das allgemeine Sprechen über „Frauen“ selbstkritisch reflektiert und macht einer mehrdimensionalen, „intersektionalen“5 Sicht Platz, die das Ineinanderfließen mehrerer Kategorien wie Ethnizität, Schichtzugehörigkeit sowie Geschlecht zu berücksichtigen versucht und dabei den Schwerpunkt auf die Erzeugung von Ungleichheiten legt.

2

Kaschuba, Wolfgang (1994): Kulturalismus: Vom Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs. In: Berliner Journal für Soziologie, 2 (1994). S. 179-192.

3 4

Welz, Gisela (1996): Inszenierungen kultureller Vielfalt. Frankfurt am Main. S. 116. Diese Sicht hält inzwischen auch Einzug in der Migrationsforschung. Und auch im 6. Familienbericht der Bundesregierung wird eine differenzierte Darstellung der Zuwandererbevölkerung vorgenommen. Vgl. Sachverständigenkommission 6. Familienbericht (Hrsg.) (2000): Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Bd. 1. Empirische Beiträge zur Familienentwicklung und Akkulturation. Opladen.

5

Degele, Nina; Winker, Gabriele (2009): Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld.

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Auch im Marxloher Setting, stoßen wir unweigerlich auf das Thema „Ungleichheiten“: Arme Marxloherinnen besitzen nicht die gleichen Chancen wie reichere, Frauen verdienen deutlich weniger als Männer6, Frauen mit Migrationshintergrund verfügen nicht über die gleichen Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt wie Einheimische – wenn sie das muslimische Kopftuch tragen schon gar nicht.7 Was Höherqualifizierte in Duisburg anbelangt, so befinden sich den Duisburger Statistiken zufolge unter den Zuwanderinnen im Vergleich zu den Männern mehr Frauen mit Studienabschluss (8,7 %) als bei den deutschen (8 %). Unter „den Zuwanderern“ sind also prozentual mehr Frauen als unter „den Deutschen“ hochqualifiziert. Die Stadt konstatiert daher, dass ein besonderes Augenmerk auf diese Hochqualifizierten gelegt werden müsse, die allem Anschein nach Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt seien und in adäquate Berufspositionen nicht hineinkämen.8 Fügen wir nun also das, was wir in den vorausgehenden Abschnitten über die Marxloher Bewohnerinnen bereits erfahren haben, zusammen, so können wir feststellen, dass es immer wieder aus unterschiedlichen Gründen zu verschiedenen Formen von Ungleichheiten in Marxloh kommt – sei es in ethnischer, sozialer, religiöser oder lokaler Hinsicht. Diese Vielfalt an Gründen und Formen ist es jedoch, die uns als Wissenschaftler vor spezifische Herausforderungen stellt: Wie ist etwa zu erklären, dass die in Deutschland geborene türkeistämmige Nayla mit Universitätsdiplom immer wieder ethnische Diskriminierung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt beklagt, während die fast gleichaltrige, ebenfalls in Deutschland geborene türkeistämmige Arzu dies nur am Rande erwähnt, sich dafür aber als Frau in ihrem Beruf als Elektrikerin oft nicht ernst genommen fühlt? Die Erklärung liegt auf der Hand, wenn man beide zu Gesicht bekommt: Nayla ist schwarzhaarig, hat einen eher dunklen Teint und ist für viele auf den ersten Blick eine „sichtbare Fremde“. Arzu hingegen wird mit ihren blauen Augen und ihrem weißblonden Haar oft für eine „Deutsche“ gehalten. Im Unterschied zu Nayla arbeitet Arzu allerdings an ihrem Arbeitsplatz als einzige Frau in einer Männerdomäne. Als Frau hier Fuß zu fassen, ist für sie deutlich schwieriger als für Nayla, die in einer deutschen Behörde unter vielen anderen Frauen arbeitet. Was sich uns hier offenbart, wird seit den 1990er Jahren im Rahmen der

6

Ebd., S. 7.

7

Vgl. Europäisches Forum für Migrationsstudien (2010): Diskriminierung auf Grund der islamischen Religionszugehörigkeit im Kontext Arbeitsleben – Erkenntnisse, Fragen und Handlungsempfehlungen. Hrsgg. von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Berlin. S. 45.

8

Vgl. Stadt Duisburg: 2009, S. 22.

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Intersektionalitätsforschung unter der Frage untersucht: „Wer gehört auf Grund welcher Eigenschaften zu unterdrückten sozialen Gruppen“?9 Das damit verbundene Konzept ist jedoch bis heute noch nicht vollends ausgereift. Allein die Auswahl an Kategorien, welche die möglichen Eigenschaften der Ungleichheit adäquat erfassen soll, ist lang und weckt den Anschein von etwas „Beliebigem“.10 Das klassische und in den USA unbestrittene Dreierkonzept von „Rasse, Klasse und Geschlecht“ erscheint vielen hierzulande nicht ausreichend, und so nimmt die Diskussion darum, welche Kategorien und in welcher Gewichtung sie analytisch in Studien mit einzubeziehen sind inzwischen eine, wie es die Kulturanthropologin und Geschlechterforscherin Beate Binder formuliert, „fast mathematisch zu nennende Akribie und Argumentationslogik“11 an.12 Vertreter der Queer Studies betonen etwa die Wichtigkeit der Einbindung des Aspekts der „Sexualität“, die Disability Studies monieren die Vernachlässigung der Kategorie „Behinderung“. Die Geschlechterforscherinnen Nina Degele und Gabriele Winker erweitern angesichts dieser Diskussion die Dreierkategorisierung um die Kategorie „Körper“, wohingegen die Geschlechterforschin Helma Lutz und der Erziehungswissenschaftler Norbert Wenning sogar 14 Kategorien der Differenz vorschlagen: „Gender, Sexualität, Race/Hautfarbe, Ethnizität, Nationalität/Staat, Kultur, Klasse, Gesundheit, Alter, Sesshaftigkeit/Herkunft, Besitz, Geographische Lokalität (West/Rest), Religion (religiös/säkular), gesellschaftlicher Entwicklungsstand (modern/traditionell)“13. Ich habe mich bei meinem Vorgehen an Winkers abschließenden Hinweis gehalten, dass „die Entscheidung für diese oder jene Kategorien der Ungleichheit […] vom untersuchten Gegenstand“14 abhängt und mich mit Blick auf Marxloh dafür entschieden, neben den Kategorien „Rasse und Klasse“ auch die von Lutz und Wenning aufgeführten Kategorien,

9

Winker; Degele: 2009, S. 11-12.

10 Ebd., S. 18. 11 Binder, Beate; Hess, Sabine: Intersektionalität aus der Perspektive der Europäischen Ethnologie. In: Hess, Sabine; Langreiter, Nikola; Timm, Elisabeth (Hrsg.) (2011): Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld. S. 15-52. Hier: S. 32. 12 Judith Butler kritisiert etwa das „usw.“ am Ende der Listen. Vgl. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main. S. 210. 13 Lutz; Wenning: 2001. 14 Winker; Degele: 2009, S. 12.

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„Religion“ und „geographische Lokalität“ mit einzubeziehen – wohl wissend, dass die Liste der Kategorien prinzipiell nach oben hin offen ist.15 In den folgenden Abschnitten werden wir uns also nacheinander den genannten vier Bereichen zuwenden, die in Bezug auf einige (aber selbstverständlich nicht alle!) Marxloherinnen Formen von Ungleichheiten erzeugen können. Beginnen werden wir mit dem Einfluss der Lokalität Marxloh, der aus der Perspektive vieler Frauen Ungleichheiten zu „Nicht-Marxlohern“ schafft und werden in diesem Zusammenhang der Frage nachgehen, welchen Einfluss dieses Ungleichheitsgefühl auf das Alltagsleben der Frauen hat. Schließlich wird es darum gehen, zu analysieren, welche Relevanz die soziale Zugehörigkeit für die Frauen hat, um uns im Anschluss der Bedeutung von Ethnizität und der Frage danach zuzuwenden, inwiefern bestimmte ethnische Zugehörigkeiten in Marxloh ungleiche Machtstrukturen schaffen. Abschließend werden wir uns fragen, welche Bedeutung die Religion, insbesondere der Islam, in Bezug auf die Produktion von Ungleichheiten in Marxloh zukommt.

5.1 Z UR B EDEUTUNG

DER GEOGRAPHISCHEN L OKALITÄT

Sprechen wir über Lokalitäten, so sprechen wir immer auch über Ortsbilder, die einer Lokalität anhaften und unter Umständen Ungleichheiten zwischen seinen Bewohnern und Personen, die an anderen Orten leben, produzieren können. Entwickelt sich ein Stadtteil wirtschaftlich gut, steigt die Nachfrage an Wohnraum, die Mietpreise schnellen in die Höhe, und der Stadtteil gewinnt an Prestige. Stadtteile gelten dann als „Reichenviertel“ oder „Etabliertenviertel“. Dem gegenüber stehen „Armenviertel“ oder „Migrantenviertel“, die im Gegenzug als „statusniedrig“16 und „finanzschwach“17 betrachtet werden und deren Image meist negativ ausfällt. Alle diese Lokalitäten werden mit spezifischen Ortsbil-

15 Butler, Judith (1990): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York. S. 143. Auch online: http://autof.files.wordpress.com/2010/02/butler-judithgender-trouble-feminism-and-the-subversion-of-identity-1990.pdf

(letzter

Abruf:

05.06.2014). 16 Deutsches Institut für Urbanistik (Hrsg.) (2011): Difu-Berichte, 4 (2011) – Was ist eigentlich Gentrifizierung? Berlin. Online einsehbar unter: http://www.difu.de/pu blikationen/difu-berichte-42011/was-ist-eigentlich-gentrifizierung.html (letzter Abruf: 29.09.2014). 17 Ebd.

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dern verknüpft, welche unbestritten auch auf die Bevölkerung Einfluss nehmen. „Der Stadtteil als Marke“18 – mit diesen Worten titelt daher das Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Bauwesen des Landes NordrheinWestfalen und bezieht sich damit auf den Sachverhalt, dass Stadtteilen immer ein Image anhaftet, das aber, wie wir seit geraumer Zeit wissen, durchaus nicht statisch, sondern veränderbar ist. So wird uns besonders im Zusammenhang mit Gentrifizierungsprozessen19 immer wieder vor Augen geführt, wie Stadtteile eine Aufwärtsmobilität erfahren können, indem eine steigende Anzahl „Kreativer“, Studenten und später auch finanzkräftigerer Personen in den Stadtteil zuziehen, die Mieten steigen und sich die gesamte Zusammensetzung „statushöher“20 präsentiert – zum Leidwesen der alteingesessenen sozial schwächeren Bewohner, welche die hohen Mieten nicht mehr zahlen können und unter Umständen aus dem Stadtteil fortziehen müssen. Nun ist der Gentrifizierungsprozess aber nur eine dieser Entwicklungen. Im Gegensatz dazu kann ein Stadtteil selbstverständlich auch eine Abwärtsbewegung, die auch als „Fahrstuhleffekt“ bekannt ist, erfahren: Ehemals gut gestellte Stadtteile verlieren ihre wirtschaftliche Anziehungskraft und entwickeln sich zu sogenannten „benachteiligten Stadtteilen“.21 Marxloh ist zweifelsohne ein Paradebeispiel für eine solche Abwärtsentwicklung. Wir haben bereits gesehen, in welchen Bildern vor allem die „Alteingesessenen“ Marxloh aus der Zeit der 1960er Jahre bis heute im Gedächtnis behalten haben: Die von ihnen gewählten Begriffe zur Beschreibung Marxlohs, wie „Weltstadt“22 oder „Klein-Amerika“23 sowie ein Ort, an dem „der Bär los war“24,

18 Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Bauwesen des Landes Nordrhein-Westfalen (ILS NRW) (Hrsg.) (2006): Der Stadtteil als Marke. Strategien zur Imageverbesserung. Dokumentation des vierten Fachgesprächs „Wohnungsunternehmen als Akteure in der integrierten Stadt(teil)entwicklung.“ Dortmund. Online unter: http://www.ils-forschung.de/down/stadtteil-marke.pdf (letzter Abruf: 03.10.2014). 19 Der Begriff der Gentrifizierung wird von dem Wort gentry (= niedriger Adel) abgeleitet und geht zurück auf die britische Soziologin Ruth Glass, die damit in den 1960er Jahren Veränderungen im Londoner Stadtteil Islington beschrieben hatte. Vgl. Deutsches Institut für Urbanistik: 2011. 20 Ebd. 21 Vgl. die Website der Städtebauförderungsprogramm „Soziale Stadt“ unter: http:// www.staedtebaufoerderung.info/StBauF/DE/Programm/SozialeStadt/soziale_stadt_no de.html (letzter Abruf: 03.10.2014). 22 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. Vgl. Abschnitt 4.5. 23 „Zurückgezogene“, weiblich, 80 Jahre. Interview vom 20.08.2010. Vgl. Abschnitt 4.6. 24 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. Vgl. Abschnitt 4.5.

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verweisen auf eine Wahrnehmung Marxlohs als einen finanzkräftigen und statusträchtigen Ort, an dem man gerne wohnte und mit dem man sich ebenso gern identifizierte. Und nicht nur die Marxloher selbst waren stolz auf „ihr“ Marxloh. Auch Personen von außerhalb, die in den Stadtteil kamen, hielten sich gerne hier auf. Nach der Kohle- und Stahlkrise wandelte sich dieses Bild jedoch ins Gegenteil. Marxloh, mit dessen lokaler Wirtschaft es stetig weiter bergab ging, erhielt immer häufiger den Ruf, „Problemregion“25 zu sein, gekennzeichnet durch „Kriminalität“26, „parallelgesellschaftliche Strukturen“27 und „Müll“28, was, wie wir im Folgenden sehen werden, auch Einfluss auf die Marxloher Bevölkerung hat. Denn natürlich kommt dem Raum, in dem wir leben, in dem Prozess der Identitätsbildung eine wichtige Komponente zu: Zum einen wird er als solches gesellschaftlich produziert, zum anderen wird er aber auch als Bild von anderen wahrgenommen und gespiegelt, was wiederum auf die Bevölkerung und deren persönliche, oder weiter gefasst, deren regionale Identität rückwirkt.29

25 Vgl. dazu die Website der Stadt Duisburg unter: http://www.duisburg.de/micro/egdu/projekte/040_projekt_Aktiv_fuer_Arbeit_im_Stadtteil.php (letzter Abruf: 03.10. 2014). 26 Stoldt: 2010. 27 So fragte etwa die Wochenzeitung DIE ZEIT im Zusammenhang mit der Erbauung der Marxloher-DITIB Moschee im Jahr 2005: „In Duisburg-Marxloh entsteht Deutschlands größte Moschee. Ist das der Königsweg zur Integration, oder setzt sich damit eine verschlossene Parallelgesellschaft ein Denkmal?“ N.N. (2005): Fremde im Revier. In: Die Zeit online vom 24.11.2005. Online unter: http://www.zeit.de/2005/ 48/Marxloh (letzter Abruf: 12.09.2014). 28 Vgl. beispielsweise einen Onlinebericht über Marxlohs „Mülldetektive“, also vom Ordnungsamt entsandte Personen, die unangemeldeten Sperrmüll daraufhin untersuchen, wer der Verursacher sein könnte: Brück, Claudia (2014): Auf Streife mit den Mülldetektiven. In: lokalkompass.de vom 11.02.2014. Online unter: http://www.lokal kompass.de/duisburg/leute/auf-streife-mit-den-muelldetektiven-d399585.html (letzter Abruf: 12.09.2014). 29 Identität speist sich aus einem reziproken Prozess aus alter und ego: Das Ich benötigt die Sicht anderer, um sich seiner selbst zu versichern. In einem zweiten Schritt versucht sich das Ich von dieser Sicht abzugrenzen, um dies schließlich nach außen sichtbar zu machen und als solches wahrgenommen zu werden.

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5.1.1 Ortsbilder „Es gibt Straßenzüge in manchen Vierteln Berlins, Hamburgs, Duisburgs, Essens oder Kölns, in die sich Polizisten nicht mehr alleine hinein trauen. Wenn dort ein Beamter einen Autofahrer wegen überhöhtem Tempo kontrolliert, hat der blitzschnell 40 bis 70 Freunde herbeitelefoniert. Und wird der Beamte erst von so einer Menge bedrängt und beschimpft, muss der Rechtsstaat leider kapitulieren und sich zurückziehen.“30

Dieser Ausschnitt stammt aus einem Artikel, der Anfang des Jahres 2010 in der Zeitung „Die Welt“ zu lesen war. Es handelt sich hierbei um nur einen von vielen Medienberichten, in denen Stadtteile wie Marxloh als gesamtgesellschaftliches Problem betrachtet werden. Marxloh kämpft gemeinsam mit anderen bundesdeutschen Stadtteilen wie ehemals Berlin Neukölln oder der Mannheimer Jungbusch31 gegen ein weit verbreitetes Negativimage als „krimineller Stadtteil“ an, in den, wie es in obigem Ausschnitt heißt, sich „Polizisten nicht mehr alleine hinein trauen“. Hier handelt es sich um Darstellungen, die auf Grund ihrer mittlerweile jahrelangen Beharrlichkeit mit dem Ethnologen Arjun Appadurai als „starke Tropen“32 bezeichnet werden könnten. Zwar zeigen sich die Marxloher selbst gegenüber diesen Darstellungen meist unberührt33, aber auf von außerhalb kommende Besucher des Stadtteils nehmen diese Bilder durchaus Einfluss. So begegnete auch ich Marxloh auf Grund dieser negativen Darstellungen in der Öffentlichkeit zunächst sehr zögerlich und war stets auf der Hut vor etwas, das ich nicht einmal konkret benennen konnte. Werfen wir dazu einen Blick auf meinen ersten Eintrag im Forschungstagebuch: Ich bin zum ersten Mal ohne Begleitung in Marxloh unterwegs und ein wenig aufgeregt. Gerade habe ich mein erstes Interview hinter mich gebracht und entscheide mich, den Ort

30 Stoldt: 2010. 31 Vgl. Baumgärtner, Esther (2009): Lokalität und kulturelle Heterogenität. Selbstverortung und Identität in der multi-ethnischen Stadt. Bielefeld. 32 Mit „starken Tropen“ betitelt Appadurai stets wiederkehrende bereits vorbestimmte Repräsentationen, zum Beispiel von Stadtteilen, die immer wieder als „Ghettos“ dargestellt und entsprechend dann auch wahrgenommen werden. Vgl. Appadurai, Arjun (1988): Putting hierarchy in its place. In: Cultural Anthropology, 3 (1988). S. 36-49. Hier: S. 46. 33 Das Bild, das sich Bewohner von ihrem eigenen Stadtteil machen, ist meist differenzierter und auch positiver als das Außenbild. Vgl. Deutsches Institut für Urbanistik: 2003, S.142-143.

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noch ein wenig auf mich wirken zu lassen, bevor ich die nächste Straßenbahn ortsauswärts nehme. Es ist Januar, und es ist kalt. Nun beginnt es auch noch, nass zu schneien. An den Straßenrändern liegt Abfall: in erster Linie Bonbonpapiere und kleinerer Plastikmüll, zertretene Kaugummis aber auch Hausabfall ist dabei, wie die leere Folie eingeschweißter Lachsscheiben und das Papier einer Familienpackung Marsriegel. Alles um mich herum wirkt trist und grau, aber ich versuche, es ausschließlich der Jahreszeit zuzuschreiben. Bewusst langsam schlendere ich die Weseler Straße hinauf, an verschiedenen türkischen Geschäften und Männergruppen, die vor Spielhallen und Teehäusern stehen, vorbei. So langsam beschleicht mich ein unangenehmes Gefühl. Wird mich hier jemand vielleicht unverblümt „anmachen“? Nein, doch nicht. So langsam beginne ich, mich etwas zu entspannen, bis mir einfällt, dass ich ja ein paar Fotos schießen könnte. Aber was werden die Männer sagen, wenn sie auf den Bildern abgebildet sind? Kann ich das Gebäude von Millȋ Görüş einfach so fotografieren, ohne dass jemand misstrauisch wird? Oder die Moschee? Wie aus dem Boden gewachsen steht tatsächlich plötzlich ein Mann vor mir und fragt, ob er mir helfen könne. Etwas verdutzt schaue ich ihn an und verneine hastig.34 Schnell packe ich meine Kamera ein, laufe zur Straßenbahnhaltestelle und beginne mit den Feldnotizen über meine ersten Eindrücke in Marxloh.35

Ich kann durchaus sagen, dass ich Marxloh an diesem Tag mit dem festen Entschluss betrat, den Menschen in dem Stadtteil gegenüber keine Vorurteile zuzulassen. Dennoch verunsicherte mich das für mich ungewohnte Stadtbild dann doch und ließ mich plötzlich an all die Medienberichte denken, die ich im Voraus studiert hatte: Den Abfall auf den Straßen konnte ich ja nun selbst sehen – warum also sollte nicht vielleicht auch das, was den Medien über „parallelgesellschaftliche Strukturen“ und „organisierte Kriminalität“ zu entnehmen ist, stimmen? Es kostete mich einige Zeit und bewusste Anstrengung, mich von der Gewissheit, dass mir hier jederzeit etwas zustoßen könnte, zu lösen und den angstvollen Blick in einen neugierigen zu verwandeln. Nun mag Marxloh vielleicht sogar für einen „objektiven“ Betrachter kein ausnehmend schöner Stadtteil sein. Läuft man die Weseler Straße hinunter, so bekommt man gerade noch eine vage Vorstellung davon, wie er um die Vorkriegszeit einmal ausgesehen haben muss: Die Fassaden der ehemals bunten altherrschaftlichen Häuser sind längst grau verfärbt und offenkundig schon seit

34 Ein halbes Jahr später lerne ich den Mann nochmals beim Fastenbrechen im Ramadan kennen und erfahre, dass er bei der Begegnungsstätte der Moschee arbeitet und mir, die ich scheinbar hilflos vor der Moschee hin- und herhuschte, die Begegnungsangst nehmen wollte. 35 Forschungstagebuch vom 28.01.2010.

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Längerem sanierungsbedürftig. Dieser Eindruck verstärkt sich beim Betrachter, wenn er durch die Gässchen des industrienah gelegenen Teils Marxlohs in Richtung Thyssenhütte schlendert. Einige der ehemaligen Arbeiterhäuser aus Backstein sind noch gut erhalten, andere wiederum wirken deutlich verfallen. Die Fenster einiger Häuser sind mit Holz zugenagelt, oder sie wurden eingeworfen. Im Hausinneren liegt eine Menge Möbelschrott. In wieder anderen Häusern, die noch relativ gut intakt zu sein scheinen, herrscht Leerstand, die Fenster sind verstaubt und an den Abenden unbeleuchtet. Verdreckte Gaststätten- und vor allem viele, viele Trinkhallenschilder deuten an, dass hier einmal ein reges Treiben geherrscht haben musste, als die Bergleute und Industriearbeiter abends bei einem „Pilsken“36 ihren Durst löschten. Doch mit dem Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie wurden nicht nur die Gaststätten geschlossen, auch jede zweite Trinkhalle hat inzwischen ihre Jalousien herunter gelassen. Zwischendrin tauchen zwar immer wieder Spielplätze und kleinere Grünanlagen auf, die aber in den Abendstunden unbeleuchtet sind. Dem Neuankömmling, der derartige Anblicke nicht gewöhnt ist, mag das Marxloher Straßenbild vielleicht ein zumindest leichtes Gefühl des Unbehagens bereiten. Interessanter Weise ist für mich aber mein anfängliches Unbehagen auch im Nachhinein noch immer nicht recht zu greifen. Es war einfach da und begleitet offenbar nicht nur mich. Auch andere Besucher Marxlohs, die aus vermeintlich „sichereren“ Regionen kommen, teilen diese Empfindung. Paula, eine der „Aktiven“ Marxlohs berichtet etwa von einer Jugendgruppe, die sie durch den Stadtteil geführt hatte und deren Teilnehmer während der Tour durch Marxloh ähnlich wie ich empfanden: P: Also wir hatten hier mal ’ne Gruppe, 16 Leute aus Großfeld. Kennen Sie Großfeld? Das ist total dörflich. Leute zwischen 18 und 23 [Jahren, Anm. d. Verf.], die in einer Ausbildung waren im erzieherischen Bereich. Die sind echt reingekommen mit so einer Angst. […] Die gingen nur in Gruppen zu neunt, weil die solche Angst hatten, weil die so viel Schlimmes von Marxloh gehört hatten. Und nach vier Tagen saßen die alle in der Abschlussrunde und sagten: „Nichts davon stimmt. Wir haben nichts von dem erlebt, was da permanent erzählt wird. Wir würden sogar mit unseren Familien nochmal her kommen, es ist nett hier.“ Und dass meine Mutter mal Weihnachten hier war und sagte: „Es ist so schön, die sind gar nicht so hektisch.“ Oder auch die Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, die sind so freundlich. Wenn ich auf ’m Dorf irgendwo auf der Straße stehen bleibe, werde ich voll angerempelt: „Geh weg.“ Und hier ist das so normal. Ich darf stehen bleiben, und die gehen um mich herum. Das ist so normal. Es ist so ein Grundwohlwollen. Es

36 „Pilsken“ ist das Dialektwort im Ruhrgebiet für „Pils“ (Bier).

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ist auch viel Traurigkeit, Dreck und Müll. Also die haben das auch wahrgenommen, ne. Aber da kam ganz deutlich auch rüber, dass es hier gar nicht so gewalttätig ist, wie es immer gesagt wird. Die Polizeistatistik gibt da ja auch nix her, ganz klar. Das ist ein Vorurteil hier, ne.37

Wir sehen, wie sehr die medial vermittelten Außenbilder Marxlohs Einfluss auf dessen Besucher haben. Erst mit der Zeit und einer gewissen Verweildauer geraten die offenbar stark verfestigten Bilder in den Hintergrund und schaffen Raum für eine andere, offenere Sichtweise. Gleich der oben angeführten Gruppe kann auch ich, nachdem ich einige Wochen in Marxloh verbracht habe, nicht mehr nachvollziehen, was mich anfangs so eingeschüchtert hatte. Und auch die Polizei Duisburgs zeigt sich mir gegenüber, konfrontiert mit dem oben genannten Zeitungsbericht, erstaunt: Problemlos würden die Beamten den Stadtteil betreten, und in Marxloh sei keine auffallend hohe Kriminalitätsrate zu konstatieren. Statistisch betrachtet rangiere Marxloh bei den meisten Delikten, insbesondere bei Jugendkriminalität38, zwar im oberen Drittel, aber nie an erster Stelle.39 Fragen wir nun nach der Wahrnehmung dieser Bilder durch die Marxloherinnen selbst, so überrascht es angesichts der unterschiedlichen Gruppierungen nicht, dass sich auch unterschiedliche Reaktionsweisen auf die Außendarstellungen Marxlohs zeigen. Während etwa die Neuzuwanderer, vor allem die aus Bulgarien, aber auch einige der „Heiratsmigrantinnen“ aus der Türkei, Marxloh als unaufgeräumt, oft sogar als gefährlich wahrnehmen und sich entsprechend vorsichtig durch den Stadtteil bewegen40, ist dies bei den „Aktiven“

37 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. 38 Vor allem bei „Raubüberfällen auf Straßen, Wegen oder Plätzen“ oder bei „Gewaltkriminalität“ ist in Duisburg ein deutlicher Schwerpunkt bei Tatverdächtigen unter 21 Jahren zu verzeichnen. Mehr als jeder dritte Tatverdächtige ist bei Gewaltdelikten männlich und unter 21 Jahren alt (Polizeipräsidium Duisburg (2010): Kriminalitätsbericht Duisburg 2009. Duisburg. S. 57). Typisch sind hier Gruppendelikte, wie sie in Marxloh zeitweise zwischen einzelnen Jugendgangs auf der Straße ausgetragen werden. „Aufmüpfige“ Jugendliche, so gibt man mir bei der Polizei jedoch zu verstehen, gäbe es überall und nicht nur in „Migrantenvierteln“. Betrachte man aber die offiziellen Zahlen über Jugendkriminalität in Marxloh genauer, so gelte es immer auch den Anteil an Jugendlichen in der Gesamtbevölkerung mitzuberücksichtigen: Marxloh sei ein Viertel mit sehr junger Bevölkerung und entsprechend hohem Aufkommen von Jugenddelikten. 39 Interview mit der Duisburger Polizei vom 03.08.2010. 40 Vgl. Abschnitt 5.1.2.

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nicht der Fall. Hier scheint man vielmehr bewusst darauf bedacht zu sein, Marxloh als einen Stadtteil wie jeden anderen wahrzunehmen und sich dafür einzusetzen, das Image des Stadtteils zu verbessern. Daher erfahren auch die genannten Negativbilder durch die Frauen durchweg eine Relativierung. So haben die „aktiven“ Marxloherinnen selbst zwar durchaus schon mit Kriminalität, meist mit Jugendkriminalität, in Marxloh zu tun gehabt, aber ähnlich wie auch die Polizei sehen die Frauen kein großes Problem darin. Dazu Paula: P: Irgendwann haben so ’n paar Jugendliche hier von gegenüber so ’n Sixpack Limonade aus ’m Absatz [Treppenabsatz, Anm. d. Verf.] geklaut. Seitdem schließen wir ihn halt ab. Ich finde das voll lästig, ich habe es lieber offen. Aber auch aus ’m Keller, da ist nie was weggekommen. Und das war alles in fünf Jahren, und das waren deutsche Jugendliche, die uns das gemopst haben.41

Paulas Formulierung „gemopst“ zeigt bereits, wie sie zu dieser Straftat steht: Bei dem Diebstahl handelt es sich für sie um harmlose Jugendkriminalität, bei der niemand zu Schaden kam und die darüber hinaus, das scheint Paula hier wichtig zu sein zu betonen, „deutsche Jugendliche“ und nicht Zuwanderer verübt hätten. Besonders deutlich schlägt mir die Ablehnung, Marxloh mit Kriminalität zu verbinden, bei einer weiteren „Aktiven“, nämlich Hildegard, entgegen, die ich mit meiner Frage fast persönlich beleidigt zu haben scheine: Ich sitze bei einer Tasse Tee und umringt von vielen, vielen Fotos von Marxloh bei Hildegard in der Küche. Gerade haben wir über das Marxloher Image in den Medien gesprochen, als ich Hildegard frage, wie sie es denn einschätze, dass Marxloh zwar im Gesamten nicht an der Spitze der Kriminalitätsstatistik stehe, aber bei dem Bereich Häusliche Gewalt durchaus. „Marxloh an der Spitze? Das glaube ich nicht!“ ist Hildegards prompte Reaktion. „Die Statistik möchte ich mal sehen!“ Sie springt auf, um Zettel und Stift zu holen und sich die Quelle, die ich ihr nenne, zu notieren und die Angaben zu prüfen.42

Paulas und Hildegards Äußerungen sind beide ganz typische Reaktionsweisen der Gruppe der „Aktiven“ im Stadtteil, die stets darum bemüht ist, dem Marxloher Negativimage etwas entgegenzusetzen.43 Zu diesem Zweck tritt man in den Medien in Erscheinung, nimmt an politischen Versammlungen teil und äußert

41 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. 42 Forschungstagebuch vom 11.08.2010. 43 Vgl. Abschnitt 4.1.

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sich auch Wissenschaftlern oder Buchautoren gegenüber stets positiv über das eigene Wohnumfeld. Nun mag man einwenden, dass sowohl Paulas als auch Hildegards Einstellung lediglich typisch für die Gruppe der „Aktiven“ im Stadtteil ist. Interessanter Weise sind es aber nicht allein die „Aktiven“, sondern auch andere Marxloherinnen, die sich, als ich sie in unseren Gesprächen mit Marxlohs Außenimage und ihrer Einstellung dazu konfrontiere, zum Stadtteil und seinen Bewohnern solidarisch zeigen. Eine dieser Frauen ist die „Alteingesessene“ Karin. Karin ist allgemein, das haben wir bereits gesehen, nicht besonders gut auf „die Türken“ im Stadtteil zu sprechen. Als wir jedoch auf das Marxloher Negativimage zu sprechen kommen, scheint Karin plötzlich gedanklich umzuspringen und gibt zu verstehen, dass ihr zwar „zu viele Ausländer“ im Stadtteil leben würden, aber wenn jemand anfange, generell über Marxloh schlecht zu reden, solidarisiere sie sich selbstverständlich mit „den Türken“: K: Ich bin ja auch ein Verteidiger. Wenn irgendeiner weiß, ich wohne in Marxloh, dann: „Oh!“ Dann sag ich aber: „Moment, was findet ihr denn so schlimm daran?“ „Nein, da kann man nicht wohnen.“ Ja, dann hörste nur so ganz schäbige Kommentare. Und dann verteidigste die Türken ne, und ich sag: „Wie kommt ihr denn da drauf?“ Durch diese Medien! Marxloh ist ja jede Woche, glaube ich, einmal im Fernsehen.

Was sich hier zeigt, ist typisch für die Gruppe der „Alteingesessenen“, die, wie wir schon gesehen haben44, zu Marxloh immer noch eine spezifische Bindung haben. Diese intensive Bindung speist sich in erster Linie aus ihren positiven Erinnerungen aus der Zeit „vor der Krise“ und ist nach wie vor bei den Frauen noch sehr lebendig. Ein kleiner Enthusiasmus, sich für den Stadtteil einzusetzen, zeigt sich hier daher in Karins Aussage immerhin doch noch, obgleich die „Alteingesessenen“ allgemein eher dazu tendieren, sich vom aktiven Engagement für den Stadtteil immer weiter zu entfernen.45 Eine umgekehrte Entwicklung im Umgang mit dem Negativimage Marxlohs finden wir hingegen unter den „Bildungsaufsteigerinnen“. Hier fühlte man sich auf Grund seiner Marxloher Herkunft ehemals stark stigmatisiert, beginnt allerdings allmählich, sich gegen das Stigma aufzulehnen. War man anfangs noch beschämt darüber, Marxloherin zu sein, so entwickelt man nun allmählich ein gewisses Selbstbewusstsein. Dazu Nayla:

44 Ebd. 45 Ebd.

296 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH N: Wenn ich früher gefragt wurde, wo ich wohne, habe ich nicht gesagt: „Ich wohne in Marxloh.“ Ich habe immer nur „Duisburg“ gesagt. Ich hatte irgendwie das Gefühl, ich muss mich rechtfertigen. Das fand ich schlimm. Aber mittlerweile sehe ich das nicht mehr ein. Ich sage, ich wohne in Marxloh, im Norden. I: Und wie ist die Reaktion? S: Interessiert mich nicht, ehrlich gesagt (lacht). Ich sag ja, früher hatte ich das Gefühl, vielleicht weil mir das wichtig war, was die Leute darüber denken. Aber mittlerweile ist mir das nicht mehr wichtig. Also ich wohne hier, weil wir haben hier eine schöne Wohnung und meine Familie lebt hier. Das ist eigentlich das einzige.46

Naylas Art, mit dem Negativimage Marxlohs umzugehen, befindet sich in einer Entwicklung von einem passiv-ausweichenden Verhalten hin zu einem aktiven. Nayla hat, ausgelöst durch ihren Bildungs- und anschließenden beruflichen Erfolg47, beschlossen, sich der Stigmatisierung als „Marxloherin“ zu stellen und ihre Herkunft nicht länger zu verheimlichen. Dies teilt sie mit anderen „Bildungsaufsteigerinnen“ in Marxloh. Der von einigen türkeistämmigen „Bildungsaufsteigern“ wie Nayla betriebene „Medienbunker Marxloh“48 ist ein typisches Zeichen für diese veränderte Wahrnehmung türkeistämmiger „Bildungsaufsteiger“ der zweiten und dritten Generation: Junge, gebildete türkeistämmige Marxloherinnen (und Marxloher) versuchen hier aktiv mit künstlerischen Aktivitäten wie „Made in Marxloh“49 und „100 Bräute für die A40“50 sowie verschiedenen

46 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 47 Nayla hat sich zunächst auf dem Arbeitsmarkt schwer getan und arbeitet aber nun zu ihrer Zufriedenheit bei einer deutschen Behörde. Seitdem, sagt sie, habe sich ihre Einstellung geändert und sie interessiere sich nicht mehr dafür, „was andere Leute sagen“ würden. („Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010.) 48 Vgl. dazu die Website des Medienbunkers Marxloh unter: http://www.madeinmarx loh.com/ (letzter Abruf: 30.09.2014). 49 Ebd. 50 Die Mitarbeiter des Medienbunkers mobilisierten anlässlich der Sperrung der A 40 im Kontext der Aktivitäten um die „Kulturhauptstadt 2010“ im Sommer des gleichen Jahres insgesamt 100 auf der gesperrten Autobahn aufmarschierende Bräute, um auf das Marxloher Brautmodencluster aufmerksam zu machen. Dabei sei es, wie es heißt, um „das symbolische Setzen eines Kontrapunktes [gegangen, Anm. d. Verf.] – denn Marxloh wird in der Außenwahrnehmung häufig noch immer als gefährliches

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Filmen und Dokumentationen, dem Marxloher Image etwas entgegenzusetzen und haben damit durchaus auch Erfolg. Nehmen wir nun abschließend noch Bezug auf die Gruppe der „Zurückgezogenen“ im Stadtteil, die zu Marxloh im Unterschied zu den anderen Gruppierungen eine durchweg negative Einstellung hat. Erinnern wir uns etwa an Christianes Aussage „Ach du Scheiße, das darf doch nicht wahr sein, wo bin ich hier gelandet!“51 und ihren eindringlichen Wunsch danach, den Stadtteil zu verlassen, sobald sie über die notwendigen Ressourcen verfügen würde, so wird offensichtlich, wie ungern sie in Marxloh lebt. Ebenso unzufrieden ist auch die 80-jährige „Zurückgezogene“ Else, die zu verstehen gibt: E: Ja, ich will hier raus, aber da musste auch Geld haben, Kind. Denn 600 Euro bestimmt für ’nen Umzug. […] Aber wer hilft einem da? Es ist keine Hilfe da.52

Als Grund, aus Marxloh wegziehen zu wollen, wird von Else vor allem der „Dreck“ genannt. Marxloh sei „dreckig“53 sagt sie voller Ekel in unserem Gespräch: E: Der Stadtteil Marxloh war früher schöner. Super sauber! Aber heute, wenn du nach Marxloh gehst, dann musst du aufpassen, dass du keinen Schnodderböllen auf die Schuhe kriegst! Oder an die Jacke oder an die Tasche. Die schmeißen ja hin, wo sie wollen. Wenn man dort geht, dann kommt es mir bald hoch. Die rotzen sich in die Hand und putzen das an den Wänden ab. Ist nicht mehr so wie Marxloh früher war.54

Es ist hier also interessanter Weise gerade die Gruppe derjenigen, die über das geringste soziale und ökonomische Kapital verfügt, sie am stärksten auf das Marxloher Negativimage reagiert. Dies erschließt sich dann, wenn wir den Bogen ein wenig weiter spannen und das Lokale mit der sozialen Lage der Personen verknüpfen: So wissen wir aus der Studie Gerd Baumanns über das Londoner Southall, dass „Dreck“ durchaus auch als ein Symbol fungieren kann, mit dem man weniger auf das tatsächlich wahrgenommene Straßenbild als auf soziale Unterschiede verweisen möchte. Ähnlich wie Marxloh gilt auch das von

‚Schmuddelviertel‘

bezeichnet“.

http://madeinmarxloh.com/blog/2010/07/16/die-

strasen-voller-braute/ (letzter Abruf: 30.09.2014). 51 „Zurückgezogene“, weiblich, 52 Jahre. Forschungstagebuch vom 17.08.2010. 52 „Zurückgezogene“, weiblich, 80 Jahre, Interview vom 20.08.2010. 53 Ebd. 54 Ebd.

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Baumann untersuchte Southall bei vielen seiner Bewohner als „dirty“, „grotty“ und „tatty“55. In Southall scheint es jedoch, als sei das „moving out“56, also das Verlassen des Stadtteils, nur deshalb das Ziel der Southallians, um damit ein „moving up“ zu verbinden, also den sozialen Aufstieg zu demonstrieren. Die Adjektive „dirty“, „grotty“ und „tatty“ fungieren hier also als Symbol des sozialen „Unten“ – weniger als sachliche Beschreibung des Stadtbildes. Baumann jedenfalls betont, er zumindest habe Southall nicht schmutziger als andere Stadtteile wahrgenommen. Dies ist bei den meisten Marxloherinnen deutlich anders. Dass der Stadtteil „dreckig“ ist, nehmen sogar die sonst wohlgesonnenen „Aktiven“ ohne jegliche Relativierung wahr. So sagt Paula: P: Ja, also was mich schon manchmal stört ist, also so an manchen Tagen habe ich das Gefühl, die haben hier die gelben Säcke über uns ausgekippt, ne. Mit dem Hubschrauber einmal drüber. Also das finde ich in den fünf Jahren mehr, diese Vermüllung. Das war vor fünf Jahren noch nicht so. Also mich stört das, und ich find das ’n bisschen blöd.57

Der Schmutz auf den Straßen, der unumstritten vorhanden ist58, wird durch die Marxloherinnen also unterschiedlich wahrgenommen. Ist er für die „Aktive“ Paula nur „’n bisschen blöd“, dient er der „Zurückgezogenen“ Else, wie von Baumann konstatiert, als ein Symbol der sozialen Verwahrlosung, gegen die sie angestrengt ankämpft. Wie auch die „zurückgezogene“ Dagmar59, die betont, sie würde nicht wie „typische Sozialhilfeempfänger“ hausen, bei denen „der Dreck auf dem Boden liegt“60, ist auch Else stets darauf bedacht, keinen Eindruck als „typische Hartz-IV-Empfängerin“61 zu hinterlassen. Der Schmutz auf den Straßen Marxlohs ist für die „Zurückgezogenen“ also nicht wie für die „aktiven“ Marxloherinnen schlichtweg „Müll“, sondern eine stets präsente Erinnerung an

55 Baumann, Gerd (1996): Contesting Culture. Discourse of identity in multi-ethnic London (= Cambridge studies in social and cultural anthropology, 100). Cambridge. S. 43. 56 Ebd., S. 44. 57 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. 58 Vgl. einen Onlinebericht über Marxlohs „Mülldetektive“ von Brück, Claudia (2014): Auf Streife mit den Mülldetektiven. In: lokalkompass.de vom 11.02.2014. Online unter: http://www.lokalkompass.de/duisburg/leute/auf-streife-mit-den-muelldetektivend399585.html (letzter Abruf: 12.09.2014). 59 Vgl. Abschnitt 4.6. 60 Forschungstagebuch vom 24.12.2012. 61 Ebd.

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ihre subjektive Wahrnehmung, im „Dreck“ – und das nicht nur in lokaler, sondern auch in sozialer Hinsicht – zu leben.62 Wir sehen also, wie stark die vorhandenen Ortsbilder Auswirkungen auf die Marxloher Bevölkerung haben und zur Produktion von Ungleichheiten zu „Nicht-Marxlohern“ beitragen können. Als Marxloherin sieht man sich immer wieder mit einem Negativimage und nicht selten mit der Frage von Außenstehenden konfrontiert, wie man denn in einem solchen Viertel überhaupt leben könne. Die Marxloherinnen entwickeln dabei recht unterschiedliche Strategien, wie sie mit Marxloh „als Marke“ umgehen: Während sich einige der „Bildungsaufsteigerinnen“ zunächst noch zurückzogen aber nun gleich den Marxloher „Aktiven“ und den „Alteingesessenen“ langsam versuchen, dem negativen Image etwas entgegenzusetzen, ist dies bei der kapitalschwächsten Gruppe, den „Zurückgezogenen“, nicht der Fall. Hier äußert man einhellig, unzufrieden mit dem Stadtteil zu sein. Dabei ist es weniger das Thema „Kriminalität“ oder „parallelgesellschaftliche Strukturen“, auf das sie Bezug nehmen. Es ist vielmehr der Schmutz auf den Straßen, der für sie als Symbol steht für soziale Verhältnisse, denen sie nicht angehören wollen. Entsprechend distanziert man sich in dieser Gruppe Frauen stärker vom Marxloher Straßenbild als dies bei den anderen Gruppen der Fall ist, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, dass man als Hartz-IV-Empfängerin „im Dreck lebt“. 5.1.2 Bewegungsverhalten Beim Bewegungsverhalten63 handelt es sich um einen Untersuchungsbereich, der in Studien zur Stadt unter dem Gesichtspunkt „Ungleichheit und Geschlecht“ bereits insofern untersucht wurde, als man das unterschiedliche Bewegungsverhalten von Männern und Frauen sowie „Migranten“ und „Einheimischen“, im städtischen Raum in den Blick nahm. So wurden etwa die Anzahl täglich aufgesuchter Orte, Gesamtweglängen pro Tag, durchschnittliche Weglängen64 aber auch die Bedeutung sogenannter „Angsträume“ beobachtet und miteinander vergli-

62 Mehr zur Bedeutung des Sozialen folgt unter Abschnitt 5.3. 63 Der Begriff „Bewegungsverhalten“ wird auch verwendet, um sportliche Betätigungen zu benennen. Ich habe mich aber bei der Begriffswahl an Scambor und Scambor orientiert und verstehe unter Bewegungsverhalten allgemeine Bewegungen im öffentlichen Raum. Vgl. Scambor; Scambor: 2007. 64 Scambor; Scambor: 2007, S. 60.

300 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH

chen.65 Dies alles erweist sich auch in Bezug auf die Marxloherinnen als bedeutsam, denn auch hier kommt es, wie wir sehen werden, zu spezifischen Wahrnehmungen des öffentlichen Raumes und zu entsprechend divergierenden Wegen und Weglängen seiner Bewohnerinnen. Wenden wir uns in diesem Zusammenhang nun zunächst dem Thema „Angsträume“ zu, also Orten, an denen man sich aus bestimmten Gründen, wie etwa wegen seines Alters, seiner sexuellen Orientierung, seiner Hautfarbe, seines Geschlechts oder anderem nicht sicher fühlt und kriminelle Handlungen fürchtet.66 Marxloh verfügt über einige solcher Orte, die von seinen Bewohnerinnen aus unterschiedlichen Gründen gemieden werden. Dabei ist es allerdings „nur“ eine der Gruppen, die einen spezifischen Ort auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit meidet, und das ist die Gruppe der „Romafrauen aus Rumänien“. Nach einem Überfall auf die Gruppe am Marxloher Skulpturenweg, mit der man die rumänischen Roma unter massiver Gewaltausübung aus dem Stadtteil vertreiben wollte67, trauen sie sich nicht mehr dorthin. Man meidet hier also den Raum, an dem man fürchtet, (erneute) rassistische Übergriffe zu erfahren.68 Die Gruppe der rumänischen Roma ist in Marxloh jedoch die einzige, deren Entstehung ihres Angstraumes ethnische Ursachen hat, was jedoch nicht bedeutet, dass die anderen Gruppen keine Angsträume im Stadtteil wahrnehmen. Im Unterschied zur Gruppe der „Romafrauen aus Rumänien“ begründen sie das Meiden bestimmter Räume im Stadtteil allerdings ausschließlich mit dem Geschlecht „Frau“ – nicht mit der ethnischen Zugehörigkeit. Besonders Bereiche des öffentlichen Raumes werden genannt. Es scheint also, als gelte der öffentliche Raum auch für viele Marxloherinnen als „unkontrollierter – und deshalb potenziell gefährlicher – Raum“69. Das ist von daher interessant, da wir inzwischen wissen, dass weniger der öffentliche Raum als vielmehr die privaten Räumlich-

65 Vgl. dazu beispielsweise: Lindner, Werner (1998): Die „sichere“ Stadt. Zwischen urban control und urbaner Kompetenz. In: Breyvogel, Wilfried (Hrsg.) (1998): Stadt, Jugendkulturen und Kriminalität. Bonn. S. 37-61. 66 Vgl. Döring, Uta (2008): Angstzonen. Rechtsdominierte Orte aus medialer und lokaler Perspektive. Wiesbaden. S. 98. 67 Vgl. Abschnitt 5.2. 68 Vgl. dazu auch: Agentur der Europäischen Union für Grundrechte: 2009c. 69 Schiffauer, Werner (1997): Das Ideal der Segregation. Annäherungen an die urbane Kultur der türkischen Großstadt. In: Ders. (Hrsg.) (1997): Fremde in der Stadt. Frankfurt am Main. S. 128-144. Hier: S. 132.

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keiten Ort von Gewalt gegen Frauen sind.70 Zugleich ist aber gerade dieses Paradoxon das Kennzeichnende für Angsträume: Es geht nicht darum, ob eine reale Gefahr herrscht, sondern ob der Raum subjektiv als mit Gefahren verbunden wahrgenommen wird.71 So haben wir etwa auch bei den „Frauen aus Bulgarien“ gesehen, dass sie große Angst davor haben, ihre Töchter könnten im Stadtteil entführt und zur Prostitution gezwungen werden, obgleich dies bislang lediglich einmal in Marxloh geschehen ist.72 Die Angst ist damit auch bei dieser Gruppe Frauen weniger real als dass die Gefahr subjektiv als solche wahrgenommen wird. Generell sind es dunkle und einsame Ecken, vor denen sich die Frauen am meisten fürchten. Einige der Marxloher Frauen, darunter vor allem viele der türkeistämmigen „Heiratsmigrantinnen“ und der „Frauen aus Bulgarien“ aber auch einige der „Bildungsaufsteigerinnen“, versuchen, sich bei Dunkelheit möglichst gar nicht und schon überhaupt nicht allein im Stadtteil zu bewegen. So sagt etwa die 26-jährige türkeistämmige „Bildungsaufsteigerin“ Güzel: G: Ich mag die Dunkelheit nicht. Generell nicht.73

Dunkelheit, Unübersichtlichkeit gebündelt mit dem subjektiven Gefühl von Einsamkeit sind die typischen Merkmale von Angsträumen.74 Ist es dunkel, sieht man nicht mehr klar und fühlt sich orientierungs- und hilfloser als dies bei Tag der Fall ist. So verwundert es nicht, dass die Marxloherinnen mit Angsträumen vor allem Orte bei Nacht verbinden – besonders der Schwelgernpark fungiert als typischer Angstraum. Dazu sogar eine der „Aktiven“, Paula:

70 Vgl. Becker, Ruth (2002): Überwindet die Angsträume! Eine Polemik. In: Kramer, Caroline (Hrsg.) (2002): FREI-Räume und FREI-Zeiten. Raum-Nutzung und ZeitVerwendung im Geschlechterverhältnis. Baden-Baden. S. 79-89. Hier: S. 81. Vgl. dazu auch Abschnitt 5.3.1. 71 Vgl. Doran, Bruce J.; Lees, Brain G. (2005): Investigation the spatiotemporal links between disorder, crime and the fear of crime. In: The Professional Geographer, 1 (2005). S. 1-12. Vgl. zudem Dölling, Dieter u.a. (1996): Opfererfahrungen, Kriminalitätsfurcht und Vorstellungen zur Delinquenzprävention. In: Pfeiffer, Hartmut; Trenczek, Thomas (1996): Kommunale Kriminalprävention. Paradigmenwechsel und Wiederentdeckung alter Weisheiten. Bonn. S. 118-140. 72 Vgl. Abschnitt 4.8. 73 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 26 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 30.08.2012. 74 Döring: 2008, S. 97.

302 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH P: Also ich würde zum Beispiel nicht unbedingt nachts so zwischen elf und zwölf durch den Schwelgernpark gehen oder auch durch den Mattlerbusch75 nicht gehen. Das würde ich als Frau nicht machen, ne.76

Der Schwelgernpark ist ein zwischen der Thyssenhütte und dem Marxloher Wohnbereich gelegener Park, der nachts, sieht man von den Lichtern, welche die Thyssenwerke abwerfen, einmal ab, vollkommen unbeleuchtet ist. Die drei genannten typischen Merkmale von Angsträumen – Dunkelheit, Unübersichtlichkeit und Einsamkeit – treffen hier gebündelt aufeinander und führen dazu, dass die Frauen sich an diesem Ort in der Dunkelheit nicht sicher fühlen. Hinzu kommt jedoch auch, dass gerade rund um den Schwelgernpark diverse Gerüchte im Stadtteil kursieren, die bei den Frauen Ortsbilder erzeugen, die ihn noch unheimlicher erscheinen lassen. So gilt der Schwelgernpark als Umschlagsplatz für Drogendealer und zeitweise auch für Menschen, die kein Zuhause haben. Im Winter 2012 wurde mir etwa berichtet, hätte eine Gruppe von Polen im Park gehaust, da sie kein Geld gehabt hätten, das Rückfahrtticket in ihr Herkunftsland zu finanzieren. Welchen Wahrheitsgehalt diese Hören-Sagen-Geschichte hat, kann ich bis heute nicht sagen. Mit Bestimmtheit hat sie jedoch dazu beigetragen, dass die Marxloherinnen den Schwelgernpark weiterhin als Angstraum wahrnahmen. Nachts im Dunkeln mit unbekannten Polen, die kein Zuhause haben, im Schwelgernpark allein zu sein – für viele Frauen ist allein diese Vorstellung Grund genug, den Park zu meiden, da sie Angst haben, es könnte ihnen jemand, wie es eine der „Alteingesessenen“ befürchtet, „mit der Brechstange auf den Kopf hauen“.77 So begibt man sich im Dunkeln lieber nicht in den Park und schlägt mit seinem Hund, wenn man ihn abends ausführt, vorzugsweise eine andere Route ein. Warum, so ließe sich fragen, äußert die „Bildungsaufsteigerin“ Güzel, Angst vor der Dunkelheit insgesamt zu haben, wohingegen die „aktiven“ und die „alteingesessenen“ Frauen lediglich den Schwelgernpark bei Nacht als Angstraum wahrnehmen? Betrachten wir dazu nochmals eine Aussage der „Aktiven“ Paula, in der sie vorgibt, sich in Marxloh (abgesehen vom Schwelgernpark bei Nacht) „absolut sicher“78 zu fühlen:

75 Der Mattlerbusch ist ein direkt an Marxloh angrenzender Park. 76 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. 77 „Alteingesessene“, weiblich, 59 Jahre. Interview vom 30.08.2010. 78 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012.

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P: Ansonsten, ich weiß nicht. Ich würde auch um zwölf noch über den August-BebelPlatz79 laufen. Da hätte ich, glaube ich, keine Angst.80

Schauen wir uns diesen Satz genauer an, so springt Paulas Formulierung im Konjunktiv hervor. Sie hätte, so glaubt sie, keine Angst, allein über den AugustBebel-Platz zu laufen. Faktisch hat sich Paula also noch nie bei Nacht zum August-Bebel-Platz begeben. Da Paula aber, um von der Straßen- oder Bushaltestelle nach Hause zu kommen, den August-Bebel-Platz nahezu zwangsläufig überqueren muss, frage ich sie eines Tages, welchen Weg sie denn stattdessen abends, wenn sie von der Haltestelle komme, nach Hause einschlage. Und Paula antwortet, wie viele der Marxloherinnen, die sagen, sich im Stadtteil absolut sicher, ja sogar „sicherer als im Stadtzentrum“81 zu fühlen: Sie habe ein Auto und nutze die öffentlichen Verkehrsmittel so gut wie nie. Das Auto fungiert für die Marxloherinnen als ein Ort der Sicherheit. Dank des Autos sind die Wege kürzer, und man ist schnell, sicher und flexibel am Ziel. Das Auto ist aber nicht nur für das Sicherheitsempfinden der Marxloherinnen bedeutsam, es scheint darüber hinaus ein Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit zu sein. So sagt die „Heiratsmigrantin“ Ferda: F: Ich habe keine Angst. Ich habe ein eigenes Auto, kann mir selbst helfen. Ich bin nicht abhängig von jemandem.82

Hier sollten wir im Kopf behalten, dass Ferda eine der „Heiratsmigrantinnen“ ist, über die wir bereits erfahren haben, dass sie, insbesondere in der Anfangsphase ihres Aufenthalts in Marxloh, selten allein aus dem Haus gehen.83 Erst dann, wenn das Paar in seine eigenen Räumlichkeiten umzieht, beginnen die Frauen, sich auch mal nach draußen zu begeben, an Sprachkursen teilzunehmen, den Führerschein zu erwerben und so Stück für Stück sich „selbst zu helfen“, wie es Ferda ausdrückt. Aus dieser hohen Wertigkeit des Führerscheins, der es einem ermöglicht, sich „selbst zu helfen“ und „nicht abhängig von jemandem“ zu sein

79 Der August-Bebel-Platz ist eine Art „Zentrum“ Marxlohs. Hier finden sich verschiedene Geschäfte, und auch der Busbahnhof ist hier gelegen. 80 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. 81 „Aktive“, weiblich, 60 Jahre. Interview vom 11.08.2010. 82 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 36 Jahre, lebt seit 1995 in Deutschland. Interview vom 04.03.2013. 83 Vgl. Abschnitt 4.4.

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heraus, wird verständlich, dass es der „größte Wunsch“84 vieler Frauen ohne Führerschein ist – vor allem der aus Bulgarien zugewanderten und der „Heiratsmigrantinnen“ aus der Türkei – den Führerschein zu erwerben, um Auto fahren zu können. Das Auto erlaubt es ihnen, sich unabhängig fortzubewegen und somit auch Angsträume bei Dunkelheit umgehen zu können. Aber es sind nicht selten die Ehemänner dieser beiden Gruppen, die den Frauen den Erwerb des Führerscheins nicht erlauben. So sagt etwa die 23-jährige bulgarientürkische Meryem: M: Ein sehr großer Wunsch von mir ist es, den Führerschein zu erwerben, um mobil zu sein. Mein Mann erlaubt es jedoch nicht, weil er zu eifersüchtig ist.85

Es ist bereits deutlich geworden, dass in der Gruppe der „Heiratsmigrantinnen“ aus der Türkei wie auch bei den „Frauen aus Bulgarien“ die Männer diejenigen sind, die derartige Entscheidungen fällen, und die Frauen diese Entscheidungen als selbstverständlich ansehen. Interessant ist hier jedoch, dass Meryem als Begründung dafür, dass sie den Führerschein noch nicht erworben hat, die „Eifersucht“ ihres Mannes anführt. Meryems Mann selbst ist jedoch bereits im Besitz des Führerscheins, er kann also nicht auf etwas eifersüchtig sein, was seine Frau erlangen möchte und er noch nicht hat. Möglich wäre, dass Meryem darum besorgt ist, ihr Mann könne eifersüchtig auf das Auto sein. Denn solange Meryem keinen Führerschein hat, fragt sie ihn, ob er sie fahren kann, oder sie geht nicht aus dem Haus. Hat sie aber selbst die Möglichkeit, „mobil“ zu sein, wäre der Einsatz ihres Mannes nicht mehr gefragt. Noch wahrscheinlicher ist jedoch, dass Meryems Mann Kontrollverlust fürchtet und davon ausgeht, dass seine Frau, wenn sie denn dann den Führerschein besitzt, sich möglicherweise unabhängig von ihm fühlt und im nächsten Schritt fremdgehen könnte. Der Führerschein fungiert hier also als ein Zeichen der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, die Frauen in einigen Marxloher Familien bislang noch nicht erworben haben. Fassen wir also kurz zusammen: In Marxloh existieren für seine Bewohnerinnen durchaus Angsträume, die dazu führen, dass sie sich in spezifischer Weise durch den Stadtteil bewegen. Für die „Romafrauen aus Rumänien“ ist dies aus ethnischen Gründen der Skulpturenweg, für die „Frauen aus Bulgarien“ und für einige der „Heiratsmigrantinnen“ auf Grund ihres Geschlechts sogar Gesamtmarxloh bei Dunkelheit. Für die meisten Marxloherinnen ist es jedoch ausschließlich der Schwelgernpark im Dunkeln, wo man am Abend oder in der

84 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 41 Jahre, lebt seit 1989 in Deutschland. Interview vom 06.03.2013. 85 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 23 Jahre. Interview vom 07.12.2012.

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Nacht tatsächlich nie Frauen, aber durchaus des Öfteren Männer mit Hund antrifft. Was daraus resultiert, ist eine männliche Dominanz in bestimmten Teilen des öffentlichen Raumes, die in Marxloh gerade abends bei eintretender Dunkelheit zu beobachten ist: Dann sieht man nahezu ausschließlich Männer auf den Straßen. Deutlich wird zudem, dass die Autofahrerinnen unter den Marxloherinnen weniger Angsträume benennen als die Frauen, die keinen Führerschein haben und im Dunkeln ohne Begleitung lieber nicht mehr aus dem Haus gehen. Hier zeigt sich, dass sich Unterschiede im Bewegungsverhalten von männlichen und weiblichen Marxlohern nicht ausschließlich nur auf die Existenz von geschlechterspezifischen Angsträumen zurückführen lassen. Denn bereits der Besitz eines Führerscheins und eines Fahrzeuges ermöglicht es, längere Wegstrecken zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten zurückzulegen. Nun ist inzwischen allerdings auch bekannt, dass das Bewegungsverhalten von Männern und Frauen auch unabhängig von Angsträumen divergieren kann, was in erster Linie auf unterschiedliche Alltagstätigkeiten zurückgeführt wird. So haben die österreichischen Geschlechterforscher Christian und Elli Scambor in einer intersektionalen Studie86, in der sie die Bedeutung sowohl der Kategorie „Ethnizität“ als auch der Kategorie „Geschlecht“ am Beispiel der Stadt Graz mit einbinden wollten, versucht, die Bewegungen im Raum als „Abbild unterschiedlicher Vergesellschaftsbedingungen der Geschlechter“87 zu analysieren. Die Verfasser kommen zu dem Ergebnis, dass auf Grund von geschlechterspezifischen Arbeitsteilungen die Aktionsradien von Frauen und Männern in der Stadt unterschiedlich ausfallen würden. Die Ursache dessen sehen sie in der Sozialisation der Personen: Frauen würden für zwei unterschiedliche Lebensbereiche – Privates und Erwerbsarbeit – sozialisiert, während Männer einseitig auf die Erwerbsarbeit hin „vergesellschaftet“88 würden. Typische „Frauenräume“ seien entsprechend Spielplätze, Schulen, Kindergärten, Supermärkte sowie die Erwerbsarbeitsplätze der Frauen, wohingegen „Männerräume“ eher an den Rändern der Städte und in einer Pendlerbewegung zwischen dem Zuhause und dem Arbeitsplatz zu verorten seien.89 Besonders deutlich würden die Unterschiede hervortreten, wenn die untersuchten Personen in Reproduktionsarbeit eingespannt seien, also Kinder unter 14 Jahren versorgt werden müssten.90 In diesen Familien erhö-

86 Vgl. Scambor; Scambor: 2007. 87 Ebd., S. 43. 88 Ursprünglich geht der Begriff auf Max Weber zurück und meint den Prozess, wie sich Individuen zu Mitgliedern einer Gesellschaft formen. 89 Scambor; Scambor: 2007, S. 68. 90 Winker; Degele: 2009, S. 41.

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he sich die Anzahl der täglich aufgesuchten Orte zwar bei den Frauen, nicht jedoch bei den Männern.91 Im Endergebnis sind es dieser Studie zufolge die Frauen, die im Schnitt mehr Wege aufsuchen als die Männer.92 Zudem bewegen sich die untersuchten „Migrantinnen“93 offenbar täglich zwischen weniger Orten hin und her als die „Österreicherinnen“. Auffallend ist, dass vor allem die Gesamtweglänge bei der Gruppe der „Österreicherinnen“ länger zu sein scheint als bei der Gruppe der „Migrantinnen“. Die Netzwerke der Frauen, so daher das Fazit der Autoren, scheinen bei „Migrantinnen“ eher räumlich-lokal verortet zu sein im Unterschied zu den eher entlokalisierten Netzwerken der untersuchten „Österreicherinnen“, die eine weitere Wegspanne aufweisen würden. Übertragen wir die Ergebnisse der Studie Scambors und Scambors aus dem österreichischen Graz auf den Stadtteil Marxloh, so stoßen wir durchaus auf Übereinstimmungen – allerdings auch auf Divergenzen. Beides wird deutlich, wenn wir exemplarisch einen kurzen Blick auf das alltägliche Bewegungsverhalten der „Heiratsmigrantin“ Fatma werfen und dieses mit dem Bewegungsverhalten der „Aktiven“ Paula sowie schließlich mit dem der „Zurückgezogenen“ Else in Vergleich setzen: Die 36-jährige Fatma94 ist eine der Marxloher „Heiratsmigrantinnen“ und wohnt in der Nähe der Marxloher Moschee. Morgens bringt sie ihre Kinder zur Schule und besucht anschließend sporadisch Kurse in der Moschee. Im Anschluss daran geht sie einkaufen, die Kinder von der Schule abholen und bringt sie schließlich zum Mittagessen nach Hause. Am Nachmittag begibt sie sich mit ihren Kindern zu Freundinnen zu Besuch oder geht mit ihnen zum Spielplatz und schließlich zum Abendessen wieder nach Hause. Alle diese Wege geht Fatma im Stadtteil zu Fuß. Würden wir Fatmas Tagesablauf in einem Wegketten-Schema festhalten, so ließe sich ihre Mobilität folgender Maßen darstellen:95

91 Scambor; Scambor: 2007, S. 69. 92 Ebd., S. 60. 93 Leider erfolgt in der Studie keine weitere ethnische Ausdifferenzierung. 94 Mehr zu Fatma vgl. Abschnitt 4.4. 95 Diese Darstellung findet sich nahezu deckungsgleich bei Scambor; Scambor: 2007, S. 64 in Bezug auf eine, wie es in der Studie heißt, „Frau mit Migrationshintergrund (Türkei), mit Kindern unter 14 Jahren, wohnhaft in einem Bezirk mit hohem Migrationsanteil“.

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Abbildung 13: Fatmas Wegkette Moschee

Schule/Kindergarten

Einkaufen

Zuhause

Spielplatz

Freundinnen

Setzen wir diese Wegkette nun in Bezug zu Paulas Bewegungsverhalten, einer der kinderlosen „Aktiven“ im Stadtteil, so stoßen wir auf ähnliche Unterschiede, wie sie auch Scambor und Scambor herausgearbeitet haben: Paula ist in Vollzeit berufstätig. Morgens verlässt sie mit ihrem Auto den Stadtteil und fährt zur Arbeit in eine an Duisburg angrenzende Stadt. Ihr Mittagessen nimmt sie meist außerhalb ihrer Arbeitsstelle ein und kehrt anschließend wieder an ihren Arbeitsplatz zurück. Nach der Arbeit geht sie einkaufen, kommt kurz nach Hause und hält meist darauf kurz in der Kirche inne. Im Anschluss geht sie entweder ihrem Ehrenamt oder einem ihrer vielen Hobbies nach, bevor sie sich mit Freunden in einer Bar oder zum Essen trifft und mit ihrem eigenen Pkw nach Hause fährt. Paulas Tagesablauf entspricht damit ungefähr folgender Wegkette: Abbildung 14: Paulas Wegkette Erwerbsarbeit Mittagessen

Zuhause

Einkaufen

Kirche

Freunde

Ehrenamt

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Wir könnten nun mit Scambor und Scambor aus dem Vergleich von Fatmas und Paulas Wegketten den Schluss ziehen, dass „deutsche“ Frauen auch in Marxloh mehrere und vor allem entferntere Orte aufsuchen als Frauen „mit Migrationshintergrund“. Paula sucht zwar nicht wesentlich mehr Orte auf als Fatma, ist jedoch täglich mit dem Auto außerhalb des Stadtteils unterwegs, wohingegen Fatma keinen Führerschein hat und sich zwischen Schule, Moschee, Supermarkt und Freundeskreis ausschließlich innerhalb des Stadtteils bewegt. Wenden wir uns aber nun noch der zweiten Erkenntnis Scambors und Scambors zu, nämlich dass die Mobilität bei Frauen mit Kindern höher sei als bei kinderlosen Frauen, so lässt sich dies im Vergleich mit Paula und Fatma nicht mehr erhärten. Die kinderlose Paula ist mobiler als Fatma und fährt täglich mehrere Kilometer mit dem Auto, um zu ihrer Arbeitsstelle zu kommen und im Anschluss nochmals, um sich mit Freunden zu treffen oder ihren Hobbies sowie ihrem Ehrenamt nachzugehen. Für diese Ungleichheit finden wir eine Erklärung, wenn wir, neben den von Scambor und Scambor einbezogenen Kategorien „Migrationshintergrund“ (race) und „Geschlecht“ (gender) auch eine dritte Kategorie, nämlich das soziale Milieu (class) in die Analyse miteinbeziehen. Im Unterschied zu Fatma ist Paula Akademikerin, und wie die anderen Frauen aus der Gruppe der „Aktiven“ verfügt auch sie über eine hohe Mobilität. Sie besucht wöchentlich mehrere Veranstaltungen ehrenamtlicher oder nichtehrenamtlicher Art und scheint nahezu ununterbrochen unterwegs zu sein. Durch die Miteinbeziehung der Kategorie „Milieu“ lässt sich dieser Unterschied ebenso erklären wie auch der Sachverhalt, dass die kürzeste aller Wegketten einer „deutschen“ Gruppe, nämlich den „Zurückgezogenen“ im Stadtteil, zufällt. Betrachten wir dazu zuletzt die Wegkette der „Zurückgezogenen“ Else: Abbildung 15: Elses Wegkette Zuhause

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Diese ausgesprochen kurze Wegkette ist unter den „Zurückgezogenen“ kein Einzelfall. Allein unter Bezugnahme auf das Geschlecht und den Migrationshintergrund müsste man nun mit Scambor und Scambor, deren Ergebnissen zufolge die Wegketten der „Österreicherinnen“ ja tendenziell länger ausfielen als die der „Migrantinnen“, einen Widerspruch erkennen. Die kürzesten Wegketten in Marxloh kommen den „Zurückgezogenen“ und damit einer „deutschen“ Gruppe zu, die aus biographischen Gründen, wie bereits ausführlich dargelegt96, in Armut lebt und auch dadurch weder ausreichend soziales noch ökonomisches Kapi96 Vgl. Abschnitt 4.6.

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tal besitzt, um etwas zu unternehmen, an Kursen teilzunehmen oder gar einer Berufstätigkeit nachgehen zu können. Es lohnt also, neben „race“97 und „gender“ auch mindestens die Kategorie „class“ mit in quantitative Studien wie die intersectional map einzubauen, um so etwaige „Ausreißer“ im Bewegungsverhalten, wie sie und bei den Marxloher „Zurückgezogenen“ vorliegen, erklären zu können. 5.1.3 Fazit „Der Stadtteil als Marke“98 – diese Bezeichnung könnte für das Selbstverständnis der Marxloherinnen nicht treffender sein. Lebt man in Marxloh, so scheint es unausweichlich, sich mit den Bildern Außenstehender auseinandersetzen zu müssen. In Bezug auf Marxloh ist dieses Bild eindeutig negativer und undifferenzierter als das der Stadtteilbewohnerinnen selbst.99 Die Marxloher Frauen fühlen sich gegenüber „Nicht-Marxloherinnen“ ungleich behandelt und stigmatisiert. Sie sehen sich entweder gezwungen, sich rechtfertigen (Nayla) oder ihre Adresse verheimlichen zu müssen. Auch spüren sie die Notwendigkeit, aktiv dazu beitragen zu müssen, das Negativimage Marxlohs zu verbessern. Besonders ambitioniert sind hier die „Aktiven“ und die „Bildungsaufsteigerinnen“, aber zum Teil auch die „Alteingesessenen“, die angesichts dieser von außen kommenden Stigmatisierung beginnen, Marxloh und „die Türken zu verteidigen“ (Karin). Nur die kapitalschwächste Gruppe der „Zurückgezogenen“ scheint dem Marxloher Negativimage nichts entgegen setzen zu wollen. Aus Sicht dieser Gruppe geht es im Stadtteil „eh schon allen dreckig“ (Dagmar). Daraus erklärt sich, dass vor allem von ihnen der Abfall auf den Straßen als besonders schlimm empfunden wird, denn dieser steht symbolisch für die sozialen Verhältnisse dieser Gruppe, der man eigentlich gar nicht angehören möchte. Zu weiteren Ungleichheiten unter den Marxloherinnen im Stadtteil kommt es, wenn wir ihr Bewegungsverhalten betrachten. Neben dem Angstraum am Skulpturenweg, den die Gruppe der „Romafrauen aus Rumänien“ aus ethnischen Gründen meidet, wird von anderen Frauen vor allem der Schwelgernpark, aber

97 Wobei man diese Kategorie durchaus auch nach unterschiedlichen Gruppierungen ausdifferenzieren müsste, denn die Kategorie „Migrationshintergrund“ erscheint doch recht weit, wenn wir uns die Marxloher ethnische Vielfalt der Personen, die allein aus über 80 verschiedenen Nationen stammen, betrachten. 98 Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Bauwesen des Landes Nordrhein-Westfalen (ILS NRW): 2006. 99 Deutsches Institut für Urbanistik: 2003, S. 142-143.

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zum Teil sogar Marxloh generell bei Nacht als Angstraum wahrgenommen. Diesem Gefühl begegnen viele dadurch, dass sie einen Führerschein und ein Auto besitzen. Das Auto vermittelt ihnen auch im Dunkeln und an als unsicher wahrgenommenen Orten ein Sicherheitsgefühl. Im Allgemeinen sind diese Frauen mit Führerschein und eigenem Fahrzeug mobiler, ihre Wegketten länger und reichen sogar über den Stadtteil hinaus. Dieser Faktor sowie die Frage des sozialen Milieus ist bislang jedoch in Studien zum Bewegungsverhalten von Frauen in der Stadt noch nicht thematisiert worden und zeigt deutlich, dass sich eine Kombination weiterer Kategorien auch außerhalb von „race“ und „gender“ lohnt, um Unterschiede treffender erfassen und beschreiben zu können.

5.2 Z UR B EDEUTUNG VON E THNIZITÄT Bereits eingangs haben wir uns eingehend mit dem Begriff „Ethnizität“ und all seinen Schwierigkeiten, ihn adäquat zu definieren, auseinandergesetzt. Es wurde gesagt, dass, so problematisch das Sprechen von und über Ethnizität auch ist, der Begriff für uns Ethnographen, die wir uns mit der subjektiven Sicht von Menschen auseinandersetzen, dennoch nicht ganz zu umgehen ist.100 Zumindest die Marxloher Frauen, das haben wir gesehen, scheinen, wie auch andere Gruppierungen andernorts101, eine klare Vorstellung davon zu haben, wer auf Grund welcher ethnischer Eigenschaften zur eigenen Gruppe dazugehört und – das ist vielleicht noch wichtiger – wer eben gerade nicht dazugehört. Welcher der acht Frauengruppierungen wir uns auch zuwenden: Sie alle sprechen, wenn sie sich von anderen abgrenzen wollen, von „unserer Kultur“ oder in abgewandelter Form von einem „Wir“ oder einem „Uns“ gegenüber den „anderen“. Was in den Gesprächen mit den Frauen wie eine fixe und unumstößliche kulturelle Abgrenzung anklingt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen jedoch als nicht ganz so eindeutig. Denn auch wenn die Frauen eine konkrete Vorstellung davon zu haben scheinen, was „ihre Kultur“ im Vergleich zu „anderen Kulturen“ ausmacht, so zeigt sich im Alltagsgeschehen dennoch, dass sich die ethnischen Identitäten der Gruppierungen keineswegs statisch, sondern flexibel und dynamisch gestalten. Oft handelt es sich um Mehrfachidentitäten, die sich je nach Situation wandeln können und sich darüber hinaus in permanenter Veränderung befinden.

100 Vgl. Abschnitt 3.2. 101 Das Gleiche hat Gerd Baumann in Bezug auf das Londoner Southall festgestellt. Vgl. Baumann: 1996, S. 72.

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Wenden wir uns zur näheren Veranschaulichung dessen zunächst der Gruppe der in Marxloh lebenden „Frauen aus Bulgarien“ zu, und zwar denjenigen von ihnen, die sich aus ihrem eigenen Selbstverständnis heraus als „Bulgaren“ oder als „Bulgarientürken“ und definitiv nicht als „Roma“ verstehen. Trotz dieser Selbstbezeichnung werden sie jedoch von anderen im Stadtteil lebenden Personen, im Besonderen von anderen Zuwanderern aus Bulgarien, unter Rückgriff auf primordialistische Zuschreibungen als „Roma“ beziehungsweise als „Zigeuner“ bezeichnet. So sagt etwa eine Sozialarbeiterin, die sich selbst der bulgarischen Mehrheitsgesellschaft zurechnet: O: Die [Roma in Bulgarien, Anm. d. Verf.] haben sich auch in Bulgarien schon so [Bulgarientürken, Anm. d. Verf.] genannt. Obwohl man wusste schon, dass das eine Romafrau ist, die sagt: „Nein, ich bin Türkin.“ Oder sehr viele aus Schumen, das ist ganz oben, die sind mehr in Hochfeld angemeldet, die bezeichnen sich auch als Balkantürken, also nicht als Roma. Wir wissen aber, ich und [eine andere Frau, Anm. d. Verf.], dass die Roma sind. […] Mir reicht es, wenn ich ein Kind sehe. Und da gibt es auch Unterschiede in der Sprache, wo man sagt: „Ok, du gehörst wirklich zu der Romaminderheit.“102

Im Herkunftsland Bulgarien galten die Marxloher „Frauen aus Bulgarien“ ebenfalls in den Augen der meisten „Bulgaren“ als „Roma“. Nun, in Deutschland lebend, wollen viele der dort als „Roma“ Bezeichneten auf Grund ihrer im Herkunftsland erfahrenen Fremdzuschreibungen, Stigmatisierungen und Diskriminierungen, als „Bulgarinnen“ oder als „Bulgarientürkinnen“ gesehen werden. Doris, eine Sozialarbeiterin, die immer wieder mit „Frauen aus Bulgarien“ in intensivem Kontakt steht, sagt über diese Gruppe Frauen: D: Die meisten möchten darüber nicht reden und würden auch hier [in Duisburg, Anm. d. Verf.] niemals sagen: „Ich bin Rom.“ Also auf gar keinen Fall. Eine Kollegin hat mal eine Frau gefragt, und die kam dann zu mir und hat geweint und gesagt: „Ich habe gedacht, man würde so etwas in Deutschland nicht gefragt.“ Also die Leute, die verdecken das. Die sagen dann eher, sie sind Türken, Türken oder Bulgaren. Ich weiß von vielen Frauen, dass die Roma sind, aber die würden das öffentlich niemals sagen. Und ich würde jetzt auch nicht sagen: „Die ist Roma103, die ist Roma.“104

102 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013. 103 Dies entspricht dem Originalwortlaut von Doris. Eigentlich müsste die weibliche Form für eine Romafrau Romni heißen. Auf den Wortlaut der Interviews wirke ich aber, wie unter Abschnitt 2 bereits gesagt, an keiner Stelle ein. 104 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.08.2012.

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Was sich hier zeigt, ist eine typische Seite des Ethnizitätsphänomens, das uns durch die Thesen des Anthropologen Fredrik Barth bekannt ist: Interethnische Beziehungen beruhen nicht nur auf der situativen Selbst- sondern ganz besonders auf dem „Wir-Ihr-Spiel“105 zwischen Selbst- und Fremdzuordnung von Gruppen durch andere Gruppen.106 Diese Fremdzuordnungsprozesse können auf politischer Ebene oder aber auch auf individueller Ebene erfolgen. In beiden Fällen müssen sie jedoch weder auf objektiv feststellbaren Merkmalen, wie etwa Sprache, Religion u.a., beruhen, noch sich mit den subjektiven Selbstzuschreibungen der jeweiligen Gruppen decken. So wissen wir spätestens seit Eric Hobsbawms „Nationen und Nationalismus“107, dass die wohl bedeutendste Grenzziehung auf politischer Ebene, die Nationalstaatsgrenze, als von oben gesetztes Konstrukt „politischer Natur“108 anzusehen ist. Anders als es spätere Nationalisten glauben machen wollten, waren weder die Sprache noch die Ethnie das verbindende Kriterium zur Ausbildung der Nation, sondern schlichtweg politische Interessen.109 Die große „imaginierte Gemeinschaft“110 Nation markiert also sehr deutlich, wer dazu gehört und wer nicht, unabhängig davon, ob sich die Mitglieder auf Grund objektiv feststellbarer Merkmale voneinander unterscheiden oder sich die aus der Nation Ausgeschlossenen ihr subjektiv zugehörig fühlen oder nicht. Brechen wir das Gesagte auf die Mikroebene herunter, so finden wir auch hier bereits im „Mikrokosmos“ Marxloh Fremdzuschreibungen von Gruppen durch andere Gruppen, die sich gegenüber den jeweils eigenen Selbst-

105 Vgl. Bausinger, Hermann (1999): Ethnizität – Placebo mit Nebenwirkungen. In: Köstlin, Konrad; Nikitsch, Herbert (Hrsg.) (1999): Ethnographisches Wissen. Zu einer Kulturtechnik der Moderne. Wien. S. 31-41. Hier: S. 36. 106 Barth, Fredrik: 1970. 107 Vgl. Hobsbawm, Eric J. (1992): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt am Main. 108 Vgl. ebd. 109 Nach Hobsbawm waren alle heutigen Nationalstaaten, als sie gebildet wurden, sowohl sprachlich als auch ethnisch heterogen. Erst im Nachhinein, nach der Nationalstaatsbildung, wurde beispielsweise die Sprache als verbindendes Kriterium der Nation als Ganzes vereinheitlicht. Ein gutes Beispiel dafür ist Frankreich. Vgl. dazu: Weber, Eugen (1976): Peasants into Frenchmen. The Modernization of Rural France 1870-1914. Chicago. 110 Anderson, Benedict (2005): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt am Main. Das englische Original ist 1983 in London erschienen: Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London.

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zuschreibungen als dominant erweisen und Ausschlussmechanismen erzeugen: Viele der in Marxloh lebenden Frauen, die der bulgarischen Mehrheitsgesellschaft oder auch der türkischen Minderheit in Bulgarien angehören, erkennen die „anderen“ Bulgaren nicht als „echte“ Bulgaren an. Für sie sind es „Roma“ oder „Zigeuner“ und daher werden sie gemieden. Dazu noch einmal Doris: D: Also wenn ich mit Frauen […] an diesem Haus vorbeigehe, und da guckt eine Frau aus dem Fenster, oder man begegnet sich sogar auf der Straße, da wird weggeguckt und zwar von beiden Seiten. Weil die hier, in diesem Nachbarhaus, das sind ja richtige Roma und wir [die Bulgaren, Anm. d. Verf.] sind keine.111

Die Markierung von Gruppendifferenzen verläuft somit in zwei Richtungen: Aus Sicht „der Bulgaren“ sind die Roma „die Zigeuner“, aus Sicht der Roma sind „die Bulgaren“ „die mit den nachgemachten Adidasanzügen“112 ohne Sinn für „Stil und Eleganz“113. In beiden Fällen findet eine deutliche positive Hervorhebung der Merkmale der eigenen Gruppe und eine negative Herabstufung der Eigenschaften der anderen Gruppe statt. Wir werden darauf im Verlauf dieses Abschnittes noch näher zu sprechen kommen. Die Grenzziehungen zwischen „Bulgaren“ und „Roma“ sind aber nicht die einzigen Differenzmarkierungen, die innerhalb der im Stadtteil lebenden „Frauen aus Bulgarien“ auszumachen sind. So lässt sich etwa auch eine deutliche Unterscheidung zwischen „Bulgarinnen“ und „Bulgarientürkinnen“ erkennen. Interessanterweise ist hier aber auch jenseits dieser interethnischen Markierung eine innerethnische Differenzsetzung zu beobachten zwischen denjenigen, die schon nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Deutschland gekommen sind und denjenigen, die erst in den letzten Jahren im Zuge der EU-Freizügigkeit nach Marxloh kamen und somit erst vergleichsweise kurze Zeit im Stadtteil leben. Der folgende Ausschnitt aus dem Forschungstagebuch vermittelt dazu einen ersten Eindruck:

111 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.08.2012. 112 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 42 Jahre. Interview vom 27.10.2012. 113 Ebd.

314 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH Auf Umwegen wurde mir mitgeteilt, dass ich möglicherweise in einer bestimmten der noch in Marxloh verbliebenen Trinkhallen114, eine türkisch sprechende Bulgarin finden würde, die bereit wäre, mit mir ins Gespräch zu kommen. So mache ich mich mit einer türkisch sprechenden Frau als Dolmetscherin auf den Weg. An der Trinkhalle angekommen, beginnt meine Begleiterin sofort, den hinter der Theke sitzenden Mann auf Türkisch anzusprechen. Ob sie denn nicht deutsch sprechen könne, herrscht er sie an. Etwas irritiert ergreife ich das Wort und frage nach Hatice. Die sei nicht da und käme erst in einer halben Stunde wieder, aber er glaube nicht, dass sie mit mir sprechen wolle. Perplex verlassen wir die Trinkhalle. Meine Begleiterin ist der Ansicht, es käme sicher kein Gespräch mit Hatice zustande, der Mann würde das schon zu verhindern wissen. Ich teile dieses Gefühl, möchte aber noch nicht aufgeben. Zu kostbar erscheint mir die Möglichkeit, endlich mit einer von den im Stadtteil schwer zu erreichenden bulgarientürkischen Frauen ins Gespräch zu kommen. 45 Minuten später kehre ich, dieses Mal allein, in die Trinkhalle zurück. Ich erkenne eine Frau, von der ich annehme, dass es sich um Hatice handelt, hinter der Theke und gehe, ohne den Mann eines Blickes zu würdigen, auf sie zu. Ich erkläre ihr, ihre türkeistämmige Freundin habe mich geschickt, ob sie sich vorstellen könne, mit mir zu sprechen. Was denn das für eine Freundin sei, fragt sie der Mann. „Die kennst du nicht“, erwidert Hatice. Ihr Mann stellt sich neben mich: „Gute Frau, wir sind einfache Leute und meine Frau spricht kein Deutsch. Also gehen Sie bitte.“ So einfach möchte ich mich nicht geschlagen geben und setze mich demonstrativ auf einen der beiden Stühle, die im Raum stehen. Ich versuche, mit dem Mann, der sich prompt auf den zweiten Stuhl mir gegenüber setzt, höflich im Gespräch zu bleiben, aber er bleibt bei seiner abwehrenden Haltung. Ich sehe schon alle meine Hoffnungen schwinden, als mir Hatice unverhofft und ein wenig schüchtern eine Tasse Kaffee hinstellt. Ich strahle sie an, und ihr Mann ist sichtlich irritiert. Warum ich als Türkin denn Informationen von ihnen wolle, fragt er mich. Etwas verdutzt schaue ich ihn an. Er hält mich also für eine Türkin. Ich kläre die Sache auf und sage, ich sei keine Türkin, und es werde auch keine türkische Studie entstehen. Sichtbar gelöst rutscht der Mann von seinem Stuhl, lächelt mich sogar kurz an und verschwindet aus dem Raum. Ich bin endlich mit seiner Frau allein. Das Gespräch mit Hatice verläuft schleppend. Offenbar will sie nicht so viel über sich preisgeben, und ihr Deutsch ist holprig, aber dennoch verständlich. Hatice ist 45 Jahre alt, lebt seit 12 Jahren in

114 Trinkhallen, von vielen im Ruhrgebiet auch „Buden“ genannt, sind eine Art größerer Kiosk, wo man in erster Linie alkoholische und nichtalkoholische Getränke, Süßigkeiten und Tabak kaufen kann. Die ersten Trinkhallen entstanden im 19. Jahrhundert für die Fabrik- und Industriearbeiter, die nach vollendeter Schicht Bier und Schnaps in großen Mengen konsumierten. Infolge der Kohle- und Stahlkriese brach aber auch dieser Absatzmarkt des Ruhrgebiets ein, ungefähr die Hälfte der Trinkhallen in Marxloh ist inzwischen geschlossen.

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Marxloh und kommt aus der ostbulgarischen Stadt Schumen. Ich frage sie, wie sie sich selbst und andere aus Bulgarien zugewanderte Menschen in Marxloh sieht. Sie sei Bulgarin, sagt sie, aber sie spreche eigentlich viel besser türkisch als bulgarisch. Sie verstehe sich als Muslima und gehe gerne freitags in die DITIB- Moschee. Einige Bulgaren, denke ich in diesem Moment, würden sie mit Sicherheit als Türkin sehen und vielleicht sogar deswegen zu ihr auf Distanz gehen. Aber Hatice bezeichnet sich selbst als Bulgarin. Dennoch, ihr Netzwerk ist eher türkisch geprägt. Daher nennt sie sich auch Hatice und nicht nach ihrem eigentlichen bulgarischen Vornamen Ivelina. Hatice, das klinge religiöser, sagt sie, so habe die erste Frau des Propheten Mohammed geheißen. Zu den Migranten aus Bulgarien, die seit 2007 nach Marxloh zugewandert sind, hat Hatice keinen Kontakt. Man grüßt sich, aber tiefere Bekanntschaften hätten sich bislang nicht ergeben. Kontakt pflegt Hatice vor allem zu schon länger im Stadtteil lebenden Türkeistämmigen sowie zu Roma und anderen Personen, die mit oder vor ihr in den 1990er Jahren nach Marxloh kamen. Dazu zählt auch Egzon, der sich inzwischen an unseren Tisch gesellt hat. Er bezeichnet sich als Rom aus dem ehemaligen Jugoslawien und lebt seit 25 Jahren in Deutschland. Von wo genau er denn käme, frage ich nach, und er erwidert, er sei aus dem Kosovo gekommen. Wie sich später herausstellt, ist er ohne Papiere und hält sich somit illegal in Deutschland auf.115 Er zögert zunächst, sich zu uns zu setzen, wird dann aber unverhofft von Hatices Mann herein gewunken. Egzon, sagt Hatices Mann zu mir lächelnd, könne reden wie ein Roboter. Er sollte damit Recht behalten. Egzon beginnt gleich darauf, sich in recht unverständlichem Deutsch darüber zu beschweren, dass er keine Papiere erhalte, obwohl er doch so lange in Deutschland als Musiklehrer gearbeitet habe. Er schimpft über seinen Vermieter, der kaum Mülltonnen stelle und den abbruchreifen Keller. Er zeigt mir Fotos auf seinem Handy und ich sehe, dass seine Schilderungen Hand und Fuß haben. Ich zumindest kann mir kaum vorstellen, in dieser Wohnung, in der sich die Tapete von den Wänden löst, eine klapprige Holztreppe zur Wohnungstür führt und es im Keller von den Rohren tropft, zu leben. Wie Hatice pflegt auch Egzon keine Beziehungen zu Neuzuwanderern aus Bulgarien und Rumänien und schon gar nicht zu den neu aus diesen Ländern eingereisten Roma. Sie werden von beiden mit großer Skepsis betrachtet. Besonders gegen die rumänischen Roma scheinen Hatice und Egzon etwas zu haben. Sie

115 Bereits ab den 1990er Jahren kamen Roma aus dem östlichen Europa nach Duisburg. Meist handelte es sich um Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, als die Lage nach dem Zerfall der Republik und pogromartigen Überfällen auf die Minderheit immer bedrohlicher wurde. Sie stammen aus Bosnien, Serbien, Mazedonien und aus dem Kosovo. In Marxloh ist mir jedoch außer Egzon (vgl. Abschnitt 5.2.) keiner von ihnen begegnet.

316 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH würden Berge von Müll hinterlassen und ihre Kinder nicht zur Schule schicken. Diese Gruppe verfüge über keinerlei Anstand, darin sind sich beide einig.116

Wir haben es hier mit einem komplexen Phänomen aus ausgesprochen dynamischen ethnischen Grenzziehungen auf zwei unterschiedlichen Ebenen zu tun. Auf der einen Ebene werden offenbar Grenzen auch in Marxloh weiter fortgezogen, die bereits in der Geschichte des Herkunftslandes Bulgarien verwurzelt sind. Auf der anderen Ebene werden aber auch Gruppendifferenzen in Marxloh auf eine spezifische Weise aufs Neue verhandelt und Grenzen entsprechend neu markiert. Betrachten wir nun zunächst die erste Ebene, nämlich die Situation im Herkunftsland Bulgarien, die offenbar bei Hatice und ihrem Mann Spuren bis nach Marxloh hinterlassen hat. Bulgarien kann als ein multiethnischer Staat bezeichnet werden. Die meisten Einwohner des Landes rechnen sich der bulgarischen Mehrheit zu, es leben aber auch viele Türken und Roma sowie Russen, Armenier, Rumänen und Pomaken117 im Land. Die größte Gruppe der Minderheiten stellt die türkische. Die Türken wurden in Bulgarien zur Minderheit, als sich mit dem Zerfall des Osmanischen Reichs, zu dem auch das heutige Bulgarien gehörte, eine ethno-nationale Unabhängigkeitsbewegung formierte. Diese wurde zwar zunächst noch von den osmanischen Besatzern blutig niedergeschlagen, aber schließlich, nach dem Türkisch-Russischen Krieg 1878, erlangte Bulgarien dann doch seine Unabhängigkeit. Infolgedessen verließen bereits zu diesem Zeitpunkt viele Türken das Land. Im Anschluss wurden die Türken als Minderheit weitestgehend anerkannt, bis die Kommunisten anfingen, sie als ein „Überbleibsel“ der osmanischen Herrschaft als störend anzusehen. Das von den Kommunisten verfolgte Ziel in den Jahren 1971 bis 1991 war es, eine homogene bulgarische Bevölkerung entstehen zu lassen. Für religiöse oder ethnische Minderheiten war während dieser Zeit in Bulgarien kein Platz. So mussten in den 1980er Jahren infolge von Bulgariens sogenannter „Wiedergeburt“ die im Land lebenden Türken ihre Namen in bulgarische umwandeln. Menschen wie Hatice nannten sich fortan gegen ihren Willen nicht mehr nach ihrem türkischen Namen, sondern bekamen einen bulgarischen. Aus Hatice wurde Ivelina. Es erscheint verständlich, dass Hatice diesen Namen, der ihr im Zuge der „Bulgarisierung“ aufgezwungen wurde, in Deutschland schnell wieder ablegte. Aus Ivelina wurde dort wieder Hatice. Damit ist Hatice kein Einzelfall. Zumindest alle diejenigen in Marxloh

116 Forschungstagebuch vom 29.08.2012. 117 Pomaken sind eine muslimische Minderheit in Bulgarien, deren Herkunft aber umstritten ist. Pomaken leben auch in der Türkei, Serbien und Mazedonien.

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lebenden Bulgarientürken, mit denen ich während meines Aufenthalts in Kontakt stand, nennen sich bei ihrem türkischen Namen, obgleich im Pass der bulgarische steht. Im Jahre 1989 erreichten die Diskriminierungsmaßnahmen in Bulgarien gegenüber der türkischen Minderheit schließlich ihren Höhepunkt. Kurz bevor der gesamte Ostblock zusammenfallen sollte, wurden etliche Angehörige der türkischen Minderheit gezwungen, binnen zwei Wochen in die Türkei auszuwandern.118 Mit dem Niedergang des sozialistischen Regimes 1989/90 besserte sich die Lage der türkischen Minderheit in Bulgarien schließlich allmählich, wenn auch schwerfällig. Bis heute hat sich das Verhältnis zwischen den Staaten Bulgarien und Türkei wesentlich gebessert, und die türkische Minderheit in Bulgarien gilt als „gut integriert“.119 Dennoch: Verschiedene Berichte aus den Medien machen deutlich, dass sich zumindest einige Angehörige von ihr noch nicht vollkommen anerkannt fühlen. Türkisch ist zwar Schulsprache, aber vielerorts ist es Angehörigen der türkischen Minderheit nach wie vor nicht möglich, bei Behörden ihre Muttersprache zu sprechen.120 Es gibt keine türkischsprachigen Fernsehsender, und gerade in den letzten Jahren war einigen Presseberichten zu entnehmen gewesen, dass auf Grund gestiegener Nationalismustendenzen in Bulgarien, viele Bulgarientürken wieder Angst vor Übergriffen hätten. So kam es im Jahr 2011 in der Stadt Plovdiv zu rechtsextremen gewalttätigen Übergriffen.121 Das Viertel Stolipinovo in Plovdiv ist mit 40.000 Einwohnern das größte

118 Petkova, Lilia (2002): The ethnic Turks in Bulgaria: Social Integration and Impact on Bulgarian Turkish Relations 1947-2000. In: The Global Review of Ethnopolitics, 4 (2002). S. 42-59. 119 Vgl. Europäische Kommission (1997): Agenda 2000 – Stellungnahme der Kommission zum Antrag Bulgariens auf Beitritt zur Europäischen Union. S. 21. Online unter:

http://ec.europa.eu/enlargement/archives/pdf/dwn/opinions/bulgaria/bu-op_de.

pdf (letzter Abruf:13.12.2014). 120 Ebd., S. 20. 121 Angeheizt wurden diese Übergriffe von der rechtsextremistischen Partei Ataka. In Deutschland hat die Partei DIE LINKE inzwischen „Kleine Fragen“ an den Bundestag gestellt, in denen gefragt wird, inwiefern die Bundesregierung Kenntnisse habe „über bestehende Kontakte, den Austausch und die Zusammenkünfte zwischen der NPD, den Jungen Nationaldemokraten (JN), sog. Freien Kameradschaften und/oder anderen Angehörigen extrem rechter Organisationen aus Deutschland mit neofaschistischen bzw. extrem rechten Organisationen und Zusammenhängen in Bulgarien wie der Partei ‚Ataka‘, dem ‚Bulgarischen Nationalbund‘ (BNS), der ‚VMROBND‘ und dem ‚Bulgarischen Nationalen Widerstand‘“. DIE LINKE (2012): „Kleine Fragen“ der Partei DIE LINKE an die deutsche Bundesregierung vom 15.08.2012

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Roma-Ghetto in Bulgarien. Hier wohnen fast ausschließlich Roma – aber eben auch Angehörige der türkischen Minderheit.122 Einige der dort lebenden Bulgaren äußerten vor der Presse, dass sie nach wie vor Angst hätten, die türkische Minderheit des Landes könnte sie auf Grund ihrer stetig wachsenden Anzahl „übermannen“.123 Auch Hatices bulgarischer Mann ist offenkundig nicht gut auf „die Türken“ zu sprechen. In der Trinkhalle treffe ich auch bei meinen weiteren Besuchen nie türkeistämmige Personen an. Wie aber ist es bei dieser Einstellung des Mannes, der als ethnischer Bulgare etwas gegen Türken zu haben scheint, ausgerechnet zu einer Ehe mit einer Bulgarientürkin gekommen? Hatice lächelt ein wenig. Über dieses Thema möchte sie nicht sprechen, sagt sie. Ich versuche dennoch, weiter nachzufragen, aber ab diesem Zeitpunkt ist unser Gespräch beendet. Ich bekomme zwar noch Schokoladenplätzchen und Wasser hingestellt, doch auf meine Frage erhalte ich von Hatice keine Antwort. Eine letzte Frage schießt mir bei unserem Gespräch dann doch noch durch den Kopf: Warum schließt die Bulgarientürkin Hatice mit dem kosovarischen Rom Egzon Freundschaft, während sie die neuzugewanderten Personen aus Bulgarien fast gar nicht zu kennen scheint und außerdem vorgibt, eine Aversion gegen die neuzugewanderten bulgarischen und rumänischen Roma zu haben? „Ach, Egzon kenne ich doch schon so lange“, erwidert Hatice. Diese Antwort gibt zu denken. Hatice könnte man in ethnischer Hinsicht als Bulgarientürkin mit türkischem Namen und bulgarischem Pass betrachten – genauso wie die Neuzuwanderer auch. Und ebenso wie die Neuzuwanderer wird auch Hatice immer wieder für eine Romni gehalten, was ihr in der Interaktion mit dem sich ebenfalls als Rom bezeichnenden Egzon auch keinesfalls missfällt – beide sprechen

(Drucksache 17/10532). Berlin. Online unter: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/ 17/105/1710532.pdf (letzter Abruf: 13.12.2014). 122 Vgl. Mappes-Niediek, Norbert (2011): Hass auf Roma. In: Frankfurter Rundschau online vom 30.09.2012. Online unter: http://www.fr-online.de/politik/bulgarienhass-auf-roma-,1472596,10919666.html (letzter Abruf: 15.12.2014) und N.N. (2011): Bulgarien. Massenfestnahmen nach Roma-Hatz. In: Spiegel online vom 28.09.2011. Online unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/bulgarien-massen festnahmen-nach-roma-hatz-a-788920.html (letzter Abruf: 15.12.2014). 123 Vgl. eine Radiosendung des Südwestdeutschen Rundfunks: Böcker, Simone (2009): „Exodus – die Vertreibung der bulgarischen Türken vor 20 Jahren“. Radiobeitrag, SWR, 2009. Das Manuskript zur Sendung ist online abrufbar unter: http://www. swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/-/id=5627266/property=download/nid=66 0374/16wnssw/swr2-wissen-20091229.pdf (letzter Abruf: 15.12.2014).

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mit mir zwar Deutsch, wechseln aber untereinander ins Romanes. Objektiv unterscheidet Hatice also in ethnischer Hinsicht nichts von den Neuzuwanderern – aber dennoch geht sie zu ihnen auf deutliche Distanz und betont, nicht zu ihnen dazuzugehören. Was genau liegt dieser Aversion zu Grunde? Bei genauerer Betrachtung unterscheidet sich Hatice eigentlich nur in einem Aspekt von den Neuzuwanderern: hinsichtlich der Dauer ihres Aufenthalts. Während die Neuzuwanderer erst wenige Monate im Stadtteil leben, wohnt Hatice bereits seit den 1990er Jahren in Marxloh. Es scheint also, als seien die unliebsamen „Bulgaren“ im Stadtteil ausschließlich diejenigen, die erst vor kurzem zugezogen sind – nicht diejenigen, wie Hatice, die bereits in den 1990er Jahren kamen und inzwischen sogar Freundschaften zur türkeistämmigen Bevölkerung geschlossen haben. Auch Gerd Baumann weist mit Blick auf seine zwar nicht bulgarische aber muslimische Untersuchungsgruppe im Londoner Southall darauf hin, dass der wesentliche Grund für „the marginalization of the muslim community“ gesehen werden muss „in its different migratory history“ und erläutert weiter: „most muslim Southallians arrived considerably later than their Sikh and Hindu neighboors.“124 Übertragen wir das auf den Marxloher Kontext, so erklärt sich, warum es die Neuzuwanderer aus Bulgarien schwerer haben als Zuwanderer wie Hatice, die bereits seit mehr als 20 Jahren im Stadtteil leben: Sie sind einfach noch nicht lange genug da. Was wir hier sowohl in Marxloh als auch vielleicht in Southall vor uns haben, weckt Parallelen zu der im Jahre 1970 erstmals veröffentlichten Studie des Soziologen Norbert Elias und seines Schülers John L. Scotson mit dem Titel „Etablierte und Außenseiter“. Auch wenn diese Studie inzwischen über vierzig Jahre alt ist, so erweist sie sich als Ausgangspunkt zur Interpretation des innerund interethnischen Zusammenlebens der in Marxloh lebenden Gruppen nach wie vor125 als verblüffend aktuell. Elias und Scotson beschreiben das Beziehungsgefüge zweier Gruppen in einer Gemeinde, die sie Winston Parva nennen. Die Autoren stellen heraus, dass die schon seit Generationen in dem Dorf lebende Gruppe gegenüber der Gruppe, die erst vergleichsweise kurze Zeit dort lebt, deutliche Macht- und Überlegenheitsgefühle zeigt. Die neuzugewanderte Gruppe passt sich entsprechend an und ordnet sich der etablierten Gruppe unter. Die erste Gruppe ist die machtstärkere, die zweite die machtschwächere. Der Begriff „Macht“ ist in dieser Konstellation ganz zentral und ist von Elias an anderer

124 Baumann: 1996, S. 83. 125 Hüttermann: 2000.

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Stelle126 als ein „Amulett, das der eine besitzt und der andere nicht; sie ist eine Struktureigentümlichkeit menschlicher Beziehungen – aller menschlichen Beziehungen“127 beschrieben worden. Wir müssen hier also zum Verständnis der Etablierten-Außenseiter-Konstellation das Elias’sche Figurationsmodell im Kopf behalten und Macht als eine wechselseitige Abhängigkeit unter Menschen verstehen. Und da es in sozialen Beziehungen wie in Winston Parva sein kann, dass sich Abhängigkeiten zugunsten einer Gruppe verschieben, verlagert sich entsprechend auch die Machtbalance128 – die eine Gruppe wird abhängiger, und die andere wird weniger abhängig und gewinnt dadurch an Macht. Im Falle der „Etablierten und Außenseiter“ ist die Machtbalance zugunsten der Etablierten verschoben: Sie, die schon lange in Winston Parva leben, sind die Mächtigen, die neu dazugekommenen Außenseiter sind die Abhängigen. Was aber, so wäre zu fragen, geschieht, sei es in Winston Parva oder auch andernorts, wenn nicht nur zwei, sondern mehrere Gruppen zeitlich versetzt aufeinandertreffen, wie dies in Duisburg-Marxloh und offenbar auch im Londoner Southall der Fall ist? In Bezug auf Marxloh scheint ein komplexes Gefüge der verschiedenen Gruppen zu entstehen, das zwar im Grundsatz weiterhin durch Etablierten- und Außenseiterverhältnisse gekennzeichnet ist, sich aber, im Unterschied zu Elias’ und Scotsons Darstellungen, in sich verschachtelter und dynamischer gestaltet. Wer gegenüber der einen Gruppe als Etablierter auftritt, kann sich gegenüber einer anderen Gruppe als Außenseiter präsentieren und umgekehrt. Durch die Zunahme der Anzahl von Gruppen verliert das Modell in Marxloh somit seine strikte bipolare Beschaffenheit von „Etablierten“ und „Außenseitern“ und weicht einem flexibleren, relationalen Beziehungsgefüge mit mehreren Punkten zwischen den Polen. Betrachten wir dazu folgendes Schema, in dem die Gruppenbeziehungen der Marxloher Bevölkerung hier zunächst ausschließlich unter dem Aspekt ihrer Verweildauer in Marxloh dargestellt sind und auf das wir später noch einmal Bezug nehmen werden:

126 Elias, Norbert (2000): Was ist Soziologie? Grundfragen der Soziologie. Weinheim; München. 1. Aufl. 1970. 127 Ebd. S. 77. 128 Ebd. S. 97.

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Abbildung 16: Verweildauer „Die Deutschen“

„Die Türken“

„Die Bulgaren“

„Die Roma“

19. Jh.

1961

2007 2008

2012

„Die Deutschen“ stehen an der Spitze des Schemas, da sie am längsten im Stadtteil wohnen. Gefolgt werden sie von türkeistämmigen Marxlohern („die Türken“), die in den 1960er Jahren in den Stadtteil gekommen sind und schließlich den seit kurzem zugereisten Personen aus Bulgarien („die Bulgaren“) und letztendlich den vor noch kürzerer Zeit zugezogenen Roma aus Rumänien („die Roma“). Die Gruppe der Zuwanderer aus Bulgarien, denen sich Hatice zurechnet, müsste entsprechend zwischen den Zuwanderern aus der Türkei und den Neuzuwanderern aus Bulgarien stehen, was ich der Komplexität wegen jedoch im Folgenden vernachlässigen werde.129 Halten wir nun an Elias’ Argumentation fest, so müsste den am längsten im Stadtteil lebenden „Deutschen“ eigentlich die größte Macht im Stadtteil zukommen, gefolgt von den später zugezogenen türkeistämmigen Personen. Und tatsächlich zeigt sich, wie in Marxloh immer wieder Gruppendifferenzen zwischen diesen beiden Gruppen produziert werden – zwischen denjenigen, die schon länger im Stadtteil leben und denjenigen, die neu zugezogen sind. Im Unterschied zu Winston Parva sind es allerdings mit Blick auf die Neuzuwanderer aus Bulgarien und Rumänien, wie das Schema zeigt, im Ganzen vier anstelle von zwei Gruppen, die miteinander um Macht konkurrieren. Elias’ Theorie müsste also, wenn wir sie auf den Marxloher Kontext übertragen, eine Erweiterung erfahren, dabei jedoch ihren Grundsatz beibehalten. Denn letztendlich geht es in Marxloh wie in Winston Parva im Eigentlichen immer wieder darum, wer zuerst da war

129 Wie bereits dargelegt, beschränke ich mich in meinen Ausführungen ausschließlich auf die vier größten Marxloher Gruppen. Vgl. Abschnitt 3.2.

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und wem dadurch mehr Macht zukommt, und wer später kam und wem dadurch weniger Macht zugestanden wird. Alle Gruppen bilden dabei eine Figuration, das Verhalten ist kein Individual-, sondern ein Gruppenverhalten, das nur durch die Beziehung zur anderen Gruppe aufrecht gehalten werden kann. Verfolgen wir diesen Gedanken noch ein wenig weiter und bewegen den Blick von der Spitzenstellung „der Deutschen“ nach „unten“ zu den Neuzugezogenen, um uns fragen: Wer genau ist aus welchen Gründen etabliert, und wer ist Außenseiter in Marxloh? 5.2.1 Etablierte Es wurde bereits gesagt, dass sich etablierte Gruppen vor allem durch Machtüberlegenheit gegenüber Außenseitern auszeichnen. Diese Machtüberlegenheit ergibt sich aus einem stärkeren Gruppenzusammenhalt der Etablierten, die dadurch „eine gemeinsame Lebensweise und einen Normenkanon“130 ausgebildet haben, den die Gruppe der neuzugezogenen Außenseiter nicht kennt und sich somit in einer machtschwächeren Position befindet. Geraten die Etablierten in Kontakt zu den neu dazu Gestoßenen, so werden sie in ihrer selbstverständlichen Annahme dieser gruppeninhärenten Normen und Werte verunsichert, woraufhin sich der interne Gruppenzusammenhalt weiter verstärkt: Die etablierten Gruppenmitglieder rücken noch näher zusammen. Wer die Regeln der etablierten Gruppe kennt und sich an diese hält, wird mit Aufnahme oder zumindest Aufstieg im Ansehen belohnt und darf teilhaben am Überlegenheitsgefühl der Etablierten. Wer sich nicht daran hält, steigt auf der Skala ab. Ihm widerfährt Machtminderung und Statusverlust. So wird verständlich, warum die 57-jährige „alteingesessene“ Karin131, die seit ihrer Geburt im Stadtteil Marxloh lebt, in unseren Gesprächen immer wieder darauf verweist, dass sie nichts gegen Zuwanderer habe, die sich an die hiesigen Regeln und Werte anpassen würden. Diejenigen aber, die diesen Gepflogenheiten nicht nachkommen, fallen in Karins Ansehen deutlich ab. Im Besonderen bezieht sie sich immer wieder auf die türkeistämmige Bevölkerung im Stadtteil, die von ihr mit Attributen bestückt wird, die sie als abweichend von den etablierten Regeln betrachtet. Vor allem das Stören der sonntäglichen Ruhe durch Lärm oder die Existenz der DITIB-Moschee und

130 Elias, Norbert; Scotson, John L. (1990): Etablierte und Außenseiter. Berlin. S. 16. Die Studie ist in englischer Originalausgabe unter dem Titel „The Established and the Outsiders. A Sociological Enquiry“ im Jahr 1965 erschienen. 131 Mehr zu Karin vgl. Abschnitt 4.5.

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die ihr fremd erscheinende Kleidung, wie das muslimische Kopftuch, führen bei Karin schließlich zur Abwertung der Gruppe als Ganzes: K: Vor 20 Jahren liefen sie nicht so in diesen Kopftüchern und Burkas und wie sie alle heißen herum. Ich habe gedacht, wir kommen da mal auf ’n anderen Weg. Genau das Gegenteil. […] Da lief dann ein altes Ehepaar, ein türkisches. Ich sag, Martha, jetzt guck dir das an. Der Mann im grauen Anzug, haben die ja alle und das kleine Mützken da auf, die Frau neben ihm, die hatte schwarze Pumps, ’ne Nylonstrumpfhose, einen schwarzen Rock an, einen beigen Dreiviertelmantel und Kopftuch. Ich sag: „Guck mal, diese ältere Türkin, wie sie aussieht. Gepflegt, gut farblich kann man drüber streiten, aber die sieht aus normal.“ Und dann guckst du dir die jungen Frauen an, mit den schwarzen Dingern und bunte Leggings und graue Socken und Plastikschuhe und hier oben noch ’n Kopftuch, wo ich dann sag: Ich meine so ’ne ältere, die mit Sicherheit kein Deutsch spricht, ich sag, die sieht einigermaßen angepasst, nein, nicht angepasst aber gepflegt aus. Aber bei manchen jungen Frauen kann ich das nicht nachvollziehen.132

Besonders interessant wird das Etablierten-Außenseiterverhältnis ab dem Moment, in dem das Machtgefälle kippt und die Außenseiter gegenüber den Etablierten an Macht gewinnen. Der Ethnologe Jörg Hüttermann meinte in den 1990er Jahren eine solche Umkehrung des Etablierten-Außenseiter-Verhältnisses in Marxloh festgestellt zu haben. Während die türkeistämmige Bevölkerung als die ehemaligen Außenseiter zum Parvenü133 avancieren würde, indem inzwischen die Geschäfte, die Häuser und die Infrastruktur Marxlohs in ihrer Hand lägen, seien die „Alteingesessenen“ zum Paria134 abgestiegen. Sie seien die Mieter, die Türkeistämmigen die Vermieter; sie seien die Käufer, die Türkeistämmigen die Verkäufer. Verfolgen wir heute, 20 Jahre nach Hüttermanns Untersuchungen die Entwicklung weiter und fragen, ob „die Deutschen“ inzwischen zum Außenseiter geworden sind und die türkeistämmige Bevölkerung zu den Etablierten, so stellen wir mit Blick auf die Marxloherinnen fest: Dies ist wie so vieles in Marxloh eine Frage der Perspektive. Ein Anzeichen dafür, dass die Gruppe „der Deutschen“ in Marxloh auf lokaler Ebene tatsächlich ihren Einfluss verliert, ist ihr abnehmender Gruppenzusammenhalt. Immer wieder stelle ich im Stadtteil fest, dass sich die Frauen, ab-

132 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 133 Der Begriff „Parvenü“ wurde vom französischen Wort parvenir abgeleitet und bedeutet „Emporkömmling“. 134 Der Begriff „Paria“ wurde vom tamilischen Wort Paraiyar abgeleitet und bedeutet „Außenseiter“.

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gesehen von einigen der wenigen „Aktiven“135, selten untereinander kennen. Fast immer, wenn ich einen Namen erwähne, ist die Reaktion: „Wer ist das?“ F: Wer ist XY? M: (Seufzt) Der, den ich dir schon 17 Mal vorstellen wollte. F: Achso, den Mann wollte ich, glaube ich, nicht treffen, oder? M: Der hält sehr viel von Marxloh. F: Ja eben, so einen könnte ich schon!136

Viele der „alteingesessenen“ Marxloherinnen, das haben wir gesehen137, leben im Stadtteil räumlich und sozial separiert und interagieren nahezu ausschließlich innerhalb ihrer familiären Verbindungen oder ihren Freundeskreisen – aber meist nicht mit zugewanderten Personen. So haben wir etwa gesehen, dass die „alteingesessene“ Rentnerin Annemarie, trotz dass sie von einer türkeistämmigen Frau nach Hause eingeladen wird, sich zwar kurz wegen der bestätigenden Anerkennung geschmeichelt fühlt, aber auf dieses Kontaktangebot bislang noch nicht eingegangen ist.138 So erklärt sich, dass ich während meiner mehrfachen Besuche bei einem regelmäßig stattfindenden Frauenfrühstück von den anwesenden „alteingesessenen“ Frauen, sofern ich selbst den Anfang machte, ins Gespräch aufgenommen wurde, aber auf die Gesprächsangebote von zugewanderten Frauen nur sehr wenige Frauen eingingen. Nun wissen wir inzwischen, dass zunehmende Kontakthäufigkeit Fremdenangst oder gar Fremdenfeindlichkeit unter Umständen abbauen kann.139 In Marxloh haben wir gesehen, dass bei denjenigen Frauen, die diese Kontakte zu Zuwanderern meiden, dieser Theorie entsprechend eine größere Aversion gegen sie zu beobachten ist als bei denjenigen, die häufig in Kontakt zu ihnen stehen.140 So hat die oben zitierte Karin zwar einiges gegen die im Stadtteil lebenden „Tür-

135 Vgl. Abschnitt 4.1. 136 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre, „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre und „Alteingesessene“, männlich, 58 Jahre. Gruppendiskussion vom 03.09.2010. 137 Vgl. Abschnitt 4.5. 138 Ebd. 139 Diese sogenannte „Kontakthypothese“ geht zurück auf den Psychologen Gordon Allport. Vgl. Allport, Gordon W. (1954): The nature of predudice. Cambridge. Das Buch wurde ins Deutsche übersetzt und ist im Jahr 1971 unter dem Titel „Die Natur des Vorurteils“ erschienen. 140 Vgl. die „Alteingesessenen“ unter Abschnitt 4.5. und die „Zurückgezogenen“ unter Abschnitt 4.6. im Unterschied zu den „Aktiven“ unter Abschnitt 4.1.

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ken“ einzuwenden, nicht aber gegen „die Inder“. Während unseres Gesprächs stellt sich heraus, dass Karin bislang keinerlei Beziehungen zu Türkeistämmigen geknüpft hat, wohingegen sie aber regen Kontakt zu den im Nachbarhaus lebenden Indern pflegt: K: Aber ich sag mal, unabhängig davon, was wir jetzt so reden, ganz nette Menschen, wovon wir mittlerweile auch ganz viele in Marxloh haben, sind die Inder. Haben auch eine ganz andere Mentalität als wir. Ok, die haben auch ihren Müll hingeworfen, die kennen das aber nicht anders. Wenn man jetzt nach Indien fährt, die haben ja so was nicht wie eine Müllabfuhr. Aber die sind liebenswert, die sind sehr sozial. Hier meine Familie, ne, das ist ne ganze Sippe. Da macht jeder sofort einen Deutschkurs. Die ziehen ihre Saris an, die Frauen, die Männer haben auch teilweise ihre Dinger auf, Turban oder so, aber die sind europäisch, und die sind angepasst. Die akzeptieren uns, aber die hauen auch nicht so auf den Putz. Und wir wollen jetzt irgendwie einen Hindutempel! Das könnten die ja auch sagen. Und wir wollen noch dieses und jenes. So und das ist dieser Unterschied. Die Türken sind mittlerweile so dreist auch geworden.141

In Elias’ Etablierten-Außenseiter-Figuration ist es typisch für das Sprechen über „die Fremden“, dass die etablierte Gruppe stets Beweise parat hat, warum die eigene Gruppe „gut“ ist (Gruppencharisma) und die andere „schlecht“ (Gruppenschande). Diese auch als Othering142 bezeichneten negativen Fremdzuschreibungen dienen dazu, sich von dem anderen zu distanzieren und gleichzeitig die eigene Position positiv hervorzuheben. Als geeignetes Mittel zur Erhöhung der eigenen und zur Herabstufung der anderen Gruppe dient unter anderem der sogenannte „Schimpfklatsch“.143 Dabei handelt es sich um ein von den Etablierten gezeichnetes undifferenziertes Negativbild, das mit der Realität so meist nicht übereinstimmt.144 Auch in Marxloh sind Formen dieses „Schimpfklatsches“ vor allem seitens der „zurückgezogenen“ und „alteingesessenen“ Frauen gegenüber Türkeistämmigen immer wieder zu beobachten. Typische den Türkeistämmigen

141 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 142 Das auch als „Veranderung“ bezeichnete Konzept geht ursprünglich auf die Literaturwissenschaftlerin Gayatari Spivak zurück und wurde später auch von Fächern wie der Ethnologie, der Soziologie und der Kulturanthropologie übernommen. Vgl. Spivak, Gayatari C. (1985): The Rani of Simur. In: Barker, Francis u.a. (Hrsg.) (1985): Europe and its Others. Bd. 1. Colchester. 143 Elias; Scotson: 1990, S. 166-186. 144 Ebd., S. 157.

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zugeschriebene Eigenschaften ranken sich um die Adjektive „dreckig“, „laut“, „undiszipliniert“ und „gesetzlos“.145 K: Ob dich eine junge Türkin auf der Straße anraunzt, dich beschimpft, aber mit solchen Ausdrücken, die du als Deutsche nicht mal in den Mund nehmen würdest. In einer Art und Weise, hallo?! Und das auch alten Leuten gegenüber machen, dass die richtig Angst kriegen.146

Das Wort „Angst“ keimt insbesondere in den Gesprächen mit den „alteingesessenen“ Frauen immer wieder auf, und stets bezieht es sich auf die zunehmende Anzahl von „Ausländern“ in Marxloh allgemein, meist aber im Besonderen auf die türkeistämmige Bevölkerung im Stadtteil. „Die Türken“ gelten als die Verursacher der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung des Stadtteils, des dadurch bedingten Wegzugs der „alteingesessenen“ Marxloher und letztlich vor allem der eigenen schlechten sozialen Lage. Viele der „Alteingesessenen“ und „Zurückgezogenen“ fühlen sich nun in ihrem ehemaligen Status als Etablierte bedroht und fürchten, ebenfalls bald „vertrieben“ zu werden. Aus dieser Angst resultiert eine Abwehrhaltung gegenüber den türkeistämmigen Marxlohern. Zwar finden durchaus auch Aneignungsversuche vor allem auf institutioneller Ebene in Marxloh statt, indem etwa das Opferfest in Schulen gefeiert wird oder Kinder in Jugendeinrichtungen spielerisch Türkisch lernen, doch bei den „alteingesessenen“ und „zurückgezogenen“ Frauen siegt im Alltagsleben doch oft das Abwehrgefühl: Es ist Sonntagabend. Ich sitze in der stadtauswärts fahrenden Straßenbahn der Linie 903 Richtung Marxloh und beobachte das wöchentlich wiederkehrende Feiertagsszenario: Regelmäßig lassen sich die Straßenbahntüren nicht gut öffnen, da sich in der nur halbstündlich in den Norden Duisburgs fahrenden völlig überfüllten Bahn neben ein paar Älteren mit Rollatoren auch etwa ein halbes Dutzend von Müttern mit Kinderwagen drängen. In der Straßenbahn steht auch eine vermutlich der Gruppe der „Alteingesessenen“ zuzählende Mutter im Alter von Mitte 30 mit ihrer Mutter und drei kleineren Kindern. Ein Dreigenerationenbild der „alteingesessenen“ Frauen, wie man es in Marxloh des Öfteren sieht.147 Der älteste der drei Jungen ist, wie sich herausstellt, gerade frisch eingeschult worden. Er stempelt am Automaten aus Spaß die bereits entwertete Fahrkarte seiner Mutter ein weiteres Mal. Er hält sie ihr hin und witzelt auf Türkisch „iki“ [deutsch: „zwei“,

145 Ebd., S. 21. 146 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 147 Vgl. Abschnitt 4.5.

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Anm. d. Verf.]. Die Mutter schaut ihn an und erwidert sichtlich genervt: „Iki, iki, bist du Türki oder was? Sprich deutsch.“148

An dieser Situation wird deutlich, wie sehr man um die eigenen Werte fürchtet und versucht, die türkische Sprache, die hier offenbar als Symbol des Machtund Statusverlusts dient, selbst im kindlichen Spiel, abzuwehren. Anders als bei anderen Gruppen, zu denen wir später noch kommen werden, steigert sich dieses Abwehrverhalten bei den „Alteingesessenen“ jedoch nicht in Exklusions- oder gar Vernichtungstendenzen hinein. Dennoch ist deutlich zu beobachten, wie sich viele von ihnen gegenüber den Zuwanderern verschließen und sich intensiv darum bemühen, die „Eigensphäre“149 im Stadtteil zu wahren und diese gegenüber Eindringlingen zu verteidigen. Dazu ein Zitat der „alteingesessenen“ 58-jährigen Marion, die seit ihrer Geburt in Marxloh lebt: M: Dann haben wir hier auch einen Karnevalszug, da guck ich den Karnevalszug an, ist mehr so ’n Kinderkarnevalszug sonntags weiß nicht, vergangenes Jahr oder davor das Jahr. Steht da so ’n Türke vor mir, ne, und ich sag: „Lass doch mal die Kinder die Bonbons oder Schokolade oder was die da sammeln, aufheben.“ [Der Türke erwidert, Anm. d. Verf.] „Was willst du denn, Hamborn gehört jetzt uns.“ Solche Äußerungen! Wenn ich dann parallel solche Sachen im Fernsehen sehe oder im Radio höre, dass zwanzig, dreißigjährige, fünfunddreißigjährige Türken dann sagen: „Wir haben ja Deutschland aufgebaut so nach dem Krieg“150, da fällt mir langsam nix mehr ein.151

Auch wenn wir uns auf das oben über „Schimpfklatsch“ Gesagte zurückbesinnen und bedenken, dass die Aussage nicht unbedingt dem tatsächlichen Ereignis entsprochen haben muss, so zeigt sich in dieser Aussage Marions doch eine beachtenswerte Angst vor Macht- und Statusverlust. Entgegen den Schlussfolgerungen von Elias und Scotson führt diese Angst jedoch gegenwärtig bei den in Marxloh

148 Forschungstagebuch vom 07.10.2012. 149 Stagl, Justin (1997): Grade der Fremdheit. In: Münkler, Herfried; Ladwig, Bernd (Hrsg.) (1997): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit (= Studien und Materialien der Interdisziplinären Arbeitsgruppe. Die Herausforderung durch das Fremde der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften). Berlin. S. 85-114. Hier: S. 106. 150 Marion fühlt sich hier um die Aufbauleistung nach dem Krieg betrogen, da die „Gastarbeiter“ nicht zu dieser Zeit, sondern erst später in den 1960er Jahren kamen als bereits Hochkonjunktur herrschte. 151 „Alteingesessene“, weiblich, 59 Jahre. Interview vom 30.08.2010.

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lebenden „Alteingesessenen“ zu keiner Intensivierung der Gruppenkohäsion. Ein Zusammenrücken fällt ihnen zusehends schwerer, denn es ist kaum noch jemand aus der eigenen Etabliertengruppe da, mit dem man sich zusammenschließen könnte. Die meisten kennen sich untereinander nicht mehr. Ihr Etabliertenstatus scheint somit tatsächlich stetig weiter zu bröckeln. Wechseln wir nun an dieser Stelle die Perspektive und fragen nach der subjektiven Sicht der türkeistämmigen Bewohnerinnen Marxlohs, so scheint die Antwort ebenfalls klar: Hier fühlt sich niemand etabliert. Werfen wir dazu exemplarisch einen Blick auf die „Bildungsaufsteigerin“152 Nayla, die – mit Bourdieu153 gesprochen – über verschiedene Kapitalformen verfügt und so als Angehörige einer mächtigen Gruppe in Marxloh angesehen werden könnte. Nayla ist 35 Jahre alt, deutsche Staatsbürgerin, in Duisburg geboren, hat dort studiert und arbeitet nun bei einer deutschen Behörde. Ihren türkischen Eltern gehört ein Haus in Marxloh, die Familie ist gut vernetzt und engagiert sich in verschiedenen politischen Bereichen. Dennoch: Nayla fühlt sich als Außenseiterin. Der Hauptgrund dafür liegt darin, dass sie insbesondere die Aktionen der „Aktiven“ als eine ungewollte „Einmischung“ empfindet: N: In Marxloh braucht man einen Anstoß, aber nicht so stark, dass du gleich flach auf dem Boden liegst.154

Wir haben bereits gesehen, wie sich die Gruppe der „Aktiven“ zu „Anwälten“ der Neuzuwanderer ernennt und aus dieser Rolle heraus, auch die Türkeistämmigen hin und wieder in ihrem Verhalten, insbesondere gegenüber den Neuzuwanderern, zurecht weist.155 Auf diese Rolle der „Aktiven“ spielt Nayla hier an und verwendet die Formulierung „Anstoß“ als Zeichen für deren Einflussnahme. Diesem für sie allerdings übertrieben anmutenden „Anstoß“ durch die „Aktiven“ versucht Nayla inzwischen auf die Weise zu entgehen, dass sie sich genau dort einsetzt, wo die „Aktiven“ sich ebenfalls engagieren. Dennoch war zumindest mein Eindruck auch hier: Es sind nach wie vor die „Aktiven“, die in diesen Sit-

152 Vgl. Abschnitt 4.3. 153 Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital – kulturelles Kapital – soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.) (1983): Soziale Ungleichheiten (= Soziale Welt, Sonderband 2). Göttingen. S. 183-198. 154 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 155 Vgl. Abschnitt 4.1.4.

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zungen den Ton angeben, und Personen wie Nayla fügen sich mehr oder weniger bereitwillig deren Vorstellungen. Ein weiterer Aspekt erscheint in Bezug auf Nayla aber noch bedeutender zu sein als der Einfluss der „Aktiven“. Erinnern wir uns an ihre Aussage:156 N: Die machen es einem nicht einfach, muss ich sagen. Es ist schwierig, hier zu leben. Ich bin aktiv, ich mache Sport, ich mache Musik, meine Eltern setzen sich überall ein, aber irgendwo wird man halt benachteiligt. Wegen des Stadtteils und auch wegen dem Migrationshintergrund.157

Worauf sich Nayla hier bezieht, sind die Außendarstellungen, mit denen sie als Marxloherin, aber auch als Frau mit „Migrationshintergrund“ umzugehen hat. Mit denen, die es ihr „nicht einfach machen“, wie Nayla sagt, meint sie hier nicht in erster Linie ihre in Marxloh lebenden Nachbarn. Sie meint eine Art deutschen Mehrheitsdiskurs – man könnte auch von deutschlandweitem „Schimpfklatsch“158 sprechen – demzufolge sie sich nicht angenommen fühlt.159 Während sie der Macht der „Aktiven“ immerhin dadurch begegnen kann, dass sie an Gremien teilnimmt und mitdiskutiert, kommt ihr hingegen in diesem Negativdiskurs keine Macht zu, um etwas zu verändern. Es wird, wie sie meint, schlecht über sie gesprochen und sie glaubt, sich dagegen wehren zu müssen, es aber nicht zu können. Macht als solche kommt also auf Marxlohs lokaler Ebene nach wie vor primär der im Stadtteil lebenden Gruppe der „Aktiven“ zu. Jenseits des Lokalen ist es aber vor allem der hegemoniale Mehrheitsdiskurs der deutschen Gesellschaft als Ganzes, der es den Türkeistämmigen, wie Nayla sagt, „nicht einfach“ macht, da sie meinen, durch diesen immer wieder suggeriert zu bekommen, nicht dazuzugehören. Macht ist eben nicht nur auf die lokale Ebene beschränkt. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die türkeistämmige Bevölkerung auf Marxlohs lokaler Ebene mehr und mehr zu etablieren beginnt, wenngleich nicht zu behaupten ist, dass sie eine homogene Gruppe bilden. Wie Hüttermann schreibt, sind die Hausinhaber Marxlohs tatsächlich oft türkeistäm-

156 Ebd. 157 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 158 Hüttermann: 2010, S. 48. 159 In der Zeit, in der ich das Interview mit Nayla führte, war gerade das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarazzin erschienen. Vgl. Sarazzin: 2010 sowie Abschnitt 4.3.

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mig, und die Marxloher Geschäftswelt liegt in der Hand türkeistämmiger Geschäftsleute. Wie bereits gesagt160, wohnen diese aber meist nicht in Marxloh. Zumindest die geschäftsführenden Frauen kommen aus Wesel, aus Oberhausen, aus dem Duisburger Süden oder aus anderen Ortschaften der Umgebung. Die wenigsten Personen, die in den Geschäften arbeiten, stammen aus Marxloh, und sie kennen außer den anderen Geschäftsleuten meist niemanden im Stadtteil. Dennoch kommt ihnen in Bezug auf die Neuzuwanderer und hinsichtlich des Außenimages Marxlohs eine zunehmende Bedeutung zu: Das Brautmodencluster gilt als Aushängeschild dafür, dass es mit dem Stadtteil Marxloh wirtschaftlich wieder etwas aufwärts geht und dient vielen zugleich als Symbol dafür, dass Integration gelingen kann. Ein gutes Verhältnis zu den Geschäftsleuten zu haben und diese nicht zu verstimmen, sondern am Ort zu halten, ist ganz bedeutsam für die wirtschaftliche Stadtteilentwicklung. Als im Sommer 2010 immer wieder „libanesische“ Jugendliche an der Pollmannkreuzung „herumlungerten“, waren die Geschäftsleute ein wesentlicher Motor der Beschwerde – bis sie von den „Aktiven“ in die Schranken gewiesen wurden.161 Als sich dann im Sommer 2012 die Gruppe rumänischer Roma auf der Weseler Straße aufhielt, hieß es seitens der Geschäftsleute erneut, sie würden das Stadtbild „verunreinigen“ und die Kundschaft vertreiben – wobei dieses Mal die „Aktiven“ nicht protestierten. Dazu Güzel, eine Verkäuferin162: G: Also wie gesagt, vom Optischen könnte man das vielleicht ändern. Oder dieses Betteln. Ich weiß nicht, ob Sie diesen Leuten begegnet sind. Das ist störend, also das ist wirklich nicht schön. Vor allem vom Optischen her nicht. Man redet sowieso nicht so super über Marxloh. Und dass das jetzt noch kommt, also ich finde es nicht schön. Wenn man das ändern könnte, dann wäre ich, glaube ich, auch eine von denen, die das machen würde. Die sind jetzt ganz neu, und die sieht man überall. Also so finde ich das nicht schlimm, wenn die sich irgendwie anpassen können, finde ich das in Ordnung. Man kann ja nichts machen, man kann ja diesen Menschen nicht sagen: „Geht raus.“ Aber dieses Betteln und dieses optische Stören, wenn man auf der Straße sitzt, das mag ich nicht. Das finde ich nicht schön, das ist störend. Da werden wir direkt angegriffen. Denn wenn da irgendjemand etwas macht, sagt man gleich: „Das sind die Türken.“163

160 Vgl. Abschnitt 4.3.4. und 4.3.7. 161 Vgl. Abschnitt 4.1. 162 Mehr zu Güzel vgl. Abschnitt 4.3. 163 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 26 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 30.08.2012.

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Unbestritten befindet sich die türkeistämmige Bevölkerung in Marxloh im Bereich Wohnen und Arbeiten auf dem Weg vom Paria zum Parvenü. Anders als von Elias und Scotson angenommen, zeichnet sich in Marxloh jedoch nicht die Tendenz ab, dass sich die türkeistämmige Bevölkerung bei aufsteigendem Status- und Machtgewinn an den (ehemaligen) Etablierten, also den „Alteingesessenen“ oder „Zurückgezogenen“, rächt. Vielmehr verhalten sie sich, wie das obige Zitat Güzels zeigt, den „neuen“ Außenseitern gegenüber in gleicher Weise, wie sich die genannten Gruppen ihnen gegenüber verhalten. Sogar die der Gruppe zugeschriebenen Attribute sind nahezu deckungsgleich. Exakt dem „Schimpfklatsch“ der „Alteingesessenen“ und „Zurückgezogenen“ über die Türkeistämmigen entsprechend, sagen die türkeistämmigen Frauen über die Neuzuwanderer, dass sie dreckig, laut, undiszipliniert und kinderreich seien, keine Sprache richtig sprechen und sich nicht gut kleiden könnten. Die „neuen“ Außenseiter, über die in dieser Weise gesprochen wird, das sind die sogenannten „EU-Neubürger“, die in Marxloh, aber auch bundesweit164 inzwischen eine der größten Gruppen unter der jährlich zuwandernden Bevölkerung stellen: Personen aus Bulgarien und Rumänien. 5.2.2 Außenseiter D: Also es gibt hier im Stadtteil massive Vorurteile und Übergriffe und so weiter gegenüber den Bulgaren. Und deshalb, also ich hatte zuerst ein Treff für bulgarische Frauen. Nachdem die sich verankert hatten hier, da habe ich versucht, die ins normale Frauenprogramm zu überführen. Die wollten aber nicht. Die haben immer wieder gesagt: „Da sind nur Türkinnen.“ Und es gibt halt, also ich habe so Anmeldelisten, um planen zu können und habe dann immer wieder so [deutet an, auf eine Liste zu zeigen]: „Guckt mal, das sind nicht nur türkische Namen.“ Und deshalb habe ich dann den Treff für [alle, Anm. d. Verf.] Frauen eingeführt. Das ging eine ganze Zeit lang sehr gut, etwa ein dreiviertel Jahr, und dann gab es aber einen Übergriff. Und zwar dummer Weise auch noch von einer Frau, die ab und an für uns Kinderbetreuung macht, die die Frauen auf Türkisch beschimpft hat. I: Eine türkischstämmige Frau, die die bulgarischen Frauen beschimpft hat? D: Ja, ich habe das gesehen, aber das nicht verstanden, ich spreche kein Türkisch. Aber ich kenne Schimpfwörter natürlich, und ich sehe das auch. Und habe dann sofort eingegriffen. Danach sind die bulgarischen Frauen aber zu diesem Treff nicht mehr gekommen.

164 Vgl. Statistisches Bundesamt (2012): Pressemitteilung Nr. 397 vom 15.11.2012: Zuwanderung nach Deutschland steigt im 1. Halbjahr 2012 um 15 %. Online unter: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2012/11/PD12 _397_12711.html (letzter Abruf: 13.12.2014).

332 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH Und zwar konstant. Also ich habe so zwar noch engen Kontakt zu diesen Frauen gehabt, aber zu diesen Treffs sind die nicht mehr gekommen. Die haben gesagt: „Nee.“ Also das ist sehr, sehr schwierig.165

Es wurde bereits gesagt, dass sich die türkeistämmigen Marxloher auf der lokalen Stadtteilebene zunehmend zu etablieren beginnen. Vor allem die Geschäftsfrauen scheinen sichtlich darum bemüht, den eigenen Status, den sie sich, wie wir gesehen haben, aus eigener Kraft erschaffen haben, um der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt zu entgehen166, gegenüber den Neuzuwanderern zu verteidigen. Von dem, was man sich so hart erkämpft hat, möchte man nicht ohne weiteres etwas abgeben. In diesem Konkurrenzkampf um Status und Macht ist jedoch auch deutlich zu beobachten, dass die Neuzugezogenen aus Bulgarien auf Grund ihres kulturellen Kapitals in Form der türkischen Sprache eher in der Lage sind, an der Macht und dem Status der türkeistämmigen Bewohner Marxlohs teilzuhaben als dies bei nur bulgarisch sprechenden Bulgaren der Fall ist. Das Interessante an der Gruppe der Neuzuwanderer aus Bulgarien ist jedoch, dass sich unter ihnen auch viele Roma befinden, die sich allerdings gegenüber Türkeistämmigen und Angehörigen der bulgarischen Mehrheitsgesellschaft nicht als solche zu erkennen geben. Es scheint also auch hier, ähnlich wie bei der Bulgarientürkin Hatice jeweils vom Umfeld abzuhängen, wie man sich ethnisch selbst verortet: Bulgaren und Türkeistämmigen gegenüber äußert man, entweder „muslimische Bulgarin“ oder „muslimische Bulgarientürkin“ zu sein. Muslimischen Roma aus dem Kosovo gegenüber, wie Egzon, die bereits seit den 1990er Jahren im Stadtteil leben, gibt man sich als „muslimische Romni“ aus und mir gegenüber als „türkischsprechende Bulgarin, die sich der Gruppe der Roma zuzählt und christlich-evangelikalen Glaubens“ ist. Was sich an dieser Stelle zeigt, ist bereits eingangs theoretisch dargelegt worden167: Es handelt sich um ethnische Mehrfachzugehörigkeiten oder hybride Lebensformen, von denen sich je nach Kontext mal die eine mal die andere Seite als dominant erweisen kann. Aber dennoch erfolgen die ethnischen Zuschreibungen nicht völlig willkürlich. Die Selbstverortung verläuft entlang von Gruppenmerkmalen, die aber in ihrer Auslegung variabel sind und die ethnischen Grenzen somit ausgesprochen dynamisch erscheinen lassen. Wie aber reagiert die türkeistämmige Bevölkerung auf die Neuzuwanderer, die sich ihnen gegenüber als Bulgarientürken bezeichnen und sich damit erhof-

165 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.08.2012. 166 Vgl. Abschnitt 4.3.4. 167 Vgl. Abschnitt 3.2.

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fen, von ihnen solidarisch aufgenommen zu werden? Für die meisten türkeistämmigen Frauen, mit denen ich sprach, handelt es sich bei dieser Gruppe nicht um Bulgarientürken. Und auch, dass viele von ihnen sich der Gruppe der Roma zurechnen, scheint niemandem bekannt zu sein. Aus Sicht der türkeistämmigen Marxloherinnen handelt es sich bei dieser Gruppe vielmehr ganzheitlich um „Bulgaren“. Das „Wir-Ihr“-Spiel funktioniert somit auch hier, indem die nationale Herkunft Bulgarien in der Fremdwahrnehmung als dominant betrachtet wird. Die türkische Sprache als Indiz zur Selbstverortung als „Bulgarientürkin“ erscheint hier hingegen sekundär. Insbesondere in den Bereichen, in denen die Türkeistämmigen Status- und Machtkonkurrenz durch die Neuzuwanderer fürchten, wie im Geschäftsbereich, werden sie von ihnen mit Skepsis betrachtet. Erinnern wir uns etwa an die bulgarientürkische Romni Yıldız168, die als ausgebildete Friseurin seit drei Jahren inständig versucht, in Marxloh Arbeit zu finden. Trotz ihrer Referenzen und obwohl sie die türkische Sprache beherrscht, wird sie von den türkeistämmigen Betreiberinnen der Friseurläden nicht, wie vereinbart, telefonisch zurückgerufen. Yıldız vermutet, dass es daran liege, dass sie keine „echte“ Türkin, sondern „nur“ Bulgarientürkin sei. Woran das die Geschäftsinhaberinnen denn merken würden, frage ich sie eines Tages. Zwar weiß ich inzwischen, dass viele der sich den Bulgarientürken zurechnenden Roma, wie Yıldız, der freien evangelikalen Christengemeine angehören169, aber das liegt ja zunächst einmal nicht auf der Hand und ist zudem den meisten türkeistämmigen Personen in Marxloh nicht bekannt. Die Religion kann also kein offensichtliches Merkmal sein, anhand dessen die türkeistämmigen Geschäftsinhaberinnen Yıldız als eine Bulgarientürkin erkennen. Auch dass Yıldız sich in bestimmten Kontexten als Romni verortet, erscheint als Erklärung nicht schlüssig, denn die türkeistämmige Bevölkerung ahnte zumindest zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht, dass unter den von ihnen als „Bulgaren“ Betitelten auch einige Roma sind. Yıldız gibt an, nicht zu wissen, woran die Türkeistämmigen sie als Bulgarientürkin erkennen würden. Aber von der Seite der türkeistämmigen „Bildungsaufsteigerinnen“ erhalte ich darauf schließlich eine Antwort: Anhand ihrer zumindest in Teilen vom Standardtürkischen abweichenden Sprache werden die Bulgarientürken von türkeistämmigen Personen problemlos als solche erkannt. Im Unterschied zu den türkeistämmigen Personen sprechen die türkischen Minderheiten in den Balkanländern eine Form des Balkantürkisch, das auch Rumelisch genannt wird. Im Falle der Marxloher Bulgarientürken handelt es sich um das sogenannte Ostrumelisch, das sich durch engen Sprachkontakt mit dem Bulgari-

168 Vgl. Abschnitt 4.8. 169 Mehr dazu folgt unter Abschnitt 5.4.2.

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schen entwickelt hat und zu entsprechenden Modifizierungen führte. Kennzeichnend für diese Dialektform des Türkischen ist unter anderem eine oft veränderte Satzstellung mit Tendenz zur Subjekt-Verb-Objekt-Stellung. Es sind aber auch Veränderungen in der Morphologie sowie in der Lexik und in der Aussprache festzustellen.170 Jemand, der kein Türkisch versteht, mag hier vielleicht zunächst keine Differenzen erkennen. Aber sogar einige der Marxloherinnen, die nur über rudimentäre Türkischkenntnisse verfügen, sind in der Lage, Unterschiede heraushören. Dazu die Sozialarbeiterin Doris: D: Also […] wenn man im Türkischen sagt: „Jetzt mach mal!“, sagt man „Hadi!“. Und da [bei den Bulgarientürken, Anm. d. Verf.] wird „Hadii“ gesagt, „Hadii!“ Und da habe ich noch gedacht, ja das ist ein bisschen anders.171

Die Sprache fungiert hier also als erkennbarer Marker dafür, wer am etablierten Status der Türkeistämmigen teilhaben darf und wer nicht. Die etablierten türkeistämmigen Personen sprechen das auf dem Istanbuler Dialekt basierende Standardtürkisch, die Bulgarientürken hingegen sprechen „nur“ eine Dialektvariante. Dass dies als ein verhängnisvoller „Makel“ betrachtet werden kann, ist inzwischen auch zu anderen Marxloher Gruppen durchgedrungen. So sagt ein Lehrer im Interview: L: Wir stellen im Moment fest, dass einige der Kinder [der Neuzuwanderer, Anm. d. Verf.] ein sehr schwach ausgeprägtes Sprachvermögen haben. Das liegt wohl auch daran, dass die keine der Sprachen, die sie sprechen, richtig können. Also die [bulgarische, Anm. d. Verf.] Kollegin sagt, das Bulgarisch ist miserabel und die deutsche Kollegin, die Türkisch spricht, die sagt: „Die sprechen alttürkisch. Das ist fürchterlich.“ Und das ist teilweise auch so rudimentäres Alttürkisch, ne, also, das passt überhaupt nicht. Die können es auch nicht richtig.172

Was „richtiges“ und was „nicht richtiges“ Bulgarisch oder Türkisch ist, wird hier also von den etablierten, schon länger im Stadtteil lebenden bulgarienstämmigen und türkeistämmigen Gruppen und schließlich nach wie vor nicht zuletzt von den „alteingesessenen“ Marxlohern definiert. In Yıldız’ Fall bedeutet das Nicht-

170 Kappler, Matthias (2002): Türkisch in Südosteuropa. In: Okuka, Miloš (Hrsg.) (2002): Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens (= Wieser Enzyklopädie des Europäischen Ostens, Bd. 10). Klagenfurt; Wien; Ljubljana. S. 817-834. 171 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.08.2012. 172 Interview mit einem Lehrer vom 23.11.2012.

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beherrschen des Standardtürkischen bereits das Ausschlusskriterium. So ist es ihr, da sie dadurch aus Sicht der Türkeistämmigen als „Bulgarin“ „entlarvt“ wird, nicht ohne Weiteres möglich, am Berufsleben der türkeistämmigen Geschäftsfrauen zu partizipieren. Etwas anders stellt sich die berufliche Situation der Neuzuwanderer aus Bulgarien dar, wenn es sich um Bereiche handelt, die von den türkeistämmigen Personen selbst nicht abgedeckt werden und in denen sie auch nicht um Macht- und Statusverlust fürchten, wenn sie die Neuzuwanderer teilhaben lassen. Zu nennen sind hier etwa Hilfsarbeiten auf dem Bau oder auch Putzjobs. Vor allem Letzterem gehen die aus Bulgarien zugewanderten Frauen häufig nach.173 Hier befinden sich die Frauen jedoch in einer deutlich machtschwächeren Position gegenüber ihren Auftraggebern und bekommen nicht selten den Lohn vorenthalten. Es wurde unter Abschnitt 4.8. bereits ausführlich dargelegt, dass viele der „Frauen aus Bulgarien“ dann lieber in die „sicherere“ Prostitution überwechseln, da sie hier im Voraus bezahlt werden und sichergehen können, das Geld zu erhalten. Zwei türkische „Cafés“ in Marxloh sollen abends zu einem Bordell werden, in denen in den über den „Cafés“ gelegenen Zimmern von beruflich selbstständigen „Frauen aus Bulgarien“ Prostitution betrieben wird.174 Die Frauen, die in diesen „Cafés“ arbeiten, sind ausschließlich aus Bulgarien Zugewanderte, wohingegen sowohl die „Café“-Inhaber als auch die Freier ausnahmslos türkeistämmig sind. Ein weiterer Bereich, an dem sich der etablierte Status der türkeistämmigen Bevölkerung gegenüber den Neuzuwanderern deutlich zeigt, ist der Wohnbereich. Die meisten Häuser in Marxloh haben mittlerweile einen türkeistämmigen Besitzer, doch wohnen diese Besitzer selten noch selbst in Marxloh. Wer es geschafft hat, sich mit der Zeit zu etablieren, zieht oft einen Stadtteil weiter nach Walsum oder noch weiter weg.175 Das in Marxloh erworbene Haus steht dann entweder leer oder wird neu vermietet. Die Mieter sind in letzter Zeit die Neuzuwanderer aus Bulgarien und Rumänien, die oft vergleichsweise hohe Mieten für wenig Quadratmeter und geringen Wohnstandard zahlen. Die Miete wird bar an den Vermieter bezahlt und von ihm willkürlich erhöht. Es soll auch Fälle gegeben haben, in denen die Familie ohne einen Vertrag unterschrieben zu haben, die Miete bezahlt hatte und gleich darauf vom Vermieter aufgefordert wurde,

173 Vgl. Abschnitt 4.8. 174 Vgl. dazu in Bezug auf den Duisburger Stadtteil Hochfeld: Ceylan: 2006, S. 233-243. 175 Baumann: 1996, S. 44.

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wieder auszuziehen.176 Ein Streetworker, der oft mit den Neuzuwanderern in Kontakt steht, erläutert mir eine weitere in Marxloh gängige Mietpraxis: A: Die haben keine Verträge. Das geht bar. Ohne Quittung. […] In der […] Straße ist das so, dass die Bulgaren, jeden Monat haben die einen Mietvertrag. Wenn die zahlen, wird er automatisch verlängert. Wenn die nicht zahlen, heißt das, der Mietvertrag ist ungültig.177

Trotz dieser Unsicherheiten im Wohnbereich und der einseitigen Abhängigkeit von den Vermietern sind die Neuzuwanderer aus Bulgarien meist froh, dass ihnen überhaupt jemand eine Wohnung vermietet – auch wenn es nur für einen Monat und mit sehr geringem Wohnstandard ist. Die Häuser haben oft keine funktionstüchtige Klingel, keine oder zu wenige Briefkästen und kaum Mülltonnen. Nicht zuletzt durch die für die Neuzuwanderer, die oft allein vom Kindergeld leben, hohen Preise sind die Wohnungen meist überbelegt, was zu weiteren anfallenden Kosten und somit des Öfteren zu Konflikten mit den Vermietern führt: „Das kann doch nicht wahr sein!“ höre ich meinen türkeistämmigen Nachbarn auf der Straße mit zwei bulgarischen Männern streiten. „So viel Wasser, wie Sie in einem Monat verbrauchen, verbrauchen andere in einem Jahr!“ Ich trete hinzu, und er erklärt mir die Lage: Er habe die Wohnung an vier Personen vermietet. Nun würden aber 20 Personen dort wohnen und die Wasserkosten hochtreiben. Es sei ja schließlich ein Unterschied, ob vier oder zwanzig Personen morgens unter die Dusche steigen. Es sei doch völlig abzu sehen, dass er am Jahresende auf den Kosten sitzenbleiben werde, denn die Bulgaren hätten oft nicht einmal genug Geld, um die Miete zu begleichen.178

Fälle wie dieser ziehen nach sich, dass sich der „Schimpfklatsch“ über die Gruppe „der Bulgaren“, in dem es heißt, sie würden ihre Frauen verkaufen, Berge von Müll auf die Straßen kippen oder gerne auf engem Raum leben, weiter verfestigt. Dass 20 Personen hier in einer nur 50 qm großen Wohnung leben, ist allerdings allein aus der Not heraus zu erklären: Viele Familien leben ausschließlich vom Kindergeld und können sich daher keine eigene Wohnung leisten, oder man möchte ihnen keine Wohnung vermieten. Die Prostitution ist für viele neuzugewanderte „Frauen aus Bulgarien“ die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen,

176 Weitere solche Fälle sind in allen EU-Ländern bekannt. Vgl. Agentur der Europäischen Union für Grundrechte: 2009, S. 64. 177 Interview mit einem Streetworker vom 23.11.2012. 178 Forschungstagebuch vom 07.09.2012.

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und der Hausmüll liegt auch deswegen auf den Straßen, weil die Vermieter oft nicht genug Mülltonnen stellen. Gleichzeitig ist der Abfall auf den Straßen aber auch ein Beispiel dafür, dass gesellschaftliche Teilhabe auch immer etwas mit Wissen um die vorherrschenden Regeln zu tun hat. Die Neuzuwanderer sehen die Müllsäcke in Marxloh auf der Straße liegen, die von der Müllabfuhr wöchentlich abgeholt werden und meinen, man könnte den Abfall jederzeit auf die Straße stellen. Wird aber den Personen das Müllsystem der Stadt durch die Vermieter erklärt, verschwindet er meist von den Straßen und wird nur noch zu den Tagen des Abtransports herausgestellt. Alles in allem tun sich die Neuzuwanderer aus Bulgarien aber noch ein wenig leichter als die Neuzuwanderer aus Rumänien, am Stadtteilgeschehen teilzuhaben, denn allein auf Grund des Beherrschens der türkischen Sprache haben sie immerhin Zugang zu Teilen der Infrastruktur, die sich die türkeistämmigen Personen mit den Jahren aufgebaut haben. Weitaus problematischer ist die Situation für die Zuwanderer aus Rumänien, die ohne jegliches Kapital auskommen müssen. Hierbei handelt es sich um Personen, die, im Unterschied zu den Zuwanderern aus Bulgarien, aus ihrer ethnischen Zugehörigkeit keinen Hehl machen.179 Gegenüber dieser Gruppe steigert sich die Abwehr zum Teil massiv und schreckt auch vor Gewalt nicht zurück. Betrachten wir dazu folgenden Vorfall aus dem Sommer 2012: Eines Vormittags treffe ich Antonia, eine der „Romafrauen aus Rumänien“ mit ihrer Familie und ihrem Bekannten Cosmin zufällig auf der Straße. Die sonst freudig strahlende Frau scheint völlig verschreckt. Nur wenige Tage vorher waren sie und rund zwei Dutzend weitere rumänische Roma von einer Gruppe türkeistämmiger Männer überfallen, beschimpft und verprügelt worden, erzählt sie aufgeregt. „Wenn ihr nicht geht, schneiden wir euch die Kehle durch“, sollen sie ihnen gedroht haben. Seither meiden Antonia und ihre Familie ihren ehemaligen Aufenthaltsort in Marxloh, den Skulpturenweg, der ab dato plötzlich wie leer gefegt erscheint. Nur ein paar „Zurückgezogene“ sitzen mit Bierflaschen auf den Bänken. Ein Anblick, wie man ihn in Marxloh kannte, bis im Sommer 2012 rumänische Roma diese Stelle einnahmen, während die „Zurückgezogenen“ etwas weiter hinten ihren Platz fanden. Noch wenige Tage vorher war die Ecke, wo der Skulpturenweg die Weseler Straße kreuzt, der Treffpunkt der rumänischen Romafamilien gewesen. Er diente als Sammelpunkt zum Gruppenaustausch. Hier traf man sich, ließ die Kinder spielen, lachte oder saß auf Bänken. „Die lungern da nur rum“ – so nahmen es viele Marxloher im Stadtteil wahr. Allein auf Grund der vergleichsweise hohen Anzahl an rumänischen Roma und der Tatsache, dass es sich bei der Gruppe vor allem bei den Frauen um eine

179 Vgl. Abschnitt 4.7.4.

338 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH auffallende Personengruppe mit wehenden bunten Röcken, langen Haaren und auffälligem Schmuck handelte, löste bei vielen Befremdung wenn nicht gar Abwehr hervor. Während einige der wenigen „Aktiven“180 im Stadtteil überlegten, wie man sie ansprechen oder sogar ins Stadtteilgeschehen involvieren könnte, hatten sich augenscheinlich andere in das Gefühl einer aggressiven Abwehr hineingesteigert. Schon oft seien die rumänischen Roma von türkeistämmigen Männern beschimpft worden, sagen sie mir, aber noch nie sei es zu körperlichen Übergriffen gekommen – bis zur letzten Woche: Von maskierten Männern seien sie mit Baseballschlägern und Androhung von Waffengewalt überfallen worden. Antonia und die anderen Mitglieder ihrer Familie scheinen noch immer fassungslos, wie brutal man gegen sie und ihre Familienmitglieder vorging. Sie wären gekommen, um in Frieden zu leben, sagt Cosmin. Wenn Angela Merkel sie so beschimpft hätte, ergänzt Antonia, hätte sie das noch verstehen können. Aber „die Türken“ seien doch selbst Immigranten, denen es nicht zustehe, sie so zu behandeln. Ihr Mann zeigt mir seine blau angelaufenen Prellungen am Arm, ihr Sohn zieht sein Hosenbein hoch und offenbart eine Platzwunde. Als ich gerade mit Antonia reden möchte, duckt sie sich weg, weil ein Mann, den die für einen Türken hält, dicht an uns vorbeiläuft.181

Seit Jahrhunderten gehören die Roma zur größten und am wenigsten gern gesehenen Minderheit Europas.182 Wurden sie in der Vergangenheit vielerorts verfolgt und vernichtet, sind die jahrhundertealten antiziganistischen183 Stereotype, die ihnen Eigenschaften wie Kriminalität184, Unsauberkeit, Diebstahl und Arbeitsscheue zuschreiben185, nach wie vor verbreitet.186 Auch die Überzeugung,

180 Vgl. Abschnitt 4.1. 181 Forschungstagebuch vom 10.09.2012. 182 Dabei stellen sie jedoch keine Einheit, sondern zerfallen in diverse Untergruppierungen. Vgl. Abschnitt 3.2.4. 183 Allein der Begriff „Zigeuner“ verweist bereits auf eine negative Zuschreibung als „ziehender Gauner“. Der Begriff wird „auch aus dem Grund in wissenschaftlicher Literatur meist vermieden.“ Wippermann: 2005, S. 3. 184 Dass diese Zuschreibung nach wie vor verbreitet ist, zeigt ein Zitat aus einer Studie, welche die European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) durchgeführt hat. Dort heißt es: „Die Befragten mit Romahintergrund machten sehr wenige Angaben zu den Themen illegaler Handel und Kriminalität unter Roma, während Befragte ohne Romahintergrund Roma aus anderen Mitgliedstaaten mit illegalem Handel und Bagatelldelikten in Verbindung brachten.“ European Union Agency for Fundamental Rights: 2009, S. 10. 185 Wippermann, Wolfgang (1998): Antiziganismus – Entstehung und Entwicklung der wichtigsten Vorurteile. In: Landeszentrale für politische Bildung Baden-

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dass Roma mit Organen handeln würden, so haben wir gesehen, ist weiterhin lebendig und führt zur Ablehnung der Minderheit als Ganzes.187 Aktuellen Umfragen zufolge würde sich ein Viertel der Deutschen unwohl fühlen, wenn sie Roma als Nachbarn hätten.188 Zudem würden Roma deutschlandweit in den Bereichen Bildung, Wohnen und Arbeit diskriminiert und ausgeschlossen.189 Auch in Marxloh zeigt sich deutlich, wie weit die rumänischen Roma von Macht- und Statusteilhabe im Stadtteil entfernt sind. Sie scheinen von keiner anderen in Marxloh lebenden Gruppe auch nur im Geringsten akzeptiert zu werden. Die Machtdifferenz zu den anderen scheint einfach zu groß. Der „Schimpfklatsch“ nimmt gegenüber dieser Gruppe ausgesprochen drastische und antiziganistische Züge an. So äußert etwa auch eine marokkanische Frau während unseres Gesprächs: „Seitdem [die rumänischen Roma hier sind, Anm. d. Verf.] wird hier geklaut, wir müssen den Keller abschließen.“190 Und ein Lehrer, der an einer der Marxloher Schulen arbeitet, sagt im Interview: „Es gibt türkische Mütter, die Gerüchte streuen, hier würden jeden Tag Kinder entführt an unserer Schule.“191 Auch die zugewanderten „Frauen aus Bulgarien“, das haben wir bereits gese-

Württemberg; Verband Deutscher Sinti und Roma (Hrsg.) (1998): Zwischen Romantisierung und Rassismus – Sinti und Roma – 600 Jahre in Deutschland. Handreichung zur Geschichte, Kultur und Gegenwart der deutschen Sinti und Roma. Bonn. S. 37-46. 186 Mihok, Brigitte; Widmann, Peter (2005): Sinti und Roma als Feindbilder. In: Informationen zur politischen Bildung, 271 (2005). Bonn. S. 56-61. Online unter http:// www.bpb.de/izpb/9720/sinti-und-roma-als-feindbilder (letzter Abruf: 13.12.2014). 187 Vgl. Abschnitt 4.4. 188 Europäische Kommission (2008): Eurobarometer Spezial, 296: Diskriminierung in der Europäischen Union. Wahrnehmungen, Erfahrungen und Haltungen, Befragung: Februar – März 2008. Online unter: http://www.ec.europa.eu (letzter Abruf: 13.12.2014); Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2014): Zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung – Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma. Berlin. Online unter: http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/ publikationen/Expertisen/Expertise_Bevoelkerungseinstellungen_gegenueber_Sinti_ und_Roma_20140829.pdf?__blob=publicationFile (letzter Abruf: 02.05.2015). 189 Strauß, Daniel (Hrsg.) (2013): Gutachten Antiziganismus. Zum Stand der Forschung und der Gegenstrategien. Mannheim; Marburg. Online unter: https://mediendienstintegration.de/fileadmin/Dateien/Gutachten_Antiziganismus_2013.pdf (letzter Abruf: 02.05.2015). 190 Marokkanerin, weiblich, 38 Jahre. Interview vom 30.10.2012. 191 Interview mit einem Lehrer vom 23.11.2012.

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hen192, gehen zu den „Romafrauen aus Rumänien“ deutlich auf Distanz. Dazu noch ein weiteres Beispiel: Ich habe gerade an einem Gebetstreffen der evangelikalen bulgarientürkischen Roma teilgenommen und stehe mit zwei Frauen und einem Mann auf der Straße, um mich zu verabschieden. Eher nebenbei frage ich, wie die Frauen zu den rumänischen Roma im Stadtteil stehen. „Wir dürfen sie nicht hassen, unser Glaube verbietet es uns“, erwidert die eine der beiden Frauen. Aber gut sei sie auf diese Gruppe nicht zu sprechen. Sie würden viel zu früh heiraten und Kinder kriegen. Außerdem hätten sie keinen Anstand, würden betteln und könnten sich nicht richtig kleiden. Ob sie denn schon einmal versucht hätte, Kontakte zu den rumänischen Roma aufzubauen, frage ich. Die Frau verneint. Allein sprachlich sei es nicht möglich, man könnte sich untereinander gar nicht verständigen. Ich nicke zuerst, wende dann aber ein, dass es doch sicher auf Romanes ginge, denn immerhin weiß ich inzwischen, dass beide in Marxloh lebenden Romagruppierungen eine Form des Romanes sprechen und einige sich untereinander verständigen können.193 Nein, das sei auch nicht möglich, erwidert die Frau. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass es eher am Willen mangelt denn an den Möglichkeiten.194

Auf die rumänischen Roma trifft in Marxloh also das zu, was Elias und Scotson als eine typische Reaktion der Außenseiter auf die stigmatisierende Gruppenschande beschreiben, nämlich dass „die Machtstärkeren die Machtschwächeren selbst immer wieder zu der Überzeugung bringen, dass ihnen die Begnadung fehle – dass sie schimpfliche, minderwertige Menschen seien.“195 Auf Grund der erfahrenden Stigmatisierungen ziehen sich die rumänischen Roma in Marxloh nämlich immer öfter in ihre eigene Gruppe zurück, da sie sich hier sicher fühlen. Warum sie denn immer in großen Gruppen auftreten würden, frage ich Antonia eines Tages. Auf viele andere Stadtteilbewohner würde das abschreckend wirken. Ja, genau dazu sei es gut, erwidert sie. Damit würden sie versuchen, sich zu schützen, falls wieder einmal jemand versuchen würde, sie anzugreifen. Das von Antonia in unseren Gesprächen immer wieder aufkeimende Gefühl von Angst

192 Vgl. Abschnitt 4.8. 193 Viele Romagruppen sprechen kein Romanes mehr oder können sich untereinander auf Grund der Verschiedenheiten in der Sprache nicht verständigen. In Marxloh habe ich aber immer wieder beobachten können, dass die Verständigung zwischen Roma aus dem Kosovo, bulgarientürkischen Roma und rumänischen Roma auf Romanes erfolgt. Ein Austausch scheint also prinzipiell möglich. 194 Forschungstagebuch vom 24.10.2012. 195 Elias; Scotson: 1990, S. 8.

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tritt auch in weiteren Gesprächen mit anderen „Romafrauen aus Rumänien“ zutage und ist offenbar das prägende Element ihrer Außenseiterstellung in Marxloh: Sie haben Angst, auf der Straße allein aufzutreten, da sie fürchten, vielleicht angegriffen zu werden. Vor allem haben sie aber Angst, wieder nach Rumänien zurückkehren zu müssen: Ich nehme am ersten Vorbesprechungstreffen eines niedrigschwelligen Sprachkurses teil, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus überschüssigen Geldern der Integrationskurse finanziert hat. Ich betrete den Raum, setze mich neben den Organisator und beobachte das Miteinander. An den in U-Form angeordneten Tischen sitzen etwa zwanzig bis dreißig „Romafrauen aus Rumänien“. Deren genaue Zahl ist nur schwer zu bestimmen, denn immer wieder verlassen einzelne von ihnen den Raum, weil ihr Handy klingelt. Ein Baby, dem die etwa 14-jährige Mutter ein neongelbes langes Röckchen in Miniformat mit silbrig glänzenden Streifen über die Strampelhose gezogen hat, verfällt immer wieder ins Weinen. Andere Kinder laufen lachend durch den Saal. Es ist nicht laut, aber es ist ein buchstäblich buntes Treiben. Zunächst werden die Rahmenbedingungen geklärt, der Kurs werde jeden Freitag von 10 bis 12 Uhr stattfinden. Ja, was sie denn dann mit den Kindern machen sollen, fragt die erste Frau. Na, untereinander Betreuungsmöglichkeiten organisieren, sagt der Organisator. Die Frau verlässt prompt den Raum. Als die Teilnehmerliste, die das BAMF benötigt, herumgeht, beginnt die erste Frau zu protestieren. Ihr Mann habe sie gewarnt, das würde sie nicht unterschreiben, dann müsse sie ja wieder nach Rumänien ausreisen. Verunsicherung macht sich breit. Über eine halbe Stunde lang wird energisch darüber diskutiert, ob denn nun unterschrieben werden könne oder nicht. Manche, so stellt sich heraus, sind Analphabeten und können nicht lesen, was sie da genau unterzeichnen. Die Angst, mit der Unterschrift einzuwilligen, wieder nach Rumänien zu müssen, überwiegt schließlich. Die Liste geht mit gerade einmal fünf Namen196 an den Organisator zurück.197

Schlagen wir nun den Bogen zurück zu den „Alteingesessenen“ im Stadtteil und fragen uns, wie dieser Bevölkerungsteil Marxlohs zu den rumänischen Roma, mit denen offenbar niemand etwas zu tun haben möchte, steht: Es überrascht nicht, dass wir hier ebenfalls oft auf Abwehr, aber zugleich auch auf absolute

196 Das hier Geschilderte bezieht sich ausschließlich auf das erste Vorbesprechungstreffen. Nachdem die Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder von der katholischen Kirche übernommen und die Frauen auf Romanes mehrfach über die Unbedenklichkeit ihrer Unterschriften auf der Teilnehmerliste informiert wurden, lief der Kurs mit 20 teilnehmenden Frauen, die in großen Teilen Analphabeten waren, gut an. 197 Forschungstagebuch vom 24.10.2012.

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Unkenntnis stoßen. Während die anderen Bevölkerungsgruppen im Stadtteil immerhin darüber informiert sind, um welche Personengruppe es sich handelt, sind bei den „Alteingesessenen“ wirre Spekulationen verbreitet, die aber ohne jegliche Anzeichen von Unsicherheiten geäußert werden: Es ist Freitag. Ich hatte mich gegen Mittag auf den Weg zum Marxloher „Zentrum“ am August-Bebel-Platz aufgemacht und probiere auf dem Rückweg einen mir noch unbekannten Weg durch eine kleine Grünanlage aus. Ich biege in einen kleinen Pfad zur Grünanlage ein und stolpere mal wieder fast über einen neugierig an mir hochspringenden Hund. „Er ist noch jung“, erklärt mir sein Herrchen entschuldigend. Ich will gerade weitergehen, als mich das Herrchen fragt, ob ich die umgeknickten Bäume hinter mir gesehen habe. Nein, hatte ich nicht, ich wollte ja eigentlich nur nach Hause. Gerade letzte Woche seien sie erst gepflanzt worden, erklärt mir der Mann und schon seien sie wieder abgebrochen. Wer denn so etwas tue, möchte ich eigentlich nur höflicher Weise von ihm wissen, und seine Antwort ist erstaunlich konkret: „Die Albaner natürlich, die immer an der Ecke herumlungern!“ Die würden ja sogar ihre Kinder in die Kleidercontainer stecken, um sie etwas raussuchen zu lassen! Ja, und dann würden die Kleider im Park verstreut liegen. Schrecklich sei das. Frankreich habe sie kürzlich ausgewiesen198, und nun kämen sie alle nach Deutschland. Aber hier könne man ja eh nichts mehr ändern. Ich erfahre, dass das stolze Hundeherrchen seit 30 Jahren im Stadtteil wohnt, dass seine Frau sehr krank ist und er froh ist, dass in seiner Straße kaum Türken wohnen. Ob er daran denken würde, wegzuziehen, frage ich. Nein, jetzt auch nicht mehr, erwidert er resigniert und verabschiedet sich, weil seine Frau mit dem Mittagessen zu Hause wartet.199

Die „alteingesessene“ Bevölkerung im Stadtteil ist in Bezug auf die Neuzuwanderer auffallend uninformiert. Wenn sie sich überhaupt schon einmal gefragt haben, wer die Gruppe am Skulpturenweg sein könnte, so ist das rein spekulativ. Niemand hat bislang versucht, zu ihnen Kontakt aufzunehmen. Sogar die „Aktiven“ im Stadtteil, die gegenüber den anderen Gruppen weitestgehend aufgeschlossen sind, scheuen davor zurück, Zugang zu diesen Menschen zu suchen.

198 Der Sprecher nimmt hier Bezug auf das Jahr 2010, in dem Frankeich Tausende von Roma nach Rumänien und Bulgarien gegen eine Prämie von 300 Euro für einen Erwachsenen und 100 Euro für jedes Kind abschob. Vgl. N.N. (2010): Umstrittene Ausweisung. Frankreich fliegt mehr als hundert Roma aus. In: Spiegel online vom 28.08.2010. Online unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/umstrittene-aus weisung-frankreich-fliegt-mehr-als-hundert-roma-aus-a-713004.html (letzter Abruf: 15.12.2014). 199 Forschungstagebuch vom 21.09.2012.

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Auf die Frage, warum sie bislang niemanden aus der Gruppe der rumänischen Roma versucht hätten anzusprechen, sind deren Auftreten im „Pulk“ sowie „Zeitmangel“ die gängigen Begründungen. Die meisten der „Aktiven“ geben jedoch vor, entweder zu scheu zu sein oder zu viel zu tun zu haben, um sich auf diese Gruppe der Neuzuwanderer einzulassen. So sagt sogar Paula: P: Man scheut irgendwie auch den Kontakt. Aber bei mir ist das irgendwie auch ein Zeitding. Wenn ich den ganzen Tag am Arbeiten bin, ne, dann gehe ich sonntags noch zur Kirche oder so oder gehe zurück oder so, und wenn das alles so durchgetimt ist, dann fehlt halt so Freiraum für sowas, ne. Das ist schade. Und ich glaube, für diese Leute brauche ich Zeit. Das geht nicht so im Vorbeigehen. 200

5.2.3 Fazit Sozialwissenschaftliche Untersuchungen über das Zusammenleben von Bewohnern in Stadtteilen wie Marxloh richten ihren Fokus meist auf die Beziehung von „Migranten“ und „Deutschen“. Obgleich bekannt ist, dass es sich bei den nach Deutschland zugewanderten Menschen um keine homogene Gruppe handelt, sondern sich ihre Mitglieder etwa nach Aufenthaltsdauer, -status, Nationalität, ethnischem und sozialem Hintergrund teils stark unterscheiden, wird nur selten eine Binnendifferenzierung der einzelnen Gruppen vorgenommen. Was hier in Marxloh zu beobachten ist, zeigt aber die Notwendigkeit auf, Unterscheidungen zwischen den einzelnen Gruppen vorzunehmen. Nur so erscheint es möglich, das alltägliche Miteinander in einem ethnisch heterogenen Stadtteil, das oft auf gerade diesen Gruppenmarkierungen und dadurch resultierenden Ein- und Ausgrenzungsprozessen beruht, zu verstehen und nach außen hin verständlich zu machen. Marxloh weist in dieser Hinsicht bemerkenswerte Ähnlichkeiten zu der von Elias und Scotson untersuchten Gemeinde Winston Parva auf. Im Unterschied zu Winston Parva aber, wo sich zwei Arbeitergruppen ohne erkennbare ethnische Unterschiede begegneten, treffen in Marxloh verschiedene Gruppierungen, die sich ethnisch unterschiedlich zuordnen oder zugeordnet werden, aufeinander. Dennoch lässt sich Elias’ und Scotsons Modell im Grundsatz auch auf Marxloh übertragen, müsste jedoch weitergesponnen werden. Denn mit der Ankunft neuzugezogener Gruppen beginnt jeweils wieder „ein Machtverhältnis – der Ankommende ist der Außenseiter der auf Etablierte trifft“201. Entsprechend

200 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. 201 Schiffauer, Werner (2004): Opposition und Identifikation – zur Dynamik des „Fußfassens“. In: Motte Jan; Ohliger, Rainer (Hrsg.) (2004): Geschichte und Gedächtnis

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gestalten sich die Machtverhältnisse in Marxloh. Werfen wir dazu noch einmal einen Blick auf die oben bereits angeführte – und hier nun erweiterte – Skizze: Abbildung 17: Verweildauer und Machtverhältnisse „Die Deutschen“

„Die Türken“

„Die Bulgaren“

„Die Roma“

19. Jh.

1961

2007 2008

2012

Wir haben eingangs nur auf die Verweildauer der Gruppen Bezug genommen. Nach dem Gesagten lässt sich die Skizze jedoch durch Pfeile erweitern, welche die verschachtelten Machtverhältnisse in Marxloh symbolisieren: Die größte Macht kommt nach wie vor der Gruppe der am längsten im Stadtteil verweilenden „Deutschen“ als „host society“202 zu, gefolgt von den in den 1960er Jahren immigrierten „Türken“, den seit 2007 im Stadtteil lebenden „Bulgaren“ und schließlich den zuletzt im Jahr 2008 zugezogenen „Roma“. Nach wie vor stehen also die autochthonen Marxloher an der Spitze der Machthierarchie. Diese Spitzenstellung ergibt sich aber weniger – sehen wir von den „Aktiven“ einmal ab – aus ihrer lokal zu verortenden etablierten Position im Stadtteil, als dadurch, dass sie bundesweit Angehörige der Mehrheitsgesellschaft sind und allein dadurch Macht und einen gewissen Status innehaben. Ihrer etablierten Stellung entsprechend meiden die meisten sämtliche Zuwanderergruppen, wobei die Neuzuwanderer, die von ihnen in keiner Hinsicht gebraucht werden und somit keinerlei Funktion für sie erfüllen, meist auch kein Interesse erregen. Die Abhängigkeit ist hier einseitig auf die Seite der Außenseiter verschoben. Wenn aber die Außenseiter, wie dies bei der türkeistämmigen Bevölkerung der Fall ist, irgendeine Funktion für die Etablierten einnehmen, beginnt sich die Machtbalance in Richin der Einwanderungsgesellschaft. Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik. Essen. S. 89-98. Hier: S. 89. 202 Baumann: 1996, S. 96.

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tung der Außenseiter zu verlagern. Da vor allem die Anzahl der „Alteingesessenen“ in Marxloh stetig weiter abnimmt, kennt man sich untereinander kaum noch und büßt zumindest auf lokaler Ebene zunehmend an Status ein. Hier ist die türkeistämmige Bevölkerung inzwischen nahe an den Etabliertenstatus gerückt. Geschäfte, Cafés, ja sogar Beratungsstellen und Deutschkurse für die Neuzuwanderer werden inzwischen von türkeistämmigen Marxlohern angeboten, die nur schwer bereit scheinen, diesen von ihnen selbst erarbeiteten Status an die Neuzuwanderer abzugeben. Personen aus Bulgarien sind hier eher in der Lage, am Status teilzuhaben – diejenigen von ihnen, die schon länger im Stadtteil wohnen noch eher als die gerade Neuzugezogenen. Dennoch werden beide Gruppen von türkeistämmiger Seite nicht als eine von ihnen, sondern als „Bulgaren, die ja Türkisch können“203 eingestuft und von Bereichen, in denen es um Macht und Statuskonkurrenz geht, möglichst ausgeschlossen. Die Abgrenzung zu den rumänischen Roma im Stadtteil erfolgt schließlich noch deutlicher. Auffallend ist, dass der Ausschluss der rumänischen Roma von jeder Gruppe im Stadtteil und stets unter Rückgriff auf primordialistische Zuschreibungen erfolgt, die deutlich antiziganistische Züge aufweisen und auch vor Gewalt nicht Halt machen. Auf die rumänischen Roma trifft in Marxloh also das zu, was Elias und Scotson über die Indianer in südamerikanischen Ländern geschrieben haben: Sie erfüllen „keine Funktion für die etablierten Gruppen; sie stehen einfach im Weg“204. Zuletzt sei noch erwähnt, dass im Zuge der Diskussion Asylbewerber im Marxloher „Entenkarree“ unterzubringen205, die Ablehnung sogar seitens der rumänischen Roma groß war. Sie wollten keine Asylbewerber aus Serbien und Mazedonien in direkter Umgebung wohnen haben, gaben sie zum Ausdruck. Es scheint also, als bildeten die rumänischen Roma nur das vorläufige Ende der Marxloher Machthierarchie. Beim Zusammenleben in Marxloh geht es in erster Linie offenbar also darum, wer länger im Stadtteil verweilt und wem dadurch mehr Macht und Status zuteil wird und bei wem ebendies nicht der Fall ist. So wird etwa auch die zunächst vielleicht überraschende Beobachtung, dass Hatice als Bulgarientürkin, die schon über zehn Jahre im Stadtteil lebt, nichts mit den bulgarientürkischen Neuzuwanderern zu tun haben will, erklärbar: Die schon länger im Stadtteil Verweilenden haben sich in den letzten Jahren einen gewissen Status aufgebaut,

203 Meist wird nicht darüber reflektiert, dass die bulgarische Mehrheitsgesellschaft nahezu ausschließlich bulgarisch spricht und es sich bei den Zuwanderern somit nicht um Angehörige dieser Gruppe handeln kann. 204 Elias; Scotson: 1990, S. 28. 205 Vgl. Abschnitt 4.5.

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den man mit den „Neuen“ nur ungern teilen möchte. Ethnizität dient den verschiedenen Gruppierungen als Markierung dafür, welcher Gruppe man sich zugehörig fühlt oder sich von einer anderen absetzt, um in dem jeweiligen Kontext zu Macht und Status zu gelangen. Dabei hat es den Anschein, als würde das Miteinander verschiedener in Marxloh lebender Gruppen streng innerhalb der bereits vorgegebenen Strukturen der Etablierten verlaufen. Denn erst dann, wenn sich die Neuzuwanderer, wie etwa Hatice, über die im Vergleich zu ihnen etablierteren Gruppen „hochgearbeitet“ haben, rückt irgendwann ein Dialog mit den an der Spitze Stehenden in den Bereich des Möglichen. Für viele Zuwanderer ist dies aber ein weiter Weg. In den folgenden Jahren wird sich zeigen, wie sich das Zusammenleben in Marxloh fortentwickelt, wenn weiterhin „Alteingesessene“ aus dem Stadtteil wegziehen und Neuzuwanderer nachrücken werden. Mit Sicherheit wird das Gesamtgruppengefüge der Marxloher Bevölkerung auf Grund seiner stetig nach oben strebenden Aufwärtsmobilität der jeweiligen Gruppen weiterhin seine Dynamik beibehalten. Ein Lehrer brachte diese Entwicklung mit folgenden Worten auf den Punkt: L: Es wiederholt sich immer, jetzt sind es andere Gruppen. Wir waren die Flüchtlinge206, die man nicht wollte. Und jetzt sind es die Migranten, die man nicht will. Also die Geschichte wiederholt sich immer wieder. Es sind nur andere Gruppen. Das Muster, wie das abläuft, das ist immer das Gleiche.207

5.3 Z UR B EDEUTUNG

DES SOZIALEN

M ILIEUS

Es ist nun schon mehrfach angeklungen, dass es sich bei Marxloh um einen Stadtteil handelt, der auf Grund seiner wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung als „benachteiligt“208 eingestuft wird. Viele der Menschen, die hier leben, sind arm oder von Armut bedroht. Paula, eine der „Aktiven“, die ich nach der sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung Marxlohs frage, zögert daher mit ihrer Antwort auch nicht lange, als sie mir darlegt, wie sie die Personen in ihrem direkten Umfeld wahrnimmt:

206 Er und seine Eltern waren „Heimatvertriebene“. 207 Interview mit einem Lehrer vom 23.11.2012. 208 Website der Städtebauförderungsprogramm „Soziale Stadt“ unter: http://www. staedtebaufoerderung.info/StBauF/DE/Programm/SozialeStadt/soziale_stadt_node. html (letzter Abruf: 03.10.2014). Vgl. Abschnitt 5.1.1.

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I: Also die hier, mit denen Sie so zu tun haben, das sind die, die schon immer hier wohnen? P: Ja. I: Und was machen die so beruflich? P: Die sind arbeitslos, berentet oder krank.209

Paula benennt hier genau diejenigen Personen, die deutschlandweit und auch in Marxloh am häufigsten von Armut betroffen sind: Alte, Kranke und Arbeitslose.210 Nun ist jedoch Armut an sich, das haben wir bereits bei der Gruppe der „Zurückgezogenen“211 gesehen, nur schwer zu greifen. Welche Bedeutung Armut zukommt, bemisst sich sowohl daran, welchen Stellenwert ökonomische und soziale Teilhabe in der jeweiligen Gesellschaft einnimmt als auch daran, welche Stellung die als „arm“ bezeichnete Bevölkerung darin inne hat: Während etwa in Deutschland bis vor wenigen Jahren eine recht spezifische, historisch verankerte Wahrnehmung verbreitet zu sein schien, dass Armut kaum oder gar nicht existiere, wurde das Thema in Frankreich immer wieder aufgegriffen.212 Der Armutsbegriff bleibt somit nach wie vor relativ und in weiten Teilen unbestimmt. Zwar versuchte ihn bereits der Soziologe Georg Simmel im Jahr 1908 zu definieren, indem er konstatierte: „Arm ist, wer mit öffentlichen Geldern unterstützt werden muss, um sein Leben zu fristen […] Arm ist derjenige, dessen Mittel zu seinen Zwecken nicht ausreichen“213, doch ist diese Definition aus heutiger Sicht unzureichend, da die Dunkelziffer der in Armut lebenden Menschen groß zu sein scheint. Der Anteil derjenigen, die zwar sozialhilfeberechtigt sind, aber aus Scham, Unwissenheit oder wegen Problemen mit den Behörden keine Leis-

209 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. 210 Die Gruppe der Kinder, die in Deutschland ebenfalls stark von Armut betroffen ist, wird von Paula nicht benannt. Zur genannten Einteilung der von Armut betroffenen Personen vgl. Willke, Gerhard (2011): Armut – was ist das? Eine Grundsatzanalyse. Hamburg. S. 122. 211 Vgl. Abschnitt 4.6. 212 Vgl. Paugam, Serge (2004): Armut und soziale Exklusion. Eine soziologische Perspektive. In: Häußermann, Hartmut; Kronauer, Martin; Siebel, Walter (Hrsg.) (2004): An den Rändern der Städte. Armut und Ausgrenzung. Frankfurt am Main. S. 71-96. Hier: S. 78. 213 Simmel, Georg (1908): Der Arme. In: Ders. (1908): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin. S. 345-374. Hier: S. 369.

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tungen beanspruchen, wird auf 50 Prozent geschätzt.214 In Bezug auf Marxloh würde dies bedeuten, dass nicht nur ausschließlich die offiziell 4887 von SGB IILeistungen abhängigen Personen der insgesamt knapp 18.000 Einwohner des Stadtteils als arm betrachtet werden können215, sondern ungefähr die doppelte Anzahl. Generell fallen in Deutschland all jene Personen unter die Gruppe armutsgefährdeter Personen, die über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens – man spricht auch vom Median – verfügen und somit im bundesdeutschen Kontext unter dem monatlichen Nettoeinkommen von 940 Euro pro Kopf liegen.216 In Duisburg wird über deren Anzahl bislang keine Statistik geführt. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass zu dem genannten Anteil an Marxlohern, die von SGBII-Leistungen leben, noch weitere hinzukommen. Das sind dann Personen, wie wir sie mit Gisela oder Jennifer unter den „Zurückgezogenen“217 kennengelernt haben, die oder deren Lebensgefährte zwar einer Berufstätigkeit nachgehen, deren Monatseinkommen aber dennoch unter den 60 Prozent des Median liegen. Armut ist bei diesen Frauen jedoch auf den ersten Blick oft nicht erkennbar. So sagt die „Aktive“ Paula, die beruflich immer wieder mit in Armut lebenden Menschen zu tun hat: P: Ja, also arme Frauen sind häufig eher unsichtbar, weil Frauen in dem Bereich eigentlich bis kurz vorm Ende, also wenn sie wirklich richtig verwahrlosen, sehr viel Wert darauf legen, dass es nach außen nicht in Erscheinung tritt. Also die legen Wert auf Kosmetik, die waschen sich, die duschen sich, die schminken sich durchaus. Die sorgen bis zu einem bestimmten Punkt auch dafür, nach außen hin gut auszusehen. Bei Männern verlottert das

214 Mehrere Studien haben dies inzwischen verdeutlicht: Vgl. Hauser, Richard; Hübinger, Walter (1993): Arme unter uns. Ergebnisse und Konsequenzen der CaritasArmutsuntersuchung. Freiburg im Breisgau; Neumann, Udo; Hertz, Markus (1998): Verdeckte Armut in Deutschland. Forschungsberichte der Friedrich-Ebert-Stiftung. Frankfurt am Main; Klocke, Andreas (2000): Methoden der Armutsmessung. Einkommens-, Unterversorgungs-, Deprivations- und Sozialhilfekonzept. In: Zeitschrift für Soziologie, 29, 4 (2000). S. 313-329; Becker, Irene (2007): Verdeckte Armut in Deutschland. Ausmaß und Ursachen. Fachforum Berlin der Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin. 215 Stadt Duisburg: 2013a. 216 Vgl. Statistisches Bundesamt (2012): Pressemitteilung Nr. 109 vom 27.03.2012. Auch online einsehbar unter: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pres semitteilungen/2012/03/PD12_109_634.html (letzter Abruf: 21.10.2014). 217 Vgl. Abschnitt 4.6.

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eher, aber Frauen halten da noch einen gewissen Pegel aufrecht. Und wenn die dann auf der Straße sitzen mit Bierflasche und stinken – das ist dann schon Ende der Fahnenstange. Aber es gibt ganz viele sehr arme Frauen, denen man das so nicht ansieht.218

Auch meiner Beobachtung nach schien es, als trete Armut bei den Marxloher Männern offensichtlicher zutage als bei den Frauen: Während die in Armut lebenden Marxloher Frauen die meiste Zeit zu Hause verbringen, scheint in Bezug auf das Alltagsleben der Marxloher Männer ein Verhalten charakteristisch zu sein, das bereits die Sozialwissenschaftler Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel in den 1930er Jahren in einer Studie über Arbeitslosigkeit in dem österreichischen Marienthal als „Sichtreibenlassen“219 identifiziert hatten. Das Forscherteam hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit zu untersuchen und das „Sichtreibenlassen“ als ein wesentliches Merkmal des zunehmenden Verlustes des Zeitgefühls der Marienthaler benannt. Mit „Sichtreibenlassen“ meinen die Autoren Tätigkeiten, die „mit der eigenen Existenz nicht mehr in sinnvollem Zusammenhang“220 stehen, indem man beispielsweise vor das Haus geht, weil man ein Geräusch gehört hat, das man jedoch kurz darauf gleich wieder aus dem Sinn verliert: „Man tritt hinaus, und schon einen Augenblick später ist das Geräusch vergessen.“221 Doch nun, so die Autoren weiter, stehe man ja schon einmal draußen „bis irgend eine andere geringfügige Sinneswahrnehmung wieder ein Stück weiterführt“222. Begibt man sich wochentags am Vormittag durch Marxloh, so gewinnt man einen ähnlichen Eindruck wie das Wissenschaftlerteam in Marienthal: in Jogginganzügen gekleidete junge Männer, die an Hausecken stehen, zum Kiosk oder mit dem Hund in den Park gehen; ältere Männer, die auf einem Mäuerchen an der Straße hocken; Männer, die auf Bänken rund um den August-Bebel-Platz sitzen. Schaut man an den Häuserfassaden hoch, so blickt man immer wieder in die Augen von jemandem, der das Geschehen auf der Straße beobachtet. Das Zeitgefühl, so scheint es, ist hier ähnlich verändert wie bei den Marienthalern. Doch nicht nur Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel haben Veränderungen in der Zeitwahrnehmung von Langzeitarbeitslosen festgestellt. Auch der Kulturanthro-

218 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. 219 Jahoda, Marie; Lazarsfeld, Paul F.; Zeisel, Hans (1982): Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. 4. Auflage. Bonn. S. 86. 220 Ebd. 221 Ebd. 222 Ebd.

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pologe Oscar Lewis spricht im Zusammenhang mit seiner „Culture of Poverty“ von einer spezifischen Auffassung von Zeit. Lewis’ Theorie der „Kultur der Armut“, die wir bereits kurz angesprochen haben223, ist bekanntlich nicht ganz unproblematisch und wurde im Laufe der Jahre intensiv kritisiert. Im Mittelpunkt der Kritik steht unter anderem folgende Passage aus der Ethnographie „La vida“, in der Lewis schreibt: „Die ‚Kultur der Armut‘ ist jedoch nicht nur eine Anpassung an eine Reihe von Bedingungen innerhalb der übrigen Gesellschaft. Wenn sie einmal entstanden ist, führt sie durch die Auswirkungen auf die Kinder dazu, sich von Generation zu Generation fortzusetzen. Wenn die Kinder in den Slums sechs oder sieben Jahre alt sind, haben sie gewöhnlich Grundwerte und Haltung ihrer Subkultur in sich aufgenommen und sind psychologisch nicht genügend geschult, den Vorteil sich ändernder Umstände oder sich verbessernder Möglichkeiten, die während ihres Lebens eintreten können, voll auszunutzen.“224

Einer der Hauptkritikpunkte dieses Abschnitts bezieht sich darauf, dass Lewis hier den Begriff „Subkultur“ verwendet und damit so verstanden werden könnte, als existiere neben Kulturen von Menschen und Ländern zudem auch eine eigenständige unabhängige Subkultur der Armen. Doch Lewis hat später selbst zum Ausdruck gebracht, dass er von einer idealtypischen Subkultur spreche, die er ausschließlich der Einfachheit halber als Kurzform anführe.225 Ein weiterer weitaus wesentlicherer Kritikpunkt besteht allerdings darin, dass Lewis in diesem Abschnitt nicht die sozialen Verhältnisse, sondern ausschließlich das persönliche Verhalten der Betroffenen für ein Leben in Armut als ursächlich erklärt. Es sind also die Betroffenen selbst, die auf Grund kultureller Eigenschaften wie mangelnde „Pünktlichkeit, Disziplin, Dankbarkeit“226 ihre soziale Lage selbst zu verantworten hätten. Diese Aussage Lewis’ führte in den Folgejahren zu einer Reihe an wissenschaftlichen Untersuchungen, in denen ausschließlich die Betroffenen selbst als Verursacher ihrer Lebenssituation betrachtet wurden.227 Die-

223 Vgl. Abschnitt 4.6. 224 Lewis, Oscar (1968): La vida. London. S. 48. 225 Vgl. ebd., S. 4. 226 Lindner, Rolf (1999): Was ist „Kultur der Armut“? Anmerkungen zu Oscar Lewis. In: Herkommer, Sebastian (1999): Soziale Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus. Hamburg. S. 171-178. Hier: S. 176. 227 Vgl. Glazer, Nathan (1975): The Culture of Poverty. In: Friedl, Johann; Chrisman, Noel J. (Hrsg.): Cityways. A selective Reader in Urban Anthropology. New York. S. 402-415; Auletta, Ken (1982): The Underclass. New York.

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se Untersuchungen wurden schließlich wiederum – wie auch Lewis selbst – scharf kritisiert. Einer der vermutlich bedeutendsten Kritiker war der USamerikanische Soziologe Charles A. Valentine, der Armut im kompletten Gegensatz zu Lewis als ausschließliches Resultat gesellschaftlicher Strukturen begriff.228 Ich möchte mich angesichts dieser Diskussion um die „Kultur der Armut“ der Ansicht der norwegischen Sozialanthropologin Unni Wikan229 sowie jüngstens auch dem Schweizer Armutsforscher Ueli Mäder230 anschließen, die beide Armut als ein dialektisches Verhältnis von „drinnen“ und „draußen“231 betrachten und somit davon ausgehen, dass sich Lewis und Valentine nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen. Denn, so schreibt Mäder: „Das eine dokumentiert sich im andern und umgekehrt.“232 Wenn wir uns hier also im nächsten Abschnitt dem „Drinnen“ unter dem Aspekt der „Kultur der Armut“ zuwenden, ist es weder mein Ziel, in Anlehnung an Lewis eine allgemeine „Marxloher Kultur der Armut“ zu zeichnen noch die von Armut betroffenen Marxloher als die für ihre soziale Lage Alleinverantwortlichen zu betrachten. Als wesentlich erscheint mir vielmehr das, worin ich die grundsätzliche Stärke in Lewis’ Studien sehe, nämlich zu unterstreichen, dass, wenn wir uns in Armut lebenden Menschen zuwenden, wir neben vielen Problemen durchaus auch ein lebendiges Miteinander vorfinden können. Obgleich sie sich uns also selbstverständlich nicht in der von Lewis beschriebenen Idealform einer „Subkultur“ präsentiert, scheinen mir durchaus manche Aspekte von Lewis’ „Kultur der Armut“ auch unter einigen Marxlohern verbreitet.233

228 Vgl. Valentine, Charles A. (1968): Culture and Poverty. Critique and CounterProposals. Chicago. S. 75. 229 Wikan, Unni (1980): Life among the poor in Cairo. New York. S. 148 ff. 230 Mäder, Ueli (2010): Armut und soziale Ausgrenzung. In: Wandeler, Bernard; Stade, Peter (Hrsg.): Werkstattheft Armut und soziale Ausgrenzung. Luzern. S. 10-17. Online unter: https://drive.switch.ch/public.php?service=files&t=91f244e51df97fb6 07be12662e7d388c (letzter Abruf: 14.05.2015). 231 Ebd., S. 13. 232 Ebd. 233 Lewis, Oscar (1969): The Culture of Poverty. In: Moynihan, Daniel P. (Hrsg.) (1969): On Understanding Poverty. Perspectives from the Social Sciences. New York u.a. S. 187-200. Hier: S. 187.

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5.3.1 „Kultur der Armut“ Die „Kultur der Armut“ findet sich nach Lewis vor allem bei „solchen Menschen, die in der sozialen und wirtschaftlichen Rangordnung auf der untersten Stufe leben“234 und tritt besonders dort auf, wo ein „soziales oder wirtschaftliches System zusammengebrochen“235 ist – wie es auch Marxloh, nach der Kohle- und Stahlkrise widerfahren ist. Es versteht sich von selbst, dass mit Menschen, von denen Lewis sagt, dass sie „in der sozialen und wirtschaftlichen Rangordnung auf der untersten Stufe leben“236 in Marxloh weder die „Aktiven“ noch die „Alteingesessenen“ und auch nicht die „Bildungsaufsteigerinnen“ gemeint sein können. Denn alle diese Gruppen, das haben wir gesehen, verfügen über ausreichend ökonomisches, soziales und auch kulturelles Kapital und sind von der „untersten Stufe“ in der „sozialen und wirtschaftlichen Rangordnung“237 weit entfernt. Wir sprechen hier im Folgenden vielmehr von den „Zurückgezogenen“, einigen der „Heiratsmigrantinnen“, einigen der „Gastarbeiterinnen“ und von „Frauen aus Bulgarien“ sowie von „Frauen aus Rumänien“, deren Alltagsleben zumindest in Teilen Parallelen zu Lewis’ „Kultur der Armut“ aufweist: Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit, niedrige Löhne, eine Fülle ungelernter Berufe und Kinderarbeit. Es muss jedoch gesagt werden, dass abgesehen von einigen Bettelaktionen der rumänischen Romamädchen, die gemeinsam mit ihren Müttern Fußgänger um Kleingeld anbetteln, Kinderarbeit in Marxloh tatsächlich nicht vorzufinden ist. Dennoch ist es selbstverständlich interessant, dass es gerade diese Gruppe der rumänischen Roma ist, die zumindest sporadisch auf Kinderarbeit zurückgreift, denn diese Gruppe ist eine der ärmsten in Marxloh und lebt, ebenso wie die Menschen aus Bulgarien, meist weit unter dem Existenzminimum von 940 Euro pro Kopf.238 Blicken wir zur näheren Veranschaulichung der Lebenssituation dieser Gruppe kurz auf die Beschreibung einer Sozialarbeiterin, mit der sie den ökonomischen Hintergrund einer „Frau aus Bulgarien“, die gerade kurz vor mir die Beratungsstelle mit Baby im Arm verließ, beschreibt: H: Aber jetzt zum Beispiel, die junge Frau, die vor Ihnen hier war, die sieht aus wie der bleiche Tod. Die hat ein Kind von drei Monaten, das kriegt kaum was zu trinken. Weil die sich so schlecht ernährt, kann die kaum stillen. Und das tut mir im Herzen dann schon

234 Lewis 1991, S. 27. 235 Ebd. 236 Ebd. 237 Ebd. 238 Vgl Abschnitt 4.7.

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weh, wenn ich der sagen muss: „Ich habe nicht so viel.“ Ich kann ein bisschen helfen aber nicht so viel. Und vor allem nicht so, dass es Mutter und Kind gut geht. Vater und andere Geschwister – davon nochmal ganz abgesehen. Da hab ich schon gedacht: Mensch, da muss jetzt mal bald was passieren, dass die irgendwie abgesichert werden in Deutschland.239

Erinnern wir uns darüber hinaus an Antonia und ihre Sorge darüber, nicht zu wissen, wie sie neben der Miete auch noch für Essen und Kleidung ihrer Kinder aufkommen soll240, so bekommen wir einen Eindruck davon, was das Leben in Armut der neuzugewanderten „Frauen aus Bulgarien“ und „Romafrauen aus Rumänien“ in Marxloh kennzeichnet: Es herrscht „dauernde Geldknappheit und das Fehlen von Lebensmittelvorräten“241 und „daher die Gewohnheit, täglich mehrmals kleine Mengen Lebensmittel einzukaufen, gerade soviel, wie man im Augenblick braucht“.242 Die Lebensmittel müssen dabei selbstverständlich möglichst günstig sein und sind nicht selten nährstoffarm aber dafür kalorienreich. Immer wieder sehe ich neuzugewanderte Frauen im Marxloher Supermarkt flaschenweise günstige Cola, tütenweise Chips und abgepacktes Fleisch auf das Laufband legen – alles Dinge, die man im Herkunftsland nicht erwerben konnte und nun voller Genuss, allerdings mitunter auch in Übermaßen, zu sich nimmt, wie es eine Sozialarbeiterin bestätigt: O: Diejenigen, die mehr in der Tasche haben, die kaufen doppeltgemoppelt. Und das, was nicht gesund ist, wie Chips, Cola und Co. Die Kinder haben in Bulgarien nie eine Chipstüte in der Hand gehalten, und jetzt möchten die Eltern das. Und aus einer sind 200 geworden, und die Kinder sind wirklich mollig.243

Diese „auf [die, Anm. d. Verf.] Gegenwart ausgerichtete Orientierung“244 erstreckt sich auch auf andere Gruppen im Stadtteil, wie die „Zurückgezogenen“ und auch einige der „Heiratsmigrantinnen“ aus der Türkei. In vielen dieser Haushalte finden wir keinerlei Ersparnisse vor245 und auch das Anlegen von Lebensmittelvorräten ist nicht zu beobachten. Betrachten wir dazu meinen ersten

239 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 14.01.2013. 240 Vgl. Abschnitt 4.7. 241 Lewis: 1991, S. 28. 242 Ebd. 243 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013. 244 Lewis: 1991, S. 29. 245 Ebd., S. 28.

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Besuch bei der „Heiratsmigrantin“ Filiz, die aus ihrer Zwangsehe mit ihrem Mann geflohen ist und mit der ich mich zum Interview bei ihr zu Hause treffe: Es ist Nachmittag. Ich bin gerade bei Filiz zu Hause eingetroffen und sehe mich ein wenig in der Wohnung um: Alle Wände sind in der Farbe Apricot gestrichen, die sie selbst renoviert hat, wie sie mir stolz berichtet. Im Wohnzimmer stehen eine Sitzecke und eine schwarze, abgenutzte Kunstledercouch. Auf ihr schläft Filiz. Im Zimmer nebenan nächtigt Filiz’ Tochter auf einer Matratze auf dem Fußboden. Nur eine mit Billy Boy246 bedruckte Decke gibt Aufschluss darüber, dass dieser sonst leere Raum der eines Teenagers ist. Filiz bietet mir einen Kaffee an, den ich dankend annehme, und wir gehen in die Küche: Ein Herd und ein Kühlschrank, sonst steht in der Küche nichts. Filiz erhitzt Wasser zur Zubereitung des Instantkaffees (eine Kaffemaschine besitzt sie nicht) und öffnet kurz den Kühlschrank, um mir Milch zum Kaffee anzubieten. Ich werfe einen flüchtigen Blick hinein: Mit Ausnahme der Milchtüte und einem Packen eingeschweißter Wurstscheiben ist der Kühlschrank leer. Filiz selbst nimmt keine Milch in ihren Kaffee, sondern Kaffeeweißer. Ich habe ein schlechtes Gewissen, ihre Milch zu trinken und nehme ebenfalls das Pulver in den Kaffee.247

Filiz lebt mit ihrer Tochter von 300 Euro im Monat, die Wohnung bekommt sie im Moment zusätzlich von einer Hilfsorganisation gestellt. Mit diesen geringen finanziellen Möglichkeiten ist Filiz kein Einzelfall in Marxloh. Erinnern wir uns etwa an die „Zurückgezogene“ Else, die mir zwar großzügig Kaffee einschenkt, aber selbst aus finanziellen Gründen darauf verzichtet248, so wird auch hier deutlich, mit wie wenig Geld sie auskommen muss und zu welchen Einschränkungen dies führt. Else hat monatlich knapp 800 Euro zur Verfügung, und allein ihre Wohnung kostet sie bereits die Hälfte davon. Von dem verbleibenden Geld Möbel und Kleidung zu finanzieren, ist für sie nahezu unmöglich. Sie ist daher froh, wenn sie Kleidung oder andere Gegenstände aus „zweiter Hand“ erhält249, was jedoch gerade Else als einer der „Zurückgezogenen“ auf Grund ihrer mangelnden Netzwerke schwer fällt. Sie kennt kaum jemanden, dem es ähnlich ergeht, und zudem ist ihre Scham groß, um Hilfe zu bitten.250 Bei den Zuwanderern aus Bulgarien und Rumänien, deren Netzwerke hingegen vergleichsweise weit ge-

246 Hierbei handelt es sich um eine Kondommarke, die in dieser Zeit bei Teenagern als Aufdruck verschiedener Textilien angesagt war. 247 Forschungstagebuch vom 30.08.2010. 248 Vgl. Abschnitt 4.6. 249 Lewis: 1991, S. 28. 250 Mehr dazu folgt im Verlauf des Abschnittes weiter unten.

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spannt sind, ist es jedoch gang und gäbe, dass man sich immer wieder gegenseitig Dinge leiht: Ich stehe gerade vor der Moschee nach einer Trauerfeier und versuche, mein Entsetzen über den Tod des Mannes, der hier betrauert wird und den ich mehrfach zum Interview traf, mit meiner Funktion als Beobachterin im Stadtteil zu vereinbaren. Gerade als ich mich entschließe, die Trauer zuzulassen und zunächst erst einmal keine Notizen über die Veranstaltung anzufertigen, steht plötzlich Dursun, Yıldız’ Mann, vor mir. Er fragt mich nach Ali, und ich deute auf den hinteren Teil des Hofes der Moschee, wo ich ihn zuletzt in einer Gruppe von anderen Trauernden gesehen hatte. Dursun bedankt sich, er hätte nämlich einen Wollmantel von einem Bekannten erhalten, der ihm leider zu groß sei, aber Ali würde er sicher passen. Kurzerhand macht er sich auf den Weg, um Ali unter den Hunderten von Menschen ausfindig zu machen und ihm den Mantel anzubieten.251

Obgleich Dursun selbst nur wenig besitzt, teilt er sein Hab und Gut. Sofern es sein Netzwerk ermöglicht, gibt er das, was ihm gehört, ganz selbstverständlich an andere weiter, um damit zu helfen oder jemandem eine Freude zu machen. Lewis spricht in dem Zusammenhang von einer beeindruckenden „Bereitwilligkeit, den geringsten Besitz mit anderen zu teilen“252 – auch wenn es, wie hier im Folgenden, „Kleinigkeiten“ sind: Ich sitze in der Straßenbahn von Marxloh kommend stadteinwärts. Mit mir sind zwei Mütter im Teenageralter eingestiegen. Das Kind der einen Frau sitzt im Kinderwagen, das andere auf dem Schoß der Mutter. Die Mütter haben sichtbar wenig Geld: Sie tragen Kunstlederjacken, der Kinderwagen wirkt alt und ein wenig klapprig. Als das Kind auf dem Schoß der einen Mutter ungeduldig wird, kramt die andere eine kleine Tüte Kaubonbons aus dem Kinderwagen hervor. Als sie sie öffnet, wird ihr bewusst, dass zwei weitere Kinder in der Straßenbahn sitzen und sie bei ihrer Tätigkeit beobachten. Bereitwillig gibt sie den beiden Kindern den Großteil des Tüteninhalts in die Hand und ihrem eigenen Kind sowie dem Kind ihrer Freundin die restlichen in der Tüte verbliebenen zwei Kaubonbons.253

Auch unter den in Armut lebenden Marxlohern herrscht also durchaus das vor, was Lewis „Gemeinschaftsgeist“254 nennt: Man hilft sich in Krisenzeiten bereit-

251 Forschungstagebuch vom 04.01.2013. 252 Lewis: 1991, S. 14. 253 Forschungstagebuch vom 30.05.2014. 254 Lewis: 1991, S. 14.

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willig aus. Dass wir es hier bei dem aufgeführten Beispiel mit zwei Müttern im Teenageralter zu tun haben, ist kein Zufall, denn die in Armut lebenden Mütter in Marxloh bekommen oft relativ früh Kinder.255 Dies betrifft die „Zurückgezogenen“ ebenso, wie die Neuzuwanderer aus Bulgarien und Rumänien als auch viele der „Heiratsmigrantinnen“ und ehemals der „Gastarbeiterinnen“. Bei allen diesen Gruppen, in denen der Mann der Alleinverdiener und die Frau Hausfrau und Mutter ist, kommt strikten Rollenvorstellungen oft eine große Bedeutung zu – wobei auch zugleich das Familienleben bei diesen Gruppen meist in nicht unerheblichem Maße von Gewalt geprägt ist. So sagt eine Sozialarbeiterin etwa über die Frauen und ihre Kinder aus Bulgarien, die sie flächendeckend als „Roma“256 bezeichnet: O: Gewalt wird groß geschrieben. Unterdrückung. Das ist das Erste, was ein Roma-Mann eigentlich machen kann. Und er meint, er hat auch das Recht, das zu machen, weil das meine Frau ist. Sehr oft sind die auch bis zum Blut geschlagen, ja. Wenn ich meine, dass da auch Kindeswohlgefährdung stattfindet, dann rufe ich das Jugendamt an. Sehr viele von denen sind im Frauenhaus auch. […] Ich sage, das ist kein Weg, aber ich sehe in die Augen von dem Kind und weiß, dass der Papa es mindestens 100 Mal geschlagen hat. Oder es eingesperrt hat. Sehr oft. Das ist die Erziehung, die haben nichts anderes gelernt. Nicht, dass die nicht die Kinder und Frauen lieben. Umgekehrt, die lieben sie. Und sie sind auch sehr sensibel, aber trotzdem machen die so etwas.257

Sein Kind und seine Frau zu lieben und es zugleich körperlich zu züchtigen, weckt erneut Parallelen zu Lewis’ „Kultur der Armut“. In seinen ethnographischen Schilderungen in „Die Kinder von Sanchez“ ist es der kleine Manuel Sanchez der über seinen Vater sagt: „Er schlug uns, glaube ich nicht aus Grausamkeit […]. In Wirklichkeit liebte er uns auch, aber er wollte gern, dass wir einen guten Eindruck machten und wenn wir das nicht taten, war er enttäuscht.“258 Besonders in denjenigen Marxloher Familien, in denen das gesellschaftliche Ansehen der Familie von großer Bedeutung ist, wie bei einigen Familien aus Bulgarien und manchen der türkeistämmigen Familien, kann es aus

255 Vgl. Lewis: 1991, S. 28. 256 Es handelt sich hier um eine ethnische Bulgarin. Für diese Gruppe in Marxloh ist es typisch, die Neuzuwanderer nicht als „Bulgaren“, sondern als „Roma“ zu betrachten. Vgl. Abschnitt 5.2. 257 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013. 258 Lewis: 1991, S. 57.

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dem gleichen Grund zu Gewalt kommen wie bei der Familie Sanchez259: Man will einen guten Eindruck hinterlassen und wenn dies nicht so klappt, wie man sich das vorstellt, wird Gewalt ausgeübt. Nun ist in Marxloh zwar durchaus, wie bereits gesagt wurde, statistisch betrachtet, kein höheres Vorkommen an Kriminalitätsdelikten zu erkennen als in anderen Teilen der Stadt, doch in dem Bereich der Häuslichen Gewalt, der gerade für Frauen und Kinder sehr bedeutsam ist, steht Marxloh mit an der Spitze der Kriminalitätsstatistik.260 Mit 68 Fällen wurden im Jahr 2009 in DuisburgHochfeld die meisten Gewalttaten im häuslichen Umfeld registriert, gefolgt von Marxloh mit 58 Fällen, Obermarxloh und Neumühl mit 45 Fällen und schließlich Alt-Hamborn mit 42 Fällen. Insgesamt fällt ein Nord-Süd-Gefälle auf: In Ortsteilen im Norden Duisburgs sind häufiger Fälle von Häuslicher Gewalt festzustellen als in Ortsteilen im Süden der Stadt.261 Angesichts dieser Zahlen mag man vielleicht geneigt sein, das Vorkommen Häuslicher Gewalt auf die sozialen Gegensätze des Duisburger Nordens im Vergleich zum Duisburger Süden zurückzuführen. Zwischen Häuslicher Gewalt und Bildungsgrad, das haben verschiedene Studien jedoch inzwischen gezeigt, lässt sich kein Zusammenhang erkennen, was auch die Duisburger Polizei aus ihrer Erfahrung heraus bestätigt. Vielmehr käme es bei sozial Bessergestellten nur zu keiner Anzeige, da die Polizei „die Pöbelbremse der oberen 10.000“ sei: P: Ich sag’ mal, unsere größte Klientel stammt natürlich aus den sogenannten „sozial schwachen“ Schichten. Aber diese subtile Gewalt, sowohl bei Männern gegenüber Frauen als auch umgekehrt, ist in allen Gesellschaftsschichten vertreten. Nur, als ich junge Polizistin war, hat mir ein Kollege gesagt: „Hör mal, du musst dir eines merken: Die Polizei ist die Pöbelbremse der oberen 10.000.“ Die schotten sich so gut ab. Deshalb ist die Gewalt dort nicht weniger, nur wissen wir davon nichts. Bei den unteren Schichten ist das durchlässiger, die haben auch kein Problem mit der Polizei. Die gehört mit dazu (lacht). Meine Mutter wäre verrückt geworden, wenn bei uns zu Hause ein Streifenwagen vor der Tür langfährt (lacht). Was sollen die Nachbarn denken! Aber zum Beispiel in Marxloh gehört das zum Stadtbild.262

Obgleich der Grad der Bildung keine Relevanz für die Gewaltbetroffenheit von Frauen darzustellen scheint, ist „das völlige Fehlen von Bildungsressourcen

259 Vgl. Abschnitt 4.4. und 4.6. 260 Polizeipräsidium Duisburg: 2010, S. 60. 261 Ebd. 262 Interview mit der Polizei Duisburg vom 11.08.2010.

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[durchaus, Anm. d. Verf.] ein gewaltfördernder Faktor“.263 Dies zeigt sich in Marxloh recht deutlich, wo viele derjenigen Frauen, die mir von sehr drastischen Formen Häuslicher Gewalt berichten, ebenso wie ihre Beziehungspartner über keine qualifizierten Bildungsabschlüsse und somit über kaum Bildungs- und Ausbildungsressourcen zur ökonomischen und gesellschaftlichen Teilhabe verfügen – ganz unabhängig, das sei hier nochmals betont, von ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Erschwerend wirkt es sich zudem aus, wenn die Betroffenen isoliert leben und so eine Loslösung aus gewaltbelasteten Partnerbeziehungen für sie besonders schwierig ist.264 Dies erklärt, warum Häusliche Gewalt neben den „Heiratsmigrantinnen“ und den „Gastarbeiterinnen“ vor allem auch bei den „Zurückgezogenen“ vorzufinden ist, denn diese Gruppen verfüg(t)en oft über nur sehr wenige Sozialkontakte. Hinzu kommen in diesen Familien oft strikte Rollenvorstellungen sowie eine Form dessen, was Lewis „Märtyrer-Komplex“265 nennt, indem sich die Frau dem Mann ganz selbstverständlich unterordnet und aus dieser Selbstverständlichkeit heraus auch Gewalt erträgt. Diese Frauen sind es dann, die, wenn ihr Partner sie schlägt, selten zur Polizei gehen – sowohl die „Zurückgezogenen“ aber insbesondere auch die „Heiratsmigrantinnen“ nicht. So sagt die mit vielen „Heiratsmigrantinnen“ gut vernetzte „Aktive“, Hildegard: H: Die gehen nicht zur Polizei. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Mann Hausverbot gekriegt hat. Obwohl ich weiß, dass alle geschlagen werden. Also die [Name einer Freundin, Anm. d. Verf.] erzählt das auch, dass sie von ihrem Bruder geschlagen wurde, ohne dass sie wusste, warum. Sind wohl mehr die Brüder als die Väter. Aber die würden nie zur Polizei gehen. Und ich glaube auch nicht, dass die Nachbarn das machen.266

Bei der Suche nach Antworten auf die Frage, warum gerade die „Heiratsmigrantinnen“ bei Gewaltbetroffenheit nicht zur Polizei gehen, lohnt sich vielleicht ein Blick auf die Ergebnisse einer Repräsentativstudie aus dem Jahr 2004 über das Vorkommen von Gewalt an Frauen, die interessanter Weise auf eine unterschiedliche Wahrnehmung von Gewalt schließen lässt.267 So erlebten die befrag-

263 Ebd., S. 28. 264 Ebd., S. 38-39. 265 Ebd., S. 37. 266 „Aktive“, weiblich, 60 Jahre. Interview vom 12.08.2010. 267 Müller, Ursula; Schröttle, Monika (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Zusammenfassung zentraler Studienergebnisse. Hrsgg. vom

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ten türkeistämmigen Frauen zwar zu 49 Prozent268 und damit um 9 Prozent häufiger als „deutsche“ Frauen Häusliche Gewalt, fühlten sich jedoch seltener von sexueller Gewalt betroffen. In der Studie wird daher darauf hingewiesen, dass „ungeklärt ist, ob dies auch mit kulturellen Unterschieden in der Benennung von sexueller Gewalt in Zusammenhang steht“.269 Zumindest bei den Marxloher „Heiratsmigrantinnen“ lassen sich Andeutungen darauf finden, dass der Beischlaf von den Frauen auch dann vollzogen wird, wenn sie es eigentlich nicht wollen, aber mit Bezug auf den Koran dann doch als gerechtfertigt ansehen. So sagt die 44-jährige „Heiratsmigrantin“ Fatma: F: Irgendwann wollte ich nicht mehr mit meinem Mann schlafen, danach wurde mir nämlich immer sofort zum Kotzen. I: Und wie hat dein Mann reagiert? F: Ja, er sagt, die Frau muss das machen, das steht im Koran. Wenn der Mann will, musst du das machen, egal wann, wo.270

Mit Blick auf die „Gastarbeiterin“ Habibe, die ebenfalls massive (sexuelle) Gewalt seitens ihres Mannes erfahren hat, scheint aber auch noch ein weiterer Aspekt von Bedeutung zu sein: Man hat offenbar Schwierigkeiten, der Polizei Vertrauen entgegenzubringen. So antwortet Habibe auf die Frage, warum sie die Polizei nicht gerufen habe: H: Die Polizei hält ihn drei Stunden, vier Stunden oder fünf Stunden fest, und dann ist er wieder da! Die sagen nur: „Ach, den lassen wir mal seinen Rausch ausschlafen.“271

Nun sind es jedoch nicht nur „Gastarbeiterinnen“ wie Habibe und einige der „Heiratsmigrantinnen“, die von Gewalt betroffen sind, sondern durchaus auch Frauen aus der Gruppe der „Zurückgezogenen“. Was wir bei den „Zurückgezogenen“ jedoch nicht antreffen, ist das Phänomen der sogenannten „Mehrfachvik-

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ). BadenBaden. 268 Ebd., S. 27. 269 Ebd. 269 Ebd., S. 24. 270 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 44 Jahre. Interview vom 21.08.2010. 271 „Gastarbeiterin“, weiblich, 62 Jahre, lebt seit 1972 in Deutschland. Interview vom 14.08.2010.

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timisierung“272 wie sie einige der „Gastarbeiterinnen“ und „Heiratsmigrantinnen“ erlebt haben und wie es auch die Duisburger Polizei beobachtet: In „deutschen“ Familien käme es zwar auch zu Gewalt, aber die Frauen würden im Unterschied zu türkeistämmigen Frauen nie von der gesamten Familie bedroht. Auch die Mädchenberatungsstelle „Mabilda“273 im Duisburger Norden spricht von wesentlichen kulturellen Unterschieden des Erlebens Häuslicher Gewalt in Marxloh: M: Bei Migranten ist das anders, weil, wenn ich zum Beispiel „nein“ sage, dann kommt mein Onkel, kommt mein Vater, kommt meine Tante, Opa, was weiß ich. Und machen Druck. Bei Deutschen ist dieser Druck nicht da.274

Nun wissen wir inzwischen, dass Gewalt objektiv nicht zu fassen ist, sondern stets bedingt ist durch historische, politische, kulturelle und subjektive Kontexte. So hat es sich auch „Mabilda“ zum Ziel gesetzt, per Selbstbehauptungstraining, Workshops, Themenabenden und Kommunikationsrunden, wie dem wöchentlichen Frauenfrühstück, immer wieder mit den Mädchen und Frauen gemeinsam zu erarbeiten, an welchem Punkt Gewalt für sie anfängt, und was dagegen zu tun ist. Insbesondere wenn es sich um keine körperlichen Gewaltformen handele, so stellt eine Sozialarbeiterin „Mabildas“ in unserem Gespräch heraus, empfänden viele der Frauen Beeinträchtigungen seitens der Familie, wie dies beispielsweise bei Verboten der Fall sei, nicht als Gewalt. Nicht zum Deutschkurs gehen oder keiner Berufstätigkeit nachgehen zu dürfen werde von ihnen meist nicht als Gewalt eingestuft. Diese Wahrnehmung setze sich auch in der Kindererziehung weiter fort. So sei die Reaktion nach einem Wochenendseminar zum Thema „Gewalt“ folgende gewesen: M: Viele Frauen haben gefragt: „Ist das Gewalt?“ Die haben einen Schreck bekommen. Die müssen das auch selbst lernen. Was ist Gewalt und wo fängt Gewalt bei mir an. Die haben selber gesagt: „Ich bin gewalttätig mit dem, was ich zu Hause mache.“275

272 Mehrfachviktimisierte Frauen haben mehr als eine Gewaltsituation erlebt. Vgl. Müller; Schröttle: 2004, S. 83. 273 „Mabilda“ steht für Mädchenbildungsarbeit e.V. Vgl. Homepage unter: http://www. mabilda-duisburg.de (letzter Abruf: 24.06.2011). 274 Interview mit „Mabilda“ vom 16.04.2010. 275 Ebd.

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Die Formen der Gewalt reichen von Beschimpfungen über Ohrfeigen bis hin zu massiven Misshandlungen. Die Frauen berichten, oft selbst nicht gewusst zu haben, welches Motiv Auslöser der Gewalt gewesen sei. „Ohne Grund“ ist eine häufig getätigte Aussage. Wenn sie doch eine Ursache nennen, so sagen sie, das Salz am Essen sei zu wenig gewesen, sie hätten Fenster geputzt, und der Vorhang sei nicht richtig gebügelt gewesen, oder die Kinder hätten ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Ein häufig genannter Grund der „Heiratsmigrantinnen“ besteht aber auch darin, dass die Frauen sich nicht ausreichend um die Schwiegereltern gekümmert276 oder ohne Erlaubnis beziehungsweise nicht in angemessen gekleideter Weise das Haus verlassen hätten. Diese von den Frauen als „grundlos“ erlebte Gewalt erstreckt sich aber auch auf andere ethnische Gruppen. Erinnern wir uns etwa noch an die „Zurückgezogene“ Else, die beim Putzen des Hausflurs von ihrem Schwiegersohn überrascht und spontan in den Bauch geboxt wurde und bis heute den Auslöser dafür nicht kennt, so finden wir hier eine ähnliche „Grundlosigkeit“ von Gewalt vor, deren Ursache das Opfer nicht nachvollziehen kann.277 Halten wir also fest: Gewalt ist in Marxloh ein Thema, von dem viele Frauen und ihre Kinder vor allem aus den Gruppen der „Gastarbeiterinnen“, der „Heiratsmigrantinnen“, der „Zurückgezogenen“ sowie laut Expertenbefragungen auch der neuzugewanderten „Frauen aus Bulgarien“ und „Romafrauen aus Rumänien“ betroffen sind – alles Gruppen, die in Marxloh über kaum Bildungsressourcen verfügen und in weiten Teilen isoliert leben. Unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit tritt Häusliche Gewalt also vor allem bei den bildungsfernen, isoliert lebenden Gruppierungen auf. Hier finden wir genau das vor, was Carsten Wippermann bereits im Jahr 2007 in der Sinus Studie „Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland“ als Kernergebnis herausgestellt hat: „Menschen des gleichen Milieus mit unterschiedlichem Migrationshintergrund verbindet mehr miteinander als mit dem Rest ihrer Landsleute aus anderen Milieus“278 – in unserem Fall sind es recht drastische Formen Häuslicher Gewalt. In einigen solcher Fälle führten diese massiven Formen der Misshandlungen dazu, dass die Frauen ihren Mann verließen oder verlassen wurden und

276 Vgl. Abschnitt 4.4. 277 Vgl. Abschnitt 4.6. 278 Wippermann, Carsten (2007): Sinus-Studie. Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Zentrale Ergebnisse einer qualitativen sozialwissenschaftlichen Untersuchung. S. 2. Online unter: http://www.sinus-institut.de/ uploads/tx_mpdownloadcenter/Zentrale_Ergebnisse_16102007.pdf (letzter Abruf: 10.05.2015).

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sich so „female or mother-centered families“279 ausbildeten deren Mittelpunkt „die Mutter mit ihren Verwandten bildet“280 – sofern denn überhaupt noch Verwandte vorhanden sind. Denn gerade die Frauen der genannten, besonders von Gewalt betroffenen Gruppen, verlieren mit ihrem Ausbruch aus der Ehe meist alle familiären Netzwerkkontakte und sind völlig auf sich allein gestellt.281 Es bleibt zu vermuten, dass sie bereits im Vorfeld darum wissen und daher weiter in ihrer Situation verharren, um nicht zu riskieren, sämtliche soziale Kontakte zu verlieren. Die aus der erfahrenen Gewalt resultierenden Folgen sind für die Frauen sowohl psychischer als auch physischer Art.282 Dass diese Beschwerden auch Folge der Erlebnisse aus ihrer Beziehung sein könnten, wird jedoch von ihnen meist nicht in Betracht gezogen, wie es etwa die Sozialarbeiterin Helga aus ihrer Arbeit mit Marxloher von Gewalt betroffenen Frauen berichtet: H: Es gibt Frauen, die sind in ihrer Beziehung chronisch krank geworden. Aber das ist eher etwas, was ich so interpretiere. Nicht, was die mir sagt. Das ist das, was ich so raus höre. Wenn ich frage: „Wann hat das angefangen? Können Sie sich vorstellen, mit was das was zu tun hat? Sind Sie nicht rechtzeitig zum Arzt gegangen, oder hat sich Ihre Situation nicht geändert, dass die Krankheit sich so verschlimmern konnte?“ Das sind so

279 Lewis: 1969, S. 191. 280 Lewis: 1991, S. 29. 281 Vgl. Abschnitt 4.4. und 4.6. 282 Zu den physischen Folgen zählen Knochenbrüche, Schädigungen innerer Organe, Hirnschädigungen auf Grund von Schlägen auf den Kopf, schlecht verheilte Narben am ganzen Körper, Entstellungen im Gesicht, verminderte Seh- und Hörfähigkeit und Unterleibsverletzungen. Zudem können Vergewaltigungen zu analen und vaginalen Verletzungen und Blutungen, Blasenentzündungen, Unfruchtbarkeit und Fehlgeburten führen. Hinzu kommen bei den Frauen häufig Krankheiten mit psychosomatischen Aspekten, wie Magengeschwüre, nervöses Zittern, Herzschmerzen, Blutdruckstörungen, Kopfschmerzen und Kreislaufstörungen. Zu den psychischen Folgeerscheinungen zählen Angstzustände, Schlafstörungen, Niedergeschlagenheit, Depression, Scham- und Schuldgefühle, niedriges Selbstwertgefühl, Todeswünsche, Panikattacken, Atemnot, Verzweiflung, selbstverletzendes Verhalten, Essstörungen sowie Abhängigkeiten von Drogen und Medikamenten. Vgl. Schweikert, Birgit (2000): Gewalt ist kein Schicksal. Ausgangsbedingungen, Praxis und Möglichkeiten einer rechtlichen Intervention bei Häuslicher Gewalt gegen Frauen unter besonderer Berücksichtigung von polizei- und zivilrechtlichen Befugnissen. Baden-Baden. S. 54-60.

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manchmal so Sachen, die mit der Verdauung zu tun haben, Magengeschwüre, Zweifingerdarmgeschwüre, wo man ja weiß, dass das auch so ’ne psychische Komponente hat. Oder Herzbeschwerden – da ist für mich der Zusammenhang eigentlich offensichtlich, aber wenn das nicht ein Arzt sagt, dann wird das von den Frauen nicht so wahrgenommen: „Ach, das habe ich ja schon so lange, und da lebe ich jetzt schon so lange mit. Da muss ich Medikamente nehmen, und dann geht das auch wieder, ne.“283

Hierin zeigt sich eine unter den von Gewalt betroffenen Marxloher Frauen offenbar verbreitete Mentalität des „Wiederaufstehens“, die besagt, „durchzuhalten“ und „weiterzumachen“. Dennoch leiden sie, wie es hier von der Sozialarbeiterin Helga angedeutet wird, oft noch jahrelang unter psychischen und physischen Folgeerscheinungen, die von ihnen jedoch immer wieder überspielt werden, wie hier von der 39-jährigen zwangsverheirateten „Heiratsmigrantin“ Hülya: H: Wir [mein Mann und ich, Anm. d. Verf.] haben gar keinen Kontakt mehr. Jetzt ist alles hinter mir, aber ich gehe immer noch in Therapie. Muss ich, weil ich kann nicht schlafen. Wenn ich nachdenke, kriege ich Kopfschmerzen, oder irgendetwas kommt auf den Körper, Nervenprobleme oder Blutdruck. Deswegen lache ich immer. Ich spiele mit meinen Haaren (lacht und deutet auf ihr gerade frisch knallrot gefärbtes Haar).284

Obwohl Hülya nun schon seit mehreren Jahren nicht mehr mit ihrem Mann zusammenlebt, kämpft sie noch immer mit den Folgeerscheinungen der erlebten Gewalt – und nicht nur sie. Ein besonderes Problem besteht für Hülya in dem Verhältnis zu ihrem Sohn, der nach der Trennung bei ihr geblieben war, der aber mit den Jahren immer schwieriger wurde und sich von seiner Mutter irgendwann nicht mehr zurechtweisen ließ. Zeitweise habe er bei Auseinandersetzungen sowohl sie als auch die gesamte Wohnung kurz und klein geschlagen, erläutert Hülya. Zum Zeitpunkt unseres Interviews sitzt er wegen des Dealens mit Drogen im Gefängnis, berichtet sie mir unter Tränen. Sie plagen Selbstvorwürfe und das Gefühl, bei der Erziehung ihres Sohnes versagt zu haben. Gewalttaten von Söhnen gegenüber ihren Müttern, so wie hier bei Hülyas Sohn, sind, laut Duisburger Polizei, ein vergleichsweise junges Phänomen in Marxloh, das jedoch in steigender Tendenz beobachtet werde. Immer wieder wurde mir auch von den Frauen berichtet, einige der Söhne seien ihnen gegenüber aggressiv und kriminell geworden, was sich wohl auch auf eine mangelnde

283 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 14.01.2013. 284 „Heiratsmigrantin“, weiblich, 39 Jahre. Interview vom 21.08.2010.

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Verarbeitung der Geschehnisse zurückführen lässt. Denn die wenigsten der Kinder oder jungen Erwachsenen befinden sich in therapeutischer Behandlung. Im Allgemeinen scheinen sich die Marxloher Frauen und ihre Kinder, die Opfer von Gewalt geworden sind, schwer damit zu tun, therapeutische Angebote anzunehmen. Dies hat vor allem damit zu tun, dass gerade diejenigen, die von massiven Formen Häuslicher Gewalt betroffen sind, am wenigsten über Unterstützungsangebote informiert sind.285 Türkeistämmige Frauen wie Hülya gelten als besonders schlecht informiert286, nehmen eher selten therapeutische Angebote wahr287 und scheinen insbesondere davor zurückzuschrecken, in Situationen Häuslicher Gewalt die Polizei zu rufen. Oft sind es Sprachprobleme, aufgrund derer sie sich nicht trauen, die Polizei zu rufen, aber wie wir bei Habibe gesehen haben, fehlt offenbar auch die Zuversicht, dass die Polizei etwas bewirken kann. Im Duisburger Norden tritt aber noch eine weitere Erschwernis hinzu, nämlich dass dort keine mehrsprachige Beratungsstelle mehr existiert. Frauen, die Opfer Häuslicher Gewalt werden, müssen erst einmal mit der Straßenbahn rund 10 Kilometer in die Duisburger Innenstadt fahren, um dort eine Beratungsstelle aufzusuchen – ein Manko, das auch der Polizei bekannt ist: P: Jetzt muss die Frau aus Bruckhausen und Marxloh zur Königsstraße nach Duisburg fahren. Die sind Opfer, haben kein Geld, müssen mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Wir haben festgestellt, das geht nicht. De facto haben wir zurzeit im Duisburger Norden keine spezielle Frauenberatungsstelle für Frauen, die nach dem Gewaltschutz Opfer geworden sind.288

Hinzu kommt, dass viele der Frauen zunächst meinen, die erlebte Gewalt gehöre zum Eheleben dazu. Insbesondere in den bildungsfernen Marxloher Familien jedweder ethnischer Zugehörigkeit, das haben wir bereits gesagt289, gehört die Familie und somit auch die innerfamiliär erlebte Gewalt häufig zum Bereich des Inneren, das man nicht zu Fremden nach außen trägt. Aus diesem Verständnis resultiert, dass die Frauen sich zunächst an engste und meist weibliche Familienangehörige wenden. Hier stoßen sie oft auf Gleichgesinnte mit ähnlichen Erfahrungen und bekommen dort häufig den Rat, durchzuhalten.

285 Die Kenntnis dieser Angebote steigt bei zunehmendem Bildungsgrad der Opfer. Schröttle; Ansorge: 2010, S. 45. 286 Ebd., S. 46. 287 Ebd., S. 48. 288 Interview mit der Polizei Duisburg vom 11.08.2010. 289 Vgl. Abschnitt 4.2., 4.4., 4.6. und 4.8.

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Lediglich eine Beratungsstelle existiert in Marxloh, die sich konkret an Frauen richtet – allerdings nicht unter dem Schwerpunkt Gewalt, sondern mit dem Fokus auf Schwangerschaftskonfliktberatung. Die dort beschäftigte Sozialarbeiterin Helga scheint in unserem Gespräch fast berührt darüber, was die Frauen, die sich an die Beratungsstelle wenden, alles erlebt haben: H: Das sind eben Frauen, da denkt unsereiner: „Oh mein Gott, was haben die schon alles mitgemacht!“ Die Gewalt erfahren haben, drogenabhängige Partner hatten, Alkohol selber konsumieren, also das begegnet uns da. […] Die einen haben kranke Familienmitglieder zu pflegen und sehen sich außer Stande, jetzt noch ein Kind oder überhaupt ein Kind zu bekommen. Die anderen haben schon verhaltensauffällige ältere Kinder, die dritten haben finanzielle Probleme, also leben von Arbeitslosengeld II, haben sowieso schon Stress mit dem Jobcenter und können sich nicht vorstellen, die Familie jetzt auch noch zu vergrößern. Es sind psychisch kranke Menschen dabei, es werden ja Menschen mit allen möglichen Krankheiten auch schwanger. Es sind Menschen dabei, wo schon Kinder aus der Familie in Obhut genommen wurden. Ganz viele Menschen lernen wir kennen, die würde ich mal so als sozial schwach bezeichnen. Haben keine Schulabschlüsse, bildungsfern, kennen sich schlecht aus mit ihren Rechten, haben schlechte Möglichkeiten, sich auszudrücken, mit dem Jobcenter anständig zu verhandeln, haben keine hohe Frustrationstoleranz, sind manchmal innerlich und äußerlich aggressiv, ja. Und das alles gibt es eben auch bei Familien mit Migrationshintergrund.290

Zudem, so führt sie später weiter aus, seien es rund 80 Prozent der Frauen, die in Situationen eines Schwangerschaftskonflikts alleine zu ihr in die Beratung kämen. Dies geschehe entweder aus dem Grund, weil kein Partner mehr vorhanden sei oder aber weil dieser sich nicht mitverantwortlich fühle. Kinder seien in den Augen dieser Frauen und ihrer Männer Frauenangelegenheit und ungewollte Schwangerschaften ebenfalls. Die Aussage Helgas zeigt aber auch291, dass hier noch eine soziale Komponente mitschwingt: Die meisten der Frauen, die in die Beratungsstelle kämen, seien, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, bildungsferne Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen292, zu teils hohem Maße von Gewalt-, Drogen und Alkoholproblemen betroffen und könnten sich nicht vorstellen, ein (weiteres) Kind zur Welt zu bringen. Auch hier finden wir also wie-

290 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 14.01.2013. 291 Vgl. Abschnitt 4.4., 4.6. und 4.8. 292 Von den 217 Schwangerschaftkonfliktberatungen im Jahr 2012 lebten 120 Personen vom Arbeitslosengeld II. Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 14.01.2013.

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der Parallelen zur Sinus Studie, in der die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu als ausschlaggebender angesehen wird als die ethnische Zugehörigkeit.293 Zugleich fällt an Helgas Aussage auf, wie wenig die Frauen über das Thema „Schwangerschaft“ oder das Thema „Gesundheit“ allgemein informiert zu sein scheinen. Wir haben bereits bei der „Zurückgezogenen“ Dagmar gesehen, wie wenig sie über Verhütungsmethoden weiß.294 Eine Gruppe der Frauen, die den Beraterinnen in Marxloh aber als besonders uninformiert auffällt, sind vor allem die „Heiratsmigrantinnen“ aus der Türkei. Dazu die Sozialarbeiterin Doris: D: Ich hatte im Juni eine Frauenärztin hier, die Fragen beantwortet hat zum Thema „Frauengesundheit“. Das ist ein Projekt zur Gesundheitsförderung von Frauen. Und das ist auch extrem interessant, was die Frauen für Fragen stellen. Wie wenig Kenntnisse da sind. Was ist die Menstruation? Eine Frau, die regelmäßig zu meinen Veranstaltungen kommt, die jetzt schwanger geworden ist, mit 44 [Jahren, Anm. d. Verf.], nach vielen Fehlgeburten, Totgeburten und so weiter, die dann gesagt hat: „Ja, mein Mann hat nicht aufgepasst. Der hat mir das versprochen.“ Ne, so Geschichten. Oder eine Frau, die hat ’ne Tochter, die irgendwas an der Blase hat. Also die hat immer Blut im Urin, seit Jahren. Wird aber nicht untersucht, damit das Hymen nicht beschädigt wird. Oder eine andere Frau hat gefragt: „Stimmt das, dass man nervenkrank wird von der Spirale?“ Wenig Aufklärung und viele, viele Mythen, und man kann das tatsächlich sehen: Das betrifft überwiegend Heiratsmigrantinnen.295

Ungewollte und viele Schwangerschaften auf Grund von Unwissenheit über Verhütungsmethoden aber auch Gewalt zeichnen also die „Kultur der Armut“ unter den Marxloher Frauen ebenso aus wie eine allgemeine Gewaltbiographie sowie häufiger Drogen- oder Alkoholkonsum und teils extreme finanzielle Existenznöte. Dennoch ist auch bei den Marxloher Frauen deutlich etwas zu beobachten, was Lewis „Gemeinschaftssinn“296 nennt – indem man das Wenige, das man besitzt, mit anderen teilt. Auch das, was Lewis als „Streben nach individueller Geltung“297 bezeichnet, also das Gefühl, „jemand zu sein“, finden wir hier vor. Bezeichnend dafür ist, dass sich keine der Frauen selbst als „arm“ betrachtet und stets darum bemüht ist, nach außen hin zu demonstrieren, „etwas zu sein“. So haben wir etwa bei den „Zurückgezogenen“ Else und Dagmar gesehen, wie

293 Wippermann: 2007, S. 2. 294 Vgl. Abschnitt 4.6. 295 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.08.2012. 296 Lewis: 1991, S. 14. 297 Lewis: 1961, S. 11.

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sehr sie darauf bedacht sind, sich von den „typischen Hartz-IV Empfängern“, die „im Dreck leben“, abzusetzen.298 Etwas Ähnliches begegnet uns aber auch bei anderen ethnischen Gruppen im Stadtteil. Betrachten wir dazu hier noch abschließend den weiteren Verlauf meines Besuchs bei der „Heiratsmigrantin“ Filiz, der durch einen Fauxpas meinerseits gekennzeichnet war: Ich bin gerade mitten im Gespräch mit Filiz als ich aus Versehen meine Kaffeetasse umstoße und sich der gesamte Kaffee über das auf dem Tisch liegende weiße Spitzendeckchen ergießt. Peinlich berührt helfe ich ihr beim Aufwischen und verspreche ihr, die Decke zu ersetzen, was sie vehement abwehrt. Ich habe ein schlechtes Gewissen, denn Filiz hat nur diese eine Tischdecke. Ich möchte ihr aber auch nicht zu nahe treten und ihr den Ersatz aufdrängen. Als sie am Ende unseres Gesprächs ihre Tochter drei Döner holen lässt, lasse ich wie beiläufig 10 Euro dafür auf dem Tisch liegen, die sie mir aber entschieden gleich wieder in die Hand drückt. Ich sei ihr Gast, sagt sie fast beleidigt, und daher sei ich eingeladen.299

Filiz befindet sich hier in der Rolle der Gastgeberin. Im Unterschied zum Gast zeichnet sich der Gastgeberstatus durch „einladen“, „empfangen“, „aufnehmen“ aus.300 Als ich mich aus der Rolle des Gastes entferne und Filiz „einladen“ und ihr Geld geben möchte, weist sie mich freundlich aber bestimmt in die Rolle des Gastes, des Empfängers, zurück. Ihre geringen finanziellen Möglichkeiten, über die sie sich vorher noch beklagt hatte, treten in diesem Kontext in den Hintergrund. Die „Kultur der Armut“ unter den Marxloherinnen zeugt eben letztendlich nicht nur von dem Leben in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen, unter Gewalt und Existenznöten, sondern durchaus auch von dem Bedürfnis nach „individueller Geltung“ sowie vor allem „von dem Mut und der Entschlossenheit, selbst angesichts der vielen ungelösten Probleme dennoch nicht aufzugeben“301.

298 Vgl. Abschnitt 4.6. 299 Forschungstagebuch vom 30.08.2010. 300 Derrida, Jacques (1996): Die Gesetze der Gastfreundschaft. Rede zur Eröffnung des Heinrich-von-Kleist-Instituts für Literatur und Politik an der Europa-Universität Viadrina und des darin eingerichteten Graduiertenkollegs der DFG Repräsentation – Rhetorik – Wissen. Frankfurt an der Oder. S. 5. Online unter: http://www. kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/lw/westeuropa/Haverkamp/publikationen/rara/ Derrida_in_FFO.pdf (letzter Abruf: 15.11.2014.) 301 Lewis: 1991, S. 11.

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5.3.2 Exklusion Auch wenn wir nach dem Gesagten in Bezug auf Marxloh durchaus in Lewis’ Worten festhalten können, dass das Leben in Armut nicht nur „stumpf und leer“302 ist, so hat es doch zweifellos negative Konsequenzen für die Betroffenen. Allein in materieller Hinsicht zeigen sich Auswirkungen auf das Konsum- und Freizeitverhalten, aber darüber hinaus auch auf die Bildungsbiographien, die Gesundheit und nicht zuletzt auf das Selbstwertgefühl der Personen. Bereits im Jahr 2001 hat eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin gezeigt, dass 43 % derjenigen Menschen, die über ein monatliches Nettoeinkommen von unter 50 % des Median verfügen, sich auf Grund ihrer Wohnbedingungen ausgegrenzt fühlen. 27 % der Befragten sprechen sogar von sozialer Isolation.303 Das Gefühl der sozialen Ausgrenzung oder gar der Isolation lässt aufhorchen – nimmt doch der Armutsbegriff in erster Linie auf die wirtschaftliche Lage der Betroffenen Bezug. Dass aber mit dem Mangel an finanziellen Ressourcen auch der Mangel an Teilhabe oder gar das Gefühl der sozialen Isolation einhergehen kann, fasst der Begriff als solcher nicht. Was wir hier vor uns haben, lässt uns eher an das Phänomen der Exklusion denken – ein zwar ebenfalls theoretisch (noch) nicht vollends ausgereifter Begriff, der aber, obgleich immer noch „nebulös und mehrdeutig“304, dennoch für die Beschreibung der Lebenssituation vieler Marxloher Frauen in verschiedenen Bereichen geeignet scheint, da er „Phänomene einer gesteigerten Armut“305 benennt und somit weitaus mehr fasst als der Armutsbegriff. Hierbei geht es jedoch nicht um eine ökonomische Steigerung der Armut: Im Unterschied zum Armutsbegriff, der als „Zustand individuellen Ressourcenmangels“306 ausschließlich Bezug auf die ökonomische Stellung der Betroffenen nimmt, benennt der Begriff „Exklusion“ eine insgesamt „strukturell schwache Position“.307 „Gesteigerte Armut“ im Zusammenhang mit Exklusion meint also keine quantitativ zunehmende Armut, sondern die mit dem Leben in ökonomischer Armut verbundenen Einschränkungen der sozialen Teilhabe. Der

302 Ebd., S. 10. 303 Wissenschaftszentrum Berlin (Hrsg.): WZB-Mitteilungen, 92 (2001). 304 Paugam: 2004, S. 72. 305 Stichweh, Rudolf (1997): Inklusion/Exklusion. Funktionale Differenzierung und die Theorie der Weltgesellschaft. In: Soziale Systeme, 3 (1997). S. 123-136. Hier: S. 127. 306 Thomas, Stefan (2010): Exklusion und Selbstbehauptung. Wie junge Menschen Armut erleben. Frankfurt am Main. S. 20. 307 Stichweh: 1997, S. 127.

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Exklusionsbegriff ist somit im Unterschied zum Armutsbegriff mehrdimensional und hat den Vorteil, dass Relationen oder Interaktionen in den Blick genommen werden können. Die adäquate Verwendung des Begriffs ist jedoch umstritten. So ist er in der systemtheoretischen Verwendung Luhmanns zunächst erst einmal etwas völlig Neutrales. Für Luhmann gehören Exklusionserscheinungen zur Logik der Grenzziehung von gesellschaftlichem Leben, in seinen Worten „Funktionssystemen“, einfach mit dazu. Ausschlussmechanismen existieren und müssen für die Betroffenen nicht zwangsläufig eine Schwierigkeit darstellen.308 Problematisch wird es jedoch, wenn Exklusionen erzwungen werden, beispielsweise durch Ausschließung von Ressourcen, die andere monopolisiert haben.309 Umstritten ist nun aber vor allem Luhmanns strikte Zweiteilung in Inkludierte und Exkludierte. Folgen wir Luhmanns Beispielen, wie etwa dem Beitritt in einem Verein, bei dem man entweder dazu- oder nicht dazugehört, so erscheint diese binäre Teilung ohne etwas dazwischen durchaus nachvollziehbar. Doch was geschieht, wenn wir uns von diesem Beispiel entfernen und uns der Frage nach der gesellschaftlichen Stellung von Langzeitarbeitslosen, wie wir sie etwa unter den „Zurückgezogenen“ kennengelernt haben, zuwenden? Hier stellt sich dann die Frage der Grenze310: Kann man gesellschaftlich entweder exkludiert oder inkludiert sein, oder sind auch Zwischenformen denkbar? Dem Soziologen Rudolf Stichweh zufolge existieren durchaus einige Zwischenstadien, und der Soziologe Martin Kronauer sieht die Exklusion aus einer Gesellschaft sogar kaum noch als gegeben an. Exklusion sei vielmehr als Ausgrenzung in der Gesellschaft zu verstehen.311 Er erläutert dies am Beispiel Langzeitarbeitsloser, von denen er sagt, dass sie aus den Funktionssystemen Politik und Sozialfürsorge nicht exkludiert seien, weswegen von einer gesellschaftlichen Exklusion aus der Gesellschaft nicht gesprochen werden könne.312 Darin finden sich Parallelen zu Georg Sim-

308 Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main. S. 618-633. 309 Kronauer, Martin (2010): Inklusion – Exklusion. Eine historische und begriffliche Annäherung an die soziale Frage der Gegenwart. In: Ders. (Hrsg.) (2010): Inklusion und Weiterbildung. Reflexionen zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Gegenwart. Bielefeld. S. 24-58. Hier: S. 25. 310 Mehr dazu vgl. Farzin, Sina (2008): Sichtbarkeit durch Unsichtbarkeit. Die Rhetorik der Exklusion in der Systemtheorie Niklas Luhmanns. In: Soziale Systeme, 14, 2 (2008). S. 191-209. 311 Kronauer: 2010, S. 41. 312 Ebd., S. 43.

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mel, der den Fürsorgeempfänger als „drinnen“ und „draußen“ bezeichnet hatte. Entsprechend wäre Exklusion hier als „besondere Form des Innerhalb“313 zu verstehen. Stichweh hält jedoch dagegen, dass Exklusion bereits dann vorhanden sei, wenn man aus mehreren Funktionssystemen ausgeschlossen sei – und nicht zwangsläufig aus allen. Unabhängig davon, ob Exklusion nun als ein „Entweder-Oder“ oder als ein Kontinuum zu begreifen ist, so ist doch unbestritten, dass der Ausschluss aus einem Funktionssystem rasch dazu führen kann, auch aus anderen ausgeschlossen zu werden – in einem, wie es Luhmann nennt, Prozess der „Marginalisierungen bis hin zum gänzlichen Ausschluß“.314 Eine Dimension von Exklusion315, die immer wieder besonders eng mit dem Exklusionsbegriff316 verknüpft wird, ist die räumliche Exklusion. So koppelt auch Luhmann das Thema „Exklusion“, insbesondere in den narrativen Teilen seiner Studien, stets an bestimmte Räumlichkeiten. Und auch empirische Studien aus Deutschland deuten darauf hin, dass exkludierte Teile der Bevölkerung häufig, wenn auch nicht in einer extremen Form wie in den USA, so doch von der restlichen Bevölkerung getrennt leben.317 Dennoch wollen wir hier selbstverständlich vorsichtig sein und die in Bezug auf die USA festgestellten Verhältnisse sozial und ethnisch homogener Stadtviertel, die einen in sich relativ geschlossenen Eindruck erwecken, nicht so einfach auf den Stadtteil Marxloh übertragen. Ethnisch weitestgehend homogene Viertel wie sie in den USA als „Ghettos“ beschrieben worden sind318, existieren

313 Ebd., S. 44. 314 Luhmann, Niklas (1995): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 4. Frankfurt am Main. S. 148. 315 Die zentralen Dimensionen der Exklusion, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, wurden so von Kronauer zusammengetragen. Vgl. Kronauer, Martin (1996): „Soziale Ausgrenzung“ und „Underclass“. Über neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung. In: SOFI-Mitteilungen, 24 (1996). S. 53-69. Hier: S. 61-64. 316 Zwar mag im Zusammenhang von Exklusion so manch einer als erstes an die Schriften von Niklas Luhmann oder an die des französischen Philosophen Michel Foucault denken, doch der eigentliche „Erfinder“ des Begriffs war der Franzose René Lenoir, der Sekretär des Premierministers Jaques Chirac. Er hatte im Jahr 1974 mit einem Buch, das den Titel „Les exclus. Un Français sur dix“ trug, den Begriff der Exklusion als erster auf die französischen Verhältnisse angewandt. 317 Stichweh: 1997, S. 127. 318 Vgl. beispielsweise Wilson, William J. (1989): The Ghetto Underclass. Social Science Perspectives. London u.a.

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so in Europa bekannter Weise nicht.319 Dennoch kann es, das haben wir oben anhand der Studienergebnisse des Wissenschaftszentrums Berlin gesehen, auch hierzulande auf Grund der Wohnverhältnisse zu einem Gefühl der räumlichen Exklusion kommen. In Marxloh scheint dieses Gefühl jedoch wenig verbreitet zu sein. Man ist zwar in Bezug auf den eigenen Wohnort oft nicht unbedingt immer positiv eingestellt320, aber das Gefühl der Exklusion bezieht sich interessanter Weise immer auf die anderen Marxloher, nicht auf einen selbst. Besonders die „Alteingesessenen“ merken in den Gesprächen immer wieder an, wie abgeschieden einige Marxloher leben müssten, ohne diese jedoch selbst zu kennen oder sich gar selbst als Teil dieser Gruppe zu betrachten. So sagt die „Alteingesessene“ Karin: K: Ansonsten sind hier nur noch viele in Marxloh alte Bürger, die hier keinen Schlüpfer mehr kriegen und keine Bluse und der Opa keine Hose – äh, sollen die in ein Brautmodengeschäft gehen?321

Karin spricht hier von einer Gruppe „zurückgezogener“ Personen, mit denen sie immer wieder am August-Bebel- Platz kurz zu tun hat und die sie etwas amüsiert „meine Rentner“ nennt. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Männern und Frauen, die am August-Bebel-Platz ihre Zeit verbringen, Alkohol aus Flaschen trinken und immer wieder von dem Verein „Gemeinsam gegen Kälte“322 aufgesucht werden. Aber nicht nur diese Gruppe „zurückgezogener“ Menschen, von denen „Aktive“ wie Paula sagen, dass sie sich bereits am „Ende der Fahnenstange“323 befinden, werden von den Marxlohern als exkludiert wahrgenommen, weil

319 Vgl. etwa zum Vergleich Frankreich und USA: Waquant, Loïc J.D. (2004): Roter Gürtel, Schwarzer Gürtel. Rassentrennung, Klassenungleichheit und der Staat in der französischen städtischen Peripherie und im amerikanischen Ghetto. In: Häußermann, Hartmut; Kronauer, Martin; Siebel, Walter (Hrsg.) (2004): An den Rändern der Städte. Frankfurt am Main. S. 148-200. 320 Vgl. Abschnitt 5.1. 321 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 322 Der Verein besteht aus 14 ehrenamtlichen Mitgliedern, die wohnungslosen, verarmten und kranken Menschen im Duisburger Norden mit Rat und Gesprächen zur Seite stehen, um sie „professionellen Hilfssystemen“ zuzuführen, in die die Betroffenen, wie es auf der Homepage heißt, „das Vertrauen verloren“ haben. Vgl. die Homepage des Vereins unter: http://www.gemeinsam-gegen-kaelte-duisburg.de/seiten/der% 20verein.htm (letzter Abruf: 15.11.2014). 323 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. Vgl. Abschnitt 5.3.1.

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sie im Stadtteil „nicht einmal mehr einen Schlüpfer kriegen“324 und nicht in der Lage sind, sich selbstständig aus dem Stadtteil fort zu bewegen. Es sind auch Frauen wie die „zurückgezogene“ Else325, die im Stadtteil schwer zu erreichen sind, da sie die meiste Zeit zu Hause verbringen und sogar von den „Aktiven“ nicht eingebunden werden können. Dazu Hildegard: H: Der Pfarrer […], der erzählt von diesen alten Frauen, die sehr einsam und arm hier im Stadtteil leben, die man aber nicht sieht, weil die in ihren Wohnungen sitzen und nicht mehr rauskommen. Der betreut die seelsorgerisch. Der sagt, zum Teil ist da viel Elend.326

Bereits Luhmann hatte im Zusammenhang mit Exklusion von „Unsichtbarkeit“ gesprochen, und exkludierte Teile der Bevölkerung als „wohnmäßig separiert“327 bezeichnet, die auf diese Weise „unsichtbar“328 gemacht würden. Nun mag es vielleicht nicht überraschen, dass die Exkludierten selbst über keine Kontakte verfügen und somit auch von niemandem „gesehen“ werden. In Bezug auf Marxloh können wir aus dem Gesagten jedoch schließen, dass allein die räumliche Lage noch nicht zu Exklusionserscheinungen führt. Dies haben ebenfalls bereits Studien aus den USA verdeutlicht, die aufzeigen, dass das räumlich konzentrierte Leben in bestimmten Stadtteilen noch nicht die Exklusion oder Entstehung einer „underclass“ erzeugt. Auch die amerikanischen Ghettos erlauben soziale Differenzen und Möglichkeiten zur sozialen Aufwärtsmobilität.329 Auch Marxloh stellt hier keine Ausnahme dar. So leben hier Personen wie die „Aktiven“, die sich in Bezug auf keines der „Funktionssysteme“ exkludiert sehen. Und auch diejenigen, von denen die „Aktiven“ sagen, sie würden in Marxloh exkludiert leben, wie die „Zurückgezogenen“, sehen das selbst meist anders. Dass sie sich aus dem Stadtteil, ja teilweise aus ihren eigenen Räumlichkeiten kaum heraus bewegen und die Kinder der „Zurückgezogenen“ noch nie den direkt an Marxloh angrenzenden Rhein gesehen haben330, wird von ihnen selbst nicht als räumliche Ausgrenzung empfunden, auch wenn durchaus bei Außenstehenden dieser Eindruck entstehen könnte. Wesentlich bedeutsamer und folgenreicher als die Befürchtungen der „Aktiven“ oder der „Alteingesessenen“ in

324 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 325 Vgl. Abschnitt 4.6. 326 „Aktive“, weiblich, 60 Jahre. Interview vom 11.08.2010. 327 Luhmann: 1997, S. 631. 328 Ebd. 329 Kronauer: 1996, S. 64. 330 Vgl. Abschnitt 4.6.

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Bezug auf die „Zurückgezogenen“, nämlich, dass sie auf Grund mangelnder Mobilitätsmöglichkeiten nicht aus dem Stadtteil heraus kämen, ist für die Betroffenen die gesellschaftliche Isolierung, von der auch Hildegard sprach: Während die zugewanderten Gruppen, wie wir gesehen haben, meist über eine Fülle an sozialen Netzwerkkontakten aus Bekannten und Familienmitgliedern verfügen, ist dies vor allem bei den „zurückgezogenen“, in Teilen aber auch bei den „alteingesessenen“ Marxlohern nicht der Fall, wobei sich letztere noch recht gut selbst helfen können. Dennoch kommen auch den „Alteingesessenen“ zunehmend die sozialen Kontakte jenseits ihrer Familien abhanden, wodurch sie immer weniger unternehmen.331 Trotzdem verfügt diese Gruppe noch über die entsprechenden finanziellen Ressourcen, um aus dem Stadtteil fortzuziehen und damit ihrer immer weiter fortschreitenden Tendenz zur sozialen Isolierung ein Ende zu bereiten. Anders gestaltet sich dies allerdings bei der Gruppe der „Zurückgezogenen“, bei der Formen der sozialen Exklusion sogar bis hin zum völligen Fehlen sämtlicher Netzwerkkontakte in Marxloh zu beobachten ist. Diese Netzwerkkontakte sind es jedoch gerade, die den Frauen dabei helfen könnten, ihre Situation der mangelnden gesellschaftlichen Teilhabe zu bewältigen. Interessanter Weise geschieht bei dieser Gruppe jedoch das Gegenteil: Man scheint selbst nicht auf andere zuzugehen und auch Versuche der Kontaktaufnahme seitens anderer, insbesondere der „Aktiven“, werden abgelehnt. Als wesentlichen Grund für dieses Verhalten hatten wir bereits das für die Gruppe der „Zurückgezogenen“ typische „Streben nach individueller Geltung“332 benannt – also das Bedürfnis danach, „etwas“ zu sein, auch wenn man von Sozialhilfe lebt und über keine verwandtschaftlichen oder familiären Kontakte (mehr) verfügt. Ebenfalls haben wir gesehen, wie genau aus diesem Grund das Bemühen der „Aktiven“ um die Einbindung der „zurückgezogenen“ Frauen bei ihnen das Gegenteil bewirkt, da sie sich zu sehr „gegängelt“ fühlen oder nicht bereit sind, den „Aktiven“ „Beifall zu klatschen“.333 Letztendlich lassen sich die „Zurückgezogenen“ nur noch durch kirchliche Angebote intensiver einbinden. Doch wie wir wissen334 und die „Aktive“ Hildegard ebenfalls in unserem Gespräch unterstreicht: „Die Gemeinden brechen ja auch zusammen“335 – und mit ihnen für viele der „Zurückgezogenen“ die einzige Möglichkeit, dass ihnen jemand positive Eigenschaften wie eine „Mentalität des

331 Vgl. Abschnitt 4.5. 332 Lewis: 1961, S. 11. 333 Mehr zu Karin vgl. Abschnitt 4.5. 334 Vgl. Abschnitt 4.5. und 4.6. 335 „Aktive“, weiblich, 60 Jahre. Interview vom 11.08.2010.

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direkten unkomplizierten Inkontaktkommens“336 oder „so ein ganz feines Gespür“337 zuschreibt und somit ihrem Bedürfnis nach „individueller Geltung“ Rechnung trägt. Mit dieser doch recht fortgeschrittenen Form der sozialen Exklusion, die hier, mit Luhmann gesprochen, „bis hin zu gänzlichem Ausschluß“338 auch aus anderen Funktionssystemen geführt zu haben scheint, ist die Gruppe der „Zurückgezogenen“ jedoch die einzige in Marxloh. Die anderen Gruppen, die zwar ebenfalls im Hinblick auf ihre finanziellen Mittel als „arm“ gelten können, wie einige der Türkeistämmigen und vor allem die Neuzuwanderer, verfügen über ausreichende soziale Netzwerkkontakte und leben sozial nicht völlig isoliert. Dennoch kämpfen auch sie mit Dimensionen von Exklusionserscheinungen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt und folglich, als nahezu zwangsläufige Konsequenz, oft auch mit ökonomischer Exklusion. Beginnen wir zunächst mit der Exklusion am Arbeitsmarkt, also damit, dass den Personen aus unterschiedlichen Gründen der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt bleibt – sowie, und das ist das eigentlich noch Problematischere, auch von ihnen selbst keine Initiative ergriffen wird, eine geeignete Arbeitsstelle zu finden. Diese Situation finden wir in Marxloh wieder vor allem bei den „Zurückgezogenen“ vor, die auf Grund von mangelnden Bildungsressourcen sowie biographischen Einschnitten wie Krankheit und Suchtbiographien, aber auch aus ihrer internalisierten Rolle heraus, als Frau und Mutter zu Hause bleiben zu wollen, den Zugang zum Arbeitsmarkt nicht vollbringen können – und viele dies auch nicht (mehr) wollen. Wir finden diese Exklusion am Arbeitsmarkt aber auch bei anderen Gruppen in Marxloh vor, die im Unterschied zu den „Zurückgezogenen“ durchaus über Bildungsressourcen verfügen. Zu nennen sind hier im Besonderen die türkeistämmigen „Bildungsaufsteigerinnen“, denen es aus Gründen der ethnischen Diskriminierung entweder nicht gelingt, trotz guter Bildungsabschlüsse eine Arbeitsstelle zu finden oder die bereits im Bildungssystem Probleme hatten. Hierbei müssen wir an die Geschäftsfrauen wie die 31-jährige Nurten und die 23-jährige Merve denken339: Nurten, die sich bereits in der Schule schwer tat und sich dann vor allem bei ihrer Arbeitsstelle diskriminiert fühlte sowie Merve, die nach ihrer Ausbildung keine Arbeitsstelle fand und das ihren türkischen Wurzeln zuschreibt. Beide haben sich inzwischen beruflich selbstständig gemacht und sind somit der von ihnen als Ausgrenzung empfundenen Si-

336 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. Vgl. Abschnitt 4.6. 337 Ebd. 338 Luhmann: 1995, S. 148. 339 Vgl. Abschnitt 4.3.4.

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tuation auf dem Arbeitsmarkt entkommen. Aber auch Akademikerinnen wie die 35-jährige Nayla, die meint, auf Grund ihrer „schwarzen Haare“340 keine Stellenzusagen bekommen zu haben, kämpfen mit dem Gefühl des Ausgegrenztwerdens auf Grund des Migrationshintergrundes. Erinnern wir uns noch einmal an ihre Aussage: N: Es ist schwierig, hier zu leben. Ich bin aktiv, ich mache Sport, ich mache Musik, meine Eltern setzen sich überall ein, aber irgendwo wird man halt benachteiligt. Wegen des Stadtteils und auch wegen dem Migrationshintergrund.341

Eine besondere Gruppe bilden unter den „Bildungsaufsteigerinnen“ die kopftuchtragenden Musliminnen, die sich offensichtlich resigniert mit der Situation abgefunden zu haben scheinen, dass für sie bestimmte Berufssparten trotz vorhandener Bildungsressourcen auf Grund des muslimischen Kopftuchs nicht in Frage kommen.342 Erinnern wir uns etwa auch hier noch einmal an die Aussage der 21-jährigen Medizinstudentin Meryem, die eigentlich Lehrerin werden wollte und die der 32-jährigen Sozialarbeiterin Almıla: M: Ich habe gedacht, Lehrerin kann ich auch werden, aber leider geht das nicht mit Kopftuch.343 A: Die Sache ist, dass viele Stellen von Anfang an für mich erst gar nicht in Frage kommen, zum Beispiel bei der AWO344, Caritas oder Diakonie habe ich überhaupt gar keine Chancen.345

340 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. Vgl. Abschnitt 4.3. 341 Ebd. 342 Vgl. Abschnitt 5.4.1. 343 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 21 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010. 344 Wie oben bereits gesagt, handelt es sich bei der der AWO um die Arbeiterwohlfahrt, die schon in den 1960er Jahren türkische Mitarbeiter angestellt hatte. Vgl. dazu Hunn: 2005, S. 157. Entweder hat sich Almıla in unserem Gespräch hier also versprochen oder die Ablehnung ihrer Bewerbung hatte andere Gründe als ihre türkischen Wurzeln. 345 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 32 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 30.08.2010.

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Das Kopftuch fungiert hier also als Ausschluss-Marker, durch den es den Frauen unmöglich scheint, in bestimmte Bereiche des Arbeitsmarktes hineinzukommen. Wir werden darauf an anderer Stelle noch genauer zu sprechen kommen.346 Von Ausschließungen auf dem Arbeitsmarkt besonders betroffen sind jedoch die Neuzuwanderer aus Bulgarien und Rumänien. Bei ihnen treffen mangelnde Bildungsressourcen mit ethnischer Diskriminierung am Arbeitsmarkt aufeinander und erzeugen teils massive Exklusionserscheinungen.347 So ist es ihnen auf Grund der oft nicht vorhandenen Bildungsabschlüsse schier unmöglich, eine Arbeitsstelle zu finden. Aber auch diejenigen, wie die Bulgarientürkin Yıldız, die in Bulgarien eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, finden in Marxloh oft keine Anstellung, weil – so glaubt Yıldız zumindest – die potenziellen türkeistämmigen Arbeitgeber sie als Bulgarientürkin nicht anstellen wollen.348 So kommt es, dass diesen Frauen nur die berufliche Selbstständigkeit bleibt und sie in Marxloh zu geringster Entlohnung Putztätigkeiten oder der Prostitution nachgehen. Darüber hinaus sind es aber auch diese beiden Gruppen der Zuwanderer aus Bulgarien und Rumänien, die im Besonderen von institutioneller Exklusion betroffen sind, da ihnen die Arbeitsämter auf Grund ihrer geringen schulischen Qualifikationen nur schwer eine Arbeit vermitteln können. Zudem hat der Europäische Gerichtshof (EuGh) im Jahr 2014 entschieden, dass ihnen Sozialleistungen verweigert werden können, sofern ersichtlich ist, dass sie sich ausschließlich zu deren Erhalt und nicht um Arbeit zu suchen, in Deutschland aufhalten würden.349 Ohne Arbeitsstelle und soziale Transferleistungen geraten die Menschen dann aber in teils recht drastische Armutslagen, so dass es manchen sogar an der Grundversorgung wie Nahrung und Kleidung fehlt. Zudem finden wir bei diesen beiden Gruppen deutliche Anzeichen einer „internen Ausgrenzung“350, also etwa Ausschlusstendenzen aus dem Bildungssystem. Bei den Neuzuwanderern manifestiert sich diese „interne Ausgrenzung“ zum einen darin, dass wegen mangelnder Kapazitäten der Schulen nicht alle Kinder einen Schulplatz erhalten und zum anderen darin, dass auf Grund von spezifischen Wertvorstellungen besonders die

346 Vgl. Abschnitt 5.4. 347 Vgl. Abschnitt 5.2. 348 Vgl. Abschnitt 4.8. und 5.2. 349 N.N. (2014a): EuGH-Urteil. Hunderten Rumänen und Bulgaren wird Hartz IV gekürzt. In: Spiegel online vom 14.11.2014. Online unter: http://www.spiegel.de/ wirtschaft/soziales/hartz-iv-hunderten-rumaenen-und-bulgaren-wird-sozialhilfe-ge kuerzt-a-1002918.html (letzter Abruf: 15.11.2014). 350 Bourdieu, Pierre u.a. (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz. S. 527.

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Mädchen die Schule oft ohne Abschluss verlassen.351 Mangelnde Bildung erzeugt jedoch, wie wir gesehen haben, Exklusionsmechanismen auf dem Arbeitsmarkt, da es ohne diese Ressource nahezu unmöglich scheint, in Deutschland einen Arbeitsplatz zu finden352 – und so folgt für die Betroffenen oft die ökonomische Exklusion. Denn wer keiner Berufstätigkeit nachgeht, ist meist nicht in der Lage, selbst für seinen Unterhalt zu sorgen, was in materieller Hinsicht die Konsequenz nach sich zieht, mit wenig auskommen zu müssen und möglicherweise sogar „arm“ zu sein. Dies finden wir bei den Gruppen der Neuzuwanderer aus Bulgarien und Rumänien wegen der Kombination mit der institutionellen Exklusion am ausgeprägtesten vor. Tendenzen zur ökonomischen Exklusion finden sich aber auch, wie wir bereits gesehen haben, bei einigen türkeistämmigen „Gastarbeiterinnen“, den „Heiratsmigrantinnen“ sowie bei der Gruppe der „Zurückgezogenen“.353 Kommen wir nun abschließend noch zu einer Form der Exklusion, die vor allem für die Gruppe der „Alteingesessenen“ nach deren Empfinden von Bedeutung ist und hier – allerdings unter starkem Vorbehalt – als politische Exklusion bezeichnet werden soll. Unter Vorbehalt deswegen, weil es selbstverständlich zu keiner politischen Exklusion der „Alteingesessenen“ in Marxloh kommt, wie wir sie beispielsweise aus Staaten wie Estland kennen, wo Russen oder Roma die Staatsbürgerschaft entzogen wurde.354 Den „Alteingesessenen“ werden keine offiziellen politischen Rechte verwehrt. Verstehen wir aber Exklusion auch als ein subjektives Empfinden der Ausgrenzung von politischer Mitbestimmung, so müssen wir im Marxloher Kontext durchaus an die „Alteingesessenen“ denken, die sich in hohem Maße politisch unverstanden und missachtet fühlen. Ausgeschlossen zu werden und sich ausgeschlossen zu fühlen, das zeigt sich an dieser Gruppe sehr deutlich, kann stark differieren. Was in Marxloh geschieht und am Beispiel des „Grüngürtels“ und des „Schwelgernbades“ beschrieben wurde, entzieht sich, trotz des ehemals vorhandenen starken Engagements der „Alteingesessenen“, ihrer Mitbestimmung. Bei vielen hat das zur Folge, dass man aufgegeben hat sich zu engagieren und sich sämtlicher politischer Teilnahme entzieht, denn, wie es Marion zum Ausdruck bringt: „Das ist das Schlimme an unserer Demokratie, dass du eigentlich gar nicht richtig gehört wirst.“355 Das Gefühl des

351 Vgl. Abschnitt 4.6. und 4.7. 352 Kronauer: 2010, S. 46. 353 Vgl. Abschnitt 5.3. 354 Stichweh, Rudolf (2005): Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld. S. 19. 355 „Alteingesessene“, weiblich, 59 Jahre. Interview vom 30.08.2010.

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„Nichtgehörtwerdens“, des „passiven Ausgeschlossenseins“, führt also auch hier dazu, dass man aktiv beginnt, sich selbst abzugrenzen und an politischen Entscheidungen wie Wahlen oder Runden Tischen, obgleich man offiziell zur Teilnahme berechtigt ist, nicht einmal mehr Interesse zeigt. 5.3.3 Fazit Das Leben der Marxloher Frauen in Armut ist, wie wir gesehen haben, zwar „keinesfalls [nur, Anm. d. Verf.] stumpf und leer“356, aber dennoch begegnen uns hier häufig zerrüttete Familienverhältnisse und andere Problemlagen: Wir finden Sucht- und Alkoholbiographien – entweder unter den Frauen selbst oder unter anderen Familienmitgliedern – sowie teils massive Gewaltbiographien vor. Allein aus dieser Häufung der Gewaltbetroffenheit erklärt sich, warum Häusliche Gewalt auch den Bereich darstellt, durch den der Stadtteil Marxloh aus der Kriminalitätsstatistik der Stadt Duisburg besonders hervorsticht. Zugleich handelt es sich hier aber auch um einen unsichtbaren Bereich. Häusliche Gewalt findet in den eigenen vier Wänden statt und bleibt entsprechend oft ungesehen. Ohne kulturalisieren zu wollen, lassen sich jedoch offenbar Anhaltspunkte dafür finden, dass türkeistämmige Frauen von spezifischen Gewaltformen betroffen sind. So kann es bei der Gruppe der „Heiratsmigrantinnen“ und den „Gastarbeiterinnen“ das gesamte Familienkollektiv sein, das Druck ausübt, was in den Familien der ebenfalls verstärkt von Gewalt betroffenen „Zurückgezogenen“ so nicht der Fall ist. Dafür begegnen uns hier häufiger Alkohol- und Suchtbiographien. Alle Frauen scheinen in diesen Gewaltsituationen, wie es die Sozialarbeiterin Helga ausdrückt, „sehr leidensfähig“357 zu sein und trennen sich, wenn überhaupt, meist erst nach Jahren von ihren gewalttätigen Partnern358 – vermutlich auch bedingt dadurch, dass ihnen die Perspektive auf ein Leben ohne Gewalt fehlt. Schlimmstenfalls verlieren sie durch die Trennung nämlich jegliche Kontakte zu Familie und Freunden, und die gesundheitlichen Folgeerscheinungen der Gewalt sind auch nach Jahren nicht unerheblich, werden aber von den Frauen meist nicht als solche eingestuft. Man konzentriert sich vielmehr auf das „Weitermachen“. Man lenkt sich ab und bemüht sich, das zu bewahren, was Le-

356 Lewis: 1991, S. 10. 357 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 14.01.2013. Vgl. Abschnitt 4.6. 358 Im Schnitt benötigt eine Frau sieben Jahre, ehe sie sich Hilfe sucht oder aus der Gewaltsituation ausbricht. Vgl. http://www.gewaltschutz.info/ (letzter Abruf: 28.08.2015).

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wis „Streben nach individueller Geltung“359 nennt: Man strebt danach, „etwas zu sein“, und indem man das Wenige, das man besitzt, mit anderen teilt, herrscht auch weiterhin „Gemeinschaftsgeist“.360 Dennoch müssen wir auch feststellen, dass relative Armut nicht lediglich Einkommensarmut ist, sondern auch Ausgrenzung bedeuten kann, die sich in einer geringeren Beteiligung am gesellschaftlichen Leben niederschlägt.361 Wir haben in Bezug auf Marxloh gesehen, dass viele der dort lebenden Gruppierungen als exkludiert bezeichnet werden können – und das nicht ausschließlich nur die „Armen“. Auch die türkeistämmigen „Bildungsaufsteigerinnen“ kämpfen mit Exklusionserscheinungen auf dem Arbeitsmarkt, die „Alteingesessenen“ entwickeln Tendenzen zur politischen sowie zur sozialen Exklusion, wobei jedoch letztere zweifelsohne bei der Gruppe der „Zurückgezogenen“ am ausgeprägtesten zu Tage tritt. Dennoch sind diejenigen, die aus den meisten Bereichen gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen zu sein scheinen, die Neuzuwanderer aus Bulgarien und Rumänien. Hier finden wir sogar Formen der institutionellen Exklusion vor – die Menschen sind demnach am stärksten auf sich allein gestellt, da jegliche staatliche Unterstützung fehlt. Letztlich bleibt festzuhalten, dass es allein die Gruppe der Marxloher „Aktiven“ ist, bei der sich keinerlei Formen der Exklusion beobachten lassen. Die anderen Gruppen scheinen alle mehr oder minder häufig und in unterschiedlichem Maße von Ausschließungen betroffen zu sein – jedoch, und das ist das Interessante: Die räumliche Konzentration auf den Stadtteil Marxloh allein ist es nicht, die Exklusion erzeugt. Erst in Kombination mit anderen Dimensionen ergeben sich Exklusionstendenzen, die sich jedoch bei den Gruppen, wie wir gesehen haben, in verschiedenen Bereichen und mit unterschiedlicher Gewichtung manifestieren.

5.4 Z UR B EDEUTUNG

DER

R ELIGION

Kommen wir nun abschließend noch auf das Thema „Religion“ zu sprechen. Es wurde bereits eingangs gesagt362, dass die Religion vor allem für die „Gastarbeiterinnen“, die „Heiratsmigrantinnen“ und die „Bildungsaufsteigerinnen“ sowie für die „Frauen aus Bulgarien“ von besonderer Bedeutung ist. Alle diese Gruppen haben in der von ihnen jeweils praktizierten Religion vor allem das Gefühl

359 Lewis: 1991, S. 11. 360 Ebd., S. 14. 361 Willke: 2011, S. 17. 362 Vgl. Abschnitt 3.2.

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der „Zugehörigkeit“ gefunden, was durchaus nicht ungewöhnlich ist: Die französische Religionswissenschaftlerin Danièle Hervieu-Léger begründet dies etwa damit, dass die Moderne und die damit verbundenen Individualisierungsprozesse einen allmählichen Rückgang von Traditionen und somit „Lücken“ hätten entstehen lassen, die durch neue Werte, wie religiöse, gefüllt würden.363 Dies scheint sich im Zuwanderungskontext nochmals zu verstärken. Zumindest der Ethnosoziologe Georg Elwert weist darauf hin, dass religiöse Wir-Gruppen vor allem dort entstehen würden, wo das Gefühl des Heimatverlusts einkehre, wie dies im Zuwanderungskontext der Fall sei.364 Dies lässt sich in Bezug auf Marxloh durchaus bestätigen, denn hier sind es ausschließlich die Gruppen mit Migrationsgeschichte, die von sich sagen, religiös zu sein – im Unterschied zu den Gruppen ohne Zuwanderungshintergrund, wie die „Aktiven“, die „Alteingesessenen“ und die „Zurückgezogenen“.365 Doch das Ausüben der Religion, auch das haben wir bereits gesehen, ist bei den sie praktizierenden Marxloherinnen nicht nur Privatsache. Insbesondere dann, wenn es um religiöse Symbole geht, das zeigt beispielhaft der europaweit geführte „Kopftuchstreit“ um das Tragen des muslimischen Kopftuches, wird die Religion zu etwas Öffentlichem – mit den entsprechenden Folgen für die Gläubigen: Kopftuchträgerinnen werden ungleich behandelt366 und aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ausgegrenzt. Der Islam bietet dabei offenbar auch in Marxloh die Hauptangriffsfläche: Während etwa die Marxloher muslimischen Gruppen der „Bildungsaufsteigerinnen“, „Heiratsmigrantinnen“ und „Gastarbeiterinnen“ mit islamophoben oder gar islamfeindlichen Ressentiments konfron-

363 Hervieu-Léger, Danièle (1990): Religion and Modernity in the French Context. For a New Approach to Secularisation. In: Sociological Analyses, 51 (1990). S. 15-25. 364 Elwert, Georg (1989): Nationalismus und Ethnizität. Über die Bildung von WirGruppen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialanthropologie, 41 (1989). S. 440-464 . Hier: S. 453. 365 Zwar sucht man auch hier vor allem in den beiden Gruppen der „Alteingesessenen“ und „Heiratsmigrantinnen“ kirchliche Angebote wie den Chor oder Frauenfrühstücke auf, aber dies, ohne ausdrücklich religiös zu sein. Unter den „Aktiven“ gibt nur eine Frau, Paula, an, religiös zu sein. Vgl. Abschnitt 4.5. und 4.6. 366 Vgl. dazu beispielsweise: Färber, Christine u.a. (2008): Migration, Geschlecht und Arbeit. Probleme und Potenziale von Migrantinnen auf dem Arbeitsmarkt. Opladen. S. 104; Gestring, Norbert u.a. (2006): Prozesse der Integration und Ausgrenzung. Türkische Migranten der zweiten Generation. Wiesbaden. S. 163.

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tiert werden367, können wir hingegen bei den christlichen „Frauen aus Bulgarien“ eine gegenläufige Tendenz beobachten. Hier handelt es sich um ehemalige Muslime, die ihren auf ethnischer Ebene erfahrenen Ungleichbehandlungen dadurch begegnen, dass sie zum evangelikalen Christentum konvertieren. Die religiöse Konversion erfolgt bei ihnen in direktem Bezug auf die erfahrenen ethnisch begründeten Ungleichheiten, von denen bereits die Rede war368 und verhilft den Personen zu mehr Selbstbewusstsein und vor allem zu mehr Anerkennung unter den etablierteren Gruppen im Stadtteil. Je nach Religionszugehörigkeit, das können wir im Marxloher Kontext also recht deutlich im Vergleich dieser Gruppen sehen, bedeutet die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion entweder das Produzieren von Ausschluss- oder von Einschlusstendenzen. 5.4.1 Die Angst vor dem Islam Wie im gesamtdeutschen Raum369, so hat sich auch in Marxloh der Islam in den vergangenen Jahren zunehmend institutionell gefestigt. Seit einigen Jahren sind immer mehr Frauen der zweiten und dritten Zuwanderergeneration in der Marxloher DITIB-Moschee anzutreffen, die sich aktiv in die inzwischen entstandenen Frauengruppen einbringen: Bildungsarbeit, Ramadan370- und Kermestreffen371, Sprach-und Alphabetisierungskurse – das sind nur einige wenige der Aktivitäten, in die die Frauen eingebunden sind. Die Moschee ist aber nicht nur Anlaufstelle praktizierender muslimischer Menschen, sondern wird auch von nichtpraktizierenden Muslimen für Beerdigungen, Hochzeits- und Beschneidungsfeiern in Anspruch genommen. Auch am Fastenbrechen im Ramadan nehmen nicht nur praktizierende Muslime teil – dieser Anlass wird auch von anderen Stadtteilbewohnern geschätzt und zum geselligen Miteinander genutzt, wie einer meiner ersten Eindrücke in Marxloh in folgendem Ausschnitt aus dem Forschungstagebuch zum Beginn des Fastenmonats im Jahr 2010 zeigt:

367 Islamophobie benennt die Angst vor dem Islam. Ist von einer rigorosen Ablehnung des Islam die Rede, so spricht man von Islamfeindlichkeit. Mir scheint die „Angst vor dem Islam“ für die Gruppe der „Alteingesessenen“ jedoch treffender als der Begriff der „Islamfeindlichkeit“ zu sein, wie die gleich folgenden Aussagen in diesem Abschnitt, in denen explizit das Wort „Angst“ fällt, zeigen. 368 Vgl. Abschnitt 5.2. 369 Klinkhammer: 2003, S. 260. 370 Beim Ramadan handelt es sich um den muslimischen Fastenmonat. 371 Beim Kermes-Fest handelt es sich um einen Wohltätigkeitsbazar. Die Einnahmen kommen der Moscheegemeinde zu Gute.

382 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH Zum Zeitpunkt des muslimischen Fastenmonats Ramadan und dem abendlichen Fastenbrechen verwandelt sich der Vorplatz der Moschee täglich aufs Neue in ein vergnügliches und buntes Treiben. In der Begegnungsstätte der Moschee werden feine Speisen serviert und im Anschluss, während die Kinder spielend umherrennen, über den „türkischen Markt“ auf dem Vorplatz der Moschee geschlendert. Auch ich mische mich an einem meiner ersten Tage sogleich unter die Menschen – ganz überrascht und zugleich angetan von der festlichen Stimmung. Noch ganz benommen von meiner Ankunft im Stadtteil, lasse ich mir von einem jüngeren Mann einen „Simit“ (Sesamkringel) spendieren, bedanke mich und suche etwas Ruhe im eher gemütlichen Ambiente des hinter der Moschee gelegenen „Rosenpavillions“. Da ich hier noch niemanden kenne, entscheide ich mich, wie die um mich Sitzenden, ein Glas Tee „zu schlürfen“ und möglichst unauffällig das Geschehen um mich herum zu beobachten. Vorerst zwar noch etwas holprig und unsicher, werde ich dann doch recht rasch in Gespräche verwickelt. Zunächst mit älteren „Aktiven“ – als sich herumspricht, aus welchem Grund ich mich im Stadtteil aufhalte, auch mit türkeistämmigen Personen. Ich nutzte die Gelegenheit, Interviewtermine zu vereinbaren und Telefonnummern auszutauschen und ein wenig die Stimmung einzufangen. Ich, die Außenstehende, komme so langsam im Feld an. Eine wichtige erste Erkenntnis nehme ich von diesem, meinem ersten Abend in Marxloh, mit: Die größte Moschee Deutschlands steht offenbar für ein lebendiges Miteinander der verschiedenen Stadtteilbevölkerungsgruppen.372

Wenige Wochen später, als ich einige der dort anwesenden Personen besser kenne und meine, das Stadtteilgeschehen etwas konkreter einschätzen zu können, fällt mir jedoch auf: Ich habe an diesem Abend des Fastenbrechens neben den verschiedenen türkeistämmigen Gruppierungen eigentlich nur einige der „Aktiven“ am „Rosenpavillion“ Tee ausschenken gesehen – keine der „Alteingesessenen“ oder der „Zurückgezogenen“ und auch keine Zuwanderer aus Bulgarien, Rumänen oder andere ethnische Gruppen. Auf der Suche nach Erklärungen für diese Beobachtung sollten wir einen Blick auf die Entwicklung der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V., der Marxloher DITIB, zu der sich die Mehrheit der Muslime in Marxloh zählt, werfen.373 Die DITIB existiert im Stadtteil seit dem Jahr 1985, und sie

372 Forschungstagebuch vom 11.08.2010. 373 Mir begegneten während meiner drei Forschungsaufenthalte nahezu ausschließlich Muslime, die Mitglied in der DITIB sind. Ich führe das auf die Herkunft der Personen aus der Schwarzmeerregion zurück, zugleich aber auch auf die hohe Anziehungskraft, welche die 2008 eröffnete DITIB Moschee auch auf Muslime anderer Ausrichtungen des Islam ausübt. Vgl. Abschnitt 4.4.

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hat inzwischen über 1000 Mitglieder.374 Auf dem Platz, auf dem die heutige Moschee steht, wurde zunächst, zu Zeiten der „Gastarbeiter“, eine Kantine des Bergbaus als Gebetsstätte genutzt. Mit den Jahren aber, so ein Vorstandsmitglied der DITIB in unserem Gespräch, sei „die Sehnsucht nach einer würdigen Gebetsstätte“375 und „die Idee, dass man doch eine Moschee mit Kuppel und Minarett bauen soll, was auch bundesweit in vielen Städten der Fall war“376 entstanden. Im Jahr 2003 stellte man schließlich den Bauantrag und erlangte eine Baugenehmigung. Fünf Jahre später feierte man die Eröffnung. Die Moschee wurde bundesweit als „Wunder von Marxloh“ gepriesen, da deren Errichtung ohne nennenswerte Proteste seitens der Marxloher Bevölkerung verlief. Bereits kurz nach der Fertigstellung der Moschee waren aber dann doch bei einigen Marxlohern kritische Stimmen zu vernehmen, die deutlich machten, dass man mit dem Bau eigentlich doch nicht so recht einverstanden war, da man das Gebäude als „rückwärtsgewandt“ einstufte, wie es hier ein Lehrer im Interview zum Ausdruck bringt: L: Hier haben sie einen Kuppelbau hingesetzt, das ist vom Architektonischen her rückwärtsgewandt. Mit einem Gebetsraum – unten große Fläche für Männer und auf der Empore Frauen. Und wenn Sie dann nachfragen, die Begründung, dass eine Frau, die sich vor einem Mann auf dem Boden wirft, dass der die bespringt. Ja, wo sind wir? Ist das ein Problem der Frau? Dass der Mann sich nicht beherrschen kann? Ja, ist ein Problem der Frau, deswegen müssen die halt verkleidet laufen. Und dann gucken Sie sich mal den Teppich unten an und dann den Teppich oben an. Dann wissen Sie, wie viele Frauen – oben ist der brandneu, und unten ist der ganz schön abgeschabt. Wenn die Männer da sind, haben die Frauen ja die Familie.377

In dieser Aussage finden wir sämtliche Assoziationen, die mit einem, wie es der Sprecher nennt, „rückwärtsgewandten“ Islam verbunden sind: Vor allem die Geschlechtertrennung in der Moschee sowie die Kleidung der muslimischen Frauen wird als anstößig wahrgenommen. Außerdem bemerkt der Sprecher abschätzig, dass die Frauen nicht so häufig wie die Männer in die Moschee kämen, weil sie

374 Die Mitgliederanzahl wird pro Familie berechnet. Die Zahl von 1000 Mitgliedern stammt aus einem Interview mit einem Vorstandsmitglied der DITIB-MerkezMoschee vom 10.08.2010. 375 Interview

mit

einem Vorstandsmitglied der

10.08.2010. 376 Ebd. 377 Interview mit einem Lehrer vom 28.01.2010.

DITIB-Merkez-Moschee

vom

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sich in der Zeit um familiäre Dinge kümmern würden und übt dabei deutliche Kritik am vermeintlichen Privileg der Männer gegenüber den Frauen und der Geschlechterrollenverteilung. Was der Befragte aber offenbar nicht weiß oder zumindest nicht zum Ausdruck bringt: Die vielen genannten Angebote der Moschee, wie Sprach- und Alphabetisierungskurse zielen gerade auf Frauen ab und werden von ihnen, wie wir etwa bei der Gruppe der „Heiratsmigrantinnen“ gesehen haben, auch gut angenommen. Sie sind es, die dazu führen, dass auch die Frauen, die sich selten aus dem Haus bewegen (dürfen), eine Anlaufstelle und Kontakte zu anderen Frauen in der Moschee finden.378 Diese Angebote finden allerdings räumlich selbstverständlich nicht auf der Gebetsempore statt, sondern in den dafür vorgesehenen Gesellschaftsräumen unter dem Gebetsraum im Kellergeschoss. Es sind aber genau diese Einstellungen, wie sie in obigem Zitat geäußert werden, denen die DITIB und die Stadt Duisburg bereits im Vorfeld des Moscheebaus dadurch begegnen wollten, dass man eine Begegnungsstätte mit Café einplante, die unabhängig von der Moschee bestehen und sich durch Projekte auf Kommunal-, Bundes- und EU-Ebene finanzieren sollte. Die Begegnungsstätte war als Anlaufstelle für all jene gedacht, die sich über die Moschee informieren wollten und wurde bewusst barrierefrei gehalten. Ein Vorstandsmitglied äußert dazu: V: Unsere Idee war, nicht nur eine Moschee, sondern eine Moschee mit Begegnungsstätte [zu errichten, Anm. d. Verf.]. Und damals hieß das Projekt „Moscheeprojekt Zusammenleben“. Es sollte sowohl den Muslimen dienen aber auch den Nichtmuslimen die Möglichkeit gewähren, die Muslime näher kennenzulernen und einen Dialog dort zu verankern.379

Doch gerade diese Trennung zwischen Moschee und Begegnungsstätte führte bald nach der Eröffnung zu internen Auseinandersetzungen, in deren Folge zuerst der Pressesprecher der Moschee durch den Vorstand entlassen wurde und schließlich der Vorstandsvorsitzende ebenfalls sein Amt niederlegte.380 Der schließlich neu gewählte Vorstand, so hieß es, solle immer wieder versucht ha-

378 Vgl. Abschnitt 4.4. 379 Interview

mit

einem Vorstandsmitglied der

DITIB-Merkez-Moschee

vom

10.08.2010. 380 Vgl. Klucken, Peter (2009): Moschee – Krach in Marxloh. In: Rheinische Post online vom 17.09.2009. Online unter: http://www.rp-online.de/nrw/staedte/duisburg/ moschee-krach-in-marxloh-aid-1.1045607 (letzter Abruf: 15.12.2014).

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ben, die Begegnungsstätte näher an die Moschee zu binden. Als dann die Bildungsreferentin der Begegnungsstätte entlassen und der türkische Staatsminister Faruk Celik in die Gemeinde eingeladen, die Duisburger Presse jedoch nicht dazu gebeten wurde, war die Aufregung in der Duisburger Öffentlichkeit groß.381 Man fühlte sich ausgeschlossen, uninformiert und sah sich in dem Gefühl, dass hinter den Mauern der Moschee nun doch „etwas Rückwärtsgewandtes“382 entstehen könnte, bestätigt. Selbstverständlich ging dieser moscheeinterne Disput auch an der Marxloher Bevölkerung nicht vorbei und erzeugte vor allem bei den „Alteingesessenen“ Unsicherheiten. So sagt die „Alteingesessene“ Karin: K: Durch die Moschee ist das aufgekommen wieder. Ich musste mir schon wieder alles verkneifen, sonst kriege ich noch einen Herzinfarkt. Die Moschee – alles war dafür. Und plötzlich, komischer Weise, es sollte ja alles offen sein mit Kommunikationscenter, Begegnungsstätte, alles, so super. Ein paar Monate später liest man plötzlich in der Zeitung, die haben da alle rausgechasst. Die, die ein bisschen offen waren, die Türken, die haben sie alle zack-zack-zack weg. Und jetzt sitzen da die konservativsten Türken, die man sich vorstellen kann. Dann von unserer Stadt, die ja alle dafür [für den Bau der Moschee, Anm. d. Verf.] waren, traute sich zu dem Zeitpunkt aber keiner zu sagen: „Das ist nicht so gewollt gewesen“, sondern: „Ja, wir müssen mal sehen, und wir warten erst mal ab.“ Dieses wieder: Keiner bezieht Stellung. So, und das wird nämlich was ganz Konservatives werden.383

Das, was wir hier aus Karins Worten heraushören können, ist das Gefühl des für diese Gruppe typischen Ausgeliefertseins384 und vor allem starke Unsicherheit dem gegenüber, wie die Moschee in Zukunft gestaltet sein wird. Man fühlt sich politisch allein gelassen („Dieses wieder: Keiner bezieht Stellung“) und befürchtet negative Entwicklungen („das wird etwas ganz Konservatives werden“). Der Konflikt innerhalb der Moschee wird in dieser Gruppe der „Alteingesessenen“ also nicht neutral als eine Auseinandersetzung gewertet wie sie auch in anderen Institutionen vorkommen kann, sondern als eine Wende der als progressiv prok-

381 Vgl. Streichan, Anja (2010): Moschee-Begegnungsstätte Marxloh. Neuer Vorstand will klare Verhältnisse. In: Rheinische Post online vom 25.05.2010. Online unter: http://www.rp-online.de/nrw/staedte/duisburg/neuer-vorstand-will-klareverhaeltnisse-aid-1.1078059 (letzter Abruf: 15.12.2014). 382 Interview mit einem Lehrer vom 28.01.2010. 383 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 384 Vgl. Abschnitt 4.5 und 5.3.2.

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lamierten Moschee zu etwas vermeintlich „ganz Konservativem“, dem man mit Skepsis entgegen blickt. Die Moschee entpuppt sich in den Augen der „Alteingesessenen“ damit als Enttäuschung: Mit dem neuen Vorstand, den man als konservativ einschätzt, fühlt man sich nun um das, was einem versprochen wurde, was man als fortschrittlich betrachtet und mit dem man sich einverstanden erklärt hatte, betrogen. Dieses Gefühl steigert sich um so mehr, als sich zwei Jahre später herausstellt, dass sich die Begegnungsstätte durch externe Projekte nun tatsächlich nicht mehr tragen lässt und seither komplett von der Moscheegemeinde finanziert wird – die Anbindung an die Moschee hat in dieser Hinsicht somit also dann doch stattgefunden. Dieses Gefühl, das hier im Zusammenhang der Moschee in Karins Aussage nur in Ansätzen als Unsicherheit gegenüber dem Islam mitschwingt, steigert sich später in einem anderen Gespräch mit der ebenfalls „alteingesessenen“ Marion – in allerdings anderem Zusammenhang, nämlich dem Anblick kopftuchtragender Muslime – in regelrechte Angstgefühle: M: Mit den Kopftüchern – was sich dahinter verbirgt? Millȋ Görüş, Weseler Straße, ist ja in ganz Deutschland. Ich glaube, dass da sogar militante Sachen dahinter stecken. Und davor habe ich Angst. Ich habe das in mehreren Versammlungen gesagt, bei einer großen von so ’ner Entwicklungsgesellschaft, die auch Vorschub geleistet haben. Denen habe ich das ganz deutlich gesagt: „Und das möchte ich, hier bitte, in Ihr Protokoll mit aufnehmen – ab jetzt habe ich Angst.“385

Bei Millȋ Görüş handelt es sich um eine internationale islamische Organisation, die auf Grund von vermeintlich antidemokratischen und antiwestlichen Einstellungen vom Verfassungsschutz beobachtet wird.386 In Marxloh existiert eine Zweigstelle der Organisation seit den 1990er Jahren – und seither erzeugt sie Ängste: Während die Marxloher „Aktive“ Sandra auf Millȋ Görüş lachend mit den Worten reagiert: „Unser Dorfverein hier islamistisch? Ich bitte dich! Da gehe ich zum Teetrinken hin!“387, erzeugt sie bei der „Alteingesessenen“ Marion „Angst“. Millȋ Görüş verbindet sie im Unterschied zu Sandra nämlich nicht mit „Teetrinken“, sondern mit Islamismus, den sie darüber hinaus symbolisch am muslimischen Kopftuch festmacht. Die Marxloher kopftuchtragenden Muslimin-

385 „Alteingesessene“, weiblich, 59 Jahre. Interview vom 30.08.2010. 386 Über den Sinn oder Unsinn dessen vgl. Schiffauer, Werner (2006): Verfassungsschutz und islamische Gemeinden. In: Kemmesies, Uwe E. (Hrsg.): Terrorismus und Extremismus – der Zukunft auf der Spur. München. S. 237-254. 387 „Aktive“, weiblich, 40 Jahre. Interview vom 09.09.2010.

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nen – die sich jedoch, was Marion offenbar nicht weiß, faktisch weniger der Millȋ Görüş sondern meist der DITIB zuzählen – werden von ihr automatisch der Millȋ Görüş zugeschrieben und ihnen eine islamistische Gesinnung unterstellt – ohne dass die Betroffenen selbst dazu Stellung beziehen könnten. Dieses hier bei den Marxloher „Alteingesessenen“ Marion und Karin zu beobachtende Gefühl der Angst im Zusammenhang mit dem Islam ist nicht neu388, aber erst seit den 1990er Jahren unter dem Namen „Islamophobie“ bekannt. Im Jahr 1997 veröffentlichte der „Runnymede Trust“ des United Kingdom eine später umstrittene Schrift mit dem Titel „Islamophobia – a challenge for all of us“, auch kurz „Runnymede Report“ genannt. Die Verfasser plädierten in diesem Report dafür, Islamophobie als eine eigene Form der Fremdenfeindlichkeit anzuerkennen. Der Islam, so die Autoren, werde per se als fremd betrachtet, nehme für sich in Anspruch, dem Westen gegenüber überlegen zu sein und werde als aggressiv, bedrohlich, politisch und terroristisch wahrgenommen. Diese und andere Argumente würden als Legitimationsgrundlage genutzt, um Muslime zu diskriminieren, so dass deren Ungleichbehandlung und Ausgrenzung aus bestimmten Bereichen inzwischen als normal angesehen werde.389 Trotz aller Kritik, die an dem Report geübt wurde, war er doch wegbereitend für weitere Untersuchungen zum Thema „Islamophobie“ und führte dazu, dass das Phänomen allmählich auch in das öffentliche und politische Bewusstsein gelangte. Auch die EU hat seither in verschiedenen Berichten immer wieder auf Islamophobie basierende Ungleichbehandlungen von Muslimen festgestellt und kritisiert. So stellt die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) des Europarats fest, dass Muslime europaweit eben solchen Vorurteilen ausgesetzt seien, wie sie von Marion oben geäußert wurden. Diese Vorurteile, heißt es in einer der EU-Empfehlungen, können „sich in unterschiedlicher Weise äußern […], insbesondere in einer allgemeinen negativen Einstellung, aber auch in diskriminierenden Handlungen, Gewalt und Belästigungen“.390 Auch in Marx-

388 Dem britischen Soziologen Christopher Allen zufolge lassen sich viele Aspekte der heutigen Islamfeindlichkeit bereits zum Zeitpunkt der Kreuzzüge sowie der Türkenkriege nachweisen. Vgl. Allen, Christopher (2010): A Brief History of Islamophobia. In: Arches Quarterly, 4, 7 (2010). S. 14-23. Hier: S. 14-15. 389 Vgl. Runnymede Trust, Commission on British Muslims and Islamophobia (1997): Islamophobia. A challenge for Us All. Report of Runnymede Trust Commission on British Muslims and Islamophobia. London. S. 4-12. 390 Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (2007): Allgemeine politische Empfehlung 5: Bekämpfung von Intoleranz und Diskriminierung gegenüber Muslimen. In: Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (2007):

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loh finden wir deutliche Formen der Ungleichbehandlung von Muslimen durch Nicht-Muslime, und diese beschränken sich nicht nur auf die obigen Aussagen, die wir mit der EU vielleicht als „allgemeine negative Einstellung“391 bezeichnen könnten, sondern umfassen auch deutlich diskriminierende Äußerungen und Handlungen.392 Das in diesem Zusammenhang wohl inzwischen auch deutschlandweit populärste Beispiel für Ungleichbehandlungen, insbesondere muslimischer Frauen, ist das bereits im Zusammenhang mit Marion und der Millȋ Görüş angesprochene muslimische Kopftuch. Hierbei handelt es sich um ein „Stück Stoff“, das immer wieder Ängste vor dem Islam schürt, die schließlich dazu führen, dass muslimische Kopftuchträgerinnen aus wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen – insbesondere beruflichen – ausgeschlossen werden.393 Besonders bei den Marxloher „Bildungsaufsteigerinnen“ haben wir gesehen, wie sehr sich die Frauen in ihren Berufsperspektiven eingeschränkt sehen. Blicken wir dazu ein letztes Mal auf die Aussagen Meryems und Güzels394: M: Ich habe gedacht, Lehrerin kann ich auch werden, aber leider geht das nicht mit Kopftuch.395 G: Eigentlich wollte ich bei C&A anfangen, aber das ging dann nicht. Wahrscheinlich wegen dem Kopftuch.396

Nun ist das Bild der „Kopftuchtürkin“ schon seit Beginn der Zuwanderung verbreitet, und stets hat es Assoziationen im Hinblick auf dessen Trägerin ausge-

Zusammenstellung von allgemeinen politischen Empfehlungen. Straßburg. S. 33-38. Online unter: http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/ecri/activities/gpr/compilations_ en/compilation%20recommandation%201-11%20allemand%20cri07-38.pdf (letzter Abruf: 26.11.21014). 391 Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz: 2007, S. 36. 392 Von „Gewalt und Belästigungen“, von denen in der Allgemeinen politischen Empfehlung 5 ebenfalls die Rede ist, wurde mir allerdings nicht berichtet. Vgl. Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz: 2007, S. 36. 393 Vgl. Abschnitt 5.3.2. 394 Vgl. Abschnitt 4.3. und 5.3.2. 395 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 21 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010. 396 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 26 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 30.08.2012.

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löst.397 Galt die muslimische Kopftuchträgerin zunächst als „rechtlos“398, als unterdrückt, rückständig, ungebildet und dementsprechend bemitleidenswert und hilfsbedürftig, so kam zu diesem „Wesensmerkmal Kopftuch“399 einer unterdrückten Muslima – und das nicht erst seit dem 11. September – die Angst vor dem islamischen Fundamentalismus hinzu. Festgemacht wurde diese Assoziation am sichtbar Fremden, der kopftuchtragenden Muslima. So entbrannte in den 1990er Jahren in verschiedenen Ländern Europas der sogenannte „Kopftuchstreit“. In Deutschland wurde er personifiziert durch die Afghanin Fereshda Ludin, die im Jahre 1998 mit Kopftuch als Lehrerin in den Staatsdienst übernommen werden wollte. Die kopftuchtragende Frau galt auch hier nicht mehr „nur“ als „unterdrückte“ Frau, der man Hilfe anbieten musste – das Kopftuch entwickelte sich zum Fundamentalismus- und Gewaltsymbol schlechthin und wurde besonders aus feministischen Kreisen als Anzeichen patriarchaler Frauenunterdrückung interpretiert.400 Trägerinnen eines solchen Symbols sollten dementsprechend nicht in den Staatsdienst zugelassen werden, was zum indirekten Kopftuchverbot in acht Bundesländern auf deutschem Staatsgebiet führte. Ob sich die kopftuchtragenden Lehrerinnen selbst mit diesen Assoziationen identifizieren konnten oder nicht, schien, wenn überhaupt, nur wenig zu interessieren. Dass es gerade das muslimische Kopftuch ist, das auch in Marxloh bei den „Alteingesessenen“ und „Zurückgezogenen“ Aufsehen erregt, ist daher nicht zufällig. Zwar hat dies selbstverständlich auch mit der visuellen Präsenz des muslimischen Kopftuches in Marxloh zu tun, knüpft aber im Wesentlichen vor allem auch an den in den letzten Jahren verstärkt geführten Kopftuchdiskurs der Unterdrückung und des Fundamentalismus an. So haben wir auch bereits an Karin

397 Vgl. Cöster, Anna Caroline (2011) „Gefährlich fremd?“ Zur Wahrnehmung der muslimischen Minderheit in der deutschen Öffentlichkeit. In: Matter, Max; Cöster, Anna Caroline (Hrsg.): Fremdheit und Migration. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Europa. Marburg. S. 57-76. 398 Der Spiegel, 47 (2004): Allahs rechtlose Töchter. Muslimische Frauen in Deutschland. Online unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2004-47.html (letzter Abruf: 30.11.2014). 399 Toker, Arzu (1996): Italienische Sexbomben, türkische Kopftuchfrauen und andere Exotinnen. Migrantinnen im deutschen Fernsehen. In: Röben, Bärbel; Wilß, Cornelia (Hrsg.) (1996): Verwaschen und verschwommen. Fremde Frauenwelten in den Medien. Frankfurt am Main. S. 29-46. Hier: S. 39. 400 Vgl. beispielsweise Badinter, Elisabeth (2002): Der verschleierte Verstand. In: Schwarzer, Alice (Hrsg.): Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz. Köln. S. 139-146. Hier: S. 142.

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gesehen, dass sie gegen das Tragen des – weder religiös noch anders aufgeladenen – indischen Saris ihrer Nachbarn nichts einzuwenden hat, wohingegen das Tragen des muslimischen Kopftuches vor allem bei jungen Marxloher Frauen ihren Unmut auslöst401: K: Und dann guckst du dir die jungen Frauen an, mit den schwarzen Dingern und bunte Leggings und graue Socken und Plastikschuhe und hier oben noch ’n Kopftuch, wo ich dann sag: Ich meine so ’ne ältere, die mit Sicherheit kein Deutsch spricht, ich sag, die sieht einigermaßen angepasst, nein, nicht angepasst aber, ne, gepflegt aus. Aber bei manchen jungen Frauen kann ich das nicht nachvollziehen.402 […] Und der Punkt ist ja, wir haben ja Türken da, die kommen nicht aus Istanbul. Die kommen auch nicht aus gebildeten Kreisen. Die kommen aus Hinteranatolien, die kommen aus Kurdistan und frag der Teufel wo. Die noch normalerweise eine Ziege mitgebracht hätten. Die jungen Frauen, die sogar teilweise hier geboren sind, die das nicht schnallen. Oder die mittlerweile auch schon wieder so ultramäßig werden.403

Mit „ultramäßig“ meint Karin eine konservative Auffassung von Geschlechterrollen – denn kurz darauf führt sie weiter aus: „Die Frauen sind sogar härter als ihre Männer“404 und bezieht sich damit nochmals auf die jungen kopftuchtragenden Frauen im Stadtteil, „die sogar teilweise hier geboren sind“, aber den Fortschritt im Hinblick auf Gleichberechtigung „nicht schnallen“ würden. Dies, so glaubt Karin, trügen die Frauen dann mit dem Kopftuch symbolisch nach außen. Im Unterschied zu Marion nimmt Karin hier also nicht auf den „Fundamentalismus-Diskurs“ Bezug, sondern auf den „Unterdrückungs-Diskurs“. Gerade die Gruppe, auf die sich Karin bezieht, das haben wir bei den „Bildungsaufsteigerinnen“ deutlich sehen können, tragen das Kopftuch jedoch nicht aus Gründen strikter Vorstellungen von Geschlechterrollen, sondern als religiöses Symbol „um irgendwo gebunden zu sein“405 – in einem Umfeld, das es ihnen, wie wir an den Aussagen der „Alteingesessenen“ Karin und Marion sehen können, nicht

401 Vgl. Abschnitt 4.5. 402 Die Zusammenkunft aus modischer Kleidung und Kopftuch gerät häufig unter Kritik. Vgl. dazu Şahin: 2014, S. 478. 403 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 404 Ebd. 405 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 21 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010. Vgl. Abschnitt 4.3.6.

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leicht macht, sich anderswo „gebunden“ zu fühlen. Die „soziale Information“406 des Kopftuchs ist bei diesen Frauen also nicht „ich werde unterdrückt“, sondern „ich bin Muslima“.407 Karin und Marion treffen allerdings beide ihre Aussagen über Kopftuchträgerinnen, ohne sie näher zu kennen. Sie sehen sie auf den Straßen, aber intensiveren Kontakt haben sie zu ihnen bislang nicht gehabt. Karin erwähnt genau eine muslimische Familie aus ihrer Nachbarschaft, zu der sie zumindest sporadisch Kontakt hat – und es verwundert bei der Einstellung Karins zum Kopftuch nicht, dass die Frau in dieser Familie keines trägt: K: Gegenüber das ist ’ne ganz nette [Familie, Anm. d. Verf.]. Frau ohne Kopftuch, Kinder ganz normal, der Mann total nett zu seiner Frau, also merkt man ja auch schon und auch zu uns deutschen Frauen nett.408

Es geht hier also in der Wahrnehmung Karins weniger darum, wie die Frauen denken und handeln als darum, ob sie ein Kopftuch tragen oder nicht. Die Kopftuchträgerinnen werden als rückständig eingestuft, als „aus Hinteranatolien“409 kommend, als Personen, „die noch normalerweise eine Ziege mitgebracht hätten“ – und die Frauen ohne Kopftuch hingegen als „ganz normal“ und „total nett“. Doch nicht nur im Hinblick auf das Kopftuch müssen sich die muslimischen Marxloherinnen mit Ressentiments auseinandersetzen. Denken wir etwa an Naylas Empfindungen und ihre Aussage „die schwarzen Haare bleiben, und was ist mit dem Namen? Also Vorurteile sind immer da“410, so wird offensichtlich, wie wenig Spielraum sie sieht, den ihr entgegen gebrachten Stigmata zu begegnen. Nayla bezieht sich dabei vor allem auf Schwierigkeiten auf dem Arbeitsaber auch auf dem Wohnungsmarkt – alles Bereiche, die auch von der EU als ty-

406 Goffman, Erving (1975): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main. S. 58. 407 Mehr zu diesen Assoziationen und dem Einbezug von Erving Goffmans Ausführungen zum „Stigma“ vgl. Şahin: 2014, S. 192. 408 „Alteingesessene“, weiblich, 57 Jahre. Interview vom 03.09.2010. 409 Dass die türkeistämmigen Zuwanderer der „Gastarbeitergeneration“ nicht aus Anatolien, sondern aus der Region Zonguldak kommen, ist bereits dargelegt worden. Während meines Aufenthalts ist mir nur eine Kurdin begegnet, die mich aber bat, diese Information für mich zu behalten. Vgl. Abschnitt 3.2.2. 410 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010.

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pisch für Diskriminierungserscheinungen angesehen werden.411 Dazu nochmals Nayla: N: Meine Schwester war damals verlobt, und die hat keine Wohnung bekommen, aber sie wollte nicht in Marxloh leben. Und da hat meine andere Schwester gesagt: „Jaja, geh du erst mal mit deinen schwarzen Haaren Wohnung suchen!“ Und sie hat tatsächlich keine bekommen. Es war damals aber auch sehr schwierig, eine Wohnung zu bekommen. Aber meine zweite Schwester, die war verlobt und hat sich immer bei den Eigentümern gemeldet und hat gesagt: „Ich habe gehört, Sie haben eine Wohnung frei“, und der Name ihres Verlobten klang […] nicht typisch türkisch. Und dann ist sie dahin gegangen und da meinten die [Vermieter, Anm. d. Verf.]: „Ja, darf ich fragen, aus welchem Land sie kommen?“ Und sie hat gesagt: „Aus der Türkei.“ Und dann haben die gesagt: „Nee, wir überlegen uns das“, und sie hat ’ne Absage bekommen. Und da hat mein Vater irgendwann gesagt: „Wir renovieren oben [im eigenen Haus in Marxloh, Anm. d. Verf.], und dann kannst du da einziehen.“412

Was wir hier vor uns haben, lässt an einen „vicious cycle“, einen Teufelskreis, denken: Naylas Schwester möchte zwar gerne aus dem Stadtteil Marxloh wegziehen, findet aber wegen ihres „türkischen“ Aussehens niemanden, der ihr eine Wohnung vermieten möchte. Also bietet ihr Vater an, für sie und ihre Familie eine Wohnung im Obergeschoss seines Hauses auszubauen, was für Naylas Schwester bedeutet, weiterhin in Marxloh leben zu bleiben und bei den Marxloher „Zurückgezogenen“ den Eindruck entstehen lässt, dass „die Türken immer nur aufeinander hocken“.413 Tatsächlich jedoch wollte Naylas Schwester wegziehen, aber man hat ihr dazu nicht die Möglichkeit gegeben. Nun sind die Türkeistämmigen nicht die einzige im Stadtteil Marxloh lebende muslimische Gruppe. Wie wir schon gesehen haben, bezeichnen sich auch einige der in Marxloh lebenden Zuwanderer aus Bulgarien ebenfalls als Musli-

411 Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (2007): Allgemeine politische Empfehlung 8: Bekämpfung von Rassismus beim Kampf gegen Terrorismus. In: Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (2007): Zusammenstellung von allgemeinen politischen Empfehlungen. Straßburg. S. 69-76. Online unter: http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/ecri/activities/gpr/compilations_en/compi lation%20recommandation%201-11%20allemand%20cri07-38.pdf (letzter Abruf: 26.11.21014). 412 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 16.08.2010. 413 Forschungstagebuch vom 24.12.2012. Vgl. Abschnitt 4.6.

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me, sprechen türkisch, und sehen sich als Angehörige der türkischen Minderheit in Bulgarien.414 Vor allem gegenüber meiner türkischsprechenden (und kopftuchtragenden) muslimischen Interviewerin betonen die Frauen, streng muslimisch zu sein. In besonderem Maße kam dies in dem Gespräch mit der 18-jährigen Gül zum Ausdruck, die von sich sagt: G: Gott sei Dank bin ich eine Muslima.415

Führt nun, so müssen wir uns fragen, die erfahrene Diskriminierung unter den Marxloher Musliminnen dazu, dass sie sich zusammenschließen? Die Antwort ist ein klares „Nein“, denn in den Augen der Türkeistämmigen handelt es sich bei den Zuwanderern aus Bulgarien weder um „Türken“416 noch um „Muslime“: „Sie sagen, sie sind Muslime, aber das stimmt nicht“417, erklärt mir die türkeistämmige „Bildungsaufsteigerin“ Almıla. „Sie beten nicht regelmäßig und kennen die fünf Säulen des Islam nicht.“418 In Marxloh, so vermuten viele, sei die Zugehörigkeit zum Islam bei dieser Gruppe daher weniger Ausdruck ihres Glaubens als eine Strategie, sich an die Türkeistämmigen in Marxloh anzunähern in der Hoffnung, akzeptiert und angenommen zu werden: O: Ja, es gibt viele, die auch hier die Moschee besuchen. […] Damit sie sich noch einmal unterordnen unter die türkische Minderheit: Sieh mal, ich bin kein Roma, ich bin ein Türke.419

Die Marxloher Türkeistämmigen erkennen die Zuwanderer aus Bulgarien aber trotz ihrer türkischen Sprache und des muslimischen Glaubens nicht als „Türken“ an.420 Man könnte bei der Gruppe der muslimischen Zuwanderer aus Bulgarien also von einem „doppelten Ausschluss“ sprechen: als Muslime von der Mehrheitsgesellschaft auf der einen und von den türkeistämmigen Muslimen, die sie nicht als „wahre“ Muslime anerkennen, auf der anderen Seite. Die Reaktion auf diese Ungleichbehandlungen ist in Marxloh eine vergleichsweise neue: Sie

414 Vgl. Abschnitt 4.8. 415 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 18 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 416 Vgl. Abschnitt 5.2. 417 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 32 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 30.08.2010. 418 Ebd. 419 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013. 420 Vgl. Abschnitt 5.2.

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besteht im Entdecken von etwas völlig Neuem, mit dem man sich sowohl von den muslimischen Türkeistämmigen abgrenzt als auch zugleich eine gesteigerte Anerkennung seitens der Marxloher Mehrheitsgesellschaft erfährt – durch die Konversion zum evangelikalen Christentum. 5.4.2 Marxlohs „neue Christen“ Ich nehme an einem Gottesdienst der bulgarientürkischen Roma teil, die sich selbst einer „Freien Christengemeinde“ zurechnen. Vorn im Raum sitzt ein Prediger in tomatenrotem Hemd und schwarzem Anzug im Alter von Mitte 30. Ein weiterer steht hinter einem Notenständer und reckt, offenbar zur Spendung des Segens für die Anwesenden, die Arme in die Höhe. Rund zehn weitere Männer und Frauen sitzen auf in U-Form gereihten Stühlen, murmeln auf Türkisch Gebete und lassen ungleichzeitig immer mal wieder ein „Amen“ verlauten. Kaum jemand guckt beim Gebet besonnen unter sich. Es ist eher ein offenes Miteinander. Problemlos kann man sich mit seinem Nachbarn unterhalten oder die Kinder an den an der Wand übereinander gestapelten Stühlen hochklettern lassen. Ich platze mit meinem Begleiter zu spät herein, doch das Gebet wird dafür kurzerhand für eine freudige Begrüßung unterbrochen. Es wird gescherzt, die Kinder tollen herum und plappern immer wieder ins Gebet hinein. Jeder betet für eine andere Person in der Runde, erfahre ich. Für was er denn für mich beten solle, fragt der Prediger. Mein Sitznachbar gibt mir zu verstehen, es sei eine Ehre, dass der Prediger selbst für mich beten werde. Ich bin überrumpelt, und weiß nicht, wie ich mich nun richtig verhalte. Der Prediger hilft mir und sagt, er würde für mich beten und dafür, dass mich die Studie, die ich über Marxloh schreiben werde, auf den Weg führen wird, den Gott für mich vorsieht. Ich nicke zustimmend, und die Anwesenden verfallen wieder ins Gebet. Abermals höre ich hier und da ein „Amen“ heraus, und zum Schluss verfallen alle gemeinsam in ein „Amen“. Der nächste Mann ist an der Reihe. Er steht auf und betet mit gen Decke gerichtetem Kopf für die kranke Bekannte seiner Sitznachbarin als er plötzlich zu schluchzen beginnt. Tränen rollen ihm über die Wangen. Ich frage meinen Begleiter, was diesen Mann denn so bewege, und er erwidert: „Na, das Gebet natürlich!“ Der betende Mann ist es auch, der mir im Anschluss erläutert, er sei in Bulgarien immer Muslim gewesen, aber als er in Marxloh das erste Mal die Bibel aufgeschlagen hätte, habe er wahre Liebe erfahren. Ich erfahre, dass alle im Raum entweder aus der Stadt Pasardschik oder aus dem Romaghetto Stolipinovo in Plovdiv stammen und bis vor wenigen Monaten noch Muslime waren. Nun, in Deutschland, hätten sie sich entschieden, den christlichen Glauben praktizieren zu wollen. Sie glauben an Jesus Christus, an dessen Wiedergeburt und an den Heiligen Geist, listen sie mir auf. Wir stim-

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men noch ein Lied auf Türkisch an, an dem vor allem die Kinder lauthals mitsingend ihren Spaß haben und verabschieden uns freudig bis zum nächsten Gottesdienst am Sonntag.421

Nun ist über die Gruppe der Roma immer wieder festgestellt worden, sie verfügten über keine Religion, sondern würden, sofern sie überhaupt religiös seien und nicht, wie es ein Mythos sage, „ihre eigene aus Käse oder Schmalz gebaute Kirche aufgegessen haben“422, sich stets der von ihrem Umfeld praktizierten Religion zuordnen: Sie seien Christen in christlichen Staaten und Muslime in muslimisch geprägten Staaten. Frage man einen Rom, welcher Religion er angehöre, so erwidere er: „Der, die du dir für mich wünschst, Herr.“423 Die evangelikale Bewegung der Roma in Europa, mit der wir es hier auch in Marxloh zu tun haben, ist vermutlich der deutlichste Beweis dafür, dass die Religion für Roma nicht per se bedeutungslos ist, sondern im Gegenteil ganz entscheidende Auswirkungen haben kann auf das soziale und ethnische Verhältnis zu sich und zu anderen. Nun ist Bulgarien selbstverständlich nicht das einzige Land, in dem die Konversion von Roma zum Christentum zu beobachten ist. Es handelt sich vielmehr, wie die Ethnologin Magdalena Slavkova schreibt, um eine „globale Tendenz unter den Roma“.424 Da wir es in Marxloh jedoch mit einer evangelikalen Gemeinde zu tun haben, deren Mitglieder ausschließlich aus Bulgarien stammen, beschränke ich mich hier nun zunächst, bevor wir uns den Marxloher Konvertiten zuwenden, auf die evangelikale Bewegung in Bulgarien, in der, wie wir sehen werden, auch die Konversion der Marxloher Roma aus Bulgarien ihre Wurzeln hat. Wie auch andernorts rechnet sich die Bevölkerung Bulgariens unterschiedlichen religiösen Richtungen zu: den Orthodoxen, Katholiken, Muslimen und Protestanten. Der Protestantismus hat in Bulgarien jedoch keine eigentliche Verankerung, und so stellen die Ethnologen Elena Marushiakova und Vesselin Popov über die dort lebenden Roma heraus: „In general, Bulgarian Gypsies are Eastern Orthodox Christians and Moslems – the two mainstream religions in Bulga-

421 Forschungstagebuch vom 24.10.2012. 422 Auf Deutsch sinngemäß zitiert nach Marushiakova, Elena; Popov, Vesselin (1999): The Relations of ethnic and confessional consciousness of Gypsies in Bulgaria. In: Facta Universitatis, 2 (1999). S. 81-89. Hier: S. 81. Online unter: http://facta.junis. ni.ac.rs/pas/pas99/pas99-09.pdf (letzter Abruf: 13.12.2014). 423 Ebd. 424 Slavkova, Magdalena (2012): Roma – Bulgariens neue Christen. In: Religion und Gesellschaft in Ost und West, 9 (2012). S. 25-27. Hier: S. 26.

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ria“.425 Im Jahr 2011 rechneten sich in Bulgarien 4.374.135 (76 %) Personen den orthodoxen Christen zu, 48.945 (0,8 %) Personen bezeichneten sich als Katholiken, 577.139 (10,1 %) als Muslime und 64.476 (1,1 %) als Protestanten.426 Gerade hinsichtlich der letztgenannten Gruppe wird vermutet, dass sich unter ihnen viele Roma befinden würden. Offizielle Zahlen darüber existieren jedoch nicht. Diese sogenannte „neo-protestantische Bewegung“, die sich in den letzten Jahren unter Roma verstärkt zu formieren scheint, stellt zwar kein neues Phänomen dar – ihr Ursprung liegt bereits im 20. Jahrhundert427 – verstärkte sich aber zu Zeiten des Sozialismus’ und vor allem in den Zeiten danach. Die meisten Frauen und Männer konvertierten nach der politischen „Wende“ 1989/90 zum evangelikalen Christentum. Es scheinen dabei vor allem drei Aspekte wesentlich zu sein, welche die geeignete Basis bilden, dass gerade Roma zum evangelikalen Glauben übertreten: erstens deren sozioökonomische Lage nach der politischen Wende, zweitens die inhaltlichen Aspekte der Gottesdienste, die offenbar zu weiten Teilen als ansprechend empfunden werden, sowie drittens die mit der Konversion verbundene Möglichkeit, sich durch die Religion als Gruppe neu zu definieren und ein neues Selbstbewusstsein zu erlangen. Betrachten wir zunächst den erstgenannten Punkt, nämlich die Veränderungen, die mit der Systemwende von 1989/90 einhergingen. Infolge des politischen Umschwungs entstanden für westliche Gemeinden neue Möglichkeiten, um auch im östlichen Europa, vornehmlich unter Romagemeinschaften, zu missionieren. Die ab dato herrschende Religionsfreiheit sowie die sozioökonomisch maroden Verhältnisse bildeten den geeigneten Nährboden für eine zügige Verbreitung des Christentums. Gerade Letzteres mag von großer Bedeutung für die bulgarischen Konvertiten gewesen sein, denn, soweit wir aus der Konversionsforschung wissen, können Krisen eine entscheidende Rolle im Prozess der Konversion spie-

425 Marushiakova; Popov: 1999, S. 81. 426 Zitiert nach Slavkova: 2012, S. 25. 427 Der Ursprung der neo-protestantischen Bewegung lässt sich zeitlich auf das 20. Jahrhundert und räumlich zunächst auf den Nordwesten Frankreichs festlegen. Der evangelikale Pastor Clement Le Gossec begann hier, einige der ungefähr seit dem 15. Jahrhundert in Westeuropa, vor allem in Frankreich lebenden Manouches zu bekehren und unter dieser Gruppe eigene Pastoren auszubilden. Auch in Bulgarien ließen sich in dieser Zeit einige Angehörige der Roma bekehren. Seit 1900 versammelten sie sich mit Pastor Petar Puntschev (auch in Anlehnung an den britischen Erweckungsprediger Rodney Smith „Zigeuner-Smith“ genannt) in ihren Häusern und hielten Predigten ab.

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len.428 So stellt etwa der US-amerikanische Psychologe Kenneth I. Pargament heraus: „People bring a reservoir of religious resources with them when they face stressful times.“429 Besonders sozial Benachteiligte, wie sie uns oft unter Angehörigen der Romaminderheiten begegnen, seien empfänglich dafür, zu konvertieren.430 Doch nicht nur sie: Im Rahmen des Berliner Projekts „Global Prayers“431 weisen die Autoren auf Parallelen zwischen völlig unterschiedlichen Gruppierungen hin, die angesichts von Krisen und Perspektivlosigkeit weltweit in verschiedenen Städten die Religion für sich neu entdecken würden. Diese Zuwendung führe unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit zu Veränderungen im alltäglichen Leben der Gruppen. Das Versprechen an die Erlösung, Asketismus, Kommunitarismus sowie Missionierung seien die gruppenübergreifenden zentralen Aspekte.432 Wir werden noch sehen, welche Parallelen sich zwischen den Marxloher Konvertiten und den „Global Prayers“ auftun, die von vielen Marxlohern mit einem gewissen Schrecken in der Stimme schlichtweg als „Sekten“ bezeichnet werden: O: Also das sind keine Mitglieder der Freien Evangelischen Kirche. Das ist eine komische, ich würde mal eher sagen – Sekte.433

428 Die ersten Impulse zu dieser Annahme gingen von dem US-amerikanischen Psychologen William James im Jahr 1901 aus. Vgl. James, William (1979): Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur. Freiburg im Breisgau. 1. Aufl. 1901. Zwei weitere Wissenschaftler, die später das Vorhandensein einer Krise als Basis zur Konversion benannt haben, waren die US-amerikanischen Soziologen John Lofland and Rodney Stark. Vgl. Lofland, John; Stark, Rodney (1965): „Becoming a World-Saver. A Theory of Conversion to a Deviant Perspective.“ In: American Sociological Review, 30 (1965). S. 862-875. Hier: S. 864. 429 Pargament, Kenneth I. (1997): The Psychology of Religion and Coping. Theory, Research and Practice. New York. S. 5. 430 Ebd., S. 143. 431 „Global Prayers“ ist ein Projekt von metroZones – Center for Urban Affairs und wurde von 2010 bis 2013 durchgeführt vom Haus der Kulturen der Welt sowie der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Im Jahr 2014 ist ein Sammelband unter dem gleichen Namen erschienen. Vgl. Becker, Jochen u.a. (Hrsg.) (2014): Global Prayers. Contemporary Manifestations of the Religious in the City. Zürich. 432 Schiffauer, Werner (2014): Global Prayers, Migration, Post-migration. In: Becker, Jochen u.a. (Hrsg.) (2014): Global Prayers. Contemporary Manifestations of the Religious in the City. Zürich. S. 49-63. Hier: S. 56. 433 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013.

398 | FRAUEN IN D UISBURG -M ARXLOH D: Es gibt ja hier diese Gemeinde, die sind unsagbar religiös, schlimm ist das. Die haben auch schon versucht, mich zu bekehren. Ganz, ganz schrecklich missionarisch.434

Aber auch der zweite oben genannte Aspekt – die Bibelinhalte und der Ablauf der Gottesdienste – scheinen auf viele Marxloher Konvertiten ansprechend zu wirken. Rein inhaltlich ist „die Befriedigung der Sehnsucht nach Wundern und die Hoffnung auf wundersame Heilung […] für viele Menschen ein Ansporn, evangelikale Kirchen zu besuchen“.435 So kommt der Glaube an Wunder auch bei der 32-jährigen Yıldız und ihrer Familie immer wieder zur Sprache. Es sei ein „wahres Wunder“436 gewesen, dass sie, die jahrelang von „bösen Geistern“437 besetzt war438, schließlich dank eines evangelikalen Priesters aus deren Bann entlassen wurde. Über ein weiteres „Wunder“ in Yıldız’ Leben berichtet mir später ihr Mann Dursun: Ich gehe mit Dursun nach Hause. Wir haben einen ähnlichen Heimweg. Ich frage ihn, ob er bislang noch nie an seinem Glauben gezweifelt habe, und er wehrt rigoros ab. Nein, ganz im Gegenteil. Dazu müsse er mir unbedingt von einem Wunder erzählen. Seine Frau hatte gerade das gemeinsame dritte Kind entbunden als sie zusammenbrach. Im Krankenhaus habe man sie aufgegeben. Noch immer ist Dursun entsetzt darüber, dass man im Krankenhaus nicht auf ihn einging und dass man doch etwas für seine Frau hätte tun müssen. In seiner Not sei er neben ihrem Krankenbett auf die Knie gefallen und habe die ganze Nacht hindurch gebetet. Wie durch ein Wunder sei seine Frau am nächsten Morgen erwacht. Dursun ist sich sicher, dass es sich um ein Wunder gehandelt habe und dass er der einzig richtigen Religion angehört.439

Der Glaube an Wunder, an Gott, Jesus und den Heiligen Geist sind die Grundpfeiler des evangelikalen Glaubens. Ihre Gebete, so wird mir von den Marxloher Konvertiten erklärt, seien auf das Diesseits gerichtet, Belohnung und Strafe richteten sich auf das Hier und Jetzt. Himmel und Hölle seien etwas Abstraktes, man konzentriere sich beim Beten eher auf das Erfüllen eines greifbaren Wunsches.440 Das erklärt, warum der Prediger mich während des Gebetstreffens nach meinem

434 Ebd. 435 Marushiakova; Popov: 1999, S. 83. 436 „Frau aus Bulgarien“, weiblich, 32 Jahre. Interview vom 07.12.2012. 437 Ebd. 438 Vgl. Abschnitt 4.8. 439 Forschungstagebuch vom 24.10.2012. 440 Vgl. Marushiakova; Popov: 1999, S. 83.

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unmittelbaren Wunsch fragt, und die Gemeinde schließlich für das gute Gelingen meiner Studie betet: Es geht in der Marxloher Gemeinde um das Diesseits und um die Erfüllung dieses einen konkreten Wunsches. Nun wissen wir seit den Arbeiten der US-amerikanischen Konversionsforscher Lofland und Stark, dass mit dem Wechsel der Religion kulturelle Veränderungen einher gehen können, die meist nicht ohne Auswirkungen auf die Wahrnehmung und Behandlung der Gruppe durch Außenstehende bleiben.441 So wird etwa auch über die „Global Prayers“ gesagt, die Konversion „goes hand in hand with a rejection, with a renunciation of, for example, criminality, drugs, alcohol and pre- and non-marital sex“442. Auch ich werde eines Tages Zeuge einer solchen, allerdings im umgekehrten Sinn veränderten Lebensweise bei den Marxloher Konvertiten, als ich an einem Gottesdienst teilnehme an dessen Ende Alkohol ausgeschenkt wird: Ich nehme an einem Gottesdienst in Marxloh teil, der auf Türkisch und zeitweilig auch auf Bulgarisch abgehalten wird. Die Kinder werden mit eingebunden. Das Abendmahl überrascht mich: Zunächst gehöre ich offenbar zu den wenigen, die überhaupt getauft sind und somit am Abendmahl teilnehmen dürfen, und es gibt echten Rotwein. Vorher hatte ich noch mit Dursuns 13-jährigem Sohn Aleko, der neben mir saß, gescherzt, es werde sicher kein echter Wein ausgeschenkt werden (ich kannte bis zu diesem Zeitpunkt nur Traubensaft). Aber der Wein ist echt. Dazu gibt es türkisches Fladenbrot.443

Das Trinken von Alkohol ist für Muslime bekannter Weise sündhaft, wohingegen Christen Alkohol in Maßen trinken dürfen. Nach der Bibel ist das Trinken von Alkohol nicht verboten, solange man nicht zum „Trunkenbold“444 wird. Während die Sozialanthropologin Paloma Gay y Blasco bei konvertierten Roma in Spanien festgestellt hat, dass diese sich von Rauschmitteln wie Drogen und Alkohol, die zuvor in hohem Maße konsumiert wurden, in Folge ihrer Bekehrung distanzieren445, beginnen in Marxloh ehemalige Muslime wie Yıldız und ihre Familie, nach ihrer Konversion zum Christentum, ihre Einstellung zum Alkoholkonsum im umgekehrten Sinne zu verändern: Sie trinken – in Maßen – Alkohol. Bei ihrem muslimischen Umfeld wird dieser Wandel jedoch meist abwer-

441 Lofland; Stark: 1965, S. 874. 442 Schiffauer: 2014, S. 57. 443 Forschungstagebuch vom 28.10.2012. 444 1. Korinther 6: 9; 10. 445 Gay y Blasco, Paloma (2000): The Politics of Evangelism: Masculinity and Religious Conversion among Gitanos. In: Romani Studies, 5, 10 (2000). S. 1-22.

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tend zur Kenntnis genommen. Erinnern wir uns: Als ich an einem Abend mit Dursun und einigen seiner Bekannten beim Bier zusammensitze, steht ein Mann mit muslimischer Gebetskappe (takke) demonstrativ auf, verabschiedet sich und verlässt den Raum – angeblich, wie man mir erklärt, weil Alkohol getrunken wurde.446 Die mit der Konversion verbundene neue Lebensweise kann also auch dazu führen, dass man sich von anderen distanziert447 oder andere zu einem auf Abstand gehen.448 Eine weitere kulturelle Veränderung vollzieht sich bei den Evangelikalen hinsichtlich ihres Umgangs mit Respektspersonen. Bei den meisten Marxloher muslimischen Roma wird den älteren männlichen Personen Wissen zugeschrieben und Respekt entgegengebracht. Diese Männer verhandeln als die Verantwortlichen in Konfliktsituationen, sie gelten als selbstkontrolliert, hilfsbereit und großzügig.449 Über jüngere Männer und über Frauen sagt man hingegen, sie hätten weniger Wissen, ihnen tritt man mit weniger Respekt entgegen. So entsteht eine Hierarchie in der Gemeinschaft, an deren Spitze die älteren Männer und an deren Ende die jungen Frauen stehen. Bei den Konvertiten treten nun die jüngeren Prediger an die Stelle der Respektpersonen und nehmen die neuen Führungspositionen ein.450 Respekt wird jetzt denjenigen entgegen gebracht, die, wie man mir erklärt, eine gute Ehe führen, ihre Frau nicht mit einer anderen betrügen, die Familie nicht schlagen, nicht lügen und nicht stehlen würden – sich also so verhielten, wie es in der Bibel stehe. Wichtig sei allein, sich bibelkonform zu verhalten und das völlig unabhängig vom Alter. Im Unterschied zu den muslimischen Zuwandereren aus Bulgarien, bei denen weiterhin die Höherstellung von älteren Männern ausgeprägt ist, beginnt sich diese Hierarchie bei den Konvertiten zunehmend aufzulösen.451 „Young and respectable“452 zu sein schließt sich bei den Marxloher Konvertiten nicht länger aus und manifestiert sich auch äußerlich in einer veränderten Kleidungsweise jüngerer Männer: Schwarze Schuhe, dunkle Kleidung, Hemden und in einigen Fällen auch Krawatten – so heben sich die Konvertiten in ihrem äußeren Erscheinungsbild von den NichtKonvertiten ab. Begrüßungen und Verabschiedungen erfolgen stets per Hand-

446 Vgl. Abschnitt 4.8.4. 447 Vgl. Lofland; Stark: 1965, S. 874. 448 Sato: 1988, S. 70. 449 Vgl. Gay y Blasco: 2000, S. 5. 450 Vgl. Slavkova: 2012; Gay y Blasco: 2000, S. 4. 451 Gay y Blasco: 2000. 452 Ebd., S. 15.

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schlag.453 Schon sehr junge Männer im Teenageralter können eine Funktion zugeteilt bekommen, die ihnen zu Ansehen und Respekt in der Gemeinde verhilft. Auch der 13-jährige Aleko hat seine Aufgabe, wie er mir stolz verkündet. Er sei dafür zuständig, den Hof „für unseren Herrn“, wie er sagt, sauber zu halten. Und tatsächlich treffe ich ihn mehrmals die Woche beim emsigen Fegen des Hofpflasters an. Dass auch jüngere Gemeindemitglieder wie Aleko mit in Tätigkeiten eingebunden werden, hat auch damit zu tun, dass bei den Marxloher NeoProtestanten den sogenannten „Laien“ in der Gemeinde eine große Bedeutung zu kommt. Es wird viel Wert darauf gelegt, dass jeder Einzelne gut mit der Bibel umgehen kann. Um Prediger zu werden, muss man keine lange Ausbildungszeit hinter sich gebracht haben.454 So findet man sich allein oder in Gruppen immer wieder zusammen und studiert die Bibel. Viele Angehörige der Marxloher Gemeinde verfügen daher über recht beachtliche Bibelkenntnisse – auch die Frauen. Der Hauptgrund der Marxloher Konvertiten aus Bulgarien, sich der evangelikalen Gemeinde anzuschließen, ist aber zuletzt mit Sicherheit auf einer anderen, höher gelagerten Ebene anzusetzen und steht mit den uns hier besonders interessierenden erfahrenen Ungleichheiten in unmittelbarem Zusammenhang. Wir wissen inzwischen aus verschiedenen Untersuchungen über die in Bulgarien lebenden Roma455, dass unter dem Einfluss der Religion eine ethnische Neubestimmung der Gruppen erfolgen kann, mit der man sich zu anderen Gruppen zugehörig fühlt, oder aber auch sich von anderen Gruppen abgrenzt und dadurch eine (neue) Gruppenidentität ausbildet. Religion kann in solchen Fällen als eine Art „distinktives Merkmal“456 fungieren. Nicht von ungefähr sind es in Marxloh Menschen wie Yıldız und ihre Familie, die sich in Bulgarien als Türken sahen und muslimischen Glaubens waren, die besonders häufig zum evangelikalen Christentum übertreten – nicht etwa wie die rumänischen Roma in Marxloh, die eine explizite ethnische Romaidentität nach außen tragen.457 Zwar identifizierte man sich mit der türkischen Minderheit Bulgariens, doch diese erkannte einen im Gegenzug nicht als Person der eigenen ethnischen Gruppe an. Diese erfahre-

453 Ebd. 454 Sato: 1988, S. 70. 455 Vgl. dazu Marushiakova; Popov: 1999; Slavkova: 2012. Vgl. außerdem in Bezug auf Rumänien: Ries, Johannes (2005): Gypsies and the People of God – The Impact of Pentecostal Mission on Roma Culture. Paper given at the conference Religious Conversion after Socialism at the MPI for Social Anthropology. Halle. 456 Marushiakova; Popov: 1999, S. 83. 457 Vgl. dazu Abschnitt 4.7.4.

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ne Ungleichheit setzt sich schließlich auch in Marxloh weiter fort: Man möchte zu den Türkeistämmigen dazugehören, wird aber nicht akzeptiert. Was hieraus entsteht, mag man als „Identitätsvakuum“458 oder auch als „Krise“ betrachten, die in irgendeiner Form bewältigt werden muss. Dass die Zuwendung zu einer Religion oder die religiöse Konversion als eine Bewältigungsstrategie aus der Krise fungieren kann, ist bereits gesagt und inzwischen auch empirisch nachgewiesen worden.459 Darin finden sich bei den Marxloher Roma aus Bulgarien erneute Parallelen zu anderen „Global Prayers“, die in den 1990er 2000er Jahren migrierten und als Exkludierte im Zuwanderungsland nicht so recht Fuß fassen konnten.460 In der Religion sehen sie nun einen Ausweg aus der Perspektivlosigkeit des Diesseits. Für die Marxloher „Global Prayers“ bietet sich besonders das evangelikale Christentum zur Konversion an, da es noch durch keine andere Gruppe in Marxloh „besetzt ist“.461 So entsteht bei den Marxloher Konvertiten durch die Religion eine neue Identität, die durch die Abgrenzung zu den in Marxloh meist katholischen „Alteingesessenen“, zu den muslimischen Türkeistämmigen, aber auch zu anderen Romagemeinschaften geprägt ist. Auf diese Weise wird etwas „Neues“ kreiert, das die oft angenommene Deckungsgleichheit von religiöser und ethnischer Zugehörigkeit (zum Beispiel „orthodoxe Bulgaren“ und „muslimische Türken“) durchkreuzt, da Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen zusammen beten.462 So kommen in Marxloh durchaus Mitglieder in der Gemeinde zum Gebet zusammen, die von sich sagen, kein Rom zu sein. Unter Bezugnahme auf Victor Turner463 lässt es sich hier also – wie im Übrigen auch bei den „Global Prayers“464 – von einer „communitas“ sprechen, also einer Gemeinschaft aus relativ individuellen Mitgliedern.465 Die Religion hat in dieser Hinsicht eine integrative Kraft, indem Personen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeiten neben- und miteinander beten. Die evangelikale

458 Marushiakova; Popov: 1999, S. 87. 459 Eine Übersicht dazu findet sich beispielsweise bei Wohlrab-Sahr, Monika (1999): Konversion zum Islam in Deutschland und den USA. Frankfurt am Main. S. 52-56. 460 Schiffauer: 2014, S. 54. 461 Ries: 2005, S. 4. 462 Marushiakova; Popov: 1999, S. 87. 463 Turner, Victor (1995): The ritual process. Structure and anti-structure. New York. 464 Schiffauer: 2014, S. 56. 465 Auf Grund dieser heterogenen Zusammensetzung scheinen einige Gemeinden dazu zu tendieren, sich weiter aufzuspalten, wenn sie eine gewisse Größe annehmen. Vgl. Ries: 2005.

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Marxloher Gemeinde scheint somit beides zu beinhalten: Exklusion gegenüber Nicht-Christen und Inklusion gegenüber der ethnischen Vielfalt ihrer Mitglieder. In Marxloh bringt die Konversion aber schließlich auch mit sich, durch andere Christen mehr Akzeptanz zu erfahren als dies bei den muslimischen Zuwanderern aus Bulgarien der Fall ist. Dazu etwa eine Sozialarbeiterin über Yıldız’ Familie: O: Diese Familie ist eine gute Familie, eine christliche Familie.466

Die „Guten“ sind hier die Christen, nicht die Muslime. Allein die Werte der Gleichheit und Brüderlichkeit, die man mit den evangelikalen Marxlohern eher zu teilen meint als mit den muslimischen, sorgen bereits für eine Anerkennung der Gruppe.467 Die Minderheit, die ehemals abgelehnt wurde, strebt in Marxloh also geradezu danach, sich über ihre Religion neu zu definieren468, Grenzen zu Türkeistämmigen zu errichten und zugleich mehr Akzeptanz seitens der etablierteren christlichen Marxloher zu erfahren. Sie streben aber vor allem auch – und das darf nicht verkannt werden – danach, Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Die evangelikale Kirche ist in Marxloh nicht zuletzt deswegen zur Konversion der Neuzuwanderer geeignet, weil deren Mitglieder die ersten waren, die sich um sie gekümmert haben, ihnen bei bürokratischen Belangen geholfen und sie unterstützt haben.469 Die Konversion zum evangelikalen Christentum bringt also auch mit sich, Hilfe zu erhalten, welche die muslimischen Neuzuwanderer so nicht erfahren (haben). 5.4.3 Fazit Wir haben gesehen, dass die Religionszugehörigkeit bei den Marxloherinnen in Bezug auf Ungleichheiten eine entscheidende Rolle spielt. Es sind vor allem Musliminnen, die immer wieder damit konfrontiert werden, „rückwärtsgewandt“

466 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013. 467 Ries, Johannes (2007): Welten Wanderer. Über die kulturelle Souveränität siebenbürgischer Zigeuner und den Einfluss des Pfingstchristentums (= Religion in der Gesellschaft, 21). Würzburg. S. 157. 468 Lanz, Stephan (2012): Pentecostal Lifestyle and the Urban Everyday Culture. In: metroZones (Hrsg.) (2012): Faith is the Place. The Urban Cultures of Global Prayers. S. 278-291. Hier: S. 288. 469 Vgl. Abschnitt 4.8.4.

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oder „konservativ“ zu sein – insbesondere die Trägerinnen des muslimischen Kopftuches. Nicht nur medial wird ihnen unterstellt, „Allahs rechtlose Töchter“470 zu sein und sich dem freiwillig hinzugeben, sondern auch im Marxloher Alltagsgeschehen begegnet man ihnen oft mit Skepsis – einige Marxloher offenbar auch mit Angst vor dem ihnen zugeschriebenen Islamismus. Die Folge dieser Islamophobie ist inzwischen auch auf EU-Ebene als ein ernst zu nehmendes Problem erkannt worden. Denn die „Angst vor dem Islam“ führt dazu, dass Muslime vorverurteilt, teilweise beschimpft oder gar physisch angegriffen werden. In Marxloh scheint es zu solchen drastischen Reaktionen gegen Muslime zwar noch nicht gekommen zu sein, aber die dargestellten negativen Äußerungen, die besonders am Unterdrückungs- und Fundamentalismusdiskurs über Musliminnen anknüpfen, zeigen sehr deutlich, wie stark auch hier die vermittelten Bilder verankert sind und wie wenig man über die tatsächliche religiöse Motivation der Marxloher Musliminnen, nämlich, wie es Meryem ausdrückt, „irgendwo gebunden zu sein“471, weiß. Die Konsequenzen bekommen vor allem die muslimischen Kopftuchträgerinnen zu spüren, die als besonders „rückständig“ eingestuft und aus einigen Bereichen des Arbeits- und Wohnungsmarktes ausgegrenzt werden. Nun könnte man vermuten, dass das Gefühl des Ausgegrenztwerdens dazu führt, dass man anderen Ausgegrenzten mit Wohlwollen entgegentritt, wie das bei den Neuzuwanderern aus Bulgarien der Fall ist, die sich auf Grund der türkischen Sprache sowie des muslimischen Glaubens Akzeptanz durch die Marxloher türkeistämmige Bevölkerung erhoffen. Doch dies ist in Marxloh nicht der Fall. Die aus Bulgarien Zugewanderten werden von den türkeistämmigen Stadtteilbewohnern unter Rückgriff auf ethnische Zuschreibungen472 weder als „Türken“ noch als „Muslime“ akzeptiert. Dieser Abweisung begegnen die Neuzuwanderer inzwischen zunehmend mit Übertritt zum evangelikalen Christentum. Die Konversion verhilft diesen „Global Prayers“ dazu, zu einer eigenständigen Identität zu finden. Denn durch das Praktizieren des evangelikalen Christentums grenzen sie sich sowohl von den muslimischen Roma aus Bulgarien als auch von den Marxloher muslimischen Türkeistämmigen sowie von den vornehmlich katholischen „Alteingesessenen“, und nicht zuletzt den rumänischen Roma ab. Dieser Wechsel der Religion ist somit für sie eine Möglichkeit, als „active

470 Der Spiegel, 47 (2004): Allahs rechtlose Töchter. Muslimische Frauen in Deutschland. Online unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2004-47.html (letzter Abruf: 30.11.2014). 471 „Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 21 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom 06.09.2010. 472 Vgl. Abschnitt 5.2.

„M EHRFACH BENACHTEILIGT “?

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agents“473 ihrem marginalen Leben als „Zigeuner“ etwas entgegenzusetzen474 und zugleich auch der Stigmatisierung, welche die Marxloher Muslime erfahren, auszuweichen: Immer wieder begegnet mir in Marxloh die Einschätzung, die christlichen Roma aus Bulgarien seien im Vergleich zu den muslimischen die „guten“.475 Trotz alledem bedeutet dies nicht, dass die Gruppe der Konvertiten in sozialer Hinsicht vollends anerkannt wird. Aber sie tragen immerhin nicht mehr ausschließlich den passiven Part der „Nichtdazugehörenden“, sondern verfügen mit ihrer Religion über ein eigenes symbolisches Kapital zur Selbstabgrenzung, das darüber hinaus seitens der Mehrheitsgesellschaft durchweg positiv bewertet wird. Die Konversion ist also eine Möglichkeit, sich innerhalb der Marxloher Gesellschaft neu zu positionieren und sich zugleich auch von anderen Gruppen, von denen man sich nicht akzeptiert fühlt, aktiv abzugrenzen.

473 Immer wieder wird in der wissenschaftlichen Literatur zum Thema „Religiöse Konversion“ der aktive Part der Konversion als Ausweg aus einer Krise betont. Der USamerikanische Psychologie- und Religionswissenschaftler Lewis Rambo fasst dies etwa in folgende Worte: „Converts are active agents in their conversion process.“ Rambo, Lewis R. (1993): Understanding Religious Conversion. London. S. 44. 474 Ries: 2005, S. 8. 475 Interview mit einer Sozialarbeiterin vom 08.01.2013.

6. Schluss

Wir haben uns in dieser Studie mit den Bewohnerinnen eines Stadtteils auseinandergesetzt, dessen Vergangenheit gekennzeichnet ist durch eine jahrzehntelange Zuwanderungsgeschichte, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts begann und bis zum heutigen Zeitpunkt anhält. Die Kohle-und Stahlindustrie Marxlohs, insbesondere die umliegenden Bergwerke, die Thyssen-Hütte und die GrilloWerke1 und die mit dieser Industrie verbundene Möglichkeit, als Arbeiter über ein geregeltes Einkommen und regelmäßige Arbeitszeiten zu verfügen, wirkte über eineinhalb Jahrhunderte als Anziehungsfaktor für verschiedene Migrantengruppen: Waren es im 19. Jahrhundert in erster Linie Zuwanderer aus den preußischen und schlesischen Gebieten, die sogenannten „Ruhrpolen“, kamen seit den Anwerbeabkommen Mitte des 20. Jahrhunderts vermehrt Personen aus Italien, Spanien und seit dem Jahr 1961 vor allem Zuwanderer aus der Türkei als „Gastarbeiter“ nach Marxloh. Sowohl die Zuwanderer als auch die Marxloher „Alteingesessenen“ gingen dabei jedoch zunächst von einem temporär begrenzten Aufenthalt aus. Die meist türkeistämmigen „Gastarbeiter“ waren in der Marxloher Industrie tätig und wohnten relativ kostengünstig in den von ihr zur Verfügung gestellten Arbeiterwohnungen. Mit dem steigenden Wirtschaftswachstum expandierte Marxloh zusehends. Bis in die 1970er Jahre hinein galt der Stadtteil als schickes Viertel, in dem auch das Bürgertum verkehrte. Allmählich begannen die türkeistämmigen Arbeiter nun auch ihre Familien nachreisen zu lassen – zunehmend zogen Frauen und Kinder aus der Türkei nach Marxloh. Mit dem Niedergang zunächst der Kohle- und schließlich der Stahlindustrie in den 1960/70er Jahren verlor Marxloh jedoch zunehmend an lokaler Kaufkraft. Wer anderweitig Arbeit fand, zog weg. Insgesamt waren unter den Abwanderern viele „alteingesessene“ Marxloher aus der Bürgerschicht, wohingegen stetig weiter Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen zuzogen: Waren es nach dem

1

Bei Grillo handelt es sich um ein Zinkhüttenwerk im Duisburger Stadtteil Hamborn.

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Anwerbestopp 1973 vor allem Frauen und Kinder aus der Türkei, die nach Marxloh kamen – waren es seit 2007 in erster Linie Familien und einzelne Frauen aus Bulgarien und Rumänien. Hinter „den“ Frauen Marxlohs, das haben wir gesehen, verbirgt sich allerdings keine Einheit, sondern eine Diversität ethnischer und sozialer Gruppierungen, die bislang bei der Untersuchung von Stadtteilen viel zu selten Beachtung gefunden hat. Ziel der Studie war es daher, besonders in dieser Hinsicht Vorsicht walten zu lassen, um zu verhindern, dass bei der Untersuchung des Alltagslebens der Frauen etwa soziale Aspekte als ethnische intendiert werden könnten. So wurde neben der ethnischen Zugehörigkeit auch der soziale, lokale und religiöse Hintergrund der Frauen in die Analyse des Stadtteilgeschehens mit einbezogen, um eine differenzierte Innensicht des Alltagslebens der Stadtteilbewohnerinnen zu erhalten. Was sich auf diese Weise offenbarte, war eine Pluralität an Lebensformen der Marxloher Frauen und ihrer Problemlagen: Zunächst begegnete uns die Gruppe der gebildeten und berufstätigen Marxloher Frauen, die „Aktiven“, die wir auch als „Anwältinnen“ betitelt hatten, da sie sich für die verschiedenen in Marxloh lebenden Zuwanderer einsetzen und diese in ihren (vermeintlichen) Interessen „verteidigen“.2 Diese Gruppe Frauen ist bewusst in den Stadtteil gezogen, zeigt sich gut vernetzt und gegenüber den Veränderungen, welche die Zuwanderung mit sich bringt, flexibel und offen. Zugleich geraten diese Frauen aber auch in Konflikt mit anderen „Aktiven“ sowie mit türkeistämmigen „Bildungsaufsteigerinnen“, die zunehmend für sich selbst sprechen wollen. Und auch die Marxloher „Zurückgezogenen“ weichen den Aktivitäten dieser Frauen durch Rückzug aus. Doch durch die Neuzuwanderer bleibt für die „Aktiven“ immer noch viel zu tun: Hier wird ihre Hilfe und ihr Engagement (noch) dankbar angenommen. Des Weiteren lernten wir die Gruppe der türkeistämmigen „Gastarbeiterinnen“ kennen, die bereits mehr als 50 Jahre im Stadtteil wohnen und sich inzwischen, da ihre Familien sowohl in Deutschland als auch in der Türkei leben, zu Pendelmigrantinnen entwickelt haben. Als weder „hier noch da“, sondern „transnational“ lässt sich deren gegenwärtige Lebenswelt wohl am ehesten beschreiben: Die nahe Familie lebt in Deutschland, Freunde und ältere Familienmitglieder in der Türkei. Die Frauen bedauern, dass das ehemals gute Verhältnis, das sie zu ihren Marxloher Nachbarn hatten, nicht mehr besteht, da diese fortgezogen sind. Insgesamt meint man zwar, positive Entwicklungen für seine Nachkommen zu sehen, die sich nicht, wie man selbst, als Analphabeten „durchschlagen“ müssen. Zugleich nimmt man jedoch auch wahr, dass sich die Möglichkei-

2

Vgl. dazu Abschnitt 4.1.

S CHLUSS

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ten für die Jüngeren auf Grund des sich gewandelten Umfeldes geändert haben. Vor allem das Gefühl der mangelnden Akzeptanz, das ihnen ein stetig währendes Fremdheitsgefühl vermittelt, wird beklagt. So sagt Türkan, eine Frau der „Gastarbeitergeneration“: T: Ich fühle mich jetzt fremder als damals. Der Blickwinkel hat sich bei den Jugendlichen geändert: „Wir werden in diesem Land nicht akzeptiert, egal, was wir tun.“ Zum Beispiel stört es mich immer noch, wenn mich jemand fragt: „Warum trägst du kein Kopftuch?“ Das reicht mir schon. Ich kann nicht mehr antworten. Ich möchte auch nicht antworten. Immer dieses Ich und Du, Ich und Du. Das stört mich. „Ach, du kannst aber gut Deutsch!“ Ich kann nicht gut Deutsch! Ich müsste viel besser deutsch sprechen seit so vielen Jahren hier. Wenn jemand sagt: „Du kannst aber gut Deutsch“, ist das ein Zeichen: „Du bist Ausländerin.“3

„Du bist Ausländerin“ – mit solchen Aussagen und mit ihnen verbundenen Ausgrenzungserscheinungen kämpfen aber nicht nur „Gastarbeiterinnen“ wie Türkan, sondern besonders auch die Marxloher Töchter der „Gastarbeiterinnen“, die motiviert und gestützt durch ihre Eltern den Bildungsaufstieg schafften, gute Abschlüsse erlangt haben – und deren Beschwerden über die erfahrenen Diskriminierungen zunehmend ungehaltener werden: Dass man trotz dessen „wie gut du die Sprache sprichst“4 oder ob du „studiert hast“5 oder gar „ob du deine Wertschätzungen aufgibst“6 dennoch keine adäquaten Berufsaussichten hat – sei es wegen der „schwarzen Haare“7, des „türkischen Namens“8 oder „dem Kopftuch“9 – mündet bei dieser Gruppe Frauen in das Gefühl der Machtlosigkeit, bei einigen sogar in blanken Ärger. Eine ganz andere Gruppe unter den Marxloher Frauen finden wir bei den türkeistämmigen „Heiratsmigrantinnen“ vor, die nach der Heirat mit einem Marxloher Mann der zweiten Generation aus der Türkei in den Stadtteil gezogen

3

„Gastarbeiterin“, weiblich, 58 Jahre, lebt seit 1974 in Deutschland. Interview vom 02.09.2010.

4

„Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 35 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom

5

Ebd.

6

Ebd.

7

Ebd.

8

Ebd.

9

„Bildungsaufsteigerin“, weiblich, 26 Jahre, in Deutschland geboren. Interview vom

16.08.2010.

30.08.2012.

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sind. Ähnlich wie die „Gastarbeiterinnen“ sind auch diese Frauen zwar meist selbst gering gebildet, aber stark motiviert, ihren Kindern Bildung zukommen zu lassen, damit diese es einmal „besser“ haben werden. Unter den „Heiratsmigrantinnen“ sind einige, die zwangsverheiratet wurden und ohne Begleitung nicht aus dem Haus gehen dürfen. Für diese Frauen bietet die Moschee Möglichkeiten, das Haus zu verlassen, andere Frauen zu treffen und auch an Kursen oder anderen Treffen teilzunehmen. Die Moschee – für die türkeistämmigen Frauen ist sie eine Anlaufstelle zum geselligen Miteinander und zugleich aber für eine ganz andere Gruppe Marxloher Frauen, die „Alteingesessenen“, ein Zeichen der „Überfremdung“. Diese Frauen, die seit Generationen im Stadtteil leben, haben den wirtschaftlichen Aufschwung des Stadtteils miterlebt, der ihnen selbst sowohl den ökonomischen als auch den sozialen Aufstieg ermöglichte. Als in den 1970er Jahren „die Krise“ einsetzte und zeitgleich auf Grund des Familiennachzugs die Zuwandererzahlen merklich anstiegen, fühlten sie sich immer unwohler und bis heute vor allem von Lokalpolitikern nicht wahrgenommen. Die Folge ist der zunehmende Rückzug aus lokalen Aktivitäten, ja sogar aus demokratischen Entscheidungen: So nimmt man etwa nicht mehr an Wahlen teil, weil man ja sowieso „eigentlich nicht mehr richtig gehört“10 wird. Dieser Rückzug ist jedoch bei einer weiteren Gruppe Marxloher Frauen, den „Zurückgezogenen“, noch ausgeprägter. Deren Leben in Armut, das zwar in Lewis’ Worten durchaus auch durch „Gemeinschaftsgeist“ und „Streben nach individueller Geltung“ geprägt ist, nimmt bei dieser Gruppe in verschiedenen Bereichen sogar exklusionsartige Tendenzen an. Diese Tendenzen treten jedoch bei der Gruppe der Neuzuwanderer aus Bulgarien und Rumänien wiederum verschärfter zutage, da sie auch von institutioneller Exklusion betroffen sind. Diese Gruppe verfügt jedoch zugleich im Unterschied zu den „Zurückgezogenen“ über ausreichende soziale Netzwerke und vor allem über den intensiven Wunsch, ihren Kindern eine bessere Zukunft zu bieten. Ähnlich der „Gastarbeiterinnen“ ehemals und der „Heiratsmigrantinnen“ gegenwärtig ist man auch in diesen beiden Gruppen stark motiviert, seinen Kindern den Bildungsaufstieg zu ermöglichen – eine, wie wir zumindest bei den türkeistämmigen „Bildungsaufsteigerinnen“ gesehen haben, durchaus wichtige und erfolgversprechende Ressource für die nachfolgenden Generationen. Diese sich uns hier in Marxloh präsentierende Diversität an Frauen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte erfährt bislang bei der Untersuchung von „Problemvierteln“ nur wenig Berücksichtigung. Dabei wissen wir aus der Ver-

10 „Alteingesessene“, weiblich, 59 Jahre. Interview vom 30.08.2010.

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gangenheit, wie bereits die Vernachlässigung der Kategorie „Geschlecht“ das Risiko geborgen hat, pauschal Ergebnisse zu liefern, die eben nicht auf Frauen und Männer in gleicher Weise zutreffen. Migration wurde als „geschlechtlos“ betrachtet, und so wurden Frauen, wie wir sie mit Selma unter den Marxloher „Gastarbeiterinnen“ kennengelernt haben, die als „Pioniermigrantinnen“ nach Deutschland kamen, in der wissenschaftlichen Literatur lange Zeit vernachlässigt11, obgleich immerhin fast ein Drittel12 der „Gastarbeiter“ weiblich und berufstätig war. Frauen galten als Begleiterinnen ihrer Männer und blieben in der Forschungsliteratur zunächst unberücksichtigt.13 Erst allmählich änderte sich diese androzentrische Sicht, und zusehends entstanden Arbeiten, die den Fokus auch auf die Lebenssituation zugewanderter Frauen14 und somit auf genderspezifische (Problem)bereiche lenkten. Dabei wurde die Migrantin jedoch zunächst als Opfer einer Dreifachdiskriminierung, nämlich als „Frau“, „Ausländerin“ und als „Gastarbeiterin“ stigmatisiert und mit Mitleid betrachtet.15 Diese Darstellung verlagerte sich schließlich von der Untersuchungsgruppe der Mütter auf die Töchter16 und rückte das „Zwischen-zwei-Kulturen“17-Stehen der Zuwanderin-

11 Eine der wenigen Studien, die Frauen im Zuge der „Gastarbeitermigration“ auch als Pioniermigrantinnen verstand, ist die 1996 erschienene Dissertation von Yurtdaş, Hatice: Pionierinnen der Arbeitsmigration in Deutschland. Lebensgeschichtliche Analysen von Frauen aus Ost-Anatolien. Hamburg. 12 Mattes: 2005, S. 187. 13 Westphal, Manuela (2007): Geschlechterrollen und Paarbeziehungen. In: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2007): Zwangsverheiratung in Deutschland (= Forschungsreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1). Baden-Baden. S. 127-144. Hier: S. 127-128. 14 Riesner, Silke (1990): Junge türkische Frauen der zweiten Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Analyse von Sozialisationsbedingungen und Lebensentwürfen anhand lebensgeschichtlich orientierter Interviews. Frankfurt am Main; Rödig, Silvia (1988): Zur Lebenswelt türkischer Frauen in der Bundesrepublik Deutschland. Fallbeispiel Düsseldorf/Bilk (= Materialien des Zentrums für regionale Entwicklungsforschung der Justus-Liebig-Universität Giessen, 13). Giessen. 15 Beauftragte der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen – Der Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Hrsg.) (1989): Hearing zur Situation ausländischer Frauen und Mädchen aus den Anwerbestaaten. Bonn. 16 Huth-Hildebrandt, Christine (2002): Das Bild von der Migrantin. Auf den Spuren eines Konstrukts. Frankfurt am Main. S. 63.

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nen der sogenannten „zweiten Generation“ in den Fokus einiger Untersuchungen. Bis heute wird in Wissenschaftskreisen versucht, diese Bilder, die auf Defizittheorien basierten, zu entzerren. Dieses Bemühen gipfelte schließlich in einer konträren, ebenfalls nicht ganz unumstrittenen Sicht, welche die Migrantinnen als „Pioniere der Moderne“18 betrachtete, die nicht zwischen, sondern „auf allen Stühlen“19 säßen. Die Ergebnisse hier aus dem Marxloher Kontext zeigen jedoch, dass die adäquate Beschreibung der Lebenswelten von (zugewanderten) Frauen wohl keiner der beschriebenen Richtungen entspricht. Die Zuwanderinnen sitzen nicht alle entweder „zwischen“ oder „auf allen Stühlen“, sind weder per se „unterdrückt“ noch allesamt „Pioniere der Moderne“. Es herrscht unter ihnen vielmehr eine Pluralität an Lebensformen20 vor, die jedoch in der Stadtforschung, auch wenn sie vorgibt intersektional zu arbeiten21, bis heute nur wenig Berücksichtigung findet. Hier wird noch immer pauschal zwischen „Frauen mit Migrationshintergrund“ und „Frauen ohne Migrationshintergrund“ unterschieden – unberührt davon, dass wir es mit einer ethnischen, religiösen und sozialen Pluralität unter ihnen zu tun haben, die mehr Beachtung finden sollte, um auch entstandenen „Benachteiligungen“ differenzierter begegnen zu können. Verfolgen wir dies so weiter, so sollten wir auch der Produktion von Ungleichheiten in „Problemvierteln“22 wie Marxloh – nicht nur aber auch in Bezug auf Frauen – mit neuen Fragen23 begegnen:

17 Mansfeld, Cornelia (1979): Zwischen zwei Kulturen. In: epd-Entwicklungspolitik 20/21 (1979). S. 8-10. 18 Gutierrez-Rodriguez, Encarnación (1999): Intellektuelle Migrantinnen. Subjektivitäten im Zeitalter von Globalisierung. Eine postkoloniale dekonstruktive Analyse von Biographien im Spannungsverhältnis von Ethnisierung und Vergeschlechtlichung. Opladen. S. 29. 19 Otyakmaz, Berrin Özlem (1995): Auf allen Stühlen. Zum Selbstverständnis junger türkischer Migrantinnen in Deutschland. Köln. 20 Vgl. beispielsweise: Ofner, Ulrike Selma (2003): Akademikerinnen türkischer Herkunft. Narrative Interviews mit Töchtern aus zugewanderten Familien. Berlin. 21 Scambor; Scambor: 2007. 22 Auch die Stadt Duisburg weist in ihrer Integrationsumfrage vor allem die Marxloher Frauen als „mehrfach benachteiligt“ aus. Stadt Duisburg u.a.: 2009, S. 43. 23 „Neu“ bezieht sich auf die immer wieder gestellte stadtsoziologische Frage, ob „Diffusion“ oder „Konzentration“ in „segregierten Stadtteilen“ anzustreben sei, die mir wenig weiterführend scheint. Vgl. beispielsweise Häußermann: 1998.

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Eine der ersten Frage müsste dann lauten: Stellt die Lokalität, also das Leben in sogenannten „sozialräumlich segregierten Stadtteilen“24, tatsächlich ein Problem für die dort lebende Bevölkerung dar, und wenn ja, für wen konkret und aus welchen Gründen? In Marxloh lässt sich feststellen, dass die meisten Frauen gerne im Stadtteil leben: Sei es, weil ihre Familien dort wohnen, wie bei den türkeistämmigen „Gastarbeiterinnen“, „Heiratsmigrantinnen“ und „Bildungsaufsteigerinnen“ oder weil sie meinen, dort etwas verändern zu können und das „Bunte“25 und „Gemischte“26 gesucht und in Marxloh gefunden haben, wie die „Aktiven“. Andere, wie die neuzugewanderten „Frauen aus Bulgarien“ und „Romafrauen aus Rumänien“, sind nach Marxloh gekommen, weil sie sich dort neue Perspektiven für sich und ihre Kinder erhoffen. Für alle diese Gruppen ist jedoch weniger ihr Wohnort Marxloh problematisch als die von außen erzeugten Fremdbilder Marxlohs als „Problemviertel“, die sie immer wieder damit konfrontieren, Stellung zu beziehen. Dabei scheinen es gerade diese Bilder zu sein, die die Marxloher Frauen davon abhalten, sich an bestimmten Plätzen zu bestimmten Zeiten im Stadtteil aufzuhalten, da es gefährlich sein könnte. So wird das Bewegungsverhalten der Frauen eingeschränkt und erzeugt zu bestimmten abendlichen Uhrzeiten männlich dominierte Bereiche Marxlohs: Bei Dunkelheit sieht man Frauen selten alleine auf den Straßen Marxlohs und schon gar nicht in Parks. Es sind also gerade die Bilder, die Marxloh als „Problemviertel“ darstellen, die dazu führen, dass man überlegt, ob an ihnen nicht „doch etwas dran ist“ und vorsichtig wird. Ein weiterer immer wieder als schwierig eingeschätzter Aspekt ist der „hohe Zuwandereranteil“ in Stadtteilen wie Marxloh. Aber welches Problem wird damit genau benannt? Marxloh ist das beste Beispiel dafür, dass das Zusammenleben verschiedener ethnischer, religiöser und sozialer Gruppen funktionieren kann – solange ausreichend Ressourcen vorhanden sind. Werden jedoch, wie in Marxloh seit den 1970er Jahren, Ressourcen allmählich knapp und fühlen sich Gruppen durch andere Gruppen entmachtet, entsteht ein komplexes hierarchisches Gebilde, das wir mit Elias’ und Scotsons Etablierten-Außenseiter-Modell beschrieben haben. Problematisch scheint hier vor allem die fortwährende Abgrenzung zu den „Neuen“ zu sein, denen die etablierteren Gruppen mit deutlich

24 Vgl. beispielsweise Häußermann, Hartmut (2008): Wohnen und Quartier. Ursachen sozialräumlicher

Segregation.

In:

Huster,

Ernst-Ulrich;

Boeckh,

Jürgen;

Mogge-Grotjahn, Hildegard (2008): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. Wiesbaden. S. 335-349. 25 „Aktive“, weiblich, 48 Jahre. Interview vom 27.08.2012. 26 Ebd.

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ablehnenden Ressentiments begegnen. Es sind aber ausschließlich immer „die Neuen“ die ein Problem darstellen, und diese sind nur so lange „neu“, bis weitere „Neue“ nachrücken. Das Gebilde ist also alles andere als statisch und verfestigt, sondern in steter Bewegung. Darin könnte man durchaus auch eine Chance sehen, dass sich Miteinander gestalten lässt. Eine andere Schwierigkeit ist das geballte Auftreten von Armut in Stadtteilen wie Marxloh. Auch hier sehen wir jedoch, dass der tatsächliche Umgang mit Armut durch die Betroffenen ein anderer sein kann als er aus der Außensicht angedacht wird. Selbstverständlich führt die Einschränkung finanzieller Mittel auch in Marxloh in den problematischen Kreislauf, auch aus anderen Bereichen ausgeschlossen zu werden, und die hohe Gewaltbetroffenheit gerade unter Frauen ist unbestritten bedenklich und erfordert wahrgenommen zu werden. Dennoch: Es existiert durchaus ein gemeinschaftliches Teilen dessen, was man besitzt. Und auch wenn man selbst über nur wenig verfügt, ist man „wer“ und möchte auch entsprechend und nicht als „Hartz IV-Empfänger“ oder gar als „Armer“ behandelt werden. Geschieht dies dennoch, so war bei den „zurückgezogenen“ Frauen gut zu beobachten, zieht man sich noch weiter aus dem sozialen Geschehen zurück. Sollten wir dann angesichts dieser Pluralität an Lebensformen der Bewohnerinnen Marxlohs und ihrer verschiedenen eigentlich weiterhin noch allgemein über Schwierigkeiten im Zusammenhang mit „Problemvierteln“ sprechen? Die Ergebnisse aus dem Marxloher Kontext zeigen deutlich: Ja, wir sollten weiter darüber sprechen – aber wir sollten dies in differenzierterer Weise tun als dies bislang geschehen ist und unbedingt die Vielfalt an Lebensformen, wie sie sich uns in unseren jeweiligen Settings präsentieren, in unsere Studien mit einbeziehen.

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L ITERATUR -

UND

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Statistisches Bundesamt (2012): Pressemitteilung Nr. 397 vom 15.11.2012: Zuwanderung nach Deutschland steigt im 1. Halbjahr 2012 um 15 Prozent. Online unter: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilung en/2012/11/PD12_397_12711.html (letzter Abruf: 13.12.2014). Strauß, Daniel (Hrsg.) (2013): Gutachten Antiziganismus. Zum Stand der Forschung und der Gegenstrategien. Mannheim; Marburg. Online unter: https:// mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Gutachten_Antiziganismus_ 2013.pdf (letzter Abruf: 02.05.2015). Stumpen, Sarina (2010): Grenzen überschreitendes Altern?! Altern in Pendelmigration bei Türkeistämmigen. Präsentation vom 24.06.2010. Online unter: http://www.sektion-altern.de/shareddocs/presentations/strumpen_06_ 2010.pdf (letzter Abruf: 18.07.2014). Teichmann, Michael (2002): Traditionelle Sozialstruktur. Online unter: http:// romani.uni-graz.at/rombase/cd/data/ethn/social/data/trad.de.pdf (letzter Abruf: 20.06.2014.) United Nations Office on Drugs and Crime (2012): Global Report on Trafficking Persons. Wien. Online unter: http://www.unodc.org/documents/ data-and-analysis/glotip/Trafficking_in_Persons_2012_web.pdf (letzter Abruf: 24.06.2014). von Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich (2001): Projekt Zuwanderung und Integration. Türken in Deutschland. Einstellungen zu Staat und Gesellschaft. Arbeitspapier 53. Hrsgg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sankt Augustin. Online unter: http://www.kas.de/wf/doc/kas_12-544-1-30.pdf (letzter Abruf: 02.06.2014). Wilk, Lieselotte; Knall, Isabella; Riedler-Singer, Renate u.a. (2001): Rechte und Pflichten im Alltag. In: Bayrisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen (Hrsg.) (2001): Das Familienhandbuch des Staatsinstituts für Frühpädagogik. Online unter: http://www.familienhand buch.de/teil-und-stieffamilien/stieffamilien/rechte-und-pflichten-im-alltag (letzter Abruf: 22.07.2014). Wippermann, Carsten (2007): Sinus-Studie. Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Zentrale Ergebnisse einer qualitativen sozialwissenschaftlichen Untersuchung. Online unter: http://www.sinus-insti tut.de/uploads/tx_mpdownloadcenter/Zentrale_Ergebnisse_16102007.pdf (letzter Abruf: 10.05.2015).

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7.2.2 Zeitungsartikel Balke, Christian (2012a): Bulgaren und Rumänen liefern sich Massenschlägerei in Duisburg-Marxloh. In: Westfälisch-Allgemeine-Zeitung online vom 23.03.2012. Online unter: http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/nord/ bulgaren-und-rumaenen-liefern-sich-massenschlaegerei-in-duisburg-marx loh-id6489676.html (letzter Abruf: 24.06.2014). Balke, Christian (2012b): Hilfe für Roma im verdreckten Rattenhaus in Duisburg-Marxloh. In: Westfälisch-Allgemeine Zeitung online vom 18.07.2012. Online unter: http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/nord/hilfe-fuer-ro ma-im-verdreckten-rattenhaus-in-duisburg-marxloh-id6890716.html (letzter Abruf: 20.06.2014). Brück, Claudia (2014): Auf Streife mit den Mülldetektiven. In: lokalkompass vom 11.02.2014. Online unter: http://www.lokalkompass.de/duisburg/leute/ auf-streife-mit-den-muelldetektiven-d399585.html (letzter Abruf: 12.09. 2014). Der Spiegel, 47 (2004): Allahs rechtlose Töchter. Muslimische Frauen in Deutschland. Online unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-200447.html (letzter Abruf: 30.11.2014). Dimitrov, Vesselin; Ertel, Manfred; Heyer, Julia Amalia; Puhl, Jan (2013): Blond, blauäugig, entführt? In: Spiegel online vom 28.10.2013. Online unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-118184417.html (letzter Abruf: 21.08. 2014). Endell, Stefan (2012): Duisburg streicht Gesundheits-Checks für Migrantenkinder. In: Westfälisch-Allgemeine Zeitung online vom 29.02.2012. Online unter: http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/duisburg-streicht-gesundheitschecks-fuer-migrantenkinder-id6412169.html (letzter Abruf: 20.06.2014). Herberhold, Gregor; Mohrs, Willi (2008): Bruckhausen atmet auf. In: Westfälisch-Allgemeine Zeitung online vom 12.08.2008. Online unter: http:// www.derwesten.de/staedte/duisburg/Bruckhausen-atmet-auf-id1414739.html (letzter Abruf: 15.12.2014). Klucken, Peter (2009): Moschee – Krach in Marxloh. In: Rheinische Post online vom 17.09.2009. Online unter: http://www.rp-online.de/nrw/staedte/duis burg/moschee-krach-in-marxloh-aid-1.1045607 (letzter Abruf: 15.12.2014). Kupczyk, Maria (2011): „Ruşine – Ich schäme mich“. Sexuelle Belästigungen für Roma-Frauen in der Düsseldorfer Innenstadt In: NRhZ-Online – Neue Rheinische Zeitung online vom 05.10.2011. Online unter: http://www. nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=16994 (letzter Abruf: 20.06.2014).

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Mappes-Niediek, Norbert (2011): Hass auf Roma. In: Frankfurter Rundschau online vom 30.09.2012. Online unter: http://www.fr-online.de/politik/bul garien-hass-auf-roma-,1472596,10919666.html (letzter Abruf: 15.12.2014). Michel, Mike (2011): Gekommen, um zu bleiben. In: Rheinische Post online vom 29.11.2011. Online unter: http://www.rp-online.de/niederrheinnord/duisburg/nachrichten/gekommen-um-zu-bleiben-1.2620623 (letzter Abruf: 15.12.2014). N.N. (2005): Fremde im Revier. In: Die Zeit online vom 24.11.2005. Online unter: http://www.zeit.de/2005/48/Marxloh (letzter Abruf: 12.09.2014). N.N. (2010): Umstrittene Ausweisung. Frankreich fliegt mehr als hundert Roma aus. In: Spiegel online vom 28.08.2010. Online unter: http://www.spiegel.de/ politik/ausland/umstrittene-ausweisung-frankreich-fliegt-mehr-als-hundertroma-aus-a-713004.html (letzter Abruf: 15.12.2014). N.N. (2011): Bulgarien. Massenfestnahmen nach Roma-Hatz. In: Spiegel online vom 28.09.2011. Online unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/bul garien-massenfestnahmen-nach-roma-hatz-a-788920.html (letzter Abruf: 15. 12.2014). N.N. (2012a): Ärger über Verzögerung bei Einschulungsuntersuchung in Duisburg. In: Westfälisch-Allgemeine Zeitung online vom 15.03.2012. Online unter: http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/aerger-ueber-verzoegerungbei-einschulungsuntersuchung-in-duisburg-id6459418.html (letzter Abruf: 20.06.2014). N.N. (2012b): Ein Stadtviertel, kurz platt gemacht. In: Die Zeit online vom 27.09.2012. Online unter: http://www.zeit.de/politik/ausland/2012-09/fsroma-bulgarien-2 (letzter Abruf: 15.12.2014). N.N. (2014a): EuGH-Urteil. Hunderten Rumänen und Bulgaren wird Hartz IV gekürzt. In: Spiegel online vom 14.11.2014. Online unter: http://www. spiegel.de/wirtschaft/soziales/hartz-iv-hunderten-rumaenen-und-bulgarenwird-sozialhilfe-gekuerzt-a-1002918.html (letzter Abruf: 15.11.2014). N.N. (2014b): 4000 weitere Rumänen und Bulgaren in Duisburg. In: Westfälisch-Allgemeine Zeitung online vom 12.01.2014. Online unter: http://www. derwesten.de/staedte/duisburg/west/4000-weitere-rumaenen-und-bulgarenin-duisburg-id8862381.html (letzter Abruf: 23.06.2014). Stoldt, Till-R. (2010): Polizei warnt vor Chaos in Migrantenvierteln. In: Die Welt online vom 10.04.2010. Online unter: http://www.welt.de/politik/ deutschland/article7122561/Polizei-warnt-vor-Chaos-in-Migrantenvierteln. html (letzter Abruf: 14.11.2010). Streichan, Anja (2010): Moschee-Begegnungsstätte Marxloh. Neuer Vorstand will klare Verhältnisse. In: Rheinische Post online vom 25.05.2010. Online

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unter: http://www.rp-online.de/nrw/staedte/duisburg/neuer-vorstand-will-kla re-verhaeltnisse-aid-1.1078059 (letzter Abruf: 15.12.2014). 7.2.3 Fernsehdokumentationen, Filme und Radiobeiträge Böcker, Simone (2009): „Exodus – die Vertreibung der bulgarischen Türken vor 20 Jahren.“ Radiobeitrag, SWR, 2009. Das Manuskript zur Sendung online unter: http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/-/id=5627266/ property=download/nid=660374/16wnssw/swr2-wissen-20091229.pdf (letzter Abruf: 15.12.2014). Kennebeck Sonia; Soliman Tina (2011): „Liberales Prostitutionsgesetz. Wie Deutschland zum Puff Europas wurde.“ Fernsehdokumentation, ARD, 2011. Online unter: http://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2011/prostitution129. html (letzter Abruf: 15.12.2014). N.N. (2007): „Multikulti in Duisburg. Friseursalon für türkische Bräute.“ Fernsehdokumentation, Vox, 2007. Online unter: http://www.spiegel.de/video/ video-20753.html (letzter Abruf: 15.12.2014). N.N. (2010): „Duisburg-Marxloh. Ghetto oder Integration?“ Fernsehdokumentation, Vox, 2010. Online unter: http://www.spiegel.tv/filme/duisburg-marx loh/ (letzter Abruf: 15.12.2014). N.N. (2011): „Ghetto Bucharest Sector 5 Ferentari.“ Online unter: http://www. youtube.com/watch?v=xUHK30q553k (letzter Abruf: 15.12.2014). Sanders, Helma; Ören, Aras (1975): Shirins Hochzeit. Fernsehdokumentation. Online unter: https://www.youtube.com/watch?v=_UC7Hx8krCE (letzter Abruf: 03.01.2015). Trottnow, Barbara (2006): „Emine aus Incesu. Die Geschichte einer Migration. Aus der Fremde – In die Fremde“. Fernsehdokumentation, 3sat, 2006. Online unter: http://www.bt-medienproduktion.de/ (letzter Abruf: 15.12.2014). Peseckas, Hermann; Kraus, Andreas (2009): „‚Im Ghetto.‘ Die Roma von Stolipinowo.“ Fernsehdokumentation, WDR, 2010. Online unter: http://www. studio-west.net/im-ghetto-die-roma-von-stolipinowo (letzter Abruf: 15.12. 2014). Remmel, Edeltraud; Mogul, Esat (2012): „Der Weg der Wanderhuren. Zwischen Dortmund und Stolipinovo.“ Fernsehdokumentation, WDR, 2012. Online unter: http://www.wdr.de/mediathek/html/regional/2012/02/07/wdr-weltweit. xml (letzter Abruf: 15.12.2014).

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7.2.4 Webseiten Website der Bundesagentur für Arbeit, Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZVA) mit Informationen zu Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten in Bulgarien. Online unter: http://www.ba-auslandsvermittlung.de/lang_de/nn_6848/ DE/LaenderEU/Bulgarien/Arbeiten/arbeiten-knoten.html__nnn=true#doc68 52bodyText9 (letzter Abruf: 15.12.2014). Website der Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Eintrag „Sozialismus“. Online unter: http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexi kon/18235/sozialismus (letzter Abruf: 11.07.2014). Website der deutschen Bundesregierung mit Informationen zur Einbürgerung. Online unter: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/StatischeSeiten/ Breg/IB/Einbuergerung/gp-optionsmodell.html (letzter Abruf: 03.06.2014). Website der Entwicklungsgesellschaft Duisburg. Online unter: http://www.egdu.de/ (letzter Abruf: 03.10.2014). Website der Europäischen Union mit Informationen zur Europäischen Krankenversicherungskarte. Online unter: http://europa.eu/legislation_summaries/in ternal_market/living_and_working_in_the_internal_market/free_movement_ of_workers/c10123_de.htm (letzter Abruf: 13.01.2013, danach leider nicht mehr verfügbar). Website der Initiative „Made in Marxloh“. Online unter: http://made inmarxloh.com/blog/2010/07/16/die-strasen-voller-braute/ (letzter Abruf: 30.09.2014). Website der Stadt Duisburg mit Informationen zum Arbeitskreis EU-Neubürger. Online unter: http://www.duisburg.de/micro/eg-du/news/N_Hochf_Arbeits kreis_Neu_EU_Buerger.php (letzter Abruf: 23.06.2014). Website der Stadt Duisburg mit Informationen zum „Grüngürtel DuisburgNord“. Online unter: http://www.duisburg.de/micro/eg-du/projekte_gruen guertel/gruenguertel_du_nord.php (letzter Abruf: 02.05.2014). Website der Stadt Duisburg mit Informationen zum Handlungskonzept der Stadt Duisburg zum Umgang mit der Zuwanderung von Menschen aus SüdostEuropa vom 28.10.2011. Online unter: https://www.duisburg.de/ratsinforma tionssystem/bi/vo0050.php?__kvonr=20058906 (letzter Abruf: 13.08.2012). Website der Tafel. Online unter: http://www.erkrather-tafel.de (letzter Abruf: 19.06.2014). Website der Technischen Universität (TU) Berlin mit Informationen zum Begriff „HOAX“: http://hoax-info.tubit.tu-berlin.de/hoax/showtxt.shtml?kidnapping (letzter Abruf: 21.08.2014).

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Website der Worldbank mit einem Onlineartikel zum Thema „Poverty“. Online unter: http://www.worldbank.org/depweb/beyond/beyondbw/begbw_06.pdf (letzter Abruf: 27.05.2014). Website des Aktionsbündnisses gegen Frauenhandel. Online unter: http://www. gegen-frauenhandel.de/ueber-das-aktionsbuendnis/ueber-frauenhandel (letzter Abruf: 07.04.2013). Website des Deutschen Instituts für Urbanistik mit Informationen zum Thema „Gentrifizierung“. Online unter: http://www.difu.de/publikationen/difu-be richte-42011/was-ist-eigentlich-gentrifizierung.html (letzter Abruf: 29.09. 2014). Website des Ethnologen Rüdiger Benninghaus mit Informationen zum Thema „Antiziganismus“. Online unter: http://www.rbenninghaus.de/zigeuner-be griff.htm (letzter Abruf: 15.12.2014). Website des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. On line unter: http://www.uni-bielefeld.de/Prozent28deProzent29/ikg/projekte/ GMF/Langzeitarbeitslosen.html (letzer Abruf: 23.07.2014). Website des Medienbunkers Marxloh. Online unter: http://www.madeinmarx loh.com/ (letzter Abruf: 15.07.2014). Website des Städtebauförderungsprogramms „Soziale Stadt“. Online unter: http://www.staedtebaufoerderung.info/StBauF/DE/Programm/SozialeStadt/ soziale_stadt_node.html (letzter Abruf: 03.10.2014). Website des Vereins „Gemeinsam gegen Kälte Duisburg e.V.“. Online unter: http://www.gemeinsam-gegen-kaelte-duisburg.de/pdf/JahresberichtProzent 202010.pdf (letzter Abruf: 23.05.2014). Website des World Vision Instituts für Forschung und Innovation über das Thema „Armut“: http://www.armut.de/definition-von-armut.php (letzter Abruf: 20.05.2014). Website „Migration und Bevölkerung“, betrieben durch das Netzwerk Migration in Europa e.V. und die Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Eintrag „Länderprofil Rumänien.“ Online unter: http://www.migration-info. de/artikel/2007-09-26/laenderprofil-rumaenien (letzter Abruf: 03.06.2014). Website mit dem Urteil des Landessozialgerichtes Nordrhein-Westfalen vom 13.10.2013. Online unter: http://www.lsg.nrw.de/behoerde/presse/archiv/ Jahr_2013/Hartz-IV_-_Anspruch_fuer_Migranten/index.php (letzter Abruf: 19.06.2014). Website mit Informationen zum Gewaltschutzgesetz. Online unter: http://www. gewaltschutz.info/ (letzter Abruf: 28.08.2015). Website mit Informationen zum Schwelgernpark in Duisburg-Marxloh. Online unter: http://www.schwelgernpark.de (letzter Abruf: 16.05.2014).

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Website mit Informationen zur allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom 26. Oktober 2009. Online unter: http://www.ver waltungsvorschriften-im-internet.de/bsvwvbund_26102009_MI19371156 524.htm (letzter Abruf: 20.06.2014). Website zum Thema „Zwangsverheiratung in der Schweiz“: http://www. zwangsheirat.ch/ (letzter Abruf: 04.06.2014).

Kultur und soziale Praxis Dieter Haller Tanger Der Hafen, die Geister und die Lust. Eine Ethnographie März 2016, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3338-2

Marion Schulze Hardcore & Gender Soziologische Einblicke in eine globale Subkultur August 2015, 412 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2732-9

Marcus Andreas Vom neuen guten Leben Ethnographie eines Ökodorfes Juni 2015, 306 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2828-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 Mai 2015, 332 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2364-2

Nadja Thoma, Magdalena Knappik (Hg.) Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisiertes Verhältnis April 2015, 352 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2707-7

Martina Kleinert Weltumsegler Ethnographie eines mobilen Lebensstils zwischen Abenteuer, Ausstieg und Auswanderung Januar 2015, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2882-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de