Wortbildungswandel: Eine diachrone Studie zu deutschen Nominalisierungsmustern 9783110471809, 9783110469943

In recent years, changes in individual word-formation patterns as well as in the broader system of German word formation

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Wortbildungswandel: Eine diachrone Studie zu deutschen Nominalisierungsmustern
 9783110471809, 9783110469943

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
2. Theorierahmen
2.1 Kategorisierung
2.1.1 Vom „NHB-Modell“ zur Prototypentheorie
2.1.2 Volks- und Expertenkategorien
2.1.3 Exemplarbasierte Ansätze
2.1.4 Wissensbasierte Ansätze
2.1.5 Ein integrierter Ansatz
2.1.6 Wortartenkategorisierung
2.1.6.1 Kognitiv-linguistischer Ansatz
2.1.6.2 Konstruktionsgrammatischer Ansatz
2.1.6.3 Fazit
2.2 Konzeptualisierung
2.3 Wortbildungswandel als Konstruktionswandel
2.3.1 Konstruktionen in der Wortbildung - Wortbildung in der Konstruktionsgrammatik
2.3.2 Wortbildungswandel aus konstruktionsgrammatischer Perspektive
2.4 Wortbildungswandel und Historische Kognitive Linguistik
3. Forschungsüberblick
3.1 Etymologie und Entwicklung des Suffixes -ung
3.2 Die ung-Nominalisierung im Spiegel der Forschung
3.2.1 Semantik und Subkategorisierung: RÖMER (1987a, 1988)
3.2.2 Lexikalistischer vs. transformationalistischer Ansatz: RÖMER (1987b)
3.2.3 Argumentstruktur und Sortensemantik: EHRICH/RAPP (2000); EHRICH (2002)
3.2.4 Ereignisstruktur und Bildungsbeschränkungen: SHIN (2001)
3.2.5 Syntaktische Transposition und Erweiterung des Lexikons: KNOBLOCH (2002)
3.2.6 Bi-eventive Basisverben: ROSSDEUTSCHER (2010); ROSSDEUTSCHER/KAMP (2010)
3.2.7 Produktivitätsveränderungen: DEMSKE (1999, 2000, 2002)
3.3 Infinitivnominalisierung
3.3.1 Sind Nominalisierte Infinitive lexikalisierungsresistent? BARZ (1998)
3.3.2 NIs und Argumentvererbung: BLUME (2004)
3.4 Psycho- und neorolinguistische Ansätze
3.4.1 Lexikalische Entscheidungstests
3.4.2 Ereigniskorrelierte Potentiale: JANSSEN et al. (2006)
3.5 Fazit und Ausblick
4. Korpusanalyse
4.1 Vorstellung der Korpora
4.1.1 Mainzer Frühneuhochdeutschkorpus
4.1.2 Das GerManC-Korpus
4.2 Von der Theorie zur Methode: Frequenz, Produktivität, Interaktionsmuster
4.2.1 Theoretische Vorüberlegungen zum Produktivitätsbegriff
4.2.1.1 Wortbildungsregeln vs. konstruktionale Schemata
4.2.1.2 Usuelle und mögliche Wörter
4.2.1.3 Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit von Neubildungen
4.2.1.4 Produktivität aus synchroner und diachroner Perspektive
4.2.1.5 Produktivität und Wortbildungsrestriktionen
4.2.1.6 Möglichkeiten und Grenzen der quantitativen Operationalisierung
4.2.1.7 Produktivität und Schemasalienz
4.2.1.8 Zwischenfazit zum Produktivitätsbegriff aus theoretischer Perspektive
4.2.2 Produktivität: Quantitative Operationalisierung
4.2.2.1 Vorentscheidungen bei der Korpusannotation
4.2.2.2 Tokenfrequenz
4.2.2.3 Realisierte Produktivität
4.2.2.4 Potentielle Produktivität
4.2.2.5 Kendall’s Tau als Signifikanztest für diachrone Frequenzentwicklung
4.2.3 Kollostruktionsanalyse: Quantitative Analyse von Interaktionsphänomenen
4.2.3.1 Einfache Kollexemanalyse
4.2.3.2 Kovariierende Kollexemanalyse
4.3 Auswertung der Korpora
4.3.1 Mainzer Frühneuhochdeutschkorpus und GerManC-Korpus
4.3.1.1 Tokenfrequenz
4.3.1.2 Realisierte Produktivität
4.3.1.3 Potentielle Produktivität
4.3.2 Diskussion
4.4 Interaktionsmuster
4.4.1 Nominalisierungen als präpositionale Komplemente
4.4.1.1 Operationalisierung bei der Korpusannotation
4.4.1.2 Quantitative Auswertung
4.4.1.3 Einfache Kollexemanalyse
4.4.1.4 Kovariierende Kollexemanalyse
4.4.1.5 Exkurs: Die [PREP DET N]-Konstruktion
4.4.2 Gebrauch von Determinatoren
4.4.3 Adjektivische Modifikation
4.4.4 Genitivergänzungen
4.4.5 Pluralisierung
4.4.6 Exkurs: „Nominalität“ und satzinterne Großschreibung
4.4.7 Komplexe Wörter und ihre Basen: Morphologische Mehrfelderanalyse
4.4.8 Konkurrenzmuster und soziokulturelle Faktoren
5. Wortbildungswandel und Kognition: Rückblick und Ausblick
5.1 Rückblick: Nominalisierungsmuster, Kategorisierung und Kognition
5.2 Ausblick: Desiderata und offene Fragen
Literaturverzeichnis
Quellen und Korpora
Wörterbücher und Nachschlagewerke
Forschungsliteratur
Index

Citation preview

Stefan Hartmann Wortbildungswandel

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Christa Dürscheid, Andreas Gardt, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger

Band 125

Stefan Hartmann

Wortbildungswandel Eine diachrone Studie zu deutschen Nominalisierungsmustern

ISBN 978-3-11-046994-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047180-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047000-0 ISSN 1861-5651 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Wie die Sprache, so ist auch das Leben in stetem Wandel begriffen. So fällt die Liste der Danksagungen, die ich der vorliegenden Arbeit voranstellen möchte, ganz anders und vor allem deutlich länger aus, als ich es mir vor fünf Jahren, als ich dieses Projekt in Angriff nahm, hätte ausmalen können. Damals wie heute gilt mein besonderer Dank zunächst Damaris Nübling, die diese Untersuchung betreut und ihre Entstehung mit großem Interesse begleitet hat. Bereits im Studium hat sie meine Begeisterung für die Sprachwissenschaft geweckt und dabei stets das Augenmerk auf größere Zusammenhänge und auf Erklärungsansätze gerichtet. Ohne ihre Unterstützung wäre diese Untersuchung ebenso wenig zustande gekommen wie das Mainzer Frühneuhochdeutschkorpus, auf das sich wesentliche Teile der Arbeit stützen. In Zusammenhang mit diesem Korpus danke ich besonders Kristin Kopf, die das Mainzer Frühneuhochdeutschkorpus federführend erstellt hat und mir die Möglichkeit gab, an der Entstehung des Korpus mitzuwirken und es in der jeweils vorliegenden vorläufigen Version lange vor seiner Veröffentlichung zu nutzen. Dank gebührt auch den an der Entstehung des Korpus beteiligten Hilfskräften, die mit der Transliteration der frühneuhochdeutschen Drucke eine nicht zu unterschätzende Fleißarbeit geleistet haben. An der Johannes Gutenberg-Universität Mainz habe ich außerdem immer wieder wertvolle Anregungen aus der sogenannten „Disselrunde“ erhalten, einem Promotionskolloquium, dem unter anderem Antje Dammel, Mirjam Schmuck, Mehmet Aydın, Luise Kempf, Jessica Nowak, Simone Peschke und Anna-Marleen Pessara angehörten. Ebenso hilfreich waren die Anregungen aus dem später etablierten germanistisch-anglistischen Kolloquium mit KollegInnen aus der englischen Sprachwissenschaft, darunter Britta Mondorf, Florian Dolberg und Ulrike Schneider. Den beiden Letztgenannten danke ich darüber hinaus für ihre Unterstützung in Sachen Statistik und Programmierung. Ganz besonders danke ich natürlich auch meiner gesamten Familie, insbesondere meinen Eltern und Großeltern und meinem Bruder Thomas, die mich stets in jeder Hinsicht unterstützt haben. Ohne diese Unterstützung hätte ich die vorliegende Arbeit nicht in Angriff nehmen, geschweige denn vollenden können. Für die großzügige finanzielle Unterstützung und die hervorragende ideelle Förderung danke ich der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), die mir von 2011 bis 2014 ein Promotionsstipendium sowie diverse Reisekostenzuschüsse gewährt hat.

vi | Vorwort

Im Rahmen von Konferenzen und Workshops habe ich viele wertvolle Hinweise von Kolleginnen und Kollegen erhalten. Stellvertretend nenne ich Jóhanna Barðdal (Ghent), Geert Booij (Leiden), Hubert Cuyckens (Leuven), Liesbet Heyvaert (Leuven), Martin Hilpert (Neuchâtel), Laura Janda (Tromsø), Tore Nesset (Tromsø), Renata Szczepaniak (Hamburg), Graeme Trousdale (Edinburgh), Ingo Plag (Düsseldorf), Arie Verhagen (Leiden) und Petra Maria Vogel (Siegen), die konstruktive Rückmeldungen zu meinem Projekt gegeben haben. Ulrike Demske (Potsdam), auf deren Grundlagenarbeit sich wesentliche Teile der Untersuchung stützen, danke ich für sehr hilfreiche Anmerkungen zu meinem ersten Zeitschriftenaufsatz. Ebenso prägend wie viele der genannten etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler war für die vorliegende Untersuchung wie auch für meine wissenschaftliche Arbeit im Allgemeinen der Austausch mit anderen jungen Kolleginnen und Kollegen. Auf die Gefahr hin, einige zu vergessen, danke ich Malte Battefeld (Ghent), Till Bergmann (Merced), Philipp Dorok (Bochum), Susanne Flach (Berlin), Lauren Fonteyn (Leuven), Andreas Hölzl (München), George Krasovitskiy (Oxford), Hannah Little (Brüssel), Sven Müller (Mainz), Patricia Naumann (Düsseldorf), Jakob Neels (Leipzig), Laura Neuhaus (Mainz), Jonas Nölle (Aarhus), Ryan Palfreyman (Bangor/München), Monika Pleyer (Heidelberg), Seán Roberts (Nijmegen), Jonah Rys (Ghent), Nora Sties (Mainz), Konrad Szcześniak (Sosnowiec), Peeter Tinits (Tallinn), Bodo Winter (Merced), James Winters (Edinburgh) und Martin Zettersten (Madison). Nicht zuletzt danke ich auch meinem guten Freund und Kollegen Michael Pleyer (Heidelberg), ohne den diese Arbeit eine ganz andere, aber sicherlich keine bessere geworden wäre. Auf Verlagsseite danke ich außerdem Nancy Christ, Daniel Gietz und Theresia Piszczan für die hervorragende Betreuung. Wenn diese Untersuchung einen wertvollen Beitrag zur Erforschung des Wortbildungswandels sowie des Sprachwandels im Allgemeinen leistet, so ist dies nicht nur mir, sondern auch und gerade den oben Genannten zuzuschreiben. Die zweifellos noch vorhandenen Fehler und Unzulänglichkeiten liegen natürlich allein in meiner Verantwortung. Mainz, den 07.01.2016

Stefan Hartmann

Inhalt Vorwort | v  1 

Einleitung | 1 

2  Theorierahmen | 7  2.1  Kategorisierung | 9  2.1.1  Vom „NHB-Modell“ zur Prototypentheorie | 10  2.1.2  Volks- und Expertenkategorien | 14  2.1.3  Exemplarbasierte Ansätze | 15  2.1.4  Wissensbasierte Ansätze | 16  2.1.5  Ein integrierter Ansatz | 19  2.1.6  Wortartenkategorisierung | 20  2.1.6.1  Kognitiv-linguistischer Ansatz | 21  2.1.6.2  Konstruktionsgrammatischer Ansatz | 28  2.1.6.3  Fazit | 31  2.2  Konzeptualisierung | 31  2.3  Wortbildungswandel als Konstruktionswandel | 37  2.3.1  Konstruktionen in der Wortbildung - Wortbildung in der Konstruktionsgrammatik | 37  2.3.2  Wortbildungswandel aus konstruktionsgrammatischer Perspektive | 47  2.4  Wortbildungswandel und Historische Kognitive Linguistik | 52  3  3.1  3.2  3.2.1  3.2.2  3.2.3  3.2.4  3.2.5  3.2.6  3.2.7 

Forschungsüberblick | 58  Etymologie und Entwicklung des Suffixes -ung | 59  Die ung-Nominalisierung im Spiegel der Forschung | 66  Semantik und Subkategorisierung: RÖMER (1987a, 1988) | 66  Lexikalistischer vs. transformationalistischer Ansatz: RÖMER (1987b) | 68  Argumentstruktur und Sortensemantik: EHRICH/RAPP (2000); EHRICH (2002) | 70  Ereignisstruktur und Bildungsbeschränkungen: SHIN (2001) | 77  Syntaktische Transposition und Erweiterung des Lexikons: KNOBLOCH (2002) | 81  Bi-eventive Basisverben: ROSSDEUTSCHER (2010); ROSSDEUTSCHER/KAMP (2010) | 84  Produktivitätsveränderungen: DEMSKE (1999, 2000, 2002) | 90 

viii | Inhalt

3.3  3.3.1  3.3.2  3.4  3.4.1  3.4.2  3.5  4  4.1  4.1.1  4.1.2  4.2 

Infinitivnominalisierung | 95  Sind Nominalisierte Infinitive lexikalisierungsresistent? BARZ (1998) | 95  NIs und Argumentvererbung: BLUME (2004) | 99  Psycho- und neorolinguistische Ansätze | 108  Lexikalische Entscheidungstests | 108  Ereigniskorrelierte Potentiale: JANSSEN et al. (2006) | 116  Fazit und Ausblick | 122 

Korpusanalyse | 125  Vorstellung der Korpora | 125  Mainzer Frühneuhochdeutschkorpus | 126  Das GerManC-Korpus | 128  Von der Theorie zur Methode: Frequenz, Produktivität, Interaktionsmuster | 131  4.2.1  Theoretische Vorüberlegungen zum Produktivitätsbegriff | 132  4.2.1.1  Wortbildungsregeln vs. konstruktionale Schemata | 134  4.2.1.2  Usuelle und mögliche Wörter | 138  4.2.1.3  Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit von Neubildungen | 141  4.2.1.4  Produktivität aus synchroner und diachroner Perspektive | 143  4.2.1.5  Produktivität und Wortbildungsrestriktionen | 145  4.2.1.6  Möglichkeiten und Grenzen der quantitativen Operationalisierung | 148  4.2.1.7  Produktivität und Schemasalienz | 150  4.2.1.8  Zwischenfazit zum Produktivitätsbegriff aus theoretischer Perspektive | 157  4.2.2  Produktivität: Quantitative Operationalisierung | 158  4.2.2.1  Vorentscheidungen bei der Korpusannotation | 159  4.2.2.2  Tokenfrequenz | 164  4.2.2.3  Realisierte Produktivität | 164  4.2.2.4  Potentielle Produktivität | 165  4.2.2.5  Kendall’s Tau als Signifikanztest für diachrone Frequenzentwicklung | 169  4.2.3  Kollostruktionsanalyse: Quantitative Analyse von Interaktionsphänomenen | 171  4.2.3.1  Einfache Kollexemanalyse | 171  4.2.3.2  Kovariierende Kollexemanalyse | 175  4.3  Auswertung der Korpora | 176  4.3.1  Mainzer Frühneuhochdeutschkorpus und GerManC-Korpus | 176 

Inhalt | ix

4.3.1.1  4.3.1.2  4.3.1.3  4.3.2  4.4  4.4.1  4.4.1.1  4.4.1.2  4.4.1.3  4.4.1.4  4.4.1.5  4.4.2  4.4.3  4.4.4  4.4.5  4.4.6  4.4.7  4.4.8  5  5.1  5.2 

Tokenfrequenz | 178  Realisierte Produktivität | 180  Potentielle Produktivität | 182  Diskussion | 187  Interaktionsmuster | 189  Nominalisierungen als präpositionale Komplemente | 192  Operationalisierung bei der Korpusannotation | 196  Quantitative Auswertung | 199  Einfache Kollexemanalyse | 204  Kovariierende Kollexemanalyse | 210  Exkurs: Die [PREP DET N]-Konstruktion | 211  Gebrauch von Determinatoren | 215  Adjektivische Modifikation | 224  Genitivergänzungen | 230  Pluralisierung | 238  Exkurs: „Nominalität“ und satzinterne Großschreibung | 242  Komplexe Wörter und ihre Basen: Morphologische Mehrfelderanalyse | 245  Konkurrenzmuster und soziokulturelle Faktoren | 254  Wortbildungswandel und Kognition: Rückblick und Ausblick | 263  Rückblick: Nominalisierungsmuster, Kategorisierung und Kognition | 263  Ausblick: Desiderata und offene Fragen | 271 

Literaturverzeichnis | 277  Quellen und Korpora | 277  Wörterbücher und Nachschlagewerke | 277  Forschungsliteratur | 277  Index | 279 

Abbildungsverzeichnis Kapitel 2: Theorierahmen Abb. 1: Kernstruktur in Langackers Netzwerkmodell, illustriert am Beispiel von Auge und dessen metaphorischer Extension | 13  Abb. 2: Ein Ausschnitt der Wortartentaxonomie der Kognitiven Grammatik | 23  Abb. 3: Sequential und summary scanning in einer vereinfachten schematischen Darstellung (modifiziert nach LANGACKER 1987b: 73) | 27  Abb. 4: Schematische Darstellung der für die Präpositionalphrasen in der Verhandlung (links) sowie im Verhandeln angenommenen Konzeptualisierungsmuster | 36  Abb. 5: Frequenzentwicklung von unkaputtbar im Vergleich zu unzerstörbar und unzerbrechlich im W-Archiv des Deutschen Referenzkorpus seit 1998 | 51  Abb. 6: Die Integration von unkaputtbar ins Assoziationsnetzwerk für un- und -bar | 52  Abb. 7: Die Hauptfunktionen der Wortbildung in Relation zur Unterscheidung von construal vs. conceptual content | 54 

Kapitel 3: Forschungsüberblick Abb. 1: Herkunft der Derivate auf -ing/-ung in den germ. Sprachen | 60  Abb. 2: Quantitative Auswertung der Materialsammlung DITTMERs (1987) nach den von ihm genannten Faktoren der Suffixselektion. | 62  Abb. 3: Skala der articulateness nach EHRICH (2001: 71) | 76  Abb. 4: Ereignisstruktur von erblinden nach SHIN (2001) | 78  Abb. 5: Ereignisstruktur von Verkorkung und Erblindung nach SHIN (2001: 311f.) | 79  Abb. 6: Wortsyntaktische Struktur bi-eventiver (links) und mono-eventiver Verben nach ROSSDEUTSCHER/KAMP (2010). Den Annahmen von ROSSDEUTSCHER/KAMP (2010) zufolge enthält die interne Struktur eines Verbs immer einen v-Knoten, dessen maximale Projektion vP ist. Die Projektionsebene, auf der agentive Subjekte eingeführt werden, heißt voiceP. | 87  Abb. 7: Signifikanter Frequenzverlust von ersuchen im HIST-Korpus von COSMAS II. 99  Abb. 8: Skala von „complex“ zu „simple event nominals“ unter Einbezug der Konzepte des sequential und summary scanning sowie der Relationalität | 107  Abb. 9: Die Wortform- und Verbstamm-Frequenzen der Stimuli der lexikalischen Entscheidungstests von CLAHSEN et al. (2003) (links) sowie von CLAHSEN/NEUBAUER (2010) nach CELEX | 114  Abb. 10: Links: Quotient aus Wortform- und Verbstammfrequenz nach CELEX für die als hochund die als niedrigfrequent eingestuften Stimuli aus CLAHSEN et al. (2003) | 115

xii | Abbildungsverzeichnis

Kapitel 4: Korpusanalyse Abb. 1: Links: Anteil der Hapax Legomena an allen Tokens auf -ung im GerManC-Korpus. Rechts: Quotient aus Hapax Legomena und Gesamtzahl der Tokens (potentielle Produktivität) | 129  Abb. 2: Frequenz von ung-Nomina in Komposita relativ zur Gesamtzahl aller ung-Nomina im GerManC-Korpus, einschließlich derer, die als Erstglied von Komposita auftreten | 159  Abb. 3: Hapaxe und „falsche“ Hapaxe für das Wortbildungsmuster [X-ung] in 336 kumulativ anwachsenden Subkorpora des GerManC-Korpus. | 167  Abb. 4: Tokenfrequenz der ung-Nominalisierung in MzFnhd und GerManC | 178  Abb. 5: Tokenfrequenz der Infinitivnominalisierung im MzFnhd-Korpus und im GerManCKorpus | 179  Abb. 6: Tokenfrequenz der Verbstammkonversion im GerManC-Korpus | 179  Abb. 7: Realisierte Produktivität der ung-Nominalisierung im MzFnhd-Korpus und im GerManCKorpus. | 180  Abb. 8: Realisierte Produktivität der Infinitivnominalisierung im MzFnhd-Korpus und im GerManC-Korpus | 181  Abb. 9: Realisierte Produktivität der Verbstammkonversion im GerManC-Korpus | 182  Abb. 10: Potentielle Produktivität der ung-Nominalisierung und der Infinitivnominalisierung im MzFnhd-Korpus. | 183  Abb. 11: Potentielle Produktivität der ung-Nominalisierung im GerManC-Korpus. Links: Auswertung nach Jahren; rechts: Auswertung nach Jahrzehnten | 184  Abb. 12: Potentielle Produktivität der ung-Nominalisierung im GerManC-Korpus; hier: Periodisierung mit drei Zeitschnitten | 184  Abb. 13: Potentielle Produktivität der Infinitivnominalisierung im GerManC-Korpus; links: Auswertung nach Jahren, rechts: Auswertung nach Jahrzehnten | 185  Abb. 14: Potentielle Produktivität der Infinitivnominalisierung im GerManC-Korpus; hier: Periodisierung mit drei Zeitschnitten | 186  Abb. 15: Tokenfrequenz der ung-Nominalisierung im GerManC-Korpus insgesamt sowie ohne die 63 Types, die einen signifikanten Frequenzanstieg erfahren | 188  Abb. 16: Type-Token-Ratio der ung-Nominalisierung (oben) und der Infinitivnominalisierung (unten) im MzFnhd-Korpus (links) und im GerManC-Korpus (rechts) | 189  Abb. 17: Anteil der ung-Nomina in [PREP NOM]-Konstruktionen an der Gesamtzahl der ungNomina im MzFnhd-Korpus (links) und im GerManC-Korpus | 199  Abb. 18: Anteil der NIs in [PREP NOM]-Konstruktionen an der Gesamtzahl der NIs im MzFnhdKorpus (links) und im GerManC-Korpus. | 200  Abb. 19: Anteil der Verbstammkonversionen in [PREP NOM]-Konstruktionen an der Gesamtzahl der Verbstammkonversionen im GerManC-Korpus. | 200  Abb. 20: Verteilung der [PREP V-ung]-Konstruktion auf die Textsorten des MzFnhd-Korpus und des GerManC-Korpus | 202  Abb. 21: Anteil der Types, die in [PREP V-ung]-Konstruktionen belegt sind, an der Gesamtzahl der Types auf -ung im der jeweiligen Textsorte zuzurechnenden Subkorpus des MzFnhdKorpus (links) und des GerManC-Korpus | 203  Abb. 22: Relative Frequenz der [PREP V-ung]-Konstruktion im MzFnhd-Korpus (links) und im GerManC-Korpus, nach Textsorten | 203 

Abbildungsverzeichnis | xiii

Abb. 23: Links: Inverse Korrelation zwischen der Kollostruktionsstärke (±|log10(p)|) eines Types in der [PREP V-ung]-Konstruktion und dem Anteil an Tokens dieses Types, bei dem lexikalisches Material zwischen der Präposition und dem ung-Derivat auftritt. Rechts: Anteil modifizierter Items an signifikant dissoziierten vs. assoziierten ung-Derivaten in der [PREP V-ung]-Konstruktion | 208  Abb. 24: Incremental vs. non-incremental accomplishments nach CROFT (2012) | 213  Abb. 25: Anteil der ung-Nomina mit Determinator an der Gesamtzahl der ung-Nomina imMzFnhd-Korpus (links) und im GerManC-Korpus | 219  Abb. 26: Links: Absolute Frequenz von Artikelkonstruktionen und ung-Nomina in Artikelkonstruktionen. Rechts: Relative Frequenz von ung-Nomina in Artikelkonstruktionen | 220  Abb. 27: Anteil von ung-Nomina an der Gesamtzahl der als Nomen (außer Eigennamen) getaggten Tokens im GerManC-Korpus | 220  Abb. 28: Links: Relative Frequenz von ung-Nomina mit (bestimmtem oder unbestimmtem) Artikel an der Gesamtzahl der ung-Nomina im Korpus; rechts: relative Frequenz aller anderen Nomina mit Artikel an der Gesamtzahl aller anderen Nomina | 221  Abb. 29: Anteil von NIs in Determinatorkonstruktionen an der Gesamtzahl an NIs im MzFnhdKorpus (links) und im GerManC-Korpus. | 223  Abb. 30: Relative Frequenz von Verbstammkonversionen in Determinatorkonstruktionen | 224  Abb. 31: Anteil von ung-Nomina mit adjektivischem Modifikator an der Gesamtzahl der ungNomina im MzFnhd-Korpus (links) und im GerManC-Korpus | 229  Abb. 32: Anteil von NIs mit adjektivischem Modifikator an der Gesamtzahl der NIs im MzFnhdKorpus (links) und im GerManC-Korpus. | 230  Abb. 33: Anteil der ung-Nomina mit Genitivergänzung an der Gesamtzahl der ung-Nomina im MzFnhd-Korpus (links) und im GerManC-Korpus | 232  Abb. 34: Verteilung der Genitivkomplemente auf ung-Nomina in [PREP NOM]-Konstruktionen und andere Konstruktionen (relative Frequenz) im MzFnhd-Korpus (links) und im GerManC-Korpus | 233  Abb. 35: Anteil der NIs mit Genitivergänzung an der Gesamtzahl der NIs im MzFnhd-Korpus (links) und im GerManC-Korpus | 234  Abb. 36: Nominalisierung transitiver vs. intransitiver Verben, visualisiert nach den Prinzipien der Kognitiven Grammatik | 238  Abb. 37: Anteil der ung-Nomina im Plural an der Gesamtzahl der ung-Nomina im MzFnhdKorpus (links) und im GerManC-Korpus | 240  Abb. 38: Anteil der NIs im Plural an der Gesamtzahl der NIs im MzFnhd-Korpus (links) und im GerManC-Korpus | 242  Abb. 39: Anteil der groß geschriebenen ung-Nomina (links) und NIs an der Gesamtzahl der ung-Nomina bzw. NIs im MzFnhd-Korpus | 243  Abb. 40: Anteil der Majuskelschreibungen an einzelnen Types diachron | 244  Abb. 41: Absolute Frequenz von ung-Nomina (links) bzw. NIs (rechts) im Vergleich zu ihren jeweiligen Basisverben (y-Achse) in den drei Zeitschnitten des GerManC-Korpus | 248  Abb. 42: Kontinuum von lexikalisch-gehaltvollen zu grammatisch-prozessualen Einheiten | 253  Abb. 43: Tokenfrequenz des Wortbildungsmusters [X-(a)tio(n)] im MzFnhd-Korpus (links) und im GerManC-Korpus | 258 

xiv | Abbildungsverzeichnis

Abb. 44: Realisierte Produktivität des Wortbildungsmusters [X-(a)tio(n)] im MzFnhd-Korpus (links) und im GerManC-Korpus | 258  Abb. 45: Verteilung der ung-Nomina mit Fremdwortbasis und der Tokens auf -(a)tio(n) auf konzeptionell schriftliche vs. mündliche Textsorten des GerManC-Korpus | 259  Abb. 46: Tokenfrequenz der Verbstammkonversion, der ung-Nominalisierung und der Infinitivnominalisierung in konzeptionell schriftlichen vs. konzeptionell mündlichen Textsorten des GerManC-Korpus | 261 

Kapitel 5: Rückblick und Ausblick Abb. 1: Lesarten von Heizung im DWDS-Korpus. (Differenz zu 100%: ambige Belege) | 265  Abb. 2: Links: Anteil der Tokens mit Simplexbasis an der Gesamtzahl der Tokens auf -ung im GerManC-Korpus. Rechts: Assoziationsstärke der Tokens mit Simplex- und mit komplexer Basis | 267  Abb. 3: Erweiterte Darstellung des Kontinuums zwischen lexikalisch/gehaltvollen und grammatisch/prozessualen Einheiten | 270  Abb. 4: Absolute Frequenzen von Gönnung in einer Google-Recherche (05.09.2014) | 274 

Tabellenverzeichnis Kapitel 2: Theorierahmen Tab. 1: Semantische Eigenschaften der prototypischen Wortarten nach Croft (2001: 87) | 30  Tab. 2: Wesentliche Konzepte der Konzeptualisierungstypologien von LANGACKER, TALMY sowie CROFT/CRUSE im Vergleich | 32  Tab. 3: Lexikon-Syntax-Kontinuum nach CROFT (2001: 17). | 43 

Kapitel 3: Forschungsüberblick Tab. 1: DITTMERs (1987) quantitative Auswertung seiner Daten sowie eigene Auswertung seiner Belegsammlung | 63  Tab. 2: Lesarten mhd. ung-Nomina nach Klein et al. (2009: 130–132) (nur Deverbativa) | 65  Tab. 3: Experimentelles Setup von CLAHSEN et al. (2003) | 109  Tab. 4: Frequenzen in CELEX im Vergleich zum Deutschen Referenzkorpus | 114 

Kapitel 4: Korpusanalyse Tab. 1: Übersicht über die verwendeten Korpora | 131  Tab. 2: Definitionen der Wortbildungsproduktivität nach Rainer (1987: 188‒190) | 133  Tab. 3: Wortbildungsrestriktionen nach SCHMID (2001) mit den von ihm genannten Beispielen aus dem Englischen | 147  Tab. 4: Produktivitätsmaße, modifiziert und um Formeln ergänzt nach Hilpert (2013: 132). | 158  Tab. 5: Entscheidungsprozess bei der Annotation von Komposita mit ung-Nomina als Zweitglied | 163  Tab. 6: Datensatz zu Alkohol- und Tabakkonsum als Beispiel für die Anwendung des Rangkorrekationseffizienten Kendall’s Tau | 170  Tab. 7: Kreuztabelle für einfache Kollexemanalyse | 173  Tab. 8: Kreuztabelle für die kovariierende Kollexemanalyse | 176  Tab. 9: Verteilung der [PREP V-ung]-Konstruktionen über die Textsorten des MzFnhd- und des GerManC-Korpus | 201  Tab. 10: Resultate der einfachen Kollexemanalyse für die [PREP V-ung]-Konstruktion | 205  Tab. 11: Ergebnisse einer kovariierenden Kollexemanalyse der [PREP V-ung]-Konstruktion im MzFnhd-Korpus (links) und im GerManC-Korpus | 210  Tab. 12: Absolute Frequenz der häufigsten Adjektive, die im MzFnhd-Korpus und im GerManCKorpus in Kombination mit ung-Nomina und NIs auftreten | 226  Tab. 13: Resultat einer kovariierenden Kollexemanalyse für [ADJ V-ung] im MzFnhd-Korpus (nur am stärksten mit der Konstruktion assoziierte Kombinationen und nur Kombinationen mit einer Frequenz von mind. 4 Belegen) | 227  Tab. 14: Resultat einer kovariierenden Kollexemanalyse für [ADJ V-ung] im GerManC-Korpus (nur am stärksten mit der Konstruktion assoziierte Kombinationen und nur Kombinationen mit einer Frequenz von mind. 4 Belegen) | 228 

xvi | Tabellenverzeichnis

Tab. 15: Resultat einer kovariierenden Kollexemanalyse für [ADJ NI] im MzFnhd-Korpus (nur am stärksten mit der Konstruktion assoziierte Kombinationen und nur Kombinationen mit einer Frequenz von mind. 4 Belegen) | 228  Tab. 16: Resultat einer kovariierenden Kollexemanalyse für [ADJ NI] im GerManC-Korpus (nur am stärksten mit der Konstruktion assoziierte Kombinationen und nur Kombinationen mit einer Frequenz von mind. 4 Belegen) | 229  Tab. 17: Vier Nomenkategorien nach CORBETT (2004: 80) | 240  Tab. 18: Morphologische Vierfelderanalyse | 247  Tab. 19: Ergebnisse der morphologischen Mehrfelderanalyse für die ungNominalisierung | 249  Tab. 20: Ergebnisse der morpholog. Mehrfelderanalyse für die Infinitivnominalisierung. | 250  Tab. 21: Distinktive morphologische Mehrfelderanalyse. | 256  Tab. 22: Ergebnisse der distinktiven morphologischen Mehrfelderanalyse | 256 

1 Einleitung In der historischen Sprachwissenschaft des Deutschen hat der Bereich der Wortbildung lange ein Schattendasein geführt (vgl. MUNSKE 2002: 23; SCHERER 2006: 4). Auch in der Kognitiven Linguistik und in konstruktionsgrammatischen Ansätzen wurden Wortbildungsfragen bis vor wenigen Jahren nur selten gestellt (vgl. ONYSKO/MICHEL 2010: 9). Inzwischen ist jedoch in beiden Bereichen das Interesse deutlich gestiegen (vgl. z.B. SCHERER 2005; BOOIJ 2010; HILPERT 2013). Dabei hat sich insbesondere die Kombination einer gebrauchsbasierten, kognitiv-linguistisch und konstruktionsgrammatisch orientierten Perspektive mit diachronen Fragestellungen als äußerst fruchtbar erwiesen (vgl. z.B. TRAUGOTT/TROUSDALE 2013). Die vorliegende Arbeit leistet mit der Untersuchung deverbaler Nominalisierungsmuster im Deutschen, namentlich der ung-Nominalisierung und der Infinitivnominalisierung, einen Beitrag zur Analyse des Wortbildungswandels aus gebrauchsbasierter Perspektive. Die Nominalisierung auf -ung zählt zu den produktivsten Wortbildungsmustern des Deutschen (vgl. z.B. SHIN 2001: 399); EISENBERG (1994: 364) bezeichnet sie gar als produktivstes Wortbildungsmuster zur Ableitung von Verbalabstrakta im Gegenwartsdeutschen. Tatsächlich begegnet uns das Suffix -ung im Alltag allenthalben. Wir müssen nur eine Zeitung aufschlagen, um etwa von der Ankündigung der Regierung zu erfahren, die Euro-Rettung voranzutreiben oder eine strengere Ahndung von Missachtungen der Straßenverkehrsordnung herbeizuführen. Ungeachtet dieser Omnipräsenz der ung-Nominalisierung lässt sich jedoch, wie DEMSKE (2000) gezeigt hat, diachron ein Rückgang ihrer morphologischen Produktivität nachweisen, während sich als „Ersatzverfahren“ (BARZ 1998: 65) die Infinitivnominalisierung (z.B. das Lesen, das Tanzen) etabliert. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem diachronen Wandel beider Wortbildungsmuster, der Infinitivnominalisierung wie der ung-Nominalisierung, wobei der Schwerpunkt auf dem letztgenannten Derivationsmuster liegt. Auf Grundlage umfangreicher diachroner Korpora werden die wesentlichen Entwicklungslinien dieser Wortbildungsmuster nachgezeichnet und im Rahmen einer kognitiv-gebrauchsbasiert orientierten Theorie des Wortbildungswandels analysiert und interpretiert. Die theoretische Diskussion und die empirischen Befunde führen zu dem Schluss, dass Wortbildungswandel als Konstruktionswandel und Konzeptualisierungswandel begriffen werden kann. Unter Konstruktionswandel werden dabei mit HILPERT (2011, 2013) und TRAUGOTT/TROUSDALE (2013) form- oder funktionsseitige Änderungen eines Form-Bedeutungs-Paares verstanden, die unterschiedliche Aspekte wie beispielsweise dessen Frequenz, dessen Distribution oder auch die jeweils evozierte Konzeptualisierung betreffen können. Ein Wandel

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der vom Wortbildungsschema aufgerufenen Konzeptualisierung ist, wie zu zeigen sein wird, insbesondere bei der ung-Nominalisierung und in geringerem Maße auch bei der Infinitivnominalisierung festzustellen. Zum einen wandelt sich das Inventar an Konzeptualisierungsmustern, die vom jeweiligen Wortbildungsmuster evoziert werden können; zum anderen ist der kognitive Status einzelner Konzeptualisierungsmuster zwischen Prototypikalität und Marginalität, zwischen Wohlgeformtheit und Markiertheit im Wandel begriffen. Ausgehend von der klassischen Unterscheidung zwischen Benennung und Rekategorisierung als Hauptfunktionen der Wortbildung, wie sie zum Beispiel KASTOVSKY (1982) und DRESSLER (1987) vorgeschlagen haben, werde ich argumentieren, dass zwischen diesen Funktionen ein Kontinuum angenommen werden kann. Da ungNomina immer stärker Benennungsfunktion erfüllen, ist das Wortbildungsmuster nur noch bedingt zur syntaktischen Transposition (Rekategorisierung), d.h. zur ad-hoc-Ableitung semantisch transparenter Nomina von Verben, einsetzbar. Im Zuge dieses Entwicklungsprozesses wird das Wortbildungsmuster der ungNominalisierung zugleich immer „nominaler“; die Wortbildungsprodukte dieses Musters nehmen in immer stärkerem Maße Charakteristika zählbarer Nomen (count nouns) an, während Nominalisierte Infinitive (NIs) mass noun-Charakter bewahren. In diesem Zusammenhang wird sich auch die gerade in der Kognitiven Linguistik wiederholt gezogene Analogie zwischen mass nouns und (verbaler) Imperfektivität bzw. zwischen count nouns und Perfektivität (vgl. z.B. TAYLOR 2002) als aufschlussreich erweisen: Während ung-Nomina im Fnhd. und noch bis weit ins Nhd. hinein häufig imperfektive (durative/kontinuative) und damit sehr prozessuale, mithin verbnahe Konzepte denotieren, kodieren sie im Gegenwartsdeutschen eher zeitlich gebundene Ereignisse (Veranstaltung) oder gar konkrete Objekte wie z.B. Räumlichkeiten (Wohnung) oder technische Geräte (Heizung, Fernbedienung). NIs hingegen können nach wie vor imperfektiv interpretiert werden: Im Vorübergehen sah ich den Jungen. Über die ung-Nominalisierung und Infinitivnominalisierung hinaus werden in Exkursen auch die Verbstammkonversion und das Lehnwortbildungsmuster mit dem Suffix -ation (s.u. 4.4.8) untersucht. Unter Verbstammkonversion werden dabei Fälle wie rufen > Ruf und binden > Band zusammengefasst, die FLEISCHER/BARZ (2011: 90) als „morphologische Konversionen“ bezeichnen, jene Fälle also, in denen „zu (meist starken) Verben direkt Substantiva gebildet werden ohne weiteres Merkmal als die Deklinationsklasse, der sie angehören“ (HENZEN 1965: 124). Als „eine Art historischer Sonderfall“ (EICHINGER 2000: 73) gehört zu dieser Gruppe die sogenannte innere Ableitung oder implizite Derivation, bei der verschiedene Stammformen starker Verben (Trank, Trunk) als Konversionsbasis fungieren (vgl. FLEISCHER/BARZ 2011: 89). Für ein umfassendes Verständnis der

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Wandelprozesse im Bereich der deverbalen Nominalisierung im Frühneuhochdeutschen und Neuhochdeutschen ist die Betrachtung der zu diesem Zeitpunkt längst unproduktiven Verbstammkonversion insofern relevant, als im 17./18. Jh. eine Reihe von ung-Nomina durch Produkte älterer Wortbildungsmuster, insbesondere der Verbstammkonversion, abgelöst wird, z.B. Besuchung > Besuch, Rufung > Ruf (vgl. SCHMIDT 2007: 153). Der Theorierahmen dieser Arbeit wie auch die Implikationen der empirischen Befunde führen weit über die konkreten Wortbildungsmuster hinaus, deren diachroner Wandel im Hauptteil der Untersuchung korpusbasiert dargestellt wird. Dies ist insofern naheliegend, als eine Arbeit, die den Anspruch hat, den diachronen Wandel der in Frage stehenden Wortbildungsmuster nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären, eine ganze Reihe an Phänomenen in Betracht gezogen werden muss, die über den Bereich der Wortbildung hinausgehen. So spielt für den Wortbildungswandel der ung-Nominalisierung die Lexikalisierung und anschließende Reanalyse frequenter Wortbildungsprodukte eine entscheidende Rolle, worauf bereits SCHERER (2006: 12) hingewiesen hat. Die Interaktion zwischen Wortbildung und Semantik steht mithin im Mittelpunkt dieser Untersuchung. Da die Arbeit darüber hinaus eine kognitiv plausible und am tatsächlichen Sprachgebrauch ausgerichtete Theorie des Wortbildungswandels anstrebt, kommen darüber hinaus die Schnittstellen von Sprache, Kognition und Kultur in den Blick. Das Zusammenspiel und die enge Verwobenheit von Kognition, Kultur und Sprachgebrauch (vgl. BYBEE 2010: 194) wurde im Rahmen des sogenannten usage based-Paradigmas intensiv untersucht und ist, wie zu zeigen sein wird, auch für die Wortbildung im Allgemeinen und für Wortbildungswandel im Besonderen von nicht zu unterschätzender Relevanz. Dass der Faktor Kultur die Produktivität der ung-Nominalisierung wesentlich beeinflusst, haben beispielsweise V. HEUSINGER / V. HEUSINGER (1999) gezeigt, die den Einfluss geistlicher Strömungen wie der Mystik auf die Neubildung unter anderem von ung-Nomina aufzeigen, die bereits im Althochdeutschen (Ahd.) oft zur Übersetzung lateinischer und griechischer Fachtermini dienten (vgl. WOLF 1987). Das Verhältnis von Wortbildung und Kognition hat in den vergangenen Jahren verstärkt das Interesse der Sprachwissenschaft auf sich gezogen (vgl. z.B. MEIBAUER 1995b) und wurde gerade der Kognitiven Linguistik und Konstruktionsgrammatik intensiv diskutiert (z.B. UNGERER 2007; ONYSKO/MICHEL 2010; BOOIJ 2010; TAYLOR im Ersch.; BOOIJ 2015, im Ersch.). Der Fokus dieser Untersuchung liegt auf der Entwicklung der ung-Nominalisierung und Infinitivnominalisierung im Frühneuhochdeutschen (Fnhd.), das etwa von PAVLOV (2002) zu Recht dezidiert als Umbruchsphase behandelt wird, und in den frühen Perioden des Neuhochdeutschen (Nhd.). In einem Exkurs wird

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außerdem das Mittelhochdeutsche (Mhd.) berücksichtigt (s.u. 4.3.1). Dabei orientiert sich die Untersuchung an der klassischen Periodisierung nach SCHERER (1878), die sich in der historischen Sprachwissenschaft als einflussreich erwiesen hat und auch wegen der griffigen Unterteilung in Zeitstufen von jeweils 300 Jahren „insbesondere in lehrorientierten Sprachgeschichten bis heute übernommen wird“ (RÖSSLER 2012: 158). Die Theorie des Wortbildungswandels, die in der vorliegenden Arbeit entworfen wird, ist gebrauchsbasiert, kognitiv-linguistisch und konstruktionsgrammatisch orientiert, wobei wesentliche Impulse für die hier vorgeschlagenen Erklärungsmodelle von der Kognitiven Grammatik LANGACKERs (1987a, 1991a, 2008a), der sogenannten kognitiven Konstruktionsgrammatik GOLDBERGs (1995, 2006), der Radikalen Konstruktionsgrammatik CROFTs (2001) und der konstruktionsgrammatisch orientierten Sprachwandeltheorie von TRAUGOTT/TROUSDALE (2013) ausgehen. All diesen Arbeiten ist gemeinsam, dass sie für einen bottomup-Ansatz plädieren, der die theoretischen Vorannahmen bei der Sprachbetrachtung auf ein Minimum reduziert und in dem sich die Sprachtheorie vielmehr aus den zu beobachtenden Daten speist. Als bottom-up lässt sich auch der Aufbau dieser Arbeit beschreiben, denn im theoretischen Eingangsteil (2) werden zunächst die wichtigsten Begriffe und Konzepte vorgestellt, auf deren Grundlage im weiteren Verlauf der Untersuchung die Analyse und Interpretation der Korpusdaten erfolgt und die gleichsam das Fundament der hier vertretenen Theorie der Wortbildung und des Wortbildungswandels bilden. Zuerst wird dabei der Zusammenhang von Wortbildung und Kategorisierung als „one of the most basic human cognitive activities“ (CROFT/CRUSE 2004: 74) aufgezeigt (2.1). Anschließend wird Wortbildung im Lichte der kognitiv-linguistischen Schlüsselbegriffe der Konzeptualisierung und des construal betrachtet (2.2). Mit der Darstellung von Wortbildungswandel als Konstruktionswandel im Sinne HILPERTs (2011, 2013) wird daraufhin auch die konstruktionsgrammatische Perspektive berücksichtigt (2.3). Abschließend werden die Implikationen der theoretischen Diskussion für eine Theorie des Wortbildungswandels im Sinne einer etwa von WINTERS (2010) programmatisch diskutierten „Historischen Kognitiven Linguistik“ erörtert (2.4). Das darauffolgende Kapitel gibt einen Überblick über die bisherige Behandlung der ung-Nominalisierung und Infinitivnominalisierung aus synchroner wie aus diachroner Perspektive und in unterschiedlichen Theorierahmen (3). Hier werden zunächst die Etymologie des ung-Suffixes und die frühe Entwicklung der ung-Nominalisierung beleuchtet (3.1), ehe die synchrone und diachrone Forschung zu eben diesem Wortbildungsmuster rekapituliert wird (3.2). Der darauffolgende Abschnitt wendet sich der Forschung zur Infinitivnominalisierung zu

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(3.3), ehe in einem Exkurs die Befunde der psycho- und neurolinguistischen Forschung zur kognitiven Verarbeitung von Wortbildungsprodukten insbesondere der ung-Nominalisierung zusammengefasst und kritisch gewürdigt werden (3.4). Abschließend werden die Implikationen der theoretischen und empirischen Untersuchungen zusammenfassend erörtert (3.5). Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Korpusanalyse (4). Die unterschiedlichen Korpora, die für die Untersuchung der Wortbildungsmuster herangezogen wurden, werden dabei zunächst vorgestellt (4.1), ehe die Möglichkeiten und Grenzen der quantitativen Operationalisierung insbesondere in Bezug auf den Begriff der Produktivität und im Blick auf den Zusammenhang zwischen der morphologischen Produktivität eines Musters und der kognitiven Salienz des jeweiligen Wortbildungsschemas ausführlich erörtert werden (4.2). Die Auswertung der Korpora, die auch einen Exkurs zur ung-Nominalisierung im Mhd. umfasst, zeigt daraufhin wesentliche Entwicklungstendenzen der zu untersuchenden Nominalisierungsmuster auf (4.3). Da aus gebrauchsbasierter Perspektive, wie bereits erörtert, die Entwicklung einer (Wortbildungs-)Konstruktion nur umfassend erklärt werden kann, wenn auch die Kontexte, in denen sie auftritt, in Betracht gezogen werden, widmet sich der darauffolgende Abschnitt Interaktionsmustern auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen (4.4). Insbesondere werden die Interaktion zwischen verschiedenen konkurrierenden Wortbildungsmustern sowie zwischen Wortbildungsmustern und syntaktischen Konstruktionen, in denen die Instantiationen des Musters bevorzugt auftreten, erörtert. Auch wird der Zusammenhang zwischen der Frequenzdistribution von Wortbildungsmustern und ihren jeweiligen Basisverben diskutiert, und es werden quantitative Verfahren vorgeschlagen, mit deren Hilfe diese Interaktionsmuster empirisch untersucht werden können. Das abschließende Kapitel (5) fasst die Erkenntnisse der Korpusanalyse zusammen und legt zusammenfassend dar, inwiefern sich die theoretische Diskussion und die empirischen Befunde zu einer kohärenten Theorie der Wortbildung und des Wortbildungswandels zusammenfügen und welche Perspektiven sie für weitere Untersuchungen an der Schnittstelle von Wortbildung, Kognition und Kultur eröffnen. Bekanntlich ist kein Forschungsprojekt je vollständig abgeschlossen: Jede neue Erkenntnis zieht zum einen eine ganze Reihe von Folgefragen nach sich und kann zum anderen auch selbst kritisch hinterfragt werden. Im Sinne der Überprüfbarkeit und Replizierbarkeit sind die für die vorliegende Arbeit erstellten Konkordanzen im Tromsø Repository for Language and Linguistics (TROLLing) hinterlegt (http://hdl.handle.net/10037.1/10285).

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Zuletzt noch ein Hinweis zu meinem eigenen Sprachgebrauch in dieser Arbeit: Bei Personenbezeichnungen, die sich auf Menschen beiderlei Geschlechts beziehen, verwende ich zumeist das Femininum und gelegentlich das Maskulinum jeweils im generischen Sinne.

2 Theorierahmen In einer gebrauchsbasierten sowie kognitiv orientierten Perspektive kann Wortbildung nur im Kontext des gesamten Sprachsystems sowie allgemein kognitiver Fähigkeiten verstanden werden. Auch soziale und kulturelle Faktoren nehmen nicht nur auf das lexikalische Inventar einer Sprache Einfluss, sondern können auch ihre morphologischen Eigenschaften in erheblichem Maße mitbestimmen1. Wie im Laufe dieser Untersuchung zu zeigen sein wird, ist auch der diachrone Wandel der deutschen Nominalisierungsmuster vom Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Faktoren geprägt. Daher sollen in diesem Kapitel zunächst Vorüberlegungen zu einer Theorie des Wortbildungswandels angestellt werden, die der engen Verzahnung von Sprache, Kultur und Kognition Rechnung trägt. Zu diesem Zweck werden Wortbildung und Wortbildungswandel zunächst im Lichte zweier einander ergänzender Perspektiven betrachtet. Zuerst wird die Schnittstelle von Wortbildung und Kognition aus kognitiv-linguistischer Sicht beleuchtet, wobei ein Schwerpunkt auf die Zentralbegriffe der Kategorisierung und der Konzeptualisierung gelegt wird. Der Begriff der Konstruktion, von dem die Konstruktionsgrammatik, die auch in der germanistischen Linguistik an Bedeutung gewinnt (vgl. z.B. LASCH/ZIEM 2011; ZIEM/LASCH 2013), ihren Namen hat, dient als Bindeglied zu einer ausführlicheren Diskussion der bereits mehrfach erwähnten gebrauchsbasierten Perspektive, die Sprache als komplexes adaptives System begreift (vgl. z.B. BECKNER et al. 2009). In diesem Abschnitt wird darüber hinaus auf die Verzahnung von Wortbildung mit sozialen und kulturellen Faktoren näher eingegangen. Zunächst jedoch sollen knapp einige Desiderata einer kognitiv orientierten und gebrauchsbasierten Theorie des Wortbildungswandels aufgezeigt werden, um die Zielstellung der im Folgenden dargestellten theoretischen Vorüberlegungen wie auch der vorliegenden Untersuchung insgesamt zu verdeutlichen. Dabei können die beiden Prinzipien leitend sein, die LAKOFF (1990) als „key commitments“ (EVANS/GREEN 2006: 27) der Kognitiven Linguistik formuliert hat, nämlich die Generalisierungsmaxime und die kognitive Maxime2: The generalization commitment is a commitment to characterizing the general principles governing all aspects of human language. I see this as the commitment to undertake linguistics as a scientific endeavour. The cognitive commitment is a commitment to make one's

|| 1 Vgl. z.B. BYBEE (2010: 204–214) für einen recht allgemein gehaltenen Überblick über soziale und kulturelle Faktoren, die die Grammatik einer Sprache beeinflussen können. 2 Die deutschen Begriffe wurden aus ZIEM/LASCH (2013: 9) übernommen.

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account of human language accord with what is generally known about the mind and the brain, from other disciplines as well as our own. (LAKOFF 1990: 40, Hervorh. S.H.)

Aus diesen Maximen lässt sich für die Wortbildungsforschung dreierlei ableiten. Erstens sollte Wortbildung nicht isoliert betrachtet werden. Die isolierte Betrachtung einzelner Wortbildungsmuster und ihrer Entwicklung kann ein wichtiger erster, deskriptiver Schritt zum Verständnis des entsprechenden Wortbildungsmodells im speziellen wie auch von Wortbildungsoperationen im allgemeinen sein. Um jedoch die diachrone Entwicklung von Wortbildungsmustern sowie synchrone Gebrauchsmuster nachvollziehen und würdigen zu können, müssen Schnittstellenphänomene und Kontextfaktoren in die Betrachtung mit einbezogen werden. Insbesondere sind hier die Schnittstellen zur Semantik, zur Syntax sowie zur Pragmatik zu nennen.3 Die Schnittstelle zur Semantik spielt besonders im Blick auf den für den diachronen Wandel der ung-Nominalisierung zentralen Prozess der Lexikalisierung eine Rolle. Die Syntax weist nicht nur enge strukturelle Parallelen zur Wortbildung auf (vgl. z.B. KASTOVSKY 1982: 269; 282f.), vielmehr gehen beide geradezu nahtlos ineinander über. So verweisen LAMPERT/LAMPERT (2010: 52) auf „the traditionally notorious cases – those that ‘sit uneasily’ between morphology and syntax” – im Deutschen etwa der Nominalisierte Infinitiv (vgl. VOGEL 1996: 22–26). Pragmatische Faktoren schließlich beeinflussen wesentlich die Entstehung und den Gebrauch einzelner Wortbildungsprodukte bzw. Konstruktionen in konkreten Kontexten. Die zweite Konsequenz, die sich aus LAKOFFs Maximen für die Wortbildungsforschung ableiten lässt, ist eine dezidiert empirische Herangehensweise. Sowohl einfache Gedankenexperimente (z.B. GRIES 2013b: 4–6) als auch empirische Studien (vgl. z.B. GIBBS 2006: 142–146 und TAYLOR 2012: 9–11 für einen Überblick) machen deutlich, dass eine rein introspektiv-intuitiv orientierte Herangehensweise anfällig ist für Fehlurteile, die sich etwa aus den Erwartungen der Forscherin oder aus der suggestiven Struktur der nur oberflächlich betrachteten Sprachdaten ergeben (vgl. z.B. STEFANOWITSCH 2011a). Drittens schließlich ist Methodenpluralismus eine wichtige Konsequenz der genannten Maximen. Wenn Aussagen über Sprache als nicht-autonomes Teilsystem der Kognition getroffen werden sollen (kognitive Maxime), müssen sie dahingehend generalisierungsfä-

|| 3 Das in dieser Arbeit vertretene non-modulare Modell sprachlichen Wissens, das insbesondere in den Abschnitten 2.2 bis 2.4 näher vorgestellt wird, sieht Lexik, Syntax, Semantik etc. nicht als separate „Komponenten“ an. Vielmehr ist die Trennung primär heuristischer Natur. In diesem Sinne wird hier auch der Schnittstellenbegriff verwendet, der in einem solchen Modell eigentlich obsolet ist (vgl. TRAUGOTT/TROUSDALE 2013: 233; HILPERT 2014: 79).

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hig sein, dass sie auch für andere Teilbereiche der Kognition gelten (Generalisierungsmaxime). Es liegt nun auf der Hand, dass Evidenz zu Prinzipien, die in unterschiedlichen kognitiven Domänen gelten, sowie zum Zusammenspiel verschiedener Teilbereiche der Kognition nur durch die Kombination unterschiedlicher methodischer Herangehensweisen gewonnen werden kann. Daher werden in dieser Untersuchung über die eigens für diese Studie zusammengestellten Korpusdaten hinaus auch Ergebnisse psycho- und neurolinguistischer Forschung berücksichtigt. Eine Theorie des Wortbildungswandels sollte folgerichtig kognitiv plausibel sein, auf der Analyse authentischer Sprachdaten aufbauen und mit empirischer Evidenz auch aus anderen Bereichen der Kognitionswissenschaft vereinbar sein. An diesen Desiderata orientiert sich die im Folgenden dargelegte Theorie des Wortbildungswandels. Zunächst jedoch werden, im Einklang mit der Generalisierungsmaxime, die grundlegenden kognitiven Prinzipien der Kategorisierung und Konzeptualisierung diskutiert und ihre Relevanz für die Wortbildungsforschung erörtert.

2.1 Kategorisierung Kategorisierung stellt nicht nur ein unentbehrliches Hilfsmittel auf allen Ebenen der Sprachbetrachtung dar, sondern zählt zu den grundlegendsten kognitiven Fähigkeiten überhaupt (vgl. CROFT/CRUSE 2004: 74). Sprache selbst ist auf allen Ebenen ein Kategoriensystem (vgl. TAYLOR 2012: 185), „a structured set of meaningful categories“ (GEERAERTS/CUYCKENS 2007: 5). Zugleich stellt Kategorisierung eine wesentliche Grundlage der Konzeptbildung dar (vgl. z.B. MEDIN/SMITH 1984; KOMATSU 1992; TAYLOR 2002: 43), die, wie wir sehen werden, im Bereich der Wortbildung und des Wortbildungswandels eine gewichtige Rolle spielt, denn „Sprache ist auf allen Ebenen ihrer Organisation Konzeptualisierung“ (ZIEM 2008: 113). Im Rahmen einer konzeptualistischen Semantik, wie sie in der vorliegenden Arbeit vertreten wird, ist dies auch für den Bereich der Wortbildung hochrelevant, denn erstens steht die Semantik der individuellen Wortbildungsprodukte in steter Wechselwirkung mit der jeweiligen Wortbildungskonstruktion (s.u. 2.2 bis 2.4). Zweitens beruhen die Grammatikalisierungs- und Lexikalisierungsprozesse, die zum diachronen Wandel des Wortbildungssystems führen, ebenso auf Kategorisierungsprozessen wie die Abstraktion und Generalisierung über einzelne Exemplare, die überhaupt erst zur Entstehung grammatischer Muster führen (s.u. 2.3.2). Wie genau jedoch Kategorisierung und Konzeptbildung funktionieren, ist noch immer umstritten. Während weitgehende Einigkeit darüber besteht, dass

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das klassische Modell der notwendigen und hinreichenden Bedingungen, das in Abschnitt 2.1.1 knapp skizziert wird, zu kurz greift, ist den Alternativmodellen zwar gemeinsam, dass sie Kategorisierung als einen fundamental dynamischen Prozess begreifen, doch weisen sie in wesentlichen Details auch deutliche Unterschiede auf. Zudem ist die Frage umstritten, ob das NHB-Modell in einer psychologisch adäquaten Theorie der Kategorisierung und Konzeptbildung noch einen Platz hat und wenn ja, in welchem Maße und in welcher Weise es sich dort als fruchtbar erweisen kann. Wenn im Folgenden Kategorisierung und Konzeptualisierung separat diskutiert werden, so kann diese Unterscheidung freilich nur heuristischer Natur sein, da beide untrennbar miteinander verbunden sind. Mit MURPHY (2002: 1) sollen dabei unter Kategorien Klassen von Entitäten4 verstanden werden, während der Konzeptbegriff die mentalen Repräsentationen dieser Kategorien bezeichnet.

2.1.1 Vom „NHB-Modell“ zur Prototypentheorie Das klassische Modell der notwendigen und hinreichenden Bedingungen, kurz NHB-Modell genannt, geht bereits auf Platon (vgl. GIVÓN 1986), vor allem jedoch auf dessen Schüler Aristoteles zurück (vgl. TAYLOR 2003: 20). Der klassische Aristotelische Ansatz, wie er ihn in seiner „Metaphysik” schildert, lässt sich mit TAYLOR (2003: 21) in vier Sätzen zusammenfassen: 1. 2. 3. 4.

Kategorien sind durch notwendige und hinreichende Bedingungen definiert. Die Merkmale, die eine Kategorie konstituieren, sind binär. Kategorien haben klare Grenzen. Alle Mitglieder einer Kategorie haben denselben Status (keine abgestufte Kategorienzugehörigkeit).

Hinzuzufügen ist noch, dass eine Überschneidung von Kategorien für Aristoteles nicht in Frage kommt (vgl. AARTS et al. 2004: 2). Über Jahrhunderte dominierte das NHB-Modell die Diskussion um den Kategorienbegriff, ehe es im 20. Jahrhundert zunächst von Wittgenstein (vgl. GIVÓN 1986: 81–90), später insbesondere von den aufkommenden Kognitionswissenschaften hinterfragt wurde, unter anderem weil es die definierenden Merkmale nicht genau zu bestimmen zu vermag

|| 4 MURPHY selbst spricht, wie bspw. auch ROSCH (1978: 30), ausschließlich von Objekten („classes of objects“). Da aber zum Beispiel auch Emotionen Kategorisierungsoperationen unterworfen werden können, scheint mir der allgemeinere Begriff der Entität hier angemessener.

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(vgl. das vielzitierte Beispiel des Junggesellen5, der mit Merkmalen wie [männlich], [erwachsen], [unverheiratet] definiert werden könnte, was jedoch z.B. auch für den Papst gilt; vgl. FILLMORE 1982: 34) und weil sich Prototypeneffekte damit nicht erklären lassen (vgl. MEDIN/SMITH 1984). Die Prototypentheorie, für die insbesondere die Arbeiten von ROSCH (z.B. 1973, 1975) zentral sind, wurde in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts in der kognitiven Psychologie und in der kognitiven Semantik als Gegenentwurf zum NHB-Modell entwickelt (vgl. LÖBNER 2003: 260). KLEIBER (1998) unterscheidet dabei die ‚Standardversion‘ der Prototypentheorie von einer ‚erweiterten‘ Version (vgl. KLEIBER 1998: 123). Als wesentliche Eigenschaft der letzteren arbeitet er unter anderem die Annahme unterschiedlicher Arten von Prototypen heraus. So unterscheidet FILLMORE (1982) mindestens sechs solcher Typen, während LAKOFF (1986, 1987) in seiner Theorie der Idealisierten Kognitiven Modelle (Idealized Cognitive Models, ICMs) „sieben Typen von Prototypen unterscheidet, die jeweils einer anderen metonymisch verschobenen (abgeleiteten) Kategorie entsprechen“ (KLEIBER 1998: 125f.), darunter typische Beispiele (Rotkehlchen als typischer Vogel) sowie kulturell konditionierte Ideale und Stereotype (vgl. LAKOFF 1987: 85–90). Sowohl FILLMOREs frame-semantischer Ansatz als auch LAKOFFs ICM-Theorie tragen der Tatsache Rechnung, dass Kategorisierung und Konzeptbildung sich beim Menschen nicht in einfachsten Unterscheidungen und Klassifizierungsoperationen erschöpfen, sondern, wie das Beispiel des Junggesellen zeigt, vielmehr auf dem Hintergrund komplexer Wissensstrukturen erfolgen. Gegenüber der erweiterten Version der Prototypentheorie merkt KLEIBER (1998: 130f.) kritisch an, dass sie durch den Einbezug von Polysemie-Phänomenen keine Theorie der Kategorienstruktur mehr darstelle, sondern vielmehr eine Theorie der Wortbedeutung. Er mahnt eine strikte Unterscheidung zwischen sprachlichen und begrifflich-referentiellen Kategorien an, zwischen denen ein unüberbrückbarer Gegensatz bestehe (vgl. KLEIBER 1998: 131). Eine solche Unterscheidung zwischen einer rein linguistisch-semantischen und einer nonlinguistisch-konzeptuellen Bedeutungsebene liegt auch anderen Ansätzen zugrunde, die der Prototypentheorie kritisch gegenüberstehen (vgl. z.B. BIERWISCH 1983; WUNDERLICH 1993). Zugleich ist diese Unterscheidung keineswegs unumstritten (vgl. TAYLOR 2003: 159f.). Ihr steht die kognitiv-linguistische Grundannahme einer enzyklopädischen Semantik gegenüber, wonach lexikalische Bedeutung sich durch den Zugriff auf umfangreiche Wissenskomplexe konstituiert (vgl. LANG-

|| 5 Vgl. z.B. LAKOFF 1987: 70f.; TAYLOR 2003: 27ff. zum engl. bachelor.

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ACKER 2008a: 39). Einen Hauptgrund für die Ablehnung einer strikten Unterschei-

dung zwischen Sprachwissen und Weltwissen stellt dabei die Beobachtung dar, dass Sprache nicht im luftleeren Raum existiert, sondern sich sprachliches Bedeutungswissen vielmehr aus der Erfahrung mit Sprache im Kontext ergibt (vgl. KISHNER/GIBBS 1996: 19; TAYLOR 2012: 244). KLEIBER ist freilich dahingehend Recht zu geben, dass zum Beispiel ein polysemer Begriff wie Bank auf Konzepte verweist, die im Grunde keinerlei Ähnlichkeit haben. Um solche (historisch zu erklärenden) Fälle geht es jedoch in der Polysemie-Debatte allenfalls am Rande (vgl. TAYLOR 2003: 145). Im Mittelpunkt der kognitiv-linguistischen Behandlung des Phänomens steht vielmehr die Beobachtung, dass im Grunde jede sprachliche Einheit in höherem oder geringerem Maße polysem ist. So bezieht sich Fenster in (1a) auf das Fenster als Ganzes, in (1b) hingegen nur auf die Scheibe6: (1a)

(1b)

Allem Anschein nach haben die Täter das Fenster bereits einige Zeit vor dem eigentlichen Einbruch geöffnet und sind dann wiedergekehrt, um die Tat zu vollenden. (Burgenländische Volkszeitung, 18.02.2010 | DeReKo) Am Mittwoch, zwischen 0.10 und 11 Uhr, wurde beim Italienerclub-Lokal an der Bahnhofstrasse in Herisau ein Fenster eingeschlagen. (St. Galler Tagblatt, 12.06.1997 | DeReKo)

Dem Dilemma, entweder für jede sprachliche Einheit eine potentiell unendliche Anzahl an Bedeutungen annehmen oder aber den Versuch unternehmen zu müssen, Polysemie auf ein Minimum zu reduzieren (vgl. TAYLOR 2003: 147), begegnet LANGACKER (1988) mit einem Netzwerkmodell der Kategorienstruktur. In diesem Modell konstituieren die konventionalisierten Bedeutungen einer sprachlichen Einheit unterschiedliche Knoten eines potentiell sehr komplexen Netzwerks, wobei die Knoten horizontal durch Ähnlichkeitsrelationen verbunden sind und vertikal durch Schema-Instanz-Beziehungen (vgl. TAYLOR 2003: 164). LANGACKER (1988: 138–140) nimmt die in Abb. 1 (links) dargestellte und am Beispiel von Auge (rechts) illustrierte Kernstruktur an7. Auge bezieht sich prototypischerweise auf ein Körperteil, kann jedoch metaphorisch auch in einem Ausdruck wie Auge des Sturms verwendet werden. Im Ausweitungsprozess eines kognitiven Netzwerks unterscheidet LANGACKER (1988: 140) zwischen Extension auf der horizontalen

|| 6 In der Terminologie LANGACKERs (z.B. 1984) unterscheiden sich die beiden Varianten in bezug auf die jeweilige active zone. 7 LANGACKER selbst greift auf das Beispiel Ohr zurück: ear1 (body part) vs. ear2 (ear of corn).

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Achse und Schematisierung auf der vertikalen. So kann das Wissen darum, dass Auge in einem metaphorischen Sinn gebraucht werden kann, zum Bestandteil des sprachlichen Wissens um das Wort Auge werden, wenn über die einzelnen Gebrauchsvarianten des Begriffes generalisiert wird.

Abb. 1: Kernstruktur in Langackers Netzwerkmodell, illustriert am Beispiel von Auge und dessen metaphorischer Extension (nach LANGACKER 1988: 138 u. 140).

Die diesem Modell wie auch dem usage based-Paradigma insgesamt zugrundeliegende Prämisse, „dass sich zwischen Sprachwissen und Weltwissen keine scharfe Trennlinie ziehen lässt“ (ZIEM 2008: 442), stellt auch die Kernthese von TAYLORs (2012) mental corpus-Hypothese dar, wonach Sprachbenutzerinnen durch ihre Erfahrung mit Sprache ein ‚mentales Korpus‘ von Konstruktionen auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen erstellen. Seine Herangehensweise an das Problem der Polysemie ist uneingeschränkt mit LANGACKERs Netzwerkmodell vereinbar, betont jedoch noch stärker den Einfluss von Faktoren wie Gebrauchsfrequenz und Gebrauchskontext. [K]nowing a word involves knowing the kinds of contexts in which a word can be used. A word provides access, not only to the conceptual domains against which it is understood, but also to the linguistic contexts in which it has been used, as these have been laid down in the speaker’s mental corpus. (Taylor 2012: 244)

Auch im Bereich der Wortbildung spielt die Polysemieproblematik eine entscheidende Rolle, da gerade komplexe Wörter häufig zwischen unterschiedlichen Lesarten oszillieren: So kann beispielsweise Ausgrabung einen Prozess bezeichnen wie in (2a), einen Ort wie in (2b) oder gar in stärker objekthafter Lesart gebraucht werden wie in (2c). (2a)

Im Zusammenhang mit der illegalen Ausgrabung der so genannten Sternenscheibe von Nebra ermittelt die Staatsanwaltschaft Halle (NKU02/SEP.07691 | DeReKo)

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(2b) (2c)

Die ältesten Zeugen finden sich in einer Ausgrabung in Chirokitia auf halbem Weg zwischen Larnaka und Limassol. (N93/APR.14651 | DeReKo) Eine weitere Ausgrabung wird im Mai in Wien bei den Festwochen zu hören sein (N98/FEB.07181 | DeReKo)

Es würde dabei zu kurz greifen, diese Polysemie ausschließlich auf der Ebene der Wortbildungsprodukte anzusetzen und lexemspezifischen Lexikalisierungsprozessen zuzuschreiben. Gerade Prozess-, Resultats- und Objektlesart finden sich bei ung-Nominalisierungen regelmäßig (vgl. z.B. EHRICH/RAPP 2000), weshalb es sinnvoll erscheint, die Polysemie auf der Ebene des Wortbildungsmodells anzusetzen. Unabhängig davon machen derlei Beispiele zudem deutlich, dass eine Trennung zwischen Sprach- und Weltwissen schon deshalb verfehlt ist, weil sprachlichen Zeichen keine „objektive“, kontextunabhängige Bedeutung innewohnt (vgl. z.B. LAKOFF/JOHNSON [1980] 2003: 196), sondern vielmehr der Kontext die jeweilige Interpretation maßgeblich mitbestimmt (vgl. BAAYEN/RAMSCAR 2015: 104) – ganz im Sinne von FAUCONNIERs (1994: xxii) Aphorismus „Language does not carry meaning, it guides it.“

2.1.2 Volks- und Expertenkategorien Jede Kategorisierung kann als Interpretationsleistung gesehen werden, die aufgrund von in der Welt vorfindlichen faktischen Gegebenheiten getätigt wird. „Phänomene werden zu Typen gruppiert aufgrund ihrer (wechselseitigen) Ähnlichkeit, unter bestimmten Rahmenbedingungen und Zielsetzungen. Durch Kategorienbildung werden vergangene Wahrnehmungen zur Grundlage der Interpretation und Einordnung neuer Erlebnisse und Erfahrungen gemacht.“ (KONERDING 1997: 57) Die Aspekte der Beschreibung und der Zuschreibung sind somit für jeglichen Kategorisierungsprozess gleichermaßen konstitutiv. Modelle, die klare Kategoriengrenzen annehmen und die Idee einer abgestuften Kategorienzugehörigkeit ablehnen (so z.B. LÖBNER 2003: 298f., aber auch, für einige Kategorien, LAKOFF 1987: 56), verabsolutieren den erstgenannten Aspekt. So ist beispielsweise die biologische Charakterisierung des Pinguins als hundertprozentiger Vogel für die individuelle kognitive Kategorienbildung zunächst irrelevant. Zugleich steht die soziale und kulturelle Relevanz klar abgegrenzter Kategorien, deren Definition sich soweit irgend möglich auf empirisch nachprüfbare Fakten stützt, außer Frage. Ebenso unstrittig ist, dass sich Kategorisierungen auf der individuellen Ebene auch aus tradierten bzw. soziokulturell vermittelten überindividuellen Kategorisierungskonventionen speist. Dem trägt die Unterscheidung zwischen

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Volks- und Expertenkategorien Rechnung, die etwa TAYLOR (2003) vornimmt. Ein einfaches Beispiel: Ein Blatt Papier mit den Maßen 215x300 mm mag vom Betrachter als DIN A 4 wahrgenommen werden; tatsächlich ist DIN A 4 jedoch (mit einer geringfügigen Toleranzgrenze) als 210x297mm definiert. Nun wäre es aber verfehlt, die intuitive Kategorisierung des etwas zu groß geratenen Blattes einfach als falsch zurückzuweisen bzw. auf „Unkenntnis der genauen Wortbedeutung“ (LÖBNER 2003: 80) oder gar „Unwissenheit“ (LÖBNER 2003: 81) zurückzuführen. Vielmehr kann von einer Koexistenz von Volks- und Expertenkategorien ausgegangen werden, die freilich nicht völlig getrennt voneinander existieren: Die Sprecherinnen, so TAYLOR (2003: 76), identifizieren Dinge wie etwa Wasser und Gold auf Basis dessen, was mit PUTNAM (1975: 247–252) als ‚Stereotyp‘ bezeichnet werden kann; zugleich ist ihnen jedoch bewusst, dass es Experten gibt, deren Aufgabe gerade darin besteht festzulegen, welche Stoffe als Wasser oder Gold bezeichnet werden können. In der Beschreibung eines hochgradig dynamischen Phänomens wie Sprache erweist sich die Definition klar abgrenzbarer Expertenkategorien freilich als problematisch, gerade wenn eine kognitiv realistische Beschreibung das Ziel ist, in der auch Übergangs- und Peripheriephänomene sowie diachrone Kategorienverschiebungen (vgl. VAN GOETHEM et al. im Ersch.) einen Platz haben. Dies zeigt sich beispielsweise im Bereich der Wortartenkategorisierung (s.u. 2.1.6), die in der Beschäftigung mit wortartentransponierenden Derivationsmustern von besonderer Relevanz ist: Denn jeder Versuch, Wortarten (oder auch semantische Aspekte der „Nominalität“ oder „Verbalität“) in Expertenkategorien zu fassen, kann gerade im Bereich der „kleineren“ Wortarten der komplexen Realität kaum gerecht werden.

2.1.3 Exemplarbasierte Ansätze Von den unterschiedlichen Varianten der Prototypentheorie, bei denen die Kategorisierung – sei es über Ähnlichkeit, über gewichtete Merkmale oder über Schemata – mit Hilfe von Prototypen erfolgt, sind exemplarbasierte Ansätze zu unterscheiden. In diesem Ansatz ergibt sich konzeptuelles Wissen aus der Begegnung mit konkreten Exemplaren einer Kategorie (vgl. MEDIN/SMITH 1984: 115). So konstituiert sich das Wissen um die Kategorie Hund aus den konkreten Hunden, an die sich eine Person erinnert (vgl. MURPHY 2002: 49). Gegenüber der Prototypentheorie haben exemplarbasierte Ansätze den Vorteil, dass sie intrakategorielles Wissen – etwa das Wissen um das häufige gemeinsame Auftreten der Merkmale

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[klein] und [Singvogel] in der Kategorie Vogel (vgl. MALT/SMITH 1984) – besser erklären können, als es die Annahme eines abstrakten Prototypen vermag (vgl. BYBEE 2010: 19). MEDIN/SMITH (1984: 119) merken jedoch kritisch an, dass es in diesem Ansatz keinerlei Beschränkungen dahingehend gebe, welche Merkmale überhaupt eine Kategorie konstituieren (können). Auch ist die Frage umstritten, wie genau ein Exemplar zu definieren ist (als Type? als Token?); entsprechend wird der Begriff vielfach recht vage verwendet (vgl. MURPHY 2002: 58). BYBEE (2010) wählt einen exemplarbasierten Ansatz, um Erwerb, Distribution und Wandel sprachlicher Konstruktionen zu erklären (vgl. v.a. BYBEE 2010: 28–31 u. 78–80). Während allerdings exemplarbasierte Ansätze in ihrer „reinen“ Form die These ablehnen, dass Menschen Generalisierungen über Exemplare anstellen (vgl. TAYLOR 2012: 187), geht BYBEE davon aus, dass Sprachbenutzerinnen über die einzelnen Konstruktionen, denen sie begegnen, abstrahieren. Auch TAYLOR (2012: 286f.) betont, dass im Gedächtnis gespeicherte Exemplare nicht als 1:1-Kopien der Tokens missverstanden werden dürfen, denen eine Sprachbenutzerin begegnet. Vielmehr werden die sprachlichen „Rohdaten“ in mehrfacher Hinsicht kategorisiert, klassifiziert und analysiert. Zu den dabei relevanten Einflussfaktoren zählen beispielsweise das direkte lexikalische Umfeld und die syntaktischen Konstruktionen, in denen ein Token gebraucht wird, aber auch der Kommunikationskontext8.

2.1.4 Wissensbasierte Ansätze Der wissensbasierte Ansatz baut in mancherlei Hinsicht auf der Prototypentheorie und exemplarbasierten Ansätzen auf, versucht jedoch stärker der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Kategorien und Konzepte nicht isoliert erworben werden, sondern dass vielmehr unser Wissen über eine Kategorie mit einer Vielzahl an Informationen aus derselben sowie aus anderen relevanten Domänen aufs engste verzahnt ist (vgl. MURPHY 2002: 60). MURPHY/MEDIN (1985: 303) sehen hier einen engen Zusammenhang wissensbasierter Ansätze mit LAKOFFs (1987) Idealisierten Kognitiven Modellen und vergleichen, erneut am Beispiel des Junggesellen, das Verhältnis von Konzepten und Exemplaren mit jenem zwischen Theorie und Daten: „Not only may data be somewhat noisy, but theories also typically involve simplifying assumptions that trade parsimony for power.“ GARNHAM et al. (2006: 7) weisen darauf hin, dass der wissensbasierte Ansatz eine weit subtilere || 8 Zur Rolle des Gesprächskontexts vgl. z.B. BIBERs (2012) empirische Studie zu unterschiedlichen Gebrauchsmustern in gesprochener vs. geschriebener Sprache.

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Herangehensweise an Fragen der Wortbedeutung ermögliche als frühere Modelle. So überrascht es wenig, dass nicht nur FILLMORES Frames und LAKOFFs ICMs diesen Ansatz, wie MURPHY/MEDIN (1985) einräumen, in wesentlichen Punkten vorwegnehmen, sondern sich auch Elemente einer solchen wissensbasierten Theorie beispielsweise in LANGACKERs stark semantisch orientierter Kognitiver Grammatik sowie in anderen gebrauchsbasierten Ansätzen wie GOLDBERGs (1995) Variante der Konstruktionsgrammatik und TAYLORs (2012) Theorie des ‚mentalen Korpus‘ finden. All diesen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie sprachliches (und teilweise auch konzeptuelles) Wissen als komplexe Netzwerke von Wissensinhalten auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen konzeptualisieren. In der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik spielt die Netzwerkmetapher insbesondere im Konzept des Konstruktikons eine Rolle (vgl. z.B. ZIEM 2014: s.u. 2.3), das sich unmittelbar aus der Konzeptualisierung von Grammatik als „dynamic system of emergent categories and flexible constraints that are always changing under the influence of domain-general cognitive processes involved in language use“ (DIESSEL 2015: 296) ergibt. In Bezug auf Sprachwandel, insbesondere auf morphosyntaktischen Wandel, machen TRAUGOTT/TROUSDALE (2013: 50–58 u. passim) ausgiebig und explizit von der Netzwerkmetapher Gebrauch. Als wesentliche kognitive Grundlage der steten Rekonfiguration des konstruktionalen Netzwerks, als das sprachliches Wissen modelliert werden kann (s.u. 2.3.1), sehen sie dabei mit HUDSON (2007) den Mechanismus der spreading activation. Darunter ist das Phänomen zu verstehen, dass mehrere Knoten eines Wissensnetzwerks gleichzeitig oder annähernd gleichzeitig aktiviert werden können (vgl. TRAUGOTT/TROUSDALE 2013: 54). Dies kann bei häufiger gleichzeitiger Aktivierung zu einem Effekt der kognitiven Verfestigung (entrenchment) führen, was HUDSON (2010: 95f.) an einem nichtsprachlichen Beispiel illustriert: Da das Konzept Vogel in der Beobachtung tatsächlicher Exemplare dieser Kategorie häufig gemeinsam mit dem Konzept Himmel aktiviert wird, kann sich die Verbindung zwischen beiden Konzepten zu einem integralen Bestandteil unseres Wissens über die Kategorie Vogel entwickeln. Dies manifestiert sich in Priming-Effekten: Vogel wird mit Himmel assoziiert, d.h. bei der Aktivierung des Konzepts Vogel wird das Konzept Himmel mit aktiviert, das Aktivierungsmuster breitet sich gleichsam aus (spreading activation), ohne dass jedoch davon auszugehen ist, dass der Priming-Effekt in umgekehrter Richtung ebenso stark ist (denn es kann angenommen werden, dass Himmel Anderes, z.B. Wolken oder die Farbe Blau, stärker primt als das Konzept Vogel). Dieses asymmetrische Priming wird auch als möglicher Faktor im Sprachwandel, insbesondere in der Grammatikalisierung, diskutiert (vgl. JÄGER/ROSENBACH 2008).

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HUDSONs Konzept der spreading activation ist von HEBBs ([1949] 2002) Lerntheorie beeinflusst (vgl. HUDSON 2010: 86), die häufig etwas vereinfachend mit dem Aphorismus „Neurons that fire together, wire together“ (BAARS/GAGE 2010: 76) zusammengefasst wird und die in der Neurolinguistik unter anderem durch die Arbeiten PULVERMÜLLERs (z.B. 1999) eine Renaissance erfahren hat. Das HEBBsche Modell geht davon aus, dass zwischen koaktivierten Neuronen Verbindungen entstehen, wobei es keine Rolle spielt, ob es sich um benachbarte oder um weiter voneinander entfernte Neuronen handelt; der gesamte Kortex kann als assoziatives Netzwerk gesehen werden (vgl. PULVERMÜLLER 1999: 254). Wenn sich Neuronen miteinander verbinden, entwickeln sie sich zu einer funktionalen Einheit, die cell assembly genannt wird (vgl. ebd.). Ebenso kann in der Sprache davon ausgegangen werden, dass sich häufig gemeinsam aufgerufene „Knoten“ im konstruktionalen Netzwerk miteinander verbinden (vgl. TRAUGOTT/TROUSDALE 2013: 55), was sich zum Beispiel in Univerbierungsprozessen niederschlägt: „items that are used together fuse together“ (BYBEE 2007: 316). Umgekehrt kann seltenere Koaktivierung zu geringerer kognitiver Verankerung bis hin zum Wegfall von Verbindungen zwischen Konstruktionen führen (vgl. TRAUGOTT/TROUSDALE 2013: 55). Als ein solcher Fall kann etwa die unter 4.4.1 ausführlich diskutierte Konstruktion gesehen werden, in der ung-Nomina als präpositionale Komplemente verwendet werden ([PREP V-ung]-Konstruktion; z.B. in Lesung des Briefes). Durch den im Vergleich zum Fnhd. weit selteneren Gebrauch wird die Verbindung zwischen ung-Nomina und der syntaktischen Konstruktion geschwächt, mit der Folge, dass sie im Gegenwartsdeutschen weitestgehend außer Gebrauch gekommen ist und Phrasen wie ??in Betrachtung des Bildes oder *in Ausgrabung der Ruine markiert bis ungrammatisch wirken. Während zahlreiche Studien auf die Relevanz mentaler Simulationen in der Bedeutungskonstruktion hindeuten9 (s. auch unten 2.2), deuten zugleich die Befunde gebrauchsbasierter Studien, wie sie in den vorangegangenen Abschnitten diskutiert wurden, auf die Relevanz von „Theorien“ im Sinne wissensbasierter Ansätze hin. Stark vereinfacht könnte man sagen: Versteht man sprachliche Konstruktionen im Sinne der Konstruktionsgrammatik als Form-Bedeutungs-Paare, so lässt sich das sprachliche Wissen von Sprachbenutzerinnen über die Formseite von Konstruktionen mit Theorieansätzen beschreiben, während sich ihre Bedeutungsseite über verkörperte Simulationen (embodied simulations) erschließt. Dies lässt sich am Beispiel der Alternation zwischen Ditransitiv- und caused motion-Konstruktion veranschaulichen:

|| 9 Vgl. BERGEN (2012) für einen populärwissenschaftlichen, aber sehr umfassenden Überblick.

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(3a) (3b)

Mina sent a book to Mel. Mina sent Mel a book. (aus GOLDBERG 2006: 25)

Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass diese syntaktischen Konstruktionen unabhängig von ihrer lexikalischen Füllung eine bestimmte Bedeutung evozieren, wobei experimentelle Studien auf eine detailliertere Simulation des Bewegungsverlaufs bei caused motion-Konstruktionen schließen lassen (vgl. BERGEN 2012: 98–108). Die Formseite der jeweiligen Konstruktion evoziert also die Simulation eines (schematischen) Bewegungsmusters. Zugleich spielen im Sprachverstehen Aspekte wie Weltwissen und kommunikativer Kontext eine zentrale Rolle (vgl. BERGEN/CHANG 2013), die zum einen die semantische Interpretation einer sprachlichen Einheit modifizieren können, zum anderen aber auch sprachliches Wissen beinhalten, das sich allein auf die Formseite einer Konstruktion, etwa auf ihre relative Frequenz und ihre Distribution in unterschiedlichen Kommunikationssituationen, bezieht.

2.1.5 Ein integrierter Ansatz Der kursorische Überblick über unterschiedliche Kategorisierungstheorien hat gezeigt, dass neben dem klassischen Aristotelischen Ansatz zahlreiche weitere Hypothesen darüber existieren, wie menschliche Kategorisierung funktioniert. MACHERY (2009, 2010) zeigt, dass die empirische Evidenz ebenfalls uneinheitlich ist: Während einige Befunde für eine Exemplarrepräsentation von Kategorien sprechen, lassen andere auf Prototypen- oder Wissensrepräsentation schließen. Er schlägt daher eine „Heterogenitätshypothese“ vor, wonach eine bestimmte Kategorie durch ganz verschiedene Arten von Konzepten repräsentiert sein kann, die wenig gemeinsam haben (vgl. MACHERY 2010: 200). Dieser Ansatz scheint angemessen, der Heterogenität kognitiver Kategorisierungsprozesse Rechnung zu tragen; seine Konsequenz, für eine Abschaffung des Konzeptbegriffs an sich zu plädieren, geht indes einen Schritt zu weit: Vielmehr sollte der Konzeptbegriff die vielfältigen Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Kategorisierungsund Konzeptualisierungsprozessen erfassen. Wie beispielsweise MEIBAUERs (1995b) konzeptuelle Herangehensweise an deutsche -er-Nomina zeigt, kann sich der Konzeptbegriff gerade im Bereich der Wortbildung als wichtiges heuristisches Hilfsmittel erweisen, um etwa zwischen verschiedenen reihenbildenden Lesarten der Produkte eines spezifischen Wortbildungsmusters zu unterscheiden.

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2.1.6 Wortartenkategorisierung Die in den vorangegangenen Abschnitten skizzierten Ansätze zur Beschreibung menschlicher Kategorisierungs- und Konzeptbildungsoperationen sind für den Bereich der Wortbildungstheorie in zweierlei Hinsicht relevant. Zum einen kann in einem Ansatz, der Sprache als Kategoriensystem betrachtet, davon ausgegangen werden, dass Wortbildungsmuster – teilweise schematische bzw. abstrakte – Konzepte bzw. Konzeptualisierungen10 evozieren (vgl. z.B. UNGERER 2007). So gehen beispielsweise PANTHER/THORNBURG (2001, 2002) davon aus, dass für englische Agentiva auf -er die zentrale Bedeutung ‚person who (professionally or habitually) performs an action‘ (PANTHER 2006: 176) angenommen werden kann, mit der alle weiteren Lesarten (etwa ‚Instrument‘ und ‚Objekt‘ bei sleeper ‚Schlaftablette‘ bzw. ‚Eisenbahnschwelle‘) über metaphorische und metonymische Verknüpfungen verbunden sind. Zum anderen ist für wortartentransponierende Muster wie die deverbale Nominalisierung, der die vorliegende Untersuchung gewidmet ist, die klassische Wortartenunterteilung von Belang, die sich mindestens bis zur téchnē grammatikē des Dionysius Thrax (2. Jh. v. Chr.) zurückverfolgen lässt (vgl. BAKER 2003: 1; JUNGEN/LOHNSTEIN 2006: 15). Nicht nur die Unterteilung in lexikalische Kategorien hat eine lange Tradition: Auch die damit verbundenen Probleme werden seit Jahrhunderten diskutiert. So wies bereits im Mittelalter der Modist Boëthius Dacus darauf hin, dass lat. dolor ‚Schmerz‘, doleo ‚Ich spüre Schmerz‘, dolenter ‚schmerzhaft‘ und die Interjektion heu, die Schmerz zum Ausdruck bringt, zwar sehr ähnliche Bedeutungen aufweisen, aber zu unterschiedlichen Wortklassen gehören (vgl. COVINGTON 1984: 26). Zugleich weisen Begriffe, die gemeinhin derselben Wortklasse zugeordnet werden, ein hohes Maß an Heterogenität auf; man vergleiche etwa eine Personenbezeichnung wie Professorin mit einer Objektbezeichnung wie Stein und mit Begriffen, die abstraktere Konzepte denotieren, etwa Freiheit oder Würde (vgl. GIVÓN 1984: 56). Die wesentliche Frage lautet daher, welche Kriterien der Wortartenklassifikation zugrunde gelegt werden sollen (vgl. SASSE 1993: 646). ENGEL (1992: 54) etwa unterscheidet das morphologische Verfahren, das Wörter nach ihrer geregelten Veränderlichkeit klassifiziert, das semantische Verfahren, das die Wörter nach Grundbedeutungen klassifiziert, und das syntaktische Verfahren, das die Wörter nach ihrer Kombinierbarkeit mit anderen Wörtern oder Wortgruppen, d.h. nach distributionalen Kriterien, klassifiziert.

|| 10 Der Begriff der Konzeptualisierung betont gegenüber dem Konzeptbegriff die inhärente Dynamik jeglicher Bedeutungskonstruktion; vgl. TAYLOR (2001: 3).

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Die vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus kontrovers geführte Debatte kann hier nicht im Detail nachverfolgt werden. Vielmehr sollen im Folgenden zwei Ansätze, die für den weiteren Verlauf der Untersuchung von Bedeutung sind, knapp skizziert werden, nämlich zum einen jener der Kognitiven Grammatik LANGACKERs als Beispiel für die kognitiv-linguistische Behandlung des Phänomens, zum anderen CROFTs universaltypologischer Ansatz als Repräsentant konstruktionsgrammatischer Annäherungsversuche. Beide Ansätze gehen davon aus, dass die Annahme diskreter lexikalischer Kategoriengrenzen verfehlt wäre. Tatsächlich deuten zahlreiche „Grenzfälle“ darauf hin, dass die Annahme skalarer Kategorienübergänge der kognitiven Realität eher gerecht wird als eine absolute Unterscheidung diskreter lexikalischer Kategorien. So weisen nominalisierte Infinitive im Deutschen einige sehr „verbale“ Eigenschaften auf (vgl. VOGEL 2000: 271) bzw. stellen „untypische Substantive“ (VOGEL 1996: 154) dar, insofern sie nicht pluralisierbar sind und in der Regel nicht mit indefinitem Artikel verwendet werden können (*die Tanzen, ??ein Tanzen). KNOBLOCH (2002: 352) weist im Blick auf die ung-Nominalisierung auf die Relevanz des Genitivkomplements als Indiz für die nouniness bzw. verbiness des jeweiligen Wortbildungsprodukts hin und vertritt die These, dass ‚verbalere‘ -ung-Nomina den Genitiv für die Objektrelation vorziehen und ‚nominalere‘ -ung-Bildungen ihn für die Subjektrelation reservieren. Ganz komplementär ist bei den ‚verbnahen‘ -ung-Formen, den reinen deprädikativen Transpositionen, gerade das SubjektArgument für die Codierung qua Präpositionalphrase reserviert (die Beobachtung der Ereignisse durch die Massenmedien etc.).

In der Tat wird sich im Laufe der empirischen Untersuchung (s.u., Kap. 4) zeigen, dass Wortbildungsprodukte auf -ung unterschiedliche konstruktionale Präferenzen aufweisen, die mit den nominalen bzw. verbalen Eigenschaften der jeweiligen Derivate in engem Zusammenhang stehen.

2.1.6.1 Kognitiv-linguistischer Ansatz In LANGACKERs Kognitiver Grammatik sowie in verschiedenen darauf aufbauenden kognitiv-linguistischen und konstruktionsgrammatischen Ansätzen leitet sich der Ansatz zur Wortartenkategorisierung unmittelbar aus dem bereits diskutierten Netzwerkmodell der Kategorienstruktur ab (s.o. 2.1.2.2). Die Kognitive Grammatik geht von der Grundannahme aus, dass Sprache erschöpfend als Inventar symbolischer Einheiten beschrieben werden kann, d.h. konventionalisierter Verbindungen einer phonologischen Struktur mit einer semantischen Struktur über symbolische Relationen (vgl. LANGACKER 1987a: 328–368; TAYLOR 2002:

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20f.; 592). Folgerichtig können auch Kategorien wie Nomen und Verb, ja sogar eine Kategorie wie Wort als – freilich hochschematische – symbolische Einheiten verstanden werden (vgl. TAYLOR 2002: 166). In Übereinstimmung mit HOPPER/THOMPSON (1984, 1985), die sich explizit auf ROSCHs Prototypentheorie stützen, geht LANGACKER (1987b) davon aus, dass die Nomen- und Verbkategorien prototypisch strukturiert sind, wobei konkrete physische Objekte prototypisch für Nomina sind, während „overt physical actions“ (LANGACKER 1987b: 54), also konkrete Prozesse und Ereignisse, als Prototypen für Verben fungieren. Zugleich jedoch geht er davon aus, dass alle Mitglieder einer Wortartenkategorie, nicht nur die prototypischen bzw. zentralen, ein gemeinsames abstraktes Schema instanziieren. Wörter wie Baum oder Hund werden somit als Instanziierungen der schematischen Kategorie Nomen gesehen. Abb. 2 illustriert dies: Wie in der Kognitiven Grammatik üblich, werden sprachliche Einheiten auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen als Paarungen von phonologischer Struktur und semantischer Struktur aufgefasst, die zusammen eine symbolische Einheit bilden (vgl. LANGACKER 2008a: 15). So stellt die Paarung aus der phonologischen Struktur [hʊnt] und der Bedeutung ‚Hund‘ eine symbolische Einheit auf Wortebene und zugleich eine Instanziierung der schematischen Kategorie Nomen dar, die ihrerseits als symbolische Einheit, also als Form-Bedeutungs-Paar, gesehen werden kann. Da abstrakte symbolische Einheiten nicht eine spezifische Form und Bedeutung haben, sondern vielmehr auf der Form- wie auf der Bedeutungsseite prototypisch organisierte Kategorien darstellen, sind die formalen und semantischen Eigenschaften der Wortartenkategorien (wie auch der Wortkategorie, die in der Kognitiven Grammatik ebenfalls als schematische Einheit aufgefasst wird) nicht spezifiziert, was freilich nicht bedeutet, dass eine genauere Beschreibung der jeweiligen Kategorien prinzipiell unmöglich wäre: Ganz im Gegenteil ist die Frage, welche formalen und semantischen Eigenschaften abstrakte Kategorien konstituieren, für die Kognitive Grammatik von zentralem Interesse.

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Abb. 2: Ein Ausschnitt der Wortartentaxonomie der Kognitiven Grammatik (nach Taylor 2002: 166).

Die schematischen symbolischen Einheiten für Nomen und Verb – wie auch für andere Wortartenkategorien – ergeben sich unmittelbar aus dem Sprachgebrauch, d.h. durch Generalisierungen, die Sprachbenutzerinnen über spezifische Nomina und Verben anstellen (vgl. HOLLMANN 2013: 279). Die Kategorisierung stützt sich dabei in LANGACKERs Modell allein auf semantische Kriterien. Die Kognitive Grammatik vertritt eine dezidiert konzeptualistische und enzyklopädische Semantik, in der „die Bedeutung einer sprachlichen Einheit in der von ihr ausgedrückten Konzeptualisierung liegt“ (SMIRNOVA/MORTELMANS 2010: 94) und in der alle Facetten des Wissens über eine Entität in die Bedeutung des Begriffs, der diese Entität bezeichnet, einfließen (vgl. LANGACKER 1987b: 55). Zu diesen Facetten gehört über den konzeptuellen Gehalt einer sprachlichen Einheit hinaus, der sich prinzipiell wahrheitssemantisch erfassen lässt, auch die Art und Weise, wie dieser konzeptuelle Gehalt ‚konstruiert‘ wird (vgl. LANGACKER 1991b: ix). Zentral für den konzeptualistischen Ansatz ist folgerichtig die Betonung dynamischer Konzeptualisierungsoperationen (construal operations, vgl. z.B. CROFT/CRUSE 2004: 40–73; LANGACKER 2008a: 55–89). Der Begriff des construal wird dabei bei LANGACKER – anders als etwa CROFT (2012: 13) es handhabt – nicht synonym zu conceptualization gebraucht; vielmehr wird unter construal die Fähigkeit verstanden, die (konzeptuell) gleiche „Szene“ in unterschiedlicher Weise zu sehen, z.B. aus verschiedenen Perspektiven oder mit unterschiedlicher Fokussierung einzelner Entitäten im konzeptuellen „Raum“ (vgl. z.B. MATLOCK 2004: 224, Fn. 4; LANG-

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2008a: 55–89).11 Wörter mit gleichem konzeptuellem Gehalt, die aber unterschiedlichen Wortklassen angehören, können in diesem Ansatz als Konzeptualisierungsvarianten begriffen werden. So bringt Nominalisierung stets ein gewisses Maß an konzeptueller Reifizierung mit sich („conceptual reification“, vgl. LANGACKER 1987b: 57; 1991a: 22). Jedoch erfordert die Heterogenität der Begriffe, die einer Wortklasse angehören, eine sehr abstrakte Charakterisierung des Schemas, das ausnahmslos alle Instanziierungen der jeweiligen Kategorie umfasst. Für Nomina schlägt LANGACKER (1987b: 58) folgende schematische Charakterisierung vor: ACKER

a. A NOUN designates a REGION in some domain. b. A COUNT NOUN designates a BOUNDED REGION in some domain.

Diese Definitionen bedürfen einer kurzen Erläuterung, da sie in hohem Maße von termini technici der Kognitiven Grammatik Gebrauch machen. Unter einer Domäne (domain) wird jegliche Wissenskonfiguration verstanden, die den Kontext einer Konzeptualisierungsoperation bildet (vgl. TAYLOR 2002: 589). Der Begriff Knöchel beispielsweise wird vor dem Hintergrund der Domäne Finger verstanden, Finger ruft wiederum die Domäne Hand auf, Hand die Domäne Arm usw. (vgl. LANGACKER 1987a: 147f.). Unter einer Region versteht LANGACKER (1987a: 198) eine Menge miteinander verbundener Entitäten („a set of interconnected entities“), wobei der Begriff der Entität ausdrücklich in einem sehr weit gefassten Sinne zu verstehen ist. Ist die Menge der verbundenen Entitäten in irgendeiner Weise begrenzt, spricht LANGACKER von einer bounded region. Abschnitt und Moment beispielsweise sind bounded regions, die im Verhältnis zu den grundlegenden Domänen des Raums bzw. der Zeit zu verstehen sind (vgl. LANGACKER 1987b: 58f.). Selbst in einem sehr weit gefassten Sinn verstanden, scheint die Definition des Begriffs der Region als „set of interconnected entities“ im Blick auf prototypische Instanziierungen der Nomenkategorie wie Stein oder Baum, die konkrete physikalische Objekte bezeichnen, Probleme mit sich zu bringen, da diese ja eben nicht als die Summe ihrer einzelnen Teile konzeptualisiert werden, sondern als kohärentes Ganzes. LANGACKER (2008a: 106f.) weist diesen Einwand jedoch mit dem Argument zurück, dass diese Konzeptualisierung Ergebnis eines kognitiven

|| 11 Im Folgenden werde ich, wo der Kontext eine eindeutige Interpretation erlaubt, dt. Konzeptualisierung sowohl für conceptualization als auch für construal verwenden, um einen sperrigen Begriff wie Konstruierung ebenso zu vermeiden wie den anderweitig besetzten Terminus Konstruktion. In Zweifelsfällen greife ich auf die englischen Begriffe zurück.

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Prozesses sei, der bei physischen Objekten freilich hochgradig automatisiert ablaufe. Dieses perzeptuell-prozessualistische Argument kann jedoch im Rahmen einer konzeptualistischen Semantik nur bedingt überzeugen. Die Metapher der bounded region indes ist für die Bestimmung der Nomenkategorie enorm hilfreich: Nomina werden, so die Hypothese, tendenziell als kohärente, fest abgegrenzte Entitäten konzeptualisiert, und zwar entweder als konkrete Einzelobjekte oder als eine Masse miteinander verbundener Entitäten wie etwa eine Kuhherde, an deren Beispiel LAKOFF (1987: 428) die konzeptuelle Basis der Unterscheidung zwischen count nouns und mass nouns erklärt: Imagine a large herd of cows up close – close enough to pick out the individual cows. Now imagine yourself moving back until you can no longer pick out the individual cows. What you perceive is a mass. There is a point at which you cease making out the individuals and start perceiving a mass. It is this perceptual experience upon which the relationship between multiplex entities and masses rests.

Dieses Beispiel führt deutlich den engen Zusammenhang zwischen Sprache und räumlicher Kognition vor Augen, wie er nicht nur in der Kognitiven Grammatik angenommen wird – die LANGACKER (z.B. 1982) bezeichnenderweise ursprünglich space grammar nannte –, sondern auch in anderen kognitiv-linguistischen Ansätzen wie beispielsweise der Kognitiven Semantik TALMYs (z.B. 1983). Zugleich macht das Beispiel deutlich, wie dynamisch sich die Konzeptualisierung und deren sprachlicher Ausdruck gestalten: Die Masse, auf die Bezug genommen wird, kann, abhängig vom Blickpunkt des conceptualizers, als solche konstruiert werden (Überall sind Kühe um mich herum), aber auch als zählbare Einheit, in der die individuellen Konstituenten, in diesem Fall: die einzelnen Kühe, verschwimmen (die Kuhherde). Diese Dynamik wird auch im Blick auf die Frage nach der Funktion wortartentransponierender Konversions- und Derivationsmuster eine entscheidende Rolle spielen. Während Nomina in der Kognitiven Grammatik schematisch als things im weitesten Sinne verstanden werden können, denotieren Verben Prozesse (vgl. TAYLOR 2002: 179), d.h. temporale Relationen (vgl. LANGACKER 2008a: 108). Auch hier gestaltet sich die Konzeptualisierung freilich hochdynamisch, was LANGACKER mit dem Konzept des scanning erfasst. Er unterscheidet summary scanning und sequential scanning als unterschiedliche Wahrnehmungs- und Konzeptualisierungsmodi, wobei im Falle des summary scanning eine Einheit kumulativ als Ganzes erfasst wird, während diese Erfassung im Falle des sequential scanning abschnittsweise erfolgt. Auf die Konzeptualisierung von Ereignissen angewandt, kann man das sequential scanning mit einer Filmszene vergleichen, während

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summary scanning eher einem mehrfach belichteten Foto entspricht12 (vgl. LANGACKER 1987b: 73). Die Wahrnehmung von Ereignissen im Alltag – z.B. das Rollen eines Balls – geschieht freilich in aller Regel über sequential scanning; zugleich können wir jedoch in unserer Erinnerung oder auch schon während des Ereignisses aufgrund erfahrungsorientierter Vorhersagen die verschiedenen Positionen des rollenden Balls in unserer Konzeptualisierung des Vorgangs zusammenfassen (vgl. LANGACKER 2008b: 572–574). Diese Dynamik spiegelt sich auch in der Sprache wider: So denotieren im Englischen das Verb cross und die Präposition across nach LANGACKER (1987b: 74) denselben konzeptuellen Gehalt, der jedoch im ersten Fall dynamisch (sequential scanning), im letzteren statisch (summary scanning) konstruiert wird. Auf Nominalisierungen übertragen, können die Scanning-Modi zu einer theoretischen Fundierung und Konkretisierung der etwas vagen Formulierung „conceptual reification“ beitragen. Beispielsweise wird eine (Gerichts-)Verhandlung – im Gegensatz zum Prozess des Verhandelns – gewissermaßen aus einer „Vogelperspektive“ konzeptualisiert, d.h. als Ganzes und nicht unbedingt als eine sequentielle Abfolge unabhängiger Einzelereignisse (Eröffnung, Zeugenaussagen, Plädoyers, Richterspruch etc.) (vgl. HARTMANN 2013: 168)13.

|| 12 HOLLMANN (2012: 693, Anm. 4) weist darauf hin, dass in dieser Analogie summary scanning etwas vereinfacht dargestellt wird, da der Vergleich mit einem Foto die (kurze) sog. build-up phase, die für das summary scanning angenommen wird (vgl. LANGACKER 1987a: 251), unterschlägt. 13 Dieses Beispiel ist insofern nicht ideal, als (Gerichts-)Verhandlung als – zumindest teilweise – lexikalisiert zu betrachten ist. Erstens jedoch bietet es sich an, da es Frames bzw. Skripts evoziert, die in einer festen zeitlichen Abfolge stehen; zweitens werde ich weiter unten (4.2.1.7) argumentieren, dass auch (scheinbar) transparente, verbnahe ung-Nomina gegenüber ihren Basisverben idiosynkratische Bedeutungselemente aufweisen, denn: „Strict compositionality is rarely, if ever, encountered.” (TAYLOR 2002: 550).

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Abb. 3: Sequential und summary scanning in einer vereinfachten schematischen Darstellung (modifiziert nach LANGACKER 1987b: 73).

BROCCIAS/HOLLMANN (2007) kritisieren das Scanning-Konzept zum einen aufgrund theorieinterner Erwägungen, zum anderen wegen der bislang fehlenden psycholinguistischen Evidenz. Sie zeigen, dass sich Unterscheidungen wie jene zwischen enter und into, die bei LANGACKER den Scanning-Varianten zugeschrieben werden, ohne Annahme von summary und sequential scanning aufgrund distributionaler Kriterien erklären lassen. Zu Recht weisen sie auch darauf hin, dass LANGACKERs (1987a: 253) Begründung für die Annahme der Scanning-Varianten dem Anspruch der Kognitiven Grammatik, ihre Annahmen auf unabhängige psychologische Evidenz zu stützen, nicht gerecht wird: I can no more substantiate the claim that verbs imply sequential scanning – directly, and without regard to how the total descriptive system meshes together – than the proponent of a more fashionable model can prove that movement rules leave traces without explicating the function of these constructs as part of a much larger theoretical and descriptive framework.

Experimentelle Studien zu den beiden Konzeptualisierungsmodi sind bislang ohne Ertrag geblieben (vgl. BROCCIAS/HOLLMANN 2007: 504). LANGACKER (2008b: 572) indes verteidigt summary und sequential scanning als „basic aspects of moment-to-moment experience“ und weist darauf hin, dass er die Unterscheidung zwischen beiden nicht als polar, sondern als graduell verstanden wissen möchte (vgl. LANGACKER 2008b: 574). Diese Charakterisierung der Scanning-Varianten sieht HOLLMANN (2012: 692 u. passim) als anschlussfähig für eine genauere Bestimmung der (englischen) Wortarten. Auch BROCCIAS/HOLLMANN (2007: 513f.) räumen ein, dass sich viele der Probleme, auf die sie hinweisen, nicht stellen, wenn die Scanning-Modi nicht als einander ausschließende kognitive Prozesse verstanden werden. Über die rein semantische Wortartenbestimmung hinaus mahnt jedoch HOLLMANN (2012, 2013) die Berücksichtigung distributionaler sowie

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insbesondere auch phonologischer Kriterien an. So zeigt er, dass die mittlere Silbenlänge für Nomina und Verben im Englischen signifikant unterschiedlich ist; auch weisen englische Nomina signifikant häufiger einen finalen Obstruenten auf als Verben (vgl. HOLLMANN 2013: 293, 297). Überdies verweist er auf KELLY/BOCK (1988), die auf Grundlage von SHERMAN (1975) experimentell zeigen, dass englische Nomina, die ein für Verben typisches jambisches Intonationsmuster aufwiesen, signifikant häufiger zu Verben konvertiert werden als andere Verben, während umgekehrt Nomina mit trochäischem Intonationsmuster, das für Verben typisch ist, signifikant häufiger der Nomen-Verb-Konversion unterzogen werden. All diese Befunde stehen im Einklang mit dem auch und gerade in der Kognitiven Grammatik angenommenen gebrauchsbasierten Paradigma, wonach Sprachbenutzerinnen gleichsam ein „mentales Korpus“ (TAYLOR 2012) aufbauen, in dem sie nicht nur die phonologische Form und den semantischen Gehalt symbolischer Einheiten erfassen, sondern auch deren statistische Eigenschaften registrieren, etwa die relative Frequenz von Lauten und Lautkombinationen, von Wörtern und Wortkombinationen sowie Konstruktionsmustern (vgl. TAYLOR 2012: 283).

2.1.6.2 Konstruktionsgrammatischer Ansatz Bei der Konstruktionsgrammatik handelt es sich keineswegs um eine einheitliche Theorie, sondern vielmehr um eine Familie unterschiedlicher Theorien, die auf der gemeinsamen Grundannahme basieren, dass Sprache als Inventar von Konstruktionen, d.h. Form-Bedeutungs-Paaren auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen, beschrieben werden kann14 (s.u. 2.3.1). Exemplarisch für konstruktionsgrammatische Ansätze soll im Folgenden die universaltypologische Wortartentheorie vorgestellt werden, die CROFT (2001) im Rahmen seiner Radikalen Konstruktionsgrammatik vorschlägt. CROFT unterscheidet dabei grammatische von konzeptuellen Kategorien, wobei Letztere universal sein können, während Erstere an konkrete Konstruktionen in einzelnen Sprachen gebunden sind (vgl. CROFT 2001: 86). Lexikalische Kategorien wie Nomen, Verb und Adjektiv sowie die Grenzen zwischen diesen Kategorien, die ihrerseits an Distributionsmuster der entsprechenden grammatischen Konstruktionen gebunden sind (vgl. CROFT 2000b: 95), lassen sich folgerichtig nur einzelsprachlich bestimmen (vgl. CROFT 2001: 102f.). Den einzelsprachlichen Kategorien liegen jedoch universelle konzeptuelle Kategorien zugrunde. Dieser Ansatz ist auch durch den empirischen Befund aus der Arbeit mit semantischen Landkarten motiviert, dass Sprecherinnen

|| 14 Vgl. ZIEM/LASCH (2013) und HOFFMANN/TROUSDALE (2013) für Überblicksdarstellungen.

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semantische Unterschiede bis in feinste Nuancen genau wahrnehmen, was darauf hinweist, dass sie über sehr spezifisches, detailliertes Wissen über unterschiedliche Situationstypen verfügen, die sich in einem universalen conceptual space verorten lassen (vgl. CROFT 2013: 222). Im unmarkierten, prototypischen Fall referiert ein Nomen auf ein Objekt, ein Adjektiv nimmt eine Modifikation in bezug auf eine bestimmte Eigenschaft vor, während ein Verb einen Vorgang15 prädiziert (vgl. CROFT 2000b: 88). Referenz, Prädikation und Modifikation sieht CROFT (1991: 52) dabei als Grundfunktionen von Sprache. Über Referenz wird eine Entität als das identifiziert, worüber gesprochen wird („get the hearer to identify an entity as what is being talked about“, CROFT 1991: 52); unter Prädikation ist das zu verstehen, was eine Sprecherin ü b er die Entität, auf die referiert wird, zu sagen beabsichtigt; Modifikation schließlich ist gleichsam eine Hilfsfunktion, die über ein Verengen der Beschreibung die Identität der in Frage stehenden Entität festzumachen hilft (vgl. CROFT 1991: 52). Dabei zieht CROFT (1991: 121) auch Parallelen zwischen Referenz und Prädikation einerseits und LANGACKERs soeben diskutierten Konzepten des summary und sequential scanning andererseits. Referenz bzw. summary scanning beschreibt er mit der Metapher des „opening a cognitive file“; diese kognitive „Akte“ oder „Datei“ bleibt dann wenigstens eine Zeitlang aktiv, während im Falle der Prädikation bzw. des sequential scanning jeweils eine Phase im temporalen Ablauf fokussiert und dann gleichsam fallengelassen wird, sobald eine neue Phase in den Blick kommt. Die Kategorien Objekt, Eigenschaft und Vorgang definiert CROFT mit Hilfe der vier semantischen Eigenschaften Relationalität (relationality), Stativität (stativity), Dauerhaftigkeit (persistence in CROFT 1991; transitoriness in CROFT 2001) und Abstufbarkeit (gradability). Relationalität bezieht sich darauf, ob ein Konzept inhärent auf ein anderes referiert (z.B. erfordert das Konzept laufen zwangsläufig ein Agens, das die Tätigkeit ausführt); Stativität bezieht sich auf die Dichotomie Zustand vs. Prozess, transitoriness darauf, ob ein Konzept einen Übergangsstatus oder einen inhärenten oder dauerhaften Zustand der jeweiligen Entität repräsentiert. Abstufbarkeit schließlich bezieht sich auf die Frage, ob die Entität entlang einer skalaren Dimension wie Höhe abgestuft werden kann (vgl. CROFT 2001: 87). Die prototypische Konfiguration dieser Merkmale ist in Tab. 2.1 dargestellt. CROFTs Ansatz leistet zweierlei: Zum einen erklärt er sowohl übereinzelsprachliche Ähnlichkeiten als auch Unterschiede in bezug auf die Wortartenkategorien,

|| 15 Mit Vorgang (in CROFTs engl. Original: action) beziehe ich mich hier auf Vorgänge, Aktionen und Prozesse im weitesten Sinne, nicht auf Vorgänge im Sinne der VENDLERschen Aktionsartentypologie (s.u. Kap. 3.2.3).

30 | Theorierahmen

indem er nicht grammatische, sondern vielmehr konzeptuelle Universalien annimmt, zum anderen lässt er die Unschärfe der (grammatisch-konstruktionalen, einzelsprachlichen) Kategoriengrenzen nicht unberücksichtigt. Tab. 1: Semantische Eigenschaften der prototypischen Wortarten nach Croft (2001: 87).

Relationalität

Stativität

Dauerhaftigkeit

Objekte

nicht-relational

Zustand

dauerhaft

Eigenschaften

relational

Zustand

dauerhaft

Vorgänge

relational

Prozess

vorübergehend

Während prototypische Nomina, Adjektive und Verben alle in Tab. 1 genannten Merkmale von Objekten, Eigenschaften bzw. Vorgängen erfüllen, können Konzepte auch in für sie nicht prototypischen Wortarten ausgedrückt werden.Wenn etwa auf den semantischen Gehalt eines Verbs referiert werden soll, so kann es nominalisiert und damit in die Wortklasse überführt werden, die die Funktion der Referenz prototypischerweise erfüllt (vgl. TAYLOR 2002: 178). (4a)

(4b)

Wenn aber die achtfüßigen Kopffüßler schwimmen, so geschieht das durch Rückstoß (Hesse, Richard, Der Tierkörper als selbständiger Organismus, Leipzig [u.a.]: B. G. Teubner 1910, S. 187 | DWDS) → Prädikation Das Schwimmen der zehnfüßigen Tintenfische geschieht durch schlängelnde Flossenbewegung (ebd.) → Referenz

CROFT (2001: 104) betont, dass Nomina, Adjektive und Verben radiale Kategorienstrukturen im Sinne LAKOFFs (1987) aufweisen (s.o. 2.1.1). Folgerichtig kann es bei Wörtern, deren lexikalischer Kategorienstatus nicht – beispielsweise durch ein Suffix – overt markiert ist, durchaus zu Zweifelsfällen kommen; so kann das Verb im am-Progressiv, der sich derzeit im Deutschen ausbreitet (ich bin am a/Arbeiten), sowohl als verbaler als auch als nominalisierter Infinitiv aufgefasst werden, was sich auch in der alternierenden Groß- und Kleinschreibung niederschlägt (vgl. FLICK/KUHMICHEL 2013 und die darin zitierten Beispiele). Dass Wörter „zwischen“ Nomen und Verb sein können, wie weiter oben im Blick auf nouniness und verbiness diskutiert, steht in CROFTs Radikaler Konstruktionsgrammatik mithin völlig außer Frage.

Konzeptualisierung | 31

2.1.6.3 Fazit „[G]rammatical categories are very much like everyday categories“ (THOMPSON/HOPPER 2001: 47) – die von ROSCH bereits in den 70er-Jahren untersuchten und in der weiteren Forschung genauer definierten Prinzipien der Kategorisierung gelten auch für sie. Folgerichtig kann davon ausgegangen werden, dass eine Konzeption, die mittels Phänomenen wie nouniness und verbiness skalare Übergänge zwischen Wortklassen zulässt, der kognitiven Realität eher gerecht wird als eine absolute Unterscheidung diskreter lexikalischer Kategorien. Die ausführliche Beschäftigung mit Kategorisierungstheorien zu Beginn dieses Kapitels bringt, wie wir gesehen haben, entscheidende Implikationen für die Wortartenbestimmung sowie insbesondere auch für wortartentransponierende morphologische Operationen mit sich. Einige davon werden in den nächsten Abschnitten aus kognitiv-linguistischer und konstruktionsgrammatischer Perspektive erörtert.

2.2 Konzeptualisierung Den bereits weiter oben (2.1.6.1) eingeführten kognitiv-linguistischen Zentralbegriff der Konzeptualisierung bzw. des construal gilt es an dieser Stelle näher zu erörtern, da er in der hier vertretenen Theorie des Wortbildungswandels eine entscheidende Rolle spielt. CROFT (2012: 13) definiert construal als „a semantic structure for an experience“, wobei er unter experience die kognitive Erfassung eines Aspekts der außersprachlichen Wirklichkeit versteht und unter semantic structure die Art und Weise, wie diese Erfahrung sprachlich repräsentiert wird. Entscheidend ist dabei, dass jeder sprachliche Ausdruck nur als eine Möglichkeit aus verschiedenen Darstellungs- und Konzeptualisierungweisen zu werten ist (vgl. SMIRNOVA/MORTELMANS 2010: 97). So kann durch die Wahl der Diathese einer der an der Verbalhandlung beteiligten Aktanten stärker profiliert werden (vgl. LANGACKER 1993: 450): (5a) (5b)

Der Junge stößt die Vase um. Die Vase wird umgestoßen. (nach EVANS/GREEN 2006: 41)

Linguistische Konzeptualisierungsoperationen werden dabei als Instanziierungen allgemeiner kognitiver Fähigkeiten gesehen (vgl. PLEYER 2012: 290). Neben Kategorisierungsoperationen, wie sie bereits ausführlich diskutiert wurden, spielen dabei unter anderem die Fähigkeit zur Figur/Grund-Unterscheidung, zur Aufmerksamkeitslenkung und -setzung sowie zur Perspektivierung eine Rolle (vgl. z.B. CROFT/CRUSE 2004: 46).

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Ungeachtet der Schlüsselrolle, die der construal-Begriff in der Kognitiven Linguistik einnimmt, bleibt er in mancherlei Hinsicht etwas vage. So ist unklar, welche sprachlichen Konzeptualisierungsoperationen sich überhaupt ausmachen lassen und in welcher Verbindung sie zu ihren allgemein-kognitiven „Gegenstücken“ stehen. Gleichwohl wurden mehrere Versuche unternommen, construal-Typologien zu erarbeiten und die vorgeschlagenen Konzeptualisierungsoperationen mit allgemeinen kognitiven Fähigkeiten in Verbindung zu bringen. Dabei zeigen sich in wesentlichen Punkten Überschneidungen. Beispielsweise vergleicht VERHAGEN (2007) LANGACKERs construal-Typologie mit TALMYs (1988a, b, 2000a, b) imaging systems bzw. schematic systems, wie er sie in späteren Arbeiten nennt. Eine feingliedrigere Typologie bieten CROFT/CRUSE (2004: 46); in Tab. 2 sind nur die vier groben Schlagwörter erfasst, unter denen sie insgesamt 22 verschiedene Konzeptualisierungsoperationen subsumieren. Tab. 2: Wesentliche Konzepte der Konzeptualisierungstypologien von LANGACKER, TALMY sowie CROFT/CRUSE im Vergleich.

LANGACKER (z.B. 2008a)

TALMY (z.B. 2000a)

specificity

configurational structure

attention / salience

perspective

perspective

judgment / comparison

prominence

attention

perspective / situatedness

dynamicity

force dynamics

constitution / Gestalt

CROFT/CRUSE (2004)

Ohne dass an dieser Stelle ausführlich auf die einzelnen Konzeptionen eingegangen werden kann, darf freilich nicht unerwähnt bleiben, dass die psychologische Realität der in Tab. 2 schlagwortartig angeführten Konzeptualisierungsoperationen nicht in allen Fällen durch unabhängige empirische Evidenz gestützt ist. Der etwa seit der Jahrtausendwende sehr aktive Forschungszweig der experimentellen Semantik (vgl. MATLOCK/WINTER im Ersch.) konnte jedoch bereits zahlreiche der in der Kognitiven Linguistik zumeist auf Grundlage introspektiver Überlegungen generierten Annahmen auf eine solide empirische Grundlage stellen. Eine Reihe experimenteller Studien stützt beispielsweise die intuitiv plausible Annahme, dass sprachliche Äußerungen Konzeptualisierungen hervorrufen, die sich in ihrer Perspektivierung unterscheiden (man beachte, dass perspective in allen drei der oben genannten Typologien erwähnt wird). So zeigen BRUNYÉ et al. (2009), dass Probandinnen, die einen Satz in der 1. oder 2. Person hören (z.B. Ich schneide Tomaten / Du schneidest Tomaten), ein Bild, das die beschriebene Situation aus einer internen Perspektive zeigt (z.B. Hände, die Tomaten schneiden),

Konzeptualisierung | 33

schneller als mit der im Satz beschriebenen Tätigkeit übereinstimmend beurteilen, als wenn das Foto die Situation aus einer externen Perspektive darstellt; umgekehrt verhält es sich mit Sätzen in der 3. Person. Die Resultate der experimentellen Studien von WINTER/BERGEN (2012), ebenfalls auf Grundlage von sentencepicture matching tasks sowie eines entsprechenden sentence-sound matching task, legen weiterhin nahe, dass die Distanz von Objekten im Sprachverstehen sowohl visuell als auch auditiv simuliert wird. Trotz solcher durchaus wichtiger Erkenntnisse steckt die experimentelle Semantik noch in ihren Kinderschuhen. Während einige Themenfelder – etwa das englische Aspektsystem, konzeptuelle Metaphern wie ZEIT IST RAUM und die erwähnten Perspektivierungsoperationen – bereits ausgiebig untersucht wurden, blieben andere Fragestellungen bislang unberücksichtigt. Insbesondere die Wortbildung muss als Gebiet der experimentellen Semantik erst noch erschlossen werden. Eine ganze Reihe falsifizierbarer Hypothesen liegt indes auf der Hand: So ist anzunehmen, dass deverbale Nominalisierungen deutlich konkretere bzw. objekthaftere Konzeptualisierungen zeitigen als die jeweils zugrundeliegenden Basisverben. Auch wäre zu überprüfen, inwiefern die Charakterisierung des konzeptuellen Unterschieds zwischen ung-Nominalisierung und Infinitivnominalisierung als Blickpunktphänomen – wobei Letztere einen internen, Erstere einen externen Blickpunkt evoziert (s.u.) – kognitiv realistisch ist. Die experimentellen Setups für solche Untersuchungen müssen erst noch erarbeitet werden; sie stellen wichtige Desiderata für zukünftige Forschungen dar. Die „empirische Wende“ in der Kognitiven Linguistik und Konstruktionsgrammatik (vgl. JANDA (ed.) 2013; GRIES 2013a) hat jedoch gezeigt, dass über experimentelle Studien hinaus auch Korpusrecherchen Aufschluss geben können über die kognitive Organisation von Sprache. Gerade Sprachwandelprozesse führen deutlich vor Augen, wie allgemein-kognitive Konzeptualisierungsoperationen, aber auch soziokulturelle Faktoren Sprache strukturieren und – auch in diachroner Perspektive – gestalten. Beispielsweise lassen sich Metapher und Metonymie, die als kognitive Prinzipien seit LAKOFF/JOHNSON ([1980] 2003) zu den Hauptforschungsgebieten der Kognitiven Linguistik zählen16, als wesentliche Steuerungsfaktoren semantischen Wandels ausmachen (vgl. NÜBLING et al. 2013: 124–128). Im Blick auf Wortbildungswandel hat HILPERT (2013: 115–154) am Beispiel der englischen V-ment-Konstruktion (z.B. government, judgment) gezeigt, dass Korpusanalysen (Teil-)Antworten auf die Frage nach der mentalen Reprä-

|| 16 Vgl. GRADY (2007); PANTHER/THORNBURG (2007).

34 | Theorierahmen

sentation sprachlicher Konstruktionen geben können. So lassen sich im diachronen Wandel der V-ment-Konstruktion verschiedene Muster ausfindig machen, die den Schluss nahelegen, dass es sich dabei nicht (mehr) um eine einheitliche Konstruktion handelt, sondern dass vielmehr unterschiedliche konstruktionale Subschemata im Sinne BOOIJs (2010) angenommen werden müssen. Für den Bereich der Wortbildungsforschung ist der Konzeptualisierungsbegriff insbesondere deshalb relevant, weil Wortbildungsmuster als Konzeptualisierungsmuster verstanden werden können. Beispielsweise beschreibt DIRVEN (1999) englische Nomen-Verb-Konversionen auf der Grundlage sogenannter Event-Schemata, die sich aus verwandten Konfigurationen der jeweiligen Prädikation sowie der beteiligten semantischen Rollen ergeben (vgl. UNGERER 2007: 665). So liegt der Verbalisierung (to) fish ein action schema zugrunde, das Agens, Patiens, Instrument sowie die Art und Weise der Ausführung einer Handlung umfasst (vgl. DIRVEN 1999: 285). Der Fisch steht dabei in metonymischer Relation zu einer größeren Konfiguration, die in diesem konkreten Fall als Agens die Anglerin, als Instrument die Angel sowie zusätzlich als Domäne im oben erörterten LANGACKERschen Sinne ein Gewässer umfasst. Die genannten semantischen Rollen finden sich auch bei anderen Verbalisierungen wieder, die dem action schema zuzurechnen sind, z.B. (to) fuel (a car). Die konkrete Füllung der abstrakten Leerstellen, die die semantischen Rollen eröffnen, ist natürlich bei (to) fuel eine völlig andere als bei (to) fish, was auf die Schematizität der Konfiguration verweist, die die unterschiedlichen Wortbildungsprodukte verbindet. Die Konzeptualisierungsmuster nicht nur der englischen Verbalisierung, sondern beispielsweise auch der deutschen ung-Nominalisierung und Infinitivnominalisierung lassen sich als semantische Frames beschreiben.17 Unter (kognitiven) Frames verstehen FILLMORE/BAKER (2010: 314) „any of the many organized packages of knowledge, beliefs, and patterns of practice that shape and allow humans to make sense of their experiences.“ In einem Frame zu einem Lexem – und, so wäre zu ergänzen, zu einer Konstruktion – können „alle möglichen syntaktischen und semantischen Eigenschaften (das ‚Wissen‘ zu diesem Lexem) beschrieben sein“ (KONERDING 1993: 16). In formalisierter Darstellung können Frames mit Hilfe von Leerstellen (slots) und Füllwerten (fillers) repräsentiert werden (vgl. FILLMORE/BAKER 2010: 318). Hinzu kommen inferierte Werte, vergleichbar der Domäne des Gewässers im soeben diskutierten Beispiel der Verbalisierung (to)

|| 17 Am Rande sei angemerkt, dass DIRVEN ein früher Anhänger der FILLMOREschen KasusrahmenTheorie war (vgl. UNGERER 2007: 664), aus der sich später FILLMOREs unter 2.1.2.2 skizzierte Frame-Semantik entwickelte (vgl. ZIEM 2008: 16).

Konzeptualisierung | 35

fish; solche Einheiten werden Standardwerte (default values) genannt (vgl. ZIEM 2008: 13). Im Falle der deverbalen Nominalisierung kann davon ausgegangen werden, dass das Wortbildungsprodukt gegenüber dem Basisverb einen anderen Frame evoziert, wie KONERDING (1993: 162) prägnant zusammenfasst: Die substantivische Bezugnahme auf Prozesse oder Handlungen erfüllt offensichtlich ganz andere Funktionen als die Bezugnahme mittels aktantenspezifisch und -perspektivisch bestimmter Verbformen (Modus, Tempus, Numerus, Valenz etc. [...]). Substantivische Bezugnahme auf Aktionen oder Ereignisse erlaubt aufgrund der Entbindung von einer bestimmten Aktantenperspektive eine neutralere ‚Sicht‘ auf den betreffenden Prozeß und seine Kontextualität. Die ‚Sicht‘ ist umfassender, vielseitiger und vollständiger, auf das Geschehen als gesamtes bezogen (god’s eye view), wie der Vergleich von Peters Fahrt nach Heidelberg mit Peter ist nach Heidelberg gefahren oder Peter fährt nach Heidelberg zeigt.

Die Metapher der „Vogelperspektive“, die KONERDING hier bemüht, ist auch für die Beschäftigung mit den deutschen Nominalisierungsmustern relevant. Zudem lässt sie sich unmittelbar mit LANGACKERs Modell des summary und sequential scanning in Verbindung bringen, wie wir bereits am Beispiel der Gerichtsverhandlung gesehen haben (2.1.6.1). Im Vergleich zum Verb verhandeln, dessen Semantik sequentiell-prozessual geprägt ist, fasst die Nominalisierung unterschiedliche Einzelereignisse gleichsam zu einer bounded region zusammen. Gegenüber dem Basisverb kommen dabei Anfangs- und Endpunkt des Ereignisses deutlich in den Blick. Selbstverständlich können durch die Möglichkeit der dynamischen Konzeptualisierung beim Derivat wie beim Basisverb unterschiedliche Elemente des jeweils aufgerufenen Frames profiliert werden. Wenn das Derivat etwa in einer Präpositionalphrase auftritt, können abhängig von der verwendeten Präposition unterschiedliche Phasen des Prozesses hervorgehoben werden, vgl. vor der Verhandlung vs. in der Verhandlung vs. nach der Verhandlung. Selbst bei Verwendung der Präposition in ist jedoch davon auszugehen, dass, obwohl in diesem Fall der Verlauf profiliert wird, die Verhandlung gleichwohl als Ganze konzeptualisiert wird: in der Verhandlung bezieht sich mithin auf einen Zeitpunkt innerhalb des Gerichtsprozesses, der sozusagen als Veranstaltung gedacht wird, während das Pendant mit nominalisiertem Infinitiv, im Verhandeln, den dynamischen Verlauf des Geschehens profiliert (Abb. 4).

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Abb. 4: Schematische Darstellung der für die Präpositionalphrasen in der Verhandlung (links) sowie im Verhandeln angenommenen Konzeptualisierungsmuster.

Ein weiteres Beispiel für die dynamische Konzeptualisierung von Wortbildungsprodukten, die teilweise auf metaphorische und metonymische ad hoc-Übertragungen zurückzuführen ist und teilweise auch darauf, dass Wortbildungsprodukte in unterschiedlichen Lesarten lexikalisiert sind, bieten die Beispiele Umgebung und Bewerbung, mit denen sich die von CROFT/CRUSE (2004: 48) angenommene Konzeptualisierungsoperation der selection, genauer: des „highlighting of different facets“ (ebd., Hervorh. i.O.) illustrieren lässt: (6a)

(6b)

(7a)

(7b) (7c)

Außerdem kämen viele Urlauber gerade deshalb nach Schierke, weil die Umgebung den Schutzstatus eines Nationalparks genieße. (ZEIT, 31.01.1997 | DWDS) [Landschaft] Ein wenig geistige Anstrengung wird schnell mit der spürbaren Zuwendung Ihrer Umgebung belohnt werden. (Zillig: Gutes Benehmen, Berlin [1991] 2004, S. 13388 | DWDS) [Personenkollektiv] Bei handschriftlichen Bewerbungen empfiehlt es sich, die eigentliche Bewerbung mit der Hand, den Lebenslauf jedoch mit der Maschine zu schreiben (Graudenz/Pappritz: Etikette, Berlin [1956] 1967, S. 205 | DWDS) [Objekt] Seine Bewerbung wird höflich abgelehnt. (Archiv der Gegenwart, 08.10.1977 | DWDS) [abstrakte Lesart] ? Die Bewerbung nahm sechs Monate in Anspruch. [Prozess] (besser: Der Bewerbungsprozess…)

Gerade (7b) macht abermals deutlich, dass sich die Bedeutung des Wortbildungsprodukts nicht kompositional aus der Semantik des Basisverbs und des „reifizierenden“ Inputs des ung-Suffixes erschließen lässt. Bewerbung bezeichnet hier weder den Prozess des Sich-Bewerbens noch das Resultat oder den Zustand des

Wortbildungswandel als Konstruktionswandel | 37

Sich-Beworben-Habens, sondern eher eine abstrakte Entität von sozialontologischer Relevanz (im Sinne von SEARLE 2006). Nicht der Prozess des Sich-Bewerbens wird abgelehnt, auch nicht die schriftliche Bewerbung in Papierform, sondern vielmehr wird der beiden zugrundeliegenden und in beiden zum Ausdruck gebrachten Intention nicht stattgegeben. Im dynamischen Konzeptualisierungspotential liegt bereits ein wichtiger „Keim“ des Sprachwandels. Im Einklang mit dem gebrauchsbasierten Modell ist davon auszugehen, dass nicht alle Lesarten gleich frequent und gleichermaßen salient sind. Vielmehr bilden sie ein Netzwerk entsprechend dem in 2.1.1 skizzierten Modell, in dem sich prototypische Lesarten von peripheren unterscheiden lassen. Dieses Netzwerk ergibt sich aus dem Sprachgebrauch und ist hochgradig dynamisch, da praktisch jedes Gebrauchsereignis dem Netzwerk neue Aspekte hinzufügen sowie bestehende Verbindungen innerhalb des Netzwerks stärken oder rekonfigurieren kann (s.u. 2.3). Insbesondere durch hohe Frequenz werden einzelne Lesarten stärker kognitiv verankert als andere (vgl. BYBEE/BECKNER 2010: 829); umgekehrt können Bedeutungsvarianten auch außer Gebrauch kommen. Dies ist die zentrale These, die im weiteren Verlauf dieser Untersuchung untermauert werden soll: Wortbildungswandel lässt sich als Konzeptualisierungswandel verstehen und als stete Rekonfiguration komplexer konzeptueller Netzwerke kognitiv plausibel und auf solider empirischer Basis modellieren. Gerade um diese solide empirische Basis zu gewährleisten, kann sich über den Konzeptualisierungsbegriff hinaus der Konstruktionsbegriff als nützlich erweisen.

2.3 Wortbildungswandel als Konstruktionswandel 2.3.1 Konstruktionen in der Wortbildung - Wortbildung in der Konstruktionsgrammatik Wie bereits im Zusammenhang mit der Wortartenkategorisierung erwähnt (s.o. 2.1.6.2), geht die Konstruktionsgrammatik davon aus, dass sich Sprache erschöpfend als Inventar von Konstruktionen beschreiben lässt. Unter Konstruktionen sind Form-Bedeutungs-Paare auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen zu verstehen, deren Bedeutung sich nicht kompositional aus der Bedeutung ihrer einzelnen Elemente ableiten lässt (vgl. ZIEM/LASCH 2013: 10f.). Darüber hinaus sieht GOLDBERG (2006: 5) auch solche sprachlichen Einheiten als Konstruktionen an, die aufgrund ihrer Frequenz in hohem Maße kognitiv verankert (entrenched) sind. Man könnte dementsprechend von der Nonkompositionalitätsbedingung und der Frequenzbedingung sprechen, die für den Konstruktionsstatus einer

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sprachlichen Einheit entscheidend sind. Die Frequenzbedingung ist dabei freilich nicht unumstritten. So weisen ZIEM/LASCH (2013: 17) darauf hin, dass es in der empirischen Praxis sinnvoll sein dürfte, am Kriterium der Nicht-Kompositionalität festzuhalten: Im Fall eines qualitativen oder quantitativen korpuslinguistischen Zugangs dürfte es jedenfalls schwierig, wenn nicht unmöglich sein, auf die vorhandene oder fehlende kognitive Gestalthaftigkeit und mentale Realität von komplexen sprachlichen Einheiten zu schließen [...]. Nicht-kompositionale sprachliche Phänomene [...] müssen hingegen in jedem Fall als Einheiten gelernt und kognitiv repräsentiert sein; hierzu bedarf es keiner weiteren psychooder kognitionswissenschaftlichen [sic!] Evidenz.

Auch STEFANOWITSCH (2009: 569) äußert sowohl aus grammatiktheoretischer als auch aus psycholinguistischer Sicht Bedenken gegen eine Verwendung des Konstruktionsbegriffes sowohl für non-kompositionale als auch für konventionalisierte, aber kompositionale grammatische Strukturen, und schlägt daher die Verwendung des Begriffs „Satzmuster“ für Letztere vor. Problematisch ist dabei jedoch, dass (Non-)Kompositionalität ein graduelles Phänomen darstellt und daher zwischen Satzmustern und Konstruktionen in STEFANOWITSCHs Sinne ein fließender Übergang angenommen werden muss. Auch stellt sich die Frage, ob nicht selbst scheinbar voll kompositionale Satzmuster bei ausreichender Frequenz nahezu automatisch non-kompositionale Bedeutungsaspekte annehmen. Ein Satzmuster wie Ich liebe Dich beispielsweise, das gern als Beispiel für eine voll kompositionale, aber hochfrequente sprachliche Einheit zitiert wird (vgl. z.B. LANGACKER 2005: 140; HILPERT 2014: 13), ist an bestimmte Verwendungskontexte gebunden, die – im Sinne der oben skizzierten mental corpus-Hypothese – als Teil seiner Semantik aufgefasst werden können, da auch die pragmatischen Kontexte, in denen eine sprachliche Einheit geäußert werden kann, zum Wissen der Sprecherinnen gehören. Ohnehin ist die genaue Definition des Konstruktionsbegriffes umstritten, und auch die Kritik an der Konstruktionsgrammatik ist vielfach auf Unklarheiten in der Definition dieses zentralen Begriffs gerichtet. So kritisieren LAMPERT/LAMPERT (2010: 62, Anm. 11), dass Ansätze, wonach solche Einheiten als Konstruktionen anzusehen seien, von denen die psycholinguistische Forschung zeigt, dass sie als Ganze gespeichert sind, die Verantwortung gleichsam an die Psycholinguistik abschöben. Auch wenn wir bereits gesehen haben, dass nicht nur psycho-, sondern etwa auch korpuslinguistische Ansätze über den Konstruktionsstatus einer sprachlichen Einheit Auskunft geben können, muss diese Kritik ernst genommen werden, denn die Frage, welche Einheiten als Konstruktionen betrachtet werden können, ist nicht nur von theorieinterner Relevanz, sondern bringt auch für die Vorannahmen empirischer Ansätze entscheidende Konsequenzen mit

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sich. Andererseits ist der gewissermaßen unterspezifizierte Charakter des Konstruktionsbegriffes ganz im Sinne der Konstruktionsgrammatik wie auch des gebrauchsbasierten Paradigmas, da nicht mittels einer top-down-Definition a priori postuliert wird, welche Einheiten als Konstruktionen zu gelten haben, sondern vielmehr der tatsächliche Sprachgebrauch (bottom-up) Evidenz dafür liefert, welche sprachlichen Einheiten kognitiv als Ganzes gespeichert sind. Folgerichtig kann der Konstruktionsstatus in jedem einzelnen Fall zunächst stets nur als Hypothese angenommen werden, die empirisch überprüft werden muss. Umstritten ist auch die Frage, auf welchen Abstraktionsebenen Konstruktionen postuliert werden können. HILPERT (2013: 208) gibt zu bedenken, dass die Abstraktionsebene, die für eine Konstruktion postuliert werde, meist diejenige sei, die den Interessen der Forscherin oder des Forschers gerade am besten diene. So stellt sich einerseits die Frage, wie etwa mit komplexen syntaktischen Mustern umzugehen ist, die – wenn auch möglicherweise nur in begrenztem Umfang – reihenbildend werden, z.B. X ist das neue Y (vgl. TRAUGOTT/TROUSDALE 2013: 183). Möglicherweise noch folgenreicher und entscheidender für eine Theorie sprachlichen Wissens ist jedoch andererseits die Frage, ob auch Einheiten unterhalb der Wortebene als Konstruktionen angenommen werden. So gehen sowohl GOLDBERG (2006: 5) als auch CROFT (2001: 25) von Morphemkonstruktionen aus, was BOOIJ (2010: 15) ablehnt, da gebundene Morpheme wie die von GOLDBERG als Beispiele angeführten Affixe pre- und -ing keine unabhängigen Form-Bedeutungs-Paare darstellten. Vielmehr seien sie an morphologische Schemata gebunden, und ihr Beitrag zur Bedeutung der mit Hilfe des jeweiligen Schemas gebildeten Wortbildungsprodukte erschließe sich ausschließlich über die jeweiligen morphologischen Konstruktionen. Am konkreten Beispiel bedeutet dies, dass das Suffix -ung in BOOIJs Terminologie nicht als eigenständige Konstruktion angenommen werden kann. Vielmehr ist -ung an das konstruktionale Schema [X-ung] gebunden, das seinerseits freilich als (morphologische) Konstruktion gelten kann. Beide Positionen sind plausibel: Einerseits kann -ung durchaus als eigenes Paar aus Form und (schematischer) Bedeutung gesehen werden, auch wenn die schematische Bedeutung, die man vorläufig sehr grob als reifizierend beschreiben könnte, an das Vorhandensein eines Basisworts, in aller Regel eines Verbs, geknüpft ist, das als Füllwert für die Leerstelle im konstruktionalen Schema [X-ung] fungiert. Für den Konstruktionsstatus von Morphemen spricht, dass gebundene Einheiten gelegentlich „degrammatikalisiert“ werden (vgl. NORDE 2008), wie im klassischen Beispiel der Ismen, worunter Wortbildungsprodukte auf -ismus subsumiert werden:

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(8)

(9)

in der Bemühung, das Chaos der zeitgenössischen Ismen zu sondieren, kommt kaum zur speziellen Frage nach dem Wesen dieses defizienten Gebildes (Giesz, Phänomenologie des Kitsches, 1971, LIM/LI1.00322 | DeReKo) in seinen Bildern, die sich unabhängig von gängigen Stilen und Ismen nicht in eine bestimmte Schublade einordnen lassen (Vorarlberger Nachrichten, 2000, V00/SEP.48795 | DeReKo)

Selbstverständlich erreicht kaum ein Affix, das „degrammatikalisiert“ verwendet wird, auch nur annähernd die Frequenz von -ismus/Ismus bzw. der Pluralform ismen/Ismen.18 Gleichwohl können durchaus auch andere Affixe im gleichen Sinn, d.h. als Überbegriff für die damit gebildeten Wortbildungsprodukte bzw. im Falle von (11) auch als metasprachliche Kritik am sogenannten „Nominalstil“, isoliert verwendet werden: (10) (11)

gibt es auch keine neuen -ismen und -keiten mehr zu vermelden, (Die Zeit, 1985, H85/KZ1.16917 | DeReKo) Wenn man sich diese Wortwahl länger durch den Kopf gehen lässt, dann merkt man, dass wir von solchen "ung"-Sprachmonstern umzingelt sind. (Rhein-Zeitung, 2007, RHZ07/JUN.17549 | DeReKo)

Für BOOIJs Argument, Morpheme nicht als Konstruktionen aufzufassen, spricht indes, dass höchst unterschiedliche Wortbildungsmuster gleichwohl ähnliche Wortbildungsprodukte hervorbringen. So stellen beispielsweise nicht-konkatenative Prozesse wie Konversion eine klassische Herausforderung für die Wortbildungslehre dar (vgl. SCHERER 2006: 9). Für die Infinitivnominalisierung ein Nullmorphem als eigenständige Konstruktion analog zum ung-Suffix anzunehmen, wäre nicht nur äußerst kontraintuitiv, sondern verstieße auch gegen das Prinzip der Konstruktionsgrammatik, auf die Annahme sprachlicher Tiefenstrukturen konsequent zu verzichten (vgl. ZIEM/LASCH 2013: 16) und die „Bausteine“ sprachlichen Wissens stattdessen als Generalisierungen an der Sprachoberfläche zu erklären (vgl. GOLDBERG 2002, 2006). Die Generalisierungen, die Sprachbenutzerinnen anstellen, lassen sich in Form konstruktionaler Schemata erfassen, wie sie BOOIJ (2010) für Nominalkomposita germanischer Sprachen sowie für die niederländische Konversion (z.B. bouw ‚bauen‘ > de bouw ‚das Gebäude‘) vorschlägt:

|| 18 Zur Häufigkeit von -ismus/-ismen im Nhd. vgl. HARTMANN (2014b: 180)

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(12) (13)

[[a]Xk [b]Ni]Nj ↔ [SEMi with relation R to SEMk]j (Booij 2010: 17) [[x]Vj]N[-neuter],i ↔ [ACTIONj]i (Booij 2010: 40)

In diesen Schemata zeigt das Pfeilsymbol (↔) die systematische Korrespondenz zwischen Form und Bedeutung an. Die Minuskeln a und b bzw. die Variable x stehen für arbiträre Lautfolgen. In den tiefgestellten Indizes stehen die Majuskeln für die jeweilige lexikalische Kategorie, während die Minuskeln den jeweiligen lexikalischen Index für die phonologischen, syntaktischen und semantischen Worteigenschaften repräsentieren (vgl. BOOIJ 2010: 17). Hierzu ist zu wissen, dass BOOIJ das Parallel Architecture-Modell JACKENDOFFs (z.B. 2002, 2010, 2013) aufgreift, wonach sprachliche Einheiten im Lexikon als Kombinationen phonologischer, syntaktischer und semantischer Struktur (PHON, SYN, SEM) gespeichert sind. Zu den für eine lexikalische Einheit gespeicherten Informationen gehören dabei auch kontextuelle Restriktionen, die auf jeder der drei Ebenen gelten können (vgl. JACKENDOFF 2010: 589). PHON, SYN und SEM sind bei JACKENDOFF wie auch bei BOOIJ weitgehend autonom gedacht, auch wenn zwischen den drei Ebenen Verbindungen in Gestalt sogenannter Schnittstellenregeln bestehen. Tatsächlich kann jedes Wort letztlich als „a set of interface rules between the different levels of representation“ (BOOIJ 2010: 7) verstanden werden. Die systematische Verbindung der drei Ebenen wird formal durch Koindizierung angezeigt: Wenn etwa das Wort backen den lexikalischen Index 82 trägt, kann auf die Eigenschaften dieses Verbs mit PHON82, SYN82 und SEM82 Bezug genommen werden (vgl. BOOIJ 2010: 7). Eben diese Funktion erfüllen die Variablen i, j und k in (12) und (13). Die Annahme einer modularen Organisation sprachlichen Wissens ist in der Konstruktionsgrammatik jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Dass BOOIJ von einer autonomen Morphologiekomponente ausgeht, stellt eine Vorannahme dar, die – im Sinne von Occam’s razor – empirisch zu begründen ist. BOOIJ selbst argumentiert beispielsweise mit dem Phänomen der Stammallomorphie im Bereich der Nominalflexion (Kind – Kind-er, aber Mutter - Mütter) oder der toponymischen Derivation (niederländisch, aber irisch, deutsch, nicht *irländisch, *deutschländisch) sowie mit dem Auftreten von (Nominal-)Phrasen als Erstglied (d.h. in Nicht-Kopf-Position) in Kompositionstrukturen, z.B. nl. [[kleine-kinderen]NP[gedrag]]N ‚Kleinkinderverhalten‘ dafür, dass sich Morphologie nicht erschöpfend als „Syntax von Morphemen“ beschreiben lasse (vgl. BOOIJ 1997a, b). Aus Sicht einer ‚radikalen‘ Konstruktionsgrammatik, die fordert, theoretische Vorannahmen auf ein Minimum zu reduzieren und linguistische Beschreibungen gebrauchsbasiert aus den Sprachdaten selbst zu generieren, ist jedoch die Frage

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„whether the properties of morphological constructs can be accounted for completely by syntax and phonology“ (BOOIJ 1997a: 26) falsch gestellt, da sie die Dreiteilung in PHON, SYN und SEM bereits voraussetzt. Auch wenn die Konstruktionsgrammatik – anders als etwa LEISS (1999) es suggeriert – durchaus an der heuristischen Trennung der unterschiedlichen Organisationsebenen von Sprache festhält, lässt das Konzept des Konstruktikons, wie es in der Konstruktionsgrammatik breit vertreten wird, eine so trennscharfe Unterscheidung, wie sie in der Parallel Architecture und in BOOIJs Konstruktionsmorphologie angenommen wird, nicht zu. Vielmehr wird von einem dynamischen Netzwerk aus Konstruktionen ausgegangen (vgl. z.B. DIESSEL 2004: 13–40). Im Gegensatz zum Lexikon, das zumeist als eine „Liste“ von Wörtern konzeptualisiert wird (vgl. z.B. TOMAN 1998: 307) oder mit BLOOMFIELD (1933: 274) als „a list of basic irregularities“, hat das Konstruktikon ausdrücklich „die Gestalt eines hochgradig strukturierten, feinmaschigen Netzwerkes von miteinander verbundenen sprachlichen Informationseinheiten, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Form- als auch ihrer Bedeutungsseite.“ (ZIEM/LASCH 2013: 95) Die Modellierung bzw. Repräsentation sprachlichen Wissens in Gestalt eines Konstruktikons kann sich also nicht in einem „Inventar“ an Konstruktionen erschöpfen, sondern „hat präzise Informationen darüber bereitzustellen, in welchem Verhältnis Konstruktionen zueinander stehen“ (ZIEM 2014: 24). Diese Konzeptualisierung von Sprache als dynamisches Netzwerk von Form-Bedeutungs-Paaren steht im Einklang mit der Konzeptualisierung anderer Wissensaspekte in der kognitiven Psychologie (vgl. TRAUGOTT/TROUSDALE 2013: 9); auch LANGACKERs unter 2.1.1 diskutiertes Netzwerkmodell bezieht sich ja keineswegs ausschließlich auf sprachliches Wissen. In einer solchen Konzeptualisierung sprachlichen Wissens wird eine Unterscheidung zwischen den genannten sprachlichen Organisationsebenen oder auch zwischen Lexikon und Grammatik nicht a priori angenommen (vgl. LANGACKER 2005: 102; GOLDBERG 2006: 220). Vielmehr wird von einem Lexikon-SyntaxKontinuum ausgegangen, auf dem sich unterschiedliche Konstruktionstypen verorten lassen. Tab. 3 überträgt CROFTs (2001: 17) Typologie auf Beispiele aus dem Deutschen. In diesem Modell ergeben sich die unterschiedlichen Organisationsebenen von Sprachen aus den Konstruktionen selbst, namentlich aus den Parametern der Komplexität und Spezifizität sowie im Falle der Morphologie auch aus dem Kriterium der Gebundenheit.

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Tab. 3: Lexikon-Syntax-Kontinuum nach CROFT (2001: 17).

Konstruktionstyp

Traditioneller Name

Beispiel

komplex und (weitgehend) schematisch

Syntax

[SUBJ Vtrans OBJ] Romeo liebt Julia

komplex und (weitgehend) spezifisch

Idiom

[Alles, was kreucht und fleucht]; [Je X-er, desto Y-er]

Komplex, aber gebunden

Morphologie

[V-ung] Landung

Atomar und schematisch

Syntaktische Kategorie

[N], [V], [A]

Atomar und spezifisch

Wort / Lexikon

[Hund], [Baum]

Die relativ starke Hypothese, dass sich einzelne lexikalische Einheiten und größere, abstraktere Konstruktionen grundsätzlich nicht qualitativ unterscheiden, bezweifeln jedoch PULVERMÜLLER et al. (2013) aufgrund neurophysiologischer Evidenz. Die neuronalen Erregungskreise, die lexikalische Einheiten mit ihrer jeweiligen Bedeutung verknüpfen, arbeiten offenbar anders als die sogenannten discrete combinatorial neuronal assemblies (DCNAs), worunter diskrete Repräsentationen höherer Ordnung mit spezifischen funktionalen Verbindungen zu verstehen sind, die sich aus der sequentiellen Aktivierung sogenannter wortbezogener Inputeinheiten ergeben, die wiederum durch Wortsequenzen aktiviert werden (vgl. PULVERMÜLLER/KNOBLAUCH 2009: 165f.). Die genannten Unterschiede zeigen sich in Elektroenzephalographiestudien (EEG), also nicht-invasiven Studien, die Veränderungen in der elektrischen Aktivität des Gehirns messen und ereigniskorrelierte Potentiale (EKPs) analysieren, d.h. solche Veränderungen im Elektroenzephalogramm, die an konkrete Ereignisse bzw. Stimuli gebunden sind (vgl. BORNKESSEL-SCHLESEWSKY/SCHLESEWSKY 2009: 5). Konkret wurde die sog. Mismatch Negativity gemessen, d.h. die ereigniskorrelierte Gehirnreaktion auf abweichende Stimuli in einer Reihe häufig wiederholter Laute (vgl. PULVERMÜLLER/SHTYROV 2006: 50). Auf lexikalischer Ebene lässt sich hier eine erhöhte Negativität für lexikalische Einheiten feststellen, mit denen die Probandinnen zuvor schon konfrontiert waren, während sich nur eine relativ reduzierte Negativität für Pseudowörter, d.h. „inkorrekte“ Phonem- oder Silbenfolgen, konstatieren lässt; indes ist die syntaktische Mismatch Negativity für inkorrekte, ungrammatische Wortfolgen erhöht, während sie bei korrekten Sätzen relativ gering bleibt (vgl. PULVERMÜLLER et al. 2013: 412). Zugleich weisen die Autoren aber auch darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen lexikalisch spezifischen Konstruktionen auf der Wortebene einerseits und konstruktionalen Mustern auf der phra-

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salen oder Satzebene andererseits, auf die sie zurückgreifen, nicht mit der Unterscheidung zwischen ‚atomaren‘ und ‚komplexen‘ Konstruktionen im CROFTschen Sinne gleichzusetzen sei: Unter Konstruktionen auf der Wortebene verstehen sie nämlich auch morphologisch komplexe Wörter, in denen ein Wort oder Pseudowort mit einem gebundenen Affix kombiniert wird, da bei diesen die Ergebnisse der Mismatch Negativity genauso ausfallen wie bei Simplizia (vgl. PULVERMÜLLER et al. 2013: 416). Auch geben sie zu bedenken, dass die neuronalen Mechanismen, die den sogenannten konstruktionalen Idiomen zugrundeliegen, die sich aus spezifischen lexikalischen Items und offenen syntaktischen Slots zusammensetzen, noch nicht hinreichend erforscht sind (vgl. ebd.). Abschließend geklärt ist mithin die Frage, ob und inwiefern ein Kontinuum zwischen Lexikon und Syntax bzw. Lexikon und Grammatik angenommen werden kann, nicht. Die Annahme, zwischen den unterschiedlichen in Tab. 3 angegebenen Konstruktionstypen bestünde kein qualitativer Unterschied, hält der neurophysiologischen Evidenz nicht stand; indes handelt es sich dabei jedoch um eine sehr zugespitzte Hypothese, die nicht zwangsläufig aus der Annahme eines Kontinuums folgt. Von einem Kontinuum zu sprechen, schließt nicht aus, dass sich die mentale Repräsentation von Einheiten an einem Ende des Kontinuums signifikant von der Repräsentation solcher Einheiten unterscheiden kann, die sich am anderen Pol der Skala befinden. Die Annahme des Konstruktikons als homogenes Netzwerk prinzipiell gleichförmig repräsentierter Form-Bedeutungs-Paare kann mithin als widerlegt gelten, nicht aber die Annahme des Lexikon-Syntax-Kontinuums (oder auch eines Konstruktikons) an sich. Darüber hinaus können ungeachtet der Heterogenität der neuronalen Korrelate lexikalischer und syntaktischer Einheiten deren Erwerb und deren kognitive Organisation letztlich auf den grundlegenden Prozess der Kategorisierung zurückgeführt werden. Dies schlägt sich auch in der formalen Darstellung der konstruktionalen Schemata nieder, deren jeweilige Leerstellen an kategorial spezifizierte Füllwerte gebunden sind. So kann für die Variable x in (13) nur ein Füllwert eingesetzt werden, der zur lexikalischen Kategorie Verb gehört. Andere lexikalische Kategorien sind von diesem Konversionsprozess ausgeschlossen. Der Erwerb von Konstruktionen ist fundamental an kognitive Fähigkeiten zur Mustererkennung und Kategorisierung gebunden (vgl. TOMASELLO 2003: 40). Dazu gehört, dass Kategorisierungen nicht nur aufgrund von Identitäts-, sondern auch aufgrund teils recht abstrakter Ähnlichkeitsbeziehungen erfolgen (vgl. BYBEE/BECKNER 2010: 831). Durch diese Mustererkennungs- und Kategorisierungsprozesse wird ein Netzwerk an Konstruktionen aufgebaut, dessen einzelne „Knoten“ durchaus unterschiedlich repräsentiert sein können; auch können die Verbindungen, die zwischen den einzelnen Konstruktionen in diesem Netzwerk

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bestehen, zweifellos heterogen sein. Dass die Netzwerkmetapher gleichwohl angebracht ist, zeigen zahlreiche empirische Befunde auch aus dem Bereich des Sprachwandels und der Sprachvariation. TAYLOR (2012: 269–278) nennt zahlreiche Beispiele aus dem Englischen, in denen konstruktionale Idiome miteinander vermischt oder auch einzelne Wörter in untypischen Konstruktionen verwendet werden, was sich jeweils aus der formalen und/oder semantischen Ähnlichkeit der jeweiligen sprachlichen Einheiten erklären lässt. Als Beispiel aus dem Deutschen könnte man hier die gelegentliche Verwendung von beizeiten in der Bedeutung ‚bei Gelegenheit‘ anführen, wie sie in den Internetbelegen in (16–28) exemplifiziert ist: (14)

(15)

(16)

Aber könntest Du beizeiten mal schreiben wie so Dein gefühlter/erlebter Unterschied vom Ei zur Kugel ist?? (http://www.grillsportverein.de/forum/user-pics-und-grillevents/aus-der-not-eierburger-1636093.html, abgerufen 18.10.2013) Vielleicht könntest Du beiZeiten mal was zum Thema richtiges Photographieren erzählen. (http://www.lanckenau.de/g%C3%A4stebuch/, abgerufen 18.10.2013) Die aufgeworfenen Fragen sind "nachrangig", da befassen wir uns beizeiten mit (53182225 | COW Webcorpus)

Die Vermutung liegt nahe, dass sich diese Lesart von beizeiten zum einen aus der Verbindung mit der idiomatischen Wendung bei Gelegenheit, zum anderen aus der Reanalyse als bei Zeiten (vgl (15)!) ergibt. Diese Reanalyse liegt auch deshalb nahe, weil es im tatsächlichen Gebrauch relativ viele Brückenkontexte gibt, in denen beide Lesarten – ‚frühzeitig‘ und ‚bei Gelegenheit‘ bzw. ‚irgendwann / zu einem späteren Zeitpunkt‘ – möglich sind: (17) (18)

Wenn Sie beizeiten auf die GRÜNEN und die bayerischen Kommunen hören, wird alles gut. (Plenarprotokoll, 2010, PBY/W16.00040 | DeReKo) Ich werde meine Ansicht beizeiten veröffentlichen (Wikipedia-Diskussion, WDD11/F37.16441 | DeReKo)

Dieses Beispiel zeigt, dass semantischer Wandel aus einer komplexen Verknüpfung von Kategorisierungs- und Reanalyseprozessen resultieren kann, die ihrerseits aus dem besagten Netzwerkcharakter von Sprache resultieren. In diesem Beispiel werden die Verknüpfungen zum einen zwischen Form- und Bedeutungsseite der Konstruktion, zum anderen zwischen dieser und anderen, formal oder semantisch ähnlichen Konstruktionen wie bei Gelegenheit innovativ gesetzt.

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Auch legen Beispiele wie dieses den Schluss nahe, dass die Generalisierungsund Abstraktionsprozesse, die dem sprachlichen Wissen einer Sprecherin oder eines Sprechers über eine spezifische Konstruktion zugrundeliegen, nicht auf je eine bestimmte sprachliche Organisationsebene beschränkt sind. Vielmehr wird beizeiten offenbar in seine Konstituenten „zerlegt“, dabei unter Umständen auch formal und semantisch mit bei Gelegenheit in Verbindung gebracht, zugleich jedoch holistisch als zusammengehörige Einheit erkannt und verwendet. Ohnehin ist in einem gebrauchsbasierten Modell davon auszugehen, dass vieles in der Sprachverarbeitung und in der mentalen Repräsentation sprachlicher Einheiten nicht als Entweder-Oder, sondern vielmehr als Sowohl-als-auch zu denken ist. Sprache wird als „massive, highly redundant inventory of conventional units“ (LANGACKER 1988: 131, Hervorh. S.H.) gesehen. Aus dieser Perspektive ist es – um noch einmal auf die Frage nach dem Konstruktionsstatus von Morphemen zurückzukommen – keineswegs widersinnig, auch gebundene Morpheme als Konstruktionen zu sehen, ohne für Konversionen oder gar reduktive Wortbildungsprozesse „ein vielfach polysemes Nullmorphem bzw. eine Vielzahl homonymer Nullmorpheme anzusetzen“ (SCHERER 2006: 10). Dass gebundene Morpheme als Teil morphologischer Konstruktionen gespeichert sind, schließt nicht aus, dass sie zusätzlich noch als eigenständige sprachliche Einheiten im Konstruktikon repräsentiert sind. Dies auch deshalb, weil das Kriterium der Gebundenheit, das in CROFTs Darstellung des Lexikon-Syntax-Kontinuums (Tab. 3) für die Morphologie charakterisitisch ist, wiederum keinen binären, sondern einen graduellen Parameter darstellt. Affixoide als „Brücke zwischen Wort und Affix“ (NÜBLING et al. 2013: 74), etwa -zeug in Werkzeug oder Höllen- in Höllenlärm, stellen hierfür ein hervorragendes Beispiel dar, da sie als freie Lexeme auftreten, zugleich aber auch in einer semantisch ‚ausgebleichten‘ Variante in teils mehr, teils weniger produktiven konstruktionalen Schemata angenommen werden müssen. Zusammenfassend spricht also eine Reihe an Argumenten dafür, von einer modular konzeptualisierten Grammatik, wie sie der Parallel Architecture und BOOIJs Konstruktionsmorphologie zugrundeliegt, abzurücken und statt dessen eine „radikale Konstruktionsmorphologie“ – in Anlehnung an CROFTs Radikale Konstruktionsgrammatik – zu vertreten, die von einem holistischen Modell sprachlichen Wissens ausgeht und Lexikon und Grammatik als Kontinuum versteht. Für die Abgrenzung konstruktionaler Schemata auf der Wortbildungsebene von anderen Konstruktionen, insbesondere solchen aus dem Bereich der Flexion, kann dabei auf etablierte Kriterien zurückgegriffen werden. So sind fle-

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xivische Konstruktionen im Gegensatz zu Wortbildungskonstruktionen obligatorisch, paradigmenbildend und uneingeschränkt produktiv (vgl. BOOIJ 2000: 363f.).

2.3.2 Wortbildungswandel aus konstruktionsgrammatischer Perspektive Die Konstruktionsgrammatik versteht sich zunächst als eine Theorie sprachlichen Wissens, die zum Ziel hat, „das grammatische Wissen eines Sprechers so exakt und ökonomisch wie nur möglich zu beschreiben“ (HILPERT 2011: 59). Sprachwandelprozesse indes greifen meist weit über die Lebensspanne einer einzelnen Sprecherin hinaus. Gleichwohl ist derzeit ein verstärktes Interesse der Konstruktionsgrammatik an diachronen Phänomenen zu beobachten (vgl. z.B. BERGS/DIEWALD 2008). Angesichts der im vorangegangenen Abschnitt skizzierten Sprachauffassung der Konstruktionsgrammatik ist dies nur folgerichtig. Sprache existiert nicht im luftleeren Raum, auch nicht als angeborenes kognitives Modul im Sinne einer Universalgrammatik, sondern ist vielmehr als komplexes adaptives System zu verstehen, d.h. als ein dynamisches, sich selbst organisierendes System, dessen Eigenschaften auf globaler Ebene aus dem lokalen Einzelhandeln zahlreicher Individuen hervorgehen (vgl. FRANK/GONTIER 2010: 37). Adaptiv ist dieses System insofern, als es sich veränderten Umweltbedingungen anpassen kann (vgl. ebd.). Das Verhalten einer Sprecherin wird von einer Vielzahl konkurrierender Faktoren bestimmt, die von ihrer physischen Wahrnehmung bis hin zu sozialer Motivation reichen (vgl. BECKNER et al. 2009: 2). Ihrem sprachlichen Verhalten liegen dabei ihre Erfahrungen aus früheren Interaktionen zugrunde, die zusammen mit neu hinzukommenden, aktuellen Interaktionen ihr zukünftiges Verhalten bestimmen (vgl. ebd.). „The structures of language emerge from interrelated patterns of experience, social interaction, and cognitive processes.“ (ebd.) Das Zustandekommen dieser sprachlichen Strukturen, d.h. der Konstruktionen, die gleichsam als soziale Konventionen (vgl. ZIEM/LASCH 2015) in der sprachlichen Interaktion erworben werden, lässt sich jedoch oft nur diachron erklären. Umgekehrt lassen sich aus der Diachronie wichtige Rückschlüsse auf die kognitiven Prozesse ziehen, die der Struktur und der kognitiven Organisation von Sprache zugrundeliegen. Das Phänomen des Konstruktionswandels ist daher für eine Theorie sprachlichen Wissens, wie sie die Konstruktionsgrammatik anstrebt, zentral, und mehr als andere Theorien sprachlichen Wissens wird sie damit der Erkenntnis gerecht, dass Sprache zwangsläufig als „intrinsically diachronic“ (FRANK/GONTIER 2010: 48) betrachtet werden muss.

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Für Konstruktionswandel hat HILPERT (2011: 69; ähnlich HILPERT 2013: 16) folgende Definition vorgeschlagen: Konstruktionswandel erfasst selektiv ein konventionalisiertes Form-Bedeutungs-Paar einer Sprache und verändert es in seiner Form, seiner Bedeutung, seiner Frequenz, seiner Verteilung in der Sprechergemeinschaft oder in einer beliebigen Kombination dieser Aspekte.

Der Begriff des Konstruktionswandels ist dabei nicht deckungsgleich mit demjenigen des Sprachwandels. Während gerade phonologischer Wandel oft konstruktionsübergreifend operiert, erfasst Konstruktionswandel ausdrücklich spezifische Konstruktionen (vgl. HILPERT 2013: 13–16). Auch grenzt HILPERT (2013: 9–13) Konstruktionswandel vom Begriff der Grammatikalisierung ab. So fallen unter Konstruktionswandel auch Prozesse wie der Verlust der Verbzweitstellung im Englischen oder Frequenzwandelprozesse, die keine Grammatikalisierungsprozesse darstellen; umgekehrt fallen unter Grammatikalisierung auch Prozesse, die konstruktionsübergreifend operieren. So ist nach HILPERT die Entstehung der englischen Modalverben (might, could, would) nicht auf einen einzelnen Konstruktionswandel zurückzuführen, sondern als Paradigmenbildung auf Grundlage unterschiedlicher Konstruktionswandelprozesse (vgl. ebd.). Wie aus der Definition hervorgeht, kann sich der Begriff des Konstruktionswandels sowohl auf den formalen als auch auf den semantischen „Pol“ einer Konstruktion beziehen; zumeist gehen form- und bedeutungsseitiger Wandel jedoch Hand in Hand (vgl. HILPERT 2013: 17). Dass auch Frequenzveränderungen von der Definition erfasst sind, ist ganz im Sinne des gebrauchsbasierten Ansatzes, da die kognitive Verankerung von Konstruktionen wesentlich von ihrer Frequenz abhängt. Ein anschauliches Beispiel für die Rolle der Gebrauchsfrequenz auf syntaktischer Ebene bietet STEFANOWITSCHs (2011b: 205) Analyse der Verwendung inkongruenter Possessivpromina in der Konstruktion [NPi hat POSSi Preis]. Er zeigt, dass die Fälle, in denen inkongruente maskuline Possessivpronomina in den POSS-Slot eingesetzt werden (Qualität hat seinen Preis) hochsignifikant häufiger sind als solche, in denen bei maskuliner oder neutraler NP das Possessivpronomen feminin ist. Eine Analyse der Belege im Deutschen Referenzkorpus zeigt die hohe Frequenz maskuliner und neutraler NPs, insbesondere in den häufigsten Belegvarianten das hat seinen Preis und alles hat seinen Preis, was das Entstehen einer Konstruktion [NP hat seinen Preis] plausibel erscheinen lässt. Auch im Bereich des Wortbildungswandels spielen Frequenzveränderungen eine zentrale Rolle. Dies zeigt sich insbesondere in der zentralen Stellung, die dem Begriff der Produktivität in der Wortbildungsforschung zukommt (vgl. z.B. SCHERER 2005, BAAYEN 2009) und der sich quantitativ mit Hilfe unterschiedlicher Frequenzmaße operationalisieren lässt (Tokenfrequenz, Typefrequenz, Anzahl

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an Hapax Legomena; s.u. Kap. 4). Lässt sich aber Wortbildungswandel grundsätzlich als Konstruktionswandel fassen? Teilt man SCHERERs (2006) Definition des Wortbildungswandels als Wandel von Wortbildungsrestriktionen, der sich im Wandel morphologischer Produktivität niederschlägt, so ist diese Frage grundsätzlich zu bejahen. Geht man dagegen von einem weiter gefassten Begriff des Wortbildungswandels aus, wie ihn MUNSKE (2002) vertritt, so sind auch konstruktionsübergreifende Phänomene zum Wortbildungswandel zu rechnen. MUNSKE unterscheidet nämlich ausdrucksseitigen Modellwandel, funktionalen Modellwandel sowie den Wandel der Anzahl an Wortbildungsmodellen. Die letztgenannte Gruppe von Wandelprozessen bezieht sich mithin auf das Wortbildungssystem als Ganzes, nicht auf einzelne Wortbildungsmuster. Zu dieser Gruppe gehören neben dem Unproduktivwerden einzelner Modelle die Entstehung neuer Modelle durch a) Univerbierung und Inkorporation, b) Entlehnung von Fremdaffixen sowie c) Grammatikalisierung von Konstituenten im Kompositum. Demgegenüber fordert SCHERER (2006: 8) eine strikte Unterscheidung von Wandelprozessen auf der Ebene a) der Wortbildungsprodukte (z.B. Lexikalisierung: Heizung ‚Prozess des Heizens‘ > ‚Gerät zum Heizen‘), b) des Wortbildungssystems (z.B. Entlehnung von Fremdaffixen) und c) der Wortbildungsmuster. Nur die letztgenannten Wandelprozesse sind dabei als „Wortbildungswandel im engeren Sinne“ anzusehen, während sich Wandelprozesse auf der Ebene der Wortbildungsprodukte als allgemeiner phonologischer und semantischer Wandel beschreiben lassen und Wandel auf der Ebene des Wortbildungssystems letztlich aus anderen Wandelprozessen, unter anderem aus Wortbildungswandel i.e.S., resultiert, jedoch nicht selbst (Wortbildungs-)Wandel darstellt (vgl. SCHERER 2006: 8–16). Wortbildungswandel i.e.S. operiert immer auf der Ebene eines konkreten Wortbildungsmusters, erfasst also, in konstruktionistischen Termini, immer ein bestimmtes konstruktionales Schema, und stellt somit in allen Fällen Konstruktionswandel dar. Im Vergleich zum Konstruktionswandel ist SCHERERs Definition des Wortbildungswandels jedoch relativ eng gefasst, insofern er sich ausschließlich auf die Wortbildungsbeschränkungen stützt: Wortbildungsmuster umfassen formale und inhaltliche Informationen über ihren möglichen Input und Output, so genannte Wortbildungsbeschränkungen. [...] Verändern sich diese Wortbildungsbeschränkungen diachron, liegt Wortbildungswandel vor.“ (SCHERER 2006: 13f.)

Dieser Definition wie auch der Absicht, Wortbildungswandel strikt von Wandelprozessen etwa auf der phonologischen, syntaktischen und semantischen Ebene zu trennen, liegt allerdings insofern ein idealisiertes Konzept von Wortbildung

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zugrunde, als Wortbildung dabei in erster Linie als regelbasierte Operation, als Prozess des „Wortbildens“ verstanden wird. Es wird mithin eine relative Unabhängigkeit zwischen Wortbildungsmustern und Wortbildungsprodukten angenommen. Die Überlegungen im vorangegangenen Abschnitt haben gezeigt, dass diese Sichtweise zu kurz greift, da sie auf einen Fehlschluss zurückzuführen ist, der mit LANGACKER (1987a: 29) als rule/list fallacy bezeichnet werden kann, den Fehlschluss also, dass eine sprachliche Einheit zwangsläufig entweder im Lexikon gelistet oder regelbasiert abgeleitet sein müsse. Jedoch ist durchaus beides zugleich möglich. So können weitgehend kompositionale Bildungen gleichwohl (teil-)lexikalisiert sein, insofern sie idiosynkratische Bedeutungsaspekte aufweisen (z.B. Bewegung, das zwar auf (sich) bewegen hin transparent ist, aber in der Regel, anders als das Verb, ein isoliertes Einzelereignis, ein Verhaltensmuster oder aber ein Personenkollektiv bezeichnet). Entsprechend können Wandelprozesse oft nicht eindeutig auf der Ebene der Wortbildungsprodukte oder des Wortbildungsmusters verortet werden. Gerade im Falle der ung-Nominalisierung ist von einer komplexen Interaktion beider Ebenen auszugehen, wie auch der empirische Befund zeigt (s.u. Kap. 4). Während sich SCHERERs Begriff des Wortbildungswandels i.e.S. quantitativ gut operationalisieren lässt und sich daher hervorragend zur Beschreibung von Prozessen des Wortbildungswandels eignet, müssen zur Erklärung dieser Prozesse auch mancherlei Schnittstellenphänomene in Betracht gezogen werden. Gleichwohl ist SCHERERs Begriff des Wortbildungswandels i.e.S. mit einer konstruktionsgrammatischen Perspektive durchaus kompatibel. Der relativ breit gefasste Begriff der Wortbildungsbeschränkung fußt auf der Erkenntnis, dass das sprachliche Wissen der Sprecherinnen und Sprecher hochkomplex ist und sich keineswegs erschöpfend als Inventar an Wörtern und (Ableitungs-)Regeln beschreiben lässt. So weiß eine Sprecherin des Deutschen beispielsweise, dass in das konstruktionale Schema [X-bar] produktiv nur Verben eingesetzt werden können. Dass es ursprünglich Substantive ableitete, zeigt sich noch in Relikten wie dienstbar. Auch weiß die Sprecherin – bewusst oder unbewusst –, dass Neubildungen auf -bar eine passiv-modale Bedeutung haben, die mit ‚kann ge-x-t werden‘ umschrieben werden kann. Die Verwendung etwa von trinkbar mit der Bedeutung ‚zum Trinken verpflichtet‘ analog zu zinsbar oder zahlbar ist aufgrund dieser Outputrestriktion nicht möglich.19 Das vielzitierte Beispiel unkaputtbar verstößt bewusst gegen die besagten Inputrestriktionen (vgl. HOHENHAUS 2005:

|| 19 Zur Diachronie von -bar vgl. NÜBLING et al. (2013: 79).

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369; ELSEN/MICHEL 2007: 11), da weder das konstruktionale Schema für -bar-Adjektive adjektivische Basen zulässt noch im Deutschen ein Verb *kaputten existiert. Aus der Werbesprache, namentlich aus Coca-Cola-Werbung, stammend (vgl. JANICH 2001: 70), hat der Begriff gleichwohl Eingang in die Alltagssprache gefunden. Nach einem Einzelbeleg aus dem Jahr 1991 taucht er ab 1998 regelmäßig im W-Korpus von COSMAS II auf, mit signifikant steigender Gebrauchsfrequenz (Kendall’s τ=0,54, T=81, p