Fragmentierte Familien: Brechungen einer sozialen Form in der Moderne [1. Aufl.] 9783839414002

»Deutsche Mutter«, »Heilige Familie«, »Retortenbaby«. Dieser Band beleuchtet Wandlungen der Familien und des Familienbil

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German Pages 238 Year 2014

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Fragmentierte Familien: Brechungen einer sozialen Form in der Moderne [1. Aufl.]
 9783839414002

Table of contents :
Inhalt
Fragmentierte Familien. Einleitung
Wie heilig ist die Familie? Auf dem Weg zu einer »Theologie der Familie« zwischen kirchlichem Diskurs und familialer Wirklichkeit
Jungfrau und Mutter. Maria und ihre Auswirkungen auf das Frauenbild (in) der katholischen Kirche
Die deutsche Sonderrolle – Familienpolitik und Geschlechtermodelle im europäischen Vergleich
Vaterbilder des modernen Zivilrechts
Erlesene Familie. Restauration des Phantastischen in Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie
Kinderarmut – neue Perspektiven auf ein nicht mehr neues Thema?
Samenspender, Leihmütter, Retortenbabies: Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie
Monströse Väter und missratene Töchter. Familiendramen und andere Katastrophen in Lessings Emilia Galotti und Lenz’ Der Hofmeister
»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs«? – Der juristische Diskurs über die Strafbarkeit des Inzests zwischen 1750 und 1850
Autorinnen und Autoren

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Inge Kroppenberg, Martin Löhnig (Hg.) Fragmentierte Familien

Literalität und Liminalität hrsg. v. Achim Geisenhanslüke und Georg Mein | Band 15

Inge Kroppenberg, Martin Löhnig (Hg.) Fragmentierte Familien Brechungen einer sozialen Form in der Moderne

Diese Publikation wurde von der Koordinationsstelle Chancengleichheit & Familie der Universität Regensburg und der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Regensburg finanziert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Puppenmütter, Foto 1932, Fotografie Weinrother. Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz Lektorat & Satz: Eva-Maria Konrad Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1400-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Fragmentierte Familien. Einleitung MARTIN LÖHNIG 7 Wie heilig ist die Familie? Auf dem Weg zu einer »Theologie der Familie« zwischen kirchlichem Diskurs und familialer Wirklichkeit THOMAS KNIEPS-PORT LE ROI 11 Jungfrau und Mutter. Maria und ihre Auswirkungen auf das Frauenbild (in) der katholischen Kirche SABINE DEMEL 39 Die deutsche Sonderrolle – Familienpolitik und Geschlechtermodelle im europäischen Vergleich BARBARA VINKEN 71 Vaterbilder des modernen Zivilrechts INGE KROPPENBERG 89 Erlesene Familie. Restauration des Phantastischen in Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie MARJA RAUCH 115 Kinderarmut – neue Perspektiven auf ein nicht mehr neues Thema? BARBARA GRABMANN 131

Samenspender, Leihmütter, Retortenbabies: Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie ANDREAS BERNARD 169 Monströse Väter und missratene Töchter. Familiendramen und andere Katastrophen in Lessings Emilia Galotti und Lenz’ Der Hofmeister ACHIM GEISENHANSLÜKE 185 »Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs«? – Der juristische Diskurs über die Strafbarkeit des Inzests zwischen 1750 und 1850 MARTIN LÖHNIG 207 Autorinnen und Autoren 233

Fragmentierte Familien. Einleitung MARTIN LÖHNIG

Jack Goody diagnostizierte 2002 in seiner »Geschichte der Familie« für die zeitgenössische Familie eine Entwicklung von der Kernfamilie zur fragmentierten Familie: »Anstelle der kleinen, isolierten Kernfamilie haben wir die noch kleinere, verstreute und fragmentierte Familie, die eigentlich gar keine Familie mehr ist, wenn wir darunter ein Ehepaar verstehen, das mit seinen Kindern zusammenwohnt. Die Müslireklame-Familie erweist sich nicht als Endpunkt der Modernisierung, sondern als eine Übergangsphase.« (231)

Die Kernfamilie spielte zwar in allen Gesellschaftsformen der Menschheitsgeschichte eine Rolle und ist keineswegs eine Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft – jedoch erlebte sie in der Sattelzeit zwischen 1750 und 1850 einen massiven Bedeutungszuwachs als Familienideal und gleichzeitig einen tiefgreifenden Wandel: Produktion und Hausgemeinschaft trennten sich, die Erziehung der Kinder war nicht mehr ausschließliche Aufgabe der Familie. Mit der Idealisierung der Kernfamilie sind ihr Scheitern, ihre Fragmentierung und ihre Perversion untrennbar verbunden. Beides lässt sich an Beispielen aus der Literatur ebenso zeigen wie an gewandelten Rechtsvorstellungen, an bürgerlichen Trauerspielen ebenso wie an bürgerlichen Gesetzbüchern. Je mehr die prekäre Familie zum gelebten Normalfall wird, desto wirkmächtiger wird gleichzeitig das Ideal der »Müslireklame«-Familie, die sich auf der Ebene des Ideals in der Tat als Endpunkt des Familienbilds der Moderne darstellt. Dieser Band beleuchtet Wandlungen der Familie und des Familienbildes im Übergang von einer stratifikatorischen zu einer funktionalen Gesellschaftsform aus den Perspektiven der Rechtsgeschichte, Literaturwissenschaft, Soziologie und Theologie. Dabei wendet er sich nicht vorrangig dem Ideal der sozialen Form »Familie«, sondern seinen Brechungen zu: fragmen-

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Martin Löhnig tierten Strukturen, prekären Rollen, misslungener Kommunikation, pervertierter Interaktion. Die ersten zwei Beiträge des Bandes sind der kulturell wirkmächtigen Heiligen Familie gewidmet, die gleichzeitig fragmentierte Familie par excellence ist, weil Josef lediglich die Rolle des sozialen Vaters Jesu einnimmt. Thomas Knieps-Port le Roi beschäftigt sich mit dem Familienbild der katholischen Kirche, die in der Familie über lange Zeit nichts »heiliges« entdecken konnte. Vor allem die zölibatäre Lebensweise galt als theologisch bedeutsam und Moraltheologie wie Kirchenrecht beschäftigten sich allein mit der Ehe. Erst in jüngerer Zeit trat die Familie als Schöpfungsgabe Gottes in den Vordergrund, ohne dass die Kirche bislang eine »Theologie der Familie« entwickelt hätte. Sabine Demel untersucht anschließend mit Maria und Josef das Elternpaar der Heiligen Familie und kontrastiert die als »Jungfrau und Mutter« verehrte Maria mit ihrer Gegenspielerin: Eva brachte Ungehorsam, Sünde und Tod, Maria Gehorsam, Glauben und Leben. Mit diesem Gegensatzpaar existierte spätestens seit dem 3. Jahrhundert ein Schema, mit dem man allmählich alle Frauen als Evatyp oder Mariatyp verteufeln oder idealisieren konnte. Diesen beiden Mutter- und Vater-Porträts stellen Barbara Vinken, Inge Kroppenberg und Marja Rauch andere Familienbilder entgegen. Barbara Vinken geht dem Bild der »Deutschen Mutter« und den Ursachen dieses europäischen Sonderwegs nach. In Deutschland hat sich die Mutter zu der Instanz entwickelt, die das Kind vor der Verderbtheit der Welt schützen musste. Die Kleinkinderziehung wurde aus den Händen von Ammen, von Hauslehrern und Gouvernanten genommen und ganz in den Schoß der Mütter gelegt. In Frankreich sind es dagegen die gutausgebildeten Schichten, die zur Betreuung in einer Kinderkrippe ganztags ab dem dritten oder sechsten Monat eine durchweg positive Einstellung haben. Von den Diskursen, die diesen Einstellungen zugrunde lägen, erholen sich Nationen nur langsam. Inge Kroppenberg bietet in ihrem Beitrag zum Vaterbild des modernen Zivilrechts ein Panorama, das die Wechselwirkung von juristischen mit gesellschaftlichen Diskursen aufschlüsselt und die sozialhistorische Funktion des juristischen Vaterbildes analysiert, die dem Bürgerlichen Gesetzbuch zugrunde gelegt wurde und uns bis heute zu schaffen macht. Rückt man die nebulös gewordene Vatergestalt des Bürgerlichen Familienrechts in den Kontext der Moderne, tritt der Funktionsverlust der Vaterrolle in den Blick, der vor allem in der Einbuße an Herrschaftsmacht über die anderen Familienmitglieder liegt. Marja Rauch schließt hieran an und

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Fragmentierte Familien. Einleitung stellt der fragmentierten Heiligen Familie andere Bilder fragmentierter Familien an die Seite: Sie zeigt, wie sich Cornelia Funkes Tintenherz-Trilogie als Familienroman lesen lässt, der in der narratologisch eindeutigen Trennung zwischen der Welt des Wirklichen und der Welt des Phantastischen eine Restauration der Familie als Lösung für ihre Fragmentierung in der Moderne anbietet. Das Bild der Familie ist vor diesem Hintergrund doppelt bestimmt: Auf der einen Seite ist die Familie ein bedrohter Ort, bestimmt durch Auflösungsprozesse, die insbesondere die Position des Vaters und Ehemannes in Frage stellen, auf der anderen Seite werden die Väterrollen mythisiert. Zwei weitere Untersuchungen widmen sich Fragen der Reproduktion von Familienverbänden. Barbara Grabmann zeigt, dass in der Familiensoziologie Kinder als eigenständige Individuen lange Zeit vergessen wurden. Mittlerweile gibt es zwar eine Vielzahl von Forschungsarbeiten zur Kinderarmut, sowohl als Armut von Kindern als auch als Armut an Kindern. Ansätze, die andere als ökonomische Einflussfaktoren, etwa Werte- oder Geschlechtsrollenorientierungen, zugrunde legen oder die zeitliche Komponente von Entscheidungsprozessen mit einbeziehen, müssen jedoch intensiver als bisher verfolgt werden. Andreas Bernard widmet sich aus kulturwissenschaftlicher Sicht neuen Reproduktionstechnologien und ihren Auswirkungen auf die Ordnung der Familie. Die Kulturwissenschaft kann den Reportagen über reproduktionsmedizinische Sensationen einen Blick zurück auf die »Vorläufer« der assistierten Empfängnis entgegenstellen, auf all jene historischen Konzepte und Figuren also, welche die blutsverwandte Kernfamilie seit Jahrhunderten ergänzt, bedroht und herausgefordert haben, auf Stiefeltern, Adoptivkinder, Ammen oder Paten. Der Band schließt mit zwei Untersuchungen, die die Familie in den Zusammenhang mit dem Inzestverbot bringen, das LéviStrauss als ein einzigartiges Brückenelement zwischen Natur und Kultur begriffen hat. Anhand von Lessings Emilia Galotti und Lenz’ Der Hofmeister zeigt Achim Geisenhanslüke, wie sich an der Schwelle zur Moderne der Status der Familie verändert hat. Vom Ort symbolischer Gewalt, die sich in der antiken Tragödie wie im bürgerlichen Trauerspiel innerhalb der mythischen Ordnung der Familie offenbart und die auf elementare Verwandtschaftsstrukturen zurückgeht, wird die Familie zu einem prosaischen Ort bürgerlicher Normalität. Martin Löhnig schildert daran anknüpfend den juristischen Diskurs zwischen 1750 und 1850 über die Strafbarkeit des Inzests als der Familienstrukturen zerstörenden Handlung schlechthin. Anhand dieses Diskurses zieht er Rück-

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Martin Löhnig schlüsse auf Wandlungen des Familienbildes an der Schwelle zur Moderne und in der im 19. Jahrhundert einsetzenden Restauration und zeigt europäische Entwicklungspfade auf, die bis heute wirkmächtig sind. Die Beiträge gehen zum überwiegenden Teil auf eine Ringvorlesung zurück, die die Gruppe »Familienbilder« (Sabine Demel, Achim Geisenhanslüke, Inge Kroppenberg, Martin Löhnig, Christoph Wagner) im Sommersemester 2009 an der Universität Regensburg veranstaltet hat. Die Ringvorlesung wurde genauso wie vorliegender Band durch großzügige Förderung seitens der Frauenbeauftragten der Universität Regensburg und der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Regensburg ermöglicht. Ihnen ebenso ein herzlicher Dank wie Eva-Maria Konrad, die den Band redaktionell bearbeitet hat.

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Wie heilig ist die Familie? Auf dem Weg zu einer »Theologie der Familie« zwischen kirchlichem Diskurs und familialer Wirklichkeit THOMAS KNIEPS-PORT LE ROI

»Ich halte sehr viel von der Altenpflege im Kreise der Familie. Als Scheidungskind wünsche ich mir wie fast alle Scheidungskinder meine Eltern wieder zusammen. Wenn sie pflegebedürftig werden, muss ich nur ihre neuen Partner ins Altenheim stecken, dann pflege ich meine geschiedenen Eltern zu Hause, wo ich sie in ein und dasselbe Ehebett reinlege, bis sie sterben. Das ist für mich die größte Vorstellung von Glück. Irgendwann, ich muss nur geduldig warten, liegt es in meiner Hand.«1

So liest sich der knappe Vorspann in dem Roman Feuchtgebiete von Charlotte Roche. Was hier literarisch zum Ausdruck kommt, bestätigen übereinstimmend alle Meinungsumfragen und Wertestudien der letzten Jahre: Die Familie gilt vielen Menschen nach wie vor als »heilig«. Sie meinen damit nicht etwa: sakrosankt oder unantastbar; schließlich weiß man wie die Heldin aus dem Roman aus eigener Erfahrung oder aus der Erfahrung anderer nur allzu gut, dass in Familien gestritten und gelitten, geprügelt und vergewaltigt wird, dass sie in die Brüche gehen und so Lebensträume und Lebensräume vernichtet werden können. »Heilig« auch nicht im religionswissenschaftlichen Sinn eines mysterium tremendum et fascinosum, das mit einer transzendenten Macht in Verbindung bringt. »Heilig« bedeutet hier vielmehr, dass die Familie unaufgebbar zum Inbegriff des persönlichen Lebensglücks gehört, mit dem sich Erinnerungen an eine ferne, unbeschwerte

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Charlotte Roche: Feuchtgebiete, Köln 2008, S. 7.

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Thomas Knieps-Port le Roi Vergangenheit verbinden und auf den sich ebenso hochgespannte Erwartungen und Sehnsüchte richten.2 Die explizite Rede von der »heiligen Familie« entstammt natürlich dem kirchlichen Sprachgebrauch, auch wenn man gleich hinzufügen muss, dass das damit verbundene kitschig-romantisierende Bild der Familie Jesu eine neuzeitliche Erfindung aus der Zeit der Gegenreformation ist, die mit der im Neuen Testament bezeugten Wirklichkeit wenig zu tun hat.3 Dennoch wird man fragen müssen, weshalb der kirchliche Diskurs über die Familie, der in den letzten Jahren verstärkt zu vernehmen ist, so wenig anschlussfähig an die heutige Stimmungslage oder Grundbefindlichkeit vieler Menschen erscheint.4 Kirchliche Stellungnahmen auf universalkirchlicher wie lokaler Ebene werden entweder als ideologische Positionierung oder aber als realitätsferne Idealisierung einer Lebensform wahrgenommen, die sich nicht mehr aus einer einheitlichen Perspektive betrachten und schon gar nicht normieren lässt. Wenn die katholische Kirche sich heute mit der Pluralisierung von Lebensformen und damit auch des familialen Zusammenlebens so schwer tut, dann hat das – so meine These – nicht mit einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit von christlicher Familienlehre und spätmodernen Lebensverhältnissen zu tun, sondern mit der Tatsache, dass entgegen einer weitverbreiteten Einschätzung Kirche und Theologie bis in die jüngste Vergangenheit hinein der Familie nicht sehr viel Beachtung geschenkt haben und nun mit einer komplexen Realität und Problemlage konfrontiert werden, auf die keine unmittelbaren Antworten aus der Tradition zur Verfügung stehen. Drei Faktoren spielen hierbei meines Erachtens eine Rolle: Zum einen hat das Christentum – anders als die Titulatur der »heiligen Familie« vielleicht vermuten lässt – über die längste Zeit

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Es sei hier nur verwiesen auf die Ergebnisse der Shell Jugend-Studie von 2006, der zufolge 72% der Jugendlichen angeben, dass man eine Familie zum Glücklichsein braucht (vgl. Klaus Hurrelmann/Mathias Albert: Jugend 2006. 15. Shell Jugendstudie: Eine pragmatische Generation unter Druck, Frankfurt/M. 2006). Dieser Trend ist seit einigen Jahren auch über die Altersgruppen hinweg und europaweit zu konstatieren, vgl. etwa Loek Halman et al.: Changing Values and Beliefs in 85 Countries. Trends from the Values Surveys from 1981 to 2004, Leiden 2008 (European Values Studies 11). Vgl. dazu Hildegard Erlemann: Die Heilige Familie. Ein Tugendvorbild der Gegenreformation im Wandel der Zeit, München 1993. Ich beziehe mich hier und im Folgenden hauptsächlich auf die römischkatholische Kirche.

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Wie heilig ist die Familie? seiner Geschichte hinweg in der Familie nicht sehr viel »Heiliges« entdecken können. Zwar ließ sich die familiäre Lebensform auch theologisch legitimieren – etwa unter Berufung auf den göttlichen Schöpfungsauftrag zur Fortpflanzung – und institutionell regulieren – so als Rekrutierungsbasis für die kirchliche Gemeinschaft –, aber als theologisch bedeutsam galt in der lateinischen bzw. römisch-katholischen Tradition nur die zölibatäre Lebensweise, also der bewusste Verzicht auf die Paarbeziehung und ein Leben mit Kindern. Verbunden damit ist ein zweiter Faktor. Während der Familie in Kirche und Theologie traditionell nur eine sekundäre Bedeutung zugemessen wurde, so lag die Sache anders bei der Ehe. In ihr hat die Tradition sehr wohl einen locus theologicus erblicken können, auch wenn sie sich erst relativ spät zu dieser Aufwertung durchringen konnte und sie dies zudem nicht davon abhielt, die Ehelosigkeit auch weiterhin als höherwertige Lebensform zu propagieren. Wenn es so etwas wie eine katholische Familienlehre gibt, so ist sie allenfalls im Nachtrag zur Ehelehre zu suchen. Denn so wie einerseits die eheliche Verbindung die unumstößliche Grundlage der Familie bildet, so wird anderseits nach katholischem Verständnis die Erzeugung von Nachkommenschaft und damit die Gründung einer Familie als ein wesentliches Zielgut wiederum der Ehe zugeordnet.5 Aus welcher Richtung man die Sache auch betrachtet, stets bleibt die Ehe der zentrale Bezugspunkt. Diese Subsumierung unter die Ehetheologie hat dazu geführt – und hierin wird ein dritter Aspekt ansichtig –, dass die Familie in der kirchlichen Verkündigung vor allem als ein vorgeschobenes ideologisches Bollwerk im Widerstand gegen feindliche Angriffsversuche auf den Kerngehalt der Ehe verstanden wurde. Bislang kamen solche Angriffe meist von außen und konnten so noch einigermaßen pariert werden – man denke etwa an die Untergrabung der ehelich-patriarchalischen Ordnung durch die zu Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Frauenemanzipation oder aber das gegenwärtige Propagieren von außerfamiliärer Kleinstkinderbetreuung durch die Politik, bei der ein Eingriff des Staates in den unveräußerlichen Verantwortungsbereich des Ehe- und Elternpaares befürchtet wird. Demgegenüber aber scheint der seit einigen Jahrzehnten in Form von Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen sich vollziehende Zer-

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Vgl. Hans Halter: »Kirche und Familie – einst und heute. Abriss der katholischen Familiendoktrin«, in: Albert Ziegler et al. (Hg.), Sexualität und Ehe. Der Christ vor einem Dauerproblem, Zürich 1981, S. 103-146, hier: S. 111.

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Thomas Knieps-Port le Roi setzungsprozess, der ihr Familienbild von innen her auszuhöhlen droht, die Kirche umso härter und unvorbereiteter zu treffen. Der Grund dafür liegt darin, dass eine Theologie und Ethik des familiären Lebensbereiches allenfalls in Ansätzen bestehen.6 So paradox es angesichts einer allseits bekannten kirchlichen Rhetorik auch scheinen mag: Erst in den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an einer gründlichen theologischen Reflexion auf die Familie erwacht.7 Nicht dass es jemals an besorgter Ermahnung und moralischer Weisung von Seiten der Kirchenleitungen angesichts des befürchteten Verfalls der Familie und ihrer Werte gemangelt hätte; aber die theologische Basis, auf der diese Mahnungen über einen langen Zeitraum hinweg beinahe unverändert wiederholt wurden, erweist sich im gegenwärtigen Kontext beschleunigter soziokultureller Umwälzungen im Bereich der Geschlechter- und Generationenverhältnisse als zu schmal oder zumindest als dringend erläuterungsbedürftig. Ich möchte deshalb im Folgenden einige Grundaxiome, die mit dem christlichen Familienverständnis für gewöhnlich assoziiert werden, vorstellen und auf die möglichen Spielräume hin ausloten, die sie gegenwärtigen und zukünftigen theologischen Deutungen einräumen. Von hierher soll dann abschließend gefragt

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Dass selbst die verstärkte lehramtliche Beschäftigung mit dem Familienthema im Pontifikat von Johannes Paul II. nur einen – wenn auch grundlegenden – Anfangs- und Übergangspunkt markiert, gesteht auch ein Verfechter dieser Familienlehre wie der kanadische Kardinal Marc Ouellet ein (vgl. ders.: Divine Likeness. Toward a Trinitarian Anthropology of the Family, Grand Rapids/Cambridge 2006, S. 11). Vgl. dazu einige neuere Arbeiten, die sich über Länder- und Konfessionsgrenzen hinweg aus theologischer und ethischer Perspektive mit dem Thema Familie beschäftigen: Hans-Günter Gruber: Familie und christliche Ethik, Darmstadt 1995; Don S. Browning/Bonnie J. MillerMcLemore/Pamela D. Couture: From Culture Wars to Common Ground. Religion and the American Family Debate, Louisville 1997; Christian Kissling: Familie am Ende? Ethik und Wirklichkeit einer Lebensform, Zürich 1998; Gerhard Marschütz: Familie humanökologisch. Theologischethische Perspektiven, Münster 2000; Lisa S. Cahill: Family. A Christian Social Perspective, Minneapolis 2000; Karin Ulrich-Eschemann: Lebensgestalt Familie – miteinander werden und leben. Eine phänomenologisch-theologisch-ethische Betrachtung, Münster 2005; Annemie Dillen: Geloof in het gezin? Ethiek, opvoeding en gezinnen vandaag, Leuven 2006; Marc Ouellet: Divine ressemblance. Le mariage et la famille dans la mission de l’Église, Sillery 2006 (engl. Divine Likeness); Adrian Thatcher: Theology and Families, Oxford 2007; Brent Waters: The Family in Christian Social and Political Thought, Oxford/New York 2007.

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Wie heilig ist die Familie? werden, ob sich von diesen Ansätzen her nicht doch eine Brücke schlagen lässt zum Empfinden vieler Menschen, die trotz zum Teil gegenteiliger Erfahrungen eine hohe Wertschätzung für die Familie hegen. Zunächst aber will ich in einer kurzen historischen Reminiszenz die Annahme relativieren, dass der heutige rhetorische Einsatz der Kirche für die Familie unmittelbar an eine unwandelbar und normativ vorgegebene Familienlehre anknüpfe, als deren Hüterin die Kirche sich von jeher verstanden habe. Ein Blick in das Neue Testament und das frühe Christentum zeigt nämlich, dass Jesus und seine Jünger sich nicht eigens mit dem Themenfeld Familie beschäftigen, während sich die junge Kirche dem vorgefundenen Familienmodell der (spät)antiken Umwelt weitgehend anpasst. So kann sich der heute von der Kirche verwendete Familienbegriff, der sich am Modell der bürgerlichen Kleinfamilie aus dem 18./19. Jahrhundert orientiert, jedenfalls nicht auf eine ungebrochene Traditionslinie oder gar auf ein biblisches Vorbild berufen.

Das neutestamentliche Zeugnis in Sachen Familie Das Bekenntnis zu Jesus Christus fordert nach Auskunft des Neuen Testaments zu einer individuellen Entscheidung heraus, bei der bevorzugte Bande familiärer oder anderer sozialer Art nicht nur keine Rolle spielen, sondern geradezu hinderlich sein können.8 In diesem Sinne berichtet etwa die synoptische JesusÜberlieferung, wie die ersten Jünger-Berufungen zum Bruch mit der eigenen Herkunftsfamilie führen: Die ersten Jünger verlassen ihren Vater ebenso wie den für den Familienunterhalt notwendigen Fischfang, um Jesus nachzufolgen (Mt 4,21f.; Mk 1,19f.); an anderer Stelle erlaubt Jesus dem Jünger nicht einmal, seinen toten Vater zu begraben (Lk 9,59); und noch schärfer die Weisung, alles zu verlassen, ja »Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern« zu hassen, um in die Nachfolge Jesu einzutreten (Lk 14,26). Aber auch an Jesu Verhältnis zu seiner eigenen Her-

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Zum Familienverständnis im Neuen Testament vgl. Hans-Josef Klauck: »Die Familie im Neuen Testament. Grenzen und Chancen«, in: Gottfried Bachl (Hg.), Familie leben. Herausforderungen für kirchliche Lehre und Praxis, Düsseldorf 1995, S. 9-36; Carolyn Osiek/David L. Balch: Families in the New Testament World. Households and House Churches, Louisville 1997; Halvor Moxnes (Hg.): Constructing Early Christian Families, New York 1997.

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Thomas Knieps-Port le Roi kunftsfamilie demonstrieren die Evangelien, dass das christliche Bekenntnis eine neuartige Loyalität erfordert, der alles andere, und damit auch familiäre Beziehungen sich unterzuordnen haben. Im Markus-Evangelium antwortet Jesus auf den Hinweis seiner Jünger, dass seine Mutter und seine Brüder ihn suchen: »Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?« – und auf den Kreis seiner Zuhörer weisend – »Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter« (Mk 3,33-35). Reflektiert sich in diesen literarischen Zeugnissen vermutlich etwas von der historischen Erfahrung der ersten Jüngergenerationen, die erleben mussten, dass die Entscheidung für das Christentum zur Entzweiung mit der eigenen Familie führte, so passen sie darüber hinaus auch zur Situation jener nachösterlichen Wandermissionare, die für ihre Missionstätigkeit tatsächlich keine Frau und keine Kinder brauchen konnten. Einer von ihnen, der Apostel Paulus, wie Jesus selbst unverheiratet, rät im Angesicht des zu erwartenden Endes der Zeiten dann auch, sich »um die Sache des Herrn« anstatt »um die Dinge der Welt« zu sorgen und deshalb unverheiratet und kinderlos zu bleiben (1 Kor 7,32ff.). Paulus ist allerdings Realist und Pragmatiker genug um zu wissen, dass er seine persönliche Vorliebe nicht zur generellen Regel erheben kann, ohne die meisten Mitglieder seiner neuen Gemeinden maßlos zu überfordern und damit das gesellschaftliche Überleben der jungen christlichen Gemeinschaft insgesamt aufs Spiel zu setzen. Und so korrigiert er sich gleichermaßen selbst, indem er zur Ehrenrettung der Ehe anführt, dass es besser sei, »zu heiraten als sich in Begierde zu verzehren« (1 Kor 7,9).9 Die Unentschiedenheit und Ambivalenz, die aus dieser Haltung gegenüber Ehe und Familie sprechen, bleiben dem Christentum eingestiftet, und es wird die Gemeinden in den ersten Jahrhunderten enorme Anstrengungen kosten, um den modischen Parolen leib- und sexualfeindlicher Bewegungen nicht gänzlich zu erliegen. Die Position, die dabei bezogen wird, besagt, dass der Verzicht auf Sexualität und Familie hochgeschätzt wird, solange er ein freiwilliger Schritt in der Nachfolge Jesu ist. Wo die Ehelo-

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Zu Paulus’ Verständnis von Ehe und Sexualität vgl. Norbert Baumert: Ehelosigkeit und Ehe im Herrn. Eine Neuinterpretation von 1 Kor 7, 2. Aufl., Würzburg 1986; Will Deming: Paul on Marriage and Celibacy. The Hellenistic Background of 1 Corinthians 7, Cambridge 1995.

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Wie heilig ist die Familie? sigkeit allerdings als einzig legitime Lebensform für ChristInnen propagiert wird, ist die Grenze zur Häresie überschritten.10 Diese Formel trägt der Tatsache Rechnung, dass es neben familienkritischen oder gar familienfeindlichen Tendenzen im frühen Christentum durchaus auch Zeugnisse für einen unbefangenen Umgang, ja eine augenfällige Wertschätzung für das Familienleben gibt. Eine Reihe von Texten aus der frühen Kirche geht ganz selbstverständlich davon aus, dass die Mehrzahl der ChristInnen verheiratet ist und in Familien lebt. Einige Schüler des Paulus rücken ausdrücklich ab von dem Modell der ehelosen Lebensweise und treten dafür ein, dass Christen in Ehe und Familie die auch ihnen angemessene Lebensform finden (vgl. etwa Tit 1,6; 2,4f.; 1 Tim 3,2-5; 3,12). Über die Taufe ganzer »Häuser« – das griechische Wort oikos steht hier für die familiäre Hausgemeinschaft der Antike – berichtet das Neue Testament an verschiedenen Stellen (vgl. Apg 10-11; 16,14f.; 16,31-33; 18,8; 1 Kor 1,16). Und Paulus selbst erwähnt sogenannte »Hausgemeinden«, also Versammlungsstätten im Wohnhaus einer Familie, die zu Keimzellen der christlichen Mission werden (vgl. 1 Kor 16,19; Röm 16,3-5; Kol 4,15). Auch wenn man nicht davon ausgehen kann, dass in der ersten Zeit der Übertritt ganzer Familien zum Christentum den Regelfall darstellte, so zeigen diese Beispiel doch, welche Bedeutung dem spätantiken Familienverband für die Verbreitung der neuen Religion und für ihre interne Organisation zukam.11 Wenig Probleme bereitet dabei offensichtlich, dass man sich damit auch einem Familientypus weitgehend unbefragt anpasste, der im (spät)antiken Mittelmeerraum vorherrschte. Das belegen etwa die sogenannten »Haustafeln«, eine in der Antike verbreitete literarische Gattung, in der Regeln für die Haushaltsführung aufgestellt werden und mit deren biblischer Variante (vgl. Kol 3,18-4,1 und Eph 5,21-6,9) auch das patriarchalische Familienmodel in das Christentum Einzug hält. Selbst wenn sich aus diesen Texten eine zaghafte Korrektur der etablierten Geschlechterordnung und ein schwaches Plädoyer für mehr Gleichheit in den familialen Beziehungen ablesen ließe, so kann man doch urteilen, dass die frühe Kirche hergebrachte Familienstrukturen 10 Vgl. dazu Peter Brown: The Body and Society. Men, Women, and Sexual Renunciation in Early Christianity, New York/Chicester 1988 (dt. Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum, München 1994). 11 Vgl. dazu Robert W. Gehring: Hausgemeinde und Mission. Die Bedeutung antiker Häuser und Hausgemeinschaften – von Jesus bis Paulus, Gießen 2000.

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Thomas Knieps-Port le Roi eher übernahm als sie – etwa durch die Ausbildung eines eigenen Familienethos – bewusst und aktiv umzugestalten. Wie diese historische Reminiszenz zeigt, ist das Verhältnis des Christentums zur Familie von Anfang an geprägt durch eine ambivalente Mischung aus theologisch motivierter Relativierung einerseits und pragmatischer Akzeptanz anderseits. So sehr das eheliche und familiäre Zusammenleben nur als die zweitbeste Lebensform angesehen wird, so wenig kann man sich darüber hinwegsetzen, dass auch Christenmenschen in der Regel in familiären Kontexten aufwachsen, die sie dann ihrerseits fortzusetzen gedenken. Diese Einstellung, die der familiären Lebensform einerseits wenig theologische Relevanz abgewinnen kann und sie anderseits doch notgedrungen in den christlichen Gestaltungsauftrag einbeziehen muss, bleibt auch im weiteren Verlauf der Christentums- und Theologiegeschichte im Wesentlichen erhalten. Erst in jüngerer Zeit ist ein neuerwachtes und tiefergreifendes theologisches Interesse an der Familie zu konstatieren, das ich im Folgenden etwas näher verorten und beleuchten möchte.

Eckpunkte des christlichen Familienbildes in der gegenwärtigen theologischen Diskussion F AMILIE

ALS UNVERFÜGBARE

S CHÖPFUNGSGABE

Wie unser kurzer Einblick in das frühe Christentum bereits deutlich gemacht hat, gelangt die Kirche bei aller theologischen Kontroverse über den Wert von Sexualität, Ehe und Fortpflanzung zu der Überzeugung, dass Ehe und Familie dem ursprünglichen Schöpfungsplan Gottes entspringen. Damit ist ein erstes Grundaxiom des christlichen Familienverständnisses benannt, das in allen kirchlichen Verlautbarungen der letzten Zeit konfessionsübergreifend hervorgehoben wird: Die Familie ist von Gott gewollt und ins Leben gerufen und deshalb als gut, gesegnet und segensreich für den Menschen anzusehen.12

12 So heißt es im Katechismus der Katholischen Kirche unter dem Titel »Die Familie im Plan Gottes«: »Indem Gott Mann und Frau erschuf, hat er die menschliche Familie gegründet und ihr die Grundverfassung gegeben« (Nr. 2203); vgl. auch die Stellungnahme der Evangelischen Kirche: Gottes Gabe und persönliche Verantwortung. Zur ethischen Orientierung für das Zusammenleben in Ehe und Familie. Eine Stellungnahme der Kammer der EKD für Ehe und Familie, Gütersloh 1998.

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Wie heilig ist die Familie? Die Grundlage dafür gibt die biblische Schöpfungserzählung ab, der zufolge Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen, beide zusammengeführt und ihnen den Auftrag erteilt hat, sich fortzupflanzen (Gen 1-2). Man muss sich die Pointe dieser Sichtweise sehr deutlich vor Augen führen. Wenn nämlich Ehe und Familie Gottes eigenem Willen und Wirken entspringen, dann sind sie nicht das Resultat einer menschlichen Kulturleistung. Anders als neuzeitliche Sozialtheorien, die davon ausgehen, dass freie Individuen sich selbst die Formen ihres Zusammenlebens schaffen, besteht die kirchliche Position darauf, dass so wie der einzelne Mensch sich nicht selbst verdankt auch seine primäre Gemeinschaftsform ihm immer schon vorgegeben ist. Die biblische Erzählung drückt dies in der Weise aus, dass Mann und Frau nach ihrer Erschaffung nicht einfach von sich aus den Weg zueinander suchen, sondern Gott sie ursprünglich füreinander bestimmt hat und sie demzufolge auch einander zuführt.13 Damit sind dem Schöpfungsbericht zufolge alle Bestrebungen zum Scheitern verurteilt, der Familie einen historischen Ursprung andichten zu wollen. So wie auch die Sprache dem Menschen vorausgeht und sich niemals jemand daran gemacht hat, ein phonetisches Zeichensystem zu erfinden, so gehört auch das familiäre Lebensmuster zu den schlechthinnigen Vorgegebenheiten, die sich nicht dem historischen Entschluss eines Menschenpaares verdanken, eine Familie zu gründen. Es handelt sich hierbei jeweils um anthropologisch fundierte »Ur-Institutionen«, die gerade aufgrund ihrer Vorgegebenheit auch als die soziale Lebenswelt gestaltende Institutionen wirksam werden können.14 Damit wird zunächst einer menschlichen Grundeinsicht Rechnung getragen, die sich in der biographischen Erfahrung eines jeden Menschen bekundet, nämlich dass wir uns immer schon als Sohn oder Tochter unserer Eltern vorfinden und mithin

13 Vgl. Gen 2,22-24, wo es heißt: »Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. [...] Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch.« 14 Die französische Sprache drückt dies treffend aus durch die Unterscheidung zwischen institué und instituant. Vgl. etwa unter Bezug auf die Vorgegebenheit von Sprache Louis-Marie Chauvet: Symbole et sacrement. Une relecture sacramentelle de l’existence chrétienne, Paris 1987: »Il ne s’agit donc pas [...] d’une institution parmi d’autres, mais bien de l’espace originaire ou originant de toute institution. Si le language est instituant, il nous montre aussi qu’il n’est d’instituant que d’ores et déjà institué.« (S. 148f.)

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Thomas Knieps-Port le Roi immer schon in ein Netzwerk von Beziehungen hineingeboren werden. »Menschliches Leben entfaltet sich in Beziehungen – nicht nur in solchen, die wir willentlich wählen und eingehen, sondern auch in solchen, in denen wir uns vorfinden und die uns die Voraussetzung dafür bereitstellen, dass wir überhaupt willentlich Beziehung zu anderen aufnehmen können.«15

In der Familie wird somit ein »soziales Lebensmuster« ansichtig, welches das menschliche Leben dauerhaft angenommen hat. »Ein solches Lebensmuster führt eine Reihe von Erwartungen und Ansprüchen mit sich, denen Menschen immer schon ausgesetzt sind, und nicht erst dann, wenn sie sich diese auf dem Wege einer Entscheidung zu eigen gemacht haben.«16 Die Familie führt damit vor Augen, »dass die menschliche Gemeinschaft als solche nicht auf hergestellten Vertragsbeziehungen beruht, sondern von dem her lebt, was an sozialen Relationen vorgefunden wird.«17 In diesem Sinne ist auch die Ehe nicht nur in der Metaphorik, sondern auch in der Logik der biblischen Schöpfungserzählung »von Gott eingesetzt«. Das erste Menschenpaar findet nicht von sich aus zueinander, sondern Gott führt sie zusammen. Zwar betrachten wir heute die Ehe als eine freiwillig eingegangene Beziehung und als eine Wahlgemeinschaft, aber sie ist aus christlicher Perspektive ihrem Wesen nach etwas anderes als nur eine »Abmachung des Paares« und damit auch keine reine Vertragsbeziehung. Der Ausdruck »Bund«, der in der katholischen Ehetheologie und Kanonistik seit dem II. Vatikanischen Konzil den Begriff »Vertrag« abgelöst hat und in der protestantischen Tradition seit Calvin festes Heimatrecht besitzt,18 zeigt an, »dass, obgleich Paare sich dazu entscheiden, frei und ohne Zwang den Stand der Ehe einzugehen, ihre Freiheit sich nicht darauf erstreckt, die Bedin-

15 Gerhard Höver/Gerrit G. de Kruijf/Oliver O’Donovan/Bernd Wannenwetsch: »Die Freiheit der Familie. Ein ökumenischer Beitrag zu einer europäischen Debatte«, in: dies. (Hg.), Die Familie im neuen Europa. Ethische Herausforderungen und interdisziplinäre Perspektiven, Münster 2008, S. 61-122, hier: S. 70. 16 Ebd., S. 66. 17 Ebd., S. 70. 18 Vgl. John Witte: From Sacrament to Contract. Marriage, Religion, and Law in the Western Tradition, Louisville 1997, S. 74-129. Vgl. auch John Witte/Eliza Ellison: Covenant Marriage in Comparative Perspective, Grand Rapids 2005.

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Wie heilig ist die Familie? gungen der Ehe zu schaffen.«19 Die Ehe partizipiert also an jenem uns immer schon vorgegebenen Netz familiärer Beziehungen, an dem sie auf eine originäre Weise weiterknüpft und das sie erweitert.20 Was Bibel und Theologie solchermaßen in den Bereich der menschlichen Unverfügbarkeit verweisen, entzieht sich damit allerdings noch nicht der Gestaltungsaufgabe durch den Menschen. Wenn Ehe und Familie von Gott eingesetzt sind, dann bedeutet dies zunächst, dass der Mensch sich auf bestimmte elementare Beziehungsmuster stützen kann, denen er seine Existenz und seine Identität verdankt und durch die eine Reihe menschlicher Grundbedürfnisse abgedeckt und geregelt werden – man denke etwa an die Gewährleistung von Schutz und Hilfe, die Bewältigung alltäglicher Aufgaben der Lebensführung, die Gestaltung intimer Beziehungen und des Sexuallebens, die Erzeugung und Erziehung von Nachkommenschaft usw.21 Dieses elementare Beziehungsgefüge, das als Familie bezeichnet werden kann, fällt damit in den Bereich dessen, was in der Moraltheologie unter dem Stichwort »Güter und Werte« behandelt wird.22 Die Familie ist ein aktuelles Gut, weil es als eine soziale Realität für Menschen von Bedeutung ist. Das bekundet sich auch und gerade dann, wenn

19 G. Höver et al.: Die Freiheit der Familie, S. 71. 20 Die Autoren der genannten Stellungnahme »Die Freiheit der Familie« weisen in diesem Zusammenhang hin auf die Priorität des vierten Gebotes (»Ehre deinen Vater und deine Mutter«) vor dem des sechsten Gebotes (»Du sollst nicht ehebrechen«) (vgl. ebd., S. 66). Auch Ray S. Anderson und Dennis B. Guernsey ordnen in diesem Sinne die Ehe der Familie unter: »While it is true that the relation of husband and wife ordinarily is established as a family unit prior to the role of parenting, this chronological order cannot be the basis for the actual order by which persons develop into family units. The reason for this is that before one can be an effective husband or wife one must have developed competence in covenant partnership through the experience of being parented. The legal marriage of a man and woman cannot create an ›instant family‹. Rather, family is the result of an intentionality through which covenant partnership as a personal structure of being is now creatively exercised in such a way that a new unity of covenant partnership comes into being« (Ray S. Anderson/Dennis B. Guernsey: On Being Family. A Social Theology of the Family, Grand Rapids 1985, S. 32). 21 Vgl. dazu Volker Eid: »Elemente einer theologisch-ethischen Lehre über die Familie«, in: ders./Laszlo Vaskovics (Hg.), Wandel der Familie – Zukunft der Familie, Mainz 1982, S. 179-200, hier: S. 181-190. 22 Vgl. dazu etwa Franz Böckle: Fundamentalmoral, München 1977, S. 2026.

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Thomas Knieps-Port le Roi die sichtbaren Familienbande zerstört sind, wie etwa im Fall von Adoptivkindern, die sich auf die Suche nach ihren biologischen Eltern begeben, oder bei Scheidungskindern, die in Loyalitätskonflikte mit den getrennten Eltern geraten. An diesen Beispielen wird aber auch deutlich, dass sich aus solchen Familienbanden noch keine konkreten Handlungsregeln ableiten lassen, da ihr bloßes Bestehen an sich ja noch nichts über ihre ethische Qualität aussagt. Wenn Scheidungskinder eine offene oder verborgene Loyalität mit einem getrennt lebenden Elternteil bekunden, kann dies sehr verletzend sein für Dritte, etwa für den neuen Partner des anderen Elternteils. Familie ist in diesem Sinne ein präsittliches Gut, dessen Vorgegebenheit das konkrete Handeln in Rechnung stellen muss, das aber als solches keine normativen Handlungsvorgaben formuliert. Deshalb lässt sich der Familie auch nicht mit moralischen Urteilen beikommen; sie ist nicht a priori als ethisch gut oder schlecht zu qualifizieren, solange nicht ausgemacht ist, von welcher Art die Beziehungen sind, die in ihr konkret gestaltet und gelebt werden – und zwar von freien Menschen, die sittlich gut oder schlecht handeln können. Damit ist auf dem Boden der biblischen Vorgabe eine grundlegende ethische Einsicht markiert, mit deren Hilfe eine aktuelle Theologie der Familie in die Lage versetzt wird, sich der heutigen vielfältigen Realität von Familie auf eine nuancierte und doch standfeste Weise zu nähern.23 Die Familie braucht nicht um jeden Preis verteidigt zu werden, und sie muss auf ihren Platz verwiesen werden, wo in ihrem Namen oder unter ihrem Denkmantel Missbrauch und Gewalt verübt werden. Dass das traditionelle christliche Familienverständnis dazu kaum in der Lage war, hat mit einer hermeneutischen Schwierigkeit im Hinblick auf die biblische Schöpfungsgeschichte zu tun. So übersah man weitgehend deren metaphorisch-mythologischen Charakter und ging stattdessen davon aus, dass die Bibel im ersten Menschenpaar das zeitlose Wesen und die unveränderliche Natur einer familiären Konstellation vorstellt. Dieses Grundmodell einer auf geschlechtlicher Differenzierung basierenden Paarbeziehung zum Zwecke der Kindererzeugung und -erziehung, das dem Schöpfungsplan Gottes ent-

23 Gerhard Höver et al. optieren auf dieser Grundlage für eine »askriptive« Annäherung an die Familie, die sie einerseits von einem »deskriptiven« Ansatz unterscheiden, bei es um eine bloße statistische Faktensammlung ginge, und anderseits von einem »präskriptiven« Ansatz, bei dem die Aufgabe der Theologie darauf reduziert würde, normative Vorgaben zu formulieren (vgl. G. Höver et al.: Die Freiheit der Familie, S. 65f.).

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Wie heilig ist die Familie? stamme und sich unter verändernden historischen Bedingungen lediglich neu auszuformen habe, avancierte somit zum Ur- und Idealbild von Familie, von dem her Abweichungen nur als defizitär eingestuft werden konnten. Es braucht nicht zu verwundern, dass die im Zuge der Industrialisierung sich herausbildende nukleare Kernfamilie eine soziale Realität bereitstellte, die sich als unmittelbar anschlussfähig an dieses Idealbild erwies. Aber selbst wo sich die historische Realität als widerspenstiger zeigte – wie im Falle der jesuanischen »Familie«, bei der die Zweifelhaftigkeit der biologischen Generativität ihre Schatten auch auf die eheliche Beziehung zwischen Maria und Josef werfen musste –, scheute man sich nicht, sie in den vorgegebenen Rahmen des Ideals einzupassen, wie eben die Stilisierung der »heiligen Familie« beweist. Bis in die jüngere lehramtliche Verkündigung lässt sich dieser deduktiv-normative Ansatz aufweisen, der die konkret antreffbare Familienrealität als Verfallserscheinung deutet und im Gegenzug an die ethische Verantwortung von Familien appelliert, dem angeblich biblisch begründeten Ideal immer mehr und besser zu entsprechen. Papst Johannes Paul II. hat dafür den Slogan geprägt: »Familie – werde, was du bist!«24 Die neuere theologische Beschäftigung hingegen betrachtet die Familie nicht im Sinne eines zeitlos normativen Kerns mit einer historisch und kontextuell wandelbaren Schale, sondern versucht, elementare Beziehungsmuster auszumachen, die auch in unterschiedlichen Ausformungen ihrer Sozialgestalt erkennbar bleiben und ihre Anpassungsfähigkeit an soziale Entwicklungen erklären können. So liest man in der bereits mehrfach zitierten konfessionsübergreifenden Stellungnahme, die unlängst von einer Gruppe von Theologen zur Familie veröffentlicht wurde: »So empfiehlt es sich, von vorausgehenden Definitionen abzusehen und die Familie stattdessen von ihren zentralen Phänomenen her zu betrachten und dabei zugleich darauf zu achten, wo ihre Grenzen liegen. Neben jenen Beziehungen, welche unzweifelhaft Familienbeziehungen sind, werden wir dabei möglicherweise Beziehungen wahrzunehmen haben, die nur in einem bestimmten, genau zu definierenden Sinne Familienbeziehungen sind. Wenn-

24 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Apostolisches Schreiben Familiaris consortio von Papst Johannes Paul II. über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute, Bonn 1981 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 33), S. 21 (Nr. 17). Vgl. dazu auch die kritische Analyse von Hans-Günter Gruber: Christliche Ehe in moderner Gesellschaft. Entwicklung – Chancen – Perspektiven, 2. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 1995, S. 177-212.

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Thomas Knieps-Port le Roi gleich wir nicht umhin können, Merkmale anzugeben, die typischerweise zum familiären Leben gehören, so sollten wir doch bedenken, dass eine Liste solcher Merkmale noch keine angemessene Definition von Familie ergibt, als könnten wir sagen: ›Wo diese Merkmale vorhanden sind, da ist Familie, und wo sie fehlen, ist eben nicht Familie‹. Tatsächlich ist es so, dass in bestimmten Fällen wesentliche Merkmale familiären Lebens fehlen können, ohne dass es angemessen wäre zu sagen: ›Das ist keine Familie‹. In einer Lebensform können elementare Merkmale oder Bestandteile fehlen, und gerade im Sinne des Bewusstseins ihres Fehlens eben doch präsent sein und darum nicht einfach als Fehlanzeige verbucht werden.«25

Die biblische Aussage von der Familie als einer göttlichen Schöpfungsgabe wird hier in der Weise interpretiert, dass darin ein elementares menschliches Beziehungsmuster aufscheint, das zwar einen spezifischen und damit von anderen unterscheidbaren Charakter hat, aber deshalb noch nicht eindeutig fixierbar ist, sondern jeweils qualitativ gestaltet und dementsprechend auch situativ beurteilt werden muss. Nicht alle möglichen Beziehungsformen können dabei legitimerweise Anspruch auf den Titel Familie erheben, aber spezifischen Beziehungstypen kann dieser Anspruch auch nicht von vornherein verweigert werden. Als Kriterium kann hierbei gelten, dass Beziehungen dazu beitragen müssen, an jenem elementaren Beziehungsnetz weiter zu knüpfen, dem Menschen ihre Existenz und Identität verdanken können.26 Dies schließt gleichermaßen ein, dass solche Beziehungen unvollkommen und fragmentarisch sein dürfen und dass sie dem Gesetz der Prozesshaftigkeit folgen können.27 Aber so machen sie gerade in der Beschränktheit der menschlichen Kondition etwas deutlich von der Spur der göttlichen Liebe, der sie sich verdanken und die sich in ihnen bekundet – und die der Familie damit eine eminente theologische Signifikanz verleiht.

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Ein zweites Grundaxiom des christlichen Familienverständnisses richtet sich auf die Ehe als Voraussetzung und Grundlage der Familie. Bereits bei der Betrachtung der Familie als Schöpfungs-

25 G. Höver et al.: Die Freiheit der Familie, S. 68. 26 In diesem Sinne heiβt es in der Stellungnahme auch: »Als eine Lebensform ist die Familie nicht durch eine Reihe vorgegebener Beziehungen definiert. Sie definiert vielmehr selbst die Beziehungen, die sie generiert« (ebd., S. 70). 27 Vgl. hierzu auch A. Dillen: Geloof in het gezin?, S. 81-88.

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Wie heilig ist die Familie? wirklichkeit ist ja deutlich geworden, dass die eheliche Verbindung ein konstitutiver Teil jenes fundamentalen Beziehungsgefüges ist, durch das Menschen in vielfacher Hinsicht lebensfähig werden. Im kirchlichen – und insbesondere katholischen – Sprachgebrauch begegnen »Ehe und Familie« gemeinhin als unzertrennliches Wortpaar, wobei aber in der traditionellen theologischen Reflexion und kirchlichen Lehre primär der Ehe Beachtung geschenkt wurde. Historisch gesehen liegen die Gründe dafür zum einen in einer umfänglichen theologischen Beschäftigung mit der Sakramentalität der Ehe und zum anderen in einem ausgeprägten Interesse an der Sexualmoral und als deren Folge an einer kindzentrierten Eheauffassung, wie sie seit der augustinischen Lehre von den Ehegütern sowohl für die katholische wie für die reformatorische Tradition maβgeblich wurde. Gerade weil die christliche Familienlehre in erster Linie eine Ehelehre ist, steht eine Theologie der Familie noch aus, die sich nicht nur als ein Annex der Ehetheologie begreift, sondern etwa die Eltern-KindBeziehung als ein von der partnerschaftlichen Wahlgemeinschaft unterschiedenes Beziehungssystem in den Blick nimmt. Dafür spricht neben internen theologischen Gründen – die biblische Anweisung »Vater und Mutter zu verlassen« indiziert ja zunächst einmal einen radikalen Bruch mit der familialen Logik28 – u.a. auch die Tatsache, dass in ihren spätmodernen Erscheinungsformen Ehe- und Familienphase zeitlich und biographisch nicht mehr zusammenfallen. So wie in der Frage nach ihrer Verankerung im Schöpfungsplan Gottes gibt es auch hinsichtlich der Eingangsvoraussetzungen für die Familie eine Bandbreite an theologischen Interpretationen. Dabei geht – kurz gefasst – die traditionelle Position davon aus, dass die Familie primär über ihre Form bestimmt werden müsse, während neuere Deutungen sie eher über ihre Funktion definieren wollen.29 Entsprechend der biblischen Vorgabe, dass es ein zweigeschlechtliches Paar ist, das von Gott den Auftrag zur Kindererzeugung erhält, erscheint der herkömmlichen Position die eheliche Verbindung von Mann und Frau als die schöpfungsund deshalb naturgemäße Grundform der Familie. Weil die Ehe von vornherein auf die Schaffung von Nachkommenschaft ausge-

28 Vgl. Thomas Knieps-Port le Roi: »Marital Spirituality and Family Spirituality. Paths That Converge and Diverge«, in: ders./Monica Sandor (Hg.), Companion to Marital Spirituality, Leuven 2008 (Studies in Spirituality Supplements 18), S. 261-275. 29 Vgl. dazu A. Thatcher: Theology and Families, S. 115-141.

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Thomas Knieps-Port le Roi richtet sei, biete sie auch die einzige und beste Grundlage für das Leben mit Kindern. Die Argumentation besagt dann, dass die Form der in der Ehe gründenden Familie die Voraussetzung für das adäquate Erbringen ihrer Leistungen bzw. für das Erfüllen ihrer Funktionen ist. Genau hier aber setzen die Bedenken neuerer theologischer Entwürfe ein, die demgegenüber fragen, ob nicht die Funktion der Familie Vorrang vor ihrer spezifischen Form haben müsse. Am weitesten gehen in dieser Hinsicht diejenigen, die unumwunden argumentieren, dass was Familie in ihrem Kern ausmache, sich nur bestimmen lasse über die Qualität der in ihr gelebten Beziehungen, und daraus folgern, dass dies prinzipiell nur in einer Vielfalt von Lebensformen verwirklicht werden könne und müsse. Die beiden US amerikanischen, protestantischen Theologen Anderson und Johnson bringen diese Sichtweise auf den Punkt: »We assume that a family is what it does. This idea that form follows function is a theological reality as well as an architectural principle. Christian teaching has more to say about what families must do than what they should look like.«30 Hierbei stellt sich allerdings die Frage, ob die Erfüllung einer Funktion bzw. das Erbringen einer Leistung so gänzlich unabhängig von der Form bzw. der Struktur erfolgen kann, in der sie erfüllt bzw. erbracht wird, wie hier angenommen wird. Sicher, Kinder brauchen mehr als zwei biologische Eltern, wenn sie sich als Persönlichkeiten entfalten sollen. Aber wenn etwa neuere empirische Untersuchungen belegen, dass Kinder, die in stabilen Zwei-Eltern-Familien aufwachsen, eindeutig bessere Entwicklungschancen gegenüber Kindern aus nicht-ehelichen Familienformen aufweisen,31 dann kann das als ein Indiz dafür genommen werden, dass die Form der stabilen Partnerbeziehung von ausschlaggebender Bedeutung ist für das Erbringen familialer Leistungen. Der elementare Beziehungsrahmen, der durch Familie umschrieben wird, lässt sich offensichtlich nicht durch Qualitätsstandards allein sichern, sondern bedarf zusätzlich der Strukturanalyse. Insofern bleibt die Frage nach der Familienform bzw. dem Familientypus, die in der traditionellen theologischen Be30 Herbert Anderson/Susan B.W. Johnson: Regarding Children. A New Respect for Childhood and Families, Louisville 1995, S. 49. 31 Vgl. entsprechende Untersuchungen aus den USA: Linda J. Waite/Maggie Gallagher: The Case for Marriage: Why Married People Are Happier, Healthier, and Better Off Financially, New York u.a. 2000; vgl. auch Institute for American Values: Why Marriage Matters: Twenty-One Conclusions from the Social Sciences, New York 2002.

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Wie heilig ist die Familie? schäftigung mit dem Familienthema alle anderen Aspekte absorbierte, ein unerlässlicher Stachel im Fleisch auch einer erneuerten Familientheologie. Die wenigsten TheologInnen plädieren heute denn auch für eine generelle Entkoppelung von Ehe und Kindfamilie. Gleichwohl hat die Neuorientierung, in deren Zug man sich von der ausschließlichen Fixierung auf den ehelichen Familientypus gelöst hat, einerseits zu einem realitätsnahen und problemorientierten Zugang zur Pluralität heutiger Familienwirklichkeit geführt. Schließlich erwies sich die traditionelle Sichtweise weitgehend als unfähig, um ethisch und pastoral verantwortlich mit der Tatsache umzugehen, dass auch alternative Familienformen, die ihre Funktion gegenüber Kindern ebenso gut oder schlecht erfüllen wie die herkömmliche Gattenfamilie, moralische Ermutigung und pastorale Hilfestellung benötigen.32 Anderseits aber hat die Infragestellung des traditionellen Junktims von Ehe und Familie auch dazu beigetragen, das theologische Eheverständnis selbst zu bereichern. In diesem Sinne konnte etwa deutlich gemacht werden, dass auch in Lebensentwürfen, die ihre Ausdrucksform nicht mehr oder noch nicht in der rechtlichen, sozialen und/oder religiösen Institution der Ehe finden, »eheliche Werte« eine zentrale Rolle spielen.33 Besonders in der ethischen und pastoralen Beurteilung des weitverbreiteten Phänomens nicht-ehelichen Zusammenlebens hat sich dieser Ansatz als besonders fruchtbar erwiesen.34 Andere haben selbst darauf hingewiesen, dass die Vielfalt nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften den Kirchen die Möglichkeit biete, die Ehe als eine eigenständige und eigenwertige Gemeinschaft der Lebensbewältigung von Mann und Frau wahrzunehmen und sie nicht gleich durch die Hinordnung auf Nachkommenschaft und Familie für sekundäre Zwecke zu instrumentalisieren, wie dies bislang in der Christentumsgeschichte der Fall war. Erst wenn die Ehe primär die verbindliche Zusage der Partner füreinander enthalte, bilde sie auch eine angemessene Grundlage für die Familie.35 Man sieht also, dass bei 32 Vgl. dazu vor allem L. Cahill: Family. 33 Von »marital values beyond marriage« spricht etwa der anglikanische Theologe Adrian Thatcher (Theology and Families, bes. S. 134ff.). Vgl. auch schon ders.: Marriage after Modernity. Christian Marriage in Postmodern Times, Sheffield 1999. 34 Vgl. dazu u.a. Adrian Thatcher: Living Together and Christian Ethics, Cambridge 2002. 35 So etwa Hans-Günter Grubers Plädoyer für einen Wandel von der »familienzentrierten Ehe« zur »ehezentrierten Familie« (vgl. H.-G. Gruber: Familie und christliche Ethik, S. 73-83).

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Thomas Knieps-Port le Roi aller Variationsbreite der theologischen Positionen dem ehelichen Ideal der Dauerhaftigkeit und Verlässlichkeit nach wie vor eine beachtliche Rolle für das familiäre Zusammenleben zuerkannt wird – wenn auch damit nicht in allen Fällen als unverrückbare Norm, so doch als Leitbild und Orientierungshilfe.

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Ein dritter, für das christliche Familienbild charakteristischer Basissatz ist eng mit dem ersten verbunden. Wird die Familie einerseits als der menschlichen Gesellschaft vorgegebenes Beziehungsgefüge und deshalb als ein durch die Gemeinschaft schützenswerter Lebensbereich angesehen, so bestimmt die christliche Position das Verhältnis zwischen Familie und Gesellschaft auch in umgekehrter Richtung: Die Familie ist auch eine fundamentale Einrichtung für die Bildung und Sicherung des Humanvermögens einer Gesellschaft. Hier gelangt Familie nicht als Vorgabe gegenüber der Gesellschaft, sondern in ihrer Aufgabe für diese in den Blick. Vor allem in der römisch-katholischen Tradition gebraucht man dafür die Metapher von der Familie als »Keimzelle der Gesellschaft« und verbindet damit eine doppelte Bedeutung: Zunächst wird zum Ausdruck gebracht, dass die Familie, wie gezeigt, in biographisch-existentieller Hinsicht für den Einzelnen den primären und grundlegenden Erfahrungs- und Lebensraum für die Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung darstellt. In diesem Zusammenhang wird in kirchlichen Texten dann auch das ursprüngliche und unveräußerliche Recht und die Pflicht der Eltern zur Erziehung ihrer Kinder hervorgehoben. Aus dieser binnenfamiliären Perspektive leitet sich dann als eine zweite Bedeutungsdimension die Funktion der Familie als Grundform sozialer Zusammengehörigkeit ab. Dabei wird nicht in erster Linie an ein generatives Ursprungsverhältnis in dem Sinne gedacht, dass alle größeren und umfassenderen Sozialgebilde auf der Familie als deren Urgebilde bleibend gültig aufbauen; entscheidender ist, dass die Familie nicht in faktischer, sondern vor allem in sittlichnormativer Hinsicht als zentrale und unersetzbare Instanz für die moralischen Grundlagen der Gesellschaft aufgefasst wird. Das Wohl und gegebenenfalls die Erneuerung einer Gesellschaft hängen damit wesentlich von der Familie ab, denn diese ist – wie es ein Text des neueren katholischen Lehramtes ausdrückt – »der ursprüngliche Ort und das wirksamste Mittel zur Humanisierung und Personalisierung der Gesellschaft; sie wirkt auf die ihr eigene und tiefrei-

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Wie heilig ist die Familie? chende Weise mit bei der Gestaltung der Welt, indem sie ein wahrhaft menschliches Leben ermöglicht, und das vor allem durch den Schutz und die Vermittlung von Werten.«36

Dies schließt auch die Tradierung religiöser Inhalte und Werte ein, weshalb aus kirchlicher Perspektive die Familie auch als primärer Ort der Glaubensweitergabe und als »Hauskirche« angesehen wird.37 Diese Position ist in jüngster Zeit auch innertheologisch nicht unwidersprochen geblieben. So weist man vor allem darauf hin, dass in der ausdifferenzierten Gesellschaft der Moderne das Teilsystem Familie zu einem Randphänomen geworden ist und allenfalls eine kompensatorische Funktion für die negativen Folgen des Modernisierungsprozesses erfüllt. Von diesem Teilbereich einen humanisierenden Beitrag für die moderne Gesellschaft zu erwarten, zeuge von einer unrealistischen Einschätzung der Möglichkeiten der Familie und trage zu ihrer permanenten Überforderung bei. Fatal sei zudem, dass die kirchliche Position von einem überhöhten theologischen Idealbild ausgehe und dabei übersehe, dass die heutige Familie zum Ort der Zerrissenheit zwischen den vielseitigen Anforderungen geworden ist, wie sie – eben infolge der genannten Modernisierungsprozesse – innerhalb der Familie (zwischen den Partnern, zwischen Eltern und Kindern) und auf dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Einbettung (Familie und Berufswelt, Familie und Schule usw.) entstehen. Weil diese Diskrepanz zwischen Ideal und Realität nicht wahrgenommen werde, schotte sich die Kirche nicht nur gegenüber der sozialen Wirklichkeit der familiären Lebenswelt ab, sondern neige dazu, den Ausfall der von der Familie eigentlich zu erbringenden Humanisierungsleistung als Anpassung an den Zeitgeist oder als Zeichen eines umfassenden Glaubensabfalls ihrer Glieder zu beklagen und damit ausschließlich individualethisch zu bewerten. »Hochgelobt und überfordert«, »stigmatisiert durch Beschuldigung und Überforderung« – so lauten deshalb einige der Etikettierungen, mit denen das kirchliche Familienbild von der Theologenzunft belegt wird.38 36 Apostolisches Schreiben Familiaris consortio, S. 47 (Nr. 43). Den Gebrauch der Metapher von der »Keimzelle der Gesellschaft« analysiert G. Marschütz: Familie humanökologisch, S. 261ff. 37 So u.a. in der Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils, Lumen gentium, Nr. 11. 38 Vgl. dazu Dietmar Mieth: »Die Familie – hochgelobt und überfordert«, in: Hans-Gerd Angel (Hg.), Aus reichen Quellen leben. Ethische Fragen in

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Thomas Knieps-Port le Roi Bei all dieser Kritik bleibt unstrittig, dass die Familie eine Einrichtung mit einem beträchtlichen gestalterischen Potential für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung wie für die Beziehungskultur und das Sozialgefüge ist – metaphorisch ausgedrückt eben eine Zelle mit pluripotenten Möglichkeiten, deren Realisierung nicht nur durch individuelle Defekte, sondern auch durch Außeneinflüsse entscheidend beeinträchtigt werden kann. Infolgedessen bedarf es zur Entfaltung dieses Potentials nicht nur des Appells an die ethische Verantwortung der einzelnen Familienmitglieder, sondern ebenso sehr der Einforderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und des Einspruchs gegenüber gesellschaftlichen Strukturen, die »tendenziell die Familie zum ›Müllplatz‹ bzw. zur ›Reparaturwerkstatt‹ für anderswo zugefügte Beschädigungen von Menschen werden und die Betroffenen allein damit lassen«39. So gesehen, lässt sich die Rede von der Familie als Zelle der Gesellschaft also auch im Sinne eines Kontrastmodells lesen und einsetzen, das sich den Zwängen der Modernisierung nicht nur zeitweise entzieht, sondern grundsätzlich widersetzt.40 Diese gesellschaftskritischen Implikationen aber standen einer traditionellen Verkündigung weniger deutlich vor Augen, welche die Familie doch eher »als ein Aufzuchtbeet von Gewächsen [begriff], die es in den Garten der Gesellschaft einzupflanzen gelte.«41 In diesem Sinne kann man allerdings fragen, ob die neuere kirchliche Verkündigung sich des kritischen Potentials bewusst ist, das in der Rede von der Familie als »Hauskirche« steckt. Auch dabei geht es eben nicht nur darum, Familien als Stützen einer kirchlichen Institution zu umwerben, sondern als eigenständige Akteure anzuerkennen, welche die Gestalt der Kirche prägen und deshalb auch verändern können. Mit der Beschreibung dieser drei Eckpunkte ist das Familienverständnis, wie es sich im Laufe der Christentumsgeschichte herGeschichte und Gegenwart (FS Helmut Weber), Trier 1995, S. 374-384; Ottmar Fuchs: »›Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?‹ Die christliche Familie: stigmatisiert durch Beschuldigung und Überforderung«, in: ders., Im Brennpunkt: Stigma. Gezeichnete brauchen Beistand, Frankfurt/M. 1993, S. 61-101; auch H.-G. Gruber: Christliche Ehe in moderner Gesellschaft, S. 201. 39 Norbert Mette: »Die Familie in der kirchenamtlichen Verkündigung«, in: Concilium(D) 31 (1995), S. 330-345. 40 Vgl. dazu auch David M. McCarthy: Sex and Love in the Home. A Theology of the Household, London 2001. 41 G. Höver et al.: Die Freiheit der Familie, S. 78.

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Wie heilig ist die Familie? ausgebildet hat und angesichts des gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontexts theologisch weiter durchdacht werden muss, zwar noch nicht in all seinen Aspekten erfasst, aber doch eine Art Koordinatensystem erstellt, in das sich weitere Facetten (Haushaltsstruktur und Arbeitsteilung, Geschlechter- und Generationenverhältnis, Kindererziehung und Traditionsvermittlung usw.) einordnen lassen. Ich möchte abschließend andeuten, inwiefern diese Eckdaten anschlussfähig sein können an die Erfahrungen, die viele Menschen heute mit der Familie machen, ebenso wie an die Erwartungen, die sie an die Familie knüpfen. Denn so unbestreitbar einerseits Familien sich von der institutionellen Organisationsform der Religion in den christlichen Kirchen distanzieren, und zwar sowohl auf der Einstellungs- wie auf der Verhaltensebene, so sehr gilt aus religionssoziologischer Perspektive die Familie noch stets als der Lebensbereich, an dem wie an keinem anderen Religiosität beheimatet ist.42

Mögliche Konvergenzpunkte zwischen familialer Wirklichkeit und kirchlichem Diskurs Wie gezeigt reflektiert die erste Aussage von der Familie als Schöpfungsgabe Gottes die fundamentale Erfahrung und Einsicht, dass der Mensch sich immer schon in einer familiären Lebensform vorfindet, bevor er oder sie daran geht, sich kritisch von ihr abzusetzen oder gestalterisch daran anzuknüpfen. In der Familie liegt also ein elementares Beziehungsgefüge vor, das nicht an bestimmte Vorleistungen gebunden ist und damit auch nicht den in der modernen Gesellschaft allgegenwärtigen Nützlichkeitserwägungen unterliegt. Es ist zwar bekannt, dass die Elterngeneration schon seit geraumer Zeit ihren Einfluss auf die Gestaltung des Lebens ihrer Kinder eingebüßt hat. Dennoch kommt eine internationale Vergleichsstudie über die Familienvorstellungen Jugendlicher zu dem Ergebnis, dass die 42 Vgl. zu diesem doppelten Befund Michael N. Ebertz: »Die ›Koalition‹ von Familie und Kirche – Ein Auslaufmodell? Soziologische Perspektiven«, in: Bernhard Jans/André Habisch/Erich Stutzer (Hg.), Familienwissenschaftliche und familienpolitische Signale. Max Wingen zum 70. Geburtstag, Grafschaft 2000, S. 123-138, sowie ders.: »›Heilige Familie‹ – ein Auslaufmodell? Religiöse Kompetenz der Familien in soziologischer Sicht«, in: Albert Biesinger/Herbert Bendel (Hg.), Gottesbeziehung in der Familie. Familienkatechetische Orientierungen von der Kindertaufe bis ins Jugendalter, Ostfildern 2000, S. 16-43.

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Thomas Knieps-Port le Roi »familiensoziologischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte […] die hohe soziale und emotionale Bedeutung der Herkunftsfamilie nicht eingeschränkt [haben]. Ihre insgesamt sehr positive Bewertung drückt sich auch darin aus, dass sie den meisten jungen Männern und Frauen als Vorbild für die eigene Lebensplanung dient.«43

Neuere religionssoziologische Studien belegen, dass eine besondere Offenheit für religiöse Fragestellungen im Kindesalter sowie in der Erfahrung des Elternseins, also bei Eltern mit kleinen Kindern festzustellen ist.44 So rufe die Erinnerung an Kindertage für viele Erwachsene immer noch die »Erinnerung an die Geborgenheit in der Familie« wach und zähle damit zu den Situationen, in denen »man sich des Göttlichen bewusst werde«. Eltern mit jungen Kindern dagegen werden sehr deutlich mit der Begrenztheit menschlicher Verfügbarkeit konfrontiert, wenn sie erfahren müssen, dass ihre Sorge für die Kinder eine nur sehr beschränkte Reichweite hat.45 Dass bei allem menschlichen Verfügungswillen und trotz der unausweichlichen Gestaltungsaufgabe die Familie mit der Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens in Kontakt bringt, scheint mir deshalb eine theologische Einsicht zu markieren, die durch eine breite Erfahrungsbasis gedeckt ist. Auch zwischen unserem dritten Axiom und der heutigen Erfahrungswelt bieten sich möglicherweise Anknüpfungspunkte, insofern Familie hier letztlich als eine »Schule reich entfalteter Humanität«46 und damit als Modell eines guten und gelungenen Lebens vorgestellt wird. Die ihr unterstellten reichhaltigen Ressourcen und das in ihr vermutete Entfaltungspotential lassen sie als die Projektion einer Lebensgestalt erscheinen, die Vorbildcharakter hat und Orientierungskraft entwickelt für das Leben in der kleinen wie in der größeren Gemeinschaft. Damit ist ein Idealund Leitbild entworfen, das nicht auf ein ungewisses Morgen vertröstet, sondern von dem her Kritik an den bestehenden Zuständen geübt und eine konkrete Zukunftsvision erarbeitet werden kann. Nun hängt die erwähnte positive Einschätzung der Her-

43 Friedrich W. Busch/Wolf-Dieter Scholz: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Familienvorstellungen zwischen Fortschrittlichkeit und Beharrung. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung von Ehe- und Familienvorstellungen Jugendlicher im internationalen Vergleich, Würzburg 2006, S. 19. 44 Vgl. dazu Michael Domsgen: Familie und Religion. Grundlagen einer religionspädagogischen Theorie der Familie, Leipzig 2004. 45 Ebd., S. 165ff. 46 So die Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils, Gaudium et spes, Nr. 52.

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Wie heilig ist die Familie? kunftsfamilie verständlicherweise davon ab, dass auch die Beziehung der eigenen Eltern in der Rückschau als harmonisch und geglückt angesehen wird; nur dann wächst auch »deren Bedeutung als Referenzmodell für die eigene Familiengestaltung«47. Insgesamt zeigen Jugendliche »in ihrer Mehrheit ein hohes Maß an eher traditioneller prospektiver und retrospektiver Familienorientierung. Für das zukünftige Leben ist die Gründung einer Familie unter der Konstellation verheirateter Eltern mit Kind(ern) ein hohes Lebensziel; zurückblickend wird die Herkunftsfamilie so positiv gesehen, dass sie als Modell dafür geeignet erscheint. Diese janusköpfige soziale und emotionale Bindung an die eigene Familie und die Herkunftsfamilie drückt sich auch in einer Zukunftsprojektion aus. Auf eine entsprechende Frage wünschen sich die meisten befragten jungen Männer und Frauen, dass sie in 25 Jahren gute bzw. enge Beziehungen zu ihren Kindern und zu ihren Eltern haben.«48

Man kann daraus schlussfolgern, dass die Familie immer noch zu einer ordentlichen Zukunftsprojektion taugt, insofern das retrospektiv aufgerufene biographische Familienbild einen Überschuss an Orientierungskraft und Entfaltungspotential erzeugt, die in den meisten Fällen wohl die realen Verhältnisse in der Herkunftsfamilie ebenso übertreffen wie die eigenen Möglichkeiten und Kapazitäten hinsichtlich der zukünftigen Familiengestaltung. Der zweite Basissatz bestimmte die eheliche Partnerschaft als Voraussetzung und Grundlage für die Familie. Interpretiert man dies nicht im engen, rechtlich-institutionellen Sinne, so kommt darin geradezu ein ethisches Prinzip für die familiäre Beziehungsgestaltung zum Vorschein: Soll Familie zu einer verlässlichen, dauerhaften und solidarischen Gemeinschaft werden, dann bedarf sie der in Freiheit eingegangenen Selbstverpflichtung und der Übernahme personaler Verantwortung durch den Einzelnen, wie sie modellhaft in der ehelichen Bindung zum Ausdruck kommen. Es ist zwar eine Binsenweisheit, dass die Institution der Ehe als lebenslange Bindung an eine Partnerin bzw. einen Partner keine biographische Selbstverständlichkeit mehr ist. Dennoch hat die Ehe damit nicht an Bedeutung eingebüßt. Wenn geheiratet wird, dann geschieht dies oft im Hinblick auf gewollte oder zu erwartende oder unter Rücksicht auf bereits vorhandene Kinder. Auch

47 F. Busch/W.-D. Scholz: Einleitung, S. 20. 48 Ebd.

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Thomas Knieps-Port le Roi wenn die These von der »kindorientierten Eheschließung«49 nicht uneingeschränkt Gültigkeit beanspruchen kann, so besteht doch offensichtlich ein »enger Sinn- und Verweisungszusammenhang zwischen Eheschließung und Familiengründung«50. Bedenkt man dann, dass die Eltern-Kind-Beziehung, die als einzige nicht lösbar und kündbar ist und als solche durchgängig auch erlebt wird, an Bedeutung gewinnt und zum Garanten der »Verlässlichkeit in Zeiten lebensgeschichtlicher Brüche«51 avanciert, so braucht es nicht zu verwundern, dass der Eintritt in die Elternschaft durch einen besonderen Akt der Selbstverpflichtung und des Versprechens markiert wird. Wenn das Eltern-Kind-Verhältnis eine besondere Verantwortung füreinander und bestimmte Erwartungen aneinander impliziert, dann werden durch die eheliche Bindung die Standards von Dauerhaftigkeit und Verlässlichkeit durch die eigene Einsatzbereitschaft schon einmal gesetzt und akzeptiert und damit gleichsam vorweggenommen. Könnte es nicht sein, dass Paare angesichts einer Elternschaft, zu deren Bestand sie selbst wenig beitragen können, einen ethischen Appell vernehmen, um dem zu erwartenden Familienglück auch aktiv zu entsprechen durch die Bindung in einer Partnerschaft, deren Gelingen tatsächlich fast ausschließlich vom eigenen Einsatz abhängt? Es gehört zu den noch weitgehend unaufgeklärten Aporien der gegenwärtigen Familienforschung, dass trotz ihrer hohen Krisenanfälligkeit und schwindenden Normativität und Plausibilität die Ehe noch stets hochgeschätzt und von den weitaus meisten Paaren auch als Lebensform gewählt wird. Ebenso bemerkenswert ist, dass die Familie den meisten Menschen auch weiterhin als heilig gilt, wie desillusionierend sie in der eigenen Lebensgeschichte auch erfahren werden mag. Hier eröffnet sich ein weites Feld von Fragestellungen, zu deren Beantwortung auch Kirche und Theologie gefordert sind.

49 Vgl. dazu Heike Matthias-Bleck: Warum noch Ehe? Erklärungsversuche der kindorientierten Eheschließung, Bielefeld 1997; auch Rosemarie Nave-Herz: Die Hochzeit: Ihre heutige Sinnzuschreibung seitens der Eheschließenden. Eine empirisch-soziologische Studie, Würzburg 1997. 50 Rüdiger Peuckert: Familienformen im sozialen Wandel, 3. Aufl., Opladen 1999, S. 52. 51 M. Domsgen: Familie und Religion, S. 248.

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Wie heilig ist die Familie?

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Jungfrau und Mutter. Maria und ihre Auswirkungen auf das Frauenbild (in) der katholischen Kirche SABINE DEMEL

Maria: die gehorsame Magd des Herrn, Mutter Gottes und Jungfrau, »unsere liebe Frau«, Schutzmantelmadonna und Fürsprecherin bei Gott, Wallfahrtsheilige, Mater dolorosa und Pietà. Es gibt wohl keine bedeutendere und symbolträchtigere Frauengestalt des Christentums als Maria.1 Es gibt aber auch keine wandlungsfähigere Frauengestalt als Maria, zumindest was ihre Darstellung betrifft »in der Kirche, in der Kunst, in den Andenkenläden. Maria ist immer mit der Mode gegangen. Gotisch streng oder in rundlichem Barock, höfisch-selbstbewusst oder ländlich-sittlich kommt sie daher. Sie verkörpert das jeweilige Frauenideal einer Epoche, ob in Holz, in Gips oder in Marzipan. Zu ihren Ehren hat man Lieder erdacht, die voll schwülstiger Inbrunst sein können, aber auch von ergreifender Schönheit und Innigkeit.«2

Selbst die Werbung hat neuerdings die Gestalt der Maria entdeckt und vermarktet T-Shirts mit frommen Marienbildern oder USBSpeichersticks als Marienfigur geformt, deren Herz rot zu blinken

1

2

Vgl. Irene Leicht: »Maria«, in: dies./Claudia Rakel/Stephanie RiegerGoertz (Hg.), Arbeitsbuch Feministische Theologie. Inhalte, Methoden und Materialien für Hochschule, Erwachsenenbildung und Gemeinde, Gütersloh 2003, S. 343-356, hier: S. 343. Renate Wind: »Madonna, Muttergöttin, Menschenfrau? Zur Geschichte der Maria aus Nazareth«, in: dies., Maria aus Nazareth, aus Bethanien, aus Magdala. Drei Frauengeschichten, Gütersloh 1996, S. 9-41, hier: S. 11.

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Sabine Demel beginnt, wenn der USB-Stick Daten lädt.3 In der Parfum- und Dessousbranche ist sogar eine eigene Marienmarke entwickelt worden mit dem Label »Dessous- und Lifestyle-Marke, Vive Maria«4. Kennzeichen dieser »Vive Maria«-Marke ist es, mit dem Bildmotiv der unschuldigen und jungfräulichen Maria aus dem 19. Jahrhundert für das Gegenteil von Unschuld und Jungfräulichkeit und damit für die Verführungskraft ihrer Produkte zu werben, die dementsprechend mit aussagekräftigen Markentiteln versehen sind wie »Forbidden Fragrances« (Parfum) und »Forbidden Lingerie« (Unterwäsche). Wer oder was ist nun diese Maria wirklich? Welche Bedeutung hatte sie ursprünglich inne, wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Marienausgestaltungen und welche Auswirkungen haben diese auf das Bild und Selbstverständnis von Frauen in der katholischen Kirche? Das ist der Fragenkreis, der im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht.

Zeugin für Christus als Gott und Mensch zugleich – der biblische Ausgangspunkt des Marienbildes »Die historisch-kritische Bibelforschung hat uns gelehrt, dass alle biblischen Texte, auch die Evangelien, von Menschen für Menschen geschrieben worden sind. Sie wollen nicht Fakten, sondern Botschaften vermitteln. Die Evangelien sind keine Tatsachenberichte, sondern gedeutete Geschichte, Glaubensbekenntnisse, Mitteilungen von Befreiungserfahrungen. Um zu verstehen, was uns in diesen Texten mitgeteilt werden soll, müssen wir etwas über ihren ›Sitz im Leben‹ erfahren. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, herauszubekommen, was an den Evangelien ›historisch‹ sein könnte und was nicht. Es geht darum, etwas über die Produzenten und die Produktionsbedingungen der Texte zu erfahren, um ihren Sinn, ihre Botschaft erfassen zu können. Die Frage, die wir an die Evangelientexte richten sollten, lautet nicht: Ist das wirklich so passiert? sondern: Was hat dieser Text zu bedeuten? Was wird von Maria erzählt und was soll damit für den Glauben und das Leben der Christen ausgesagt werden?«5

Für die bekannte Verkündigungs- und Geburtsgeschichte über Jesus, die im Lukasevangelium überliefert ist, folgt daraus: Sie bildet die Grundlage für den Glauben an Maria als Jungfrau und 3 4 5

Vgl. dazu http://www.mariamaria.ch und http://www.maria-usb.de vom 01. Oktober 2009. So die Selbstbeschreibung der Marke »Vive Maria« auf der Homepage http://www.vivemariabeauty.com vom 01. Oktober 2009. R. Wind: Madonna, Muttergöttin, Menschenfrau?, S. 28f.

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Jungfrau und Mutter Mutter Gottes, sie ist aber keine historische Erklärung oder gar Schilderung des biologischen Vorgangs der Jungfrauengeburt. Denn nicht Biologie, auch nicht Historiografie, sondern Theologie, also die Rede von Gott und über den Glauben an ihn, ist das Thema hier wie in der gesamten Bibel. Damit steht die Frage im Raum: Und welche Theologie wird in der lukanischen Verkündigungs- und Geburtsgeschichte gelehrt? Es ist die Theologie über die Einzigartigkeit der Person Jesu Christi, der nämlich – damals wie heute kaum vorstellbar – in sich ein Paradoxon verbindet: Er ist Gott und Mensch zugleich und dadurch Erlöser der ganzen Menschheit. Nicht Maria steht also im Mittelpunkt, sondern Jesus Christus. Die Einzigartigkeit seines Wesens spiegelt sich bereits im ersten Moment seines irdischen Lebens. Die wunderbare Empfängnis versinnbildlicht das göttliche Wesen, der normale Geburtsvorgang und die wahre Mutterschaft Mariens das menschliche Wesen Jesu Christi – anders gesagt: Die paradoxe Verbindung von Jungfräulichkeit und Mutterschaft bei Maria weist auf die paradoxe Verbindung von wahrer Gottheit und wahrem Menschsein Jesu Christi hin. An der Frau Maria wird exemplarisch das Christusgeheimnis verdeutlicht und umgekehrt. Deshalb kann von Maria immer nur in Abhängigkeit von und in Beziehung auf Christus gesprochen werden. Über Maria wird nur berichtet, weil sie und insoweit sie Mutter des Erlösers, des Sohnes Gottes ist. »Insofern stehen die Marienzeugnisse des Neuen Testaments […] primär im Dienst der Verkündigung Christi als eines Menschen aus der Sippe Davids und als des Sohnes Gottes.«6 Das bedeutet zugleich auch: »In der Gottesmutterschaft wird der absolute Heilswille Gottes sichtbar. So sehr will er [sc. Gott] die Gemeinschaft mit ihm [sc. dem Menschen], dass er um des Menschen willen Mensch wird. […] In der Gottesmutterschaft Marias wird greifbar, wie sehr Gott das Heil der Menschen will.«7

6

7

Otto Knoch: »Maria in der Heiligen Schrift«, in: Wolfgang Beinert/Heinrich Petri (Hg.), Handbuch der Marienkunde, Band I, 2. Aufl., Regensburg 1996, S. 15-98, hier: S. 89; vgl. dazu auch die Konstitution über die Kirche des II. Vatikanischen Konzils Lumen gentium (= LG) Art. 52f. Das 8. Kapitel von LG (Art. 52-69) stellt die »erste systematische Gesamtdarstellung der dogmatischen Lehre von Maria durch das kirchliche Lehramt« dar (Gerhard Ludwig Müller: Katholische Dogmatik. Für Studium und Praxis der Theologie, 7. Aufl., Freiburg i.Br. 2007, S. 478). Marion Wagner: »Ballast oder Hilfe? Zum Verständnis und zur Bedeutung der Mariendogmen heute«, in: dies./Stefanie Aurelia Spendel (Hg.), Maria

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Sabine Demel Die Menschen, für die Lukas geschrieben hat, haben diese Botschaft wohl verstanden, denn die Jungfrauengeburt ist eine damals übliche Metapher aus der griechischen Mythologie: Große und außergewöhnliche Gestalten sind häufig »aus der Verbindung des Zeus mit einer irdischen Jungfrau entsprossen.«8

8

zu lieben. Moderne Rede über eine biblische Frau, Regensburg 1999, S. 11-22, hier: S. 13. R. Wind: Madonna, Muttergöttin, Menschenfrau?, S. 32. Die Vorstellung von der »Jungfrau« und »Mutter« Maria hat also keinen genuin christlichen Ursprung, sondern beruht »auf vor- und außerchristlichen Vorstellungen […], auch wenn sie später im Sinne des kirchlichen Dogmas umgedeutet wurden. Tatsächlich hat sich das Christentum im ›christlichen Abendland‹ gerade dadurch durchsetzen und halten können, dass es die bereits vorhandenen heidnischen Gottheiten und Kulte ›christianisierte‹. Maria, die ›immerwährende Jungfrau‹ und ›Mutter Gottes‹, beerbte die jungfräulichen und mütterlichen Göttinnen sämtlicher heidnischen Kulte überall und gleichermaßen. Es gibt im gesamten Abendland kaum eine Marienkapelle, unter der nicht das Heiligtum einer heidnischen Göttin verborgen liegt. Von ihr übernahm Maria nicht nur den Wohnsitz, sondern auch ihre Funktion und ihre Klientel« (ebd., S. 16f.). Zur Vermeidung von Missverständnissen ist aber zugleich auch mit Gerhard Ludwig Müller die Unvergleichbarkeit der Jungfrauengeburt Marias mit den Jungfrauengeburten der griechischen Mythologie hervorzuheben: »Die mythologischen Vorstellungen bleiben auf der Ebene eines theogamen Verhältnisses zwischen Göttern und Menschenfrauen, aus deren Verbindung ein götter-menschliches Mischwesen entsteht, halb Mensch, halb Gott. Diese Mythen dienen zumeist der politischen Legitimation von Herrschern oder können in anderen Zusammenhängen auch die Auffassung veranschaulichen, dass die Götter die Fruchtbarkeit der mütterlichen Erde hervorrufen. […] Zwischen Gott und Maria [dagegen] besteht kein theogames Verhältnis, Gott verkehrt mit Maria nicht auf geschlechtliche Weise, sondern bewirkt ohne physische Voraussetzungen und kreatürliche Bedingtheiten frei aus seinem Schöpferwillen (d.h. Pneuma und Dynamis) heraus, dass das Menschsein Jesu im Leib Marias, seiner Mutter, zu existieren beginnt. Deshalb unterscheidet sich Christus vollkommen von den mythologischen Zwischenwesen. Er ist eben nicht halb Gott und halb Mensch, sondern, wie das Glaubensbekenntnis sagt, wahrer Gott und wahrer Mensch. Die Einheit entsteht nicht durch physische Mischung einer menschlichen Natur mit göttlichen Elementen, sondern durch die Person des Logos, der die Einheit der in sich unvermischten göttlichen und menschlichen Naturen Christi trägt.« (G. Müller: Katholische Dogmatik, S. 490)

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Jungfrau und Mutter

Gegenbild zu Eva und unerreichbares Ideal für Frauen – die isolierte Sicht auf Maria seit dem 2./3. Jahrhundert Obwohl Maria nur in Beziehung zu Christus, dem wahren Menschen und wahren Gott zugleich und damit »vom Christusgeheimnis als der Mitte unseres Glaubens her«9 richtig verstanden werden kann, wurde ihre Gestalt im Laufe der Zeit immer mehr aus dem theologischen Zusammenhang mit Christus herausgelöst und einseitig, vor allem biologistisch enggeführt. Das hatte für das Frauen- und Menschenbild der katholischen Kirche fatale Folgen.10 Den Anfang dieser Entwicklung bildet die Eva-MariaTypologie, die im 2./3. Jahrhundert aufkommt und als eine Gegensatztypologie gestaltet ist: Eva hat den Ungehorsam, die Sünde und den Tod gebracht, Maria den Gehorsam, den Glauben und das Leben.11 Damit war ein ideales Schema geschaffen, in das allmählich alle Frauen eingeordnet werden konnten: Entweder war eine Frau ein Evatyp oder ein Mariatyp. Das heißt: Mit Hilfe der Eva-Maria-Typologie wurden die Frauen in der katholischen Kirche Jahrhunderte lang entweder verteufelt oder idealisiert. Diese alternative Zuordnung spaltete die Weiblichkeit auf und schränkte das Leben der Frauen ein, »denn die Eva der Tradition war nicht attraktiv und Maria blieb unerreichbar.«12 Nimmt man die marianische Eigenschaft der Jungfräulichkeit hinzu und versteht sie rein biologisch, wie es sich bei der damaligen Sexualfeindlichkeit der Kirche besonders nahe legte, dann kommt auch noch die Abwertung jeder Sexualität von Frauen hinzu mit der Folge, dass »alle Frauen, die sich nicht zu einem jungfräulichen

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M. Wagner: Ballast oder Hilfe?, S. 20. »Das Christusgeheimnis ist sozusagen die Lichtquelle, die die Mariendogmen sichtbar macht und beleuchtet. Ebenso klar ist aber, dass die Mariendogmen dieses Licht ihrerseits wieder auf das Christusgeheimnis zurückwerfen. An der Frau Maria wird die ganze Tragweite des Christusgeschehens exemplarisch deutlich. An ihr wird das ganze Ausmaß des göttlichen Heilswillens sichtbar und zugleich die dem Menschen wesentliche Offenheit für Gott, die Gott in seinen Heilsplan einbezieht, in idealer und vorbildlicher Weise vor Augen gestellt« (ebd., S. 20f.). 10 Vgl. I. Leicht: Maria, S. 344. 11 Vgl. dazu auch LG 56. Zur Eva-Maria-Typologie siehe ausführlich Marion Wagner: Die himmlische Frau. Marienbild und Frauenbild in dogmatischen Handbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts, Regensburg 1999, S. 134-140. 12 I. Leicht: Maria, S. 345.

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Sabine Demel Leben [im Dienste Gottes] entschließen wollten, ihre eigentliche Bestimmung eben im Muttersein zu sehen hatten.«13 Diese Traditionslinie wird durch eine zweite Entwicklungslinie noch verschärft. Denn »je stärker in der alten Kirche das Dogma von der ›göttlichen Natur‹ Christi Platz greift, umso mehr wird Maria, ›unsere liebe Frau‹, zur eigentlichen menschlichen Ansprechpartnerin für die vielfältigen Sorgen und Bitten der Gläubigen. Von ihr erwartet man Schutz und Gnade, Rettung und Fürsprache.«14

Deshalb wird sie noch weiter idealisiert. Sie ist die reine und unbefleckte Jungfrau und Gottesmutter. Auf dieser Grundlage bildet sich in der katholischen Kirche im Mittelalter und in der Nachreformationszeit eine eigene Marienlehre heraus, die in Verbindung mit der sexualfeindlichen Tradition der katholischen Kirche zu der Vorstellung führt, dass Maria von Anfang an und Zeit ihres Lebens absolut sündenlos war, also in keiner Weise von irgendeiner Sünde »befleckt« war. Papst Pius IX. verkündete daher 1854 das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariens. Darin lehrt die katholische Kirche, dass Maria vom ersten Augenblick ihrer Existenz an, also bereits bei ihrer Empfängnis, »unbefleckt« war. Das wiederum heißt, dass Maria ohne Erbsünde von ihrer Mutter empfangen worden ist. So wurde die Jungfräulichkeit Mariens durch ihre Unbeflecktheit gekrönt. Aus der »Jungfrau« und »Gottesmutter« ist nun auch noch die »Unbefleckte«, die »Immaculata« geworden, »jenes ausnahmsweise ›sündlos empfangene‹ und damit zeitlebens reine, unbefleckte Frauenwesen, das, in den himmlischen Unschuldsfarben blau und weiß, von Fatima bis Lourdes die Marienaltäre der Neuzeit beherrscht.«15 Ab diesem Zeitpunkt galt erst recht: Durch die Idealisierung der einen Frau werden die realen Frauen abgewertet; denn neben Maria sind alle anderen Frauen unvollkommen. Ihnen fehlt, was Maria auszeichnet: »Reinheit, Gehorsam, Demut. Dafür haben sie, was Maria angeblich fehlt: eine eigene, unberechenbare weibliche Sexualität und eine fremde, für Männer so schwer zu durchschauende und deshalb schwer zu ertragende weibliche Psyche, die nun mit Hilfe Mariens gebändigt werden kann.«16 13 14 15 16

Ebd. R. Wind: Madonna, Muttergöttin, Menschenfrau?, S. 12. Ebd., S. 12f. Ebd., S. 13; vgl. I. Leicht: Maria, S. 350; Sigrid Großmann: »Maria im Neuen Testament und in den Dogmen – feministisch betrachtet«, in:

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Jungfrau und Mutter Denn Maria, die reine, sich aufopfernde, demütige Magd und schmerzensreiche Mutter, wird nun explizit und implizit Frauen als das nachzuahmende, aber stets unerreichbare Vorbild vor Augen gestellt. Etwas drastischer auf den Punkt gebracht: Mit der Dogmatisierung der unbefleckten Empfängnis Mariens ist ein männliches Herrschaftssystem perfektioniert, das als Weiblichkeitsmodell verschleiert wird: »Entsexualisierung plus Demut, das weibliche Ideal. Ein Symbol, geschaffen, den Unterdrückten die Selbstunterdrückung beizubringen, den Verunsicherten die Selbstzensur, den doppelt Ausgebeuteten die Selbstausbeutung.«17 Jahrhunderte lang und zum Teil bis heute funktionierte der Mechanismus, der mit diesem perfekten Herrschaftssystem in die Psyche der Frauen einkehrt und von Generation zu Generation weitergegeben wird: Frausein in der katholischen Kirche heißt, sich an der einen Frau, der verklärten und erhabenen Jungfrau und Muttergottes Maria zu orientieren, ohne dieses Ideal jemals erreichen zu können. »Sie thront über uns. Sie ist rein, wir sind schmutzig. Sie ist entsexualisiert, wir haben sexuelle Probleme und Bedürfnisse. Wir können sie nie erreichen und sollen deswegen Schuld und Schamgefühle empfinden. Das wiederum macht demütig. Maria unterwarf sich freiwillig. ›Mir geschehe, wie du gesagt hast‹, ist ihre Antwort zur ungewollten Schwangerschaft (Lukas 1,37). Sie sagt ›ja‹ zu Entbehrungen und Schmerzen, sie dient, ohne zu murren, sie hat keinen Eigenwillen, ist die Magd des Herren. Und wenn wir schon nicht ›rein‹ sein können wie sie, so können wir uns zumindest unterwerfen wie sie.«18

Damit sind Frauen mit Hilfe der Mariologie in dreifacher Weise abgewertet: »durch die Hervorhebung der Jungfräulichkeit auf Kosten der Sexualität, durch die einseitige Bindung des Frauenideals an die Mutterschaft und durch die metaphysische Legitimation von Gehorsam, Demut, Passivität und Unterwerfung als Haupttugenden von Frauen.«19

dies. (Hg.), »Was macht dich so frech, also zu reden?« Gesammelte Aufsätze zur feministischen Theologie, St. Ingbert 1996, S. 129-143, hier: S. 139. 17 Dorothee Sölle: »Maria ist eine Sympathisantin«, in: Karl-Josef Kuschel (Hg.), Und Maria trat aus ihren Bildern. Literarische Texte, Freiburg i.Br. 1990, S. 185-190, hier: S. 185. 18 Ebd. 19 Elisabeth Schüssler Fiorenza: »Maria und die Frauenbefreiungsbewegung. Eine kritisch-feministische Sichtung«, in: Josef Pfammatter/Eduard

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Sabine Demel

Gehorsam und Hingabe (als Genius) der Frau – die Langzeitfolgen der Idealisierung Mariens in der Verkündigung der katholischen Kirche Machen wir einen zeitlichen Sprung ins 19. Jahrhundert und blicken auf das Frauenbild der katholischen Kirche. Haben sich die Frauen in der katholischen Kirche von der Vereinnahmung eines einseitig biologistisch ausgerichteten Marienbildes befreien können oder sind sie durch die kirchliche Verkündigung davon befreit worden? Oder traf beides zu: Selbst- und Fremdbefreiung? Diese Frage gerade an diese Zeitepoche zu richten, legt sich deshalb besonders nahe, weil die Französische Revolution mit der Proklamierung der Menschenrechte auch einen besonderen Aufbruch der Frauen von damals auslöste. Frauen schlossen sich zusammen, um gemeinsam gegen ihre Unterdrückung in der Gesellschaft anzugehen. Das ist die Geburtsstunde der sogenannten »Frauenbewegung«, die um das Jahr 1848 datiert wird. Als ihr Charakteristikum gilt der Kampf der Frauen, in Familie und Gesellschaft die gleichen Rechte wie die Männer zu erreichen. Wie hat die katholische Kirche auf diese Frauenbewegung reagiert? Lassen wir den Papst dieser Epoche zu Wort kommen. Während die Frauen in weltlichen Zusammenschlüssen seit 1848 um die gleichen Rechte für Männer und Frauen in der Gesellschaft kämpften, verkündete Papst Leo XIII. rund 30 Jahre später in einem Rundschreiben von 1880: »Der Mann ist der Herr in der Familie und das Haupt der Frau. Sie aber, da sie Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein ist, soll dem Manne untertan sein und gehorchen.«20

Und ein Jahrzehnt später führt er in der Sozialenzyklika Rerum novarum aus dem Jahre 1891 aus: »Ebenso ist durchaus zu beachten, dass manche Arbeiten weniger zukömmlich sind für das weibliche Geschlecht, welches überhaupt für die häuslichen Verrichtungen eigentlich berufen ist. Diese letztere Gattung von Arbeit ge-

Christen (Hg.), Was willst du von mir, Frau? Maria in heutiger Sicht, Freiburg/CH 1995, S. 91-119, hier: S. 95. 20 Leo XIII.: Rundschreiben Arcanum divinae sapientiae vom 10. Februar 1880, in: ASS 12 (1879-1880), S. 389.

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Jungfrau und Mutter reicht dem Weibe zu einer Schutzwehr seiner Würde, erleichtert die gute Erziehung der Kinder und befördert das häusliche Glück.«21 (Nr. 33)

Auch wenn hier keine explizite Bezugnahme auf Maria erfolgt, lässt sich aus diesen päpstlichen Worten klar das Ideal der Maria in seiner biologischen Verkürzung der zur Demut und Hingabe bereiten Frau und Mutter herauslesen. Sie ist und bleibt der alleinige Maßstab für das Frauenbild in der Verkündigung der katholischen Kirche. Was mit diesem Maßstab nicht vereinbar ist, wird abgelehnt, gegebenenfalls sogar als Teufelswerk verurteilt. Und die Idee von gleichen Menschenrechten für Frauen passt nun einmal in keiner Weise zu dem Marienbild aus der Eva-MariaTypologie. An dieser Sichtweise änderte auch die Tatsache nichts, dass sich nach dem Vorbild der Frauenbewegung im gesellschaftlichen Bereich auch im innerkirchlichen Bereich Frauen zu Vereinigungen zusammenschlossen und für eine Verbesserung ihrer Situation eintraten. So entstanden 1903 der »Katholische Deutsche Frauenbund« (KDFB) und 1921 die »katholische Frauengemeinschaft Deutschlands« (kfd). Offensichtlich völlig unbeeindruckt von diesen innerkirchlichen Entwicklungen hebt Papst Pius XI. auch noch 1930, also zu einem Zeitpunkt, wo die Frauenbewegung fast schon ein ganzes Jahrhundert lang aktiv ist, in seiner Enzyklika Casti connubii hervor: »Einige Verwegene [...] bezeichnen diesen Gehorsam [der Frau gegenüber dem Mann] als eine entwürdigende Versklavung des einen Eheteils durch den anderen. Beide Gatten, sagen sie, besäßen völlig gleiche Rechte. Da diese Ebenbürtigkeit durch die Sklaverei des einen Teils verletzt werde, so rühmen sie sich stolz, eine Befreiung der Frau vollzogen zu haben, oder fordern, dass sie in Bälde vollzogen werde. [...] Aber das ist keine wirkliche Befreiung der Frau: sie beträgt nicht jene der Vernunft entsprechende und gebührende Freiheit, wie sie die hehre Aufgabe der Frau und Gattin fordert. Sie ist eher eine Schändung des weiblichen Empfindens und der Mutterwürde, eine Umkehrung der ganzen Familienordnung, so dass der Gatte der Gattin, die Kinder der Mutter, die ganze Familie und Hausgemeinschaft der stets wachsamen Hüterin und Wächterin beraubt werden. Diese falsche Freiheit und unnatürliche Gleichstellung mit dem Manne wird sich zum eigenen Verderben der Frau auswirken.«22

21 Abgedruckt in: Wolfgang Beinert: Frauenbefreiung und Kirche. Darstellung, Analyse, Dokumentation, Regensburg 1987, S. 113. 22 Pius XI.: Enzyklika Casti connubii, in: Amtliche Dokumente zur Frage der Stellung der Frauen in Kirche und kirchlichen Gemeinschaften, abgedruckt in: W. Beinert: Frauenbefreiung und Kirche, S. 113.

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Sabine Demel Dass es sich bei den Darlegungen von Papst Leo XIII. und Pius XI. nicht etwa nur um einmalige Entgleisungen handelte, sondern um eine realistische Spiegelung der kirchlichen Sichtweise dieser Zeit, wird durch einen Blick auf das kirchliche Gesetzbuch, den Codex Iuris Canonici (= CIC) von 1917 deutlich, dessen Abfassung zeitlich ungefähr zwischen diesen beiden päpstlichen Schreiben erfolgt ist. Denn auch im CIC/1917 wurde die Frau nur in ihrer biologischen Funktion und in ihrer Unterordnung zum Mann gesehen. Darüber hinaus war beides teilweise in frauenverachtender Art und Weise formuliert worden. So wurde z.B. schon bei einer so unscheinbaren Rechtsnorm (= Canon, abgekürzt: c.) wie der Wohnsitzregelung von Eheleuten eine klare Unterordnung der Frau vorgenommen, die noch dazu in einer frauenfeindlichen Sprache erfolgte (c.93 §1); hier wurde nämlich die verheiratete Frau in einem Atemzug mit Geisteskranken und Minderjährigen genannt und bestimmt, dass ihr gesetzlicher Wohnsitz der des Mannes ist. Eine die Würde der Frau verletzende Festlegung befand sich insbesondere innerhalb der Aufzählung der Pflichten der Kleriker. Dort war in der Tat folgende Verhaltensanweisung zu lesen: §1. Kleriker dürfen Frauen, die verdächtig sein könnten, nicht bei sich aufnehmen oder öfters besuchen bzw. zu Besuch empfangen. §2. Sie dürfen nur mit solchen Frauen zusammenwohnen, bei denen wegen des Verwandtschaftsgrades nichts Böses vermutet werden kann. Solche Frauen sind die Mutter, Schwester, Tante oder solche, bei denen wegen einer ehrbaren Lebensführung in Verbindung mit einem vorgerückten Alter jeder Verdacht ausgeschlossen ist. §3. Das Urteil darüber, ob das Zusammenwohnen mit oder der Besuch von Frauen, auch solchen, auf die normaler Weise kein Verdacht fällt, in einem besonderen Fall Ärgernis bedeuten oder die Gefahr der Unenthaltsamkeit herbeiführen können, steht dem Ortsoberhirten zu, der befugt ist, Klerikern gegebenenfalls das Zusammenwohnen oder das gegenseitige Besuchen zu verbieten. §4. Wer sich widersetzt, begründet die Rechtsvermutung des Konkubinates (c.133).

Diese Verhaltensregeln gegenüber dem weiblichen Geschlecht sollten vermeiden, dass die zölibatäre Lebensweise des Klerikers in Gefahr gerät. Sie stellten einen Generalverdacht gegen Frauen dar, der vom Bild der Frau als Evatyp herrührt.

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Jungfrau und Mutter Dem gleichen Ziel, den Kleriker vor der Versuchung durch das weibliche Geschlecht zu bewahren, war wohl die Vorschrift gewidmet, dass Frauen in der Regel nur in einem Beichtstuhl das Bußsakrament gespendet werden durfte, während Männer auch in Privathäusern problemlos das Bußsakrament empfangen konnten (c.910). Sehr frauenfeindlich waren ferner zwei weitere Regelungen, zum einen die Bestimmung, dass im Falle der Nottaufe durch einen Laien der männliche Laie als Taufspender den Vorzug vor dem weiblichen Laien hatte (c.742 §2), zum anderen die Rechtsnorm, wonach Frauen für den Normalfall der Ministrantendienst verwehrt war und für Ausnahmesituationen besondere Auflagen zu beachten waren: Eine Frau darf nicht als Messdiener herangezogen werden, außer in Ermangelung eines Mannes und aus einem gerechten Grund sowie unter der Bedingung, dass die Frau nur von ferne die Antworten gibt und in keiner Weise an den Altar herantritt (c.813 §2).

War der Frau schon jeglicher Dienst im Altarraum verwehrt, ergibt sich fast schon als logische Konsequenz daraus, dass ihr selbstverständlich auch das Recht abgesprochen wurde, das Sakrament der Weihe zu empfangen (c.968 §1).

Weg von Maria hin zur biblischen Ebenbildlichkeit – die Früchte des II. Vatikanischen Konzils für das Frauenbild Gleich zu Beginn seines Pontifikates im Jahre 1959 kündigte Papst Johannes XXIII. eine grundlegende Reform der katholischen Kirche an, die im Dienst der pastoralen Erfordernisse der Zeit stehen sollte. Die Hauptarbeit dieser Reform wurde durch das II. Vatikanische Konzil in den Jahren 1962 bis 1965 und durch die Überarbeitung des kirchlichen Gesetzbuches geleistet, die im zeitlichen und vor allem auch im inhaltlichen Anschluss an das Konzil erfolgte. Eine solche Reform konnte selbst in der katholischen Kirche vor der Frauenfrage nicht Halt machen. Es war höchste Zeit, die Anliegen der Frauenbewegung endlich auch im innerkirchlichen Bereich ernst zu nehmen und aufzugreifen. Johannes XXIII. war es selbst, der sich dieser Aufgabe stellte und als erster Papst in der Enzyklika Pacem in terris von 1963 nicht mehr von der Unterordnung der Frau unter den Mann und nicht mehr nur von der Berufung der Frau als Mutter sprach, sondern

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Sabine Demel von der Würde der menschlichen Person und von gleichen Rechten der Frau sowohl im Privatbereich wie auch im Staat. Papst Johannes XXIII. konnte endlich zugestehen: »Die Frau, die sich ihrer Menschenwürde heutzutage immer mehr bewusst wird, ist weit davon entfernt, sich als seelenlose Sache oder als bloßes Werkzeug einsetzen zu lassen; sie nimmt vielmehr im häuslichen Leben wie im Staate jene Rechte und Pflichten in Anspruch, die der Würde der menschlichen Person entsprechen.«23

Diese Worte atmen einen neuen Geist; sie sind von einer neuen Sichtweise gespeist. Wie bei allen Themen zur Zeit des II. Vatikanischen Konzils, so zeigt sich auch beim Thema der Frauen die Neubesinnung der Kirche auf ihre biblischen Wurzeln, und hier speziell auf die schöpfungsmäßige Gleichwertigkeit von Mann und Frau als Ebenbild Gottes. Dies wird eindrucksvoll deutlich, wenn das Konzil nun verkündet: »Da alle Menschen eine geistige Seele haben und nach Gottes Bild geschaffen sind, da sie dieselbe Natur und denselben Ursprung haben, da sie, als von Christus Erlöste, sich derselben göttlichen Berufung und Bestimmung erfreuen, darum muss die grundlegende Gleichheit aller Menschen immer mehr zur Anerkennung gebracht werden. Gewiss, was die verschiedenen physischen Fähigkeiten und die unterschiedlichen geistigen und sittlichen Kräfte angeht, stehen nicht alle Menschen auf gleicher Stufe. Doch jede Form einer Diskriminierung in den gesellschaftlichen und kulturellen Grundrechten der Person, sei es wegen des Geschlechts oder der Rasse, der Farbe, der gesellschaftlichen Stellung, der Sprache oder der Religion, muss überwunden und beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht. Es ist eine beklagenswerte Tatsache, dass jene Grundrechte der Person noch immer nicht überall unverletzlich gelten; wenn man etwa der Frau das Recht der freien Wahl des Gatten und des Lebensstandes oder die gleiche Stufe der Bildungsmöglichkeit und Kultur, wie sie dem Mann zuerkannt wird, verweigert.« (Gaudium et spes 29)

In diesem Konzilstext wird nicht nur die Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Menschen gefordert, sondern auch theologisch begründet, und zwar in einem doppelten Sinn, nämlich sowohl mit der Schöpfungsordnung als auch mit der Erlösungsordnung. Wie schon nach dem Schöpfungsbericht alle Menschen, gleich ob Mann oder Frau, nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind (Gen 1,27), so betont auch noch einmal die Erlösungsord-

23 Johannes XXIII.: Enzyklika Pacem in terris, Nr.41, abgedruckt in: W. Beinert: Frauenbefreiung und Kirche, S. 130.

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Jungfrau und Mutter nung, dass es unter den Getauften keine Unterschiede mehr gibt, weder Sklaven noch Freie, weder Mann noch Frau (Gal 3,28). Was diese programmatische Aussage von der Gleichwertigkeit für die Frauen bedeutet, wird an einigen Stellen der genannten Konzilsdokumente mehr oder weniger konkretisiert. So wird für den Bereich der Familie in Erinnerung gerufen, dass die Männer als Väter auch Pflichten haben und gleichzeitig die Mütter als Frauen auch Rechte. Im Wortlaut des Konzils ausgedrückt: In der Familie sind »gemeinsame Beratung der Gatten und sorgfältige Zusammenarbeit der Eltern bei der Erziehung der Kinder erforderlich. Zu ihrer Erziehung trägt die anteilnehmende Gegenwart des Vaters viel bei. Aber auch die häusliche Sorge der Mutter, deren besonders die jüngeren Kinder bedürfen, ist zu sichern, ohne dass eine berechtigte gesellschaftliche Hebung der Frau dadurch irgendwie beeinträchtigt wird (GS 52).

Und hinsichtlich des innerkirchlichen Bereichs stellte das Konzil im Dekret über das Laienapostolat fest: »Da heute die Frauen eine immer aktivere Funktion im ganzen Leben der Gesellschaft ausüben, ist es von großer Wichtigkeit, dass sie auch an den verschiedenen Bereichen des Apostolates der Kirche wachsenden Anteil nehmen.« (AA 9)

Hier wäre es allerdings wünschenswert gewesen, dass die Konzilsväter diese sehr allgemein gehaltene Forderung noch etwas detaillierter dargelegt hätten. Angestoßen durch Papst Johannes XXIII. wurde auf dem II. Vatikanischen Konzil endlich auch innerkirchlich das neue Selbstverständnis der Frauen als gleichwertige Partnerinnen der Männer anerkannt, weil nicht mehr das einseitige Marienbild aus der EvaMaria-Typologie, sondern der biblische Schöpfungsbericht von der Gleichwertigkeit des Menschen als Mann und Frau als Maßstab herangezogen wurde. Damit stellt sich die Frage, ob und wie diese Neuerung in das kirchliche Gesetzbuch eingegangen ist, das im Geist des II. Vatikanischen Konzils überarbeitet worden ist. Ist die auf dem Konzil propagierte Gleichheit und Gleichwertigkeit von Männern und Frauen in Würde und Stellung auch rechtlich umgesetzt worden? Das ist in der Tat geschehen. Von der Benachtei-

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Sabine Demel ligung der Frauen beim Dienst des Lektorats und Akolythats24 sowie einigen unwichtigen Ausnahmen abgesehen,25 betrachtet der CIC/1983 die Frauen als in jeder Hinsicht ebenbürtig mit den Männern; dies geht klar aus der Aufzählung der Pflichten und Rechte aller Gläubigen hervor, den cc.208-223 CIC/1983, wie auch aus den Bestimmungen über die Pflichten und Rechte der Laien, den cc.224-231 CIC/1983.26 Denn sowohl bei der Formulierung grundlegender Rechte und Pflichten aller Gläubigen wie auch bei der entsprechenden Zusammenstellung für die Laien

24 Nach c.230 können die Dienste des Lektorats und Akolythats (=Bereitung des Altares und hilfsweise Kommunionspendung) lediglich Männern auf Dauer übertragen werden (c.230 §1), Frauen dagegen nur zeitlich begrenzt (c.230 §2). Das ist nicht einsichtig bzw. als ein Relikt der altkodikarischen Diskriminierung von Frauen zu bewerten. Felix Bernard weist darauf hin, dass diese Dienste im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz fast ausschließlich den Kandidaten für die Diakonen- und Priesterweihe übertragen werden (vgl. c.1035). Insofern ist c.230 §1 seiner Meinung nach »im Zusammenhang mit dem Ausschluss der Frau von den sakramentalen Weihen zu sehen« und braucht »nicht als eine eigene, die Frau ausgrenzende Norm angesehen zu werden« (vgl. Felix Bernard: »Ist die Frau in der katholischen Kirche rechtlos?«, in: KNA. Ökumenische Information Nr. 50, 5. Dezember 1995, S. 13-17, hier: S. 16). Gegen diesen Harmonisierungsversuch spricht aber die Tatsache, dass die genannten Dienste nach dem Gesetzeswortlaut offensichtlich nicht nur als Durchgangsstufen zur Weihe, sondern auch als ständige Dienste übertragen werden können (vgl. Peter Krämer: Kirchenrecht II. Ortskirche – Gesamtkirche, Stuttgart 1993, S. 33f.; Richard Puza: »Zur Stellung der Frau im alten und neuen Kirchenrecht«, in: ThQ 163 (1983), S. 109-122, hier: S. 115f.; Konrad Breitsching: »Möglichkeiten der Teilhabe der Frau an der kirchlichen Sendung nach dem CIC/1983«, in: ZKTh 118 (1996), S. 205-221, hier: S. 211f.). 25 Sonderbestimmungen für Männer und Frauen enthalten die folgenden Canones: C.111 CIC/1983 legt fest, dass bei fehlender Einigung der Eltern das Kind der Rituskirche des Vaters zugeschrieben wird, c.1083 §1 fordert von Frauen als Mindestalter für eine gültige Eheschließung das vollendete 14., von Männern dagegen das vollendete 16. Lebensjahr, und c.1089 normiert den Frauenraub als Ehehindernis. Unverständlich sind allerdings die unterschiedlichen Regelungen für Nonnenklöster und männliche Ordensinstitute, in denen die Nonnenklöster höheren Auflagen unterliegen (vgl. cc.609 §2; 614; 616 §4). 26 Vgl. dazu Sabine Demel: Mitmachen – Mitreden – Mitbestimmen. Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen in der katholischen Kirche, Regensburg 2001, S. 36-65 und 74-76.

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Jungfrau und Mutter wird nicht zwischen Männern und Frauen unterschieden.27 Schon in der Einleitungsnorm des sogenannten Grundrechtekataloges heißt es: »Unter allen Gläubigen besteht, und zwar aufgrund ihrer Wiedergeburt in Christus, eine wahre Gleichheit in ihrer Würde und Tätigkeit, kraft der alle je nach ihrer eigenen Stellung und Aufgabe am Aufbau des Leibes Christi mitwirken.« (c.208)

Hier wird klar gesagt, dass die fundamentale Gleichheit unter allen Gläubigen sich nicht nur auf die eine gemeinsame Taufwürde bezieht, sondern auch auf die eine gemeinsame Tauftätigkeit, nämlich den Sendungsauftrag der Kirche zu erfüllen. Somit hat also jede und jeder Christgläubige das Recht, an der Heilssendung der Kirche mitzuwirken und das Apostolat auszuüben, allerdings – wie es im Gesetzestext heißt – gemäß der »je eigenen Stellung und Aufgabe«. Mit dieser Formulierung sind die sendungsspezifischen Unterschiede angesprochen, die es zwischen Klerikern, Ordensleuten und Laien gibt und geben muss (c.207), keineswegs aber etwa sendungsspezifische Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Demzufolge wird bei fast allen kirchlichen Diensten und Ämtern, die Laien wahrnehmen können, nicht mehr wie früher zwischen männlichen und weiblichen Laien unterschieden. Das im Vergleich zum CIC/1917 grundlegend neue Bild über die Frauen hat sich auch innerhalb des Eherechts niedergeschlagen. Hatte der CIC/1917 in c.1111 den Ehefrauen nur hinsichtlich der Geschlechtsgemeinschaft gleiches Recht und gleiche Pflicht wie den Ehemännern eingeräumt, so ist diese Gleichheit im CIC/1983 auf die umfassende Lebensgemeinschaft ausgeweitet worden; denn c.1135 legt klar und eindeutig fest: »Beide Ehegatten haben gleiche Pflicht und gleiches Recht bezüglich der Gemeinschaft des ehelichen Lebens.«

Dieser Rechtsformulierung liegt ein partnerschaftliches Eheverständnis zugrunde, dem auch die Wohnsitzregelung angepasst wurde; nicht mehr der Wohnsitz des Mannes ist der rechtliche 27 Zur Sonderstellung des Ausschlusses von Frauen vom Empfang des Weihesakramentes gemäß c.1024 vgl. Sabine Demel: Frauen und kirchliches Amt. Vom Ende eines Tabus in der katholischen Kirche, Freiburg i.Br. 2004, S. 59-92.

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Sabine Demel Ausgangspunkt (vgl. c.93 § 1 CIC/1917), sondern der gemeinsame Wohnsitz der Eheleute, wie aus c.104 CIC/1983 hervorgeht. Dort heißt es: »Eheleute sollen einen gemeinsamen Wohnsitz oder Nebenwohnsitz haben; aufgrund rechtmäßiger Trennung oder aus einem anderen gerechten Grund kann jeder von beiden einen eigenen Wohnsitz oder Nebenwohnsitz haben.«

Desgleichen gilt nun als Herkunftsort eines Kindes der Wohnsitz der Eltern und bei getrennt lebenden Eltern der der Mutter (c.101 §1); ferner kann nach geltendem Recht sowohl der Mann wie die Frau zum Ritus der bzw. des anderen übertreten (vgl. c.112 §2), während nach früherem Recht nur der Frau ein Rituswechsel zum Mann gestattet war (c.98 §4 CIC/1917). Schließlich spricht der Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Funktion von Erziehungsberechtigten nicht mehr von der »väterlichen Gewalt« (patria potestas; c.89 CIC/1917), sondern von der »elterlichen Gewalt« (potestas parentum; c.98 §2 CIC/1983). Werden die Frauen nicht mehr nur in ihrer biologischen Natur gesehen, sondern in ihrer Würde als menschliche Person, dann ist die frauenfeindlich-detaillierte Verhaltensanweisung an die Kleriker, wie sie in c.133 CIC/1917 enthalten war, damit nicht mehr vereinbar. Sie wurde deshalb im CIC/1983 zu einer allgemeinen und frauenunabhängigen Formulierung umgewandelt: »Die Kleriker haben sich mit der gebotenen Klugheit gegenüber Personen zu verhalten, mit denen umzugehen die Pflicht zur Bewahrung der Enthaltsamkeit in Gefahr bringen oder bei den Gläubigen Anstoß erregen könnte.« (c.277 §2)

Bei aller prinzipiellen Gleichstellung von Frau und Mann bleibt aber auch nach dem neuen kirchlichen Gesetzbuch die Frauenordination rechtlich ausgeschlossen; auch im CIC/1983 wird kurz und bündig festgelegt: »Die heilige Weihe empfängt gültig nur ein getaufter Mann« (c.1024). Allerdings ist hier zu beachten, dass bei dieser Regelung nicht nur die Gleichberechtigungsfrage gestellt werden darf, sondern auch die zugrundeliegenden dogmatisch-theologischen Überlegungen zum Weiheamt zu beachten sind, insbesondere der Aspekt, inwieweit die Bindung der sakramentalen Vergegenwärtigung Christi an das männliche Geschlecht der Wandelbarkeit unterliegen kann oder nicht.28

28 Vgl. dazu S. Demel: Frauen und kirchliches Amt, S. 59-92.

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Jungfrau und Mutter

Gleichberechtigung, aber nicht ohne Mutterschaft – der Spagat zwischen neuem und altem Frauenbild seit dem II. Vatikanischen Konzil Zu gerne würde ich an dieser Stelle ein Resümee ziehen, etwa in der Art: Zwar mussten die Frauen Jahrhunderte lang gegen ihre Vereinnahmung durch ein einseitiges Marienbild und die damit verbundene Benachteiligung in Gesellschaft und Kirche ankämpfen, bis auch das kirchliche Lehramt die Zeichen der Zeit erkannte und nicht mehr eine verkürzte Vorstellung von Maria, sondern die schöpfungsmäßig grundgelegte Gottebenbildlichkeit des Menschen zum Maßstab für die Stellung der Frau anlegte und somit nicht mehr die Unterordnung der Frau unter den Mann verkündete, sondern für die Gleichwertigkeit von Frau und Mann in allen Bereichen des Lebens eintrat. Aber nachdem sich der Umbruch des kirchlichen Frauenbildes vollzogen hatte, bemühte sich die Kirche fortan konsequent darum, »Modell [zu sein] für das gleichwertige und partnerschaftliche Zusammenleben und -wirken von Männern und Frauen«, so wie es die Deutschen Bischöfe 1981 in ihrem Schreiben »Zu Fragen der Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft«29 gefordert haben. Doch ein solches Resümee wäre nur die halbe Wahrheit. Denn der auf dem II. Vatikanischen Konzil eingeschlagene und im CIC/1983 fortgesetzte Kurswechsel wurde und wird nicht in aller Klarheit weitergeführt, ja er wird sogar teilweise in die alte Richtung wieder umgebogen. Ein erstes Anzeichen hierfür ist schon die »Botschaft an die Frauen« gewesen, die das II. Vatikanische Konzil 1965 verkündet hat.30 Darin wird zwar zunächst fast euphorisch herausgestellt: »Aber es kommt die Stunde, und sie ist schon da, in der sich die Berufung der Frau in ihrer Fülle vollendet, die Stunde, in der die Frau in der Gesellschaft einen Einfluss, eine Entfaltung, eine Macht erwirbt, die sie bis jetzt noch nie erreicht hat.«31

Danach folgt allerdings eine Umschreibung der Berufung der Frau, die nichts, aber auch gar nichts von der Neuorientierung des Konzils widerspiegelt, sondern im Gegenteil das altherge29 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Zu Fragen der Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft, 21. September 1981, in: Die deutschen Bischöfe 30 (1981), S. 19. 30 Abgedruckt in: W. Beinert: Frauenbefreiung und Kirche, S. 133f. 31 Ebd., S. 132f.

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Sabine Demel brachte Frauenbild als Ideal vorstellt und in der Hingabe an die anderen das Spezifikum der Frau sieht. Denn die Frauen werden aufgefordert: »Habt immer die Sorge um den Herd, die Liebe zum Leben, das Gefühl für die Wiege in euerer Hut!«

Im Anschluss daran ist von den Frauen als »Bräute, Familienmütter, erste Erzieherinnen des Menschengeschlechtes in der Verborgenheit des häuslichen Herdes« die Rede, dann von den »alleinstehende[n] Frauen« mit ihrer »Berufung zur Hingabe« und schließlich von den »gottgeweihte[n] Jungfrauen« als »Hüterinnen der Reinheit, der Uneigennützigkeit und der Frömmigkeit«. Nimmt man die Aussagen des Konzils über die Frauen und die Botschaft des Konzils an die Frauen zusammen, so zeigt sich die Kirche in der Frauenfrage im Spagat zwischen altem und neuem Frauenbild. Dieser Eindruck wird auch 10 Jahre später durch Papst Paul VI. bestätigt, der 1975 in dem von den Vereinten Nationen ausgerufenen »Jahr der Frau« verkündet hat: Die Kirche »stimmt gerne darin zu, dass die Stellung der Frau im beruflichen und sozialen Leben weiter verbessert werde. Doch vertritt sie gleichzeitig die Würde und Sendung der Frau, zumal der christlichen Frau, und zwar in der Weise, wie der Plan Gottes es ihr zugedacht hat: als liebe Tochter, als reine und starke Jungfrau, als liebevolle Braut, vor allem aber als Mutter, die in Ehre und voller Würde zu halten ist, und schließlich als Witwe, fromm, im Leid gereift, und unermüdlich.«32

Schon damals ist mit Recht kritisiert worden, dass sich in diesem von der Kirche verkündeten Frauenbild die meisten Frauen der Industrienationen nicht wiederfinden können. Denn heutzutage sieht die Frau ihre menschliche Erfüllung nicht nur in ihrem Dasein als Ehefrau und Mutter, sondern auch in ihrer beruflichen Tätigkeit; insofern wünscht sich die moderne Frau auch ein kirchliches Wort über ihre Mehrfachbelastung als Hausfrau, Mutter und Berufstätige33 wie auch über die Inpflichtnahme des Mannes als Ehemann und Vater. Doch wie das Frauenbild einseitig auf Ehe und Familie ausgerichtet ist, so das Männerbild auf

32 Abgedruckt in: W. Beinert: Frauenbefreiung und Kirche, S. 144. 33 Vgl. Johannes Neumann: »Die Stellung der Frau in der Sicht der katholischen Kirche heute«, in: ThQ 156 (1976), S. 111-128, hier: S. 115f.

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Jungfrau und Mutter Beruf und gesellschaftliches Ansehen. Zumindest hat bisher noch kein Papst die ehelichen und familiären Aufgaben des Mannes so in den Blick genommen wie bei der Frau und etwa den Mann – analog zur Frau – als zärtlichen Bräutigam, sorgenden Gatten, verantwortungsvollen Vater und gereiften und frommen Witwer angesprochen.34 Und auch noch 20 Jahre später, also 1995, scheute sich Papst Johannes Paul II. in seinem Brief an die Frauen anlässlich der IV. Weltfrauenkonferenz in Peking nicht, einerseits zu erklären: »Auch die Kirche will ihren Beitrag zur Verteidigung der Würde, der Rolle und der Rechte der Frauen anbieten« (Nr. 1).

Doch schon das unmittelbar daran angefügte Dankwort an die Frauen weist wiederum in die andere Richtung. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Nicht die Tatsache des Dankes, sondern die Sprache des Dankes irritiert. Der Papst spricht hier nämlich die Frauen fast mit den gleichen Worten an wie 20 Jahre vor ihm Paul VI., nämlich: als Mutter, als Braut, als Tochter, als Schwester, als berufstätige Frau und Frau im Ordensstand. Bei diesem Dankeswort kommen Fragen hoch, wie etwa: Warum die Anrede als »Braut« statt als »Ehefrau«? Gibt es die Ehefrau etwa nur als Mutter? Und was ist mit der alleinstehenden Frau, der geschiedenen Frau, der alleinerziehenden Frau? Haben sie keinen Dank verdient? Lässt man sich nicht entmutigen, sondern liest weiter, wird dies postwendend belohnt. Denn im Folgenden spricht Johannes Paul II. in aller Deutlichkeit sein Bedauern aus über die Benachteiligung, ja zum Teil Versklavung der Frau in Vergangenheit und Gegenwart, in Gesellschaft und Kirche. Hier fallen Sätze wie die folgenden: »Wie viele Frauen wurden und werden noch immer mehr nach dem physischen Aussehen bewertet als nach ihrer Sachkenntnis, ihrer beruflichen Leistung, nach den Werken ihrer Intelligenz, nach dem Reichtum ihrer Sensibilität und schließlich nach der ihrem Sein und Wesen eigenen Würde! Und was soll man zu den Hindernissen sagen, die in vielen Teilen der Welt den Frauen noch immer die volle Einbeziehung in das gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Leben verwehren? […] Es ist dringend geboten, überall die tatsächliche Gleichheit der Rechte der menschlichen Person zu erreichen,

34 Vgl. ebd., S. 116.

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Sabine Demel und das heißt gleichen Lohn für gleiche Arbeit, Schutz der berufstätigen Mutter, gerechtes Vorankommen in der Berufslaufbahn, Gleichheit der Eheleute im Familienrecht und die Anerkennung von allem, was mit den Rechten und Pflichten des Staatsbürgers in einer Demokratie zusammenhängt.« (Nr. 3f.)

Und: »In diesem Zusammenhang kann ich nicht umhin, meine Bewunderung für die Frauen guten Willens zu bekunden, die sich der Verteidigung der Würde des Standes der Frau durch die Erringung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Grundrechte gewidmet und diese mutige Initiative zu einer Zeit ergriffen haben, in der dieser ihr Einsatz als eine Übertretung, als Zeichen mangelnder Fraulichkeit, als großtuerisches Gehabe, ja als Sünde angesehen wurde!« (Nr. 6)

Solche Sätze und Eingeständnisse sind wie Musik in den Ohren und Balsam auf der Frauenseele; sie wecken das Interesse, nun zu erfahren, welche Konsequenzen daraus für den innerkirchlichen Bereich gezogen werden. So erwartungsvoll und aufgeschlossen die Leserin für die Fortsetzung ist, so enttäuscht und frustriert legt sie nach der Lektüre des zweiten Teiles den Brief zur Seite. Sie hat den Eindruck, dass ein Riss durch den Papstbrief geht, durch den die eben gemachten positiven Aussagen in den Hintergrund geraten. Denn erneut wird die Mutterschaft und die Hingabe an die anderen als das Wesen der Frau, oder, wie der Papst sagt, als »Genius der Frau« eingeschärft (Nr.9) und gleichsam zur Krönung mit dem traditionell einseitigen Marienbild untermauert: »Die Kirche sieht in Maria den erhabensten Ausdruck des ›Genius der Frau‹ und findet in ihr eine Quelle nicht versiegender Inspiration. Maria hat sich als ›Magd des Herrn‹ bezeichnet (Lk 1,38). Aus Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes hat sie ihre bevorzugte, aber alles andere als leichte Berufung einer Braut und Mutter der Familie von Nazaret angenommen. Dadurch, dass sie sich in den Dienst Gottes stellte, stellte sie sich auch in den Dienst der Menschen: ein Liebesdienst.« (Nr. 10)

Rund 10 Jahre nach diesem Papstbrief an die Frauen ist im Jahre 2004 das jüngste Schreiben zur Frauenfrage erschienen. Es stammt aus der Feder der Glaubenskongregation und trägt den Titel Über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche

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Jungfrau und Mutter und in der Welt.35 Allerdings wird im Text nicht eingeholt, was im Titel angekündigt ist. Denn in diesem Schreiben werden weder die Zusammenarbeit noch das Verhältnis von Mann und Frau erörtert, sondern bestimmte Auffassungen zurückgewiesen und auf breiter Basis die aus dem Papstbrief an die Frauen und anderen Schreiben von Papst Johannes Paul II. bekannten Betrachtungen über den Genius der Frau wiederholt, der in der Haltung des Hörens, der Demut und des Einsatzes für andere liegt. Die Kernbotschaft des Schreibens lautet: Das muss in der Kirche so bleiben und kann nicht verändert werden, auch wenn sich im Umfeld neue Sichtweisen über Frauen und von Frauen und damit in der Beziehung zwischen Mann und Frau entwickeln. »Der Duktus des Schreibens macht unmissverständlich klar, dass dem Verfasser daran gelegen ist, seine Sicht des Geschlechterverhältnisses mit der höchsten Autorität zu versehen, die er aufbieten kann. Es ist die Kirche, die durch ihn spricht, gestützt auf die Offenbarung der Hl. Schrift (vgl. No.4); es sind damit die Ordnungen Gottes selbst, vermittelt über die geschaffene Natur und die Heilsgeschichte mit ihrer durchgehenden Symbolik der Geschlechterpolarität. Wer so argumentiert, sieht Gefahr in Verzug. […] Man kann annehmen, dass das Schreiben […] auf einer längerfristigen Beobachtung von Tendenzen in der Frauen- und Genderforschung beruht. [… Doch] statt sich mit dieser Forschungsrichtung differenziert auseinanderzusetzen, wird sie im römischen Dokument pauschal disqualifiziert. [… Dem Text] geht es nicht um Darbietung einer Argumentation, mit der kritische Auseinandersetzung möglich wäre, sondern um ein Einschwören auf die (vermeintlich) universellen Grundlagen.«36

35 Kongregation für die Glaubenslehre: Schreiben an die Bischöfe der Katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, 31. Juli 2004, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 166 (2004). 36 Marie-Theres Wacker: »Das ›Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt‹ – ein feministisch-theologischer Exkurs«, in: Richard Faber (Hg.), Katholizismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2005, S. 189-195, hier: S. 191, S. 193f.; vgl. ähnlich auch Wiltrud Huml: »Geschlechtergerechtigkeit in der Kirche. Der Differenzansatz der ›Italienerinnen‹ in der Frauenseelsorge«, in: StZ 223 (2005), S. 377-388, hier: S. 377.

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Sabine Demel

Souverän, mutig und frei – das andere Marienbild der feministischen Theologie und seine Auswirkungen auf das Bewusstsein der Frauen »Maria behalte dein glattes Gesicht, die falsche Demut, den falschen Verzicht, den falschen Gehorsam, die falsche Pflicht, die falsche Geduld bis zum jüngsten Gericht – Ich will sie nicht, hörst du, ich will sie nicht!«37

Was für ein beredtes Textzeugnis für die bedrückende Rolle, die »das marianische Vorbild in vielen christlichen Frauensozialisationen gespielt hat! Doch gibt es neben dieser Erfahrung und der aus ihr resultierenden ›Marienvergiftung‹ auch die für viele Frauen befreiende Entdeckung, dass Maria noch ganz andere als die kirchenoffiziellen Züge trägt.«38 Sie herausgearbeitet zu haben ist insbesondere das Verdienst der sogenannten »Feministischen Theologie«39, die sich zusammen mit dem Aufbruch auf dem II. 37 Elisabeth Buhrmeister: »Maria, du bist meine Mutter nicht«, zitiert bei R. Wind: Madonna, Muttergöttin, Menschenfrau?, S. 14. 38 R. Wind: Madonna, Muttergöttin, Menschenfrau?, S. 14. 39 So selbstverständlich inzwischen von »Feministischer Theologie« gesprochen wird, so unklar ist oft, was damit gemeint ist. »Es kursieren (bei Männern wie Frauen) diffuse Bilder von Feministischer Theologie, die meist die erste Phase der theologischen Frauenbewegung karikiert widerspiegeln, und es herrscht große Skepsis, ob feministische Fragen in der (katholischen) Theologie überhaupt oder immer noch nötig sind – nicht selten gepaart mit dem Unwissen darüber, welche Fragen in der Feministischen Theologie überhaupt oder aktuell bearbeitet werden. So vermuten viele hinter ›der feministischen Theologie‹ eine mehr oder weniger einheitliche Position: kämpferische, männerkritische Theologie von Frauen aus der Opferperspektive; eine Position, die von der Realität überholt, wenig attraktiv und biographisch wie wissenschaftlich irrelevant erscheint. […] Feministische Theologie verschränkt Geschlechterforschung mit sämtlichen Inhalten und Methoden der Theologie und ergänzt sie um eigene Inhalte und Methoden unter der Maßgabe der Geschlechtergerechtigkeit. Sie ist keine Theologie von Frauen für Frauen, ›keine an das Geschlecht gebundene, sondern eine die Geschlechtlichkeit problematisierende Theologie‹« (Andrea Qualbrink: »›Wenn ihr nicht werdet wie die Mütter…‹. Töchter Gottes, Mütter des Feminismus und die Zukunft Feministischer Theologie«, in: Joachim Kügler/Lukas Bormann (Hg.), Töchter (Gottes). Studien zum Verhältnis von Kultur, Religion und Geschlecht, Berlin 2008, S. 203-219, hier: S. 203f.). Der Ausdruck »feministische Theologie« könnte daher auch durch den Begriff »geschlechterbewusste Theologie« ersetzt werden (ebd., S. 218f.).

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Jungfrau und Mutter Vatikanischen Konzil entwickelt hat.40 Sie verfolgt das Ziel einer ganzheitlichen Theologie, also einer Theologie, die von ihrer männlichen Einseitigkeit in Sprache und Denken befreit wird hin zu einer Theologie, die weiblichen und männlichen Menschen gleichermaßen gerecht wird. Im Blick auf Maria ist es der Feministischen Theologie vor allem gelungen, die einseitig biologische Deutung von »Jungfrau« und »Mutter« in der männlichen Tradition der katholischen Kirche auf eine ganzheitlich anthropologische Deutung hin aufzubrechen. In dieser Sichtweise ist »Jungfrau« nicht primär biologisch und gynäkologisch zu verstehen, sondern als ein sozialer und psychischer Zustand. Der Titel »Jungfrau« umschreibt demnach eben nicht den gynäkologischen Zustand einer unberührten, jeglicher Sexualität entsagenden Frau, sondern den – meist kurz andauernden – sozialen Standort, als Frau einerseits (schon) aus der Gewalt des Vaters herausgetreten und andererseits (noch) nicht unter die Gewalt des Ehemannes eingetreten zu sein. Jungfräulich zu sein heißt demnach als Frau frei zu sein von allen männlichen Macht- und Herrschaftsansprüchen. Die Jungfrau ist sozial in einem Zustand der Freiheit und Unabhängigkeit, der sich auch psychisch als Freiheit und Unabhängigkeit von allen männlichen Interessen und Anforderungen auswirkt. Wer Jungfrau ist, ist somit eine unabhängige Frau, »die nicht vom Mann her definiert wird und die sich selbst nicht vom Mann her definiert – die sich also nicht als Ehefrau von […] versteht, als Mutter von […], als Tochter ihres Vaters, als Schwester ihres Bruders, sondern […] als eine selbständige, unabhängige, eigenständige Frau. Und so wird aufgrund dieses Verständnisses Maria [als Jungfrau] das Bild für Selbstwerdung und Selbstaktualisierung, von Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit, von Eigenständigkeit und Unabhängigkeit.«41

40 Elzbieta Adamiak stellt zu Recht heraus: »Unter den nachkonziliaren Entwicklungen nenne ich drei, die unterschiedlichen Einfluss auf den dogmatischen Traktat über Maria hatten bzw. haben: die historischkritische Exegese, die Befreiungstheologie und die feministische Theologie. Alle drei haben einen ambivalenten, teilweise kritischen, teilweise affirmativen Zugang zu den verschiedenen mariologischen Aspekten erarbeitet. Alle drei stellten zwar vieles, was bisher angenommen wurde, in Frage, ermöglichten aber, das verlorene gemeinsame Glaubenserbe der mariologisch wichtigen theologischen Aussagen aller Christinnen und Christen in den Vordergrund zu stellen« (Elzbieta Adamiak: »Wege der Mariologie«, in: Concilium 44 (2008), S. 410-417, hier: S. 410). 41 S. Großmann: Maria im Neuen Testament, S. 137. Vgl. auch E. Schüssler Fiorenza: Maria und die Frauenbefreiungsbewegung, S. 104: Die Jung-

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Sabine Demel Auch die Mutterschaft ist in diesem analogen Sinn zu verstehen. Sie meint nicht primär den biologischen Vorgang der Schwangerschaft und Geburt, sondern steht als Symbol für das lebenspendende weibliche Urprinzip. So gesehen ist also die Aussage über Maria, die Jungfrau und Mutter zugleich ist, weniger eine biologische Qualifizierung, sondern vielmehr »eine Metapher für Neubeginn und Uranfang, ist Ausdruck des Für-sich-seins und Fürandere-seins, ist Vision der Ganzheit der Menschen und der Welt.«42 Mit diesem neuen Verständnis von der Jungfrau und Mutter Maria wird ein ganz neuer Blick auf die Bedeutung Marias nicht nur für die Frauen, sondern für die Kirche insgesamt möglich. Im Mittelpunkt steht hier nicht mehr die Frage, ob Maria tatsächlich im biologischen Sinn Jungfrau war oder nicht, sondern vielmehr die Frage, wie rückhaltlos und radikal offen Maria für Gott gewesen sein muss. In ihrer gläubigen Offenheit gegenüber dem Willen Gottes und in ihrer Bereitschaft, auf sein Wort hin neues Leben zu empfangen, sagt sie Ja zum Heilsplan Gottes und zum Plan Gottes mit ihr: Gott nimmt mit der Geburt Christi einen neuen Schöpfungsakt vor und setzt dabei – wie immer schon in seiner Geschichte mit den Menschen – auf ihre Offenheit und Empfänglichkeit, hier paradigmatisch vorgelebt von Maria.43

frau Maria wird »zum Symbol für die Autonomie, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von Frauen, deren Identität nicht länger mit Bezug auf den Mann bestimmt wird.« Marion Wagner macht darauf aufmerksam, dass es nur wenige Theologen gibt, »die die vorrangige Betrachtung der Jungfräulichkeit Marias unter biologisch-physiologischem Aspekt, speziell als sexuelle Enthaltsamkeit […] unmissverständlich als Engführung bestimmen und ihre schädlichen Auswirkungen auf die Bewertung der menschlichen Sexualität und der Ehe […] nicht verschweigen« (M. Wagner: Die himmlische Frau, S. 377). 42 R. Wind: Madonna, Muttergöttin, Menschenfrau?, S. 19; vgl. Gabriele Miller: »Maria – unsere Schwester im Glauben. Das Marienbild des Neuen Testaments«, in: Stefanie Aurelia Spendel/Marion Wagner (Hg.), Maria zu lieben. Moderne Rede über eine biblische Frau, Regensburg 1999, S. 2338, hier: S. 34. Anselm Grün betont daher zu Recht: »Und Maria könnte auch heute für viele Frauen eine Hilfe werden, sich nicht nach männlichen Maßstäben zu richten, sondern die eigenen Werte zu entdecken und sich an ihrem Frausein zu erfreuen« (Anselm Grün: Bilder von Maria. Erlöster Mensch, Mütterlicher Gott, Urbild des Glaubens, Stuttgart 2006, S. 120). 43 Vgl. M. Wagner: Ballast oder Hilfe?, S. 14.

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Jungfrau und Mutter »Maria ist nicht bloßes Werkzeug eines Menschen benutzenden Gottes, willenloses Objekt, dessen Leistung einzig im demütigen Verzicht auf die eigenen Interessen besteht. Die Mutter Jesu ist aktive Unterstützerin, handelndes Subjekt, sie entscheidet sich bewusst für ihre Mitwirkung am Werk Gottes.«44

Deshalb ist die Bezeichnung Marias als Jungfrau in erster Linie eine Aussage über ihre Haltung, über ihre Glaubenshaltung, sozusagen eine Aussage über ihre Spiritualität, nämlich ganz aus der Hingabe an den Willen Gottes zu leben.45 »Bei dem Glaubenssatz von der Jungfräulichkeit Marias geht es also […] nicht um die Verkündigung eines Ideals für die christliche Frau, sondern um die Verkündigung eines Ideals für alle Christen – allerdings nicht hinsichtlich des Familienstandes, sondern hinsichtlich der Haltung gegenüber Gott und seinem Wort.«46

Es kann nicht darum gehen, »zu sein wie Maria«, sondern »zu glauben wie Maria.«47 Wer eine solche Glaubensstärke an den Tag legt, von der kann man dann auch annehmen, dass sie schon vom ersten Augen-

44 Claudio Ettl: »Maria im Neuen Testament«, in: Diözesanmuseum für christliche Kunst des Erzbistums München und Freising (Hg.), Madonna. Das Bild der Muttergottes, Lindenberg i. Allgäu 2003, S. 9-15, hier: S. 13. 45 Vgl. M. Wagner: Ballast oder Hilfe?, S. 14; dies.: Die himmlische Frau, S. 377f. 46 M. Wagner: Ballast oder Hilfe?, S. 15. Die überlieferte Redeweise und Verkündigung von der Jungfrauenschaft vor, in und nach der Geburt ist nicht glaubensverpflichtend. »Keines der drei Momente ist jemals lehramtlich verpflichtend vorgelegt worden. Dass Maria immer Jungfrau geblieben ist, ist also nicht de fide definita [sc. als Dogma] zu glauben« (Wolfgang Beinert: »Die mariologischen Dogmen und ihre Entfaltung«, in: ders./Heinrich Petri (Hg.), Handbuch der Marienkunde, Band I, 2. Aufl., Regensburg 1996, S. 267-363, hier: S. 316). 47 M. Wagner: Ballast oder Hilfe?, S. 20; vgl. dies.: Die himmlische Frau, S. 382; W. Beinert: Die mariologischen Dogmen, S. 360f. Siehe dazu auch LG 64f; C. Ettl: Maria im Neuen Testament, S. 15: »Maria ist der idealtypische Prototyp des glaubenden Menschen. In ihrer aktiven, bewussten Entscheidung für ihren Glauben, im Durchdenken und Bewahren des Erfahrenen, in ihrer Treue und Konsequenz bis unter das Kreuz ihres Sohnes und in ihrer Rolle als eine der ersten nachösterlichen Gemeindemitglieder ist sie Vorbild für alle Christinnen und Christen. Zugleich ist Maria Idealbild einer Frau, die sich in selbstbewusster Weise für ihren Glauben entscheidet.«

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Sabine Demel blick ihres Daseins her unter dem besonderen Schutz Gottes stand, so dass sie von Anfang an vor jeder Sündhaftigkeit bewahrt worden ist und deshalb bereits frei von jeder Erbsünde empfangen worden ist, wie man das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariens aus dem Jahr 1854 verstehen kann. Und konsequent zu Ende gedacht muss eine solche glaubensstarke Person bereits jetzt schon die Erlösung erfahren haben, die uns allen noch aussteht, nämlich in engster Gemeinschaft mit Gott zu leben, wie das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel von 1950 gelesen werden kann.48 Zu was ein solch glaubensstarker Mensch wie Maria fähig ist, zeigt das Magnificat, der Lobpreis Marias auf die ihr zuteil gewordene Gnade Gottes, wie es im Lukasevangelium überliefert ist. In diesem Magnificat »begegnet uns fast eine subversive Maria, eine Frau, die über sich selber hinauswächst, erfüllt von einem ganz anderen als dem menschlichen Geist, eine Frau, die mit ihm das Ende aller bestehenden ungerechten Gesellschaftsordnungen erwartet. Wir sehen hier eine Frau, die nicht klein beigibt, die ihre Empörung über die Mächtigen ausspricht. Hier begegnet uns ein Stück widerständigen heiligen Geistes. Hier wird nicht Ergebenheit, hier wird uns Widerstand gelehrt. Solcher Widerstand im heiligen Geist gibt Kraft.«49

Offensichtlich werden sich zunehmend mehr Frauen in der katholischen Kirche dieser Kraftquelle bewusst. Sie sehen Maria nicht mehr (nur) mit den Augen der patriarchalen Verkündigung der Kirche, sondern mit ihren eigenen weiblichen Augen und entdecken dabei Maria als zentrale Frau der Heilsgeschichte Gottes. »Sie nehmen die Kraft der Maria als Repräsentantin des Weiblichen in der Heilsgeschichte wahr, um ihre Rechte in einer geschwisterlichen Kirche anzumelden: aus der ›Maria über allen Frauen‹ wird die ›Maria für alle Frauen‹.«50 Ein solches Marienbild ist nicht mehr Last und Unterdrückung, sondern Chance und Unterstützung für Frauen in der Kirche. Auch wenn nicht direkt 48 Elzbieta Adamiak führt hierzu treffend aus: »Die einmalig nahe Beziehung zwischen Maria und ihrem Sohn kennt keine Grenzen. Maria bleibt als ganze – um mit der damaligen Anthropologie zu sprechen ›mit Leib und Seele‹ – und über die Todesgrenze hinaus lebendig vereint mit Jesus. […] In der Himmelfahrt Mariens wird die Hoffnung der Kirche ausgedrückt. In Maria sieht die Kirche ihren Anfang und ihr eschatologisches Bild – die Kirche so, wie sie hofft zu werden: in der Einheit mit Gott im Heiligen Geist durch Jesus Christus« (E. Adamiak: Wege der Mariologie, S. 414f.). 49 G. Miller: Maria – unsere Schwester im Glauben, S. 37. 50 R. Wind: Madonna, Muttergöttin, Menschenfrau?, S. 15.

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Jungfrau und Mutter nachweisbar ist, inwiefern das neuentdeckte Bild der Maria als Repräsentantin der Heilsgeschichte dazu beigetragen hat oder nicht, Fakt ist, dass inzwischen auch viele Frauen in der katholischen Kirche so an Selbstbewusstsein gewonnen haben, dass sie nicht mehr bereit sind, »Verletzungen, Missachtungen und Ungerechtigkeit weiterhin klaglos hinzunehmen. Wenn die Widersprüche zwischen ihrem Leben und den Erfahrungen in der Gemeinde oder Kirche zu groß werden, wenn sie das Gefühl haben, nicht oder nur sehr wenig bewirken oder verändern zu können, sind sie immer weniger bereit, ihre Lebenskraft zu vergeuden. Sie vermindern ihr Engagement in der Gemeinde und suchen nach Freiräumen inner- und außerhalb der kirchlichen Strukturen, um ihren Glauben leben und entfalten zu können.«51

Dieser Reaktion im Verhalten entspricht die klare Artikulation ihrer Enttäuschung über die katholische Kirche, wie bereits eine Repräsentativbefragung von katholischen Frauen in Deutschland aus den 1990er Jahren gezeigt hat. Danach haben schon vor knapp 20 Jahren 64% der katholischen Frauen zwischen 30 und 40 Jahren und 45% aller Katholikinnen quer durch die verschiedenen Altersgruppen festgestellt: Die katholische Kirche hat immer noch »ein bestimmtes, festgefügtes Frauenbild, das die einseitig familienorientierte, sich aufopfernde und sich dem Mann unterordnende Frau zum Leitbild erklärt.«52

Auch wenn ein starkes Gefälle zwischen den Äußerungen von kirchlich eingebundenen und kirchlich distanzierten Frauen herrscht, so meint trotzdem nur noch jede fünfte Katholikin in Deutschland, dass die katholische Kirche Verständnis für die Anliegen und Probleme moderner Frauen hat.53 Das sollte für die Kirche Alarmzeichen höchsten Grades sein; denn wer sich nicht verstanden fühlt, kehrt demjenigen, der ihn nicht versteht, früher 51 Diözesanes Pastoralforum im Erzbistum Berlin: 14 Vorlagen der Kommissionen für die Schlussversammlung. Vorlage »Frau in der Kirche«, Berlin 2000, S. 3 (1.4). 52 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Frauen und Kirche. Eine Repräsentativbefragung von Katholikinnen im Auftrage des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz durchgeführt vom Institut für Demoskopie Allensbach, 1. Februar 1993, in: Arbeitshilfen 108 (1993), S. 97. 53 Vgl. ebd., S. 101, S. 97-107, S. 113 und S. 183.

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Sabine Demel oder später den Rücken. Und unter den Frauen in Deutschland scheint diese Kehrtwende schon seit den 1970er Jahren in vollem Gange zu sein; denn nur noch 25% der katholischen Frauen in Deutschland fühlen sich mit ihrer Kirche sehr eng verbunden, d.h. sie geben auf die Frage nach der Intensität ihrer Bindung an die Kirche bei einer Skala zwischen 0 und 10 die Bereiche 8-10 an.54 Oder von der anderen Seite her betrachtet: »Unter jungen Katholikinnen sind diejenigen, die sich von der Kirche, aber nicht vom christlichen Glauben distanzieren, bereits wesentlich zahlreicher als die kirchengebundenen. Nur noch 15 Prozent der Unter-30-jährigen Katholikinnen bezeichnen sich als gläubiges Mitglied ihrer Kirche; 36 Prozent distanzieren sich von der Kirche, aber nicht vom christlichen Glauben; weitere 26 Prozent verweisen auf ›eigene Glaubensansichten, eine eigene Weltanschauung‹ ganz unabhängig von den kirchlichen Lehren.«55

Um sich dieser Verantwortung effektiv und zugleich glaubwürdig zu stellen, müsste die katholische Kirche, vertreten durch ihr kirchliches Lehramt, endlich den Mut aufbringen, in der Frauenfrage ein großes und lautes Schuldbekenntnis zu sprechen. Ein tief empfundenes, ehrliches und selbstkritisches »mea culpa« der Kirche über ihre Jahrhunderte lange Unterdrückung, Demütigung und Missachtung von Frauen hätte einen hohen Symbolgehalt. Für viele Frauen wäre ein solches Schuldbekenntnis ein wichtiges Signal dafür, dass die Frauenfrage nun wirklich zu einem zentralen Anliegen der katholischen Kirche wird. Das gilt umso mehr, wenn in einem solchen Schuldbekenntnis auch offen die vielen Haltungen und Werte thematisiert werden würden, die in der Kirche – oft unbewusst – vorherrschen und einen Wandel behindern,56 wie z.B. die nach wie vor vorhandene einseitige Glorifizierung der Jungfräulichkeit und Mutterschaft, von der es sich 54 Vgl. ebd., S. 19 und S. 21. 55 Ebd., S. 41. 56 Vgl. Gerard O’Hanlon: »›Jesuiten bitten Frauen um Verzeihung‹ – tun sie es wirklich?«, in: Entschluss 51 (1996), S. 39-41, hier: S. 40. In diesem Sinn heißt es im Schreiben »Geschlechtergerechtigkeit und weltkirchliches Handeln«: »Denn sie [sc. die katholische Kirche] hatte in der Vergangenheit großen Anteil an der Ausprägung traditioneller Rollenbilder, die sie im Rückblick oftmals einseitig und schädlich einschätzen muss. Solche Rollenbilder haben Handlungsmuster begründet und selbstverständlich erscheinen lassen, welche zu großen Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern führten und zum Teil bis heute wirksam sind« (Deutsche Kommission Justitia et Pax (Hg.): Geschlechtergerechtigkeit und weltkirchliches Handeln. Ein Impulspapier, Bonn 2004, S. 5).

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Jungfrau und Mutter mit großem Nachdruck und schnellstmöglich zu verabschieden gilt, wenn die katholische Kirche nicht will, dass sich sonst umgekehrt die Frauen von ihr verabschieden.

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Die deutsche Sonderrolle – Familienpolitik und Geschlechtermodelle im europäischen Vergleich BARBARA VINKEN

Lassen Sie mich mit einer Beobachtung beginnen: Im Pariser Großraum sind es die gut ausgebildeten Schichten, die zur Betreuung in einer Kinderkrippe ganztags ab dem dritten oder sechsten Monat eine durchweg positive Einstellung haben. Sie sehen darin zum einen ein Plus für die intellektuelle Entwicklung ihres Kindes und glauben außerdem, dass die Kinder dort mehr Spaß haben, weil sie unter Gleichaltrigen sind. In Deutschland ist eben in diesen, sagen wir etwas altmodisch ideologiebestimmenden Schichten, dem sogenannten Bildungsbürgertum, die Ablehnung der Kleinkinderbetreuung in einer Krippe am höchsten. Sie erscheint eher als Aufbewahrungsanstalt, denn als pädagogisch wertvoller Ort der Förderung. Die Frage des Maternalismus ist also ganz entscheidend. Wie erklärt sich dieser Unterschied? Beide Gruppen verhalten sich staatstragend oder ideologiekonform. In Frankreich stand die Familie oder genauer die Mutter als Erzieherin nie wirklich zur Diskussion. Eine der tiefsten Auseinandersetzungen, die die französische Gesellschaft geprägt haben, ging um die Kindererziehung. Dabei ging es grundsätzlich um die Konkurrenz zwischen zwei Institutionen: die der katholischen Kirche, bei der die Erziehungsfunktion bis zur französischen Revolution gelegen hatte, und die der laizistischen Republik. Die Familie war nie im Rennen. Die laizistische Republik ist in dieser Auseinandersetzung Sieger geblieben; bei ihr liegt jetzt das Erziehungsmonopol. Die Kirche hat ihr den Mittwochnachmittag, der in Frankreich ursprünglich deshalb frei war, weil die Kinder dann zum Katechismusunterricht gehen sollten, abgetrotzt. Und sie hat ihr auch die sogenannten privaten Schulen abgetrotzt, die so gut wie immer 71

Barbara Vinken katholische Schulen sind. Die größte Demonstration, die Paris seit den 68er Zeiten gesehen hat, war der Kampf für die écoles privées, denen man damals zu Leibe rücken wollte. Die Mütter galten den Franzosen nie als geeignete Erzieherinnen. Ihr Verhältnis zu den Kindern schien ihnen, um den Historiker Michelet zu zitieren, als zu leidenschaftlich; zum Erziehen hatten sie nicht genug Distanz. Der Einzige, der in Frankreich jemals vorgeschlagen hat, die Mütter sollten wenigstens ihre Kleinkinder stillen und erziehen, war ein Genfer Calvinist, Jean Jacques Rousseau. Ganztagsschulen, écoles maternelles, Kindergärten und crêches, Kinderkrippen, hatten deswegen in Frankreich nie die Berufstätigkeit der Frauen im Auge, sondern ausschließlich die Erziehung der Kinder. Das andere war eine später willkommene Folge. Umgekehrt wurde die Mutter in Deutschland (und der Schweiz) eben die Instanz, die das Kind vor der Verderbtheit der Welt schützen musste. »Das Elend der lebenden Geschlechter« rührt, Pestalozzi zufolge, sicherlich einer der einflussreichsten Ideologen zu dem Thema, das uns hier interessiert, nur daher, dass man die Mutter nicht gelehrt hat, den ersten Unterricht ihrer Kinder zu übernehmen. Wahre Mütterlichkeit sorgt für die »Reinerhaltung des Göttlichen.«1

im Menschen, ist Schutz vor der Verunreinigung durch die Welt. Damit nichts Weltliches diese Unschuld zersetzt und das Kind später der Welt gewappnet gegenübersteht, ist die Elementarerziehung durch die Mutter von entscheidender Bedeutung. Der »Mutterinstinkt« verhindert den Einbruch der Welt in das Kind. Denn die Mutter legt in der Herzensbildung des Kindes den Grundstein für das richtige Welt- und Gottesverständnis und sichert »die Unterordnung seiner intellektuellen Bildung unter seine sittliche«2. Alle spätere intellektuelle, veredelnde und von den Männern zu übernehmende Bildung hängt vom richtig gelegten Fundament, von der mütterlich vollbrachten Herzensbildung ab. Alles hängt also an richtiger Mütterlichkeit.

1

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Johann Heinrich Pestalozzi: „Weltweib und Mutter“ (1804), in: Werke, nach dem Text der Erstdrucke hg. und komm. von Gertrude Cepl-Kaufmann und Manfred Windfuhr, mit einem Nachw. von Manfred Windfuhr, Band II: Schriften zur Menschenbildung und Gesellschaftsentwicklung, München 1977, S. 127-140, hier: S. 128. Johann Heinrich Pestalozzi: „Denkschrift an die Pariser Freunde über Wesen und Zweck der Methode“ (1802), in: Werke, Band II, München 1977, S. 72-103, hier: S. 102.

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Die deutsche Sonderrolle Um diese Erziehung richtig leisten zu können, müssen die Mütter selbst gebildet werden, denn nicht jede Mutter ist eine Mutter; auch unter Müttern, so Pestalozzi, und das ist die Katastrophe, wimmelt es von dem, was er Weltweiber nennt, Frauen, die Kinder haben, ohne Mütter zu werden. Müttererziehung zur Kleinkinderziehung war Pestalozzis pädagogische Mission. Die Konstituierung der Funktion »Mutter« ging Hand in Hand mit derjenigen der »Elementarbildung«. Als Mütterlichkeit zur notwendigen Bedingung einer besseren Welt, zum Heilmittel gegen Weltverfallenheit wurde, musste die Mutter von Männern durch Bücher gebildet werden. Die Kleinkinderziehung wurde aus den Händen von Ammen, von Hauslehrern und Gouvernanten, aus der Hand der bezahlten Kräfte genommen und ganz in den Schoß der Mütter gelegt, die zur wichtigsten aller Aufgaben durch die Natur befähigt sind: »Mutter, Mutter! ... Es ist gewüß, die Mutter allein ist imstand, das Fundament der sittlichen Bildung meines Geschlechts beim Kind sinnlich richtig zu legen. Ich sage noch mehr: Die bloßen sinnlichen Handlungen ihres Instinkts sind, insofern sie reine Handlungen des Instinkts sind, wesentlich alle richtige Sinnlichkeits- und Naturmittel zur Sittlichkeitsbildung. Noch mehr; jede Handlung der Mutter, insofern sie bloß Handlung ihres gesunden Instinkts gegen das Kind ist, ist an sich selbst ein richtiges Fundament für die allgemeine Elementarerziehung meines Geschlechts.«3

Jede Pädagogik musste folglich mit »der Anerkennung der Spezialkraft, die hierfür in der weiblichen Natur liegt«4, anfangen und an dieser ansetzen. Kein Heil ohne die mütterliche Erziehung der Kleinkinder. Von solchen wirkungsmächtigen Diskursen erholt man sich, erholen sich Nationen nur langsam. Insofern ist die Bejahung der Krippe durch die gebildeten französischen Schichten so staatsund ideologiekonform wie es die Ablehnung der außerhäuslichen Kindererziehung im deutschen Bildungsbürgertum ist. Diese unterschiedliche Einschätzung der Mutter ist bis heute in beiden Ländern prägend geblieben. Mme X., so wollen wir sie einmal nennen, blond, zierlich, anmutig ruhig, hat acht Kinder und leitet eine große Behörde – das erzählt sie in einem Film von Bettina Claasen, »Mütter«. Ihr Mann war bis vor kurzem Minister. Sie hat außerdem zwei Gedichtbände veröffentlicht. Zu Abend isst sie alleine mit ihrem Mann – die 3 4

Ebd., S. 97f. Ebd., S. 101.

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Barbara Vinken kostbarste Zeit des Tages, wie sie sagt. Um die Kinder, die – wie sie nebenbei einfließen lässt – die besten Schulen von Paris besuchen, kümmern sich dann Au-pair-Mädchen. Das ist auch in Frankreich eine Ausnahme. Aber es ist eine Ausnahme, die das gesellschaftliche Leitbild überhöhend bestätigt. Es ist für eine Frau normal, im Beruf erfolgreich zu sein und zwei oder drei Kinder zu haben. Auch in Frankreich gibt es Grenzen: Als die ehemalige Justizministerin Rachide Dati sich keinen Mutterschutz gönnte und fünf Tage nach ihrem Kaiserschnitt wieder im Büro saß, hielten viele Leute das selbst in Frankreich für übertrieben. Auch in Deutschland gibt es solche, wenn auch nicht ganz so spektakuläre Ausnahmen. Aber sie stehen quer zum gesellschaftlichen Leitbild. Hierzulande glaubt eine Bankdirektorin – und demonstriert die selbstverhängte Opferbereitschaft –, beim ersten Kind ihren Job an den Nagel hängen zu müssen. Kinder und ein erfülltes Berufsleben hält man für unvereinbar. Eine Mutter kann morgens in einer Galerie arbeiten oder ein paar Stunden im Goetheinstitut unterrichten. Alles andere bringt sie in den Geruch, ihre Kinder zu vernachlässigen, ihrer wirklichen Berufung nicht nachzukommen – das ist deutsches Credo. Frau Schröder-Köpf hat das im letzten Wahlkampf auf den Punkt gebracht: Frau Merkel könne die Frauen in Deutschland nicht vertreten, weil sie das »Hin- und Hergerissensein, den Konflikt zwischen Muttersein und Beruf nicht kenne.« Die Kanzlergattin hat der Kanzlerkandidatin nicht vorgeworfen, keine Kinder zu haben. Es ist nicht das Muttersein, sondern der Konflikt zwischen Kind und Karriere, der ontologisch die deutsche Frau auszumachen scheint. Das Stillgestelltsein im Zerrissensein, die auf Dauer gestellte Krise, das permanente schlechte Gewissen: Das ist es, was eine Frau zur Repräsentantin ihres Geschlechtes befähigt. Konfliktfrei und mit gutem Gewissen ist beides, Kinder und Karriere, nicht zu haben. In diesen deutschen Konsens stimmt auch Frau Merkel ein, wenn sie meint, sie wäre nicht da, wo sie ist, hätte sie Kinder gehabt. Man kann sich fragen, was sie alle zu Segolène Royale, sozialistische Präsidentschaftskandidatin und Mutter von vier Kindern sagen. Kann es eigentlich gar nicht geben, muss so eine künstlich, nahezu monströse Ausnahme sein, als die die Familienministerin Ursula von der Leyen durch Presse und Talkshows gezerrt wurde. Dank und nicht trotz dieses Credos sind die demographischen Daten nicht gerade erheiternd. Mit 1,4 Kindern pro Frau steht die Bundesrepublik auf einem der weltweit letzten Plätze. Die neue Pisastudie lässt uns trotz eines Fortschrittes abgehängt im Mittel-

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Die deutsche Sonderrolle feld zurück. Die ohnehin beeindruckende Einkommensschere zwischen Männern und Frauen öffnet sich weiter. Deutschland findet sich im Auseinanderklaffen weiblicher und männlicher Löhne im europäischen Vergleich als Schlusslicht – irgendwo kurz vor Zypern. Kurz gesagt verbindet sich eine niedrige Geburtenrate mit einem im europäischen Vergleich unterdurchschnittlichen Anteil Vollzeit berufstätiger Frauen – denn das ist Grund für den großen Verdienstunterschied. Diese Fakten sind jetzt ins Bewusstsein gelangt, verbreiten Unbehagen, machen Kopfschmerzen. Eine Zahl macht die Runde: Rund 44% der Frauen mit Uniabschluss waren bis zu ihrem 39. Lebensjahr noch kinderlos. In Frankreich dagegen führen Bildung und Karriere der Frauen nicht zu Kinderlosigkeit: Vier von fünf Frauen mit universitärer Laufbahn werden dort auch Mutter, während in Deutschland vier von fünf Professorinnen kinderlos bleiben.5 Da in Deutschland aber auch die Bildungs- und Karrierechancen der Kinder stärker als in anderen europäischen Ländern herkunfts- und schichtenabhängig sind, ist von negativer Selektion gesprochen worden. Angesichts dieser Situation ist es in der deutschen Familienpolitik zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg zu einer Wende gekommen. Bisher hat man nie auf die tatsächliche Vereinbarkeit von Kindern und Karriere gesetzt. »Vereinbarkeit« hieß im Klartext die Integration der Mutter in den Arbeitsmarkt unter Ausnahmebedingungen: dreijährige Erziehungspause bei Garantie des Erhaltes der Stelle, Halbtagsstellen, und, neues Mantra, »Flexibilisierung«. »Vereinbarkeit« bedeutet in der Realität der Arbeitswelt, dass weibliche Berufswege vom Dreiphasenmodell geprägt sind: Ausbildung und erste Berufserfahrung, dann der weitgehende oder völlige Ausstieg aus dem Beruf und Konzentration auf die Familienphase, anschließend Rückkehr in den Beruf. Diese Rückkehr, wenn sie überhaupt stattfindet, erfolgt zu desaströsen Bedingungen. Die Karriereschritte, die die Männer in der Zeit gemacht haben, sind unterblieben: Er hatte einen Abschluss in den Wirtschaftswissenschaften und ist etwa in dieser Zeit ins gehobene Management aufgerückt, sie hat in Kommunikationswissenschaften promoviert und steigt als freie Mitarbeiterin einer Provinzzeitung ein. In dieser Art von außerdem auch noch teurem

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Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin (Hg.): Siebter Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, Berlin 2005, S. 119.

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Barbara Vinken Mutterschutz, die zu einer Ghettoisierung von Müttern und Kindern führt und die Frauen dauerhaft erfolgreich aus den Karrieren kickt, ist Deutschland international führend. Mütter als gleichberechtigte Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt gibt es in dieser Vorstellung nicht. Zum ersten Mal werden die Konsequenzen aus dem grundsätzlichen Fehlgehen der letzten 50 Jahre Familienpolitik gezogen. Die Leistungen seiner Vorgänger bewertet das Familienministerium so: Im internationalen Vergleich hat »die Vielzahl und der Umfang familienpolitischer Leistungen in Deutschland bislang zu wenig befriedigenden Ergebnissen geführt. Gemessen an Indikatoren der Nachhaltigkeit wie Geburtenrate, Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie, Armutsrisiko oder Bildungsniveau haben andere Staaten mit nicht mehr finanziellem Aufwand häufig bessere Ergebnisse erreicht.«6

Die deutsche Familienpolitik hat aus den nicht gerade erheiternden demographischen Daten Konsequenzen gezogen. Sie hat sich – durchaus in Übereinstimmung mit dem siebten Familienbericht, der rät, vom Ausland zu lernen – auf den mühsamen Weg nach Westeuropa begeben. Sie sieht die Restauration der Geschlechterrollen und die aus dem 19. Jahrhundert stammende sexuelle Arbeitsteilung nicht als Voraussetzung für mehr Kinder. Im Gegenteil: Sie versucht, den Frauen in Deutschland die Möglichkeit zu geben, die unsere europäischen Nachbarinnen für ganz selbstverständlich halten: beides nämlich zu haben, Kinder und ein erfülltes Berufsleben. Sie versucht mit 40-jähriger Verspätung praktisch umzusetzen, was bisher immer nur versprochen wurde: die tatsächliche Vereinbarkeit nämlich von Kindern und einem anspruchsvollen Berufsleben.7 Man hat eingesehen, dass es nicht damit getan ist, neue Väter für das Land zu fordern und die Kindererziehung von den Händen der Mütter in die Hände des Paares zu legen. Neue Väter braucht das Land sicher auch; mehr noch als die braucht es aber Kinderkrippen, Kindergärten und Ganztagsschulen. Und die Anerkennung der Mutter als Berufstätiger, die nicht mit der Geburt des ersten Kindes in die finanzielle Abhängigkeit des Ehemannes oder des Staates gedrängt wird. 6

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Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin (Hg.): Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. Siebter Familienbericht. Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Sachverständigenkommission, Berlin 2006, S. 23. Wie das praktisch geht, zeigt sehr schön Birgit Ehrenberg: Die MamiFalle. Das etwas andere Handbuch für glückliche Mütter, München 2006.

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Die deutsche Sonderrolle Erster Schritt in dieser Wende – interessanterweise wiederum parteiübergreifend, genau wie die Ablehnung außerhäuslicher Kinderbetreuung davor auch parteiübergreifend gewesen war – war das am 1. Januar 2005 in Kraft tretende Gesetz zum Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren, das für jedes dritte Kind einen Krippenplatz schaffen soll. Ab 2013 wird es dann sogar den Rechtsanspruch für einen Krippenplatz für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr geben – ob ganztags oder halbtags – und davon hängt natürlich viel ab –, weiß ich nicht. Nur ein paar Zahlen zum Vergleich: In Dänemark werden 78% der Ein- bis Zweijährigen in Krippen betreut, in Frankreich sind es 30% (das liegt am hohen Prozentsatz der assistance maternelle und der Au-pair-Mädchen, die oft bis zum dritten Lebensjahr die Kinder betreuen), in Westdeutschland 5% der Einjährigen und 17% der Zweijährigen (auch hier konnte ich keine Zahlen finden, ob ganz- oder halbtags) (Ostdeutschland 40% der Einjährigen, 70% der Zweijährigen). Von den Drei- bis Fünfjährigen besuchen in Dänemark 94%, in Frankreich 99% und in Deutschland 87% Vorschule oder Kindergarten. Aber während es sich in Dänemark und Frankreich durchgehend um Ganztagseinrichtungen handelt, ist der Löwenanteil der deutschen Kindergartenplätze ein Halbtagsplatz. Der gesetzliche Anspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem dritten Lebensjahr bezieht sich auf ganze vier Stunden pro Tag. Da kann die Mutter vielleicht zum Friseur oder Kaffee trinken, aber noch nicht einmal einem Halbtagsjob nachgehen. Danach besuchen alle Kinder in Europa selbstverständlich Ganztagsschulen – bloß in Deutschland nicht. Go West ist die neue Richtung der Familienpolitik. Und wenn wir dabei nicht Siebenmeilenstiefel anziehen, wird es noch ewig dauern, bis sich irgendetwas bewegt. In der Zwischenzeit werden noch viel mehr Frauen, die eigentlich gerne Kinder gehabt hätten, kinderlos bleiben. »Ziel ist es, auf das westeuropäische Niveau quantitativ und qualitativ aufzuschließen. Nur wenn Elternschaft und Erwerbstätigkeit sich besser vereinbaren lassen, wird es möglich, mehr Frauen, insbesondere Mütter, in den Arbeitsmarkt zu integrieren und die vorhandenen Bildungs- und Erfahrungsressourcen angemessen zu nutzen.«8

Zu diesem ersten Schritt gehört auch die Entscheidung, Ganztagsschulen verstärkt auszubauen. Wie bei dem Ausbau der Kin-

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Stellungnahme der Bundesregierung zum Siebten Familienbericht, S. 11.

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Barbara Vinken dertagesstätten sollen hier zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Zum einen soll die »stille Reserve« der Frauen mit Kindern volkswirtschaftlich effektiver für den Arbeitsmarkt gewonnen werden. Zum anderen sollen die Kinder, die nicht aus bürgerlichen Haushalten kommen, verstärkt gefördert werden. Eines der beeindruckendsten Ergebnisse der Pisastudie war ja vor allem dies: dass es in keinem andern europäischen Land einen so direkten Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischem Erfolg gibt. Für ein Land, in dem, seit ich denken kann, verbissen um Chancengleichheit gekämpft wird, muss das eine schallende Ohrfeige gewesen sein. Mehr als in anderen europäischen Ländern reproduziert das deutsche Schulsystem die gesellschaftlichen Klassen. Der zweite Schritt in dieser Wende war die Einführung des Elterngeldes. Das Elterngeld ist viel kritisiert und in seinem Kern kaum je richtig erkannt worden. Denn es geht nicht nur um den praktischen Vorteil, bei jungen Familien die berühmte finanzielle Achterbahn abzumildern, die durch den Ausfall des Gehaltes der Mutter entsteht. Durch das Elterngeld werden Mütter zum ersten Mal nicht als Ehefrau oder als Sozialfall wahrgenommen, sondern als berufstätige Bürgerin. Sie bleiben auch als Mutter vor allen Dingen Anwältin oder Unternehmensberaterin. Sie bekommen ihr Gehalt oder jedenfalls einen Teil davon – und ob das mit den 1800 Euro als Höchstgrenze auch des Arbeitslosengeldes hätte sein müssen, sei dahingestellt – weiter. Die Mütter werden damit nicht für das Kinderkriegen oder die Erziehung – und das heißt alle gleich –, sondern in ihrem normalen Job jedenfalls wenigstens bis zu 65% und einem zugegebenermaßen geringen Höchstsatz weiterbezahlt, bis sie ihren Beruf hoffentlich nach einem Jahr wieder aufnehmen. Sie geraten weder in die Abhängigkeit des Staates noch in die ihres Ehemannes, sondern bleiben immerhin wirtschaftlich autonom. Wie schwierig vermittelbar dieser neue Zustand ist, sah man schon daran, dass das Ganze als »Geschenk« des Staates missverstanden wurde, das man bekommt, ohne zu arbeiten – und das deswegen allen Frauen für zwölf Monate zustehe. Zum ersten Mal in der deutschen Politik war das Ziel dieser Maßnahme nicht, die Mütter vor allen Dingen zu Müttern zu machen und ihnen darin alle Freiheit der Welt zu geben, um sie de facto aus dem Arbeitsmarkt herauszudrängen oder nach drei Jahren Kinderpause auf schlecht bezahlte Teilzeit zu setzen. Zum ersten Mal ist Familienpolitik keine versteckte Arbeitsmarktpolitik. Ich sehe diese Maßnahme deshalb auch nicht als Tropfen auf

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Die deutsche Sonderrolle den heißen Stein, sondern als Anfang eines Umdenkens, das hier symbolisch bereits geleistet ist. Rein wirtschaftlich kann man sagen, wäre es natürlich wichtiger, alle Aufwendungen für die Kinderbetreuung wie Kindermädchen und Haushaltshilfen im vollen Umfang absetzen zu können. Solche Kosten belaufen sich, wie jeder weiß, nicht auf 6000, sondern bei anspruchsvolleren Karrieren in den ersten Jahren mit Lohnnebenkosten auf ungefähr 25000 Euro pro Jahr.9 Wirtschaftlich wäre es auch entscheidender, Kinderkrippen und Kindergärten wie die Schule kostenlos zur Verfügung zu stellen. Und wenn diese Betreuungseinrichtungen nicht ausgebaut werden, ist auch das Elterngeld Augenwischerei. Wie Renate Schmidt, die letzte Familienministerin, sagte: »Ohne das [sc. den Ausbau von Kinderbetreuung] ist alles andere nichts.« Bisher hat man parteiübergreifend – und in schroffem Gegensatz zu unseren europäischen Nachbarn – nicht auf außerhäusliche Kinderbetreuung, auf Kinderkrippen, Kindergärten und Ganztagsschulen, sondern auf die Stärkung der Ehe als Versorgungsinstanz gesetzt. Wenn nicht die Einverdienerehe, so war doch die Ehe, in der die Ehefrau »dazuverdient«, das Leitbild. Das Ehegattensplitting – wohlgemerkt kein Familiensplitting wie in Frankreich – und die Versicherungsregeln subventionieren mit hohen Kosten den Austritt auch der kinderlosen Ehefrau aus dem Berufsleben. Schutz von Ehe und Familie hieß in Deutschland, Geschlechtersegregation zu betreiben: den Ehemann in die Lage zu versetzen, die Ehe – ob mit oder ohne Kind – zur Versorgungsanstalt zu machen, in der er sie unterhält. Auch deswegen ist das Elterngeld, das die Frauen auch als Mutter auf die eigenen wirtschaftlichen Füße stellt, ganz zentral. Die eigentliche Frage ist nun, ob eine solche Politik Chancen hat, angenommen zu werden. Und hier stellt sich heraus, dass der öffentliche Diskurs schizophren gespalten ist. Der GenderDatenreport des Familienministeriums Ende 2005 wartete mit folgenden Daten auf: 70% der westdeutschen Männer und 56% der westdeutschen Frauen stimmten der These zu: »Ein Kleinkind wird sicherlich darunter leiden, wenn die Mutter berufstätig ist.« In Ostdeutschland bekannte sich die Hälfte davon, nämlich 35% der Männer und 23% der Frauen, zur Ideologie der Vollzeitmutter. Die Befragten waren nicht etwa im Rentenalter, sondern zwischen 16 und 29 Jahre alt. So viel zur Änderung der Rollenbilder unter

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Vgl. Johanna Hey: »Sind Familie und Wissenschaft als Beruf vereinbar?«, in: Forschung und Lehre 7 (2005), S. 352-355, hier: S. 355.

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Barbara Vinken jungen Erwachsenen. Diese Einschätzungen werden von der vom Baden-Württembergischen Staatsministerium beim Institut für Demoskopie Allensbach in Auftrag gegebenen Studie zu den »Einflussfaktoren auf die Geburtenrate – Ergebnisse einer Repäsentativbefragung der 18-44-jährigen Bevölkerung« von 2004 bestätigt. Die Allensbach-Studie kann man pointiert folgendermaßen zusammenfassen: Beruftätigkeit und Kinder werden in Deutschland nicht als vereinbar, sondern als alternativ aufgefasst. Und das ist keine faktische, sondern eine normative Aussage. »Mehr als in anderen Ländern dominiert in Deutschland die Überzeugung, dass sich Berufstätigkeit und Mutterschaft nur schwer vereinbaren lassen.«10 »Lediglich 8 Prozent der 18-44-jährigen plädieren dafür, dass eine junge Mutter im vollen Umfang berufstätig bleibt; 49% favorisieren den Übergang in eine Teilzeitbeschäftigung, 29% den völligen Ausstieg aus dem Beruf. Damit ist zwar nicht der völlige Ausstieg, aber doch eine erhebliche Reduktion der beruflichen Tätigkeit das Ideal – aus der Sicht von Frauen noch mehr als aus der Sicht von Männern.«11

Vollkommen einig ist sich die überwältigende Mehrheit der Frauen, unabhängig davon, ob sie Kinder bekommt oder nicht, darin, dass beides, Kinder und Karriere, nicht geht. How German is it? Die deutscheste aller deutschen Überzeugungen ist zweifelsfrei die, dass die Erziehung der Kinder ins Haus, in die Hände der Mütter gehört. Und diese Überzeugung wird vor allem vom Bildungsbürgertum – den Frauen mit Hochschulabschluss – getragen. Bedingung für das Wahrwerden des Kinderwunsches sind deshalb nicht gesicherte Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder (lediglich 25% der 18-44-jährigen machen diese zur Bedingung). Bedingung ist, dass nur einer arbeiten muss, um ein für die Familie ausreichendes Einkommen zu verdienen (60%).12 Obwohl Deutschland in Sachen Kinderbetreuung – und davon hängt die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf für die Mütter ja konkret ab – im europäischen Vergleich ein Drittweltland ist, gibt es wegen dieser überwältigenden Erwartung, einen Ernährer zum Vater seiner Kinder zu machen, kaum Druck auf die Politik. Weil Frauen als Mütter mit ihrem Ausscheiden aus dem Beruf oder in der 10 Institut für Demoskopie Allensbach: Einflussfaktoren auf die Geburtenrate – Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der 18-44-jährigen Bevölkerung, Allensbach 2004, S. 20. 11 Ebd., S. 52. 12 Vgl. ebd.

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Die deutsche Sonderrolle Teilzeitarbeit ihre finanzielle Unabhängigkeit aufgeben, wird die Ehe als Versorgungsanstalt wirtschaftlich unumgehbar. Deswegen sind die weniger gut verdienenden Familien an der Erhöhung des Kindergeldes und die besser verdienenden am Ehegattensplitting vitaler interessiert als an Ganztagskrippen und -schulen. »Nirgendwo in Europa wird noch heute das Modell ›alleinverdienender Familienvater und nichterwerbstätige Ehefrau‹ so stark steuerlich begünstigt wie in Deutschland«13, so das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Die für nötig erachtete selbstgewählte Abhängigkeit vom Ehemann führt zum unerbittlichen Einrasten der traditionellen clichés: Der Ehemann verdient und die Ehefrau sorgt unentgeltlich liebend für die Familie. Mit diesem steuerlich subventionierten Geschlechtermodell fällt Deutschland krass reaktionär hinter seine europäischen Nachbarn zurück, die wesentlich emanzipiertere und erotisch interessantere gesellschaftliche Modelle entwickelt haben. Deswegen ist ein solches Rollenmodell in gewisser Weise unsagbar geworden und alles andere als hip. Es steht im schroffsten Gegensatz zu unserem Selbstbild. Wir verstehen uns als gleichberechtigte Gesellschaft, die eine gleichberechtigte Verteilung der Belastungen durch die Familie anstrebt und beiden Geschlechtern gleiche Verwirklichungen im Beruf einräumt. Kinder bedeuten deswegen in Deutschland vor allem: Rückfall in ein Rollenmodell, das man für überwunden hält, Rückfall in eine Paarstruktur, die als überholt gilt, Rückfall in wirtschaftliche Abhängigkeit, die mit unseren Normen eines gelungenen Lebens nicht zu verbinden ist. Und das sich freiwillige Begeben in die Abhängigkeit der Institution Ehe, deren Zerbrechlichkeit jeden Tag vor Augen steht. Allerdings hat auch hier der Gesetzgeber in international einmaliger Weise dafür gesorgt, dass diese Institution für einen durchschnittlich verdienenden Mann mit zwei Kindern wirtschaftlich so gut wie unauflöslich geblieben ist. Kinder gelten folglich als mit dem normalen, erwachsenen Leben, das sich durch finanzielle Autonomie auszeichnet, nicht vereinbar. Man kann sie erst bekommen, wenn man das Leben gelebt, seine Freiheit und Unabhängigkeit genossen und im Beruf seinen Mann gestanden hat. Denn schließlich glaubt man hierzulande, die intellektuelle Stimulanz, die finanzielle Autonomie und das damit einhergehende Selbstwertgefühl aufgeben zu müssen,

13 Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hg.): Die demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen?, München 2006.

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Barbara Vinken um Mutter zu werden. Zum einen macht das das Fenster, das gegen alle biologischen Entwicklungen als ideal für die Geburt eines Kinder gesehen wird, so extrem eng. Zum anderen haben viele Frauen mit Uniabschluss so viel von der Welt und der Liebe gesehen, aber auch so viel Spaß am Beruf gefunden, dass sie ihre Unabhängigkeit nicht so leicht aufgeben. Wehmut, Schmerz und Trauer begleiten diesen Verzicht auf Kinder fast immer, der selten als Triumph des Egoismus erlebt wird. Frauen, die sich für Kinder entscheiden, nehmen den Verlust von sozialen Kontakten, von beruflichen Chancen und finanzielle Nachteile hin. Vor allem aber büßen sie nach eigenen Aussagen gesellschaftliches Prestige ein. »Nur 17% der Frauen glauben, dass die Gesellschaft keine Unterschiede zwischen Hausfrauen und berufstätigen Frauen macht. 44% der Frauen gehen davon aus, dass Berufstätigkeit für eine Frau unabdingbar ist, um gesellschaftliches Prestige zu erringen.« 14

Mütter begeben sich hierzulande mit bestem Wissen und Gewissen in der überwältigenden Mehrheit in eine Situation, die sie selber für unaussprechlich halten. Frauen – und Männer –, die sich gegen Kinder entscheiden, entscheiden sich damit vor allen Dingen gegen die Regression in eine solche Paarstruktur. Unsere Gesellschaft ist und wird in verstärktem Maße in zwei Teile auseinanderfallen. Auf der einen Seite haben wir die Leute mit Kindern, die in Paarstrukturen leben, die die Mütter selbst als wenig prestigeträchtig empfinden und vor denen nicht wenige Männer zurückschrecken. Auf der anderen Seite haben wir Leute ohne Kinder, die neue Paarkonstellationen leben, sich aber vor allem über ihren Beruf identifizieren. Das ist ein bedeutender, aber immer noch der kleinere Teil der Bevölkerung. Es ist zweifelsfrei der besser ausgebildete. Beide Teile – die Leute mit wie die Leute ohne Kinder – vereint bei gegensätzlicher Entscheidung eine in Europa einmalige dogmatische Verhärtung, die das, was überall um uns herum passiert, zum Tabu erklärt: die jenseits der Grenzen und manchmal sogar nebenan in alltäglicher Selbstverständlichkeit vorgelebte Vereinbarkeit von Kindern und Berufsleben. Und für dieses selten ausgesprochene, aber umso wirksamere Dogma, das keiner empirischen Prüfung standhält, bezahlen wir gesellschaftlich, vor allem aber in unserem eigenen Leben einen

14 Institut für Demoskopie Allensbach: Einflussfaktoren auf die Geburtenrate.

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Die deutsche Sonderrolle viel zu hohen und – das ist die eigentliche Tragik – ganz und gar überflüssigen Preis; überflüssige Märtyrerinnen auf der einen Seite, die alles um der Kinder willen aufgeben, überflüssiger Verzicht auf Kinder auf der anderen Seite, der die meisten Frauen traurig macht. Man kann sich fragen, warum man an diesem deutschen Dogma in so unverbrüchlicher Nibelungentreue hängt. Zuerst eine Überlegung zu den Interessen, die sich hinter dem sturen Festhalten an einem von den Betroffenen selbst als ausgesprochen unvorteilhaft eingeschätzten Modell verbergen. Was die Männer angeht, kann man da vielleicht noch ein Motiv finden. Schließlich macht sich eine Frau von ihnen abhängig, gibt ihren beruflichen Anstrengungen einen Sinn und macht sie zum schützenden Alleinernährer der Familie – hat Kosten, hohe sogar, aber immerhin. Auf der Seite der Frauen liegen die Motive weniger offensichtlich auf der Hand. Das Opfer, das sie sehenden Auges auf sich nehmen und dessen Notwendigkeit sie zu betonen nicht müde werden, kann eigentlich nur eine Erpressung sein, die regressiv die Männer dazu bringen soll, für sie zu sorgen. Sie scheuen – natürlich mit voller Unterstützung der so aufgewerteten Väter – vor den Realitäten der Berufswelt zurück, möchten es nicht darauf ankommen lassen und ziehen sich auf die Rolle der unterhaltenen Frau zurück, die sie selbst für unaussprechlich halten. Eine andere Politik hat nur Chancen, angenommen zu werden, wenn es zu einem tiefgreifenden Mentalitätswandel kommt. Und auf diesen kann man nur hoffen, da wir in einer totalen »no win« Situation angekommen sind. Das Problem ist nicht, dass wir zu emanzipiert sind, sondern dass wir zu wenig emanzipiert sind. »Um Menschen in modernen Industriestaaten zu höheren Kinderzahlen zu motivieren«, resümiert das Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung, »scheint weniger die Höhe von Geburtenprämien, Kindergeld und sonstigen Transferleistungen entscheidend zu sein. Ausschlaggebend ist eher die Gleichstellung von Männern und Frauen in der Gesellschaft.«15 Mütter aber können in Deutschland auch nach ihrer eigenen Überzeugung – Stichwort Konflikt von Kindern und Beruf – nicht gleichgestellt sein. Auf be-

15 Interessant ist hier eine schwedische Studie: Die Entscheidung für ein zweites und drittes Kind wird eher in Familien getroffen, in denen beide Eltern berufstätig sind oder in denen die Mutter ein höheres Einkommen erzielt als der Vater, als in den Familien mit der klassischen Arbeitsteilung zwischen Hauptverdiener und Familienmutter. Zitiert im Siebten Familienbericht, S. 111.

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Barbara Vinken rufliche Gleichstellung glauben sie um der Kinder willen verzichten zu müssen. Denn, Credo, vom Staat können die Kinder nicht so gut erzogen werden wie von der Familie, sprich der Mutter. In Krippen, Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen sehen wir Aufbewahrungsanstalten für die armen Kinder, deren Mutter sich nicht um sie kümmert. Wenn sich diese Haltung zu den Institutionen nicht ändert und wenn, anders herum, diese Institutionen nicht mehr Selbstbewusstsein entwickeln und die Kinder in die Hand nehmen, werden in Deutschland nicht mehr Kinder geboren werden. Erst wenn wir Kinder und Karriere für vielleicht nicht spielend, aber doch vereinbar halten, kann sich etwas ändern. Nicht zurück in die Steinzeit, zu den Genen, die vulgärdarwinistisch interpretiert ewig die Geschlechtscharaktere festlegen, sondern hin nach Nord- und Westeuropa, hin zu mehr Gleichheit der Geschlechter muss deswegen das Ziel unserer Träume sein. Erst wenn es für uns wie für unsere Nachbarinnen selbstverständlich geworden ist, Mutter, Anwältin und Frau zu sein, ohne ständig vom schlechten Gewissen oder vom Phantasma Mannweib heimgesucht zu werden, gibt es wieder mehr Chancen auf das Glück, das Kinder sind. Die »Ethnologie des Eigenen«, kurz die Selbstbeobachtung der Phantasmen und Mythen des eigenen Alltags zu untersuchen, ist eine der interessantesten Aufgaben der Kulturwissenschaft. Wie ist im Fall der »deutschen Mutter« die nachgerade schizophrene Spaltung des öffentlichen Diskurses zu erklären, der ausdrücklich beiden Geschlechtern die gleichen Möglichkeiten in Karriere und Beruf garantieren will, andererseits aber Karriere und Kinder für Mütter praktisch und symbolisch für inkompatibel erklärt? Diese ebenso gewöhnliche wie auch absurde Spaltung des öffentlichen Bewusstseins ist der tiefere Grund dafür, dass wir in Sachen Kinderbetreuung so hinterherhinken. Es ist der tiefere Grund dafür, dass wir der Kinderkrippe gegenüber ein so eingefleischtes Misstrauen haben. Und es ist der tiefere Grund dafür, dass es bei uns so wenige Kinder gibt. »Um Menschen in modernen Industriestaaten zu höheren Kinderzahlen zu motivieren«, resümiert das Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung, »scheint weniger die Höhe von Geburtenprämien, Kindergeld und sonstigen Transferleistungen entscheidend zu sein. Ausschlaggebend ist eher die Gleichstellung von Männern und Frauen in der Gesellschaft.« Mütter aber können in Deutschland auch nach ihrer eigenen Überzeugung – Stichwort Konflikt von Kindern und Beruf – nicht gleichgestellt sein. Denn, Credo, vom Staat können die Kinder nicht so gut erzogen werden wie von der Familie,

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Die deutsche Sonderrolle sprich der Mutter. In Krippen, Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen sehen wir nicht Förderungsmöglichkeiten, sondern nur Aufbewahrungsanstalten für die armen Kinder, deren Mutter sich nicht um sie kümmert. In unseren Bedenken solchen Einrichtungen gegenüber artikuliert sich, so fürchte ich, eine grundsätzliche Ablehnung. Wir meinen, »glauben« im Sinne eines Dogmas, dass die Erziehung der Kinder 24 Stunden am Tag ins Haus gehört und Aufgabe der Eltern, sprich der Mutter ist. Diese, wie ich meine, tragische und grausame Ausschließlichkeit von Kindern und Karriere, die dazu führt, dass man nicht ganz Frau oder nur Frau sein kann, hat nichts mit objektiven Gegebenheiten zu tun. Französische Zeitgenossinnen finden es ganz normal, zwei Kinder zu haben und ganztägig etwa als Ärztin zu arbeiten. Weder stellt ihr Beruf ihre Liebe zu den Kindern in Frage, noch fühlen sie sich durch die Kinder in ihrem Beruf gehandicapt. Warum diese deutsche Besonderheit? In meinen Recherchen bin ich zu zwei Ergebnissen gekommen: 1. Unser gesellschaftlicher Raum wird von einer Topik beherrscht, in der die Familie nicht Teil der Welt ist, sondern gegen die Welt steht. Die Familie ist in dieser Perspektive etwas bedrohtes, etwas, das unterzugehen droht, etwas, das es gegen die Welt als Garantie eines humaneren Miteinanders zu schützen gilt. Der Staat taucht hier als potentieller Feind auf, vor dessen totalitärem Zugriff Schutzräume errichtet werden müssen. Gegen ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das »fast ausschließlich auf eine Maximierung von Profit und Spaß angelegt ist« – verderbte Welt also –, »gegen ein Erwerbs- und Wirtschaftssystem, das unsere Kultur zersetzt und die Menschen auffrisst und in Amerika zu fast hundertprozentigen Ehescheidungen führt, gilt es einen Raum zu schützen, der Glück und Freundschaft, ja der das Humanum schlechthin ermöglicht.« Dieser Raum steht im Zeichen der Mütterlichkeit: »Die Mutter macht in ihrer Familie Karriere, die nicht Macht, sondern Freundschaft verheißt, nicht Geld, sondern Glück bringt. Ihr Beruf als Familienmanager fordert – jenseits des zweiten, des eher handwerklichen Auftrags – stetige Präsenz, einen Raum der Bedingungslosigkeit und des Humanum, eine Intimität als Grundmuster der Familie, ohne die eine Frau zwischenmenschliche Beziehungen nicht gestalten, Menschlichkeit nicht schenken kann. Die Mutter widmet ihren Kindern vor allem Zeit, gibt ihnen auf dieser Grundlage Zärtlichkeit, Zuwendung und ein Zuhause.«

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Barbara Vinken Diese Topik, die Familie gegen Welt stellt, hat ihren Ursprung in Luthers Neubewertung der Familie. Luther hat Familiendienst zum Gottesdienst erklärt. Nicht mehr das Kloster oder die Kirche, sondern die Familie als Ort der Kindererziehung stand damit als Ort des möglichen Heils gegen die Verderbtheit der Welt. In katholisch geprägten Ländern hingegen steht die Familie jedenfalls bis weit ins 19. Jahrhundert hinein selbstverständlich auf der Seite der Welt – auf der anderen steht ja bekanntlich Kirche oder Kloster. Die Familie ist in dieser Tradition anders als in der protestantischen nicht Ort des Heils oder, wie es Kirchhoff moderner sagt, Garantie des Humanums. Sie ist Welt. Das ändert sich für Frankreich erst mit Rousseau und, prägender, mit Balzac und der jesuitischen Rhetorik, die die Familie zum Raum des Opfers und des Heils erklärten. 2. Aus dieser Topik ergibt sich, dass es in deutscher Politik einen wichtigen Strang gibt, der Mutterpolitik ist. Politik in Deutschland hat die Mütter nicht links liegengelassen. Die Mutter ist ein Herzstück deutscher Politik. Das Konstrukt der Mutter war in Deutschland treibende Kraft der Reformpolitik und gleichzeitig nationaler Identitätsfindung etwa gegen den französischen Erbfeind. Seit 1800 hat sie eine eminent politische, ja außenpolitische Funktion. In Deutschland wie in Frankreich war die Mutter die Schlüsselfigur für die Trennung der Geschlechter und den Ausschluss der Frauen aus der öffentlichen Sphäre. Aber in Deutschland bekam sie eine Aufgabe. An ihrem Wesen sollte die Welt genesen. In der Nachkriegspolitik der Bundesrepublik steht die von mütterlichen Werten bestimmte Familie noch immer gegen die Welt. Die regressive Nachkriegspolitik, die erst einmal das lädierte Patriarchat restaurierte, hat Mütterlichkeit in den familialen abgeschlossenen Raum als Gegenwelt verwiesen. Dass die deutschen Frauen anders als ihre europäischen Nachbarinnen nicht alles haben können, Kinder und Karriere, mag auch mit diesem Bedürfnis nach ganzer Männlichkeit zu tun haben, das sich in der öffentlichen Arena unter Beweise stellen will. Der kalte Krieg wurde in die Familien hineingetragen: Im Westen wurden die Kinder liebend von der Mutter erzogen, um ihre Individualität kindgerecht geschützt ausbilden zu können und glücksfähig zu werden; im Osten entriss das Kollektiv sie den Müttern, um deren Arbeit ausbeuten zu können, scherte alle noch beim aufs Töpfchen Gehen über einen Kamm und machte sie durch die kommunistische Ideologie ganz einfach zu beeinflussenden Nummern.

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Die deutsche Sonderrolle In Frankreich hingegen haben Frauen anders als in Skandinavien nicht als Mütter, sondern als Bürger den Zugang zum Arbeitsmarkt gewonnen – als Bürger, die von der Gemeinschaft begehrte Kinder bekommen können, für die diese Gesellschaft dann auch etwas tut. In einem sind sich republikanische Laizisten und Katholiken einig: dass nämlich eine Institution als geistige Mutter gewissermaßen die Kinder besser und zuverlässiger erzieht als die leibliche Mutter. In Deutschland ist die Familie Garantie einer besseren Welt geblieben. Von den Müttern hängt unserer Meinung nach das »Humanum« ab – Sie sehen, auch Kirchhoff, den ich hier zitiere, echot noch Pestalozzi. Die Familie steht gegen eine harte, egoistische Welt, in der herzlose Karrierefrauen, aber nicht wahre Mütter einen Platz haben. Hin und wieder ist es ganz nützlich, einen Blick auf die Fakten zu richten. Die Kinder unserer französischen und dänischen Nachbarn sind nicht neurotischer als unsere. Sie weisen keine Verwahrlosungserscheinungen auf und haben keine ernsthaften Leistungsblockaden. Sie sind nicht bindungsunfähig emotional gestört, obwohl ganztägige Betreuung in Tagesstätten und Schulen zum Alltag gehört. Was sich apropos Pisa übrigens als deutlich positiver Faktor herausstellte. Auch habe ich von niemandem gehört, dass die französische oder die dänische Gesellschaft unmenschlicher sei als die deutsche. Mütter, die ihren Platz in der normalen Welt der Erwachsenen haben, die in der wirtschaftlichen, politischen, erotischen Welt zuhause sind, sind keine Gefahr für ihre Kinder. Dass sie wie die Väter arbeiten und womöglich dabei mehr Erfolg haben, ist nicht nur für ihre Töchter ein gutes Vorbild, sondern auch für die Söhne, die lernen, mit Frauen zu konkurrieren. Wir sollten den Mut haben, uns auf den Weg in eine europäischere, zivilisiertere Gesellschaft zu machen, in der sich die Geschlechter auch auf dem Arbeitsmarkt mischen und weibliche Karrieren normal sind. Dazu gehört es auch, mit der Verteufelung der modernen Gesellschaft und Arbeitswelt aufzuhören, gegen die man als letztes Bollwerk die Familie als Garantie des Menschlichen errichten muss – ein, wie mir scheint, paranoides Konstrukt. Ganz entspannt glücklich, und ohne den auf Dauer gestellten Konflikt, der ontologisch das deutsche Muttersein bestimmt, das, leben unsere Nachbarn uns vor, kann man beides haben: Kinder und einen erfüllten Beruf. Erst wenn man nicht mehr glaubt, für die Kinder die absurdesten Opfer bringen zu müssen, die letzten Endes allen eine unnötige Last aufbürden,

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Barbara Vinken gibt es eine Chance auf mehr Kinder, die besser ausgebildet sind. Und außerdem auf mehr Glück.

Literatur Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hg.): Die demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig sind Deutschlands Regionen?, München 2006. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin (Hg.): Siebter Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, Berlin 2005. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin (Hg.): Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. Siebter Familienbericht. Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Sachverständigenkommission, Berlin 2006. Ehrenberg, Birgit: Die Mami-Falle. Das etwas andere Handbuch für glückliche Mütter, München 2006. Hey, Johanna: »Sind Familie und Wissenschaft als Beruf vereinbar?«, in: Forschung und Lehre 7 (2005), S. 352-355. Institut für Demoskopie Allensbach: Einflussfaktoren auf die Geburtenrate – Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der 1844-jährigen Bevölkerung, Allensbach 2004. Pestalozzi, Johann Heinrich: „Weltweib und Mutter“ (1804), in: Werke, nach dem Text der Erstdrucke hg. und komm. von Gertrude Cepl-Kaufmann und Manfred Windfuhr, mit einem Nachw. von Manfred Windfuhr, Band II: Schriften zur Menschenbildung und Gesellschaftsentwicklung, München 1977, S. 127-140. Pestalozzi, Johann Heinrich: „Denkschrift an die Pariser Freunde über Wesen und Zweck der Methode“ (1802), in: Werke, nach dem Text der Erstdrucke hg. und komm. von Gertrude CeplKaufmann und Manfred Windfuhr, mit einem Nachw. von Manfred Windfuhr, Band II: Schriften zur Menschenbildung und Gesellschaftsentwicklung, München 1977, S. 72-103.

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Vaterbilder des modernen Zivilrechts INGE KROPPENBERG

Einführung: Bezugspunkte eines konstruktivistischen Vaterbildes im Recht Der folgende Beitrag steht im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Fragmentierte Familien« und im Kontext einer Reise durch ganz unterschiedlich ausgeleuchtete Familienwelten: Natürliche Lebensräume in Gestalt von Versorgungs- und Aufzuchtgemeinschaften, sittliche, emotionale, gottgewollte und kommunikative Ordnungen, Mythen- und Tabuproduktionsräume sind dabei ebenso als Erklärungsmodelle ausprobiert worden wie die Familie als Bühne, als Ort der Inszenierung von archaischen Konflikten in modernen Kostümen. Im Folgenden wird es um die Ausprägungen und Veränderungen des Vaterbildes vor allem im zivilrechtlichen Rechtsraum gehen. Dabei wird der Versuch unternommen, die Wechselwirkung von juristischen Diskursen mit gesellschaftlichen aufzuschlüsseln, oder – anders gesagt – die sozialhistorische Funktion des juristischen Vaterbildes zu analysieren, sowie sie dem Bürgerlichen Gesetzbuch zugrunde gelegt wurde und uns bis heute zu schaffen macht. Umgekehrt soll anhand der zivilrechtlichen Verfasstheit des Vaterbildes allgemein verdeutlicht werden, wie Recht in der Gesellschaft operiert, als »Immunsystem der Gesellschaft«1 nämlich. Der 1. Januar 1900, das Datum des Inkrafttretens der zivilrechtlichen Kodifikation in Deutschland, wird für die Erforschung der juristischen Innen- und der gesellschaftlichen Außenseite des Vaterbildes als zeitlicher Bezugspunkt dienen, einerseits als Ausgangspunkt für Ausflüge in die damalige Zukunft, die heute unsere Gegenwart ist, und anderseits für Grabungen in der Vergan1

Thomas Huber: Systemtheorie des Rechts. Die Rechtstheorie Niklas Luhmanns, Baden-Baden 2007, S. 184ff.

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Inge Kroppenberg genheit des 19. Jahrhunderts, die das Ziel haben, diejenigen Faktoren zu ermitteln, die das Vaterbild des Bürgerlichen Gesetzbuchs rechtshistorisch geprägt haben. Es ist integrierender Bestandteil eines sozialen Kraftfeldes, das aus mehreren Funktionsträgern zusammengesetzt ist, die komplementär aufeinander bezogen sind und ihre rollenspezifische Einseitigkeit, so kann man in Thomas Nipperdeys Deutscher Geschichte der Jahre 1866 bis 1918 lesen, dadurch kompensieren, dass sie einander ergänzen, vervollständigen und so erst möglich machen.2 Die Rede ist von der Bürgerlichen Kern- oder Kleinfamilie, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als typisierender Sinnzusammenhang semantisch mit einer bestimmten Funktion als Institution »neu« konstruiert wurde. Als besonders wirkmächtiges Bild ist sie das Fundament der familienrechtlichen Regelungsstruktur des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1900 und repräsentiert seither die Institution »Familie« juristisch. Konstruktion, Struktur, Semantik, Institutionalisierung, Repräsentation und Rolle – das sind die Bezugspunkte des theoretischen Referenzrahmens, der, was die übergeordnete Unterscheidung von Gesellschafts-, in diesem Falle Rechtsstruktur und Semantik anbelangt, aus der systemtheoretischen Gedankenwelt Niklas Luhmanns stammt3 und die Familie als soziales System abbildet.4 Zur Analyse der Herrschaftsbeziehungen in der modernen Familie dient des Weiteren das Konzept der symbolischen Gewalt von Pierre Bourdieu.5 Auf der Ebene der semantischen Kommunikation werden schließlich die Kategorien von Institutionalisierung, Repräsentation und Rolle verwendet - ein Instrumentarium, das die Wissenssoziologen Peter L. Berger und Thomas

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Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte, Band I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1998, S. 49. Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band I, Frankfurt/M. 1993; Claudio Baraldi: »Artikel ›Semantik‹«, in: ders./Giancarlo Corsi/Elena Esposito (Hg.), GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/M. 1997, S. 168-170. Vgl. Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung, Konstruktivistische Perspektiven, Band V, 3. Aufl., Opladen 2005, S. 189ff.; Fritz B. Simon: »Die Grenzfunktion der Familie«, in: System Familie 13 (2000), S. 140-148. Vgl. Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft, Frankfurt/M. 2005, S. 63ff.; ders./Jean-Claude Passeron (Hg.): Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, Frankfurt/M. 1973. Vgl. des Weiteren Robert Schmidt/Volker Woltersdorff (Hg.): Symbolische Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu, Konstanz 2008.

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Vaterbilder des modernen Zivilrechts Luckmann in ihrem Werk Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit aus dem Jahre 1980 entwickelt haben.6 Das trägt dem Umstand Rechnung, dass man – wie schon Max Weber festgestellt hat7 – zwar bisweilen für juristische Zwecke und praktische Bedürfnisse einen Gesamtbegriff wie Staat, Nation, Genossenschaft, Aktiengesellschaft oder Stiftung verwenden kann und das gesamte Gebilde wie ein Einzelindividuum behandeln, zum Beispiel als Träger von Rechten und Pflichten. Das gilt namentlich für die Vorstellung von der juristischen Person. Für die Zwecke einer sozialhistorisch-funktionalen Beschreibung kommt man aber nicht umhin, die kollektive Gesamtpersönlichkeit »Familie« in die einzelnen Rollenbeziehungen, die sie konstituieren, aufzulösen und gesondert zu analysieren. Das gilt für das Verständnis der sozialen Gruppe »Familie« deswegen in besonderem Maße, weil sie als zivilrechtlicher Gesamtbegriff nicht existiert. Ähnlich wie die Termini »Staat« oder »Nation« handelt es sich vielmehr um semantische Konstruktionen, die vom Recht einerseits vorausgesetzt, andererseits aber nur dadurch juristisch operationalisierbar werden, dass die einzelnen Rollenbeziehungen, die des »Vaters«, der »Mutter« und des oder der »Kinder«, mit rechtlichen Inhalten versehen werden, die das Rollenbild im Rechtsraum repräsentieren. Insofern ist das zivilrechtliche Familienbild notwendig ein fragmentiertes. Das ist die rechtsstrukturelle Seite, die »Innenseite« des Rechts, von der im letzten Abschnitt dieses Beitrags anhand des Vaterbildes des Bürgerlichen Familienrechts die Rede sein wird. Die »Außenseite« des Rechts ist die semantische Form »Familie«, die historisch als Trägerin von bestimmten Sinneinheiten als Ganzheit konstruiert wurde und als solche das Recht sozusagen aus dem Hintergrund steuert. Die Entstehung und Funktion dieses Narrativs wird im Folgenden vor dem Hintergrund des Einbruchs der Moderne in die Familie betrachtet, der in der hier schon mehrfach bemühten Kosselleck’schen »Sattelzeit« von 1750 bis 1850 stattfand. Sie ist die unmittelbare Vorgeschichte des Bürgerlichen Familienrechts und steht mit diesem wiederum in einer zirkulären Wechselbeziehung, die sich im Rechtsdiskurs bis

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Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (1969), 21. Aufl., Frankfurt/M. 2007. Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 2005, Kap. 1 § 1, S. 10.

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Inge Kroppenberg heute bemerkbar macht.8 Darum geht es im Folgenden zweiten Teil des Beitrags.

Semantische Konstruktion der Familie und der Rolle des Familienvaters in der Moderne V OM

MÄCHTIGEN

»C LANCHEF « ZUM V ORSTEHER RUMPFSTRUKTUR

EINER SOZIALEN

Der Übergang von einer vormodernen stratifizierten Gesellschaft zu einer modernen, funktional gegliederten wie der Bürgerlichen fordert seine Opfer. Eines der prominentesten ist der Vater und Hausvorstand vormoderner Prägung. Als Führungspersönlichkeit war er der Kopf eines gesellschaftlichen Verbandes, auf dessen Funktionieren das Ancien Régime in besonderer Weise angewiesen war. Die Zugehörigkeit zu einem vormodernen Familienverband sicherte den Mitgliedern und dritten, diesem verpflichteten Personen die Partizipation an und die Ausübung von politischer Macht – und der pater familias teilte sie zu und entzog sie gegebenenfalls auch wieder. Mit wirtschaftlichen Ressourcen stattete nicht zuletzt das Erbrecht aus, das in Kontinentaleuropa primär Familienerbrecht war, in adeligen Kreisen dynastischen Zwecken diente und im bäuerlichen Milieu der Erhaltung der Wirtschaftseinheit »Hof«. Ganz überwiegend war es patriarchalisch strukturiert. Soweit es um ökonomische Unternehmungen ging, wurden diese von Familien betrieben – mit dem Haushaltsvorstand als entrepreneur9, zum Beispiel in den oberdeutschen Handelshäusern des 15. und 16. Jahrhunderts, deren bekanntestes wohl das der Fugger in Augsburg war. Die Familie war die zentrale Organisationsstruktur innerhalb der einzelnen Stände der stratifizierten Gesellschaft. Der männliche Familienvorstand stand an ihrer Spitze. Über ihn führte der Weg zu Macht und Reichtum und damit verbunden auch zu den Töchtern des jeweiligen Familienverbandes. Andere Unterscheidungen, wie zum Beispiel das Geschlecht oder die Konfession der Familienmitglieder, spielten innerhalb des jeweiligen Standes eine nicht zu unterschätzende Rolle. Primäres Differenzierungsmerk8 9

Vgl. C. Baraldi: Semantik, S. 170. Vgl. Fritz B. Simon: Die Familie des Familienunternehmens, 2. Aufl., Heidelberg 2005.

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Vaterbilder des modernen Zivilrechts mal war allerdings der Stand – bis diese Familien und Dynastien basierte Ordnung in der bereits erwähnten Sattelzeit brüchig wurde und mit ihr die Rolle der männlichen Figur an der Spitze des Verbandes. Der Beginn der Moderne leitet eine Kernspaltung der familiären Beziehungen alter Prägung ein. Sie vollzieht sich in den einzelnen europäischen Gemeinwesen mit unterschiedlicher Radikalität und gestaltet sich auch für verschiedene ständische Familienverbandsmodelle – den Adel, das entstehende Bürgertum und den ländlich-bäuerlichen Bereich – unterschiedlich. Aber am Ende steht doch eine mehr oder minder stark ausgeprägte funktionale Auffächerung des festgefügten Mitgliedschaftsverbandes »Familie«. Sie generiert zudem den modernen Familientyp schlechthin, die Industriearbeiter- oder, wie sie in marxistischen Diskursen genannt wird, die proletarische Familie. Die Veränderungen in der familiären Statik, die vom ursprünglich voll inklusiven Charakter des vormodernen Sozialverbandes par excellence kaum mehr als eine personell und funktionell reduzierte Rumpfstruktur übrig lassen, kann am besten anhand der jeweiligen Rollenbeziehungen des übrigen Personals zum Vater beschrieben werden. Denn der Bedeutungsverlust ist bei ihm – wie schon gesagt – am größten. Dass die moderne Familie, wie die neuere Historische Familienforschung betont hat, trotz einiger Funktionseinbußen auch neue Aufgabenfelder zu verzeichnen hat und man daher eher geneigt ist, von Funktionsentlastung oder -abgabe zu sprechen,10 steht dem nicht unbedingt entgegen. Denn der pater familias vormoderner Prägung ist unwiederbringlich ein Rollenbild der Vergangenheit. Betrachten wir zunächst die sich verändernde Rollenbeziehung zu seinem komplementären Gegenstück, der Ehefrau. Durch die Industrialisierung wird die Erwerbstätigkeit von weiblichen Familienmitgliedern in den unteren Gesellschaftsschichten bis zur Geburt des ersten Kindes zu einer sozialen Realität, in den oberen, namentlich der sich formierenden bürgerlichen Klein-, Kern- oder Verwandtschaftsfamilie, immerhin zu einem möglichen konzeptionellen Gegenentwurf. Zu ihm geht die entstehende Bürgerliche Gesellschaft gerade deswegen so vehement in Abwehrhaltung, weil er die eigene Lebenswelt in Frage stellt. Wenn bürgerli-

10 Vgl. Andreas Gestrich: Beitrag »Neuzeit«, in: ders./Jens-Uwe Krause/Michael Mitterauer, Geschichte der Familie, Stuttgart 2003, S. 364-405, hier: S. 390; ders.: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, Oldenbourg 1999, S. 70f.

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Inge Kroppenberg che Frauen ihren Platz nun mehr mit Verve im Innenraum der Familie angewiesen bekommen, dann in erster Linie deshalb, weil sie seit der Industrialisierung potenziell auf den Arbeitsmarkt, der sich außerhalb der Familie organisiert und Geschäft und Haushalt für immer voneinander trennt, hingeordnet werden können.11 Sie sind seit dieser Zeit immerhin denkbare Konkurrentinnen des Mannes, wenn auch solche mit geringen Durchsetzungschancen. Tendenzen zur Sexualreform und zur Geburtenkontrolle tun ihr Übriges,12 und so taucht das Problem der Doppelrolle von Frauen in Familie und Beruf erstmals am Horizont auf. Es steht fortan auf der gesellschaftlichen Agenda und bleibt in den verschiedenen Richtungen der sich formierenden Frauenbewegung in Deutschland präsent.13 Auch die Veränderung der Rollenbeziehung des Vaters zum Kind in der Moderne ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Wie im Fall der Ehefrau löst der Übergang zu einer funktional differenzierten Gesellschaft das Familienmitglied »Kind« nicht voll aus der Erziehungsgewalt des männlichen Hausvorstandes heraus, doch tritt mit der Schule eine zweite eigene Sphäre neben das Elternhaus. Für Bildung und Erziehung ihrer Kinder ist die Familie künftig nicht mehr allein zuständig. Deren Zukunft wird nicht mehr von Erbe und väterlicher Zuschreibung abhängen, sondern ganz maßgeblich von der Ausbildung14, die das staatliche Bildungs- und Erziehungssystem anbietet und monopolisiert. Dass die Dinge auch auf diesem Feld in Bewegung geraten, lässt sich an einem gesellschaftlichen Diskurs beobachten, der in

11 Aus der umfangreichen Literatur zum Thema »Frauenarbeit« vgl. Hans Pohl (Hg.): Die Frau in der deutschen Wirtschaft, Stuttgart 1985; Ulla Knapp: Frauenarbeit in Deutschland, Band II: Hausarbeit und geschlechtsspezifischer Arbeitsmarkt im deutschen Industrialisierungsprozess. Frauenpolitik und proletarischer Frauenalltag zwischen 1800 und 1933, München 1984; Rosmarie Beier: Frauenarbeit und Frauenalltag im Deutschen Kaiserreich. Heimarbeiterinnen in der Berliner Bekleidungsindustrie 1880-1914, Frankfurt/M./New York 1983; Walter Müller/Angelika Willms/Johann Handl (Hg.): Strukturwandel der Frauenarbeit 1880 bis 1980, Frankfurt/M./New York 1983; Angelika Willms: Die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit im Deutschen Reich, Nürnberg 1980; Louise A. Tilly/Joan W. Scott: Women, Work & Family, Oldenbourg 1978. 12 Vgl. Peter Gay: Erziehung der Sinne. Sexualität im Bürgerlichen Zeitalter, München 1986. 13 Vgl. T. Nipperdey: Deutsche Geschichte, S. 87f. 14 Vgl. Reinhard Sieder: Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt/M. 1987, S. 129.

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Vaterbilder des modernen Zivilrechts der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzt, an dem sich berühmte Philosophen (Rousseau, Fichte, Schleiermacher), Pädagogen (Pestalozzi und Wilhelm von Humboldt), aber auch Juristen 15 (Rotteck und Stahl) beteiligen und in dem vor allem eines verhandelt wird: die Abgrenzung und Ausbalancierung der staatlichen und der väterlichen Gewalt auf dem Gebiet der Kindererziehung. Das Kindeswohl ist dabei noch kein Thema für sich. Es kommt gleichsam nur en passant zur Sprache. Dass der Staat, was Bildung und Ausbildung anbelangt, funktionell tatsächlich in die überkommene Rolle des Hausvaters geschlüpft ist, lässt sich juristisch übrigens daran sehen, dass man das Rechtsverhältnis des Schülers bis in unser Jahrhundert hinein als »besonderes Gewaltverhältnis« konstruiert hat, nämlich als einen rechtlich erheblich reduzierten Herrschaftsraum, der dem väterlichen semantisch nachgebildet war.

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Zur Wechselwirkung von rechtlicher Semantik und Rechtsstruktur im modernen Recht Das familiäre Herrschaftsgefüge und damit zu allererst die Spitze der pyramidalen Ordnung in der Familie wird zunehmend prekär. Ebenso wie die Kunst verhandelt die Literatur die Krise der bürgerlichen Familie und damit zuallererst ihrer aus der alten Balance geratenen Rollenrepräsentationen. Achim Geisenhanslüke hat davon anhand des Vater-Tochter-Verhältnisses in Lessings Emilia Galotti und Lenz’ Der Hofmeister gesprochen.16 Auch spiegelt sich die Krise in der Rede vom »Patient Familie«,17 den die »neuen« Wissenschaften, namentlich die Soziologie und die Psychologie für sich entdecken.18 15 Überblick bei Dieter Schwab: »Artikel ›Familie‹«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band II: E-G, Stuttgart 1976, S. 253-301, hier: S. 295f.; Erwin Stein/Wilfried Joest/Hans Dombois (Hg.): Elternrecht. Studien zu seiner rechtsphilosophischen und evangelisch-theologischen Grundlegung, Heidelberg 1958. 16 Vgl. seinen Beitrag in diesem Band. 17 Vgl. grundlegend Horst-Eberhard Richter: Patient Familie. Entstehung, Struktur und Therapie von Konflikten in Ehe und Familie, Reinbek bei Hamburg 1970; Fritz B. Simon (Hg.): Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie, Frankfurt/M. 2002. 18 T. Nipperdey: Deutsche Geschichte, S. 45.

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Inge Kroppenberg Und das Recht? Welches ist die spezifisch rechtliche Strategie zur Bewältigung dieser Verwerfungen? Wie reagiert es auf die Krise der Familie in der Moderne? Die Antwort: Zum einen durch die Schaffung eines Bürgerliches Familienrechts, das auf der strukturellen Ebene die Veränderungen, die die Moderne gebracht hat, funktionell rezipiert und abbildet. Zum anderen aber auch durch die rechtssemantische Mitarbeit an der Konstruktion der Bürgerlichen Klein-, Kern oder Verwandtschaftsfamilie, die an vormoderne Familienbilder anknüpft und die Zumutungen der Moderne auf diese Weise abfedert und für die Normadressaten lebbar macht. Es sind das Wechselspiel und die Spannung zwischen einer modernen Gesetzesstruktur und einer vormodern operierenden, namentlich von Rechtswissenschaft und Rechtsprechung geprägten Familienrechtssemantik, mit denen das Recht mit seinen Mitteln auf die Krise der Familie reagiert und damit arg in Mitleidenschaft gezogene Überzeugungen und Erwartungen zumindest partiell kontrafaktisch stabilisiert – indem es nämlich verlorenes oder verloren geglaubtes Regelvertrauen19 wiederherstellt. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Kodifzierung des Bürgerlichen Familienrechts als Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs am Ende des 19. Jahrhunderts vielleicht weniger als Ornament oder Krönung bürgerlicher Rechtswissenschaft deuten, sondern selbst als ein veritables Krisensymptom. Das bürgerliche Familienrecht spiegelt dabei den Balanceakt des Rechts in der Moderne schlechthin. Er liegt in eben jenem Krebsgang zwischen Entwicklung und Tradition, der alles geltende Recht einerseits notwendig konservativ arbeiten lässt, ihm andererseits aber immerhin so viel an innovativem Potenzial einschreiben muss, dass die Normenwelt den Kontakt mit der Gesellschaft nicht verliert und daher immer noch auf Akzeptanz hoffen kann.

19 Zum Verlust von Regelvertrauen als Krisensymptom vgl. Hansjörg Siegenthaler: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen, Tübingen 1993; ders.: »Die Schweiz in der Krise des ›Fin de siècle‹«, in: Michael Graetz/Aram Mattioli (Hg.), Krisenwahrnehmungen im Fin de siècle. Jüdische und Katholische Bildungseliten in Deutschland und der Schweiz, Zürich 1997, S. 55-64, hier: S. 57f. Vgl. grundlegend Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der Bürgerlichen Welt, Nachdruck, 1. Aufl., Frankfurt/M. 1997.

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Vaterbilder des modernen Zivilrechts So gesehen ist Ulrich Wehlers Diktum von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«20, das er für den Traditionsübergang in der reichsdeutschen Gesellschaft angesichts der Herausforderungen der neueren Zeit geprägt hat, eine treffende Beschreibung der Funktionsweise von Recht in der Moderne schlechthin. Es muss, um die als krisenbehaftet empfundene Gegenwart effektiv regeln zu können, so viel an Vergangenheit aufbewahren, dass sich seine Normadressaten darin zu Hause fühlen. Insoweit ist das Rechtssystem geradezu existenziell auf Gedächtnis und Erinnerung angewiesen.21 Gleichzeitig muss die Zivilrechtskodifikation aber glaubhaft so viel an Modernität versprechen, dass ihr zugetraut wird, auf die großen Fragen der Zeit zukunftsfähige Antworten zu finden. Back to the future - Die »Erfindung« der Bürgerlichen Familie und der Vaterrolle im modernen Familienrecht Brechen wir das auf das Vaterbild des Bürgerlichen Gesetzbuchs herunter und schauen uns zunächst Konstruktion und Funktion des rechtssemantischen Vaterbildes an, das dem Bürgerlichen Familienrecht eingeschrieben ist, um es dann in einem weiteren Schritt in der strukturellen Ebene des Rechts zu spiegeln. Dabei wird die Rolle des Vaters zunächst im Gesamtsystem der Bürgerlichen Familie beschrieben. Drei Funktionen samt der zugehörigen rechtlichen Implikationen lassen sich unterscheiden: Konzentration, Radikalisierung und Integration. Konzentration Modern ist an der Bürgerlichen Familie, dass sie horizontal eine statusfundierte Paarbeziehung verlangt, die durch die Bürgerliche Ehe begründet wird, und vertikal das Kriterium der Hauszugehörigkeit zwingend durch das der Verwandtschaft ersetzt. Bloße Blutsverwandtschaft im Verhältnis zum Vater reicht dabei allein allerdings nicht aus. Die Bürgerliche Familie ist eine (status)rechtlich fundierte Kleingruppe. Die Grenzen der Zugehörigkeit sind nun normativ und virtuell gezogen. Wer dazu gehören möchte, muss sich gegenüber dem Vater juristisch legitimieren, als

20 Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band III: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des ersten Weltkrieges 1849-1914, 2. Aufl., München 2006, S. 728. 21 Vgl. Mirjam-Kerstin Holl: Semantik und soziales Gedächtnis. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die Gedächtnistheorie von Aleida und Jan Assmann, Würzburg 2003.

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Inge Kroppenberg Ehefrau oder eheliches Kind eben, um an familiären Ressourcen, zum Beispiel Unterhalt und elterlicher Sorge, teilzuhaben. Die Bürgerliche Familie trennt sich von einer ganzen Reihe von Personen, die mit dem beschriebenen Verlust der politischen und wirtschaftlichen Funktionen für die Familie zur Belastung geworden sind. Konkubinen und nichteheliche Kinder, die in vormoderner Zeit, abhängig vom Reichtum und Stand des Hausvorstands, durchaus auf Anerkennung, Versorgung oder überhaupt auf eine rechtliche Stellung hoffen konnten, finden sich nun außerhalb des Kreises der Kernfamilie wieder,22 die auf diese Weise ihre Ressourcen stärker zusammenhalten kann. Sexualität wird auf eine bestimmte gesellschaftliche Enklave, den ehelichen Intimbereich, beschränkt.23 Im Innenverhältnis wird das rechtliche Band zwischen den Ehegatten sowie den Eltern und Kindern durch die »romantische« Liebe gestärkt,24 dem neuen Kommunikationsmedium,25 nach dem Geld und Macht in der Moderne in diesem Zusammenhang strukturell in den Hintergrund getreten sind. Die Bürgerliche Familie reagiert auf die Moderne mithin zum einen durch eine Konzentration in ihrem personellen Bestand. Die verbliebenen Mitglieder rücken nahe zusammen und werden nicht zuletzt durch das Familienrecht in ihren einzelnen Rollenbeziehungen im Inneren zu einer verschworenen Gemeinschaft im Außenverhältnis verbunden. So viel Familienrecht war nie. Seine Funktion ist es, ihre Mitglieder juristisch geradezu existenziell aufeinander zu beziehen. Ehefrau sein, das heißt im Bürgerlichen Familienrecht in erster Linie nicht Ehemann sein, und Vater sein in erster Linie nicht Mutter sein – und umgekehrt. Nimmt ein Teil seine rechtliche Funktion nicht mehr wahr, bedeutet das entweder die Auflösung der Familie als Statusverband, so etwa bei der Ehescheidung, oder doch eine erhebliche Erschütterung im familiären Rollenge-

22 Vgl. Michael Mitterauer: Ledige Mütter. Zur Geschichte unehelicher Geburten in Europa, München 1983. 23 Vgl. grundlegend Norbert Elias: »Zum Zusammenhang von Triebkontrolle und Familienform bzw. Gesellschaftsstruktur«, in: Heidi Rosenbaum (Hg.), Familie und Gesellschaftsstruktur, Frankfurt/M. 1978, S. 152-160. 24 Vgl. Peter Gay: Die zarte Leidenschaft. Liebe im Bürgerlichen Zeitalter, München 1987. 25 Vgl. grundlegend Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1994, S. 183ff.; ders.: Soziologische Aufklärung, S. 199.

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Vaterbilder des modernen Zivilrechts

füge, etwa wenn der Vater als Gewalthaber ausfällt, weil er stirbt oder sich disqualifiziert. Davon später mehr. Radikalisierung Mit der personellen Konzentration geht inhaltlich zugleich eine gewisse Radikalisierung der väterlichen Herrschaftsbeziehung einher. In der Vormoderne verfügte der Hausvater über die Personen seines Verbandes vor allem, um politische und wirtschaftliche Ressourcen zu verteilen. Das fällt nun weg, was bedeutet, dass die Familienangehörigen in erster Line als Personen Objekte seiner Herrschaft sind. Das Bürgerliche Recht schneidet diese nun stärker auf die einzelnen Familienmitglieder zu als zuvor. Waren familiäre Rollen in der Vormoderne wesentlich vielgestaltiger – Beispiele sind adelige Herrscherinnen, aber auch Meisterwitwen in den Zünften –, werden sie im Bürgerlichen Familienrecht nun festgelegt über ein Merkmal, dem niemand entkommt, dem Geschlecht. Die bürgerliche Kindererziehung – das Rechtsverhältnis, auf dem sie beruht, nennt man elterliche Gewalt oder, wie es seit 1980 im Bürgerlichen Gesetzbuch heißt, elterliche Sorge26 – wird im Familienrecht mit der biologischen Eigenschaft, männlich oder weiblich zu sein, verbunden. Es ist diese Verankerung in den Körpern der Menschen, die die elterliche Gewalt entlang der Geschlechterrollenformen teilt und kompartimentiert.27 Die männlichen Rollenattribute, die dem Vater zugeschrieben werden, stammen aus seiner beruflichen Tätigkeit außer Haus.28 Ihm allein ist es erlaubt, die Grenze, die der Innenbereich bildet, zu überschreiten, um den Unterhalt fernab der Familie zu verdienen und in der Öffentlichkeit am politischen Geschehen teilzuhaben: Autorität, Rationalität, Disziplin, Strenge sowie Tat- und Entscheidungskraft sind nötig, um hier zu bestehen. Eben diese Eigenschaften begründen den »strukturellen Statusvorsprung«29 26 Vgl. das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge vom 18. Juli 1979 (SorgeRG), Bundesgesetzblatt, Teil 1, Nr. 42/1979, S. 1061-1071. 27 P. Bourdieu: Die männliche Herrschaft, S. 178. 28 Zur eheinternen Rollenverteilung vgl. Heinrich Dörner: Industrialisierung und Familienrecht. Die Auswirkungen des sozialen Wandels dargestellt an den Familienmodellen des ALR, BGB und des französischen Code civil, Berlin 1974, S. 98ff., m. w. Nw. 29 Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1982, S. 290.

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Inge Kroppenberg des Ehemannes gegenüber der Ehefrau. Als Vater trägt er sie aus dem Außen- in den Innenbereich der bürgerlichen Familie – wie Joseph Roth einmal gesagt hat – als »fremder König«30 hinein, wo sie ihm als Fundament seiner Herrschaft, der väterlichen Gewalt, unter anderem über seine Kinder dienen. Zum familiären Alltag gehört er nicht richtig dazu, aber er greift ein, wenn es darum geht, zu disziplinieren, zu sagen, was gemacht werden soll oder für Ordnung zur sorgen. So lautete in Reinform noch das gemeinrechtliche Modell, und das Bürgerliche Gesetzbuch hat die väterliche Gewalt im Interesse des minderjährigen Kindes, auf das sie sich allein bezieht, als vormundschaftlich gebundene beschrieben, das ältere Konzept aber nicht grundsätzlich verworfen.31 Rechtlich ist der Vater als Gewalthaber für mehrere Bereiche zuständig: für die Vertretung des Kindes im rechtsgeschäftlichen Verkehr, für die Abwehr von Übergriffen Dritter als Ausfluss seiner Schutzpflicht, für die großen Entscheidungen, die die Person des Kindes oder sein Vermögen betreffen, etwa die Aufenthaltsbestimmung, die Schulfrage oder Anlageentscheidungen, und nicht zuletzt für die Disziplinierung, zu der ihn sein so genanntes Züchtigungsrecht befugt. Die väterliche Gewalt kann, wie die Züchtigung zeigt, physisch sein, meist ist sie aber im Bourdieu’schen Sinne symbolisch, setzt auf die Vorwegnahme und das habituelle Einverständnis der anderen,32 zum Beispiel auf das von Mutter und Kindern, die den Vater zu Hause vom außerhäusigen Daseinskampf ausruhen lassen und ihn nicht mit den Kleinigkeiten der alltäglichen Sorge behelligen. Für sie ist die Mutter zuständig, der dauerhaft der Platz innerhalb des familiären Nahbereichs zugewiesen ist. Das war nicht nur, aber auch ein Gebot der Arbeitsteilung. Die Rolle belegt sie mit Attributen, die mit ihrem weiblichen Geschlecht verschmolzen werden. Sanftheit, Fürsorglichkeit, Emotionalität und Kinderliebe machen sie zur Erstberufenen für die elterliche Sorge – in den täglichen, stetig zu leistenden, »kleinen« Belangen der Kindererziehung. Zu Einfühlung, Verständnis 30 Zitiert nach Dieter Thomä: Väter. Eine moderne Heldengeschichte, München 2008, S. 127. 31 Vgl. H. Dörner: Industrialisierung und Familienrecht, S. 115. 32 Vgl. Beate Krais: »Zur Funktionsweise von Herrschaft in der Moderne: Soziale Ordnungen, symbolische Gewalt, gesellschaftliche Kontrolle«, in: R. Schmidt/V. Woltersdorf (Hg.), Symbolische Gewalt, S. 45-58; speziell zur Herrschaft des Vaters in der Familie vgl. Kathrin Audehn, »Die Kaffeekanne und die Autorität des Vaters. Familienmahlzeiten als symbolische Praxen«, in: ebd., S. 125-146, hier: S. 133.

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Vaterbilder des modernen Zivilrechts und Liebe ist sie hiernach in erster Linie fähig und berufen und deshalb auch am besten zur »thatsächlichen Fürsorge« für das Kind, die sie »aus eigenem Recht wahrnimmt«, wie es in einer frühen Kommentierung des Redaktors des Bürgerlichen Familienrechts, Gottlieb Planck, heißt.33 Beim Vater lässt sich Liebe dagegen eher in Form von maßvoller Milde interpretieren, wenn etwa in den Motiven, den Gesetzgebungsmaterialien zum ersten Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1888, die weitgehende Freistellung des väterlichen Gewalthabers von den Bindungen eines Vormunds damit begründet wird, dass »die elterliche Gewalt sich als der rechtliche Ausdruck eines natürlichen, sittlichen Verhältnisses darstellt und dieselbe auf gegenseitiges Vertrauen und auf Liebe gegründet ist.«34 Der Hinweis auf die »Natürlichkeit« der familiären Rollen, der sich nicht nur – wie hier – in den Gesetzgebungsmaterialien zum BGB findet, sondern auch in zahllosen Äußerungen der Rechtsprechung und der Wissenschaft in den ersten Jahren nach dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs, hilft die Geschlechterordnung zu konstruieren und zu zementieren. Die Mutter als geborene Sorgeberechtigte, der Vater als geborener Gewalthaber – das sind die beiden radikalen Urmuster des Bürgerlichen Familienrechts im Verhältnis zu den gemeinschaftlichen ehelichen Kindern. Identifikation Das Bürgerliche Gesetzbuch setzt sie in seiner ersten Fassung strukturell rollengetreu um. Wenn auch der Wortlaut des § 1626 neutral formuliert, »das Kinde stehe, solange es minderjährig ist, unter elterlicher Gewalt«, geben sich die Motive keine Mühe, die wahren Rechtsmachtverhältnisse zu verschleiern: »Die väterliche Gewalt, nicht die elterliche Gewalt, bildet die Grundlage des elterlichen Rechtes«, heißt es dort lapidar, und in der Tat: Mehr als ein Lippenbekenntnis enthält die Regelung nicht. Denn § 1627 a.F. besagt, dass der Vater kraft der elterlichen Gewalt das Recht und die Pflicht hat, für die Person und das Vermögen des Kindes zu sorgen. Die Mutter hat das Recht und die Pflicht für die Person

33 Gottlieb Planck: Bürgerliches Gesetzbuch nebst Einführungsgesetz, 1./2. Aufl., Berlin 1901, § 1634 Rn 3. 34 Benno Mugdan: Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Band IV: Familienrecht, Berlin 1899, S. 724.

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Inge Kroppenberg des Kindes zu sorgen – »neben dem Vater«, wie es in § 1634 a.F. heißt, und ohne dass sie es im rechtsgeschäftlichen Verkehr vertreten dürfte. Im Konfliktfall setzt sich der Vater mit seiner Anschauung durch. Das ist der berühmte »Stichentscheid« des Familienoberhauptes. Kurz: Der Vater war Inhaber der »Hauptgewalt«, die Mutter spielte im wahrsten Sinne des Wortes die Nebenrolle, auch nach der Auflösung der Ehe durch Scheidung. Selbst wenn der Vater als der »schuldige« Teil geschieden wurde – bis 1977 galt noch nicht das Zerrüttungs-, sondern das Verschuldensprinzip bei der Scheidung –, disqualifizierte er sich nicht ohne Weiteres als Gewalthaber. Und so kann man bei einem sonst nicht näher bekannten Amtsgerichtsrat namens Simmerthal, der im Jahre 1909 im Archiv für die civilistische Praxis einen Aufsatz »Zur Väterlichen Gewalt des bürgerlichen Gesetzbuches« schreibt, lesen: »In dem beschränkten, ihm verbliebenen Wirkungskreise ist der Vater wieder Selbstherrscher […]. Der mannigfachen Einschränkungen ungeachtet, welche die moderne Zeit notwendig für ihn mit sich bringen musste, herrscht auch heute noch der Vater grundsätzlich unbeschränkt in seinem Hause über sein Kind.«35

Die Bemerkung bringt jenen allgemeinen, äußerst mächtigen Wirkmechanismus des modernen Rechts zum Ausdruck, der sich als die kontrafaktische Macht des Normativen beschreiben lässt. Juristinnen und Juristen sind demgegenüber nicht selten betriebsblind, und so verwundert es wenig, dass sich die folgende Analyse nicht bei einem Rechtsexperten findet, sondern bei dem großen Sozialhistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts Thomas Nipperdey: »Auch die brüchige Realität stand unter dem Gesetz der Norm, auch die Gegner der Idealisierungen der Familie und der Familie überhaupt, die Zyniker, konnten sich der öffentlichen Bekundung der Norm kaum entziehen.«36 Pointiert ausgedrückt: Das Recht inszeniert Einheit37, wo keine mehr ist, es schafft neue Zugehörigkeit zu einer positiv besetz-

35 Max Simmerthal: »Zur väterlichen Gewalt des bürgerlichen Gesetzbuchs«, in: Archiv für die civilistische Praxis 104 (1909), S. 388-426, hier: S. 426. 36 T. Nipperdey: Deutsche Geschichte, S. 45. 37 Vgl. Peter Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt/M. 1992, S. 237ff.

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Vaterbilder des modernen Zivilrechts ten Gemeinschaft38 und integriert in die virtuelle Heimat einer face to face community in einer unbehausten Zeit. Strukturell modern lagert das bürgerliche Familienrecht semantische Sedimentschichten an, die aus einer eigentlich vergangenen Zeit stammen. Von ihm aus werden die Kontinuitätslinien bis zur archaischen Führungspersönlichkeit des antiken Hausverbands zurückgezogen, dem rechtsallmächtigen pater familias. Ob dieses Bild in der Antike so tatsächlich zutraf, darum geht es den Autoren nicht. Ihr Blick ist fest auf die Gegenwart des noch jungen Familienrechts geheftet und auf seine Erfindung, die «Bürgerliche Kleinfamilie«. Vergangenheit interessiert sie nur, soweit sie das Jetzt legitimiert. Die moderne Bürgerliche Familie spielt, so gesehen, die vormoderne oder gar antike familia nur vor. Es handelt sich um eben jene Form der enthistorisierenden Vergegenwärtigung, die Grundlage war für die Mythisierung der Familie und Raum bot für die Sakralisierung des privaten Raums schlechthin.39

Jenseits der Geschlechterrollen? – (Auf-)Brüche in den familienrechtlichen Elternverhältnissen R OLLENÜBERSCHREITUNG - D IE MUTTER

ALS

G EWALTHABERIN

Im Folgenden wird der historische Beobachtungsposten von der formativen Perspektive des Rechts auf die für den Juristen bekanntere normative Ebene verlegt. Neben den Wandlungen familienrechtlicher Vaterbilder geht es hier um die Friktionen zwischen der semantischen und der strukturellen Ebene des Bürgerlichen Familienrechts. Sie entstehen vor allem dann, wenn der Rollentausch jenseits der Grenzen der skizzierten rechtlichen Geschlechterrollen geübt werden soll. Das ist in zwei Richtungen denkbar. Entweder der Vater möchte aus seiner »klassischen« Rolle als Gewalthaber heraus und in die Rolle des zärtlichen Fürsorgers hinein. Das ist eine Entwicklung des Familienrechts der letzten Jahre bis in unsere aktuelle Gegenwart hinein. Sie ist Ausdruck eines Phänomens, 38 Vgl. Zygmunt Baumann: Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt/M. 2001. 39 Vgl. Edward Shorter: Die Geburt der modernen Familie, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 258ff.

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Inge Kroppenberg das die Soziologie als neue »Kultur der Vaterschaft« beschreibt.40 Oder die Mutter möchte gleichberechtigt mit dem Vater oder, weil dieser ausfällt, die elterliche Gewalt über ihr Kind allein ausüben. In der ursprünglichen Konzeption des BGB ist Ersteres ausgeschlossen und Letzteres überhaupt nur dann diskutabel, wenn der Vater als geborener Gewalthaber ausscheidet, weil er verstirbt oder sich sonst disqualifiziert hat. Die Materialien winden sich geradezu: »Dem Entwurfe liege nichts ferner als der Gedanke der so genannten Emanzipation der Frauen«41, heißt es dort, und weiter: »[Es sei] nicht zu verkennen, dass die Anerkennung der elterlichen Gewalt der Mutter [wohl gemerkt nur für den Fall, dass der Vater nicht zur Verfügung steht!] für umfassende Rechtsgebiete eine große Neuerung enthält.«42 Dennoch »sei das Misstrauen, welches frühere Jahrhunderte in die Fähigkeit der Frau zu einer vollen Erfüllung ihres elterlichen Berufes setzten […], nicht mehr berechtigt«43, gerade dann nicht, wenn sie sich durch ihre Mutterschaft dafür qualifiziert habe. Nicht zuletzt aus praktischen Bedürfnissen ringt man sich schließlich doch dazu durch, die Mutter wenigstens als «Ersatzgewalthaberin« zuzulassen. Für sie führt der Weg zum Kind in dieser Beziehung über den Vater. Der argumentative Aufwand, der hier getrieben wird, zeigt, dass die Frage der mütterlichen Gewalt schon recht früh auf der rechtspolitischen Agenda stand. In populärwissenschaftlichen Vademecum der Zeit, etwa in einem »Führer für Eltern als Inhaber der elterlichen Gewalt nach dem Bürgerlichen Gesetzbuche von 1900«, liest man davon zwar nichts.44 In den zwanziger Jahren wird jedoch eine lebhafte wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Reform der elterlichen Gewalt der Mutter geführt, an der sich zum ersten Mal in Deutschland auch studierte und promovierte Juristinnen und Frauenrechtlerinnen beteiligen, unter ihnen die erste Richterin Deutschlands Marie Munk.45 In der natio40 Vgl. Ralph LaRossa: »Fatherhood and Social Change«, in: Family Relations 37 (1988), S. 451-457. 41 B. Mugdan: Die gesammten Materialien, S. 737. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. Ferdinand Kuby: Familienrecht. Rechtliche Stellung der ehelichen Kinder, insbesondere: Die elterliche Gewalt, 2. Aufl., Kaiserslautern 1900. 45 Vgl. Marie Munk: »Die elterliche Gewalt und ihre Reform«, in: Juristische Wochenschrift 1925, S. 309-310; dies.: Vorschläge zur Umgestaltung des Rechts der Ehescheidung und der elterlichen Gewalt nebst Gesetz-

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Vaterbilder des modernen Zivilrechts nalsozialistischen Zeit stärkte der sogenannte Gemeinschaftsgedanke der Frau paradoxerweise sogar den Rücken in Richtung auf eine gleichberechtigtere Teilhabe an der elterlichen Gewalt46 – ohne freilich die hervorgehobene Position des Vaters in der Familie in Frage zu stellen. In der frühen Bundesrepublik brechen die wissenschaftlichen Diskurslinien über die Frage ab, ebenso weitgehend die gesellschaftliche Diskussion. Die Zeichen stehen, was die familiäre Rollenstruktur anbelangt, auf Restauration. Wenn sich Äußerungen aus dem juristischen Raum vernehmen lassen, dann argumentieren sie mit der Gleichwertigkeit von Müttern und Vätern, die ihnen unterschiedliche rechtliche Bereiche in der Erziehung ihrer Kinder zuwiesen. »Die Gleichheit der Würde«, heißt es in einer wissenschaftlichen Stellungnahme der Zeit, »hebt nicht eine gewisse hierarchische Gliederung [der Familie] auf.« Und: »Beide (Mann und Frau) haben einander viel zu geben. Suum cuique.«47 Um Gleichberechtigung der Geschlechter geht es hier offenbar nicht. Es ist die Episode des »Naturrechts«-Revivals am neu errichteten Bundesgerichtshof unter seinem ersten Präsidenten Hermann Weinkauff.48 Noch Ende des Jahres 1954 judiziert der Bundesgerichtshof in Strafsachen, dass die geschlechtliche Untersuchung eines zehnjährigen Mädchens gegen den erklärten oder mutmaßlichen Willen der Eltern nicht etwa nur eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Tochter darstellt, sondern auch eine Beleidigung des väterlichen Gewalthabers49 – Lessings Emilia Galotti lässt grüßen.

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entwurf. Denkschrift des Bundes Deutscher Frauenvereine, Berlin 1923. Zur Biographie Marie Munks vgl. Erika Scheffen: »Artikel ›Munk, Marie‹«, in: Walther Killy/Rudolf Vierhaus (Hg.), Neue Deutsche Biographie, Band XVIII: Moller-Nausea, Berlin 1997, Sp. 595-597. Vgl. des Weiteren Georg Rothe: Die elterliche Gewalt der Mutter nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch, Dissertation Erlangen 1905; Clara Eck: »Die elterliche Gewalt im BGB. Ihr Inhalt und ihre Zuständigkeit«, in: Archiv für die civilistische Praxis 41 (1915), S. 1-159; Margarete Schmitz: Die elterliche Gewalt der Mutter im bürgerlichen Gesetzbuch, Speyer 1939. Vgl. Kurt Fehr: Die elterliche Gewalt. Eine rechtsvergleichende Darstellung nach deutschem, österreichischem, schweizerischem und französischem Recht, Köln 1937, S. 75. Friedrich Wilhelm Bosch: »Gleichberechtigung im Bereich der elterlichen Gewalt«, in: Süddeutsche Juristenzeitung 1950, S. 626-646, hier: S. 627. Vgl. Daniel Herbe: Hermann Weinkauff (1894-1981). Der erste Präsident des Bundesgerichtshofs im 20. Jahrhundert, Tübingen 2008. Vgl. BGH: Neue Juristische Wochenschrift 1955, S. 471-472.

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Inge Kroppenberg Die Reformimpulse kommen von wo anders her.50 Dass die überragende Stellung des ehelichen Vaters mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter nach Art. 3 Abs. 2 GG nicht vereinbar ist, das hatten schon die Väter und Mütter des Grundgesetzes gesehen, und dem ersten deutschen Bundestag eine Frist bis zum 31. März 1953 eingeräumt, alles gegen diese Vorschrift verstoßende Recht zu beseitigen. Offenbar wurde mit den gesellschaftlichen Beharrungskräften gerechnet. Denn alles gleichheitswidrige Recht sollte am selben Tag außer Kraft treten, wenn die Bonner Legislative, was der Fall war, sich nicht rührte. Es beginnt die sogenannte »Zwischenrechtsperiode«, die mindestens bis zum Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes am 1. Juli 1958 dauerte und den Vater de iure entmachtete, wo er de facto noch übermächtig war. Weiter können Rechtssemantik und Rechtsstruktur nicht auseinander sein. Durch das Gleichberechtigungsgesetz des Jahres 1958 kommen beide allerdings auch noch nicht vollständig zusammen. Denn den Stichentscheid des Vaters rührt es ebenso wenig an wie dessen gesetzliche Alleinvertretungsbefugnis. Auch dass das Bundesverfassungsgericht, das 1951 seine Spruchtätigkeit in Karlsruhe aufgenommen hatte, jetzt mit der Verfassung ernst macht und beides, Stichentscheid und väterliches Alleinvertretungsrecht, für verfassungswidrig und nichtig erklärt,51 stört den Gesetzgeber 20 Jahre lang nicht. Aber etwas verändert sich: Richterrecht vertritt Gesetzesrecht und klopft mit dem Verfassungsgericht im Rücken die gleichberechtigte Teilhabe der beiden Elternteile an der elterlichen Gewalt fest – so fest, dass der sozialliberale Gesetzgeber, als er im Jahre 1979 das Gesetz zur Reform des Rechts der elterlichen Sorge auflegt, selbst wenn er anders gewollt, wohl nicht mehr anders gekonnt hätte, als den ehelichen Vater ins Glied, nämlich an die Seite der Mutter, zurücktreten zu lassen. De iure ist die Mutter seither Inhaberin der elterlichen Gewalt, die ab jetzt elterliche Sorge heißt, weil sich die Gewichte unter dem Eindruck der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von einem vaterzentrierten Herrschaftsrecht zu einer auf das Kind fokussierten, gemeinschaftlichen Elternverantwortung

50 Einen instruktiven Überblick über die Entwicklung der Gesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland gibt Lore Maria Peschel-Gutzeit: »Die geschichtliche Entwicklung der Vaterstellung im deutschen Recht«, in: Familie Partnerschaft Recht 2005, S. 167-172. 51 Vgl. BVerfGE 10, S. 59-89.

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Vaterbilder des modernen Zivilrechts verschieben.52 Das lässt sich am besten am Rückbau des väterlichen Züchtigungsrechts studieren, welches von einer reinen Missbrauchskontrolle väterlicher Disziplinierungen in Extremfällen sukzessive zu einem Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung umgestaltet wird. Als Ergebnis lässt sich festhalten: Der Vater ist, gemessen an seiner rechtlichen Machtfülle zu Beginn des 20. Jahrhunderts, heute ein familienrechtlicher Johann Ohneland.

ROLLENTAUSCH ? - D ER

FÜRSORGLICHE

V ATER

Die Frage ist, ob ihm, dem entlassenen Herrscher der Familie, nicht eine neue Rolle zuwächst, nämlich die des fürsorglichen Vaters. Die zunehmende Betonung der gemeinsamen elterlichen Verantwortung für das Kind ist einer der Faktoren, der die Frage nach einer Neubestimmung des Vaterbildes in der jüngeren Gegenwart aktuell werden lässt – ebenso die Erwerbstätigkeit von Frauen. Man kann sagen, dass das »neue« Vaterbild des Bürgerlichen Gesetzbuchs mehr über das neue Mutter- und Kinderbild des Familienrechts geprägt worden ist als aus sich selbst heraus. Das gilt namentlich für den Typus des nicht leiblichen, sondern sozialen »Rechtsvaters«, dessen sozial-familiäre Beziehung zum Kind in erster Linie in dessen Interesse in ihrem rechtlichen Bestand geschützt wird. Die Figur des sorgenden Vaters selbst bleibt dagegen rechtlich merkwürdig blass. Das ist ein Defizit, das auf der Rechtsebene nur insoweit spürbar ist, als die Geschlechtsrollenbilder mit der Kindschaftsrechtsreform des Jahres 1998 vollständig fungibel geworden und in einem inhaltlich gleichlaufenden Elternrecht aufgegangen sind. Beide ehelichen Elternteile sind von der Geburt des Kindes an gleichermaßen sorgeberechtigt und bleiben dies mit dem gemeinschaftlichen Sorgerecht auch dann, wenn sie sich dauerhaft trennen oder ihre Ehe geschieden wird. Die Elternbeziehung ist vom Bestand der statusrechtlichen zwischen den Eheleuten vollends entkoppelt. Überkommene Geschlechterrollen sind unter dem neutralen Begriff »Eltern« heute gut versteckt. Bis vor kurzem traten sie rechtlich an einem Ort hervor, der bisher nur am Rande berührt wurde, weil Thema dieses Beitrags die Bürgerliche, und das heißt die eheliche Familie war: der Bereich der elterlichen Sorge für 52 Vgl. Dagmar Coester-Waltjen: »Von der elterlichen Gewalt zur elterlichen Sorge«, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 1977, S. 177-185.

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Inge Kroppenberg Kinder, die nicht in eine Ehe hinein geboren werden. Waren die Eltern bei der Geburt des Kindes nicht miteinander verheiratet, führte der Weg des Vaters zu seinem Kind, was die elterliche Sorge anbelangt, bis zum Ende des Jahres 2009 nur über die Mutter. Entweder sie heiratete ihn oder Mutter und Vater gaben gemeinsame Sorgeerklärungen ab. Geschah das nicht im Konsens, nützte dem Vater seine alleinige Sorgeerklärung gar nichts. »Im Übrigen hat die Mutter die elterliche Sorge«, hieß es in § 1626a Abs. 2 BGB lapidar. Der »natürliche«, das Bundesverfassungsgericht spricht vom »leiblichen« oder »biologischen« Vater, der aus dem Status als verheirateter Mann keine Legitimationswirkung für sein Kind herleiten kann, war hiernach ein »entsorgtes« Elternteil und das, obwohl er unter Umständen durchaus eine reale Beziehung zu seinem Kind unterhielt. Zugespitzt konnte man den Rechtszustand bis in die jüngste Vergangenheit hinein wie folgt beschreiben: Entweder die Mutter kooperierte tatsächlich und/oder rechtlich mit dem Vater, oder das gemeinsame Kind war bei ihr gut aufgehoben. Rechtshistorisch ist dieses Ergebnis in einer langen, für die Beteiligten oft leidvollen Traditionslinie zu sehen, in der das nichteheliche Kind der Mutter juristisch stets deutlich näher stand wie dem Vater. Das Bundesverfassungsgericht nahm daran keinen Anstoß und hielt § 1626a BGB für mit dem Grundgesetz vereinbar: Derzeit, so sein recht unverbindlicher und ein wenig ratloser Befund, lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Elternrecht des Vaters eines nichtehelichen Kindes, das das Gericht prinzipiell anerkennt53, nicht ausreichend Rechnung getragen werde. Doch hat die Moderne in dieses Stück vormodernes Familienrecht neuerlich Einzug gehalten. Mit Urteil vom 3. Dezember 2009 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, dass § 1626a Abs. 2 BGB gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt.54 Die deutschen Gerichte werden nun in jedem Einzelfall am Kindeswohl orientiert zu prüfen haben, ob den nicht miteinander verheirateten Eltern die gemeinsame Sorge für ihr Kind übertragen werden kann. Die Mutter, die

53 Vgl. BVerfGE 107, S. 150-186; BVerfG: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 50 (2003), S. 1447-1448; dazu Michael Coester: »Nichteheliche Elternschaft und Sorgerecht«, in: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 54 (2007), S. 1137-1145. 54 Vgl. EuGHMR: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 57 (2010), S. 103-107.

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Vaterbilder des modernen Zivilrechts mit dessen Vater nicht verheiratet ist, ist damit nicht mehr die »natürliche« Sorgeberechtigte. Vielmehr darf der Vater künftig auch gegen ihren Willen ein sorgender sein. Der Rollentausch der Geschlechter ist damit zumindest rechtlich perfekt.

Fazit Rückt man die nebulös gewordene Vatergestalt des Bürgerlichen Familienrechts in den Kontext der Moderne, tritt der Funktionsverlust der Vaterrolle in den Blick, der vor allem in der Einbuße an Herrschaftsmacht über die anderen Familienmitglieder liegt. Er war in der funktionalen Ausdifferenzierung der Sattelzeit bereits latent angelegt. Das Recht stützt die alte Rolle noch eine ganze Weile lang, um die Normadressaten an den Wandel zu gewöhnen. Die Semantik der Bürgerlichen Familie macht die neue Struktur erst lebbar. Erst als der Schock einigermaßen verdaut ist, lockern sich die Riegel des Rechts gegen die moderne Zeit, und der Blick auf die Krise der modernen Familie wird offenbar. Wenn die Literatur die Vorhut der Moderne ist, dann ist das Recht die Nachhut. An der Figur des bürgerlichen Vaters lässt sich das deshalb so gut illustrieren, weil sein Fall im Verhältnis zu den anderen beiden Rollentypen »Mutter« und »Kind« am tiefsten war. An die Stelle des festgefügten rechtlichen Vaterbilds ist im Bürgerlichen Familienrecht eine fungible Hülle getreten. Ganz verschiedene Formen des Zusammenlebens mit Kindern können sich diese Hülle leihen, unter ihnen die sogenannte Patchwork-Familie, aufgrund des demografischen Wandels die Mehrgenerationenfamilie und eben auch die überkommene bürgerliche. Die Form selbst hat freilich einiges von ihrer originären Prägekraft verloren. Zentrale Funktionen des modernen und vormodernen Vaters, etwa die des Ernährers und Unterhaltsleistenden, aber auch die des Translators politischen und wirtschaftlichen Einflusses, werden mittlerweile subsidiär vom modernen Wohlfahrts- oder Sozialstaat wahrgenommen.55 Überhaupt wurde von vielen noch nicht bemerkt, dass aus dem privaten Familienrecht in weiten Teilen eine Materie des öffentlichen Rechts geworden ist. An die Stelle

55 Vgl. Christian Seiler: Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts, Tübingen 2008.

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Inge Kroppenberg der Herrschaft ist die Sorge getreten.56 Die Gesellschaft wird heute viel eher bewirtschaftet und betreut als beherrscht. Es wird weniger gestraft, als überwacht. Aus »Vater Staat« ist eine Mutter geworden, was ein Grund dafür sein könnte, dass die weibliche Rolle innerhalb der Familie heutzutage im Vergleich zur männlichen rechtlich die intaktere ist.

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56 Vgl. Thomas Lemke: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997, S. 126ff.

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Inge Kroppenberg Tilly, Louise A./Scott, Joan W.: Women, Work & Family, Oldenbourg 1978. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 2005. Wehler, Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band III: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des ersten Weltkrieges 1849-1914, 2. Aufl., München 2006. Willms, Angelika: Die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit im Deutschen Reich, Nürnberg 1980.

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Erlesene Familie. Restauration des Phantastischen in Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie MARJA RAUCH

Der Vortrag gliedert sich in sechs Teile: Zunächst geht es um Cornelia Funkes Roman-Trilogie als Beispiel für die Aufwertung der Kinder- und Jugendliteratur in der gegenwärtigen Literaturund Medienwelt, in einem zweiten Schritt um die Themen Lesen und Familie in der Trilogie, drittens möchte ich den Zusammenhang von Lesen und Gewalt erläutern, der auf die Familienmuster zurückwirkt, um dann viertens einen kurzen Exkurs zu Funkes Herr der Diebe einzuschieben, der das Thema der fragmentierten Familie zu beleuchten hilft, das dann in einem fünften Schritt im Blick auf die Tintenwelt-Trilogie genauer ausgeführt wird, ehe ich abschließend die Ergebnisse kurz zusammenfasse.

Tintenherz und die Aufwertung der Kinder- und Jugendliteratur Fast schon stereotyp mutet die Klage der Literaturkritik um den Zustand der deutschsprachigen Literatur an. Im internationalen Vergleich scheint kein Erzähler in Sicht, der mit den marktbeherrschenden Amerikanern, mit Philip Roth, Don de Lillo oder David Foster Wallace, mithalten könnte. Selbst ein nationaler Bestseller wie Uwe Tellkamps Der Turm bestätigt das Vorurteil, dass die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ein Problem mit dem Spannungsaufbau hat. Das stereotype Bild ändert sich jedoch, wenn ein erweiterter Literaturbegriff in Betracht gezogen wird, sobald also nicht allein das Format des großen europäischen und amerikanischen Romans angesprochen wird, sondern

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Marja Rauch auch die Kinder- und Jugendliteratur mit in den Blick genommen wird. In diesem Segment hat Deutschland mit Cornelia Funke eine Autorin aufzubieten, die gerade auch den internationalen Vergleich nicht zu scheuen braucht.1 Neben Joanne K. Rowling hat Cornelia Funke mit ihrer Tintenwelt-Trilogie die Bestsellerlisten sowohl des Spiegels als auch der New York Times angeführt, da beide in der Form der Doppel-Adressierung sowohl junge als auch erwachsene Leser mit ihren Büchern ansprechen konnten2. Dies ist u.a. darauf zurückzuführen, dass in Funkes Texten im Gewand des Phantastischen »Konflikte und Handlungsmuster des Alltags«3 vorkommen wie etwa das Thema der fragmentierten Familie, dem ich mich in meinem Vortrag widmen möchte. Dem Erfolg von Rowling und Funke ist es zu verdanken, dass die Kinder1

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Mit weltweit über 15 Millionen verkauften Büchern ist Cornelia Funke die international erfolgreichste deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin (vgl. www.cecilie-dressler.de vom 3.1.2010). Bei einer im Sommer 2004 durchgeführten Umfrage des ZDF in Kooperation mit der Stiftung Lesen und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels lag Tintenherz auf Platz 11 der Lieblingsbücher der Deutschen. Vgl. hierzu Heide Hollmer: »Cornelia Funke: Tintenherz«, in: Christoph Jürgensen (Hg.), Die Lieblingsbücher der Deutschen, Kiel 2006, S. 107-125. Vgl. Hans-Heino Ewers: »Das doppelsinnige Kinderbuch. Erwachsene als Mitleser und Leser von Kinderliteratur«, in: Dagmar Grenz (Hg.), Kinderliteratur – Literatur auch für Erwachsene? Zum Verhältnis von Kinder- und Erwachsenenliteratur, München 1990, S. 15-24. Zum Phänomen des cross-writing merkt Gelberg kritisch an: »Das umgekehrte Lesemuster – Erwachsene lesen Kinderbücher – hat sich erst viel später entwickelt. Zum Beispiel, als Kinderbücher anfingen, einen Mythos zu bedienen, den es in so einfacher Form sonst nicht gab, nämlich die Rettung der Welt durch Fantasie. Vor 25 Jahren erschienen Michael Endes ›Momo‹ und ›Die unendliche Geschichte‹ und gründeten, fast nebenher, einen Markt, der alles veränderte. Den eigentlichen Durchbruch haben die ›Harry Potter‹-Bücher von Joanne Kathleen Rowling bewirkt. Seither lesen Erwachsene Kinderbücher. Oder anders gesagt, sie suchen und finden jene phantastische Zauberwelt, die sie mit Kindern gemeinsam lieben. Kein Wunder, dass viele Autoren und Verlage diesen einträglichen Markt bedienen« (Hans-Joachim Gelberg: »›Tintenherz‹ – ein Herz voller Tinte«, in: Eselsohr 08 (2004), S. 26-27, hier: S. 26). Abraham kritisiert, dass in Abhandlungen zur fantastischen Kinder- und Jugendliteratur und zur Fantasy übersehen wird, dass diese durch aus welt- und problemhaltig sind (vgl. Ulf Abraham: »›Fantastisch-problemorientierte Kinder- und Jugendliteratur‹? Überlegungen zu ästhetischer Struktur und literaturdidaktischem Potenzial aktueller fantastischer Texte für Heranwachsende«, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 55 (2008), H.1, S. 40-55, hier: S. 47ff.).

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Erlesene Familie und Jugendliteratur insgesamt eine starke gesellschaftliche Aufwertung erfahren hat, die natürlich auch mit kommerziellen Interessen einhergeht. So ist der Erfolg der Tintenwelt-Trilogie in ähnlicher Weise wie der der Harry-Potter-Reihe nicht allein auf das Medium Buch beschränkt, sondern profitiert von dem Medienverbund: Es gibt Tintenherz u.a. als Hörbuch, Brettspiel, als Puzzle und seit Ende 2008 auch als Kinofilm.4 Die mediale Aufmerksamkeit verdankt sich nicht zuletzt einer ausgeklügelten Marketingstrategie: Tintenherz ist im Oktober 2003 zeitgleich in Deutschland, England, den USA, Kanada sowie Australien erschienen und hat Cornelia Funke international bekannt gemacht. Von Tintenherz wurden allein in Deutschland etwa 1,3 Millionen Exemplare, von Tintenblut 840.000 Exemplare und von Tintentod 680.000 Exemplare verkauft, was für den Kinder- und Jugendbuchsektor enorm hohe Verkaufszahlen sind.5

Lesewelt – Familienwelt Dennoch überrascht der medienübergreifende Erfolg, steht in Tintenherz doch ein einziges und noch dazu traditionelles Medium im Mittelpunkt: das Buch. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang, inwiefern der Erfolg der Tintenwelt-Trilogie durch einen emphatischen Begriff des Lesens begründet ist und darüber hinaus zusammenhängt mit der Konstruktion eines für die phantastische Literatur seit E.T.A. Hoffmann kennzeichnenden Zwei-WeltenModells. Im Falle von Funke scheinen sich beide Momente, das Thema des Buches im Buch6 und das phantastische Zwei-WeltenModell, zu überlagern. Auffällig ist, dass die zentralen Figuren der »primären Welt« der Trilogie in einem engen Verhältnis zum Buchmedium stehen: Mortimer, genannt Mo, ist ein begabter Buchbinder und Vorleser, seine Tochter Meggie verreist nie ohne ihre Kiste mit Lieblingsbüchern, die Tante Elinor, eine exzessive Buchsammlerin, bezeichnet die Bücher als »ihre tintenschwarzen Kinder«7 und Meggies Mutter Resa ist für die Vorlesekunst ihres 4

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Originaltitel: Inkheart; Regie: Iain Softley; Drehbuch: David LindsayAbaire; Produktion: Barry Mendel, Cornelia Funke, Ileen Maisel; Filmstart in Deutschland: 11.12.2008. Die Verkaufszahlen entsprechen dem Stand von Oktober 2010 (vgl. www.cecilie-dressler.de vom 3.1.2010). Vgl. Anne Siebeck: Das Buch im Buch. Ein Motiv der phantastischen Literatur, Marburg 2009. Cornelia Funke: Tintenherz, Hamburg 2003, S. 56.

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Marja Rauch Mannes empfänglich: Sie »liebte es, von einem Buch ins Unbekannte gelockt zu werden.«8 In diesem Zusammenhang stellt Ansgar Kreutzer fest: »Genau auf dieser Tätigkeit und ihren daraus resultierenden Konsequenzen beruht der die Trilogie tragende Gedanke: Vorlesen eröffnet in Funkes Romanen die Tür von der ›realen‹ Welt zur ›Anderswelt‹ der Bücher.«9 In Anknüpfung an Michael Endes Unendliche Geschichte bedeutet das Lesen in Tintenherz im wörtlichen Sinne den Eintritt in eine andere Welt.10 Die Bewegung, die der Text vollzieht, ist dabei eine doppelte: Figuren werden aus der sekundären Tintenwelt in die primäre Welt des Romans hineingelesen, ebenso aber werden Figuren von der primären Ebene in einer Form des Tausches in die Tintenwelt transportiert.11 Funke begleitet ihr Thema, die auf die Tradition des Phantastischen verweisende Verdopplung der Fiktion durch das Lesen, auf einer Metaebene innerhalb ihrer Bücher, indem dem fiktiven Autor Fenoglio im Verlauf der Trilogie die eigene Geschichte zunehmend entgleitet. Literarische Texte, so legt es Tintenherz nahe, entwickeln sich aus dem unkontrollierbaren Zusammenspiel von Autor bzw. Erzähler, Leser und der Eigendynamik der Geschichte selbst.12 Die Forschung hat darin eine Kritik an der scheinbar allmächtigen Autorfigur erkennen wollen13 – eine These, die allerdings übersieht, dass die Kritik aus einer Position heraus artikuliert wird, die der verabschiedeten Allmacht des Erzählers zumindest ziemlich nahe kommt. Während viele Forschungsbeiträge zu Tintenherz die Erfolgstrilogie als Wiedereinsetzen der Kulturtechnik Lesen begrüßen,14

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Ebd., S. 153. Ansgar Kreutzer: »Bücher saufen und verschlingen. Handlungstheoretische, theologische und kulturkritische Bezüge von Lesen und Exzess«, in: Edeltraud Koller/Barbara Schrödl/Anita Schwantner (Hg.), Exzess. Kultur und Medientheorie, Bielefeld 2009, S. 57-78, hier: S. 65. »Im Grundsatz variiert Funke, wie bereits erwähnt, das Muster aus Michael Endes Die unendliche Geschichte« (Stefan Neuhaus: Märchen, Tübingen 2005, S. 363). Vgl. A. Siebeck: Das Buch im Buch, S. 49. Vgl. A. Kreutzer: Bücher saufen und verschlingen, S. 66f. Vgl. A. Siebeck: Das Buch im Buch, S. 52ff. »Cornelia Funkes Tintenwelt-Romane sind eine Hommage an das Lesen und die Literatur« (ebd., S. 45). Vgl. auch Wolfgang Löffler: »Bibliotheken als Motiv der Fantastischen Kinder- und Jugendliteratur«, in: Beiträge Jugendliteratur und Medien 58 (2006), S. 98-108, hier: S. 103. Bestätigt wird diese Annahme durch Passagen wie die Beschreibung von Mos ers-

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Erlesene Familie ist das Lesen im Roman jedoch ein äußerst ambivalenter Akt. Auf der einen Seite wird mit den exzessiven Lesern Mo, Resa, Meggie und Elinor das generationenübergreifende Bild einer scheinbar intakten Familie aufgeboten.15 Auf der anderen Seite bedeutet das Lesen im Roman einen Gewaltakt, der sich unmittelbar auf die Familie richtet. Worauf ich im Folgenden das Augenmerk legen möchte, ist daher nicht allein die von der Forschung ins Zentrum von Tintenherz gestellte Thematik des Buchs im Buch und die damit verbundene Leseproblematik, sondern das Familienbild, das im Roman zur Darstellung kommt. Im Rekurs auf die Familienproblematik, so die These meines Vortrags, lässt sich zeigen, dass sich hinter der phantastischen Dimension des Romans ein sehr zeitgemäßes Thema verbirgt: die Fragmentierung der modernen Familie und der Versuch, diese im Medium der phantastischen Utopie wiederherzustellen. Unter der fragmentierten Familie ist die Auflösung der traditionellen Familiengemeinschaft zu verstehen, eine Auflösung, die alle drei von Claude Lévi-Strauss genannten Familienbeziehungen betreffen kann: »damit es überhaupt eine Verwandtschaftsstruktur gibt, müssen drei Typen von Familienbeziehungen, die immer in der menschlichen Gesellschaft gegeben sind, zusammentreffen, das heißt: die der Blutsverwandtschaft, der Ehe und der Abstammung: anders ausgedrückt, eine Verwandtschaft von blutsverwandten Geschwistern, eine Verwandtschaft von Ehemann und Ehefrau, und eine von Elternteil und Kind.«16

Lévi-Strauss zufolge sind es drei unterschiedliche und sich überlagernde Strukturen, die es im Kontext der Familie zu beachten tem Vorleseakt, der alle Zuhörer verzaubert (vgl. C. Funke: Tintenherz, S. 193). Zu einer kritischen Darstellung der Lesethematik vgl. S. Neuhaus: Märchen, S. 363f. 15 Der Lesefamilie im Roman korrespondiert die Tatsache, dass die Tintenwelt-Trilogie ähnlich wie Harry Potter zu einer Familienlektüre geworden ist: Indem Eltern und Kinder Funkes und Rowlings Romane im Sinne »einer sozial geteilten ›kulturellen Praxis‹« lesen und sich darüber austauschen, leisten die Bücher gleichermaßen einen Beitrag zur Lese- und zur Familienförderung (vgl. hierzu Ulf Abraham: »Familienlektüren wie zum Beispiel Harry Potter. Fantastische Erfolgsromane mit Helden ohne Familienanschluss, gelesen vor dem Hintergrund empirischer Erkenntnisse über familiale Lesesozialisation«, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik XXXIII (2001), Heft 1, S. 82-97, hier: S. 88ff.). 16 Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie I, Frankfurt/M. 1978, S. 61.

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Marja Rauch gilt. Eine Fragmentierung der Familie bedeutet die Auflösung dieser elementaren Verwandtschaftsbeziehungen, zum Beispiel durch nicht mehr blutsverwandte Geschwister, durch die Aufhebung der durch Heirat oder Abstammung bestimmten Verbindung von Ehemann und Ehefrau oder die Zerstörung der genealogischen Linie von Eltern und Kind. Voraussetzung der folgenden Überlegungen ist es, dass die Moderne durch eine zunehmende Auflösung des traditionellen Familienbildes und die damit einhergehende Tendenz zur Liberalisierung des Familienrechtes gekennzeichnet ist, die auch in der Literatur reflektiert wird, und das besonders deutlich im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, in der das Thema der Familie traditionell eine große Rolle spielt.17

Tintenherz und die Gewalt des Lesens In Bezug auf das Zwei-Welten-Modell in Tintenherz, das zunächst ganz in der Tradition der phantastischen Literatur zu stehen scheint, ist von der Forschung betont worden, dass Funke im Unterschied zu den von ihr ausführlich zitierten literarischen Vorbildern auf eine vergleichsweise simple lineare Erzählweise zurückgreift, die auf einer klaren narratologischen Trennung von Primärund Sekundärwelt beruht, die allein auf Figurenebene durchbrochen wird. Gerade die erzähltechnische Trennung zwischen der Primärwelt und der Sekundärwelt lässt die grundlegende Ambivalenz der Tintenwelt um so deutlicher hervortreten: Auf der einen Seite handelt es sich um eine ans Mittelalter angelehnte Phantasiewelt, bevölkert von Elfen und Feenwesen, die zum Schluss des Romans zur neuen Heimat der wiederhergestellten Familie wird. Auf der anderen Seite aber ist die Phantasiewelt in ähnlicher Weise wie das Land Nangijala in Astrid Lindgrens Die Brüder Löwenherz durch die Präsenz von Gewalt und Unterdrückung gekenn17 Vgl. Hannelore Daubert: »Familie als Thema der Kinder- und Jugendliteratur«, in: Günter Lange (Hg.), Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur, Baltmannsweiler 2000, S. 684-705; Hans-Heino Ewers/Inge Wild (Hg.): Familienszenen. Die Darstellung familialer Kindheit in der Kinderund Jugendliteratur, München 1999; Christoph Launer: »Heimat« als Thema der Kinder- und Jugendliteratur zur Jahrtausendwende. Autoren – Themen – Vermittlung, Baltmannsweiler 2000, S. 128-161; Anita Schilcher: Geschlechtsrollen, Familie, Freundschaft und Liebe in der Kinderliteratur der 90er Jahre. Studien zum Verhältnis von Normalität und Normativität im Kinderbuch und zur Methodik der Werteerziehung, Frankfurt/M. 2001.

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Erlesene Familie zeichnet. In der Tintenwelt regiert mit Natternkopf eine Tyrannenfigur, deren Macht unbeschränkt zu sein scheint und die sich durch die Beherrschung des Mediums Buch selbst über den Tod hinwegzusetzen versucht. Obwohl das lineare Erzählen dem Roman narratologisch bestimmte Grenzen setzt, droht die Gewalt der Tintenwelt im Verlauf des Romans zunehmend auf die Figuren überzugehen, die der primären Welt entstammen. Ein eindrucksvolles Beispiel stellt der Protagonist Mo dar, der sich im dritten Band vom friedlichen Buchbinder aus der Welt des Lesens zum blutdürstigen Eichelhäher aus der Welt der Gewalt zu wandeln droht: »Mein Handwerk ist nicht das Kämpfen«,18 betont Mo noch gegen Ende von Tintenblut, während seine Frau Resa in Tintentod resigniert konstatiert: »Du trägst ein Schwert am Gürtel! Du schläfst kaum und bist nächtelang fort. […] Du hast Geschmack an der Gefahr gefunden!«19 Mo tauscht das Buchbindermesser gegen das Schwert ein. Dass er zum Schluss der Trilogie wahnsinnig zu werden droht, kann auch als drohendes Zerbrechen der Figur an der Spaltung zwischen der Welt des Lesens und der Welt der Gewalt verstanden werden. Ein zweites Beispiel für die Gewalt, die mit dem Thema des Lesens verbunden ist, verkörpert Staubfinger. Zunächst scheint Staubfinger als Figur der phantastischen Tintenwelt eine Grenze der Lesewelt zu markieren. So stellt Meggie zu Beginn des Romans fest: »Ihm standen die Gedanken nicht auf der Stirn geschrieben wie Mo. Staubfingers Gesicht war wie ein zugeklapptes Buch, und Meggie hatte das Gefühl, dass er jedem auf die Finger schlug, der versuchte darin zu lesen.«20 Als ein verschlossenes Buch ist Staubfinger die Figur des Romans, die sich der Lesewelt am konsequentesten verweigert. Der Grund für Staubfingers ablehnendes Verhältnis zur Buchwelt ist nicht schwer zu erraten: Er leidet an dem Leben in der realen Welt, da er ein unmittelbares Opfer der Lesegewalt von Mo geworden ist. Dass die Zauberzunge Mo Staubfinger gegen dessen Willen aus der Tintenwelt herausgelesen und von der Familie getrennt hat, ist der Grund für die Traurigkeit, die ihn umgibt. Während Mo und Meggie im ersten Band der Trilogie noch eindeutig der realen Welt zugehören, ist Staubfinger die Figur des Romans, die von Beginn an auf der Schwelle zwischen den zwei Welten steht.

18 Cornelia Funke: Tintenblut, Hamburg 2005, S. 687. 19 Cornelia Funke: Tintentod, Hamburg 2008, S. 170. 20 C. Funke: Tintenherz, S. 63.

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Marja Rauch Staubfinger steht aber nicht nur zwischen zwei Welten, sondern auch zwischen zwei Frauen, zwischen Roxane, seiner Frau in der Tintenwelt, und zwischen Resa, der Frau von Mo, in die er sich während seines Aufenthaltes in der primären Welt verliebt hat. Sein unbedingter Wunsch nach Rückkehr in die Tintenwelt überrascht vor diesem Hintergrund doppelt, weil ihn dort alles andere als eine heile Welt erwartet: Wie der zweite Teil der Trilogie zeigt, findet er Roxane, die Frau, die er ohne Abschied zurücklassen musste, ohne die beiden gemeinsamen Töchter und mit einem Jungen wieder, der nicht von ihm ist und darüber hinaus den Namen seines leiblichen Vaters trägt. Während die jüngere Tochter Rosanna gestorben ist, reagiert Brianna, die ältere Tochter, auf die Rückkehr des Vaters ablehnend: »›Zehn Jahre!‹, sagte sie mit anklagender Stimme. ›Zehn Jahre warst du fort und kommst einfach so zurück?‹«21 Staubfingers Rückkehr offenbart, dass die zehn Jahre der Abwesenheit ihn von seiner Familie getrennt haben und die einstige Heimat ihm fremd geworden ist.22 Das gleiche gilt für Mo. Nicht nur erscheint Staubfinger in seiner im Roman angedeuteten Bindung an Resa als eine geheime Konkurrenzfigur zu Mo. Als Rivale Mos macht Staubfinger zugleich sichtbar, dass auch die Familie von Maggie und Mo auf eine besondere Art und Weise fragmentiert ist: Seit der denkwürdigen Lesenacht fehlt ihr die Mutter. Die Fragmentierung der Familie durch das Fehlen der Mutter wird noch durch die Sprachlosigkeit Resas verstärkt: Resa wie Staubfinger erscheinen als Opfer der im Roman verhandelten Lesegewalt, und das im Falle Resas gleich in mehrfacher Hinsicht: Von ihrem Mann zunächst in die Tintenwelt entrückt, wird sie durch Darius nur unvollständig zurückgelesen und arbeitet stumm als Dienerin Capricorns,23 ohne dass Mo etwas von ihr wüsste. In einer metonymischen Verschiebung zeigt ihre Unvollständigkeit, ihr Sprachverlust, zugleich die Auflösung der traditionellen Familieneinheit von Vater, Mutter und Kind an: Die Mutter kann sich nicht artikulieren, die Sprache erlangt sie erst in der phantastischen Tintenwelt zurück. Die Lesegewalt wirkt sich unmittelbar auf die Familie aus: Staubfingers und Mos Familien werden durch einen Akt des Lesens auseinandergerissen. Im Blick auf die zentrale Position des

21 C. Funke: Tintenblut, S. 298. 22 Zu dieser Thematik vgl. C. Launer: »Heimat«, S. 128-161. 23 Stefan Neuhaus spricht vor diesem Hintergrund sogar von ihrer sexuellen Ausbeutung durch Capricorn und seine Männer (vgl. S. Neuhaus: Märchen, S. 362).

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Erlesene Familie Vaters verhalten sich die Familien von Mo und Staubfinger komplementär zueinander: Wo in der einen Welt der Vater fehlt, fehlt in der anderen die Mutter, dem alleinerziehenden Vater korrespondiert der flüchtige Vater. Das Ergebnis ist die drohende Auflösung der Familie, die der Roman darstellt und zugleich in einer phantastischen Utopie aufzufangen sucht.

Fragmentierte Familie I: Herr der Diebe Dass die fragmentierte Familie bei Cornelia Funke zum Thema wird, ist nicht neu. Schon in dem Roman Herr der Diebe aus dem Jahre 2000 verbirgt sich hinter einer burlesken Abenteuergeschichte das Schicksal der zwei Brüder Prosper und Bo, die sich in Venedig verstecken, um nach dem Unfalltod ihrer Eltern der Adoption Bos durch eine ungeliebte Tante zu entgehen. Das Bild einer zerstörten Familie bietet der Roman gleich auf doppelte Weise: Er erzählt die Geschichte zweier Vollwaisen, die darüber hinaus von der Trennung bedroht sind, da nur einer von ihnen adoptiert und in eine neue Familie aufgenommen werden soll. Nicht nur die Geschichte Prospers und Bo ist Thema des Romans, sondern auch die vom titelgebenden Herrn der Diebe. Hinter ihm steckt ein anderer unglücklicher Sohn: Scipio, der eine Kinderbande anführt, ist in Wirklichkeit der Sohn eines reichen venezianischen Bürgers, der sich um ihn nicht kümmert. Das angebliche Diebesgut, das Scipio seinen Freunden präsentiert, ist aus dem eigenen Haus entwendet. Der Sohn entzieht sich der Familie, indem er sich durch die Fahrt auf einem magischen Karussell vorzeitig in einen Erwachsenen verwandelt und sein Leben allein meistert. Gerade diese verfrühte Verwandlung in einen Erwachsenen wird von Prosper, dem älteren Bruder von Bo, als Last empfunden. In einer Gemeinschaft, die wie die der Freunde Wespe, Riccio und Mosca ohne Eltern auskommen muss, übernimmt der zwölfjährige Prosper eine Ersatzvaterfunktion für seinen erst fünfjährigen Bruder. Anders als für Scipio aber besteht für Prosper und Bo die Lösung in der Aufnahme in eine neue Familie, die mit der alten nichts mehr zu tun hat. Signora Ida Spavento, die die Diebe zunächst im Auftrag anderer bestehlen wollen, um das magische Karussell zusammensetzen zu können, entpuppt sich als die lang gesuchte Ersatzmutter, die aufgrund ihrer guten Beziehungen zum Waisenhaus der Barmherzigen Schwestern das Sorgerecht für die Kinder übernehmen kann und damit Prosper von der Ver-

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Marja Rauch antwortung für Bo entlastet. Scipio findet in dem Detektiv Victor dagegen einen väterlichen Freund, der ihn in seiner Detektei als Mitarbeiter aufnimmt. Mit dieser doppelten Neuverteilung, die nicht mehr durch das alte Gesetz des Blutes, sondern durch die neue soziale Funktion der Vater- und Mutterrolle bestimmt ist – Ida ersetzt die leibliche Mutter, Victor den leiblichen Vater –, endet der Roman. Die von völliger Auflösung bedrohte Familie wird aufgefangen, indem an die Stelle der Blutsverwandtschaft als Grundlage der Familie das Prinzip der sozialen Fürsorge tritt. Auch der Herr der Diebe verpflichtet sich der Darstellung von fragmentierten Familien, die zugleich eine gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit erfolgende wunderbare Neuordnung der Familie möglich macht. Familie, so fasst Ulf Abraham im Blick auf die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur zusammen, »wird zum Experimentierfeld, auf dem sich sehr traditionelle Vorstellungen familialer Sozialisation kreuzen mit patchwork-Familien, die sich aus Einzelgängern zwanglos zusammenfügen oder aus Not wie von selbst entstehen.«24

Fragmentierte Familie II: Tintenherz – Tintenblut – Tintentod In Tintenherz nimmt Cornelia Funke das Thema der fragmentierten Familie aus Herr der Diebe wieder auf. Zugleich weitet sie das Thema des Wunderbaren im Roman aus. So wird aus dem noch ganz realen Ort Venedig eine reine Phantasiewelt, bevölkert mit Wesen, deren Herkunft auf die europäische und außereuropäische Tradition der Literatur vom Zauberer von Oz bis zu Harry Potter verweist. Wie in Herr der Diebe erzählt der Roman die Wiedervereinigung zweier Familien, und dies geschieht jeweils vor dem Hintergrund einer Fragmentierung der Familienordnung, die dem Romangeschehen vorausgeht. Staubfinger findet zu seiner Frau Roxane, seiner Tochter Brianna und zu dem in seiner Abwesenheit gezeugten Stiefsohn Jehan zurück. Mo entscheidet sich für die Tintenwelt, zusammen mit seiner Tochter Meggie und Resa, die ein zweites Kind von ihm erwartet, das den Übergang aus der primären in die sekundäre Welt des Phantastischen besiegelt, von dem schon E.T.A. Hoffmann in Der goldene Topf berichtet hat. Die Entscheidung für die Tintenwelt und die Wiederherstellung der Familie gehen im Roman Hand in Hand. Während die 24 U. Abraham: Familienlektüren, S. 95.

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Erlesene Familie primäre Welt die der Auflösung der Familienstruktur ist – in ihr leben Mo und Meggie getrennt von Resa, Staubfinger unerreichbar fern von seiner Frau und den Kindern – bietet die sekundäre Tintenwelt die Möglichkeit, die Fragmentierung der Familie wieder aufzuheben. Auch auf dieser Ebene wird die Trennung der beiden Welten strikt aufrechterhalten. Steht die Trilogie für eine Aufwertung des Phantastischen im Zeichen des Lesens ein, die Cornelia Funke mit Michael Endes Die unendliche Geschichte und anderen Texten aus der Tradition des Phantastischen teilt, so wird an der in Tintenherz verhandelten Familienproblematik sichtbar, dass die Trennung der zwei Welten letztlich eine kompensatorische Funktion ausübt, die den Roman mit seinen zahlreichen Intertexten verbindet. So erzählt auch Michael Endes Die unendliche Geschichte die Geschichte einer familiären Wiedervereinigung: die von Bastian Balthasar Bux und seinem nach dem Tod der Mutter melancholischen Vater: »Der Vater zog ihn stumm auf seinen Schoß und drückte ihn an sich, und sie streichelten sich gegenseitig. Nachdem sie lange so gesessen hatten, atmete der Vater tief auf, schaute Bastian ins Gesicht und begann zu lächeln. Es war das glücklichste Lächeln, das Bastian je bei ihm gesehen hatte.«25

Die Wiedervereinigung von Vater und Sohn, mit der der Roman endet, trägt jedoch zugleich andere Züge als die Wiedereinsetzung der Familie in Tintenherz. Der Verlust der Mutter wird nicht ausgeglichen, er wird trauernd bewältigt, gerade indem Vater und Sohn wieder zusammenfinden. Während die primäre Welt in Tintenherz von all den Veränderungen, die in der sekundären Welt statthaben, unberührt bleibt, geht es in Die unendliche Geschichte darum, im Durchgang durch die Welt Phantásiens eine Veränderung der Wirklichkeit im Zeichen der Bindungsaffekte Trauer und Liebe hervorzurufen. Darin zeigt sich der utopische Hintergrund der siebziger Jahre, der in der Phantasiewelt des Romans deutliche Spuren hinterlassen hat. Die unendliche Geschichte schreibt sich damit in die Tradition einer romantischen Poetisierung der Welt ein, die schon E.T.A. Hoffmann in seinen Erzählungen gestaltet hat. »Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbart?«26, so lautet der Schluss der Erzäh25 Michael Ende: Die unendliche Geschichte, Stuttgart 1979, S. 422. 26 E. T. A. Hoffmann: »Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit«, in: ders., Poetische Werke, Band I, Berlin/New York 1993, S. 304.

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Marja Rauch lung Der goldne Topf. Der Student Anselmus, zwischen Veronika, die Tochter des Konrektors Paulmann, und Serpentina, die Tochter des Archivars Lindhorst, gestellt, entscheidet sich für das wunderbare Reich der Salamander in Atlantis, das er damit zugleich erlöst. Die spätere Hofrätin Veronika und die phantastische Figur der Serpentina verkörpern in Der goldne Topf zwei unterschiedliche Lebensentwürfe, die sich wechselseitig ausschließen: die bürgerlicher Karriere, die der Registrator Hermann einschlägt, und den poetischen Weg, für den der Student Anselmus im Garten von Atlantis einsteht. Atlantis, Phantásien, Tintenwelt: Alle drei Namen stehen für eine Welt des Phantastischen. Hinter dem gemeinsamen Hintergrund der Texte verbergen sich jedoch auch Differenzen. So wie es Hoffmann um den symbolischen Sieg der Poesie über das bürgerliche Erwerbsleben geht, so zielt Michael Ende auf eine romantische Poetisierung der Welt durch die Macht der Phantasie, die in einem utopischen Entwurf zugleich eine Aufhebung der fragmentierten Familie erlauben soll. Auch in Cornelia Funkes Tintenherz ist das der Fall, und einer der Gründe für den Erfolg des Romans liegt vielleicht in der Tatsache, dass sich mit dem scheinbar weltenthobenen Thema des Phantastischen das ganz in der sozialen Welt verwurzelte Thema der fragmentierten Familie verbindet. Was Funke jedoch nicht mehr leistet, ist eine Versöhnung, die über das Phantastische hinauszugreifen vermöchte. Der Spielraum utopischer Entwürfe scheint kleiner geworden zu sein.

Restauration des Phantastischen – Restauration der Familie Die Tintenwelt-Trilogie, so lässt sich vor diesem Hintergrund abschließend zusammenfassen, bietet dem Leser unterschiedliche Zugänge. Der Roman lässt sich als ein Lesebuch im doppelten Sinne verstehen, als ein Text, der sich in augenfälliger Weise um die Kultur des Lesens dreht und der darin die eigene Medialität zum Gegenstand des Erzählens und der Apologie der Buchwelt überhaupt macht. Auf der Ebene der Figurenführung bietet er zahlreiche Identifikationsangebote, die sich, unabdingbar für einen zeitgemäßen Bucherfolg im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, an beide Geschlechter und neben jungen auch an erwachsene Leser richten: Die Romantrilogie erzählt von der Verwandlung des Buchmenschen Mo in den mythischen Schwert-

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Erlesene Familie kämpfer Eichelhäher, aber auch vom Erwachsenwerden eines jungen Mädchens, das sich zum ersten Mal verliebt. Die Trilogie lässt sich zugleich als ein Familienroman lesen, der in der narratologisch eindeutigen Trennung zwischen der Welt des Wirklichen und der Welt des Phantastischen eine Restauration der Familie als Lösung für ihre Fragmentierung in der Moderne anbietet. Das Bild der Familie ist vor diesem Hintergrund doppelt bestimmt: Auf der einen Seite ist die Familie ein bedrohter Ort, bestimmt durch Auflösungsprozesse, die insbesondere die Position des Vaters und Ehemannes in Frage stellen: Mo ist verantwortlich für die zehnjährige Abwesenheit Resas, Staubfinger sein Opfer, aber für seine Familie, die sich in dieser Zeit neu zusammensetzt und erneut auflöst, ebenso lange nicht präsent. Auf der anderen Seite werden die Väterrollen im Roman mythisiert: im Falle Mos durch die Idealisierung zum unbesiegbaren Eichelhäher, der durch die Gewalt des Schwertes und des Schreibens letztendlich über seine Feinde Natternkopf und Pfeifer triumphiert, im Falle Staubfingers zum Feuertänzer, der in der Trennung von Geist und Körper den Nachtmahr, seinen Alptraum Basta besiegt. Die Poetisierung der Welt, die Hoffmann zur kritischen Auflösung der bürgerlichen Welt gedient hat, wird bei Funke zu einer Restauration der Familie genutzt. Kinder- und Jugendliteratur, so zeigt sich am Beispiel der Tintenwelt-Trilogie, ist ein Ort, an dem sich Kindheits- und Familienmuster entdecken lassen, die auch im Medium des Phantastischen den sozialen Wandel einer sich ständig verändernden Welt aufzeigen und zugleich vom Versuch zeugen, diese Veränderungen ästhetisch zu bewältigen.

Literatur Abraham, Ulf: »›Fantastisch-problemorientierte Kinder- und Jugendliteratur‹? Überlegungen zu ästhetischer Struktur und literaturdidaktischem Potenzial aktueller fantastischer Texte für Heranwachsende«, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 55 (2008), H.1, S. 40-55. Abraham, Ulf: »Familienlektüren wie zum Beispiel Harry Potter. Fantastische Erfolgsromane mit Helden ohne Familienanschluss, gelesen vor dem Hintergrund empirischer Erkenntnisse über familiale Lesesozialisation«, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik XXXII (2002), H.1, S. 82-97.

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Marja Rauch Daubert, Hannelore: »Familie als Thema der Kinder- und Jugendliteratur«, in: Günter Lange (Hg.), Taschenbuch der Kinderund Jugendliteratur, Baltmannsweiler 2000, S. 684-705. Ende, Michael: Die unendliche Geschichte, Stuttgart 1979. Ewers, Hans-Heino/Wild, Inge (Hg.): Familienszenen. Die Darstellung familialer Kindheit in der Kinder- und Jugendliteratur, München 1999. Ewers, Hans-Heino: »Das doppelsinnige Kinderbuch. Erwachsene als Mitleser und Leser von Kinderliteratur«, in: Dagmar Grenz (Hg.), Kinderliteratur – Literatur auch für Erwachsene? Zum Verhältnis von Kinder- und Erwachsenenliteratur, München 1990, S. 15-24. Funke, Cornelia: Herr der Diebe, Hamburg 2000. Funke, Cornelia: Tintenblut, Hamburg 2005. Funke, Cornelia: Tintenherz, Hamburg 2003. Funke, Cornelia: Tintentod, Hamburg 2008. Gelberg, Hans-Joachim: »›Tintenherz‹ – ein Herz voller Tinte«, in: Eselsohr 08 (2004), S. 26-27. Hoffmann, E. T. A.: »Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit«, in: ders., Poetische Werke, Band I, Berlin/New York 1993. Hollmer, Heide: »Cornelia Funke: Tintenherz«, in: Christoph Jürgensen (Hg.), Die Lieblingsbücher der Deutschen, Kiel 2006, S. 107-125. Kreutzer, Ansgar: »Bücher saufen und verschlingen. Handlungstheoretische, theologische und kulturkritische Bezüge von Lesen und Exzess«, in: Edeltraud Koller/Barbara Schrödl/Anita Schwantner (Hg.), Exzess. Kultur und Medientheorie, Bielefeld 2009, S. 57-78. Launer, Christoph: »Heimat« als Thema der Kinder- und Jugendliteratur zur Jahrtausendwende. Autoren – Themen – Vermittlung, Baltmannsweiler 2000, S. 128-161. Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie I, Frankfurt/M. 1978. Löffler, Wolfgang: »Bibliotheken als Motiv der Fantastischen Kinder- und Jugendliteratur«, in: Beiträge Jugendliteratur und Medien 58 (2006), S. 98-108. Neuhaus, Stefan: Märchen, Tübingen 2005. Schilcher, Anita: Geschlechtsrollen, Familie, Freundschaft und Liebe in der Kinderliteratur der 90er Jahre. Studien zum Verhältnis von Normalität und Normativität im Kinderbuch und zur Methodik der Werteerziehung, Frankfurt/M. 2001.

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Erlesene Familie Siebeck, Anne: Das Buch im Buch. Ein Motiv der phantastischen Literatur, Marburg 2009.

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Kinderarmut – neue Perspektiven auf ein nicht mehr neues Thema? BARBARA GRABMANN

In der Familiensoziologie wurden Kinder als eigenständige Individuen lange vergessen. Der Untersuchungsgegenstand der Familiensoziologie war lange Zeit in undifferenzierter Form die Familie unter impliziter Annahme des Vorhandenseins von Kindern. Heute wird das Vorhandensein von Kindern in der Familiensoziologie thematisiert. Es wird in den Blick genommen, inwieweit das Vorhandensein von Kindern die Lebensumstände von Familien verändert – beispielsweise inwieweit die Kinderzahl pro Familie ein Armutsrisiko darstellt oder ob eben auch gerade das Fehlen von Nachwuchs überhaupt gerechtfertigter von Familie sprechen lässt – Kinder als eigene Größe in der Familie wurden jedoch auch in dieser Perspektive kaum wahrgenommen. Die Soziologie reagierte darauf in verschiedener Weise. Einerseits ist es längst Konsens in der Familienforschung, nicht mehr von »der« Familie als Untersuchungsgegenstand zu sprechen und andererseits differenzierte sich etwa in den letzten 20 Jahren eine eigenständige Soziologie der Kindheit heraus1, die analog zur bereits viel früher entstandenen Jugendsoziologie Kindheit und Kinder in ihrer Eigenart wahrnimmt. Dennoch lohnt es sich genauer hinzusehen, wie die Familiensoziologie gerade im Zusammenhang mit dem Thema Armut Kinder thematisiert. In den europäischen Gesellschaften wird vielfach über steigende Kinderarmut geklagt. Gerade in Deutschland kann hier von Kinderarmut im doppelten Sinn ge-

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Es gibt zwar ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts vereinzelt Titel, die sich mit einer eigenständigen Soziologie der Kindheit auseinandersetzen, so z.B. der frühe Beitrag von Peter Fürstenau: Soziologie der Kindheit, Heidelberg 1967, aber der Beginn einer Kindheitssoziologie im eigentlichen Sinn lässt sich tatsächlich in etwa auf Anfang der 90er Jahre datieren.

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Barbara Grabmann sprochen werden. Es lässt sich beobachten, dass Familien immer öfter, kinderreiche Familien2 noch mehr, besonders häufig am oberen und unteren Rand der Einkommensskala zu finden sind, und so bezeichnet Kinderarmut einerseits die besondere Betroffenheit der Kinder von Armut. Andererseits ist die durchschnittliche Zahl der Kinder pro Familie seit langem rückläufig und so wird mit Kinderarmut auch die mangelnde Reproduktionsrate verknüpft. Mögliche Zusammenhänge beider Entwicklungen anhand einer Auswertung der aktuellen Literatur herauszuarbeiten, soll Gegenstand dieses Beitrags sein. Bereits 1996 stellte eine Studie aus dem Bundesinstitut für Bevölkerungsentwicklung, die Daten einer europaweit durchgeführten Erhebung zu Fertilität und Familien auswertete, schon im Titel einen Zusammenhang zwischen Familieneinkommen, Kinderkosten und generativen Verhaltensentscheidungen her3. Ziel der Auswertung war u.a. zu prüfen, ob und inwieweit ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Familieneinkommen einerseits und der Selbsteinschätzung der finanziellen Lage andererseits sowie dem Kinderwunsch und der Zahl der gewünschten Kinder bestehe. Abgesehen von den Ergebnissen und den Schlüssen, die daraus gezogen werden, stellt sich hier die Grundfrage danach, inwieweit sich in der Tat ein Zusammenhang zwischen Kinderarmut und generativen Entscheidungen herstellen lässt. Dazu ist es notwendig, zunächst den Stand der Forschung zu beiden Aspekten in einem kurzen Überblick darzulegen.4

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3

4

Als solche werden in der Statistik gemeinhin Familien mit drei oder mehr Kindern betrachtet. Zur historischen Vielfalt und Verbreitung von Kinderreichtum siehe auch Bernd Eggen/Marina Rupp: »Historische und moderne Rahmenbedingungen«, in: dies. (Hg.), Kinderreiche Familien, Wiesbaden 2006, S. 21-48. Vgl. Juliane Roloff: Familieneinkommen, Kinderkosten und deren Einfluß auf generative Verhaltensentscheidungen. Familienbildung und Kinderwunsch in Deutschland, Wiesbaden 1996; Ende der 80er Jahre wurde von der Arbeitsgruppe für Bevölkerungsfragen der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UN/ECE) ein »Fertility and Family Survey« (FFS) in allen ECE-Ländern angeregt. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsentwicklung bereitete diese Erhebung vor und führte sie 1992 zusammen mit dem EMNID-Institut durch. Es wird im Rahmen dieses Beitrags kaum möglich sein, den Forschungsstand und die Fakten zum Thema Kinderarmut auch nur annähernd repräsentativ darzulegen. Es muss hier genügen, auf die wichtigsten Erkenntnisse zu verweisen.

132

Kinderarmut – neue Perspektiven

Kinderarmut im doppelten Sinn – Armut von Kindern und Familien Der Begriff Kinderarmut wird meist in der Bedeutung »Armut von Kindern« gebraucht. Während Sabine Walper noch 1997 beklagt, dass die Forschung zu Kinderarmut in Deutschland im Vergleich zu derjenigen in anderen Ländern weit hinterherhinkt, sowohl was die Wahrnehmung des Problems als auch die Differenzierung der Forschungsansätze anbelangt, so konstatiert Margherita Zander 2005 mittlerweile einen Boom von Veröffentlichungen5. Auch die Sozialberichterstattung über Kinder hat in dieser Entwicklung gleichgezogen. So trägt beispielsweise auch der letzte Armutsbericht der Bundesregierung der besonderen Armutsbetroffenheit von Kindern Rechnung6. Die Bandbreite der Veröffentlichungen reicht dabei von den eher sozialpolitisch orientierten Veröffentlichungen aus der Perspektive der Wohlfahrtsstaatsforschung7 über vergleichende Berichte im Auftrag von OECD, UNICEF8 und

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Vgl. Sabine Walper: »Wenn Kinder arm sind - Familienarmut und ihre Betroffenen«, in: Lothar Böhnisch/Karl Lenz (Hg.), Familien. Eine interdisziplinäre Einführung, Weinheim/München 1997, S. 265-281 und Margherita Zander (Hg.): Kinderarmut. Einführendes Handbuch für Forschung und soziale Praxis, Wiesbaden 2005. Vgl. Bundesregierung (Hg.): Lebenslagen in Deutschland - Der 3. Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin 2008. Joos erinnert allerdings daran, dass in der gängigen Sozialberichterstattung teilweise unreflektiert Vorstellungen von guter Kindheit und daraus abgeleiteten Ideen für eine Kinderpolitik verbreitet sind (vgl. Magdalena Joos: »Kinderbilder und politische Leitideen in der Sozialberichterstattung«, in: Hans Rudolf Leu (Hg.), Sozialberichterstattung zu Lebenslagen von Kindern, Opladen 2002, S. 35-66). Vgl. z.B. Walter Bien/Alois Weidacher (Hg.): Leben neben der Wohlstandsgesellschaft. Familien in prekären Lebenslagen (Schriften des Deutschen Jugendinstituts: Familiensurvey), Wiesbaden 2004; Renate Kränzl-Nagl/Johanna Mierendorff/Thomas Olk (Hg.): Kindheit im Wohlfahrtsstaat. Gesellschaftliche und politische Herausforderungen, Frankfurt/M./New York 2003; Christoph Butterwegge (Hg.): Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel, Wiesbaden 2003; Magdalena Joos: Die soziale Lage der Kinder. Sozialberichterstattung über die Lebensverhältnisse von Kindern in Deutschland, Weinheim/München 2001. Vgl. z.B. Hans Bertram: Zur Lage der Kinder in Deutschland. Politik für Kinder als Zukunftsgestaltung, Florence 2007; Jonathan Bradshaw/Petra Hoelscher/Dominic Richardson: Comparing Child Well-Being in OECD Countries: Concepts and Methods, Florence 2006; Miles Corak/Michael

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Barbara Grabmann ähnlichen Organisationen bis hin zur Forschung über Folgen von Kinderarmut9. Viele dieser Arbeiten greifen in Anlehnung an die schon früh erheblich weitergehende Forschung, beispielsweise in den USA, kontextuelle Faktoren aus der Sozialisationsforschung auf und legen einen inzwischen weit über bloße Einkommensarmut hinausgehenden Armutsbegriff zugrunde. Dieser erweiterte Armutsbegriff berücksichtigt auch, dass Armut in den Industrieländern in der Regel nicht absolute Armut im Sinne existentieller Armut meint, sondern relative Armut. Die Messung von Kinderarmut über das verfügbare Einkommen bzw. den Bezug von staatlichen Transferzahlungen ist dabei Ausgangspunkt beinahe sämtlicher Betrachtungen von Kinderarmut10. Als armutsgefährdet gilt nach gängiger Betrachtungsweise, wer weniger als 60% bzw. als arm, wer weniger als 50% des Medians vom jeweiligen gewichteten Nettoäquivalenzeinkommen zur Verfügung hat11. Fertig/Markus Tamm: A portrait of child poverty in Germany, Florence 2005. Auch Bradshaw/Hoelscher/Richardson verwenden einen erweiterten Wohlfahrtsbegriff, der in den jeweils noch weiter unterteilten Dimensionen materiellen Wohlergehens, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Beziehungen, subjektiver Einschätzung des Wohlergehens, Verhalten und Lebensstil gefasst wird. Bertram hingegen fordert angesichts einer fragmentierten Kindheit v.a. – in der Tradition der sozialökologischen Forschung Bronfenbrenners –, dass die Verantwortung für verlässliche Lebensumwelten für die Kinder nicht nur Sache der Eltern, sondern v.a. auch der Kommunen, der Länder und des Bundes sein müssten. 9 Vgl. S. Walper: Wenn Kinder arm sind; Andreas Klocke: »Aufwachsen in Armut. Auswirkungen und Bewältigungsformen der Armut im Kindesund Jugendalter«, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 16 (1996), S. 390-409; Margherita Zander: »Kindliche Bewältigungsstrategien von Armut im Grundschulalter - Ein Forschungsbericht«, in: dies. (Hg.), Kinderarmut. Einführendes Handbuch für Forschung und soziale Praxis, Wiesbaden 2005, S. 110-141. 10 Neben anderen verweist beispielsweise Butterwegge darauf, dass der Ressourcenansatz der Armutsmessung bei weitem nicht ausreichend sei, weil unter anderem außer Acht bleibe, wie viel Geld beim Kind ankomme (vgl. Christoph Butterwegge/Michael Klundt/Matthias Belke-Zeng: Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland, 2., erweiterte und aktualisierte Aufl., Wiesbaden 2008, S. 127). Eine Umrechnung auf das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen berücksichtigt dies aber durchaus. Der Lebenslagenansatz ist eine weitaus geeignetere Herangehensweise an die Betrachtung von Armut. Dennoch ist die Verfügbarkeit monetärer Ressourcen ein notwendiger Ausgangspunkt in der Darstellung der Armutsbetroffenheit von Familien und Kindern. 11 Die Setzung von Armutsgrenzen ist dabei gerade im Verhältnis zu absoluter Armut auch sozialpolitisch und ethisch nicht ganz unproblema-

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Kinderarmut – neue Perspektiven Der Armutsbericht der Bundesregierung weist dabei für das Einkommensarmutsrisiko folgende Kennzahlen aus: Tabelle 1: Einkommensarmutsrisiko in Abhängigkeit von Alter und Familienform Indikator

1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005

Bis 15 Jahre

16% 16% 18%

20% 22% 23% 25%

26%

16-24 Jahre

18%

23%

28%

16% 20%

22%

24%

26%

Haushalte mit vom Einkommen der Eltern abhängigen Kindern Alleinerziehende 36% 35% 36%

37% 39% 36% 37%

36%

2 Erwachsene mit Kind(ern)

13%

19%

10%

19% 12%

14%

16%

18%

Quelle: SOEP in Armutsbericht der Bundesregierung 2008, Tabellenanhang12

Auffallend ist dabei insbesondere der dramatische Anstieg der Armutsgefährdung bei Kindern und Jugendlichen von 16% bzw. 18% auf 26% bzw. 28% innerhalb von nur 8 Jahren, sowie der hohe Anteil der armutsgefährdeten Haushalte von Alleinerziehenden und der hohe Anstieg der Gefährdung bei den Familien insgesamt. Gerade nach der Jahrtausendwende nahm die Ungleichheit der Markteinkommen weiter zu, was zu einer weiteren Spreizung der Einkommen und einem neuerlichen Anstieg der Armutsquoten führte13.

tisch, wie die Auseinandersetzung bei Butterwegge zeigt (vgl. ebd., S. 172ff.). Aus soziologischer Sicht diskutiert Ilona Ostner die Implikationen der Armutsdefinition in Bezug auf Kinderarmut (vgl. Ilona Ostner: »Kinderarmut - eine aktuelle Debatte soziologisch betrachtet«, in: R. Kränzl-Nagl/J. Mierendorff/T. Olk (Hg.), Kindheit im Wohlfahrtsstaat, S. 299-329). 12 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung; Zu einer vergleichenden Übersicht der Datenquellen zur Bestimmung der Armutsquoten bei SOEP (Sozioökonomisches Panel), EVS (Einkommens- und Verbrauchsstichprobe), Mikrozensus und EU-SILC vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Dossier Armutsrisiken von Kindern und Jugendlichen, Berlin 2008, S. 10. 13 Vgl. Peter Krause/Tanja Zähle: »Einkommen und Armut bei Haushalten mit Kindern«, in: Zeitschrift für Familienforschung 17 (2005), S. 189207.

135

Barbara Grabmann Betrachtet man die Zahlen differenzierter in Hinblick auf Familienformen und nach Bezug staatlicher Transferleistungen so ergibt sich folgendes Bild: Tabelle 2: Armutsgefährdungsquote ausgewählter Familienformen Familienform

Armutsgefährdungsquote in %

Familien

11,3

Alleinerziehende

26,3

mit 1Kind

24,3

mit 2 Kindern

26,5

mit 3 und mehr Kindern

42,0

Zwei Erwachsene

9,4

mit 1 Kind

7,9

mit 2 Kindern

9,1

mit 3 und mehr Kindern

13,0

Quelle: Zahlen Statistisches Bundesamt14, eigene Darstellung. Erwachsene: Personen ab 18 Jahren, ohne 18-24-Jährige, die nicht erwerbstätig sind und mit mindestens einem Elternteil zusammenleben; Kinder: Kinder unter 18 Jahren.

Auffällig sind die enorm hohe Armutsgefährdungsquote von Alleinerziehenden sowie die erhöhte Quote bei den Normalfamilien mit 3 und mehr Kindern. Auch regional unterliegen die Armutsquoten erheblichen Abweichungen. So reicht die Armutsrisikoquote bei Kindern von 11,0% in Baden-Württemberg bis zu 30,0% in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt15, wobei generell die Quoten in den Neuen Bundesländern, mit Ausnahme Bremens, deutlich über denen der Alten liegen und auch die anderen Stadtstaaten deutlich schlechter liegen als die Flächenstaaten. Es ist analog zum generellen Wohlstandsgefälle der Bundes-

14 Statistisches Bundesamt Deutschland: Familienland Deutschland. Begleitmaterial zur Pressekonferenz, Wiesbaden Juli 2008, S. 31. 15 Gemessen am Bundesmedianeinkommen, Zahlen des Mikrozensus, zitiert nach Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Dossier Armutsrisiken von Kindern und Jugendlichen, S. 10.

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Kinderarmut – neue Perspektiven republik ein Nord-Süd-Gefälle zu verzeichnen16. Die Situation hat sich insbesondere in den neuen Ländern spürbar verschlechtert: Es leben dort 2003 jedes vierte Kind oder Jugendlicher unter der Armutsgrenze und jedes dritte im Niedrigeinkommensbereich.17 Ein weiteres Novum der Entwicklung in den letzten Jahren ist die zunehmende Verzeitlichung oder Dynamisierung von Armut. Es ist zwar einerseits eine neue Chronifizierung von Armut zu verzeichnen, gleichzeitig lässt sich andererseits beobachten, dass gerade Familien oft nicht dauerhaft von Armut betroffen sind, sondern zwischen prekärem Wohlstand und Armut pendeln18. Peter Krause und Tanja Zähle stellen anhand einer Auswertung des SOEP fest: »Deutlich wird aber auch, dass Kinder nicht nur häufiger von Armut betroffen sind als der Rest der Bevölkerung, sondern dass zusätzlich Armut vor allem für 0-10-jährige Kinder häufig einen dauerhaften Zustand darstellt [...]. Zwar gleicht sich das Ausmaß dauerhafter Armut mit den Jahren an, bleibt aber dennoch mit 5,6% dauerhafter Armut in allen sechs Jahren fast doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung. Auch bei den 11- bis 20-jährigen liegt der Anteil der in sechs Jahren mindestens einmalig Armen mit fast 35% deutlich oberhalb des Bevölkerungsdurchschnitts von 13,6%. Im Vergleich der beiden Altersgruppen fällt weiter auf, dass die Fluktuation bei den 11-20jährigen etwas stärker ist als bei den jüngeren Kindern, diese jedoch die hö-

16 Vgl. H. Bertram: Zur Lage der Kinder in Deutschland, S. 29; möglicherweise kommt es hier allerdings zu Verzerrungen durch eben dieses je Region unterschiedliche Wohlstandsniveau, d.h. mit Bezug auf den Bundesdurchschnitt besteht in Regionen mit hohem Einkommensniveau die Gefahr, Kinderarmut zu unterschätzen, bzw. in ärmeren Regionen, sie zu unterschätzen. Abgesehen davon gibt es aber auch ein deutliches Gefälle in Hinblick auf Arbeitslosigkeit. Das bedeutet: »Das Risiko in einem Haushalt zu leben, in dem weder Vater noch Mutter Arbeit haben, ist in Bremen ungefähr viermal so hoch wie in Bayern. Der Zusammenhang zwischen dem Risiko, in einem Haushalt mit arbeitslosen Eltern zu leben und unter der relativen Armutsgrenze zu leben, ist auf der Basis dieser Daten gut nachzuvollziehen« (ebd., S. 33). 17 Vgl. P. Krause/T. Zähle: Einkommen und Armut bei Haushalten mit Kindern, S. 200. 18 Dieser Befund lässt sich zwar teilweise damit erklären, dass es sich bei den Grenzen zwischen prekärem Wohlstand, Armutsgefährdung und Armut um Setzungen handelt und diese Schwankungen somit teilweise rein statistische Phänomene sind. Dennoch lässt sich bei Verwendung anderer Messgrößen als dem Nettoäquivalenzeinkommen, beispielsweise die subjektive Einschätzung der Lage durch die Betroffenen und das »Zurechtkommen mit dem Einkommen«, empirisch nachweisen, dass diese Schwankungen doch erheblich und folgenreich sind.

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Barbara Grabmann heren Quoten bei den dauerhaft Armen stellen. Des Weiteren ist der Anstieg mindestens einmaliger Armutsbetroffenheit mit Ausdehnung des Beobachtungszeitraums bei Kindern beider Altersklassen stärker als in der Gesamtbevölkerung.«19

Das Armutsrisiko bei Kindern steigt darüber hinaus mit dem Alter der Kinder. Während Kinder unter 6 Jahren mit 14,4% noch am geringsten betroffen sind, steigt die Quote bei den 6- bis 15jährigen auf 16,4%. Die höchste Quote weisen mit 23,9% die Kinder zwischen 15 und 18 Jahren auf. Ein genaueres Bild der Situation liefern Ansätze, die Armut über die bloße Einkommensarmut hinaus kontextualisieren, wie etwa der Lebenslagenansatz20. So haben sowohl EU – »In der EU

19 P. Krause/T. Zähle: Einkommen und Armut bei Haushalten mit Kindern, S. 201f., wobei Krause und Zähle anhand einer sechsstufigen Skala die Dauerhaftigkeit von Armut unterscheiden: 1. Nie arm: Personen, die innerhalb der Profilperiode nie arm sind. 2. Kurzzeit arm: Personen, die genau 1 x arm sind. 3. Pendelnd: Personen mit mehrmaligen, stets einjährigen Armutserfahrungen. 4. Wiederkehrend arm: mehrmalige Armutserfahrungen mit Unterbrechungen. 5. Dauerhaft arm: Armut in vier oder drei aufeinander folgenden Jahren. 6. Langzeit arm: Personen, die in mindestens 5 Jahren arm sind. 20 Sabine Walper erläutert dazu: »Vier Entwicklungen sind in diesem Forschungsfeld charakteristisch [...]: (1) Konzeptualisierungen von Armut sind zunehmen komplexer geworden, wobei Armut weder als eindimensionales Phänomen behandelt wird noch mit niedrigem sozioökonomischem Status gleichgesetzt ist. (2) Es geht nicht mehr nur primär darum, die Konsequenzen von Armut zu beschreiben, sondern die Prozesse zu analysieren, die hierfür ausschlaggebend sind. (3) Ökologische Ansätze finden zunehmend Berücksichtigung, die den Blick über den innerfamiliären Kontext hinaus auf kontextuelle Einflüsse von Schulen, Nachbarschaften und Gemeinden lenken. (4) Der Bereich untersuchter Konsequenzen seitens der Kinder hat sich ausgeweitet, so daß neben Risiken für die kognitive und intellektuelle Entwicklung zunehmend auch Belastungen der sozio-emotionalen Entwicklung und der körperlichen wie auch seelischen Gesundheit aufgezeigt werden« (S. Walper: Wenn Kinder arm sind, S. 266f.). Walper verweist auch auf eine kindspezifische Ausformulierung des Lebenslagenkonzepts, die sich inzwischen in der Sozialberichterstattung niederschlägt (vgl. dies.: »Sozialisation in Armut«, in: dies./Klaus Hurrelmann/Matthias Grundmann (Hg.), Handbuch Sozialisationsforschung, 7. überarbeitete Aufl., Weinheim/Basel 2008, S. 203-216). Eine ausführliche und anhand vieler Daten aktuelle Beschreibung der sozialen Situation von Kindern nach dem Lebenslagenan-

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Kinderarmut – neue Perspektiven gilt als arm, wer über so geringe materielle, kulturelle und soziale Mittel verfügt, dass eine Lebensweise, die im jeweiligen Mitgliedsland als Minimum hinnehmbar wäre, nicht möglich ist.«21 – als auch UNICEF ihren Armutsbegriff dem angepasst. UNICEF unterscheidet seit 2007 folgende Dimensionen von Armut: materielle Situation, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Familie und Umfeld, Verhalten und Risiken sowie subjektives Wohlbefinden. Die Verwendung dieses weiteren Armutsbegriffs verdeutlicht umso mehr, dass Kinderarmut nicht mit Familienarmut gleichgesetzt werden darf22. Wenngleich Eltern sich vielfach bemühen, Einschränkungen zunächst von ihren Kindern fernzuhalten, wird dies mit zunehmender Knappheit kaum mehr möglich. Ökonomische Restriktionen treffen Kinder v.a., indem sie »bestimmen, in welchem Ausmaß sie an Aktivitäten, Bildungsmöglichkeiten und Aspekten der Jugendkultur teilhaben können. [...] Als belastend werden seitens der Schulkinder und Jugendlichen auch Einschränkungen bei der Kleidung erlebt [...], zumal die Kleidung zunehmend zur prestigehaltigen Symbolik der Jugendkultur avanciert.« 23

Die befürchtete Stigmatisierung erfolgt allerdings weniger über die Freundesgruppe, sondern wird eher über gesellschaftliche Wertemuster und Zuschreibungen verinnerlicht.24 Die langfristigen Folgen einer »Sozialisation durch Mangel«25 deuten auf eine Vielzahl möglicher Folgen hin: erhebliche Beeinträchtigungen der psychosozialen Gesundheit, Internalisierung ungünstiger Lebensstile, mangelnde Lern- und Regenerationsmöglichkeiten durch Wohnraumknappheit und Mangel an Infrastruktur im Wohnviertel. Die Belastung der Familien, z.B. durch dauerhafte Arbeitslo-

21 22

23 24

25

satz findet sich bei C. Butterwegge/M. Klundt/M. Belke-Zeng: Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Dossier Armutsrisiken von Kindern und Jugendlichen, S. 2. Dies war über lange Zeit in der Sozialberichterstattung über Kinder und Jugendliche der Fall. Insbesondere kamen Kinder nicht selbst zu Wort (vgl. S. Walper: Wenn Kinder arm sind, S. 265). Ebd., S. 275. Vgl. A. Klocke: Aufwachsen in Armut, S. 404; interessant ist in diesem Zusammenhang auch die normative Fundierung von Ungleichheit im Kindesalter als gute bzw. schlechte Kindheit, auf die Doris BühlerNiederberger hinweist (vgl. Doris Bühler-Niederberger: »Ungleiche Kindheiten - alte und neue Disparitäten«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2009), S. 3-8). A. Klocke: Aufwachsen in Armut.

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Barbara Grabmann sigkeit, zieht Umstellungen in der Haushaltsführung nach sich, möglicherweise Veränderungen im familialen Rollengefüge und im Familienklima, die sich ungünstig auf die Eltern- und ElternKind-Beziehungen und damit auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirken. Gravierend sind die Folgen bei den langfristigen Zukunftschancen, indem die Familienarmut Entscheidungen über die Bildungslaufbahn der Kinder mit beeinflusst: »Befunde zu den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit und Einkommensverlusten legen nahe, daß vor allem Eltern der niedrigen Bildungsschicht bei finanzieller Verknappung einen raschen Erwerbseintritt der Kinder wünschen und auf längere Ausbildungswege verzichten.«26

Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass auch Kinder in prekären Lagen in vielen Fällen in der Lage sind, die Benachteiligung durch verschiedene Bewältigungsstrategien zumindest teilweise auszugleichen.27

Kinderarmut im doppelten Sinn – Armut an Kindern Der Geburtenrückgang in den westlichen Industrienationen ist ein sattsam bekanntes Phänomen. An dieser Stelle sei daher nur auf die wichtigsten Eckdaten und grundlegenden Entwicklungen erinnert. Die zusammengefasste Geburtenziffer des Jahres 2008 lag bei durchschnittlich 1,38 Kindern je Frau28. Damit ist der vorläufige Endpunkt einer Entwicklung erreicht, die sich über das gesamte 20. Jahrhundert erstreckt und seit einigen Jahren auf gleich bleibendem Niveau stagniert, wie die folgende Grafik zeigt:

26 S. Walper: Wenn Kinder arm sind, S. 275. 27 Vgl. M. Zander: Kindliche Bewältigungsstrategien von Armut im Grundschulalter; Merten führt eine Reihe protektiver Faktoren an, die aus personalen und sozialen Ressourcen schöpfen, wie eben auch stabile emotionale Familienbeziehungen und ein offenes Erziehungsklima (vgl. Roland Merten: »Psychosoziale Folgen von Armut im Kindes- und Jugendalter«, in: Christoph Butterwegge/Michael Klundt (Hg.), Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel, Opladen 2002, S. 137-152). 28 Vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland: Geburtenentwicklung, http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/ Content/Statistiken/Bevoelkerung/AktuellGeburtenentwicklung,templa teId=renderPrint.psml, am 6.12.2009.

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Kinderarmut – neue Perspektiven Grafik 1

Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland: Geburtenentwicklung 2009

Dazu gab es eine deutliche biografische Verschiebung von Elternschaft. »Die meisten Kinder werden heute von Frauen im Alter zwischen 26 und 31 Jahren geboren. [...] Die Phase der Elternschaft beginnt aber nicht nur später; sie nimmt im Lebensablauf auch weniger Zeit in Anspruch, denn im häufigsten Fall ist das zweite Kind, das im Zweijahresabstand dem ersten folgt, auch das letzte.«29

Diese wenigen Kennzahlen lassen bereits das Ausmaß des Geburtenrückgangs erkennen. Eine weitere Kenngröße – die Nettoreproduktionsziffer30 –, die zum Erhalt des Status Quo mindestens bei 1,0 liegen müsste und derzeit ungefähr bei 0,6 liegt, zeigt, dass auch für die Zukunft bei der derzeitigen Stagnation der zusammengefassten Geburtenziffern keine grundlegende Änderung zu erwarten ist. Für die Betrachtung hier ist aber v.a. interessant, wie sich die Geburtenziffern in Zusammenhang mit Familienformen entwickelt haben. Langfristige Aussagen sind nur auf der Grundlage der Kohortendaten möglich. So lag zum Beispiel in Deutschland der Anteil von Frauen, die drei oder mehr Kinder

29 Günter Burkart: Familiensoziologie, Konstanz 2008, S. 218. 30 Die Anzahl der weiblichen Geborenen pro Frau.

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Barbara Grabmann bekamen, bei den Frauen der Geburtskohorte von 1940 noch bei knapp 30%, dreißig Jahre später bei den Frauen der Geburtskohorte von 1970 nur noch bei 15%. Der Anteil der Frauen mit zwei Kindern lag immer relativ stabil zwischen 30 und 35%.31 Der Rückgang bei den Frauen, die zwischen 1930 und 1950 geboren wurden, kann dabei hauptsächlich auf den Rückgang von Familien mit drei und mehr Kindern und eine Zunahme der Kinderlosigkeit zurückgeführt werden.32 Daneben gibt es gravierende Unterschiede zwischen West und Ost: So haben fast 80% aller Mütter in den alten Bundesländern zwei Kinder, 50% dieser Frauen bekommen ihr zweites Kind, bevor das erste Kind fünf Jahre alt ist. In Ostdeutschland trifft dies nur bei 25% der Frauen mit einem Kind zu. Sie bekommen im Durchschnitt ihr zweites Kind mit einem Abstand von 6 Jahren. Nur etwa ein Drittel der Mütter mit zwei Kindern bekommt noch ein drittes Kind. In Ostdeutschland haben 88% der Frauen mindestens ein Kind, in Westdeutschland nur 70%. Das heißt, im Unterschied zum Westen, wo die Entscheidung eher zwischen keinem oder zwei Kindern zu fallen scheint, bekommen Frauen im Osten eher nur ein Kind, dafür aber bekommen auch mehr Frauen dieses eine Kind.33 Zudem zeichnet sich ein Zusammenhang zwischen erreichtem Bildungsabschluss und Kinderzahl ab. So zeigen Analysen des SOEP, »dass Frauen ohne beruflichen Abschluss am häufigsten drei und mehr Kinder haben. [...] Die Frauen der Kohorte 1950-59 mit Hochschulabschluss haben wiederum relativ häufig kein Kind oder aber zwei und mehr Kinder, während die Ein-Kind-Familie eine vergleichsweise geringe Rolle spielt. Hier zeigt sich eine bildungsspezifische Polarisierung der Kinderzahl.«34

Die Gründe für die geschilderten Entwicklungen sind vielfältig. Die Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre, deren Nutznießerinnen in hohem Maße die Frauen waren, hat zu einer

31 Vgl. G. Burkart: Familiensoziologie, S. 57f. 32 Vgl. Johannes Huinink/Dirk Konietzka: Familiensoziologie. Eine Einführung, Frankfurt/M./New York 2007, S. 97. 33 Vgl. Michaela Kreyenfeld/Johannes Huinink: »Der Übergang zum ersten und zweiten Kind – Ein Vergleich zwischen Familiensurvey und Mikrozensus«, in: Walter Bien/Jan H. Marbach (Hg.), Partnerschaft und Familiengründung. Ergebnisse der dritten Welle des Familien-Survey, Opladen 2003, S. 43-64. 34 J. Huinink/D. Konietzka: Familiensoziologie, S. 176.

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Kinderarmut – neue Perspektiven Verlängerung des Bildungsmoratoriums35 und der Postadoleszenz geführt, die Individualisierung und der damit einhergehende Wertewandel36 zu einer Enttabuisierung nichtehelicher Lebensgemeinschaften und Scheidungen. Mit diesem Wandel der Lebensformen ist darüber hinaus auch eine Sequentialisierung von Lebensformen innerhalb der individuellen Biografie möglich geworden. Daneben wirken sich tatsächliche und antizipierte Vereinbarkeitsprobleme von Beruf und Familie aufgrund vergleichsweise schlecht ausgebauter institutioneller Kinderbetreuung aus37. Ent-

35 Im Zusammenhang mit Bildung ist es allerdings immer noch schwierig, eindeutige Zusammenhänge nachzuweisen, wie Huinink/Konietzka hier ausführen: »Den traditionellen Zusammenhang einer mit den ökonomischen Ressourcen von Männern steigenden Chance, Familie und Kinder zu haben, stellen überdies die starken ökonomisch-materiellen Wohlfahrtseinbußen, die durch die geringe Erwerbsbeteiligung von Müttern nach der Familiengründung entstehen, in Frage. Noch dominiert jedoch in Westdeutschland für die Männer ein positiver Zusammenhang zwischen Bildungs- und ökonomischen Ressourcen sowie Familiengründung und -erweiterung. Der Einfluss des Bildungsniveaus von Frauen auf Kinderlosigkeit bzw. Kinderzahl lässt sich in Deutschland empirisch schwer nachweisen« (ebd., S. 174). Dennoch deutet das sogenannte »demografisch-ökonomische Paradoxon« darauf hin, dass es einen gewissen Zusammenhang gibt: Empirisch zeigt sich, dass je höher der Stand der sozioökonomischen Entwicklung eines Landes, desto niedriger die Geburtenrate ist. Die Vermutung ist, dass ein generell höheres Einkommensniveau die Opportunitätskosten von Kindern erhöht, wenn das potentiell entgangene Einkommen der Mütter zugrunde gelegt wird (vgl. Rainer Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung, 5., durchgesehene Aufl., Wiesbaden 2008, S. 45). 36 Wobei daran auch berechtigte Zweifel anzumelden sind. »Sowohl die Frage, ob der Wertewandel eine unabhängige Dimension des Modernisierungsprozesses in den Nachkriegsjahrzehnten darstellt, als auch die Frage, ob, wann und wie individuelle Wertorientierungen die Entscheidungen über Fertilität, Lebensformen und Familie beeinflussen, ist empirisch nicht hinreichend beantwortet« (J. Huinink/D. Konietzka: Familiensoziologie, S. 116). 37 In Bezug auf das deutsche Wohlfahrtsstaatsmodell heißt es dazu: »Dieses ist durch eine einseitige Förderung des Familienernährer-Modells gekennzeichnet, was zu schlechten Bedingungen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter und zu der ökonomischen Verantwortung primär der Väter für die Haushaltsmitglieder spätestens nach der Familiengründung führt. Es kann plausibel argumentiert werden, dass diese Konstellation eine Verschiebung von Entscheidungen über die Familiengründung im Lebenslauf und letztlich ein hohes Ausmaß an Kinderlosig-

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Barbara Grabmann scheidende Auswirkungen haben aber der Aufschub der Familiengründung, die damit im Vergleich zu den früheren Kohorten einhergehende späte Mutterschaft38 und die Verknüpfung mit bestimmten biografischen Entscheidungen: »Die Entscheidung zur Elternschaft ist immer an einen bestimmten Zeitpunkt in der Biografie gebunden. Sie wäre dann rational, wenn der günstigste Zeitpunkt des Übergangs abgepasst werden könnte, der wiederum auf der Grundlage von Abwägungen über biografisch erwünschte Sequenzen von Ausbildungs-, Berufs- und Familienphasen festzulegen wäre. Das ist nicht einfach. Und selbst wenn man einen solchen optimalen Zeitpunkt kalkulieren könnte, so müsste immer noch ein Partner gefunden werden, dessen Planung mit der eigenen synchronisiert werden könnte. Dieses biografische Synchronisationsproblem der Abstimmung zweier individueller Lebensentwürfe stellt sich heute besonders im Akademikermilieu, in dem beide Partner ihre Berufskarrieren zum Teil unabhängig voneinander verfolgen: Dabei ist oft nur der Aufschub der Entscheidungsfindung möglich.«39

keit sowie eine niedrige Geburtenrate begünstigt« (ebd., S. 122). Vgl. auch genauer zu den steuer- und transferpolitischen Rahmenbedingungen, die das Hausfrauenmodell ermöglichen und fördern, Michaela Kreyenfeld/Esther Geisler: »Müttererwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland«, in: Zeitschrift für Familienforschung 18 (2006), S. 333-360. Zu den Vereinbarkeitsproblemen im Einzelnen vgl. Johannes Huinink: »Entscheidungs- und Vereinbarkeitsprobleme bei der Wahl familialer Lebensformen«, in: ders./Klaus Peter Strohmeier/Michael Wagner (Hg.), Solidarität in Partnerschaft und Familie. Zum Stand familiensoziologischer Theoriebildung, Würzburg 2001, S. 145-165. 38 Vgl. die Studie von Ingrid Herlyn und Dorothea Krüger zu den Typen später Mütter. Mutterschaft scheint allerdings dennoch nach wie vor eine »starke selbstverständlich anerkannte Norm« darzustellen (vgl. Ingrid Herlyn/Dorothea Krüger (Hg.): Späte Mütter. Eine empirisch-biografische Untersuchung in West- und Ostdeutschland, Opladen 2003). Paradoxerweise führt gerade diese traditionale Norm möglicherweise auch zu Kinderlosigkeit, wie Corinna Onnen-Isemann nachweist: Der hohe Anspruch an diese Norm und die Erfüllung einer traditionellen Mutterschaft werden als nicht vereinbar mit dem Berufsleben gesehen und führen daher zu einem Verzicht auf Kinder (vgl. Corinna Onnen-Isemann: »Kinderlose Partnerschaften«, in: Walter Bien/Jan H. Marbach (Hg.), Partnerschaft und Familiengründung. Ergebnisse der dritten Welle des Familien-Survey, Opladen 2003, S. 95-137). Auch Rupp verweist auf die Antizipation möglicher Hürden und Hemmnisse, die zum Aufschub des Kinderwunsches und damit der Aufhebung führt (vgl. Marina Rupp: »Kinderlosigkeit in stabilen Ehen«, in: Zeitschrift für Familienforschung 17 (2005), S. 21-40). 39 G. Burkart: Familiensoziologie, S. 221. Eben dieser Aufschub führt aber auch oft zu Kinderlosigkeit: Die Entscheidung, Kinder zu haben, wird

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Kinderarmut – neue Perspektiven Neben der Beschränkung der Kinderzahl ist die in Deutschland schon lange vergleichsweise hohe Zahl der kinderlosen Frauen ein weiterer Einflussfaktor auf die Armut an Kindern. So werden geschätzte 30% der Frauen des Geburtsjahrgangs 1965 kinderlos bleiben40. Die Gründe für Kinderlosigkeit liegen dabei ähnlich, wie bei der Beschränkung der Kinderzahl. So scheinen sich drei für Frauen typische Biografiemuster herauszukristallisieren, nämlich frühe Mutterschaft und Existenz als Hausfrau und Mutter, späte Mutterschaft und Dasein als erwerbstätige Mutter, oder Kinderlosigkeit und Erwerbstätigkeit. Diese Muster hängen »stark mit dem Bildungsgrad beziehungsweise der Zugehörigkeit zu den sozialen Milieus zusammen. Die Bildungsexpansion der 1970er Jahre hat für Frauen aus der Mittelschicht den Besuch höherer Bildungsinstitutionen ebenso zur Selbstverständlichkeit gemacht wie den Verzicht auf frühe Elternschaft.«41

Diese Selbstverständlichkeiten weisen auf einen Wertewandel hin, der auch Kinderlosigkeit an sich betrifft. »Wenn Kinderlosigkeit nicht mehr in erster Linie als Problem oder als Defizit von Paaren und Individuen gesehen wird, sondern als eine Lebensweise, die von vielen Menschen bevorzugt wird, können wir von einer Kultur der Kinderlosigkeit sprechen.«42

jenseits der biologischen Schranke verschoben (vgl. C. Onnen-Isemann: Kinderlose Partnerschaften). 40 Entgegen der weitverbreiteten Annahme, verbreitete Kinderlosigkeit sei ein weitestgehend rezentes Phänomen, wenden Kreyenfeld und Konietzka ein: »Sicher ist, dass Kinderlosigkeit kein historisch neuartiges Phänomen ist. Auch in den beiden älteren hier betrachteten Kohorten blieben rund 15 Prozent der westdeutschen Frauen ohne Kinder. Berechnungen mit der Volkszählung 1970 zeigen zudem, dass die zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborenen Frauen in Deutschland zu 20 bis 30 Prozent kinderlos blieben« (M. Kreyenfeld/J. Huinink: Der Übergang zum ersten und zweiten Kind, S. 27). Möglicherweise hat der in früheren Jahrzehnten auch schon hohe Anteil der Kinderlosen auch damit zu tun, dass diese Frauen in der Regel früher Kinder bekommen haben, die späte Mutterschaft beim ersten Kind jenseits der 35 sehr ungewöhnlich war, daher eher missbilligt wurde und sich Frauen daher sehr viel früher in ihrer Biografie gegen Kinder entschieden haben? 41 G. Burkart: Familiensoziologie, S. 221. 42 Ebd., S. 256; vgl. zur zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz von Lebensformen ohne Kinder auch Thomas Meyer: Modernisierung der Pri-

145

Barbara Grabmann Das anhaltende Aufschieben oder anhaltende Ambivalenz führt möglicherweise dazu, dass Elternschaft sukzessive an Attraktivität verliert, auch weil man den gewohnten Lebensstil nicht mehr aufgeben will43. Das Zusammenwirken von hohen Anforderungen an jugendliche Selbstfindung und -problematisierung in Kombination mit hoher Unsicherheit hinsichtlich der Lebensplanung infolge einer verlängerten Postadoleszenz bewirkt eine Disposition zur Kinderlosigkeit, die durch die als schlecht wahrgenommenen strukturellen Voraussetzungen für Elternschaft aktiviert wird44. Dazu kommt die ungewollte Kinderlosigkeit, die geschätzt etwa jedes sechste Paar betrifft. Auch hier wirkt sich der aufgeschobene Kinderwunsch hin zur biologischen und sozial konstruierten Grenze möglicher Mutterschaft aus. Obgleich diese – wie oben bereits zitiert – nach wie vor eindeutig zum festen Bestand an Normen zu gehören scheint, weisen die Zahlen der »Brigitte-Studie« darauf hin, dass ein nicht unerheblicher Anteil junger Frauen angibt, nötigenfalls wegen der Partnerschaft, Freundschaften oder Beruf auf Kinder verzichten zu wollen45.

vatheit. Differenzierungs- und Individualisierungsprozesse des familialen Zusammenlebens, Opladen 1992. 43 Vgl. Rosemarie Nave-Herz: Kinderlose Ehen. Eine empirische Studie über die Lebenssituation kinderloser Ehepaare und die Gründe für ihre Kinderlosigkeit, Weinheim/München 1988. 44 Vgl. G. Burkart: Familiensoziologie, S. 259. 45 Vgl. Jutta Allmendinger/Christine Puschmann/Marcel Helbig: Frauen auf dem Sprung. Die Brigitte-Studie 2008. Tabellenband, Hamburg 2008. Der Verweis auf diese viel geschmähte Studie – die Autorin selbiger Studie verweist selbst in einem Zeitungsinterview darauf, dass so mancher Rezensent gerne »Igitte-Studie« gesagt hätte (vgl. Christian Füller/Jan Feddersen: Interview Jutta Allmendinger. »Wir haben Morgenröte gesehen … ich hoffe nur, dass kein Sonnenuntergang draus wird«, in: taz.de, 2009) – mag erstaunen, doch handelt es sich trotz der Auftraggeberschaft um eine seriös durchgeführte wissenschaftliche und höchst umfangreiche Studie. Befragt wurden Frauen, die zum Zeitpunkt der Erhebung im Herbst 2007 17-19 bzw. 27-29 Jahre alt waren. Insgesamt gaben 17% an, wegen des Partners auf Kinder gegebenenfalls verzichten zu wollen, wobei allerdings 69% der Befragten angaben, ihre gewünschte Haushaltskonstellation sei »Zusammenlebend mit Partner und Kind(ern)«.

146

Kinderarmut – neue Perspektiven

Doppelte Betroffenheit – Kinderreiche Familien und Ein-Eltern-Familien Kinderarmut als Armut an Kindern betrifft die gesamte deutsche Bevölkerung. Kinderarmut als Armut von Kindern46 betrifft vor allem auch besondere Familienformen – im besonderen Maße kinderreiche Familien und Ein-Eltern-Familien. Es deutet einiges darauf hin, dass Kinderreichtum oft auf einen traditionalen Hintergrund in Hinblick auf Einstellungen, aber auch das sozialräumliche Umfeld zurückzuführen ist. So schreiben Bernd Eggen und Marina Rupp: Es »scheinen einige Aspekte ihres Familienlebens nicht in das Konzept einer hoch differenzierten, individualisierten und mobilen Gesellschaft zu passen. [...] Hinsichtlich der tendenziell eher traditionalen Lebensweise stellt sich die Frage, inwieweit dies als konstruktive Strategie gesehen wird, mit der sich Eltern zumindest teilweise Marktzwängen widersetzen und eine eigene Realität leben, oder ob dies als nicht intendierte Konsequenz akzeptiert wird.«47

Große Familien kommen sowohl am oberen wie auch am unteren Ende der Einkommensskala überproportional häufig vor, wobei wohlhabende Familien mit mehreren Kindern v.a. in den alten Bundesländern zu finden sind. Laut Statistik nahm in der Bundesrepublik der Anteil von Haushalten mit drei oder mehr Kindern lange Zeit ab und stagniert seit 15 Jahren im Bundesdurchschnitt bei 12%48. Das Statistische Bundesamt weist für 2008 folgende Zahlen aus:

46 Wie in den vorhergehenden Abschnitten erläutert, umfasst Armut Deprivation auf unterschiedlichsten Ebenen. Dennoch soll im Folgenden ausschließlich die Einkommensarmut betrachtet werden, da sich die Auseinandersetzung über die Lage kinderreicher Familien und Ein-Eltern-Familien und die Ursachen bzw. Folgen der Verquickung von Kinderreichtum und Armut bzw. die den zugrunde liegenden sozialen Prozessen in weiten Teilen um ökonomische Argumente dreht. 47 B. Eggen/M. Rupp: Historische und moderne Rahmenbedingungen, S. 47. 48 Vgl. Marina Rupp/Kurt P. Bierschock: »Kinderreich und arm zugleich?«, in: Zeitschrift für Familienforschung 17 (2005), S. 153-166, hier: 154ff. und Tanja Mühling: »Lebenslagen von Niedrigeinkommenshaushalten – eine Analyse des NIEP«, in: Zeitschrift für Familienforschung 17 (2005), S. 167-188.

147

Barbara Grabmann Tabelle 3: Anzahl der Familien nach Familienform Familienform

Darunter

Familien

mit

...

Kind(ern)

unter

18 Jahren Zusam-

1

2

3

men Insgesamt (in 1000)

4 und mehr

8.410

4.424

3.072

728

186

6.132

2.863

2.497

615

158

694

474

176

35

9

1.584

1.087

400

78

20

davon: Ehepaare Lebensgemeinschaften Alleinerziehende

Quelle: Statistisches

Bundesamt49;

eigene Darstellung

Oder anders ausgedrückt: 18% der Kinder wachsen alleine auf, 52% mit einem, 21% mit zwei und 7% mit drei Geschwistern50. Kinderreiche Familien und insbesondere Ein-Eltern-Familien unterliegen dabei einem besonderen Armutsrisiko. Eine Übersicht zur Armutsrisikoquote nach Familientypus kommt zu folgenden Zahlen: Tabelle 4: Nettoäquivalenzeinkommen und Armutsrisikoquote nach Haushaltstyp Haushaltstyp 2005

Nettoäquivalenz-

Alleiner-

Paar mit

Paar mit

Paar mit 3 insgesamt

ziehende

einem

zwei Kin-

und mehr

Kind

dern

Kindern

13.245 €

18.225 €

16.785 €

14.997 €

16.556 €

24%

8%

9%

13%

11%

einkommen Armutsrisikoquote

Quelle: Eurostat 2008, EU-SILC

200651;

eigene Darstellung

49 Statistisches Bundesamt Deutschland: Statistisches Jahrbuch, Wiesbaden 2009, S. 47. 50 Vgl. Doris Bühler-Niederberger/Alexandra König: Children in Germany, http://www2.uni-wuppertal.de/FB3/paedagogik/sozialwissenschaften/ buehler/Germany_Report.pdf, am 8.12.2009, S. 4. 51 Zitiert nach Bundesregierung (Hg.): 3. Armuts- und Reichtumsbericht, S. 76.

148

Kinderarmut – neue Perspektiven Die besondere Armutsgefährdung von kinderreichen Familien und in noch weitaus größerem Ausmaß die Verbreitung niedriger Einkommen bei diesem Haushaltstyp sind auf eine Kulmination der Probleme zurückzuführen, die Familien insgesamt betreffen52. So führt der zunehmende Bedarf, der mit steigender Kinderzahl einhergeht, nicht notwendigerweise zu einer Anpassung der Ressourcen, woraus sich bereits relative Nachteile für die Mitglieder größerer Familien ergeben53. So nehmen kinderreiche Familien alle staatlichen Transferleistungen, die nach Bedürftigkeit und einkommensabhängig verteilt werden, stärker in Anspruch als alle anderen. Dennoch reichen diese Zahlungen bei weitem nicht aus, um die Defizite auszugleichen. Der Sprung vom zweiten zum dritten Kind fällt dabei besonders ins Gewicht, weil sich hier verstärkend auswirkt, dass die Erwerbsbeteiligung der Mütter auf niedrigem Niveau stagniert oder weiter zurückgeht, was zu einem weiteren Verlust oder Defizit bei den nötigen materiellen Ressourcen führt54. Problematisch ist dies v.a. insofern, als ein 52 Vgl. M. Rupp/K.P. Bierschock: Kinderreich und arm zugleich?. Nicht zu vernachlässigen ist hier wohl auch der bei kinderreichen Familien beträchtliche Anteil von nicht deutschen Familien. Er beträgt bei Familien mit drei Kindern 17%, bei vier Kindern schon 23% und bei fünf oder mehr Kindern 33% (Vgl. B. Eggen/M. Rupp: Historische und moderne Rahmenbedingungen, S. 52). Diese Bevölkerungsgruppe ist auch bei den niedrigen Einkommen überproportional vertreten. 53 Dies wird z.B. daran deutlich, dass Familien mit Kindern, die sich – gemessen am Nettoäquivalenzeinkommen im Durchschnitt – in einer relativ günstigen Einkommenssituation wiederzufinden scheinen, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen schon ganz anders zu beurteilen sind: »Deutlich sinkt das Pro-Kopf-Einkommen mit steigender Zahl der Kinder in der Familie. In Familien mit einem Kind kommen auf jedes Mitglied im Mittel bis zu 1360 €, in Familien mit drei und mehr Kindern liegt das durchschnittliche Einkommen bei verheirateten Eltern bei rund 1000 € und bei nicht ehelichen Eltern unter 900 €«. Dabei spielt auch noch das Alter der Kinder eine erhebliche Rolle. »Die Einkommen von jungen Familien sind besonders niedrig, also von Familien mit Kindern unter drei Jahren oder mit Müttern unter 35 Jahren. Doch oft sind die Pro-Kopf-Einkommen in späteren Familienphasen mit minderjährigen Kindern kaum höher« (Bernd Eggen: Ökonomische Situation der Familien in Deutschland und in seinen Ländern 2003. Expertise für den 7. Familienbericht, Stuttgart 2005, S. 3). 54 »Die Äquivalenzeinkommen verknappen sich demnach mit steigender Kinderzahl deutlich. Ganz gradlinig fällt dieser Trend in den alten Bundesländern aus. Sehr eindrucksvoll ist dabei die Differenz, die sich zwischen zwei und drei oder mehr Kindern ergibt. Sie zeigt an, dass tatsächlich mit dem dritten Kind ein qualitativer Sprung in der Deprivation

149

Barbara Grabmann »wohlfahrtsstaatlicher Kontext, welcher der Familie elementare Aufgaben der Versorgung und Absicherung der Familienmitglieder überträgt, aber keine institutionelle Unterstützung zur Lösung des Vereinbarkeitsproblems von Familie und Erwerbsarbeit leistet, das Armutsrisiko in Familien«55

verstärkt. So liegt der Anteil der Paare, bei denen die Mütter nicht erwerbstätig sind bei knapp 60%. Die folgende Grafik veranschaulicht die Erwerbsbeteiligung der Mütter in Abhängigkeit von der Kinderzahl: Grafik 2: Erwerbsbeteiligung der Mütter in Abhängigkeit von der Kinderzahl

Quelle: M. Rupp/K. P. Bierschock: Kinderreich und arm zugleich?, S. 157

einhergeht. [...] Mitglieder dieser Haushalte erhalten nicht nur häufiger Leistungen aus der Sozialhilfe, auch andere staatliche Transfers wie Kindergeld sind für Kinderreiche wichtige Einnahmequellen. Schließlich speisen sich ihre verfügbaren Einkommen zu einem relevanten Anteil aus Transferleistungen. Durch diese Zuwendungen sowie etwas geringere Steuerbelastung wird eine Umverteilung hergestellt, die dafür sorgt, dass die absoluten verfügbaren Haushalteinkommen der MehrkindFamilien am größten sind, wenngleich mit mäßigem Vorsprung vor den Zwei-Kind-Familien. Doch reicht dies nicht aus, um eine bedarfsorientierte Gleichstellung der Familien zu gewährleisten. Der Blick auf die Äquivalenzeinkommen zeigt nicht nur, dass große Familien relative Nachteile in Kauf nehmen müssen, er zeigt auch, dass jedes weitere Kind die verfügbaren Ressourcen schmälert« (M. Rupp/K.P. Bierschock: Kinderreich und arm zugleich?, S. 159ff.). 55 J. Huinink/D. Konietzka: Familiensoziologie, S. 171; zu den fatalen Folgen des Traditionalismus in Bezug auf Einstellungen zur mütterlichen Erwerbsarbeit vgl. auch H. Bertram: Zur Lage der Kinder in Deutschland, S. 3.

150

Kinderarmut – neue Perspektiven

Dabei zeigt sich, dass die Erwerbsbeteiligung tendenziell mit der Kinderzahl abnimmt, allerdings in geringem Ausmaß die Erwerbsbeteiligung auch mit steigender Kinderzahl neu aufgenommen wird, was auf die Knappheit der familiären Ressourcen hindeutet. Eine Übersicht über die Erwerbsbeteiligung in Abhängigkeit vom Alter der Kinder zeigt eine eindeutige Zunahme mit steigendem Alter der Kinder von 58,6% auf 82,3%.56 Bei den Ein-Eltern-Familien muss die Situation ebenfalls sehr differenziert betrachtet werden. So sind auch Alleinerziehende im Durchschnitt nicht generell von Armut betroffen. Andererseits wirken sich gerade bei den Alleinerziehenden die Faktoren, die auch Familien mit Kindern als Risikofaktoren betreffen, zugespitzt aus. Dies zeigt sich beispielsweise bei einem Vergleich der Armutsquoten von Paaren und Alleinerziehenden in Abhängigkeit vom Alter des jüngsten Kindes: Tabelle 5: Armutsrate 2003 bei Paaren und Alleinerziehenden nach dem Alter des jüngsten Kindes (in Prozent) Armutsrisiko in Prozent

Alter des

0-3

4-7

8-11

12-16

>16

jüngsten Kindes

Jahre

Jahre

Jahre

Jahre

Jahre

Alleinerziehende

62

56

44

38

22

Paare

20

14

10

13

7

Quelle: P. Krause/T. Zähle: Einkommen und Armut bei Haushalten mit Kindern; eigene Darstellung

Besonders alleinerziehende Frauen mit Kindern ausschließlich unter drei Jahren oder im Kindergartenalter sind von prekären Lagen betroffen, und auch mit schulpflichtigen Kindern bleibt das Risiko hoch. Ebenso deutlich wirkt sich das Alter der Mutter aus. Bei alleinerziehenden Frauen unter 35 ist das Armutsrisiko höher57. Die Dauer von Armutsphasen ist bei alleinerziehenden Frauen oft wesentlich länger als bei Paaren mit Kindern. Ähnlich

56 Vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland: Im Blickpunkt: Jugend und Familie in Europa, http://www.eds-destatis.de/de/publications/detail. php?th=3&k=1&dok=3200, am 9.12.2009, S. 48. 57 Hier kommt vermutlich der Faktor Bildung mit ins Spiel. Ältere Frauen mit Kindern unter 3 Jahren haben die Realisierung ihres Kinderwunsches oft wegen verlängerter Ausbildungszeiten in der Biografie weit hinausgeschoben, haben aber auf dem Arbeitsmarkt vergleichsweise bessere Chancen, ein ausreichendes Einkommen zu erzielen.

151

Barbara Grabmann – wenn auch wirtschaftlich meist weniger und weniger lang schwierig – stellt sich die Situation alleinerziehender Männer dar. Im Ost-West-Vergleich lässt sich feststellen, dass zwar auch dort junge Familien und alleinerziehende Frauen überdurchschnittlich oft in wirtschaftlich prekären Verhältnissen leben, aber doch deutlich seltener als in Westdeutschland, und gerade bei älteren allein erziehenden Frauen ist die Situation in Ostdeutschland günstiger58. Nichtsdestotrotz sind gerade Alleinerziehende generell auf den unteren Rängen der Wohlstandspositionen zu finden. So zeigt eine Übersicht, dass die zehn untersten Wohlstandspositionen von Ein-Eltern-Familien mit Kindern in unterschiedlicher Anzahl und unterschiedlichen Alters eingenommen werden59. Dreh- und Angelpunkt der Armutsbetroffenheit ist die Erwerbsbeteiligung der Mütter, da die Kopplung aus staatlichen Transferleistungen und Steuererleichterungen die finanziellen Nachteile von Familien mit Kindern in Deutschland nicht ausglei-

58 Vgl. B. Eggen: Ökonomische Situation der Familien in Deutschland, S. 5. Hier wirkt sich möglicherweise aus, dass das Alter bei der Geburt des ersten Kindes in Ostdeutschland lange Zeit deutlich niedriger war als im Westen und tendenziell immer noch ist, damit viele Frauen bis 35 bereits wieder ins Erwerbsleben zurückgekehrt sind und traditionell die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in weitaus höherem Maße als im Westen eine kulturelle Selbstverständlichkeit ist. Dies zeigt sich beispielsweise in der Zustimmung zur mütterlichen Erwerbstätigkeit bei Kindern unter drei Jahren. So geben die Werte einer Umfrage an, dass noch 2004 im Westen 62% der Befragten der Aussage zustimmen »Ein Kleinkind wird sicher darunter leiden, wenn seine Mutter berufstätig ist«, während dies nur bei 29% der Befragten im Osten Zustimmung findet (vgl. M. Kreyenfeld/E. Geisler: Müttererwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland, S. 339). Diese kulturelle Selbstverständlichkeit bzw. der Mangel daran schlägt sich auch in den tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten der außerfamilialen Kinderbetreuung von Kleinkindern nieder, die in den alten Bundesländern nachweislich deutlich schlechter sind (vgl. Johannes Huinink/Dirk Konietzka: »Lebensformen und Familiengründung. Nichteheliche Elternschaft in Ost- und Westdeutschland in den 1990er Jahren«, in: Walter Bien/Jan H. Marbach (Hg.), Partnerschaft und Familiengründung. Ergebnisse der dritten Welle des Familien-Survey, Opladen 2003, S. 65-93). Der niedrigeren Armutsquote im Osten widerspricht allerdings, »dass die Familien in den neuen Bundesländern in deutlich höherem absolutem Umfang durch Transferleistungen gestützt werden, was auf den größeren Anteil von Alleinerziehenden und die hohen Arbeitslosenquoten zurückgeführt werden kann« (M. Rupp/K.P. Bierschock: Kinderreich und arm zugleich?, S. 160). 59 Vgl. B. Eggen: Ökonomische Situation der Familien in Deutschland, S. 42.

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Kinderarmut – neue Perspektiven chen kann60. Es zeigt sich hier, dass gerade im schwedischen Modell, das vergleichsweise wenig transferlastig ist, die hohe Erwerbsbeteiligung der Mütter dazu führt, dass die Armutsquoten auch bei den Alleinerziehenden vergleichsweise gering sind. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich ein beträchtlicher Teil der kinderreichen Familien und der Ein-ElternFamilien in einer wirtschaftlich schwierigen Situation wiederfindet. Die unmittelbaren Ursachen dafür sind zwar vielfältig und bedingen sich zum Teil wechselseitig, dennoch sind sie hinreichend erforscht und bekannt. Trotzdem ist festzuhalten: »Nicht Kinder sind das Armutsrisiko. Nicht die Entscheidung für Kinder führt die Familie in eine wirtschaftlich schwierige Situation, sondern das Fehlen eines familiengemäßen Einkommens. Und das kann schon vor der Gründung einer Familie fehlen. Nur wer über kein bedarfsgerechtes Einkommen verfügt, lebt wirtschaftlich in schwierigen Verhältnissen. Und wenn das Einkommen der Familien besonders oft nicht bedarfsgerecht ist, dann sind Familien eben besonders häufig in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen anzutreffen. Das Ausbleiben eines familiengemäßen Einkommens kann verschiedene Gründe haben. Zu diesen gehören: Unzureichende Ausbildung der Eltern, Bedingungen des Arbeitsmarktes (z.B. Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, fehlende Flexibilität der Arbeitszeiten), Steuer- und Abgabenpolitik sowie Fehlen geeigneter Kinderbetreuungseinrichtungen.«61

Angesichts dieser Lage und dem inzwischen vielfach auch in den Medien zitierten »Armutsrisiko Kind«, insbesondere beim Sprung vom dritten zum dritten Kind, stellt sich die Frage: Wieso entscheiden sich Familien für ein drittes oder viertes oder gar fünftes Kind?

60 Sonja Dörfler und Benedikt Krenn zeigen in einer vergleichenden Studie zu den Kinderbeihilfepaketen in Deutschland, Österreich, Norwegen und Schweden, dass dies sehr wohl möglich wäre (vgl. Sonja Dörfler/Benedikt Krenn: Kinderbeihilfenpakete im internationalen Vergleich. Monetäre Transferleistungen und Steuersysteme im Bereich der Familienförderung in Österreich, Deutschland, Norwegen und Schweden, Wien 2005). Doch muss man dabei bedenken, dass Norwegen und Schweden aus historischen und kulturellen Gründen völlig anders geartete Wohlfahrtsstaaten sind. 61 B. Eggen: Ökonomische Situation der Familien in Deutschland, S. 17.

153

Barbara Grabmann

Kinderwunsch? – Erklärungsansätze Grundsätzlich stehen wir bei der Untersuchung des Kinderwunsches vor dem Problem, entweder den Kinderwunsch vor der Realisierung zu erheben, was über die tatsächliche Realisierung nur wenig Aufschluss gibt, aber möglicherweise zu validen Aussagen über die Motivation des Kinderwunsches führt, oder Eltern ex post über die Gründe der Realisierung des Kinderwunsches zu befragen, was in schlecht kalkulierbarem Ausmaß zu Rationalitätsfiktionen führt. Dennoch soll hier am Beispiel einiger Argumente aus verschiedenen Studien gezeigt werden, welche theoretischen Grundannahmen hinter den jeweiligen Erklärungsansätzen stecken und worin deren Probleme begründet sind. Allein die Frage nach Entscheidung suggeriert eine Freiwilligkeit der Wahl der Lebensform, die möglicherweise so gar nicht gegeben ist62. Hinweise auf die Unfreiwilligkeit selbst derart weitreichender Veränderungen im Familienstatus gibt der relativ hohe Anteil an ungeplanten Schwangerschaften, der nicht ganz leicht festzustellen ist.63 Auch ungeplante Mehrlingsgeburten, die aus einem geplanten zweiten ein ungeplantes zweites und drittes Kind machen, dürften schwer zu erfassen sein.64 Eine Vielzahl von Studien vor allem aus dem Statistischen Bundesamt, den Statistischen Landesämtern und anderen an demografischen Fragen forschenden Einrichtungen zum Thema Kinderwunsch und/oder Fertilität bzw. generativem Verhalten ist aus ganz handfesten sozialpolitischen Motiven heraus an Er-

62 Vgl. dazu folgendes Beispiel: »Etwa 40 Prozent der Alleinerziehenden sind geschieden, etwa 30 Prozent Ledige und knapp 10 Prozent verwitwet. Manche Untersuchungen behaupten, etwa 30 Prozent lebten ›freiwillig‹ in dieser Lebenslage. Allerdings ist es wenig hilfreich, hier exakt zwischen freiwillig und unfreiwillig unterscheiden zu wollen. Von einem Teil der ledigen Mütter kann man annehmen, dass sie Mutter werden wollten, unabhängig von der Frage, ob und wie der Vater seine Elternrolle annimmt. Allerdings ist es kaum möglich, den Anteil dieser Frauen quantitativ zu erfassen« (G. Burkart: Familiensoziologie, S. 228). 63 »Auch für Deutschland zeigen empirische Untersuchungen, dass es immer noch ein hohes Maß an ungeplanten Schwangerschaften gibt. Und in qualitativen Untersuchungen kommt häufig zum Ausdruck, dass die Entscheidung für ein Kind weniger mit rationalem Abwägen als mit Zweifel und Hoffnung, mit Ambivalenz und Unsicherheit zu tun hat« (ebd., S. 219f.). 64 Die generelle Zunahme von Mehrlingsgeburten dürfte sich hier auswirken, aber das Ausmaß bleibt wohl schwer abzuschätzen.

154

Kinderarmut – neue Perspektiven kenntnissen über diese Themen interessiert. Im Mittelpunkt steht dabei neben gesicherten Erkenntnissen über die Bevölkerungsentwicklung auch die Frage nach Notwendigkeit und Wirksamkeit sozialpolitischer Maßnahmen. Exemplarisch ist hier die bereits eingangs zitierte Studie von Roloff zu nennen. So ist zwar die Auswertung der Zahlen aus dem FFS von 1992 nicht mehr aktuell, interessant ist jedoch der dahinter stehende Anspruch: Es soll geprüft werden, »ob und inwieweit ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Familieneinkommen einerseits und der Selbsteinschätzung der finanziellen Lage andererseits und dem Kinderwunsch und der Zahl der gewünschten Kinder besteht. Abschließend wird die Akzeptanz familienpolitischer Maßnahmen, die auf die finanzielle Entlastung von Familien mit Kindern zielen, in Abhängigkeit von der Einkommenslage und der Anzahl der Kinder in den Familien analysiert und die Auswirkungen auf generative Verhaltensentscheidungen bei Realisierung von gewünschten familienpolitischen Maßnahmen aufgezeigt.«65

Problematisch ist dieser Anspruch insofern, als er auf einigen Vorannahmen über generative Verhaltensentscheidungen beruht, die in sich einer Überprüfung bedürfen. Es handelt sich im Grunde um zentrale Annahmen der familienökonomischen Theorie, die aus soziologischer Sicht vielfach kritisiert werden. Es wird hier mindestens implizit angenommen, die Menschen seien sich über die Kosten-Nutzen-Relation von Kindern im Klaren und legten diese ihrer Entscheidung zugrunde. Das hieße, Männer und Frauen hätten ein wie auch immer geartetes Wissen von den direkten Kosten, die Kinder verursachen, möglicherweise auch den Opportunitätskosten durch entgangenes Einkommen der Mütter, würden möglicherweise auch strukturelle Rahmenbedingungen wie die Kinderbetreuungsmöglichkeiten nach der Geburt und den späteren hypothetischen beruflichen Wiedereinstieg mit in ihre Überlegungen einbeziehen und diese Kostenseite gegen eine Nutzenseite abwägen. Selbst ein relativ breit gefächerter Nutzenbegriff, der beispielsweise auch die emotionale Befriedigung durch Kinder als Konsumnutzen begreift66, oder die ausgeklügelte Abwägung von Kinderzahl gegen Kinderqualität löst nicht das grundsätzliche Erkenntnisproblem, dass sich die Familienent-

65 J. Roloff: Familieneinkommen, S. 1. 66 Vgl. Harvey Leibenstein: »The Economic Theory of Fertility Decline«, in: The Quarterly Journal of Economics 89 (1975), S. 1-31; problematisch ist hier allerdings auch die unhinterfragte Setzung von psychischem Nutzen, der einfach als gegeben betrachtet wird.

155

Barbara Grabmann wicklung wohl kaum einem einfachen Kosten-Nutzen-Denken unterordnen lässt. Ganz abgesehen davon, dass bereits die direkten Kosten, die Kinder verursachen, schwer im Voraus zu kalkulieren sind, gibt es eine Menge heuristischer Befunde, die darauf hindeuten, dass z.B. die Familienphasen, in denen Entscheidungen für Kinder gefällt werden, oft genug mit Phasen beruflicher Etablierung, langsamer ökonomischer Konsolidierung und gleichzeitiger Notwendigkeit großer Anschaffungen zusammenfallen67. Daneben weisen empirische Befunde darauf hin, dass gerade in einkommensschwachen Familien im Westen der Kinderwunsch relativ hoch ist, die tatsächliche Kinderzahl in einkommensschwachen Familien im Osten sich dagegen oft auf eines beschränkt. Aus derart einfachen Negativ-Korrelationen zwischen Kinderzahl und Haushaltseinkommen Rückschlüsse auf mögliche Kosten-Nutzen-Kalküle zu ziehen, ist wohl kaum möglich. So verweist selbst eine der neueren Erhebungen durch das Statistische Bundesamt auf eine gewisse Irrelevanz des Haushaltseinkommens68. Und selbst eine stärkere biografische Verankerung, wie sie die demografische Forschung69 und die Lebenslaufperspektive70 (so z.B. die Strategie der Vermeidung von biografischer Unsicherheit)

67 Vgl. z.B. B. Eggen: Ökonomische Situation der Familien in Deutschland, S. 16. 68 »Aus den Schaubildern geht hervor, dass das Haushaltsnettoeinkommen den Kinderwunsch nur relativ wenig beeinflusst. Unter den Frauen, die sich ein (weiteres) Kind wünschen, sind bei niedrigem Einkommen diejenigen, die bereits ein Kind haben, etwas schwächer vertreten als bei höherem Einkommen. Der Kinderwunsch von Frauen ohne Kind(er) ist erwartungsgemäß deutlicher ausgeprägt als von Frauen mit Kindern. Frauen mit niedrigerem Einkommen wünschen sich hier etwas häufiger ein Kind als Frauen mit höherem Haushaltsnettoeinkommen. Von den Frauen, die kein (weiteres) Kind wünschen, haben die weitaus meisten bereits ein Kind oder mehrere Kinder. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die Höhe des Haushaltsnettoeinkommens aus statistischer Sicht keinen allzu großen Einfluss auf den Kinderwunsch der Frauen hat. Besonders wichtig bleibt demnach für den Kinderwunsch, ob eine Frau schon Kinder geboren hat oder nicht« (Statistisches Bundesamt Deutschland: Geburten und Kinderlosigkeit in Deutschland, https://www-ec.destatis.de/ csp/shop/sfg/bpm.html.cms.cBroker.cls?cmspath=struktur,vollanzeige. csp&ID=1023205, am 9.12.2009). 69 Vgl. Herwig Birg/Ernst-Jürgen Flöthmann/Iris Reiter: Biographische Theorie der demographischen Reproduktion, Frankfurt/M. u.a. 1991. 70 Vgl. Debra Friedman/Michael Hechter/Satoshi Kanazawa: »A Theory of the Value of Children«, in: Demography 31 (1994), S. 375-401.

156

Kinderarmut – neue Perspektiven versuchen, verweist letztendlich auf Handlungsmodelle, die auf Annahmen der Rational-Choice-Theorien zurückzuführen sind und damit auch mit denselben Problemen behaftet sind71. Mögliche Vereinbarkeitsprobleme werden oft als Entscheidungsgrundlage genannt. So verweist beispielsweise auch Huinink darauf, dass Frauen sich in Westdeutschland dazu gezwungen sehen, oder zumindest annehmen, »sich entweder für die Familie oder für die berufliche Karriere zu entscheiden. Diese Konfliktsituation (also die Unvereinbarkeit von zwei für die meisten attraktiven Lebenszielen) führt empirisch zu einer Polarisierung zwischen Kinderlosigkeit und Mutterschaft - dann mit mehr als nur einem Kind [...]. In Ostdeutschland ist die Situation insofern anders, als die deutlich besseren Betreuungsgelegenheiten den Konflikt zwischen Erwerbsarbeit und Familie reduzieren.«72

Obwohl vieles darauf hindeutet, dass Frauen diese Überlegungen antizipieren, so liegt doch ein Problem darin, dass auch hier gewissermaßen aus einer Perspektive ex post argumentiert wird. Es setzt wieder voraus, dass sich Frauen vor der Entscheidung für oder gegen Kinder über die Vereinbarkeitsprobleme im Klaren sind und dies zur Grundlage der Entscheidung machen. Empirisch lässt sich nachweisen, dass Frauen – teilweise auch in Verkennung der Realisierungschancen – diese Vereinbarkeit wünschen und relativ konkrete Vorstellungen mit einer Rückkehr in Erwerbsarbeit verbinden73. Tatsächlich sind die Motive mütterlicher Erwerbsarbeit auch nicht ausschließlich ökonomisch, auch die eigene finanzielle Unabhängigkeit, der Ausgleich zum Familienleben, soziale Kontakte am Arbeitsplatz und Bestätigung oder Anerkennung durch die berufliche Arbeit spielen nachweislich eine Rolle74.

71 Vgl. dazu Uwe Schimank: Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie, Weinheim/München 2000. 72 J. Huinink/D. Konietzka: Familiensoziologie, S. 153. 73 Vgl. die Tabellen der Brigitte-Studie zu Kinderwunsch und Vereinbarkeit von Beruf und Familie (J. Allmendinger/C. Puschmann/M. Helbig: Frauen auf dem Sprung). 74 Vgl. dazu Arlie Russell Hochschild: The commercialization of intimate life. Notes from home and work, Berkeley 2003, bzw. Arlie Russell Hochschild: Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet, Wiesbaden 2006.

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Barbara Grabmann Selbst die sozialpsychologische Alternative zur Familienökonomie wie die value-of children-Theorie (VOC-Theorie)75 liest sich wie eine sozialpsychologische Übernahme von Rational-ChoiceAnnahmen der Familienökonomie. So schlagen Vertreter der VOC-Theorie neun Gruppen von »values of children« vor, die sich in ökonomische, psychische und sozio-kulturelle Nutzendimensionen unterscheiden lassen. Der Verdienst dieser Theorie liegt in der Erweiterung eines Nutzenbegriffs, der die Brücke zu einer weiter gefassten Vorstellung individueller und subjektiv abfragbarer Vorstellungen von Wohlergehen schlägt. Immerhin lassen sich aus der je unterschiedlichen Mischung von ökonomischen, psychischen und sozio-kulturellen Nutzenserwägungen die Entscheidungen für mehr oder weniger Kinder plausibel erklären. Es mag verwundern, dass in der Theorie der soziologischen Familienforschung andere soziale Faktoren für das generative Verhalten wie Wertorientierungen, Geschlechtsrollenorientierungen und Familienbilder zur Erklärung bislang wenig berücksichtigt wurden, verweisen doch die empirischen Befunde auf den Einfluss von Bildung und mehr oder weniger traditionalen Orientierungen auf den Kinderwunsch und dessen Realisierung. Vereinzelte Arbeiten belegen den Einfluss von durch Sozialisation oder kulturell vermittelten individuellen Orientierungsmustern oder historisch weit zurückliegenden kulturellen Faktoren76. Ein weiteres Defizit liegt in der mangelnden zeitlichen Perspektive. So wird immer noch zu wenig beachtet, dass die Familienentwicklung ein Prozess ist, der in der Regel auf einer Paarentscheidung beruht. Einer der wenigen, die dem Rechnung tragen, ist der Familienpsychologe Lutz von Rosenstiel, der in seinem Modell die Wertstrukturen der beiden Partner als gemeinsame Determinanten des Kinderwunsches bzw. des Geburtenverhaltens berücksichtigt. »Insgesamt ist die Perspektive der Paarinteraktion in der Forschung zur Familienentwicklung aber noch stark unterentwi-

75 Diese wurde in den 1970er Jahren formuliert, vgl. Lois W. Hoffman/Martin L. Hoffman: »The Value of Children to the Parents«, in: James T. Fawcett (Hg.), Psychological Perspectives on Population, New York 1973, S. 19-76. 76 Vgl. Catherine Hakim: Work-lifestyle choices in the 21st century. Preference theory, Oxford u.a. 2000; Guy Moors: »Relations between Gender Role Values and Family Formation«, in: Ron Lestaeghe (Hg.), Meaning and Choice - Value Orientation and Life Course Decisions, Brüssel 2002, S. 217-250 und John C. Caldwell/Pat Caldwell: »Regional paths to fertility transition«, in: Journal of Population Research 18 (2001), S. 19-117.

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Kinderarmut – neue Perspektiven ckelt«.77 Umso erstaunlicher erscheint dieser Befund, als der Gedanke, die Paarbeziehung als einen Interaktionsprozess zu begreifen, theoretisch nicht neu ist und der Umkehrschluss, Paare würden bereits am Anfang ihrer Beziehung beschließen, wie viele Kinder sie dereinst haben wollten, lebensfremd erscheint. Als Beispiel für die notwendige Berücksichtigung unterschiedlicher Einflussfaktoren mag folgender Gedankengang dienen, der vielen Frauen wohl vertraut erscheinen würde: »Besonders für Frauen gibt es allerdings einen kritischen Punkt: Wie lange kann ich warten? Dieser setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen: der Dauer der Ausbildung (und manchmal der beruflichen Einstiegs- und Konsolidierungsphase, in der eine Mutterschaft besonders schwierig zu realisieren ist); der Verfügbarkeit eines unterstützenden Partners (und/oder einer Großmutter); den sozialen und biologischen Grenzen der Mutterschaft: Kann man mit 40 noch Mutter werden, ohne sich gravierende soziale und – trotz Vorsorgemedizin – auch gesundheitliche Probleme einzuhandeln?«78

Abschließend soll hier auf zwei aktuelle Studien verwiesen werden, die sich dem komplexen Gefüge verschiedener Einflussfaktoren auf den Kinderwunsch annähern. Die Studie »Kinderreiche Familien«79 entstand in einer Kooperation der FamilienForschung Baden-Württemberg und dem Bayerischen Staatsinstitut für Familienforschung in Bamberg. Die Autoren nähern sich in einer deskriptiven Herangehensweise dem Konglomerat aus Bildung, Alltagsgestaltung und Erwerbsverhalten, Einkommenssituation und Wohnsituation, das kinderreiche Familien charakterisiert. Daran schließt sich eine Analyse der Entscheidungsprozesse an, die zu drei oder mehr Kindern führen. Diese soll die Veränderungen in den Rahmenbedingungen im Verlauf der Familienentwicklung und die Interaktion der Partner in der Entscheidungsfindung mit einbeziehen sowie persönliche Erfahrungen in der Herkunftsfamilie, im Sozialisationsprozess erworbene Einstellungen oder Präferenzen und konkrete individuelle Lebenspläne. Die Autoren belegen anhand vieler Beispiele aus qualitativen Interviews die vielfältigen komplexen Entscheidungsprozesse, die hier nicht weiter referiert werden können. Es gelingt ihnen damit, sehr detailliert die unterschiedlichen Entscheidungsverläufe nachzuzeichnen. Sie unterscheiden stark geplante und ungeplante Entwick-

77 J. Huinink/D. Konietzka: Familiensoziologie, S. 158f. 78 G. Burkart: Familiensoziologie, S. 222. 79 Vgl. Bernd Eggen/Marina Rupp (Hg.): Kinderreiche Familien, Wiesbaden 2006.

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Barbara Grabmann lungen, dazwischen liegen Eltern, die sich zwar grundsätzlich zu Beginn für eine große Familie entscheiden, dann aber im weiteren Verlauf der Familienentwicklung weniger steuern. Mit den Entscheidungsprozessen sind eindeutig die Erwerbsverläufe der Frauen verschränkt, wobei die Zufriedenheit beider Partner maßgeblich davon abhängt, inwieweit sich beide Partner einig sind und sich gemeinsam auf die Familienentwicklung einlassen80. Die Autoren unterscheiden abschließend drei verschiedene Typen von kinderreichen Familien: große Familien mit überdurchschnittlicher oder sehr guter ökonomischer Ausstattung, Familien in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen und Familien mit Migrationshintergrund. Diese drei Typen eint trotz aller Unterschiede, die insbesondere Bildung und Lebensverhältnisse betreffen, dass sie gewissermaßen gegen alle Trends leben: »Kinderreiche Familien können trotz ihrer Differenziertheit insofern als ein Gegenmodell zur Moderne gelten, als sie in pointierter Form bestimmten Modernisierungstrends trotzen. Auf der Werteebene betrifft dies den hohen emotionalen Nutzen von Kindern und Familie für den Einzelnen und das Paar. Vor diesem Hintergrund steht die Bereitschaft, sich langfristig in besonders hohe Verpflichtungs- und Abhängigkeitsverhältnisse zu begeben. Die Herstellung von Gemeinsamkeit im Paar wird den Kinderreichen oftmals erleichtert durch übereinstimmende Einstellungen der Partner, die sich stärker an Religion, Verwandtschaft und Familie orientieren, wodurch anderen Optionen weniger Bedeutung beigemessen wird.«81

Ein wichtiger Befund ist daneben, dass finanzielle Erwägungen für die Entscheidung wenig ausschlaggebend zu sein scheinen. Die Autoren konstatieren, dass kinderreiche Familien in mehrfacher Hinsicht als Gegenmodell zur Moderne verstanden werden können: Individualisierungstendenzen wie individuelle Mobilität und Gleichstellung der Geschlechter hätten nur bedingt Relevanz, traditionale Einstellungen seien dominierend, die sich v.a. auch in einer traditionalen Arbeitsteilung der Partner manifestierten. Daneben verwiesen aber gerade der (noch) selten vorkommende Typus kinderreicher Familien, in denen beide Partner überdurchschnittlich gebildet und beide erwerbstätig seien, darauf, dass

80 Andrea Dürnberger/Marina Rupp: »Entstehung und Entwicklung kinderreicher Familien«, in: B. Eggen/M. Rupp (Hg.), Kinderreiche Familien, S. 129-166. 81 Bernd Eggen/Marina Rupp: »Kinderreichtum zwischen Tradition und Moderne«, in: dies. (Hg.), Kinderreiche Familien, S. 167-170.

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Kinderarmut – neue Perspektiven auch ein zukunftsorientiertes, modernes Lebensmodell für kinderreiche Familien denkbar sei. Trotz des umfangreichen Materials und der genauen Analysen wird in dieser Studie kein Versuch unternommen, ein theoretisches Modell der Entscheidungsprozesse vorzuschlagen. Dies ist in einem Projekt, das derzeit am Österreichischen Institut für Familienforschung durchgeführt wird und zu dem ein Zwischenbericht vorliegt, der Fall82. Diese Studie geht dem komplexen Gefüge aus Kosten-Nutzen-Erwägungen, Wertorientierungen und kulturellen Faktoren in Hinblick auf generatives Verhalten nicht nur empirisch-deskriptiv auf den Grund, sondern stellt darüber hinaus eine theoretisch fundierte Erklärung vor. Die Forschenden wenden sich gegen einfache Ursache-Wirkungs-Erklärungsmuster und versuchen in einem Modell, den Normen- und Wertekontext, in den Individuen eingebettet sind, die wohlfahrtsstaatlichen und familienpolitischen Rahmenbedingungen, individuelle biografische Entwicklungen, die Ausbildung und das Erwerbsleben, die Partnerschaft und die materielle Situation zueinander ins Verhältnis zu setzen. Sie verweisen zudem darauf, dass noch eine ganze Reihe weiterer Einflussfaktoren berücksichtigt werden müssten, wie beispielsweise individuelle Persönlichkeitsmerkmale, die aber aus forschungspraktischen Gründen nicht mehr in das Modell mit aufgenommen werden können. Sie versuchen, mit ihrem Modell der Komplexität der Entscheidungsfindung gerechter zu werden, als dies viele bisherige Erklärungsansätze geschafft haben. »Die Fertilitätsentscheidungen und das daraus resultierende generative Verhalten werden als Produkt der Summe all jener Einflussgrößen verstanden. Aus der Sicht des Individuums lassen sich die jeweiligen Faktoren jedoch nicht bestimmten Ebenen zuordnen. Wie schon angedeutet, ist die Trennung nach Ebenen zwar eine wichtige Voraussetzung für die wissenschaftliche Bearbeitung, für das Individuum in seinen Entscheidungen ist sie jedoch nicht relevant.«83

In einem umfangreichen Textteil werden die oben genannten Einflussfaktoren anhand jeweils wegweisender Arbeiten theoretisch erarbeitet. Daran schließt sich eine vergleichende Gegenüberstellung der Geburtenentwicklung in Österreich, Schweden und Spanien an, die jeweils stellvertretend für einen der Typen von Wohl82 Vgl. Christiane Rille-Pfeiffer: Geburtenentwicklung und Kinderwunsch im europäischen Vergleich. Eine Analyse der Länder Österreich, Schweden und Spanien (Teil 1), Wien 2007. 83 Vgl. ebd., S. 7.

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Barbara Grabmann fahrtsstaaten stehen84, deren jeweilige Familien- und Sozialpolitik als Einflussgrößen untersucht werden sollen. Die oben theoretisch erarbeiteten Einflussfaktoren werden dann in ihren jeweiligen Ausprägungen in den Beispielländern dargestellt. Rille-Pfeiffer stellt anhand des Ländervergleichs als Zwischenergebnis fest, dass es wohl »zu einer Homogenisierung der Rahmenbedingungen für das generative Verhalten innerhalb Europas kommt«85. Der abschließende Bericht zum Forschungsprojekt steht zwar derzeit noch aus, aber der Bericht über eine qualitative Studie zum Übergang zur Dreikind-Familie86, die von Rille-Pfeiffer und anderen durchgeführt wurde, kommt am Ende zu Schlussfolgerungen, die fruchtbare Ansatzpunkte für neue Erklärungsansätze zum Kinderwunsch und dessen Realisierung liefern können: »These 1: Ausgeprägte kindliche Wunschfantasien, später Kinder zu haben, scheinen zu einer Realisierung des Kinderwunsches zu drängen oder werden zumindest in Form einer grundsätzlichen Bereitschaft für Kinder im Lebensplan verinnerlicht. These 2: Auf die Realisierung weiterer Kinder wirkt sich die Stabilität der Partnerschaft förderlich aus. These 3: Die Geschwisteranzahl und die Geschwisterbeziehungen in der Herkunftsfamilie nehmen starken Einfluss auf die Gestaltung der eigenen Familie. These 4: Dritte Kinder sind meist nicht das Ergebnis einer bewussten Entscheidung des Paares, sondern ›passieren‹. These 5: Gründe für ein drittes Kind sind meist emotionaler Natur und wenig konkret – Gründe gegen ein drittes Kind liegen überwiegend auf der rationalen Ebene und beziehen sich auf die persönlichen Lebensumstände. These 6: ›Aufgeschoben ist auch aufgehoben‹: Ursprünglich geplante, dritte Kinder werden oft nicht realisiert, wenn die Geburt des zweiten Kindes schon länger zurückliegt. These 7: Die Strategien der Paare, mit dem Thema Familienplanung umzugehen und damit eine Einigung hinsichtlich der gewünschten Kinderzahl zu erreichen, sind vielfältig. These 8: Persönliche Argumente sind zwar ausschlaggebend in der Diskussion über das dritte Kind, gleichwohl werden gesellschaftliche und strukturelle

84 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Varianten des Wohlfahrtsstaats. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, Frankfurt/M. 2003 und Gøsta Esping-Andersen: The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1991. 85 C. Rille-Pfeiffer: Geburtenentwicklung und Kinderwunsch, S. 62. 86 Christiane Rille-Pfeiffer/Markus Kaindl/Doris Klepp/Elisabeth Fröhlich: Der Übergang zur Dreikind-Familie. Eine qualitative Untersuchung von Paaren mit zwei und drei Kindern, Wien 2009. Diese Studie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem zuvor referierten Projekt.

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Kinderarmut – neue Perspektiven Bedingungen mitgedacht. Die strukturellen Rahmenbedingungen werden von den befragten Personen als unzureichend und hemmend bei der Entscheidung für ein drittes Kind wahrgenommen.«87

Eine Überprüfung dieser Thesen in repräsentativer Form steht zwar noch aus, dennoch liefern diese Thesen eine ganze Reihe möglicher Erklärungsansätze für die oft scheinbar irrationalen Entscheidungen in Zusammenhang mit Kinderwunsch und Kinderzahl.

Resumé Wie eingangs dargestellt, gibt es mittlerweile eine beeindruckende Vielzahl von Forschungsarbeiten zur Armut von Kindern. Ebenso gut dokumentiert, v.a. in demografischen Untersuchungen zum Thema Fertilität, ist die Armut an Kindern. Dass sich angesichts des Armutsrisikos von Kindern insbesondere in kinderreichen Familien und Ein-Eltern-Familien Paare bzw. Frauen oder Männer für diese Lebensformen entscheiden, mag auf den ersten Blick verwundern, insbesondere, da die bisherigen Erklärungsansätze zum generativen Verhalten oft eindimensional aus der ökonomischen oder zumindest aus der Perspektive von strukturellen Rahmenbedingungen als entscheidende Einflussfaktoren argumentieren und aus dieser Sicht die Entscheidungen zu Kinderwunsch und Kinderzahl verwundern müssen. Ansätze, die andere Einflussfaktoren wie beispielsweise Werte- oder Geschlechtsrollenorientierungen zugrunde legen oder die zeitliche Komponente von Entscheidungsprozessen mit einbeziehen, sind bisher wenig verbreitet und ausgearbeitet. Umso mehr ist zu hoffen, dass Arbeiten wie die zuletzt exemplarisch vorgestellten Untersuchungen weitere Forschungen anstoßen.

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87 Ebd., S. 76-79.

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Samenspender, Leihmütter, Retortenbabies: Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie ANDREAS BERNARD

I Die Geschichte der Familie im christlichen Abendland ist eine Geschichte fortwährender Verdichtung gewesen, eine Konzentration von der verstreuten Sippe hin zur Kleinfamilie. Jack Goody hat diese Entwicklung in seiner Studie »Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa« nachbuchstabiert; er beschreibt darin ausführlich das jahrhundertelange Bestreben der christlichen Kirche, durch Einengungen des Erbrechts und Ausweitungen des Inzestverbots, zeitweise bis zu Verwandtschaftsbeziehungen siebten Grades, weitverzweigte Sippenverbände zu zerschlagen und die Kleinfamilie zu etablieren.1 Spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden Familienzusammenhänge immer im Modus der »Reinheit« verhandelt, der Homogenität und Intimität. In den letzten Jahrzehnten jedoch haben neue Technologien der Reproduktion diese Intimität zu stören und aufzuweiten begonnen; Figuren wie der Samenspender oder die Leihmutter sind aufgetaucht, Techniken wie die In-vitro-Fertilisation. Die Frage ist, inwiefern die »assistierte Empfängnis«, wie man diese Verfahren auch nennt, die Ordnung der Familie herausfordert, und zwar in verschiedener Hinsicht: im rechtlichen, biologischen, ethnologischen und auch im »imaginären« Sinne, wenn man an das Potenzial dieser neuen Familienordnungen für die Literatur, das Kino oder aktuelle Fernsehserien von »Desperate Housewives« bis »30 Rock« denkt. 1

Vgl. Jack Goody: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Frankfurt/M. 1989.

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Andreas Bernard Wie fundamental die Technologien der assistierten Reproduktion in die traditionellen Verwandtschafts- und Familienordnungen eingreifen, wird deutlich, wenn man sich die maßgeblichen ethnologischen Überlegungen zu diesen Zusammenhängen vergegenwärtigt. Die »elementaren Strukturen der Verwandtschaft«, wie Claude Lévi-Strauss sie vor einem halben Jahrhundert untersucht hat, bestimmen sich durch die Wechselwirkung von »Allianz« und »Deszendenz«, durch den »willkürlichen Charakter« der Paarverbindungen einerseits und die »Unabwendbarkeit der biologischen Vererbung« von den Eltern auf die gemeinsam gezeugten Nachkommen andererseits.2 Man sieht sofort, inwiefern die Techniken der »assistierten Empfängnis« diese Wechselwirkung von kontingenter Partnerwahl und notwendiger Vererbung ergänzen. Zusätzliche Akteure kommen ins Spiel; der Akt der Zeugung und Befruchtung findet nicht mehr im weiblichen Körper, sondern in den Labors der Reproduktionsmediziner statt. Wenn Lévi-Strauss über das »Gesetz der Deszendenz« sagt, dass es nicht nur bedeutet, »daß man Eltern haben muss, sondern auch, dass man ihnen ähnlich sein wird«3, dann steht genau dieses Gesetz im Zeitalter der assistierten Empfängnis auf dem Prüfstand. Denn es ergeben sich Mischformen, Fragmentierungen, Vervielfältigungen, aufgespaltene Mutter- und Vaterschaften – neue Familien- und Verwandtschaftsstrukturen also, die sich in unserer Kultur und in unserem Rechtssystem neu organisieren müssen. Wobei die Verfahren der assistierten Reproduktion inzwischen längst keine Randerscheinungen mehr sind. Ein halbes Jahrhundert nach Gründung der ersten kommerziellen Samenbanken in den USA und dreißig Jahre nach dem ersten »Retortenbaby« (Louise Brown, Großbritannien 1978) sowie der ersten kommerziellen Leihmutter-Agentur (USA, 1980) haben dieses Techniken heute jede Exotik verloren und sind in den Alltag der Reproduktionsmedizin eingezogen.

II Als einzige Methode der künstlichen Befruchtung galt lange Zeit die Samenspende, wobei man zwischen »homologer« und »heterologer« Insemination unterscheidet, also zwischen der Samenspen-

2 3

Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 1983, S. 78. Ebd., S. 79.

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Neue Reproduktionstechnologien de des Partners der Frau oder der eines Dritten. Die Geschichte der künstlichen Insemination ist erstaunlich lang. Mit Fröschen, Kröten und auch Hunden experimentierten Physiologen wie Spallanzani bereits am Ende des 18. Jahrhunderts, um Aufschlüsse über den genauen Ablauf der Zeugung zu bekommen4; als letztes Mittel zur Behebung von Kinderlosigkeit beim Menschen wandten vor allem einige französische Ärzte die homologe Insemination schon Mitte des 19. Jahrhunderts regelmäßig an. In Deutschland schreibt der Sexualwissenschaftler Hermann Rohleder im Jahr 1911 die erste ausführliche Abhandlung über die künstliche Befruchtung5, ein Jahr später berichtet einer der berühmtesten deutschen Gynäkologen der Zeit, Albert Döderlein in München, über einen von ihm durchgeführten Fall der homologen Insemination.6 Diese beiden Ereignisse gelten als die Geburtsstunde der künstlichen Befruchtung in Deutschland, wobei die Prozedur zunächst definitiv ein Randphänomen bleibt. Rohleder zählt 1911 nicht mehr als 75 bis dahin bekannte Fälle einer künstlichen Insemination auf, von denen 29 zur Geburt eines Kindes geführt hätten.7 Es ist dabei ausschließlich die homologe Samenspende, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Betracht gezogen wird, und auch diese Praktik ist Gegenstand größter Skepsis. Die Möglichkeit einer Spende, die nicht vom Ehemann stammt, ist im Denken noch völlig ausgeschlossen; es gibt in der medizinischen Fachliteratur in dieser Zeit nur ganz vereinzelte, zumeist empörte Äußerungen von Ärzten, dass eine Patientin diese Möglichkeit vorgeschlagen habe. Bei der Beschäftigung mit der Frühzeit der künstlichen Insemination überraschen aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive v.a. zwei wiederkehrende Anschauungen, und zwar aus genau entgegengesetzten Gründen: die eine, weil sie erst viel später als gedacht verworfen wird, die andere, weil sie sich erst viel später als gedacht etabliert. Der erste Punkt betrifft die Bedeutung des weiblichen Orgasmus für die Empfängnis. Thomas Laqueur hat sich in seiner großen Untersuchung über die »Inszenierung der Geschlechter« vor einigen Jahren ausführlich mit diesem Zusammenhang beschäftigt, der in der Rechtsgeschichte etwa lange 4 5 6 7

Vgl. Lazzaro Spallanzani: Versuche über die Erzeugung der Thiere und Pflanzen, Leipzig 1786. Vgl. Hermann Rohleder: Die künstliche Zeugung (Befruchtung) beim Menschen, Leipzig 1911. Vgl. Albert Döderlein: »Ueber künstliche Befruchtung«, in: Münchener medizinische Wochenschrift 59 (1912), S. 1081-1084. Vgl. H. Rohleder: Die künstliche Zeugung, S. 262.

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Andreas Bernard Zeit die Unnachgiebigkeit gegenüber schwangeren Opfern von Notzucht und Vergewaltigung geprägt hat, die Überzeugung der Justiz, dass Konzeption immer eine Folge von Erregung gewesen sein muss. Laqueur vertritt in seinem Buch die Hypothese, dass diese Überzeugung im medizinischen Denken im Lauf des 19. Jahrhunderts verschwindet, dass der weibliche Orgasmus zur »beiläufigen, entbehrlichen und zufälligen Zugabe zum Akt der Reproduktion«8 wird – ein Befund, der von den frühen Aufsätzen zur künstlichen Befruchtung eindeutig widerlegt wird. Denn es gibt kaum eine Äußerung zu dieser Praktik zwischen 1850 und 1930, die nicht auch das Problem der fehlenden weiblichen Lust während einer künstlichen Insemination ansprechen würde. »Von verschiedenen Seiten ist die Behauptung aufgestellt worden, dass die Frau, um empfangen zu können, der geschlechtlichen Erregung bedarf. Die naturgemäße Folge wäre, dass die Versuche künstlicher Befruchtung nur dann Beachtung verdienten, wenn die Einspritzung während des Friktionsoder Ejaculationsgefühls stattfindet«9,

schreibt Paul Levy schon im Jahr 1888 in seiner schmalen Dissertation zur künstlichen Befruchtung. Die alte physiologische Überzeugung, dass erst die Kontraktionen des weiblichen Orgasmus den Samen verlässlich in den Uterus transportieren würden, gilt für viele Gynäkologen noch immer; für die Praxis der künstliche Insemination ist sie mit der ärztlichen Indiskretion verbunden, dass die Samenspende gewissermaßen in die konvulsivischen Zuckungen der Frau hineininjiziert werden muss. Die Ärzte überbieten sich Anfang des 20. Jahrhunderts daher im Arrangement möglichst geeigneter Behandlungsszenarien. Unter den meisten von ihnen herrscht Übereinstimmung, dass die künstliche Insemination dann am besten gelingt, wenn sie unmittelbar nach dem Beischlaf vollzogen wird, und zwar solange die Frau noch jenen »Friktionsgefühlen« unterliegt, von denen Levy spricht. Sie behandeln die Paare daher im ehelichen Schlafzimmer und warten buchstäblich hinter der Zimmertüre, um den männlichen Samen nach dem Beischlaf so schnell wie möglich mit der Spritze aufzuziehen und der Frau zu injizieren. Zerknirscht berichten die Gynäkologen in diesen Jahren immer wieder von der geringen Erfolgsquote der homologen Insemi8 9

Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/M. u.a. 1992, S. 15. Paul Levy: Über die Ausführung der künstlichen Befruchtung am Menschen, Inaugural-Dissertation, Würzburg 1888, S. 31.

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Neue Reproduktionstechnologien nation: ein Resultat, das mit jenem zweiten überraschenden Moment der Debatte zu tun hat, von dem oben die Rede war. Denn der Misserfolg der Methode hängt – »natürlich«, wie wir im Rückblick sagen können – mit dem unzureichenden Wissen über den Befruchtungsvorgang zusammen. Erst im Jahr 1930 veröffentlichen Knaus und Ogino ihre bahnbrechenden Studien zum Menstruationszyklus; bis in die 1920er Jahre hinein – und die Injektionszeitpunkte bei der künstlichen Befruchtung bezeugen das – lautete die ärztliche Schulmeinung, dass die fruchtbaren Tage der Frau in den ersten Tagen nach der Menstruation lägen. Walter Stoeckel, der in diesen Jahren das meistgelesene »Lehrbuch der Gynäkologie« herausgibt, schreibt noch in der Auflage von 1928, dass »wir über das Normale, die Konzeption, so gut wie nichts sicher wissen«10. Und er lässt die Bestätigung dieser Vermutung unmittelbar folgen, wenn er sagt: »Es scheint jetzt festzustehen, daß [...] die beste Konzeptionszeit der Frau unmittelbar hinter der Menstruation liegt.«11 In den USA fällt der Beginn der Anwendung künstlicher Insemination genau in die Jahre, in der sich das Wissen um den Fruchtbarkeitszyklus der Frau verifiziert. Dass die amerikanischen Gynäkologen von Anfang an eher auf die hetero- als auf die homologe Samenspende setzen, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Europäische Ärzte, die einen solchen Schritt weiterhin nicht einmal theoretisch diskutieren, werfen den Kollegen zwar den Bruch mit grundlegenden abendländischen Familienwerten vor. Doch die Unbefangenheit der amerikanischen Gynäkologen hat weniger mit ihrem (vielleicht tatsächlich) pragmatischeren Menschenbild zu tun als mit einer einfachen medizinischen Rechnung: Denn in dem Moment, in dem das Wissen um den genauen Zeitpunkt der Befruchtung verlässlich ist, wird auch sofort mit aller Gewissheit deutlich, dass die Technik der homologen Insemination, die letztendlich nur den ehelichen Geschlechtsverkehr imitieren kann, sehr selten zum Erfolg führt. Mit den lapidaren Worten des bekanntesten amerikanischen Reproduktionsmediziners vor dem Zweiten Weltkrieg, Alan Guttmacher: »If the spermatozoa are so pathologic that they need a three inch boost on their six inch journey, I believe they are likely to be ster-

10 Walter Stoeckel: Lehrbuch der Gynäkologie, 2. Aufl., Leipzig 1928, S. 582. 11 Ebd., S. 583.

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Andreas Bernard ile.«12 Umgekehrt aber zeigen die ersten Versuche mit der Samenspende Dritter erstaunliche Erfolgsquoten, wenn zuvor ausgeschlossen worden ist, dass die Sterilität der Ehe von der Frau ausgeht. Die Sicherheit in der Entscheidung der Frage, wann Zeugung genau möglich ist, verleiht der künstlichen Insemination ein neues Fundament. Gleichzeitig kommt durch dieses Wissen die jahrhundertealte Diskussion um die Bedeutung des weiblichen Orgasmus für die Empfängnis an ein definitives Ende. Mitte der 1930er Jahre erscheinen in den USA die frühesten Aufsätze, die sich systematisch mit der Praxis heterologer Insemination beschäftigen. Zum ersten Mal werden all jene Fragen und Probleme behandelt, die für die Arbeit der Samenbanken bis heute obligatorisch sind. Die Anonymität des Spenders wird verpflichtend: eine Bedingung, die in den ganz vereinzelten Fällen von heterologer Insemination in Europa Anfang des 20. Jahrhunderts nicht erfüllt war, da es stets Verwandte oder enge Freunde des Ehemanns waren, die mit dem Wissen aller Beteiligten aushalfen. Man erstellt physiologische und mentale Auswahlkriterien für die Spender, genauso wie auch die schriftliche, notariell beglaubigte Einverständniserklärung der Beteiligten eingeführt wird, um Fragen des Sorgerechts, der Unterhaltspflicht und des Erbrechts zwischen dem Ehepaar und dem Samenspender zu regeln. Der Samenspender verzichtet auf alle Rechte und Pflichten; der Ehemann verpflichtet sich – nicht zuletzt für den Fall einer Scheidung –, dass das Spenderkind für ihn den Status eines leiblichen hat. Die künstliche Befruchtung verbreitet sich in den USA in diesen Jahren auffallend rasch: Im Jahr 1941 veröffentlichen die Ärzte Francis Seymour und Alfred Koerner eine aufsehenerregende Statistik, wonach in den USA bereits knapp 9500 Frauen ein durch homologe oder heterologe Insemination ermöglichtes Kind geboren hätten.13 In diese Zeit fallen auch die ersten Studien zur Konservierung von Samenzellen. Die Erkenntnis, dass Sperma bei kalten Temperaturen länger fruchtbar bleibt, war – obwohl schon Spallanzani in den 1760er Jahren darauf hingewiesen hatte14 – in der Reproduktionsmedizin des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts 12 Alan F. Guttmacher: »The Role of Artificial Insemination in the Treatment of Human Sterility«, in: Bulletin of the New York Academy of Medicine (2nd Series) 19 (1943), S. 573-591, hier: S. 583. 13 Vgl. Francis I. Seymour/Alfred Koerner: »Artificial Insemination. Present Status in the United States as Shown by a Recent Survey«, in: Journal of the American Medical Association 116 (1941), S. 2747-2749. 14 Vgl. L. Spallanzani: Versuche über die Erzeugung, S. 164.

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Neue Reproduktionstechnologien unbekannt; in der Frühzeit der künstlichen Inseminationen wurde noch alles darauf berechnet, die Zellen und Geräte über die Zeit der Behandlung hinweg unbedingt auf Körpertemperatur zu halten. Erst seit den 1920er Jahren setzt sich die in Experimenten gewonnene Anschauung durch, dass kalte und sogar gefrorene Spermazellen eine erstaunlich lange Lebensdauer aufweisen. Nach Versuchen mit verschiedenen anderen Substanzen erweist sich gefrorener Stickstoff als geeignetste Beigabe; die Samenzellen werden bei einer Temperatur von minus 200 Grad eingefroren. 1953 finden die ersten erfolgreichen Versuche einer Insemination mit »kryokonserviertem«, also stickstoffgefrorenem und wieder aufgetautem Samen statt.15 Dieses Ereignis steht am Beginn der endgültigen Institutionalisierung und Kommerzialisierung der künstlichen Befruchtung, denn sobald die Möglichkeit zur Konservierung von Samenzellen besteht, muss die Prozedur nicht, wie es bislang der Fall war, in großer Eile und mit physischer Anwesenheit aller Beteiligten stattfinden. Als Ende der fünfziger Jahre die ersten sogenannten »Samenbanken« gegründet werden, ändert sich deshalb auch die Auswahl der Spender. Hatten die behandelnden Ärzte zuvor auf Medizinstudenten oder junge Ärzte in ihrer Klinik zurückgegriffen, bieten die neu entstehenden Samenbanken zum ersten Mal eine Bezahlung der Proben an und rekrutieren die Spender durch Werbemaßnahmen aus allen sozialen Schichten und Berufsgruppen. In Deutschland bleibt das Interesse an der Befruchtung mit Fremdsamen weiterhin gering, was in der Zeit des Nationalsozialismus insofern erstaunt, als sich die Praxis heterologer Insemination reibungslos in die Ideologie von Eugenik und »Lebensborn« eingefügt hätte. In den wenigen deutschen Aufsätzen und Studien, die während des NS-Regimes zu diesem Thema verfasst werden, steht aber eher die hygienische Abscheu vor diesem Verfahren im Vordergrund.16 Auch nach dem Krieg bleibt die klare Ablehnung der heterologen Insemination in Deutschland bestehen; im Jahr 1960 liegt sogar ein Gesetzesentwurf unterschrifts15 Vgl. R. G. Bunge/J. K. Sherman: »Frozen Human Semen«, in: Fertility and Sterility 5 (1954), S. 193-194, hier: S. 194. 16 Vgl. etwa Siegfried Veil: Über die Indikationsstellung, die bisherigen Erfolge, Methoden und die rechtlichen Fragen der künstlichen Befruchtung, Würzburg 1940; Franz Hubert Bardenheuer: Die Unfruchtbarkeit der Frau: ihre Ursachen und Behandlung einschließlich der künstlichen Befruchtung, 2. Aufl., München/Berlin 1944; vgl. auch die von mehreren Gynäkologen geführte »Aussprache künstliche Befruchtung«, in: Medizinische Klinik 39 (1939), S. 72-75, 97-100, 123-126 und 147-150.

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Andreas Bernard reif vor, der die Behandlungsmethode kategorisch unter Verbot stellen soll. Es ist schließlich die Sorge um eine reproduktionsmedizinische Isolierung Deutschlands – in einem Europa, das diese Methode mittlerweile flächendeckend praktiziert –, die zur Aufhebung des Verbots führt. Dennoch dauert es bis in die 1970er Jahre hinein, bis die ersten kommerziellen Samenbanken in Deutschland gegründet werden.

III Das zweite, gewissermaßen komplementäre Verfahren der künstlichen Reproduktion, die Leihmutterschaft, ist wesentlich jünger als die Samenspende. Es gab im Lauf des 20. Jahrhunderts zwar immer wieder einzelne Zeitungsmeldungen, dass eine Frau das Kind einer anderen ausgetragen hat; auch muss, v.a. in ländlichen Gebieten, von einer beträchtlichen Dunkelziffer ausgegangen werden. Die erste öffentlich bekannt gewordene Leihmutter, von einer Agentur kommerziell vermittelt, gebiert ihr Kind jedoch erst im November 1980 in den USA. Es gibt in der mittlerweile dreißigjährigen Geschichte der Leihmutterschaft eine bedeutsame Zäsur, die die Figurenkonstellation bei dem Verfahren und die verwandtschaftliche Beziehung der Beteiligten völlig neu definiert hat. Diese Veränderung hat mit der gynäkologischen Praxis der Eizellenentnahme zu tun: ein Eingriff, der in den späten achtziger Jahren stark vereinfacht wurde und die Eizellenspende in der Reproduktionsmedizin etablierte. Vor dieser Zeit stand allein jene Möglichkeit zur Verfügung, die heute bereits im historischen Rückblick als »klassische« oder »traditionelle« Leihmutterschaft bezeichnet wird; die Frau, die von dem Auftragspaar für ihren Dienst bezahlt und mit dem Samen des Mannes befruchtet wurde, trug ein Kind aus, mit dem sie genetisch verwandt war. Der Umstand, dass Eizellen dank der Ultraschall-Technik nun vaginal entnommen werden konnten, in einem ambulanten Eingriff statt einer aufwändigen Bauchoperation, änderte das Verfahren der Leihmutterschaft von Grund auf. Denn seitdem teilen sich in den allermeisten Fällen zwei Frauen diese Rolle: die eine stellt ihre Eizellen gegen Bezahlung zur Verfügung (sofern nicht die Eizellen der Auftragsmutter genutzt werden können), die andere trägt das Kind aus und gebiert es. Heutzutage ist diese Variante, die »gestational surrogacy« (»Tragemutterschaft« oder »Leihschwangerschaft«), die reproduktionsmedizinische Regel. Sie sorgt für eine weitere Spaltung: Das auf diese

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Neue Reproduktionstechnologien Weise geborene Kind hat nicht allein eine soziale und eine biologische Mutter, sondern die biologische Mutterschaft wird noch einmal aufgeteilt, in zwei Bereiche, die man mit einer saloppen Formulierung die »soft ware« und die »hard ware« der assistierten Reproduktion nennen könnte. Die Eizellenspenderin stellt das möglichst hochwertige Erbgut zur Verfügung, die Leihschwangere ihre Gebärmutter, den möglichst robusten und erprobten Versorgungsbehälter. Im prekären Verhältnis zu den Auftraggebern (den hetero- oder immer häufiger auch homosexuellen Paaren) trägt diese zweite Spaltung zur Entlastung bei. Denn die Leihmutter als Dritte, die im gleichen Maße mit dem Kind verwandt ist wie der soziale Vater und dennoch nicht zur Familie gehören darf, vervielfältigt sich in diesem Modell und verliert dadurch ein wenig von ihrem irritierenden Potenzial. Die »gestational surrogate« bringt nun ein Kind zur Welt, das genetisch keine Verbindung zu ihr hat, und die anonyme Eizellenspenderin tritt mit den sozialen Eltern ohnehin nicht in Kontakt. Für die Arbeit der Leihmutteragenturen hat sich durch diese Veränderung eine neue Grundlage ergeben. Seit zehn, fünfzehn Jahren geht es darum, Kandidatinnen in zwei komplett verschiedenen Milieus anzuwerben. Die Eizellenspenderinnen werden in einem Umfeld gesucht, von dem man sich erhofft, dass die Frauen über das von den Auftraggebern gewünschte optimale Erbgut verfügen. Die Agenturen inserieren deshalb hauptsächlich an Elite-Universitäten, auf dem Campus von Harvard, Yale und Princeton, oder im Internet, in den von eher jungen und gebildeten Nutzern geprägten Sozialen Netzwerken wie Facebook oder MySpace. Das Anforderungsprofil der Tragemütter dagegen setzt ganz andere Kriterien voraus; es zählt weder Intelligenz, Herkunft noch Aussehen, sondern der verlässliche, im Kinderkriegen erfahrene Körper. Die Leihmutteragenturen rekrutieren diese Kandidatinnen in gesellschaftlich und ökonomisch weniger etablierten Schichten; sie werben in den Suburbs der Großstädte, am Schwarzen Brett von Supermärkten und Shopping Malls.17 Für die Kultur der assistierten Reproduktion, so könnte man sagen, ist der Übergang von der Leih- zur Tragemutter natürlich mit erheblichen Vereinfachungen, aber auch mit einer neuen Asymmetrie zwischen den Beteiligten verbunden. War es vor dem Aufkommen der Eizellenspende noch unerlässlich, dass Auftragseltern und Leihmutter dieselben ethnischen Wurzeln, dieselbe

17 Vgl. das Interview mit Gail Taylor, der Gründerin der Leihmutteragentur »Growing Generations«, in Los Angeles, am 14.10.2008.

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Andreas Bernard Hautfarbe hatten, fällt die Kategorie der Ähnlichkeit bei der Auswahl der Tragemutter jetzt weg. Es hat sich in den letzten Jahren daher eine Art reproduktionsmedizinische Kolonialisierung der Körper ergeben, ein ganzer Industriezweig, der den Eizellenexport von den USA oder von Mitteleuropa in Regionen wie Südamerika oder Osteuropa organisiert. Die befruchteten Eizellen werden preiswerten Tragemüttern eingesetzt; die neugeborenen Kinder reisen neun Monate später mit ihren sozialen Eltern zurück in die USA oder nach Deutschland, wo sie aufgrund der biologischen Verwandtschaft mit dem Vater problemlos leben dürfen.

IV Das Erkenntnisinteresse jeder Untersuchung über neue Reproduktionstechnologien muss sich vor allem auf folgende Fragen richten: Inwiefern ist die Organisation von Verwandtschaft und Familie im Zeitalter der neuen Reproduktionstechnologien gefährdet? Und mittels welcher Strategien kann sie aufrechterhalten werden? Was an Samenbanken, Leihmutter-Agenturen und Befruchtungslabors ja so irritiert, ist der Umstand, dass sie den Prozess menschlicher Fortpflanzung – die Sphäre der intimen Paarbeziehung, der Zweisamkeit schlechthin – mehr und mehr öffnen und Dritte, Vierte, Fünfte in den Zeugungsvorgang miteinbeziehen. Die Techniken assistierter Empfängnis führen zu wuchernden Familienkonstellationen; es gibt mittlerweile hunderttausende von Kindern, die bis zu fünf Elternteile haben (neben den sozialen Eltern den Samenspender, die Eizellenspenderin und die Leihschwangere). Es sind massive rechtliche, kulturelle und soziale Anstrengungen nötig, damit die problematischen NäheDistanz-Verhältnisse, die mit der Entkoppelung von biologischer Verwandtschaft und Familienbildung einhergehen, ausbalanciert werden können. Auf welche Weisen sind die Beziehungen zwischen den Beteiligten zu stärken oder zu anästhesieren? Wie lässt sich der Status der Spender als bloße Materiallieferanten oder Container menschlicher Fortpflanzung regulieren? Im Zusammenhang mit der künstlichen Insemination ist der zentrale Aspekt zweifellos die Bedeutung der Anonymität des Samenspenders, die von jenen ersten Entwürfen amerikanischer Ärzte in den 1930er Jahren bis in die jüngste Vergangenheit hinein obligatorisch war, aus Gründen der Sorgerechts- und Erbschaftsregelung wie auch aus psychologischen Erwägungen heraus. Die Leistung des »Donors« war mit keinerlei verwandtschaft-

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Neue Reproduktionstechnologien lichen Pflichten verbunden. Ohnehin muss man sich vergegenwärtigen, dass vor den ersten bekannt gewordenen HIV-Infektionen Anfang der achtziger Jahre keinerlei zuverlässige Archivierung der Samenspender in den Samenbanken erfolgt ist; eine Archivierungspflicht gibt es etwa in deutschen Samenbanken erst seit 1985. Aufschlussreich ist, dass die Vorstellung eines offenen Umgangs mit der Samenspende, v.a. auch gegenüber dem Kind, bis vor kurzer Zeit völlig undenkbar war; es galt als sicher, dass die Nachricht, ein Kind stamme von einem unbekannten Spender, bei diesem eine tiefe Krise auslösen würde. Dieses Procedere hat sich erst in den letzten Jahren langsam geändert, und zwar aus verschiedenen Gründen: Mit dem Heranwachsen der ersten Generation von vaterlosen Spenderkindern hat sich die Unklarheit der genealogischen Herkunft als problematisch erwiesen; die ausbleibende Kenntnis des leiblichen Vaters gilt als latenter Krisenpunkt der auf diese Weise zustande gekommenen Familien. Als Konsequenz betreiben alle großen amerikanischen Samenbanken mittlerweile so genannte »Open Donor«-Programme, in denen sich (wesentlich kostspieligere) Samenspender vertraglich verpflichten, die von ihnen gezeugten Kinder nach deren 18. Geburtstag mindestens einmal zu treffen. Die Zahl der Spender hat sich durch diese Praxis allerdings stark verringert, denn die Verantwortung, dem Kind knapp zwanzig Jahre später gegenüberzutreten – mit dem einstigen gut bezahlten Studentenjob also ein Leben lang verbunden zu bleiben –, schmälert die Bereitschaft zu dieser Tätigkeit enorm. Mit der Anonymität heterologer Insemination verbunden ist zudem aber auch das Problem der Inzestangst. Manche amerikanische Spender haben nach eigenem Bekunden bis zu 500 Nachkommen gezeugt, und solange die Halbgeschwister nichts von ihrer Existenz wissen, sind spätere Liebesverhältnisse zwischen Kindern desselben Spenders zumindest theoretisch denkbar. Jenes Sexualtabu, das nach Lévi-Strauss die Schwelle von Natur zu menschlicher Kultur schlechthin markiert, erlangt im Zeitalter assistierter Reproduktion also neue Bedeutung. Einrichtungen wie die »Sibling Register« der amerikanischen Samenbanken, in denen Spenderkinder ihre verstreuten Halbgeschwister kennen lernen können, sind eine Reaktion auf dieses Unbehagen. Auf dem Gebiet der Leihmutterschaft ist die Organisation der sozialen und verwandtschaftlichen Beziehungen noch prekärer: Es geht um die Frage, ob eine Frau, die neun Monate lang ein Kind austrägt, dieses Kind nach der Geburt ohne weiteres an die Auftragseltern abgeben kann. »Gespaltene Mutterschaft«, also Ei-

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Andreas Bernard zellenspende und Leihmutterschaft, ist daher in zahlreichen Ländern (darunter Deutschland) gesetzlich verboten, kommerziell vermittelte Leihmutterschaft in Europa nur in einigen der jungen osteuropäischen Staaten und in Israel erlaubt, in den USA in wenigen Bundesstaaten, wie etwa Kalifornien. Das problematische Verhältnis zwischen den Beteiligten bleibt aber auch in jenen Ländern und Bundessaaten ein großes Thema, in denen das Verfahren zulässig ist. In den Richtlinien der Vermittlungsagenturen gibt es eine Vielzahl von detaillierten Regelungen zum Verhältnis zwischen Auftraggeber und austragender Frau, die von der ganzen Schwierigkeit dieser Beziehung erzählen. Sie reichen vom geforderten Abbruch aller Beziehungen nach der Geburt bis zur Anzahl der Fotografien, die von den Auftragseltern an die Leihmutter geschickt werden muss; von der genau festgelegten Frist, die den Leihmüttern im Krankenhaus gewährt wird, sich alleine von dem Neugeborenen zu verabschieden, bis hin zu der Vereinbarung, dass die Leihmutter während der Schwangerschaft monatliche Raten erhält und nicht eine einmalige Summe nach der Geburt des Kindes, damit sie das Gefühl vermittelt bekommt, sie werde für einen Service bezahlt, nicht für ein Produkt. Den umfangreichen Verhaltenskatalogen zum Trotz gelingt die problemlose Übergabe aber nicht immer. So sorgte etwa der »Baby M«-Fall aus dem Jahr 1987 für weltweites Aufsehen, als sich eine Leihmutter nach der Geburt weigerte, das Kind den Eltern auszuhändigen. In den Akten des jahrelangen Rechtsstreits zwischen den Parteien (den die Auftragseltern schließlich gewannen) lässt sich die Definition von Mutterschaft in der Epoche assistierter Empfängnis anschaulich nachzeichnen.18 Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht das grundsätzliche Paradox, was die Bedeutung der genetischen Disposition für das Heranwachsen eines Menschen betrifft. Auf der einen Seite wird diese Bedeutung in den Samenbanken und Eizellen-Agenturen so hoch veranschlagt, dass die Spender in ihren bis zu dreißig Seiten langen Anamnesen noch die Hautpigmentierung und die vordringlichsten Charakterzüge ihrer Großtanten und -onkel dokumentieren müssen. Auf der anderen Seite aber vertraut man nach der Geburt des Kindes darauf, dass die Liebe und Zuwendung der nicht-leiblichen Eltern die fehlende genetische Verbindung restlos tilgt. Dieses Spannungsverhältnis zwischen biologischer Ver-

18 Diesen Versuch unternimmt mein Aufsatz »Die Leihmutter«, in: Eva Esslinger u.a. (Hg.), Die Figur des Dritten – ein Paradigma der Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. [erscheint im August 2010].

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Neue Reproduktionstechnologien wandtschaft und Familienbildung führt schließlich auch zu der Frage nach der gegenwärtigen Legitimation von Elternschaft. Wer ist Mutter? Wer ist Vater? Juristische Präzedenzfälle wie der »Baby M«-Fall machen deutlich, dass assistierte Reproduktion zu einer »Entbiologisierung« von Elternschaft führt. Die symbolische Beglaubigung durch Verträge wiegt schwerer als die genetische Evidenz; im kalifornischen Familienrecht gibt es inzwischen die Kategorie der »intendierten Elternschaft«, die bei Streitfällen über Sorgerecht und Unterhaltspflicht zum Tragen kommt.

V Die Sphäre der neuen Reproduktionstechnologien ist in den vergangenen Jahren zum Gegenstand umfangreicher Medienberichterstattung und einiger wissenschaftsjournalistischer Monografien19 geworden. Was die kulturwissenschaftliche Annäherung an das Thema diesen mehr oder weniger staunenden, kritischen, affirmativen Reportagen entgegenzusetzen hat, ist Folgendes: Sie muss, über die präzise Beschreibung der gegenwärtigen Situation hinaus, ihren Blick zurück auf die »Vorläufer« der assistierten Empfängnis lenken, auf all jene historischen Konzepte und Figuren also, welche die blutsverwandte Kernfamilie seit Jahrhunderten ergänzt, bedroht und herausgefordert haben. Wie ist das Abendland von jeher mit Fremdkörpern und offenen Flanken innerhalb der Familie umgegangen? Welche Rolle haben all jene »fiktiven Verwandten« gespielt, um einen Begriff des schon erwähnten Familienhistorikers Jack Goody zu verwenden, Figuren wie Stiefeltern, Adoptivkinder, Ammen oder Paten? In Texten, die den Bildbestand und die kollektive Imagination unserer Kultur besonders stark geprägt haben, wie etwa den Volksmärchen, kann man eine Reihe von Geschichten finden, die vom prekären Eindringen nicht-verwandter Figuren in die Familieneinheit erzählen. Was sind die überlieferten Bilder solcher Figuren in unserer Kultur? Wenn man an jene Texte denkt, die den Bestand unserer kollektiven Imagination am stärksten geprägt haben, z.B. die Volksmärchen, dann finden sich einige solcher Figuren des Eindringlings in die homogene blutsverwandte Familie. Etwa die bekannten Stiefmutter-Figuren in »Hänsel und Gretel« und

19 Vgl. zuletzt Liza Mundy: Everything Conceivable. How Assisted Reproduction is Changing Men, Women, and the World, New York 2007.

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Andreas Bernard »Schneewittchen«. Oder das Märchen »Dornröschen«, das mit dem Satz beginnt: »Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag ›ach wenn wir doch ein Kind hätten!‹ und kriegten immer keins. Da trug sich zu, als die Königin einmal im Bade saß, dass ein Frosch aus dem Wasser kroch und zu ihr sprach ›dein Wunsch wird erfüllt werden‹.«20

Dann wird Dornröschen geboren, und aus dieser märchenhaften Form von assistierter Empfängnis erwächst das Drama um den hundertjährigen Schlaf im Schloss. Ein anderes, sozialgeschichtliches Beispiel für die Störung der »Reinheit« der Familie wären die hygienischen Auseinandersetzungen über das Ammenwesen im 18. und 19. Jahrhundert, die lange Zeit vieldiskutierte Frage, ob die Versorgung der Säuglinge mit fremder Milch auch fremde Wesen hervorbringe. Ältere literarische und historische Quellen wie diese können also zum einen zeigen, dass die Krisen und Risiken der assistierten Empfängnis, die von Dritten in Frage gestellte Homogenität der Blutsverwandtschaft, schon lange vor dem Aufkommen der neuen Reproduktionstechnologien ein Thema waren. Zum anderen unterstreichen solche Beispiele, welch eminente historische Bedeutung für die Geschichte der Familie der Umstand hat, dass Dritte zum ersten Mal tatsächlich an der biologischen Zeugung von Kindern beteiligt sind. Ein jahrhundertealtes Phantasma ist medizinische Realität geworden. Die Frage stellt sich, inwiefern diese elementaren Ängste und Bedrohungen nun, im Zeitalter der assistierten Empfängnis, noch eine Rolle spielen, oder welche kulturellen und juristischen Beschwichtigungstechniken eingesetzt werden, um das Lebens- und Gesellschaftsmodell Familie aufrechtzuerhalten.21

Literatur Bardenheuer, Franz Hubert: Die Unfruchtbarkeit der Frau: ihre Ursachen und Behandlung einschließlich der künstlichen Befruchtung, 2. Aufl., München/Berlin 1944.

20 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, München 1988, S. 281. 21 Von diesen zuletzt ausgeführten Zusammenhängen her versucht sich meine Monographie zur Geschichte der Reproduktionstechnologien, die im Herbst 2011 erscheint, dem Thema zu nähern.

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Neue Reproduktionstechnologien Bernard, Andreas: »Die Leihmutter«, in: Eva Esslinger u.a. (Hg.), Die Figur des Dritten – ein Paradigma der Kulturwissenschaften. Frankfurt/M. [erscheint im August 2010]. Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, München 1988. Bunge, R. G./Sherman, J. K.: »Frozen Human Semen«, in: Fertility and Sterility 5 (1954), S. 193-194. Döderlein, Albert: »Ueber künstliche Befruchtung«, in: Münchener medizinische Wochenschrift 59 (1912), S. 1081-1084. Goody, Jack: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Frankfurt/M. 1989. Guttmacher, Alan F.: »The Role of Artificial Insemination in the Treatment of Human Sterility«, in: Bulletin of the New York Academy of Medicine (2nd Series) 19 (1943), S. 573-591. Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/M. u.a. 1992. Lévi-Strauss, Claude: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 1983. Levy, Paul: Über die Ausführung der künstlichen Befruchtung am Menschen, Inaugural-Dissertation, Würzburg 1888. Mundy, Liza: Everything Conceivable. How Assisted Reproduction is Changing Men, Women, and the World, New York 2007. Rohleder, Hermann: Die künstliche Zeugung (Befruchtung) beim Menschen, Leipzig 1911. Seymour, Francis I./Koerner, Alfred: »Artificial Insemination. Present Status in the United States as Shown by a Recent Survey«, in: Journal of the American Medical Association 116 (1941), S. 2747-2749. Spallanzani, Lazzaro: Versuche über die Erzeugung der Thiere und Pflanzen, Leipzig 1786. Stoeckel, Walter: Lehrbuch der Gynäkologie, 2. Aufl., Leipzig 1928. Veil, Siegfried: Über die Indikationsstellung, die bisherigen Erfolge, Methoden und die rechtlichen Fragen der künstlichen Befruchtung, Würzburg 1940. Volkmann, H. u.a.: »Aussprache künstliche Befruchtung«, in: Medizinische Klinik 39 (1939), S. 72-75, S. 97-100, S. 123-126 und S. 147-150.

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Monströse Väter und missratene Töchter. Familiendramen und andere Katastrophen in Lessings Emilia Galotti und Lenz’ Der Hofmeister ACHIM GEISENHANSLÜKE

Familienbilder in der Literatur Dass die sogenannte Kernfamilie in allen Gesellschaftsformen der Menschheitsgeschichte eine Rolle gespielt hat und keineswegs erst eine Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft ist, hat der Sozialanthropologe Jack Goody in seiner Untersuchung zur Geschichte der Familie betont.1 Die Familie kann als durch Heirat oder Abstammung begründete Hausgemeinschaft definiert werden, wobei der lateinische Ursprung des Begriffes auf den Besitz des Mannes, des pater familias, verweist. Im derart weit gefassten Begriff der Familie überlagern sich nicht nur biologische und soziologische Momente, sondern auch ökonomische, rechtliche, politische und religiöse Aspekte. Die Rechtsverhältnisse, die in der Familie durch Ehe, Lebenspartnerschaft, Familie und Verwandtschaft begründet werden, betreffen u.a. Fragen des Unterhalts, der Vormundschaft, der Adoption und des Erbrechts. Auf Strategien des Erbrechts, insbesondere auf Adoption und Mitgift, geht auch Jack Goody in seiner Untersuchung ausführlich ein.2 Das Hauptaugenmerk des Anth-

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Jack Goody: Geschichte der Familie, München 2002. Goody interessieren insbesondere die Strategien des Erbrechts, der Adoption und der Mitgift. So hält er fest: »Adoption ist eine nahe liegende Methode, einen Erben zu rekrutieren, wenn keine Kinder oder keine des relevanten Geschlechts vorhanden sind« (ebd., S. 55). Die Mitgift versteht er als »Allokation von väterlichem (mitunter auch anderem) Be-

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Achim Geisenhanslüke ropologen liegt aber auf einem anderen Bereich. Das entscheidende Kriterium für das Zustandekommen der familiären Hausgemeinschaft ist demzufolge das Ereignis der Heirat, das die Ethnologie im Rahmen der rites de passages begreift, die das soziale Leben strukturieren.3 Heirat und Hochzeit erscheinen im ethnologischen Kontext keineswegs als Resultate einer freien Entscheidung des Individuums, sondern als streng geregelte Prozesse. Mit Hilfe von Heiratsregeln steuert eine Gesellschaft die sozialen Normen, um festzulegen, unter welchen Umständen eine Hochzeit zwischen Paaren stattfinden darf. Die Regel kann präferativ oder präskriptiv sein. In jedem Fall aber erscheint die Heirat als ein kodifizierter Vorgang, wie das viel diskutierte Beispiel der Kreuzkusinenheirat zeigt. Die Regeln, die die Familienbildung bestimmen, sind zugleich geschichtlichen Veränderungen unterzogen. Auf den ersten Blick scheint im Rahmen einer umfassenden Modernisierungsbewegung der Gesellschaft auch eine wachsende Entfernung von den Heiratsregeln vorzuliegen. Die strenge Kodifizierung der Heirat hat in der Moderne nachgelassen. Eine besondere Bedeutung für gesellschaftliche wie literarische Umbrüche kommt in diesem Zusammenhang der von Reinhart Koselleck als »Sattelzeit« bezeichneten Schwellenphase um 1800 zu.4 Aus soziologischer Perspektive hat Niklas Luhmann den Umbruch als den Übergang von einer stratifikatorischen zu einer funktionalen Gesellschaftsform beschrieben. War die Durchlässigkeit von Heiraten und damit verbundenen sozialen Aufstiegen oder Abstiegen in der stratifikatorischen Gesellschaft relativ gering, so wächst diese mit der Ausbildung einer funktionalen Gesellschaft, innerhalb derer sich Ökonomie, Recht, Politik, Religion und Kunst als autonome Systeme herausbilden. Im Blick auf die Literatur um 1800 nimmt das bürgerliche Trauerspiel eine besondere Rolle für die Evolution der Gesell-

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sitz an die heiratende Frau in Form einer Mitgift« (ebd., S. 125). Insgesamt gelten ihm »Mitgift und Erbschaft als Teilaspekte eines Übereignungsprozesses zwischen den Generationen, der Töchtern den Zugang zum väterlichen Besitz ermöglicht« (ebd.). Zur Bedeutung der Liminalität in der Ethnologie vgl. Arthur van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passages), Frankfurt/M./New York 2005, zum Thema Verlobung und Heirat S. 114-141. Vgl. Reinhart Koselleck: »Einleitung«, in: ders./Otto Brunner/Werner Conze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972ff., Band I, S. XIIIXXIII.

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Monströse Väter und missratene Töchter schaft ein. Im Trauerspiel als Medium bürgerlichen Selbstverständnisses gewinnt das Thema der Familie eine neue Bedeutung. Hatte Koselleck die Sattelzeit um 1800 als Übergang zur Moderne in dem Zeitraum zwischen 1775 und 1825 angesiedelt, so steht das bürgerliche Trauerspiel, das in Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti aus dem Jahr 1772 seinen Prototypen gefunden hat, am Anfang einer Entwicklung, die mit der Herausbildung der funktionalen Gesellschaft endet. In dem Maße, in dem das bürgerliche Trauerspiel der Versicherung eines neuen gesellschaftlichen Selbstverständnisses dient, lassen sich von Lessings Drama Aufschlüsse erwarten, die über die Darstellung der Familie im Trauerspiel hinaus den sozialen Wandel der Zeit insgesamt betreffen. Das gilt allerdings nicht für Lessing und die Tradition des bürgerlichen Trauerspiels allein, sondern ebenso für das soziale Drama, das in Jakob Michael Reinhold Lenz seinen profiliertesten Vertreter gefunden hat. Schon Franziska Schößler hat darauf hingewiesen, dass die Familie das gemeinsame Thema des bürgerlichen Trauerspiels und des sozialen Dramas bildet.5 In ähnlicher Weise wie das bürgerliche Trauerspiel steht das soziale Drama im Ausgang des 18. Jahrhunderts für eine Neufassung der familiären Ordnung ein, die dem bürgerlichen Selbstverständnis der Zeit entspricht und dieses zugleich karikiert. Wie sich anhand von Lenz’ Der Hofmeister zeigen lässt, akzentuiert das soziale Drama das Thema der Familie jedoch auf eine ganz andere Weise als das Trauerspiel. Lessing und Lenz stehen vor diesem Hintergrund nicht nur für den oben skizzierten scheinbar linearen Übergang der stratifikatorischen in die funktionale Gesellschaftsordnung ein. Sie zeigen zugleich Alternativen auf, die mehr leisten als nur eine Selbstverständigung über das Wertesystem der Familie im Medium der Literatur, wie Günter Sasse es für das bürgerliche Trauerspiel behauptet hat.6 An Lessing und Lenz lässt sich zugleich zeigen, dass die Modernisierungsbewegung kontingenter verläuft, als es die soziologische Theorie glauben möchte, und dass sie den überlieferten Formen der Heiratsregeln mehr verdankt, als auf den ersten Blick vielleicht sichtbar wird. Vor diesem Hintergrund möchte der vorliegende Beitrag nicht nur die Familienbilder in den Dramen Lessings und Lenz’ auf dem

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Vgl. Franziska Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, Darmstadt 2003, S. 8. Vgl. Günter Sasse: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung, Tübingen 1988.

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Achim Geisenhanslüke Übergang in die Moderne zur Darstellung bringen. Der vergleichende Blick auf das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama will zugleich den Blick für den mythischen Kern schärfen, der im Familiendrama verhandelt wird. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, zunächst einen kurzen Blick auf den Ort der Familie im antiken Drama zu werfen, um darauf aufbauend anhand von Claude Lévi-Strauss’ Untersuchung über Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft den Kernbereich der Familienbildung, die Heiratsregeln, zu erhellen, bevor auf dieser Grundlage Lessings Emilia Galotti und Lenz’ Der Hofmeister in den Blick rücken.

Mythos und Familie Dass die Literatur mehr leisten kann als eine Selbstverständigung über das Wertesystem der Familie, zeigt der Blick auf die antike Tragödie. Das liegt insbesondere in der Verbindung von Tragödie und Mythos beschlossen. Das antike Theater, das Hans-Thies Lehmann insgesamt als eine prädramatische Form begriffen hat, ist nicht nur eine Partizipation am mythischen Vorstellen, sondern zugleich eine szenische Reflexion, die etwas anderes als eine bloße Affirmation mythischer Bilder leistet.7 Der Begriff des Mythos meint in diesem Zusammenhang nicht allein einen Korpus von Erzählungen oder eine spezifische Denkweise, die in der Tragödie zur Darstellung kommt. Vielmehr nennt der Mythos eine vorgeschichtliche Ordnung, die von der Tragödie kritisch befragt wird. »Die Tragödie modelt und bastelt nicht aufatmend am Mythos herum, sondern macht ihn fundamental zum Problem«8, hält Hans-Thies Lehmann fest. Dass diese Problematisierung des Mythos in der Tragödie etwas mit dem Thema der Familie zu tun hat, ist mehr als offenkundig. Fast alle überlieferten Tragödien setzen sich mit der Geschichte von Familien auseinander. Sie tun das allerdings auf eine spezifische Art und Weise. Was über die bloße Feststellung der häufigen Präsenz von Familienkonflikten in der Tragödie in die Augen fällt, ist die Erfahrung der Familie als eine im Mythos fundierte und zugleich wesentlich zerstörerische Ordnung. Die Beziehung der Familienmitglieder in der Tragödie ist stets eine katastrophische. Zahlreiche Geschichten können dies

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Vgl. Hans-Thies Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 5f. Ebd., S. 19.

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Monströse Väter und missratene Töchter belegen: Das berühmte Beispiel von Ödipus erzählt die Geschichte eines Vatermörders, der die eigene Mutter heiratet und mit ihr vier Kinder zeugt, deren männliche Glieder sich in der Folge wechselseitig umbringen. Die Medea von Euripides zeigt das Beispiel einer Mutter, die in einem beispiellosen Akt der Selbstbehauptung und Selbstvernichtung zugleich ihre eigenen Kinder tötet. Auch das Schicksal Orests schließt eine lange Vorgeschichte familiärer Verhängnisse ab. Zwar ist die Orestie eine der wenigen Tragödien mit glücklichem Ausgang. Ihr vorangegangen ist aber eine Kette von familiären Verstrickungen, innerhalb derer der Vater Agamemnon seine Tochter zu opfern bereit ist, aus diesem und verschiedenen anderen Gründe bei seiner Rückkehr aus Troja von seiner Ehefrau und ihrem Liebhaber getötet wird, bevor dann der Sohn den verruchten Muttermord übernehmen muss. Ob es sich um das Geschlecht der Atriden oder der Labdakiden handelt: Das verhängnisvolle Geschick der Familie wird in der Tragödie stets auf eine mythische Urszene zurückgeführt, derzufolge die Eltern die Kinder, die Kinder die Eltern und die Geschwister sich gegenseitig in einer scheinbar endlosen und unaufhebbaren Wiederholungsstruktur töten. Die Orestie wie die Geschichte von Ödipus und seiner Tochter Antigone zeigen aber noch einen zweiten Aspekt auf, der das Thema der Familie betrifft: die rechtliche Seite der Tragödie. So ist die Orestie in einem förmlichen Sinne als eine Rechtsverhandlung zu verstehen, innerhalb derer, wie schon Hegel dargelegt hat, über die Schuld des Muttermörders befunden wird.9 In der gleichen Weise verhandelt die Antigone zwischen den unterschiedlichen Rechtsansprüchen des neuen Herrschers Kreon und seiner Nichte Antigone, allerdings mit einem ungleich desaströseren Ergebnis als in der Orestie, die mit dem Freispruch des Angeklagten endet. Was die antike Tragödie szenisch vorführt, ist ein Rechtsstreit zwischen verwandten und zugleich miteinander verfeindeten Parteien, der regelmäßig katastrophisch endet und eine Form der Gewalt offenbart, die sich aus dem Mythos herleitet. Vor diesem Hintergrund scheint das Trauerspiel um 1800 im Zeichen der Aufklärung ganz andere Akzente zu setzen. Die mythische Bestimmung der Familie als Ort kontingenter Gewalter-

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Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Über die wissenschaftliche Behandlung des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften«, in: ders., Jeaner Schriften 1801-1807, Werke 2, Frankfurt/M. 1986, S. 434-530, zur Orestie S. 495f.

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Achim Geisenhanslüke fahrungen weicht einer Darstellung, innerhalb derer es um die fortschreitende Emanzipation der Gesellschaft von der Natur geht. Schon die von Horkheimer/Adorno herausgearbeitete Dialektik der Aufklärung lässt jedoch erkennen, dass der erste Blick trügt. Wenn der Sieg der Aufklärung über den Mythos nur ein scheinbarer war, wie Horkheimer/Adorno behaupten, dann schreibt sich auch im bürgerlichen Trauerspiel der Aufklärung jene Dialektik ein, die die Literatur an den Mythos zurückbindet. Gerade Lessings Emilia Galotti, die mit dem Mord des Vaters an der eigenen Tochter endet, gibt dafür ein signifikantes Beispiel. In das bürgerliche Trauerspiel scheint auf überraschende Art und Weise das mythische Verhängnis zurückzukehren, das die Aufklärung ursprünglich zu überwinden angetreten war. Die Verbindung zum Mythos, die noch das bürgerliche Trauerspiel bestimmt, liegt in dem Zusammenhang von Opfer und Tausch begründet, der schon die antike Tragödie leitet und sich in besonderer Art und Weise auf die Familie bezieht. Vor diesem Hintergrund besteht die Aufgabe der Untersuchung zunächst darin, den mythischen Strukturen der Verwandtschaft im Blick auf den Zusammenhang von Opfer und Tausch nachzugehen. Einen vielversprechenden Ausgangspunkt für die Analyse des mythischen Kerns der Familie bildet Claude Lévi-Strauss’ Untersuchung über Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft.

Claude Lévi-Strauss und die elementaren Strukturen der Verwandtschaft Mit seiner Untersuchung über Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft aus dem Jahr 1949 hat Claude Lévi-Strauss trotz der Kritik, zu der sein strukturalistischer Ansatz herausgefordert hat, bis heute die umfassendste Darstellung zur Familienbildung vorgelegt. Die zentrale These Lévi-Strauss’ bezieht sich auf den Inzest als Übergang von Natur und Kultur und den darin begründeten Regelcharakter des menschlichen Zusammenlebens. Die Regelhaftigkeit, die Lévi-Strauss herausarbeitet, betrifft unmittelbar den Prozess der Familienbildung. Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft definiert er folgendermaßen: »Unter ›elementaren Strukturen der Verwandtschaft‹ verstehe ich solche, in denen die Nomenklatur es ermöglicht, den Kreis der Blutsverwandten und der Schwiegerverwandten unmittelbar zu bestimmen: Systeme, welche die Heirat mit einem bestimmten Typus von Verwandten festlegen; oder, wenn

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Monströse Väter und missratene Töchter man es lieber will, Systeme, die zwar alle Mitglieder der Gruppe als Verwandte definieren, diese jedoch in zwei Kategorien unterteilen: mögliche und verbotene Gatten.«10

Blutsverwandtschaft, Ehe und Abstammung nennen die drei Säulen, auf denen Lévi-Strauss die elementaren Strukturen der Verwandtschaft aufbaut11. Für Lévi-Strauss entscheidend ist die Tatsache, dass es klare Regeln gibt, die das zentrale Moment der Ehe bestimmen. Diese schränken nicht nur die Wahlmöglichkeit ein. Sie äußern sich unmittelbar im Verbot, bestimmte Familienmitglieder zum Ehepartner zu nehmen. Den Ausschluss bestimmter Gatten führt Lévi-Strauss auf das Inzestverbot zurück. Den Inzest begreift er in diesem Zusammenhang als eine Form, die sowohl der Natur als auch der Kultur angehört. Die Ordnung der Natur definiert er durch Universalität, die der Kultur durch Normativität. Was universal ist, gehört zum Bereich der Natur, was einer Norm unterliegt, zum Bereich der Kultur. Das Inzestverbot, das zugleich universal wie auch normativ ist, lässt sich demzufolge als ein einzigartiges Brückenelement zwischen Natur und Kultur begreifen. »Das Inzestverbot besitzt sowohl die Universalität der Triebe und Instinkte als auch den zwingenden Charakter der Gesetze und Institutionen«12, meint Lévi-Strauss, um im Inzestverbot den Übergang von Natur zu Kultur zu erblicken. Das Thema des Inzestverbotes verbindet Lévi-Strauss in Anknüpfung an die Untersuchungen von Marcel Mauss mit dem des Tausches. Soziale Gruppen sind demzufolge in einem beständigen Tausch von Werten befangen. Das betrifft in besonderer Weise die Frauen, die die höchsten Tauschgüter verkörpern: »Denn die Frau selbst ist nichts anderes als eines dieser Geschenke, freilich die höchste jener Gaben, die nur in Form gegenseitiger Gaben zu er-

10 Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 1993, S. 15. 11 Claude Lévi-Strauss meint, »damit es überhaupt eine Verwandtschaftsstruktur gibt, müssen drei Typen von Familienbeziehungen, die immer in der menschlichen Gesellschaft gegeben sind, zusammentreffen, das heißt: die der Blutsverwandtschaft, der Ehe und der Abstammung: anders ausgedrückt, eine Verwandtschaft von blutsverwandten Geschwistern, eine Verwandtschaft von Ehemann und Ehefrau, und eine von Elternteil und Kind« (Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie I, Frankfurt/M. 1978, S. 61). 12 C. Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, S. 55.

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Achim Geisenhanslüke halten sind.«13 Eine soziale Gruppe konstituiert sich durch einen beständigen Frauentausch, wobei Lévi-Strauss zugleich die grundlegende Tatsache betont, »daß die Männer es sind, die die Frauen tauschen, und nicht umgekehrt.«14 Die Frau, so LéviStrauss’ Voraussetzung, ist zunächst nichts anderes als ein Tauschobjekt, das ein Band der Gegenseitigkeit zwischen Männern errichtet. Als Regulativ des Tausches tritt das Inzestverbot auf. Denn dieses zwingt zu einer allgemeinen Umverteilung der Güter: »das Verbot des sexuellen Verkehrs mit der Tochter oder der Schwester zwingt dazu, die Tochter oder die Schwester einem anderen Mann zur Frau zu geben, und erzeugt zugleich ein Recht auf die Tochter oder die Schwester dieses anderen Mannes.«15 Das entscheidende Moment, das Lévi-Strauss dem Inzest zuspricht, ist nicht allein das biologische Verbot des sexuellen Verkehrs mit bestimmten Blutsverwandten, sondern die soziale Zirkulation von Frauen: »es ist der Tausch und immer wieder der Tausch, der als die fundamentale und gemeinsame Basis aller Modalitäten der Institution der Ehe hervortritt«16, hält Lévi-Strauss fest, um zugleich zu betonen: »Das Inzestverbot ist weniger eine Regel, die es untersagt, die Mutter, Schwester oder Tochter zu heiraten, als vielmehr eine Regel, die dazu zwingt, die Mutter, Schwester oder Tochter anderen zu geben.«17 Der Tausch schafft auf dieser Grundlage ein Prinzip der Gegenseitigkeit, dass darauf beruht, dass die Männer auf die eigenen Töchter oder Schwestern verzichten und daraus einen Rechtsanspruch auf andere Frauen als mögliche Gattinnen ableiten können. Weitere Vorgaben wie etwa die Kreuzcousinenheirat dienen auf der Grundlage dieses allgemeinen Gesetzes der konkreten Verteilung von Frauen innerhalb eines patriarchal bestimmten Systems. Lévi-Strauss beschränkt die Ergebnisse seiner Arbeit jedoch nicht auf primitive Gesellschaften: »Um eine kurze Interpretation der Struktur der europäischen Verwandtschaftssysteme zu skizzieren, brauchen wir also nicht irgendeinen archaischen Zustand zu rekonstruieren, in dem die indogermanische Gesellschaft vielleicht die Kreuzkusinenheirat praktiziert hat oder sogar einer [sic!] Teilung in exogame Hälften kannte. Es genügt anzumerken, daß Europa in seinem gegenwärtigen Zustand oder in einer noch jungen Vergangenheit eine

13 14 15 16 17

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

124. 188. 106. 640. 643.

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Monströse Väter und missratene Töchter Gesamtheit von strukturalen Merkmalen aufweist oder aufgewiesen hat, die alle dem unterstehen, was wir den verallgemeinerten Tausch nannten.«18

Zwar scheint die moderne Gesellschaft eine freie Gattenwahl innerhalb der Grenzen der verbotenen Verwandtschaftsgrade vorzusehen und Gleichheit der Geschlechter im Hinblick auf die Heiratswünsche und Emanzipation von der Verwandtschaft vorzusehen. Dennoch bleiben Inzestverbot und Tausch als Grundlagen der Verwandtschaftsstrukturen und der damit verbundenen Heiratsregeln erhalten. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die nach dem Ort der Literatur im sozialen System der Familie. Das Beispiel der antiken Tragödie zeigt eine klare Verletzung der Regeln an, die die Verwandtschaftssysteme bestimmen, so im Inzest des Ödipus oder im Mutermord des Orest. Dabei scheint die Tragödie alle möglichen Konflikte abzuschreiten, die die Grundlagen der Verwandtschaftsstruktur betreffen. Geschwister wie Polyneikes und Eteokles töten sich gegenseitig, Klytaimnestra ermordet ihren Gatten, Eltern töten ihre Kinder ebenso wie Kinder ihre Eltern. Die Frage, wie die relativ moderne Form des bürgerlichen Trauerspiels mit den Familienkonflikten umgeht, die schon die antike Tragödie bestimmen, kann Lessings Emilia Galotti zu beantworten helfen.

Frauenopfer. Lessings Emilia Galotti In der Strukturalen Anthropologie stellt Lévi-Strauss die These auf, »daß man die Heiratsregeln und die Verwandtschaftssysteme als eine Art Sprache ansah, das heißt als ein Operationsgefüge, das dazu bestimmt ist, zwischen den Individuen und den Gruppen einen bestimmten Kommunikationstyp zu sichern.«19 Wenn schon die Heiratsregeln eine Art Sprache darstellen, dann scheint die Tragödie eine Art zweiter Sprache zu liefern, innerhalb derer die Regeln auf eine Weise zur Darstellung kommen, die sich, wie schon im Zusammenhang von Tragödie und Mythos in der Antike deutlich geworden ist, nicht in der Affirmation der Gesetze erschöpfen muss, die eine soziale Gruppe bestimmen. Eine entscheidende Rolle kommt in diesem Zusammenhang nicht nur der Heirat selbst zu, sondern der Funktion des Mannes, der für die Verteilung der Frau verantwortlich ist. So hebt Lévi-Strauss her-

18 Ebd., S. 632. 19 C. Lévi-Strauss : Strukturale Anthropologie I, S. 74.

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Achim Geisenhanslüke vor: »damit ein Mann eine Gattin erhält, muß diese direkt oder indirekt von einem anderen Mann abgetreten werden, der in den einfachsten Fällen ihr gegenüber die Position eines Vaters oder eines Bruders hat.«20 Lévi-Strauss betont vor diesem Hintergrund die besondere Position des mütterlichen Onkels in Familienzusammenhängen, der oft als Geber fungiert. Das bürgerliche Trauerspiel scheint dagegen die Position des Vaters und sein Verhältnis zur eigenen Tochter in den Mittelpunkt zu rücken. Das gilt bereits für Lessings Miss Sara Sampson, in besonderer Weise aber für die Emilia Galotti. Lessings Trauerspiel entfaltet von Beginn an eine Rivalität zwischen Emilias Vater Odoardo und dem Prinzen um die Tochter. »Auch kenn’ ich ihren Vater. Er ist mein Freund nicht«21, merkt der Prinz gegenüber dem Maler Conti an. Dessen Replik legt den Finger auf die Wunde: »Der Vater! Aber hier haben wir seine Tochter.« (297) Der Prinz interessiert sich zwar für die Tochter Odoardos. Von Anfang an muss er allerdings mit dem Widerstand des Vaters rechnen, der nicht dazu bereit ist, ihm das eigene Kind abzutreten. Der Grund liegt nicht allein in der Angst des Vaters um einen möglichen Fehltritt seiner Tochter. Sie ist schon vergeben, und ganz im Sinne Lévi-Strauss’ dient die bevorstehende Hochzeit vor allem dazu, ein Band zwischen dem Vater und dem Schwiegersohn zu stiften. Es ist mehr als auffällig, dass sich vor allem Odoardo für den Grafen Appiani entschieden hat. »Alles entzückt mich an ihm.« (311) Schon Wilfried Barner bemerkt vor diesem Hintergrund: »Sympathische Zuneigung scheint vor allem zwischen Odoardo und Appiani zu walten: Sie wenden die Liebestopoi aufeinander an (II, 4 u. 7), während dem Liebespaar nur eine vergleichsweise karge Szene bleibt.«22 Günter Sasse geht in eine ähnliche Richtung: »Fast will es scheinen, als beabsichtige Appiani Emilia nur zu heiraten, um zum Sohn Odoardos zu werden.«23 Das ideale Verhältnis von Vater und Schwiegersohn verweist in der eigentümlichen Liebessemantik nicht nur auf eine Erotisierung zwischen den Männern, die durch Emilia vermittelt wird. Nach den Vorgaben der strukturalen Anthropologie erfolgt 20 Claude Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie II, Frankfurt/M. 1992, S. 99. 21 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe, Band VII, 1770-1773, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt/M. 2000, S. 297. Im Folgenden Seitenangaben in Klammern im Text. 22 Wilfried Barner (Hg.): Lessing. Epoche – Werk – Wirkung, München 1981, S. 212. 23 G. Sasse: Die aufgeklärte Familie, S. 188.

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Monströse Väter und missratene Töchter die Verheiratung der Tochter nach genau den Regeln, die das Inzestverbot notwendig gemacht hat: Der Vater tritt seine Tochter an einen anderen Mann ab, die Wahl obliegt weniger der Tochter als dem Familienoberhaupt, das sich darüber hinaus narzisstisch im zukünftigen Schwiegersohn spiegelt. Der weitere Verlauf des Trauerspiels ist von der wachsenden Entfernung des Vaters von seiner Tochter bestimmt. Nach der Ermordung Appianis entbrennt der Streit zwischen dem Vater und dem Fürsten vollends. Er nimmt wie schon in der antiken Tragödie die Form eines Rechtstreites an, innerhalb dessen zur Frage steht, wer die Entscheidungsgewalt über Emilia besitzt. So versichert Marinelli Odoardo zwar zunächst. »Allerdings wird der künftige Aufenthalt der Tochter einzig von dem Willen des Vaters abhängen.« (361) Zugleich aber stellt er fest: »Der Prinz entscheide.« (361) Das Einzige, was nicht in Frage zu stehen scheint, ist die Tatsache, dass Emilia selbst nicht entscheidet. Im Vater und im Fürsten treffen zwei unterschiedliche Ansprüche aufeinander, die sich auf den Besitz Emilias richten. Während der Vater Emilia in der Verfügungsgewalt der Familie verbleiben lassen möchte, will der Fürst sie aus der Familie lösen. Odoardos Lösung sieht ein Kloster als einzigen sicheren Aufenthalt der Tochter vor. Der Prinz will sie ins eigene oder ein befreundetes Haus schaffen, um eine Trennung zwischen Mutter und Tochter vorzunehmen, die sich im Drama auch sprachlich realisiert: »Mutter und Tochter und Vater.« (365) Das verbindende »und«, mit dem Marinelli seine Aufzählung der Familienmitglieder versieht, trennt die Familie in ihre einzelnen Bestandteile auf. Der Prinz und Marinelli versuchen mit allen Mitteln, die fest etablierte familiäre Ordnung zu zerstören, um die Tochter aus dem Machtbereich des Vaters zu entfernen. Überraschend an ihrem Vorgehen ist einzig die Tatsache, dass es letztlich nicht gelingt. Im Mord an der eigenen Tochter beweist der Vater, dass er mit seiner Entrechtung nicht einverstanden ist. Die Tochter bleibt in seinem Besitz. In Odoardo zeigt sich das archaische Bild eines Vaters, der die Familie als Besitz betrachtet, über den er frei verfügen kann. Der Mord markiert den Einbruch einer mythischen Ordnung in das scheinbar aufgeklärte Drama, der auf jene Dialektik verweist, die Horkheimer/Adorno festgehalten haben. Er vollzieht einen Umschlag von Liebe und väterlicher Fürsorge in Gewalt, der schon die zeitgenössischen Gemüter erhitzt hat. Der zerstörerische Umschlag von Liebe in Gewalt, mit dem das Drama endet, wird bereits an früherer Stelle deutlich. Er betrifft die Figur der Gräfin Orsina. Einen Einbruch des Mythos in das

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Achim Geisenhanslüke bürgerliche Trauerspiel markiert der Auftritt der Gräfin in mehrerlei Hinsicht. Schon im einleitenden Gespräch mit dem Maler Conti wird sie vom Prinzen als ein mythisches Ungeheuer eingeführt. Der Prinz hat Angst vor den »stieren, starren Medusenaugen der Gräfin« (296). Die Gräfin, von Rache und Eifersucht getrieben, erscheint so von Beginn an als Gegenbild zur tugendhaften und gehorsamen Emilia. Ihre Rachephantasie kulminiert im Bild einer dionysischen Zerstückelung des einstigen Geliebten, das unmittelbar an antike Vorbilder erinnert: »Wann wir einmal alle, – wir, das ganze Heer der Verlassenen, – wir alle in Bacchantinnen, in Furien verwandelt, wenn wir alle ihn unter uns hätten, ihn unter uns zerrissen, zerfleischten, sein Eingeweide durchwühlten, – um das Herz zu finden, das der Verräter einer jeden versprach, und keiner gab!« (356)

Die Gräfin Orsina imaginiert, was Kleist seine Penthesilea dann Wirklichkeit werden lässt: die Zerfleischung des geliebten Körpers, den sich die Gräfin kannibalisch einverleiben will. Als Bacchantin und Furie zugleich stellt sie sich in die Tradition der von Euripides beschriebenen Bakchen, die im Zeichen des Dionysos eine Destabilisierung der politischen Gewalt der Männer hervorbringen. Odoardo aber ist eben ein solcher Mann. Er geht daher einen anderen Weg als die Gräfin. Statt auf die »Rache des Lasters« (359) setzt er auf »die gekränkte Tugend« (359). Wo die Phantasie der Gräfin um die Zerstückelung des Körpers kreist, imaginiert Odoardo einen Begriff der Tugend, der sogar den Tod Emilias erlauben soll. Alles beginnt mit Zweifeln an der Tochter. »Aber – (Pause) wenn sie mit ihm sich verstünde?« (367) Unvorstellbar ist für den Vater, dass seine Tochter eine Einigung erzielt, die ohne ihn zustande kommt. Auch sie selbst beruft sich ihrem Vater gegenüber auf eine mythische Kraft, auf das Blut, das sie zu einer Verwandten macht und das zugleich in eine andere Richtung drängt: »Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne, sind Sinne.« (369) Der Verweis auf die eigene Sinnlichkeit, die der im wahrsten Sinne des Wortes blutleeren Tugend Odoardos entgegensteht, erscheint an dieser Stelle zwar völlig unvermittelt. Er verweist über die bürgerliche Entgegenstellung von Neigung und Pflicht hinaus, die Sasse zufolge zur »Aufspaltung ihrer Person in eine sinnliche und eine mo-

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Monströse Väter und missratene Töchter ralische Existenz«24 führt, auf einen mythischen Kernbereich, der auch in Odoardos Tat zu Tage tritt. Die Tochter muss bluten: ODOARDO: O, meine Tochter! – EMILIA: O, mein Vater, wenn ich Sie erriete! – Doch nein; das wollen Sie auch nicht. Warum zauderten Sie sonst? – in einem bittern Tone, während daß sie die Rose zerpflückt: Ehedem wohl gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum zweiten das Leben gab. Aber alle solche Taten sind von ehedem! Solcher Väter giebt es keinen mehr! ODOARDO: Doch, meine Tochter, doch! indem er sie durchsticht: Gott, was hab’ ich getan! sie will sinken, und er faßt sie in seine Arme EMILIA: Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert. – Lassen sie mich sie küssen, diese väterliche Hand. (370)

Die doppelte Apostrophe »O, meine Tochter!« und »O, mein Vater« errichtet ein Band zwischen den beiden, das in der Forschung häufig auf das Thema des Inzests bezogen worden ist. So erblickt Inge Stephan in den Frauengestalten des bürgerlichen Trauerspiels »das Opfer einer Fetischisierung der Reinheit, die die Männer an ihnen vollstrecken und die sie für sich selbst annehmen.«25 Das bürgerliche Trauerspiel kulminiert Stephan zufolge im Opfer der Frau: »Die sozial- und gesellschaftspolitische Stoßrichtung des bürgerlichen Trauerspiels basiert auf dem ›Frauenopfer‹ im konkreten und übertragenen Sinne: Die Töchter sterben als Opfer im Konkurrenzkampf der Väter mit dem Liebhaber bzw. feudalen Verführer, und sie sterben ein zweites Mal als Opfer einer Reinheitsvorstellung, die die Voraussetzung für ihre Verfügbarkeit im Machtkampf der Männer ist.«26

Die Frage nach der Verfügbarkeit der Frau im Machtkampf der Männer führt auf die von Lévi-Strauss angeführte Inzestproblematik zurück. Der Text inszeniert Emilias Tod überdeutlich als Defloration. Das deutet die Identifikation Emilias mit der Rose ebenso an wie ihre Penetration durch den väterlichen Stahl, der sie wie ein Sturm »entblättert«. Aber ganz unabhängig von der Erotisierung des Mordes zeigt sich Odoardo am Schluss der Tragödie als pater familias, als der er auch von Emilia im Vergleich 24 Ebd., S. 214. 25 Inge Stephan: »›So ist die Tugend ein Gespenst‹. Frauenbild und Tugendbegriff im bürgerlichen Trauerspiel bei Lessing und Schiller«, in: Lessing Yearbook XVII (1985), S. 1-20, hier: S. 9. 26 Ebd., S. 16f.

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Achim Geisenhanslüke mit dem Schicksal Verginias angesprochen wird. Er verweigert den Tausch und behält die Tochter für sich. Der Tod entzieht Emilia der Tauschstruktur, die Lévi-Strauss als Grundlage der Verwandtschaftssysteme herausgearbeitet hat. Wenn das Verbot des sexuellen Verkehrs mit der Tochter oder der Schwester dazu zwingt, die Tochter oder die Schwester einem anderen Mann zur Frau zu geben, dann löst sich Odoardo von den Regeln, die die Heirat im sozialen System bestimmen. In ähnlicher Weise wie in der antiken Tragödie zeigt das bürgerliche Trauerspiel eine Verletzung der elementaren Strukturen der Verwandtschaft als Grundlage der Katastrophe. Während die Tragödie die Verletzung jedoch voraussetzt, erscheint sie in der Emilia Galotti, auch darin der Dialektik der Aufklärung treu, am Schluss. Nicht nur kehrt das Verdrängte entstellt zum Schluss des tragischen Verlaufs wieder. Es lässt Odoardo zu einer monströsen Gestalt werden, dem schrecklichen Doppelgesicht des fürsorglich liebenden und des tötenden Vaters. »So wird im Bild des die Tochter umarmenden Vaters und der seine Hand küssenden Tochter noch einmal das familiale Verhältnis von Liebe, Schutz, Gehorsam und Dankbarkeit evoziert und zugleich in seinen irrealen Momenten offenbar: ist doch die schützende, liebevolle väterliche Umarmung der Tochter zugleich auch die tödliche Umarmung«27,

fasst Günter Sasse zusammen. Was das bürgerliche Trauerspiel am Beispiel der Emilia Galotti zeigt, ist jedoch weniger Liebe, Schutz, Gehorsamkeit und Dankbarkeit als Grundlage der Familie als vielmehr die unvermittelte Verfügungsgewalt des Vaters über seine Tochter, eine Gewalt, die nur deswegen als Unglück über die Familie hereinbricht, weil sie ihren mythischen Grund darstellt.

Die Auflösung der Familie. Lenz’ Der Hofmeister Wenn Aufklärung nach Horkheimer/Adorno das Ziel verfolgt, »von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen«28, dann erreicht Lessing das Ziel der Aufklärung nur in einem äußerst problematischen Sinne. Nicht nur im Fall des gewiss nicht aufgeklärten Prinzen herrscht, wie die Regieanweisung 27 G. Sasse: Die aufgeklärte Familie, S. 215. 28 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988, S. 9.

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Monströse Väter und missratene Töchter vermerkt, am Ende »Entsetzen und Verzweiflung« (371). Die Angst hat sich nur verschoben: Vom Prinzen ist sie zum Vater gewandert. Er erscheint als tyrannischer Herrscher, der seine Familienmitglieder opfert, um sein moralisches Weltbild zu erhalten. Ein ganz anderes Bild der Familie als Lessing gibt dagegen Jakob Michael Reinhold Lenz in der Tragikomödie Der Hofmeister aus dem Jahre 1774. Die dreifache Hochzeit zwischen Läuffer und Liese, Fritz und Gustchen sowie Pätus und der Jungfer Rehbein, mit der das Stück endet, scheint für eine beispiellos reibungslose Auflösung dramatischer Konfliktstellungen einzustehen. Der versöhnliche und gerade darum komische Schluss des Dramas trägt die die dort verhandelten Konflikte jedoch keineswegs aus. Vielmehr erscheint er wie eine Momentaufnahme innerhalb eines dramatischen Verlaufs, der ungleich prosaischer ist als der in Lessings Trauerspiel. Die Unterschiede zwischen den fast zeitgleich entstandenen Dramen Lessings und Lenz’ fallen ins Auge. Sie betreffen nicht nur die Form, den Schritt von den fünf Akten des klassischen Dramas zur freien Szenenfolge des sozialen Dramas, die Vervielfachung der dramatischen Charaktere und die prosaische Sprache, die Lenz in Anknüpfung an den jungen Goethe in das Trauerspiel einführt. Auch die Darstellung der Familie hat sich verändert. Hatte Lessing die Macht des Vaters über seine Tochter in den Mittelpunkt des Trauerspiels gestellt, so kehrt Lenz die Perspektive um. Im Zentrum seines Dramas stehen die Kinder, die sich gegen die Macht der Eltern auflehnen, sich in der scheinbar neu gewonnenen Freiheit aber nur in neue Konflikte verstricken. Im Mittelpunkt des Dramas stehen die Geschichte des Hofmeisters Läuffer, der beim Major Berg eine Stelle als Hauslehrer annimmt, sowie die Liebesgeschichte zwischen Fritz, dem Sohn des Geheimen Rates, Bruder des Majors, und dessen Tochter Gustchen. Dass Fritz und Gustchen heiraten wollen, stößt bei seinem Vater zu Beginn des Dramas nicht auf Begeisterung. Er droht dem Sohn sogar mit dem Heer und Gustchen mit dem Kloster, sollten beide sich nicht der Vernunft beugen und mit der Ehe warten. Die Kinder, die aus eigenem Antrieb eine im Unterschied zur Kreuzcousinenheirat selten belegte Parallelcousinenheirat anstreben, leiden nicht nur unter der repressiven Sexualmoral ihrer Eltern, sondern an einer Orientierungslosigkeit, die sie durch literarische Vorbilder auszugleichen suchen. Die Liebe von Fritz und Gustchen stellt Lenz von Beginn an in den Kontext des Schicksals von Romeo und Julia. Der Vergleich von Fritz und Gustchen mit Romeo und Julia ist allerdings mehr als eine für den Sturm-und-

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Achim Geisenhanslüke Drang charakteristische Reminiszenz an das Vorbild Shakespeare. Er dient zugleich der parodistischen Entlarvung des modernen Liebespaars, das sich selbstgefällig in den vorgefertigten Rollen spiegelt. Zwar werden Fritz und Gustchen durchaus als empfindsames Liebespaar eingeführt, das sich ewige Treue schwört. Die Fortsetzung der Handlung zeigt jedoch, wie es um den frommen Wunsch bestellt ist: Während Fritz im Halleschen Studentenleben versinkt, dort aufgrund von Geldschwierigkeiten seines Freundes Pätus sogar in den Kerker muss, beginnt seine Julia schon bald eine Affaire mit einem anderen Romeo. Die Forschung hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Lenz die Verbindung zwischen Läuffer und Gustchen in den Kontext der Melancholie stellt.29 Gustchen porträtiert den Hofmeister als Melancholiker, »tiefsinnig«, die Augen voll Wasser, »Sie essen nichts.«30 Das stereotype Bild Läuffers als Melancholiker ist gleichwohl nicht Selbstzweck. Es dient dazu, ihn symbolisch zu erniedrigen, eine Erfahrung, die dem mittellosen Hofmeister nicht fremd ist. Er findet zunächst im Zeichenunterricht, dann in der Liebesaffaire ein Mittel, sich für die Erniedrigung zu rächen. Der Hofmeister schwängert die Tochter des Hauses, muss darauf ebenso wie seine Julia das Haus verlassen. »Deine Dochter – Der Hofmeister. – Lauf! Fällt in Ohnmacht.« (76), so lautet der Kommentar der Majorin. Laufen muss aber nur einer. »Läuffer läuft fort«, kommentiert Lenz das Geschehen in einer der häufigen Regieanweisungen. Die unerwartete Wendung, die mit Gustchen, Läuffer und ihrem gemeinsamen Kind eine ganz und gar illegitime Familienbildung in Aussicht stellt, hat Auswirkungen, die zugleich das Verhalten der Väter betreffen. Während Fritz unschuldig, aber eben doch im Gefängnis sitzt, ist der Geheime Rat nicht dazu bereit, seinem Sohn zu helfen. Der Major, der seine Frau ohnmächtig von der Bühne schleppt – es ist zugleich ihr letzter Auftritt im Drama –, will Bauer werden, weil seine Tochter »zur Hure gemacht« und überhaupt »die ganze Welt zur Hure« (76) gemacht worden sei. Gustchen dagegen findet bei der blinden Bettlerin Marthe Unterschlupf. Als sie sich unvermittelt entschließt, ihr Kind bei der Bettlerin zu lassen, um zum Vater zurückzukehren,

29 Vgl. Gert Mattenklott: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, Stuttgart 1968. 30 Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, hg. von Sigrid Damm, Band I, Frankfurt/M. 1987, S. 60. Im Folgenden Seitenangaben in Klammern im Text.

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Monströse Väter und missratene Töchter und ebenso unvermittelt nach dem Vorbild von Hamlets Ophelia aufgrund eines Traumbildes des trauernden Vaters den Tod im Wasser sucht, zieht dieser sie mit den Worten »Das ist der Weg zu Gustchen oder zur Hölle!« (93) aus dem Teich. Das wiedergefundene Kind gilt ihm zugleich als »mein einzig teurester Schatz« und eine »gottlose Kanaille« (94). Ähnlich unvermittelt und widersprüchlich verläuft die Begegnung Läuffers, der sich inzwischen dem Drängen seines symbolischen Ersatzvaters Wenzeslaus folgend kastriert hat, mit Marthe, die sein Kind auf den Armen trägt. »Gebt es mir auf den Arm – O mein Herz! – Daß ich’s an mein Herz drücken kann – Du gehst mir auf, furchtbares Rätsel! Nimmt das Kind auf den Arm und tritt damit vor den Spiegel. Wie? dies wären nicht meine Züge? Fällt in Ohnmacht; das Kind fängt an zu schreien.« (100)

Der Anblick des eigenen Kindes haut den unverhofften Vater um. Nach der Majorin fällt auch Läuffer in Ohnmacht. Damit tritt er zugleich das Kind an Fritz ab, der Gustchen am Ende doch bekommen darf. Läuffer wendet sich dagegen dem Landmädchen Liese zu, das eigentlich die bunten Röcke der Soldaten liebt, zur Not aber auch mit einem Geistlichen vorlieb nimmt: »von meiner ersten Jugend an hab ich die studierte Herren immer gern gehabt; sie sind alleweil so artig, so manierlich, nicht so puff paff wie die Soldaten, obschon ich einewege die auch gern habe, das leugn ich nicht, wegen ihrer bunten Röcke; ganz gewiß, wenn die geistlichen Herren in so bunten Röcken gingen wie die Soldaten, das wäre zum Sterben.« (115)

Zum Sterben komisch ist der Schluss des Dramas, der mit Läuffer und Liese, Fritz und Gustchen und Pätus und Jungfer Rehbein gleich drei unmögliche Paare bildet. Der kastrierte Läuffer und seine Liese bilden ein ideales Paar, da sie keine Kinder will: »Nein Herr Schulmeister, ich schwör’s Ihm, in meinem Leben möcht ich keine Kinder haben. Ei ja doch, Kinder! Was sie nicht meinen! Damit wär mir auch wohl groß gedient, wenn ich noch Kinder dazu bekäme. Mein Vater hat Enten und Hühner genug, die ich alle Tage füttern muß; wenn ich noch Kinder obendrein füttern müßte.« (117)

Fritz und Gustchen sind ein ideales Paar, weil Romeo seiner Julia nicht nur den Fehltritt verzeiht, den Emilias Vater so sehr gefürchtet hat, sondern sie deshalb nur umso höher schätzt:

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Achim Geisenhanslüke »Dieser Fehltritt macht sie mir nur noch teurer – macht ihr Herz nur noch englischer – Sie darf nur in den Spiegel sehn, um überzeugt zu sein, daß sie mein ganzes Glück machen werde, und doch zittert sie immer vor dem, wie sie sagt, ihr unerträglichen Gedanken: sie werde mich unglücklich machen. O was hab ich von einer solchen Frau anders zu gewarten als einen Himmel?« (122)

Die Hölle, wäre die einzig adäquate Antwort. In ähnlicher Weise wie später Kleist in der Marquise von O. spielt Lenz mit Himmel und Hölle, Engel und Teufel, um das Unwahrscheinliche wahrscheinlich werden zu lassen.31 Fritz nimmt Gustchen zur Frau und erkennt das Kind als seines an. Der Kastrat und der Gehörnte werden zu gleichermaßen komischen Familienvätern. Die forcierte Versöhnung, mit der Der Hofmeister endet, macht deutlich, dass die strukturellen Vorgaben der Heiratsregeln als Grundlage der Verwandtschaft im sozialen Drama anders als im bürgerlichen Trauerspiel außer Kraft gesetzt sind. Von der Veränderung sind alle Familienmitglieder gleichermaßen betroffen. Hatte Lessing Odoardo als fürsorglichen Vater dargestellt, um dessen Liebe abschließend in einem beispiellosen Akt der Gewalt münden zu lassen, so zeigt Lenz den Geheimen Rat und den Major als scheinbar harte Hunde, die sich im Verlauf des Dramas zu empfindsamen Vätern wandeln. Die Parallelkusinenheirat kommt zustande, weil die Väter den Söhnen, die Söhne den Vätern und alle Männer Gustchen vergeben. Weder sie noch ihr Kind müssen sterben, um der Familienehre genug zu tun. Gustchen hat nicht nur ihr Kind bekommen, sondern in Fritz auch den Vater, den sie sich ursprünglich gewünscht hätte. Wie schon Peter Szondi bemerkt hat, zeigt Lenz’ Drama einen beispiellosen Verfall des Tragischen auf, der folgerichtig in die Komödie mündet. »Die Werke, deren zentrale Figur sie sind, Die Soldaten und Der Hofmeister heißen in der Lenzschen Poetik Komödien. Sie können so heißen, weil die alte Komödie, in der ein Charakterzug verlacht werden sollte, die Komödie Molières und auch noch der Frühaufklärung, in eins mit der alten Tragödie, vom bürgerlichen Trauerspiel, vom drame, verdrängt worden sind.«32

31 Zur Definition von Liebe als Kommunikationsmedium, das das Unwahrscheinliche ermöglicht, vgl. Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1982. 32 Peter Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Der Kaufmann, der Hausvater und der Hofmeister. Studienausgabe der Vorlesungen, Band I, Frankfurt/M. 1973, S. 186.

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Monströse Väter und missratene Töchter Schon Lessings Emilia Galotti weist im Rahmen einer Poetik des Zufalls Züge der Komödie auf.33 Lenz geht darüber hinaus, indem er die angebliche Tragik bürgerlicher Verhältnisse auf die Prosa der Verhältnisse zurückführt, die schon für Hegel die Moderne bestimmt. Prosaisch nüchtern ist seine Darstellung der Familie in der Aussetzung aller tragischen Komponenten wie Mord und Inzest zugunsten neuer Rechtsprobleme wie dem der unehelichen Zeugung mit anschließender Kastration des leiblichen Vaters und der Adoption des Sohnes durch den Ehegatten. Mit Lenz’ Drama, so könnte man schließen, ist bürgerliche Normalität auf der Bühne eingekehrt. Sie ist zum Schießen komisch, nur scharf geschossen wird nicht mehr, und das befreiende Lachen, das die Komödie auslöst, bleibt dem Zuschauer im Halse stecken.

Von der Familientragödie zur Liebeskomödie Der Vergleich von Lessings Emilia Galotti und Lenz’ Der Hofmeister diente nicht allein dazu, die unterschiedlichen literarischen Formen des bürgerlichen Trauerspiels und des sozialen Dramas im Ausgang des 18. Jahrhunderts vorzustellen. Beide Dramen, so die Voraussetzung der Überlegungen im Blick auf die Genese der Moderne, fallen in eine Umbruchszeit, die sich als Ausbildung einer funktionalen Gesellschaftsform beschreiben lässt, innerhalb derer sich auch der Status der Familie verändert. Vom Ort symbolischer Gewalt, die sich in der antiken Tragödie wie im bürgerlichen Trauerspiel innerhalb der mythischen Ordnung der Familie offenbart, die auf elementare Verwandtschaftsstrukturen zurückgeht, wird die Familie zu einem prosaischen Ort bürgerlicher Normalität. Das bedeutet keineswegs, dass das bürgerliche Zeitalter, wie schon Peter von Matt gezeigt hat, keine katastrophischen Wendungen mehr kennt.34 Im Gegenteil: Inzest, Mord, Rache spielen weiterhin eine große Rolle, nur nicht mehr als Grund von Familien- und anderen Tragödien. Was die Moderne kennt, sind die Familienromane der Neurotiker, deren Geschichte die Psychoanalyse und Thomas Mann erzählen. Der Übergang von der Tragödie zur Prosa, den schon Hegel im Blick auf die Literatur seiner Zeit ausführlich beschrieben hat, ist nicht nur ein ästhetischer, son-

33 Vgl. Horst Steinmetz: »Emilia Galotti«, in: Lessings Dramen. Interpretationen, Stuttgart 1987, S. 87-137, zur Rolle des Zufalls S. 106f. 34 Vgl. Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München 1997.

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Achim Geisenhanslüke dern zugleich ein rechtlicher Prozess, der die Grundlagen der Familie bestimmt. Hatte Lévi-Strauss die elementare Strukturen der Verwandtschaft im Blick auf die Heiratsregeln und das Inzestverbot herausgearbeitet, von dem Sigmund Freud behauptet, es sei »vielleicht die einschneidendste Verstümmelung, die das menschliche Liebesleben im Laufe der Zeiten erfahren hat«35, dann scheint Lessings Emilia Galotti die unbeschränkte Machtfülle des Familienoberhaupts noch einmal vorzuführen, um sie im Prozess der Dialektik der Aufklärung zugleich als ein geschichtliches Auslaufmodell zu präsentieren. Lenz stellt die Familie dagegen als eine flexible Gemeinschaftsform dar, innerhalb derer die verallgemeinerte Form des Tausches, die Lévi-Strauss im Anschluss an Marcel Mauss zur Grundlage der Gesellschaft erhebt,36 nicht mehr auf eine feste Struktur zurückgeht – das Verwandtschaftsatom, bestehend aus »einem Mann, seiner Frau, einem Kind und einem Vertreter der Gruppe, von der der Mann die Frau empfangen hat«37 –, sondern in dem neue Verteilungsmöglichkeiten möglich sind, die neue Konfliktmöglichkeiten und einen neuen rechtlichen wie ästhetischen Umgang mit ihnen ermöglichen. Dass sich dieses Neue nicht als Mangel oder Verlust einer einmal zugrundegelegten Einheit verstehen lässt, hat schon Michel Foucault hervorgehoben, der auch in der modernen Familie eine bestimmte Form des Inzests am Werk sieht, einen »Inzest des Kontaktes, des Blicks und der Überwachung, der die Basis der modernen Familie geworden ist.«38 Foucaults strenger Blick auf den überwachenden Blick der Macht kann jedoch im Fall der Familie nicht überzeugen. Der Zusammenhang von Überwachen und Strafen, den Foucault seiner Genealogie des modernen Rechts zugrundelegt, geht noch immer von einer Dramatisierung des

35 Sigmund Freud: Gesammelte Werke XIV, Frankfurt/M. 1999, S. 463. 36 Die Grundlagen des Tausches hat Marcel Mauss in seiner Untersuchung über die Gabe herausgearbeitet. Mauss erblickt im Tausch die Grundlage der Gesellschaft: »nous croyons avoir ici trouvé un des rocs humains sur lesquels sont bâties nos sociétés« (Marcel Mauss: Sociologie et anthropologie, Paris 1950, S. 148). Mauss zufolge lässt sich auf Grundlage des Tausches auch ein unmittelbarer Bezug zwischen primitiven und modernen Gesellschaften herstellen. »Des institutions de ce type ont réellement fourni la transition vers nos formes, nos formes à tous, de droit et d’économie. Elles peuvent servir à expliquer historiquement nos propres sociétés« (ebd., S. 228). 37 C. Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie I, S. 85. 38 Michel Foucault: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1975-1975), Frankfurt/M. 2007, S. 329.

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Monströse Väter und missratene Töchter Rechts aus, die antiken Mustern abgelesen ist. Prosaisch ist die ästhetische und die rechtliche Seite der Familie in der Moderne aber, da ihr die Kollision fehlt, die die Tragödie kennzeichnet. Dieses Fehlen ist kein Mangel, sondern ein Überschuss, kein Zuwenig, sondern ein Zuviel, eine Fülle an Gesetzen und Vergehen, die eine neue Lust der Übertretung zwischen gehorsamen Töchtern und ungehorsamen Söhnen oder gehorsamen Söhnen und ungehorsamen Töchtern möglich macht, je nachdem, welches Format der Weltgeist in seinen ästhetischen Formen wählt, die Tragödie der Familie, wie sie das antike Drama zeigt, oder die Komödie der Liebe, die die Moderne bestimmt.

Literatur Barner, Wilfried (Hg.): Lessing. Epoche – Werk – Wirkung, München 1981. Foucault, Michel: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1975-1975), Frankfurt/M. 2007. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke XIV, Frankfurt/M. 1999. Gennep, Arthur van: Übergangsriten (Les rites de passages), Frankfurt/M./New York 2005. Goody, Jack: Geschichte der Familie, München 2002. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: »Über die wissenschaftliche Behandlung des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften«, in: ders., Jeaner Schriften 1801-1807, Werke 2, Frankfurt/M. 1986, S. 434-530. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988. Koselleck, Reinhart: »Einleitung«, in: ders./Otto Brunner/Werner Conze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972ff, Band I, S. XIII-XXIII. Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Werke und Briefe in drei Bänden, hg. von Sigrid Damm, Band I, Frankfurt/M. 1987. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe, Band VII, 17701773, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt/M. 2000. Lévi-Strauss, Claude: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 1993.

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Achim Geisenhanslüke Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie I, Frankfurt/M. 1978. Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie II, Frankfurt/M. 1992. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1982. Matt, Peter von: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München 1997. Mattenklott, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, Stuttgart 1968. Mauss, Marcel: Sociologie et anthropologie, Paris 1950. Sasse, Günter: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung, Tübingen 1988. Schößler, Franziska: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, Darmstadt 2003. Steinmetz, Horst: »Emilia Galotti«, in: Lessings Dramen. Interpretationen, Stuttgart 1987, S. 87-137. Stephan, Inge: »›So ist die Tugend ein Gespenst‹. Frauenbild und Tugendbegriff im bürgerlichen Trauerspiel bei Lessing und Schiller«, in: Lessing Yearbook XVII (1985), S. 1-20. Szondi, Peter: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Der Kaufmann, der Hausvater und der Hofmeister. Studienausgabe der Vorlesungen, Band I, Frankfurt/M. 1973.

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»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs«? – Der juristische Diskurs über die Strafbarkeit des Inzests zwischen 1750 und 1850 MARTIN LÖHNIG

Fragmentierung familiärer Strukturen Das Sexualstrafrecht ist Spiegel gesellschaftlicher Prozesse. Mit dem Wandel von Familienbildern verändern sich die Vorstellungen von Inzest1 genauso wie mit dem Wandel politischer oder rechtsphilosophischer Strömungen, die die Grundlage der Schaffung von Strafnormen über Sexualität bilden. Inzest führt zur Fragmentierung familiärer Strukturen. Eine Sexualbeziehung zwischen Elternteil und Kind begründet eine neue Verbindung innerhalb der bestehenden Familie, die überdies gleichsam schief zum familiären Generationengefüge liegt und dieses sprengt. Das wird besonders deutlich, wenn aus einer solchen Verbindung ein Kind hervorgeht und damit innerhalb einer Familie eine neue Familie entsteht: Zeugen Vater und Tochter ein Kind, so ist dieses Kind ein Halbgeschwister der Kindesmutter, denn beide stammen vom selben Vater ab. Der Kindesvater ist gleichzeitig Großvater des Kindes seiner Tochter. Auch eine Sexualbeziehung zwischen Geschwistern kann zur Gründung einer neuen Familie innerhalb einer Familie führen, wenngleich hier keine Störung des Generationengefüges eintritt. Allerdings kommt es auch hier zu einer Rollenverdopplung, denn der Vater des Kin-

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Claudia Jarzebowski: »Inzest im 18. Jahrhundert in Preußen«, in: Antja Hilbig/Claudia Kajatin/Ingrid Miethe (Hg.), Frauen und Gewalt. Interdisziplinäre Untersuchungen zu geschlechtsgebundener Gewalt in Theorie und Praxis, Würzburg 2003, S. 75-88, hier: S. 77.

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Martin Löhnig des ist gleichzeitig Onkel und die Mutter gleichzeitig Tante ihres Kindes. Der eigentliche Skandal der inzestuösen, also als »unrein« (incestus) bezeichneten Handlung liegt jedoch in der Verletzung von sozial und kulturell als verbindlich aufgefassten Grenzen,2 ohne dass Einigkeit darüber bestünde, warum diese Grenzen eine derartige Verbindlichkeit erlangen konnten. Der seit der Neuzeit geläufige deutsche Begriff »Blutschande« wurde von den Nationalsozialisten für Beziehungen zwischen »Ariern« und »Nichtariern« verwendet, um diese Verbindungen mit dem mächtigen Inzesttabu in Verbindung zu bringen; deshalb ist dieser Begriff aus dem deutschen Inzestdiskurs nach 1945 nahezu verschwunden.

Wandlungen des Inzestbegriffs Die einleitend genannten Inzestkonstellationen legen selbstredend eine moderne Sichtweise des Inzests zugrunde, des Inzests als Sexualbeziehung innerhalb der Kleinfamilie und unter Blutsverwandten. Vormoderne Vorstellungen des Inzests beruhten hingegen auf der Annahme eines neben den Kleinfamilien bestehenden wesentlich umfassenderen Familienverbandes und auf anderen Verwandtschaftskonzepten, denn Verwandtschaft war nicht nur als Blutsverwandtschaft (consanguinitas), sondern auch als Schwägerschaft (affinitas) und als geistige Verwandtschaft (cognatio spiritualis) denkbar. Die auf diesem weiten Verwandtschaftsbegriff beruhenden Eheverbote des kanonischen Rechts - außereheliche Sexualität war ohnehin tabuisiert – reichten im Hochmittelalter bis zum (nach heutiger Rechnung) siebten Verwandtschaftsgrad.3 Zieht man außerdem die im Vergleich zu heute deutlich geringere Bevölkerungsdichte und Bevölkerungsmobilität in Betracht, so dürfte gerade in ländlichen Gegenden,4 aber auch im Adel oftmals kein geeigneter Ehepartner mehr zu finden gewesen sein.

2 3

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Vgl. Davin Warren Sabean: »Inzestdiskurse vom Barock bis zur Romantik«, in: L’Homme Z.F.G. 13/1 (2002), S. 7-28, hier: S. 7. Vgl. Jack Goody: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Frankfurt/M. 1989, S. 151ff.; auf dem Vierten Laterankonzil 1215 erfolgte eine Beschränkung auf den vierten Verwandtschaftsgrad im Decretum »de restricta prohibitione matrimonii«. Vgl. Leah Otis-Cour: Lust und Liebe – Geschichte der Paarbeziehungen im Mittelalter, Frankfurt/M. 2002, S. 62.

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»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs?« »Inzest« hatte überdies nicht einmal zwingend eine sexuelle Komponente, sondern normierte schlicht die Inkompatibilität bestimmter sozialer Rollen: So durfte der Vater eines Kindes beispielsweise nicht gleichzeitig Taufpate seines Kindes sein, weil Blutsverwandtschaft und geistige Verwandtschaft nicht in der gleichen Beziehung bestehen konnten. Der Pate eines Kindes durfte auch nicht dessen verwitwete Mutter ehelichen.5 Allein mit dem von Claude Lévi-Strauss6 entwickelten Modell des Frauentauschs lassen sich diese Regeln nicht erklären. Sie zwingen nicht nur zum Frauentausch, sondern legen gleichzeitig auch den Markt lahm, weil sie die Anzahl geeigneter Tauschpartner minimieren; außerdem weisen sie über den reinen Frauentausch hinaus. Bessere Erklärungen hat freilich bislang niemand angeboten, auch wenn Inzestverbote auch nach Lévi-Strauss immer wieder im Zentrum ethnologischer oder anthropologischer Untersuchungen standen, fußt doch nach einer pointierten Aussage Michel Foucaults, der sich auf Émile Durkheim beruft, die gesamte Anthropologie auf zwei Fragen: »Was isst du? Wen heiratest du nicht?«7 So etwa auch bei Jack Goody, der in seinem Standardwerk zur Entwicklung von Ehe und Familie in Europa8 verschwörungstheoretisch argumentiert und behauptet, die Kirche habe mittels weitreichender Inzestverbote die Zahl der Erben eines Menschen zu vermindern und damit die Position der Kirche als Erbin zu stärken versucht. Eher dürften derartige Regeln einer umfassenden Kontrolle des Tauschmarkts, nicht nur des Frauentauschmarkts, durch die Kirche gedient haben, denn das kirchliche Dispenswesen konnte eine Vielzahl verbotener Tauschgeschäfte für den Einzelfall ermöglichen und bildete damit Macht-

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6 7 8

Vgl. Josef Freisen: Geschichte des canonischen Eherechts bis zum Verfall der Glossenliteratur, Paderborn 1893, S. 507ff.; Bernhard Jussen: Patenschaft und Adoption im frühen Mittelalter, Göttingen 1991, S. 11ff. und 28ff. Vgl. Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 1993, S. 639ff. Michel Foucault: Die Anormalen, Frankfurt/M. 2007, S. 140. Vgl. J. Goody: Die Entwicklung von Ehe und Familie, S. 139ff.; dagegen David Herlihy: »Making Sense of Incest: Women and the Marriage Rules of the Early Middle Ages«, in: ders. (Hg.), Women, Familiy and Society in Medieval Europe, Providence/Oxford 1995, S. 96-109, hier: S. 96ff., 103f.

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Martin Löhnig position wie Einnahmequelle9 der Kirche. Die Kirche hat damit gleichsam dirigistisch in den Markt eingegriffen. Außerdem konnte die »Entdeckung« einer weitläufigen Verwandtschaft zur Aufhebung einer verbotswidrig geschlossenen Ehe führen und damit faktisch eine Ehescheidung ermöglichen,10 die das kanonische Recht nicht kennt, und damit einen Marktteilnehmer auch zu Lebzeiten seines Ehepartners wieder ins Geschäft bringen.

Das moderne Inzestmodell In den Jahren zwischen 1750 und 1850 veränderte sich der Kreis der Sachverhalte, die als Inzest bezeichnet wurden, grundlegend und es entstand das Inzestmodell, das auch den gegenwärtigen Diskurs über die Strafbarkeit des Inzests prägt, der angesichts der Bestrafung eines Leipziger Geschwisterpaares, das zusammen vier Kinder hat, in der letzten Zeit wieder an Intensität gewonnen hat. Dass der Bedeutungswandel des Inzestbegriffs in die Zeit zwischen 1750 und 1850 fällt, bestätigt einmal mehr die Behauptung Reinhart Kosellecks, dass in diesen von ihm als »Sattelzeit«, später präziser als »Schwellenzeit«11 bezeichneten Jahren »alte Worte neue Sinngehalte gewonnen haben, die mit Annäherung an unsere Gegenwart keiner Übersetzung mehr bedürftig sind«, und sich »die Herkunft zu unserer Präsenz« gewandelt habe.12 Im Zentrum des deutschen Diskurses über Inzest und seine Strafbarkeit stand Bayern, sicherlich nicht überraschend für all jene, die Bayern ohnehin für den Nabel der Welt halten. Für die »Blut=Schand« kam noch der Codex Iuris Bavarici Criminalis (CIBC, 1751) genauso wie die etwa zeitgleich entstan-

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»Wer nur die Taxe zu bezahlen im stande war, konnte sicher seyn, in den Graden, welche über die mosaischen Gesetze hinausgingen, heirathen zu dürfen« (Karl Georg von Waechter: Abhandlungen aus dem Strafrechte, Band I, Leipzig 1835, S. 182). 10 Vgl. dazu Richard H. Helmholz: Marriage Litigation in Medieval England, London 1974. 11 Reinhart Koselleck: »Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit«, in: ders./Reinhart Herzog (Hg.), Poetik und Hermeneutik XII: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, S. 269-282, hier: S. 273. 12 Reinhart Koselleck: »Einleitung«, in: ders./Otto Brunner/Werner Conze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972ff., Band I, S. XIII-XXIII, hier: S. XV.

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»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs?« dene österreichische Constitutio Criminalis Theresiana (CCT, 1764) mit wenigen Vorschriften aus.13 »Fleischliche Vermischung zwischen so nahen Bluts=Verwandten oder verschwägerten Personen, dass nach geistlichen Rechten keine gültige Ehe unter ihnen bestehen mag, wird […] bestrafft«. Auf diese Verweisung auf das kanonische Recht folgten Bestimmungen über das Strafmaß vom »Feuer« über das »Schwerdt« bis zur »Landes=Verweisung« (6. c. §§ 1f CIBC). Für die Strafbarkeit kam es nicht darauf an, dass Verwandtschaft oder Schwägerschaft durch eheliche Geburt vermittelt wurde (6. c. § 3 CIBC). Allerdings wendete 6. c. § 4 CIBC die »Straff der Blut=Schand« nicht auf Personen an, »welche nur civiliter oder spiritualiter: das ist von Adoption und Einkindschafts= oder von Tauff= und Firmungs=wegen befreundet seynd«, und ging insoweit von einem im Vergleich zum Kirchenrecht veränderten Verwandtschaftsmodell aus. Ansonsten handelt es sich bei den Regelungen des Codex zur »Blut=Schand« um Regelungen, die unter Verzicht auf ein eigenes Familien- und Verwandtschaftsmodell lediglich das seinen Regelungszwecken nach unklare kanonische Modell mit einer staatlichen Strafdrohung versahen, wobei das kanonische Recht freilich inzwischen weniger weitreichende Verbote vorsah und auf diese Weise den Tausch im Sinne einer exogamen Heiratspraxis am Laufen hielt, während endogame Heiraten weiterhin einen Dispens erforderten. Der CIBC sorgte, so betrachtet, für eine Bestrafung von marktwidrigem Verhalten.

13 Das deutsche Sexualstrafrecht vor der Aufklärung war von der christlichen Morallehre geprägt, die jegliche Sexualität außerhalb einer Ehe untersagte. Noch der Codex Iuris Bavarici Criminalis (CIBC, 1751) oder die österreichische Costitutio Criminalis Theresiana (CCT, 1764) straften Homosexualität (6. c. § 10 CIBC; Art. 74 CCT), Bigamie (6. c. § 9 CIBC; Art. 78 CCT) oder wiederholten Ehebruch (5. c. §§ 1ff CIBC; Art. 77 CCT) genauso mit dem Tode wie Blutschande (Inzest) unter Ascendenten (6. c. §§ 1ff CIBC; Art. 75 CCT) und Notzucht (Vergewaltigung, 6. c. § 7 CIBC; Art. 76 CCT). Während uns heute bei Kindsmissbrauch – eigentlich Missbrauch der elterlichen Sorge – und Vergewaltigung eine schwere Bestrafung des Täters einleuchtet, auch wenn wir als zivilisierte Menschen in solchen Fällen selbstverständlich niemals an die Todesstrafe denken, befremden uns die Kapitalstrafen für Homosexualität, Bigamie oder Ehebruch.

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Martin Löhnig

Die Grenze zwischen Tradition und Aufklärung R ECHTSPHILOSOPHIE Zunächst im romanischen Raum, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auch in Deutschland, wurde die Strafbarkeit des Inzests und anderer sexueller Handlungen zunehmend in Zweifel gezogen. Die Frage nach dem Verhältnis individueller Freiheit und staatlicher Strafgewalt und ihrer Rechtfertigung ist eines der bestimmenden Themen im rechtsphilosophischen Diskurs der Aufklärungszeit. Grundlage aller Erörterungen war die Loslösung des Sexualstrafrechts von christlichen Moralvorstellungen, was gleichzeitig die Frage nach der Rechtfertigung einer Strafbarkeit bestimmten Sexualverhaltens jenseits dieser Moralvorstellungen aufwarf. Hinzukam, dass im 18. Jahrhundert auf Grundlage umfassender kirchlicher Dispense eine zunehmend endogame, also auf die eigene soziale Umgebung beschränkte Heiratspraxis entstand,14 die notwendig die Frage aufwarf, ob derartige Verbindungen, so sie ohne Dispens eingegangen worden sein sollten, wirklich strafwürdig sein könnten. Karl Ferdinand Hommel, Beisitzer im Spruchkollegium der Leipziger Juristenfakultät, bemaß in seinen 1784 erschienenen »Philosophischen Gedanken über das Criminalrecht« die Strafbarkeit nach der Gefährlichkeit des Täters und nicht nach moralischen Maßstäben:15 »Hat sie [die Tat] aber keinen nachtheiligen Erfolg im gemeinen Wesen, so ist sie gleichgültig; allerwenigstens kein Gegenstand der bürgerlichen Strafgesetze«. Deshalb enthielt sein Werk keinen Abschnitt über die »fleischlichen Fehltritte«, »weil nehmlich diese nur Sünden, nicht aber Verbrechen sind, wodurch man dem gemeinen Wesen schadet«. In der Einführung zur deutschen Ausgabe des Werkes »dei delitti e delle pene« (1764) des italienischen Rechtsphilosophen und Strafrechtsreformers Cesare Beccaria, der einige Jahre zuvor bereits ähnliche Gedanken vertreten hatte, unterschied Hommel plastisch drei verschiedene Kategorien: »Ein Loch im Strumpf zu haben, ist weder Sünde noch Verbrechen, sondern Schande; seine Schwester zu heyrathen, ist bey den Christen Sünde, aber kein bürgerliches Unrecht. Denn Verbrechen oder Unrecht heißt nur dasjeni-

14 Vgl. D.W. Sabean: Inzestdiskurse, S. 21. 15 Vgl. Carl Ferdinand Hommel: Philosophische Gedanken über das Criminalstrafrecht, Breslau 1784, § 67.

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»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs?« ge, wodurch ich jemanden beleidige. […] Mensch, Bürger und Christ sind drey unterschiedene Begriffe«16.

Der fränkische Jurist Johann Jakob Cella hielt in seiner Monographie »Ueber Verbrechen und Strafe in Unzuchtsfällen« (1787) etwa zur gleichen Zeit den Inzest für ein »moralisches Verbrechen […], das die Grundpfeiler des Staates im Innersten erschüttert«. Bei ihm trat an die Stelle der christlichen Moral also gleichsam eine Staatsmoral zur Beförderung der öffentlichen Ordnung. Aber Cella ging nicht davon aus, dass Inzest deshalb bestraft werden müsste. »Dass der Mensch selbst sich dadurch ruiniert, sich und seinen moralischen Karakter entadelt, macht ihn an und für sich so wenig zum peinlichen Verbrecher, als der es ist, der durch unnatürlichen Genuss starker Getränke sich zum unbrauchbaren siechen Menschen macht, oder nach und nach gar zu tod sauft.«17

Hommel und Cella dachten also rechtsgutbezogen: Der Jurist solle sich nicht »durch moralische Plauderei« beeinflussen lassen, denn »Missetat und Unrecht ist nur dasjenige, wodurch ich entweder meinem einzelnen Nächsten oder […] dem gemeinen Wesen etwas unmittelbar entziehe«18. Nur die Verletzung eines geschützten Rechtsgutes konnte also die Strafbarkeit eines Menschen begründen. Als Rechtsgüter kamen allein Rechte des Einzelnen oder des »gemeinen Wesens« in Betracht. Die hergebrachte Verbindung zwischen christlichen Eheverboten und Inzeststrafbarkeit wurde bei Cella und Hommel also durch die Einführung der Rechtsgutsverletzung als Kriterium für die Strafbarkeit gelöst. Ein eigenes, säkulares Familiemodell entwarfen beide freilich nicht, aber das war auch nicht ihr Anliegen.

R ECHTSPRAXIS Die Rechtspraxis nahm diese Gedanken zügig auf, suchte geradezu nach Milderungsgründen und sprach auf Grundlage des un-

16 Carl Ferdinand Hommel: »Vorrede zu Beccaria«, in: ders. (Hg.), Des Herren Marquis von Beccaria unsterbliches Werk von Verbrechen und Strafen, Breslau 1778, S. V. 17 Johann Jakob Cella: Ueber Verbrechen und Strafe in Unzuchtsfällen, Zweibrücken 1787, S. 24. 18 C.F. Hommel: Vorrede zu Beccaria, S. 49.

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Martin Löhnig

verändert geltenden Rechts mildere Strafen aus als bisher.19 Auf Grundlage des bayerischen Codex erreichte man dies durch Eingruppierung der Tat in eine andere Deliktsgruppe oder Einordnung der Tat als bloßer Versuch. In Territorien, die über keinen Strafrechtskodex verfügten, wurde von den hohen Strafdrohungen des gemeinen Strafrechts nach und nach abgewichen. In der deutschen strafrechtlichen Literatur der 1790er Jahre war man sich so v.a. übern den Wegfall der Todesstrafe als Sanktionsmittel für Inzest einig. Karl Ludwig Wilhelm Grolman etwa wendete sich in seinen Grundsätzen der Criminalrechts-Wissenschaft (1798) gegen die überkommene Auffassung Benedict Carpzovs des Jüngeren zur Bestrafung des Inzests, die lange Zeit gleichsam als Gesetz gedient habe. Carpzov wollte insbesondere die Blutschande in gerader Linie mit dem Schwert strafen, im Anschluss daran hatte auch der bayerische Codex diese Strafe vorgesehen. »Diejenigen, welche Autoritätssklaverey hassten, widersetzten sich einem solchen Gerichtsgebrauch, so dass er schlechterdings nicht mehr als allgemein geltend angesehen werden kann und es den Richtern unbenommen ist, ihr Ermessen durch vernünftigere Gründe bestimmen zu lassen«20.

Grolman ging davon aus, dass man bei Inzest zwischen Personen, die in der Regel einen Dispens für eine Eheschließung erhalten könnten, lediglich Geldstrafen verhängen dürfe; für ihn steht damit eher die Ordnungswidrigkeit fehlender Dispensbeantragung im Vordergrund. Bei Inzest unter Verwandten in gerader Linie und zwischen Geschwistern müsse man zwar härter verfahren, »weil in diesen Fällen die Unterlassung dieser Unzucht für den Staat besonders wichtig und kein geringes Hindernis für die Bildung der Staatsbürger ist«. Aber die Strafe dürfe keinesfalls höher als sechs bis zehn Jahre Gefängnis sein. Grolman jedoch verknüpfte, wie auch sein Zeitgenosse Christian Friedrich Meister, auf Grundlage des geltenden Rechts aber weiterhin Eheverbote und Inzeststrafbarkeit. Meister definierte den Inzest nämlich als »delictum, quod fit concubitu inter consanguineos, vel affines, inter quos matrimonium legibus prohibi-

19 Vgl. dazu K.G. von Waechter: Abhandlungen aus dem Strafrechte, S. 200f. 20 Karl Ludwig Wilhelm Grolman: Grundsätze der Criminalrechts-Wissenschaft, 1. Aufl., Gießen 1798, § 553.

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»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs?« tus est«.21 Er grenzte sich, ähnlich wie Grolman, von Carpzov ab, dessen Auffassungen nicht mehr als Gewohnheitsrecht angesehen werden könnten, und sah vergleichbare Strafhöhen als Gemeines Deutsches Strafrecht an. Noch etwas mildere Strafen schlug Paul Johann Anselm Feuerbach, auf den noch zurückzukommen sein wird, in seinem Lehrbuch des Gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts vor.22 Er ging beim Inzest unter Verwandten in gerader Linie von vier bis sechs Jahren Gefängnis aus, nannte für den Geschwisterinzest zwei bis vier Jahre und hielt ansonsten maximal ein Jahr Gefängnisstrafe oder Geldstrafe für angemessen.

G ESETZGEBUNG Die Gesetzgebungen des späten 18. Jahrhunderts griffen diese Tendenz auf. Beispiele sind das Strafgesetzbuch für die Toskana (1786), die österreichische Josephina (1787) und das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR, 1794). Als Reformprojekte spätaufklärerischer absolutistischer Staaten durchbrachen sie nun den Zusammenhang zwischen christlichen Eheverboten und Inzeststrafbarkeit, indem sie von einem anderen Verwandtschafts- und Familienmodell als das Kirchenrecht ausgingen und nicht mehr auf die christliche, sondern auf die öffentliche Moral zum Schutz der Familie als Ordnungsfaktor für das Gemeinwesen abstellten. Es erfolgte – und damit wurde in der Tat eine aufklärerische Forderung verwirklicht – also eine Säkularisierung der Inzeststrafbarkeit,23 die nun nicht mehr half, die christlich geprägte Sexualordnung mit Strafe zu bewehren, und damit erfolgte auch eine Säkularisierung des staatlichen Familienbildes: die Familie als moralische Anstalt im Dienste des Staates. Der Staat als die sich selbst genügende, vollkommene Gemeinschaft mit dem Ziel der Wohlfahrt seiner Bürger besteht aus Familien als seinen Teilen, die durch den Staat auf das gemeinsame Beste ausgerichtet werden. 21 Christian Friedrich Meister: Principia juria criminalis Germaniae communis, 3. Aufl., Göttingen 1798, § 285. 22 Vgl. ebd., § 465. 23 Unzutreffend deshalb Brigitte Kerchner, die von einem Paradigmenwechsel durch das ALR spricht, der bereits zuvor in der Toskana und in Österreich stattgefunden hat (Brigitte Kerchner: »Ein öffentliches Geheimnis – Blutschande im 19. Jahrhundert«, in: Jutta Emig/Claudia Jarzebowski/ Claudia Ulbrich (Hg.), Historische Inzestdiskurse, Königstein/Taunus 2002, S. 247-276, hier: S. 247).

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Martin Löhnig Der Begriff des Inzests erhielt im ALR, das uns als Beispiel für diese Gesetzgebungen dienen soll, bereits die Gestalt, in der er bis heute in § 173 StGB anzutreffen ist. Er erfasste nur noch sexuelle Handlungen unter Blutsverwandten im Verband der Kernfamilie – im Sexualstrafrecht spiegelte sich so auch das Sozialmodell des preußischen Gesetzgebers.24 »Ältern oder Großältern, welche ihre ehelichen Kinder oder Enkel zur Unzucht missbrauchen« waren mit drei bis fünf Jahren Festungshaft zu bestrafen (I 20 § 1039 ALR); zu bestrafen waren auch volljährige Abkömmlinge, jedoch nur mit sechs bis zwölf Monaten Zuchthaus (I 20 § 1040 ALR). Der Vorentwurf hatte in I III § 834 noch einen Strafrahmen von ein bis sechs Jahren für die Aszendenten vorgesehen und die – immerhin »zur Unzucht missbrauchten« – Deszendenten stets straffrei gelassen; auf diesen entscheidenden Unterschied wird noch zurückzukommen sein. Erwachsene Geschwister oder Halbgeschwister waren für Inzest mit ein bis zwei Jahren Festungshaft zu bestrafen (I 20 § 1041). Sexuelle Beziehungen unter Verschwägerten galten hingegen genauso wenig mehr als Inzest wie Beziehungen unter entfernteren Blutsverwandten, auch wenn hier zum Teil noch immer Eheverbote bestanden (vgl. II 1 §§ 3ff. ALR), etwa in Schwiegereltern- oder Stiefelternverhältnissen oder zwischen Onkel/Tante und Neffe/Nichte. Auch diese Verbote waren freilich deutlich reduziert worden, während sich das protestantische Eherecht im Bereich der Eheverbote nicht wesentlich vom zeitgleich geltenden kanonischen Recht unterschieden hatte. Auf diese Weise wurde eine endogame Heiratspraxis unter den Angehörigen verschiedener, weitläufig miteinander verwandter Kleinfamilien legalisiert und damit die Erhaltung materieller wie sozialer Ressourcen im Verwandtschaftsverband ermöglicht; Tauschpartner konnten nun also in der unmittelbaren Umgebung gesucht werden. Das preußische Landrecht stellte im Sexualstrafrecht also auf die Staatsmoral als Schutzgut ab und legte nicht das von Hommel oder Cella vertretene Konzept der Rechtsverletzung als Strafgrund zugrunde. Das wird auch an Äußerungen Carl Gottlieb Svarez’, der den Inhalt des ALR maßgeblich geprägt hat, zu Eheverboten25 deutlich. Svarez wollte Ehen verboten wissen, die auf »physische« Bedenken stießen – es ging ihm also um die Gefahr der Degeneration der Bevölkerung – oder die Sittsamkeit und Tugend v.a. des

24 Vgl. ebd., S. 249. 25 Vgl. Peter Krause (Hg.): Carl Gottlieb Svarez. Die Kronprinzenvorlesungen, Stuttgart 2000, S. 317ff.

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»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs?« weiblichen Geschlechts gefährdeten, wie das bei zu nahen Ehen der Fall sei. Diese Tugend sei für den Staat unverzichtbar. So findet sich im ALR denn auch die protestantisch geprägte Tendenz wieder, Moral auf paternalistische Weise zur Angelegenheit von Politik und Gesetzgebung zu machen. Es war zum Beispiel zur Verhinderung inkriminierter Sexualkontakte bei Strafe verboten, dass Kinder über zehn Jahren bei ihren Eltern im Bett schliefen, Gleiches galt für Geschwister verschiedenen Geschlechts über zehn Jahren (I 20 §§ 1044, 1045 ALR). Svarez war zwar der Auffassung, das »Laster der Unzucht« sei »an und für sich kein Gegenstand der Criminalgesetzgebung, weil, wenn die daran teilnehmenden Personen es freywillig verüben, dadurch niemand im Besitz und Genusse des Seinigen gestöhrt, folglich keine Zwangspflicht, deren Beobachtung allein durch CriminalGesetze gesichert werden soll, verletzt wird.«

In diesen Äußerungen legt er das Rechtsverletzungsmodell zugrunde, wie die Freiwilligkeit als Kriterium zeigt. Allerdings würden bei dieser Gelegenheit häufig andere Verbrechen begangen, zu denen Svarez neben der Notzucht auch die Blutschande rechnete, »wenn nahe Verwandte, die nach den Gesetzen des Staats einander nicht heirathen dürfen, Unzucht zusammen treiben«26. Den Gedanke, der Rechtsgutsverletzung führte er also nicht folgerichtig zu Ende, weil er die Blutschande unter die bei dieser Gelegenheit begangenen Verbrechen einordnete, ohne den Verbrechenscharakter der Blutschande ihrerseits auf Grundlage des Rechtsverletzungsmodells zu begründen.

Grenzüberschreitung S TRAFFREIHEIT

DES I NZESTS IN

F RANKREICH

Wenn die Gesetzgebungen aus den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts gleichsam an der Grenze zwischen Tradition und Aufklärung stehen, dann überschreiten das österreichische StGB von 1803, der französische Code Pénal von 1810 und das bayerische StGB von 1813 diese Grenze. Das österreichische Strafgesetzbuch von 1803 sah in § 115 vor, dass »Blutschande, welche zwischen Verwandten in auf- und absteigender Linie, ihre Verwandtschaft

26 Ebd., S. 792f.

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Martin Löhnig mag von ehelicher, oder unehelicher Geburt herrühren, begangen wird«, mit Kerker von sechs Monaten bis zu einem Jahr zu bestrafen ist. Damit war freilich nur der freiwillige Inzest gemeint, Notzucht oder Schändung Minderjähriger wurden deutlich härter bestraft. Der bislang am schärfsten – nämlich mit dem Tode – bestrafte Inzest unter Verwandten in gerader Linie wurde also nur noch mit einer minimalen Haftstrafe geahndet; Geschwisterinzest stand überhaupt nicht mehr unter Strafe. Die Staatsmoral trat zwar als strafrechtliches Schutzgut in Erscheinung, konnte jedoch offenbar nur noch geringe Strafen rechtfertigen. Einen Schritt weiter ging der Code Pénal: Er kannte ebenfalls keine Strafbarkeit des Geschwisterinzests mehr und stellte darüber hinaus auch den freiwilligen Inzest zwischen Verwandten in gerader Linie nicht mehr unter Strafe, wie der Abschnitt über die Verletzung der guten Sitten, Art. 330 ff, zeigt; etwas anderes galt freilich, wenn er durch Notzucht begangen wurde. Auf diesem Standpunkt steht der Code Pénal bis heute. Die Abschnittsüberschrift »attentats aux mœurs« zeigt freilich, dass auch der Code Pénal nicht vollständig auf dem Boden des Rechtsverletzungsmodells stand. Heute sind Sexualdelikte im Abschnitt über »atteintes à l'intégrité physique ou psychique de la personne« geregelt. Das französische Sexualstrafrecht von 1810 zeigt uns die Familie also staatsferner und damit moralisch autonomer als das preußische Strafrecht. Ehen etwa zwischen Geschwistern waren zwar weiterhin unerwünscht und verboten, außereheliche Sexualität zwischen Geschwistern wurde aber nicht mehr bestraft.

D ER

BAYERISCHE

K ÖNIG

GREIFT EIN

Max IV. Joseph von Bayern und sein Minister Montgelas leiteten gleich nach Regierungsantritt des späteren ersten bayerischen Königs im Jahre 1799 eine Strafrechtsreform ein. Zum Teil wird behauptet, gerade die Diskrepanzen zwischen dem Normtext des CIBC und der Rechtspraxis im Sexualstrafrecht seien ein Hauptanstoß für diesen Plan gewesen.27 In einem Wettbewerb zur Kritik eines bereits 1802 erarbeiteten Entwurfs erwies sich der bereits erwähnte Feuerbach nicht nur als geistreichster Kritiker, sondern empfahl sich zugleich als Verfasser eines neuen Strafgesetzbuchentwurfs, den er 1807 fertig stellte und der nach umfangreichen Prüfungen und Beratungen 1810 gedruckt wurde. Welche Verän27 Vgl. Wolfram Peitzsch: Kriminalpolitik in Bayern unter der Geltung des Codex Iuris Criminakis Bavarici von 1751, München 1968, S. 90ff.

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»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs?« derungen zwischen 1807 und 1810 erfolgt sind, wissen wir aufgrund eines Bombentreffers aus dem zweiten Weltkrieg nicht, der den Entwurf Feuerbachs vernichtet hat. Es darf aber vermutet werden, dass sich keine wesentlichen Änderungen ergeben haben.28 Im Entwurf von 1810 war die »Blutschande« nicht mehr genannt und folglich als solche straflos, soweit nicht die Tatbestände der Notzucht, des Missbrauchs oder der Unzucht mit Abhängigen erfüllt waren. Einverständliche Sexualität zwischen zwei mündigen Personen wurde also nicht mehr bestraft. Wie zeitgleich in Frankreich Gesetz geworden, strebte also auch Feuerbach die radikalste Reform des Inzeststrafrechts an, nämlich seine Abschaffung. Die öffentliche Moral war für Feuerbach genauso wenig Objekt strafrechtlichen Schutzes wie die Familie als solche, denn Feuerbach errichtete sein Strafgesetzbuch strikt auf dem Gedanken des reinen Rechtsgüterschutzes. »Der Staat kann nur Rechtsverletzungen, und zwar als solche bestrafen«;29 freilich konnten auch dem Staat Rechte zustehen, aber die Staatsmoral als solche ist kein Rechtsgut. Damit führte Feuerbach eine strikte Trennung von Moral und Gesetz30 durch, strikter als der Code Pénal, der noch von Verbrechen gegen die Sittlichkeit sprach. Der Feuerbach’sche Entwurf enthielt nicht einmal einen eigenen Abschnitt über das Sexualstrafrecht. Feuerbach ging von der Grundposition aus, dass die individuelle Freiheit vor staatlichem Zugriff zu schützen sei.31 Der Staat war für ihn allein Rechtsschutzanstalt: »Der Zweck des Staates ist die wechselseitige Freiheit aller Bürger, oder, mit anderen Worten der Zustand, in welchem jeder seine Rechte völlig ausüben kann, und vor Beleidigungen sicher ist.«32 Feuerbach vertrat damit letztlich ein bürgerlich-liberales Modell: Bis zur Grenze der Rechtsgutsverletzung hat der Staat keine Befugnis zur Einmischung und zwar zur Einmischung in die Entfaltung der Individualität des einzelnen Individuums. Die Familie steht damit nicht mehr gleichsam als Puffer zwischen dem Staat 28 Vgl. Fritz Eduard Rosenberger: Das Sexualstrafrecht in Bayern von 1813 bis 1871, Marburg 1973, S. 44f. 29 Paul Johann Anselm Feuerbach: Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Band I, Erfurt 1799, S. 65. 30 Vgl. ebd., S. 31f. 31 Vgl. Isabel V. Hull: »Das Sexuelle wird privat«, in: Claudia Opitz/Ulrike Weckel/Elke Kleinau (Hg.), Tugend, Vernunft und Gefühl, Münster 2000, S. 45-62, hier: S. 51f. 32 P.J.A. Feuerbach: Revision der Grundsätze, S. 39.

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Martin Löhnig und dem Einzelnen, sondern verliert ihren Charakter als öffentliche Institution und wird genauso zu einer Erscheinungsform der Lebensgestaltung des Einzelnen wie das selbstbestimmte Ausleben der eigenen Sexualität, das jedenfalls nicht mehr Anknüpfungspunkt für eine Bestrafung werden kann. Art. 207 des bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813 stellte jedoch, abweichend von Feuerbachs Entwurf, sexuelle Kontakte unter Geschwistern unter die Strafdrohung ein- bis vierjährigen Arbeitshauses, wenngleich auch der Begriff »Blutschande« nicht verwendet wurde. Das Strafmaß war identisch mit jenem beim Missbrauch von Schutzbefohlenen. In den amtlichen Anmerkungen zu Art. 206/207 StGB 1813, verfasst von Feuerbachs Rivalen Nikolaus Thaddäus Gönner, wurde nicht nur explizit von »Blutschande« gesprochen, sondern überdies auch die »Reinheit der Sitten in den Familien« als Schutzgut angesehen, selbst bei Art. 206, der Missbrauchsfälle regelte. Gönner ging davon aus, dass Beischlaf unter zu nahen Verwandten, die einander nicht heiraten können, nicht geduldet werden dürfe, weil er »eine der bürgerlichen Ordnung zuwiderlaufende und unsittliche Handlung ist«. Allerdings verwies er gleichzeitig darauf, dass die Blutschande »keine Verletzung der Rechte« verursache und deshalb Gegenstand der Polizeistrafgesetzgebung sei, auf die noch zurückzukommen sein wird. Dass die Strafbarkeit des Geschwisterinzests in Art. 207 völlig deplatziert im Abschnitt über den »Missbrauch der Privatgewalt« eingefügt worden ist, zeugt vom Unwillen Feuerbachs über diese Änderung genauso wie vom Zustandekommen dieser Regelung: Der König selbst war es, der – instruiert von politischen, aber nicht unbedingt weltanschaulichen Gegnern Feuerbachs – die Strafbarkeit der Blutschande unter Geschwistern angeordnet33 und damit einen Affront gegen Feuerbach ermöglicht hatte. Die Konsequenzen aus Feuerbachs rechtsphilosophischen Grundlagen dürften den König schlicht beängstigt haben. Gönner, auf den dieser Affront zurückging, machte durch die Einordnung des Art. 207 als Polizeistrafrecht freilich selbst deutlich, dass er die Norm für einen Fremdkörper im Strafgesetzbuch hielt. Das Strafgesetzbuch brachte, wie Gustav Radbruch zu Recht feststellte, Feuerbach »viel Ruhm, aber wenig Freude«34. 1814 schied er aus den Diensten des Königs aus und Gönner veran-

33 Vgl. F.E. Rosenberger: Das Sexualstrafrecht in Bayern, S. 180. 34 Gustav Radbruch: Paul Johann Anselm Feuerbach – Ein Juristenleben, Göttingen 1952, S. 84.

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»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs?« lasste in den Folgejahren zahlreiche Änderungen des Strafgesetzbuchs, die schließlich den beabsichtigten Effekt hatten: Die Systematik des Gesetzbuchs war ruiniert und der König beauftragte Gönner mit einem neuen Entwurf, der sich inhaltlich jedoch nicht allzu sehr vom Strafgesetzbuch Feuerbachs unterschied – die beiden waren eben vor allem auf persönlicher Ebene Rivalen. Beim Geschwisterinzest erhöhte Gönner den Strafrahmen und nahm den Begriff der »Blutschande« als Bezeichnung für Art. 269 StGBE 1822 wieder ins Gesetz auf. »Aeltern und Blutsverwandte in aufsteigender Linie«, die mit ihren Abkömmlingen, und »leibliche eheliche Geschwister«, die miteinander »Unzucht verueben«, sollten mit Arbeitshaus bestraft werden. Daneben bestanden die Tatbestände der Notzucht (Art. 264 StGB-E 1822) und des Missbrauchs Minderjähriger zur Unzucht (Art. 266 StGB-E 1822), auch durch Vertrauenspersonen (Art. 267 StGB-E 1822), fort. Wie so oft lacht allerdings der am besten, der zuletzt lacht, und das war Feuerbach: Gönner ist nämlich mit seinem Entwurf gescheitert und erst 1861 trat ein neues bayerisches Strafgesetzbuch in Kraft.

Restauration B LUTSCHANDE Die nach dem Wiener Kongress eintretende Restauration spiegelte sich schnell in der strafrechtlichen Literatur. In der 1818 erschienenen dritten Auflage seines Lehrbuchs wollte der schon erwähnte Grolman den Inzest des Vaters mit seiner Tochter nun mit lebenslanger Zuchthausstrafe für den Vater als »moralischen Mörder und verabscheunswürdigen Verletzer der heiligsten Pflichten«35 bestrafen. Dass aber auch die moralisch ermordete Tochter vier bis sechs Jahre im Gefängnis verbringen sollte, erstaunt und lässt den Rückschluss zu, dass Ziel des Mordanschlages nicht etwa die Tochter, sondern die öffentliche Moral war. In allen anderen Blutschandefällen bei Verwandtschaft in gerader Linie hielt Grolmann jetzt acht bis zehn Jahre Gefängnis für angemessen, bei leiblichen Geschwistern drei bis vier Jahre. Wenn Blutsverwandte keinen Dispens für eine Eheschließung erhalten können, sollten sie mit ein bis zwei Jahren Gefängnis bestraft werden, bei 35 Karl Ludwig Wilhelm Grolman: Grundsätze der Criminalrechts-Wissenschaft, 3. Aufl. Gießen 1818, § 394.

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Martin Löhnig ungewisser Dispensmöglichkeit mit zwei bis sechs Monaten; nur bei ganz sicherem Dispens sollte keine Haftstrafe verhängt werden.36 Grolman schärfte also die Strafen im Vergleich zur ersten Auflage seines Lehrbuchs, die zwanzig Jahre zurücklag, ganz erheblich. Vor allem wird jedoch an der Bestrafung der Tochter deutlich, dass Grolmann mit der Bestrafung des Inzests zwischen Eltern und Kindern weniger die sexuelle Integrität der Abkömmlinge als vielmehr die öffentliche Moral mit Strafe bewähren wollte. Feuerbach hingegen schloss noch in der 9. Auflage seines Lehrbuchs (1825), im Wortlaut ohne Änderungen im Vergleich zu den Vorauflagen, von der Blutschande alles aus, was »schon in ihrem Begriff die Verletzung wirklicher Rechte einer Person«37 nicht bewirke. Außerdem merkte er noch kurz an, dass Inzest und Blutschande ein Polizeiverbrechen darstellten.38 Carl Joseph Anton Mittermaier, der Feuerbachs Buch 1840 weiterführte, kritisierte diese Äußerungen massiv.39 Er hielt die weitgehende Straflosigkeit des Inzests für »Modeansichten«, die die Nation »demoralisieren«, indem sie Unzucht straffrei lassen.40 Damit setzte er sich jedoch nicht in Widerspruch zu Feuerbach, der in seinen letzten Lebensjahren seine Meinung geändert und die strikte Orientierung am Rechtsverletzungsmodell aufgegeben hatte. Inzwischen Präsident des OAG Ansbach, äußerte er 1822 die Auffassung, dass Blutschande »in dem Criminalgesetzbuch selbst ihren schicklichen Platz«41 bekommen müsse. Und er fuhr fort: »Verschiedene solcher unsittlichen Handlungen sind sogar von der öffentlichen Meinung mit tieferer Verachtung oder weit größerem Abscheu bestraft als manches eigentliche Verbrechen. Und eben darum wird der Gesetzgeber, will er nicht das allgemeine sittliche Gefühl empören, will er nicht in seinem 36 Vgl. ebd., § 394. 37 Paul Johann Anselm Feuerbach: Lehrbuch des peinlichen Rechts, 9. Aufl., Gießen 1825, § 449. 38 Ebd., § 450. 39 Vgl. Paul Johann Anselm Feuerbach/Carl Joseph Anton Mittermaier: Lehrbuch des peinlichen Rechts, 13. Aufl., Gießen 1840, §§ 449, 450. 40 Vgl. schon Carl Joseph Anton Mittermaier: Ueber die Grundfehler der Behandlung des Criminalrechts in Lehr- und Strafgesetzbüchern, Bonn 1819, S. 125. 41 Paul Johann Anselm Feuerbach: »Ueber die Polizeistrafgesetzgebung überhaupt und den zweiten Theil eines ›Entwurfs des Strafgesetzbuchs‹« (1822), in: Ludwig Feuerbach, Anselm Ritter von Feuerbachs Leben und Wirken aus deinen ungedruckten Briefen und Tagebüchern, Vorträgen und Denkschriften, Band II, Leipzig 1852, S. 346ff. und S. 353f.

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»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs?« eigenen Gesetzbuche sich selbst dem Volke als Beschützer des groben verworfenen Lasters hinstellen, […] sich [zur Bestrafung] verpflichtet halten.«

Dazu passt, dass ein kaum bekannter Strafgesetzbuchentwurf Feuerbachs aus den Jahren 1824/2542 anders als das Strafgesetzbuch von 1813 einen eigenen Abschnitt zum Sexualstrafrecht enthielt, wo unter »anderen Verbrechen der Wollust« die Blutschande geregelt ist (II 6 Art. 17). Feuerbach regelte hier also eine strafbare »Nichtrechtsverletzung«43 und wich noch viel weiter von seinem theoretischen Konzept ab, als er das 1813 musste.44 Allerdings klingt im Tatbestand der Blutschande zwischen Aszendenten und Deszendenten der Missbrauchstatbestand dadurch nach, dass die Kinder straflos bleiben und als potentiell Unterlegene oder psychischem Zwang unterliegende Opfer nicht noch wegen der Beteiligung an einem Angriff auf die öffentliche Moral bestraft werden.

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In den Jahren 1827 und 1831 wurden in Bayern zwei weitere Strafrechtsentwürfe erfolglos beraten, die den jeweiligen Stand dessen spiegeln, was sich am besten als »Sittlichkeitskampagne«45 bezeichnen lässt. Im Zuge der Restauration wurden alte Wertvorstellungen erneuert und die »öffentliche Moral« kehrte zum Schutz der staatlichen Ordnung vor der gleichsam anarchischen Gewalt der Sexualität wieder.46 Nicht nur die Aufklärung hatte in Bayern 42 Minister Zentner hatte Feuerbach 1824 um eine Überarbeitung des Strafgesetzbuchs gebeten, dann aber 1825 einen Rückzieher gemacht und Feuerbach gebeten, den Entwurf als Privatarbeit einzusenden. Das kränkte Feuerbach, der von der Einsendung absah, weil er ohnehin der vom neuen König Ludwig I. (1825-1848) eingesetzten Gesetzgebungskommission kritisch gegenüberstand. Erst Feuerbachs Erben übersandten 1833 den Entwurf dem Ministerium, vgl. Gernot Schubert: Feuerbachs Entwurf zu einem Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern aus dem Jahre 1824, Berlin 1978, S. 15f. Der Entwurf wurde aber nicht beraten, weil er nicht mehr in die rechtspolitischen Zeitströmungen der 1830er Jahre gepasst haben dürfte. 43 Ebd., S. 34. 44 Vgl. ebd., S. 39. 45 F.E. Rosenberger: Das Sexualstrafrecht in Bayern, S. 13. 46 Vgl. nur Joseph v. Hinsberg: Ueber den revidirten Entwurf eines Strafgesetzbuchs für das Königreich Bayern vom Jahr 1827, München 1831, S. 64; Motive zum StGB-E 1827 I, § 59 III (S. 168).

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Martin Löhnig mit Max IV. Joseph und Montgelas nachhaltiger gewirkt als in anderen deutschen Staaten, sondern auch die Restauration, v.a. unter Ludwig I. (ab 1825), der einem voraufklärerischen Absolutismus nahestand und wieder christlicher Herrscher alter Prägung sein wollte. Das Wiedererstarken der christlichen Morallehre sollte sich auch im Recht spiegeln. Beide Entwürfe moralisierten und wichen vom Konzept des Rechtsgüterschutzes zugunsten des »weit höheren« Zwecks des Schutzes der öffentlichen Moral ab.47 Das ging so weit, dass nicht nur Blutschande stets bestraft wurde, sondern umgekehrt Notzucht (Vergewaltigung) und sexuelle Handlungen mit Abhängigen außer auf Antrag nur dann verfolgt wurden, wenn der Fall öffentliches Aufsehen erregt hatte. Der Rechtsgüterschutz wäre damit vollständig aus dem Sexualstrafrecht getilgt worden. Der Entwurf von 1827 wollte blutschänderische Geschwister schärfer als bisher bestrafen und sexuelle Kontakte von Eltern oder Großeltern mit ihren Abkömmlingen nicht mehr wegen der Verwirklichung des Tatbestands des sexuellen Missbrauchs, sondern wegen Störung der öffentlichen Ordnung ahnden. Das führte zu einer ganz anderen Vorstellung von Tätern und Opfern: Bestraft werden sollten nunmehr nämlich alle, die »mit einander Unzucht verüben« (Art. 200 I StGB-E 1827). Die Opfer wurden, soweit sie das 15. Lebensjahr vollendet hatten, also (wie auch im Preußischen Landrecht) zu – freilich milder bestraften – Mittätern. Ab diesem Alter habe man »die Unsittlichkeit solcher Handlungen vollkommen einzusehen und der Verführung kräftig zu widerstehen«48. Im Verhältnis zu anderen Autoritätspersonen schien dies jedoch nicht zu gelten, denn »Stief= oder Pflegeaeltern, Vormuender, Erzieher oder Lehrmeister, Schullehrer oder Vorsteher und Aufseher öffentlicher Anstalten« konnten ihre dann straffreien Zöglinge nach wie vor »missbrauchen« (Art. 195 StGB-E 1827). Der Entwurf arbeitete also mit zwei verschiedenen Modellen für die Strafbarkeit sexueller Kontakte, die sich nicht ohne weiteres miteinander vereinbaren lassen, nämlich dem Schutz der persönlichen Integrität vor ihrer Verletzung durch Autoritätspersonen einerseits und dem Schutz der öffentlichen Moral andererseits. Der inhaltlich ähnliche Entwurf aus dem Jahr 1831 gab als Motive für die Inzeststrafbarkeit Degenerationsgefahr an,49 ließ jedoch sexuelle Kontakte unter anderen Personen, die genauso

47 Vgl. Motive zum StGB-E 1827 II, § 50 (S. 491). 48 Motive zum StGB-E 1827 I, § 60 (S. 170). 49 Vgl. Motive zum StGB-E 1831 (S. 197).

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»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs?« nah miteinander verwandt waren, straffrei. Nach 1831 ist Ludwig I. offenbar die Lust an der Strafrechtsreform vergangen, während in anderen deutschen Staaten wie Baden (1845), Württemberg (1839) oder Preußen (1851) in den Folgejahren Strafgesetzbücher, in Sachsen ein Sondergesetz zum Sexualstrafrecht (1834) in Kraft traten, die auf der Linie der bayerischen Entwürfe lagen, allerdings teilweise etwas mildere Strafdrohungen vorsahen.50 Als Strafzweck wurde in Württemberg exemplarisch die »Erhaltung der Reinheit des Familienlebens«51 benannt. Bemerkenswert sind die Ausführungen Carl Georg Waechters zur Entwicklung der Strafbarkeit für Inzest in Entwürfen und Gesetzen deutscher Staaten aus den Jahren 1825-1835: »Unsre frühere Praxis war hier nach dem älteren Rechte bisweilen gelinder«52. Waechter zeigte, dass sich besonders die bayerischen Entwürfe durch hohe Strafdrohungen hervortaten. Auf dieser Linie lag auch das 1861 in Bayern in Kraft getretene neue Strafgesetzbuch, dessen Regelungen zum Inzest v.a. der Verteidigung der »öffentlichen Sittlichkeit« dienten und erhebliche Strafen vorsahen. Ein Vorentwurf aus dem Jahre 1853 nannte »Sittenreinheit und Frieden der Familien« sowie »Verhütung der körperlichen und geistigen Degeneration künftiger Geschlechter« als so selbstverständliche Strafzwecke, »dass es überflüssig seyn

50 Das württembergische Strafgesetzbuch von 1839 beruhte nicht auf den Gedanken der Rechtsgutsverletzung oder des Missbrauchs und stellte den Beischlaf zwischen Verwandten in aus- und absteigender Linie, zwischen voll- und halbbürtigen Geschwistern und zwischen Verschwägerten in auf- und absteigender Linie als »Unzuchtsvergehen« unter Strafe, die Deszendenten milder und erst ab dem 14. Lebensjahr, Art. 301-303. Ähnlich das Badische StGB von 1845 in § 365ff und ein Entwurf für ein Strafgesetzbuch für das Großherzogtum Hessen aus dem Jahre 1836 in Art. 266-268. Lediglich im sächsischen Gesetz die Bestrafung der fleischlichen Vergehungen und einiger, hiermit in Verbindung stehender Verbrechen betreffend aus dem Jahre 1834 (Sammlung der Gesetze und Verordnungen für das Königreich Sachsen 1834, S. 47ff.) kannte den Missbrauch zur Unzucht noch im Wortlaut der §§ 20 und 21, bestrafte aber trotzdem die Deszendenten, »welche sich dazu hingeben«, § 20. Geschwister: 3-6 Monate, § 21. 51 Strafgesetzbuch für Württemberg: Bericht der von der Württembergischen Kammer der Abgeordneten zur Begutachtung des Entwurfs eines Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg niedergesetzten Commission, Stuttgart 1837, S. 348. 52 K.G. von Waechter: Abhandlungen aus dem Strafrechte, S. 373 Fn. 12.

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Martin Löhnig dürfte, sich hierüber im Allgemeinen weiter zu verbreiten«.53 Die Familie war damit also nicht mehr – wie bei Feuerbach – ein staatsfernes, von Individuen getragenes, privates Gebilde, sondern sollte von Staats wegen rein gehalten werden, denn die Restauration hatte die Familie als gesellschaftlichen Grundbegriff wieder hergestellt, und zwar nicht mehr nur als eine Teilstruktur von Staat und Gesellschaft, sondern gleichsam als ihr Fundament.54 Davon ausgehend ist es nur folgerichtig, dieses Fundament gegen jegliche Gefährdungen schützen zu wollen. So bestimmte Art. 118 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs: »Wer öffentlich […] die Rechtsinstitute der Familie, der Ehe oder des Eigentums angreift oder mit Spott und Verachtung behandelt, soll mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft werden«.

P OLIZEISTRAFRECHT Bevor ein Fazit gezogen werden kann, soll der Blick noch kurz auf das bereits erwähnte Polizeistrafrecht gelenkt werden. Die Fortgeltung des bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813 bedeutet nämlich nicht, dass bis zum Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuchs von 1861 allein der Geschwisterinzest mit den in Art. 207 angeordneten, vergleichsweise milden Strafen geahndet worden wäre. Eine derartige Sichtweise würde das Polizeistrafrecht55 vernachlässigen, was übrigens viele Autoren der Aufklärungszeit56 getan haben, weshalb das Polizeistrafrecht auch in der neueren Forschungsliteratur häufig unbeachtet bleibt. Das Polizeistrafrecht war ein eigenständiges Strafrecht der Exekutive. Die Polizei konnte – in Bayern kraft Gewohnheitsrechts, in anderen Staaten aufgrund der dortigen Polizeistrafgesetzbücher – unbegrenzt Geldstrafen und kleine Haftstrafen verhängen, in Bayern von bis zu einem Monat.57

53 Julius Friedrich Abegg: Entwurf eines Gesetzbuches über Verbrechen und Vergehen nebst Motiven, Erlangen 1854. 54 Vgl. Dieter Schwab: »Familie und Staat«, in: FamRZ 2007, S. 1-7, hier: S. 2. 55 Vgl. zum Ganzen F.E. Rosenberger: Das Sexualstrafrecht in Bayern, S. 62ff. 56 Vgl. Isabel V. Hull: Sexuality, State and Civil Society in Germany 17001815, Cornel University Press 1996, S. 359. 57 Gewohnheitsrechtliche Grenze in Bayern, vgl. F.E. Rosenberger: Das Sexualstrafrecht in Bayern, S. 65 Fn. 2.

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»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs?« Allein Feuerbach beschäftigte sich mit dieser Materie und hat schon in jungen Jahren das Polizeistrafrecht gerechtfertigt.58 Hier konnten auch für ihn Staatszwecke und Moral eine Rolle spielen, die er aus dem Strafrecht verbannt hatte. Andere Autoren haben sich in die Niederungen des Polizeistrafrechts, das es beispielsweise auch im revolutionären Frankreich noch gab, nicht hinabbegeben, weil sie seine Wirkungen offenbar für marginal hielten. Jedoch konnten sich die Polizeistrafen summieren und der Unterschied zwischen beiden Strafrechten war letztlich kein prinzipieller, auch wenn die Arbeitshausstrafe ein »Züchtigungsmittel« zur Besserung des Betroffenen sein sollte. Das Polizeistrafrecht war alles andere als rechtsstaatlich und gab ausreichend Spielraum zu Willkür, Herrschereinfluss und Bekämpfung missliebiger Personen, so dass man sich ansonsten eine unabhängige Strafjustiz und ein rechtsstaatliches Strafrecht leisten konnte; es bestanden auch keine Rechtsbehelfe gegen die Polizeistrafen zu ordentlichen Gerichten. In Bayern gab es überdies bis 1862 kein kodifiziertes Polizeistrafrecht, sondern diverse, kaum übersehbare Einzelverordnungen; Kodifikationsversuche waren stets gescheitert. Für die Blutschande einschlägig war außerdem eine Verordnung vom 28.11.181659 über Zwangsarbeitshäuser. Ihr Tit. I Art. 1 Abs. 1 bestimmt: »Zur Aufnahme in Zwangsarbeitshäuser sind geeignet: […] 2) Menschen von fortgesetztem schlechten Lebenswandel, die sich dem Müßiggange, der Unsittlichkeit und öffentlichen Ausschweifungen ergeben und dadurch […] Unordnung, Gefahr und Verderben in die Familien und Gemeinden bringen.«

Diese Einweisung konnte über die eigentliche Polizeistrafe hinaus, wenn diese wirkungslos geblieben war (I 1 Abs. II), für bis zu einem Jahr erfolgen, bei Rückfall auf unbestimmte Zeit (Tit. II, Art. 9 und 10 der VO). Allerdings wurde im Bereich des Sexualstrafrechts deshalb vergleichsweise selten von der Verordnung Gebrauch gemacht, weil die bayerischen Zwangsarbeitshäuser in der Regel bereits mit anderen »geeigneten« Personen, nämlich »Bettlern und Landstreichern«, überfüllt waren. Einfache Polizeistrafen wurden hingegen regelmäßig ausgesprochen; auf der Ebene des Polizeistrafrechts wurden so ab den 1820er Jahren »Män58 Vgl. Paul Johann Anselm Feuerbach: Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Band II, Erfurt 1800, S. 222ff. 59 Vgl. Georg Ferdinand Döllinger: Repertorium der Staats-Verwaltung des Königreichs Baiern XIII, München 1824, S. 415ff.

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Martin Löhnig gel« des Strafgesetzbuches von 1813 im Sexualstrafrecht ausgeglichen.

Ausblick: Kampf der Diskurse Der Feuerbach’sche Entwurf von 1810 markiert, nicht nur im Hinblick auf den Inzest, den Höhepunkt aufgeklärten Strafrechts in Deutschland, wo im Gegensatz zu zahlreichen anderen Staaten Inzest bis heute zu Gefängnisstrafen führt. Die Klarheit der Prinzipien dieses Entwurfs und die Schnelle ihres Verschwindens sagen nach Auffassung von Isabel V. Hull, Professorin für deutsche Geschichte an der Cornell University, sehr viel über die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland aus.60 Und – so ließe sich hinzufügen – über das Familienbild dieser bürgerlichen Gesellschaft. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung vom 26. Februar 200861 den § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB, der leibliche Geschwister, die miteinander den Beischlaf vollziehen, mit Haftstrafe bis zwei Jahren bedroht, mit 7:1 Richterstimmen für verfassungsgemäß gehalten. Der Vater vierer kleiner Kinder, die er mit seiner Schwester gezeugt hat, muss deshalb nun eine Haftstrafe verbüßen, den Kindern wird der Vater genommen, von dem sie nicht abstammen dürfen. Als vorrangigen Strafgrund sieht die Senatsmehrheit den grundgesetzlich geforderten Schutz der Familie, der Familie als solcher freilich und offenbar nicht der Familie des Angeklagten. Der unterlegene Vizepräsident des Gerichts, Winfried Hassemer, stellt sich in seinem abweichenden Votum hingegen auf den Boden des Rechtsverletzungsmodells: Im Fall von volljährigen, einvernehmlich handelnden Geschwistern sei schlichtweg nicht klar, wessen Rechte durch den Geschlechtsverkehr verletzt werden sollten – eine opferlose Straftat. Die Entscheidungsbegründung der Senatsmehrheit beginnt mit einem rechtshistorischen Überblick, der zeigen soll, dass die Strafbarkeit des Geschwisterinzests eine alte Tradition hat. Das Gericht beginnt im Kodex Hammurabi aus dem 18. Jahrhundert vor Christus und gelangt, genau wie Einleitungshistorien in schlechten Doktorarbeiten, von dort über die Carolina von 1531 nach Christus zum Preußischen Landrecht von 1794 und springt

60 Vgl. I.V. Hull: Das Sexuelle wird privat, S. 46. 61 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. 2. 2008 - 2 BvR 392/07, NJW 2008, 1137.

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»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs?« elegant weiter zum Preußischen Strafgesetzbuch von 1851. Die zuvor geschilderte Entwicklungslinie aufgeklärten Sexualstrafrechts lässt das Gericht schlicht beiseite. Sie ist in Deutschland Episode geblieben, und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts liefert ein eindrückliches Beispiel für die Pfadabhängigkeit rechtsgeschichtlicher Entwicklungen. Der Verurteilte hat sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt. An diesem Gerichtshof treffen Richter aufeinander, die auf zwei ganz verschiedenen Entwicklungspfaden wandeln, dem romanischen und dem deutschen. Man darf gespannt sein, wie dieses Gericht entscheiden wird und welches Familienbild man zwischen den Zeilen der Entscheidung herauslesen kann.

Literatur Abegg, Julius Friedrich: Entwurf eines Gesetzbuches über Verbrechen und Vergehen nebst Motiven, Erlangen 1854. Cella, Johann Jakob: Ueber Verbrechen und Strafe in Unzuchtsfällen, Zweibrücken 1787. Döllinger, Georg Ferdinand: Repertorium der Staats-Verwaltung des Königreichs Baiern XIII, München 1824. Feuerbach, Paul Johann Anselm/Mittermaier, Carl Joseph Anton: Lehrbuch des peinlichen Rechts, 13. Aufl., Gießen 1840. Feuerbach, Paul Johann Anselm: Lehrbuch des peinlichen Rechts, 9. Aufl., Gießen 1825. Feuerbach, Paul Johann Anselm: Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Band I u. II, Erfurt 1799f. Feuerbach, Paul Johann Anselm: »Ueber die Polizeistrafgesetzgebung überhaupt und den zweiten Theil eines ›Entwurfs des Strafgesetzbuchs‹« (1822), in: Ludwig Feuerbach, Anselm Ritter von Feuerbachs Leben und Wirken aus deinen ungedruckten Briefen und Tagebüchern, Vorträgen und Denkschriften, Band II, Leipzig 1852. Foucault, Michel: Die Anormalen, Frankfurt/M. 2007. Freisen, Josef: Geschichte des canonischen Eherechts bis zum Verfall der Glossenliteratur, Paderborn 1893. Goody, Jack: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Frankfurt/M. 1989. Grolman, Karl Ludwig Wilhelm: Grundsätze der CriminalrechtsWissenschaft, 1. Aufl., Gießen 1798 u. 3. Aufl., Gießen 1818.

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»Unerlaubte Stillungen des Begattungstriebs?« Meister, Christian Friedrich: Principia juria criminalis Germaniae communis, 3. Aufl., Göttingen 1798. Mittermaier, Carl Joseph Anton: Ueber die Grundfehler der Behandlung des Criminalrechts in Lehr- und Strafgesetzbüchern, Bonn 1819. Otis-Cour, Leah: Lust und Liebe – Geschichte der Paarbeziehungen im Mittelalter, Frankfurt/M. 2002. Peitzsch, Wolfram: Kriminalpolitik in Bayern unter der Geltung des Codex Iuris Criminakis Bavarici von 1751, München 1968. Radbruch, Gustav: Paul Johann Anselm Feuerbach – Ein Juristenleben, Göttingen 1952. Rosenberger, Fritz Eduard: Das Sexualstrafrecht in Bayern von 1813 bis 1871, Marburg 1973. Sabean, Davin Warren: »Inzestdiskurse vom Barock bis zur Romantik«, in: L’Homme Z.F.G. 13/1 (2002), S. 7-28. Schubert, Gernot: Feuerbachs Entwurf zu einem Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern aus dem Jahre 1824, Berlin 1978. Schwab, Dieter: »Familie und Staat«, in: FamRZ 2007, S. 1-7. Strafgesetzbuch für Württemberg: Bericht der von der Württembergischen Kammer der Abgeordneten zur Begutachtung des Entwurfs eines Strafgesetzbuches für das Königreich Württemberg niedergesetzten Commission, Stuttgart 1837. Waechter, Karl Georg von: Abhandlungen aus dem Strafrechte, Band I, Leipzig 1835.

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Autorinnen und Autoren Bernard, Andreas, geb. 1969, ist Redakteur des Süddeutsche Zeitung Magazins und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« an der Universität Konstanz. Buchveröffentlichungen u.a.: Über das Essen, Salzburg 2002; »Minima Moralia« neu gelesen (Hg., zusammen mit Ulrich Raulff), Frankfurt/M. 2003; Briefe aus dem 20. Jahrhundert (Hg., zusammen mit Ulrich Raulff), Frankfurt/M. 2005; Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne, Frankfurt/M. 2006; Das Prinzip: Hundert Phänomene der Gegenwart (zusammen mit Tobias Kniebe), München 2007; Vorn. Roman, Berlin 2010. Demel, Sabine, geb. 1962, ist Professorin für Kirchenrecht an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Regensburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Strukturen der Beteiligung und Verantwortung in der Kirche; Gleichstellungsfragen; das Verhältnis von Moral und Recht. Geisenhanslüke, Achim, geb. 1965, ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literaturtheorie und die europäische Literatur vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Grabmann, Barbara, geb. 1966, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der Universität Regensburg. Ihre Forschungsinteressen umfassen die Familiensoziologie, Soziologie der Kindheit, Bildungssoziologie, Soziologie kollektiver Identitäten und soziologische Theorie. Knieps-Port le Roi, Thomas, geb. 1961, ist Inhaber des INTAMS Chair for the Study of Marriage & Spirituality an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Leuven, Belgien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ehe- und Familientheologie.

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Fragmentierte Familien

Kroppenberg, Inge, lehrt Bürgerliches Recht, Römische Rechtsgeschichte und Privatrechtsgeschichte an der Fakultät Rechtswissenschaft der Universität Regensburg. Löhnig, Martin, geb. 1971, ist Professor für Bürgerliches Recht, Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Regensburg und Gastprofessor für Rechtsgeschichte an der Universität St. Gallen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Familienund Erbrecht, Rechtsgeschichte der Moderne und Juristische Zeitgeschichte. Rauch, Marja, ist Privatdozentin an der Universität Regensburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Geschichte des Deutschunterrichts, Literatur der Romantik, Literatur der Weimarer Republik, Gegenwartsliteratur, Kinder- und Jugendliteratur. Vinken, Barbara, geb. 1960, ist Professorin für Allgemeine und Französische Literaturwissenschaft an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind italienische und französische Renaissance, französischer Roman des 18.-20. Jahrhunderts (speziell Flaubert: Literatur und Religion) sowie Theorie der Mode.

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Literalität und Liminalität Christine Bähr, Suse Bauschmid, Thomas Lenz, Oliver Ruf (Hg.) Überfluss und Überschreitung Die kulturelle Praxis des Verausgabens 2009, 246 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-989-3

Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Monströse Ordnungen Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen 2009, 694 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1257-8

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Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Schriftkultur und Schwellenkunde 2008, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-776-9

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