Formen heutiger Lyrik : Verse am Rande des Verstummens

Die heutige Lyrik in ihren vielfältigen, oft widersprüchlichen, ja sich ausschließenden Erscheinungsweisen wird in diese

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Formen heutiger Lyrik : Verse am Rande des Verstummens

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Wilhelm Höck

Verse am Rand des Verstummens

Die heutige Lyrik in ihren vielfältigen, oft widersprüchlichen, ja sich ausschließen­ den Erscheinungsweisen wird in diesem Buch als Symptom der Epoche, als Aus­ druck der Krisis verstanden, die der Zeit das Gepräge gibt.

Mit den Formen heutiger Lyrik sind daher nicht in erster Linie äußere Gestaltungs­ merkmale gemeint, sondern - wenn man so will - Verlautbarungen wesentlicher Haltungen. Wie das Ich sich selber ver­ steht, wie es in seiner eigenen Gesellschaft lebt, ist bereits eine Form; ebenso, wie es mit seiner Welt lebt. Die »äußere« Gestalt des Gedichts, sein Aufbau, sein Wort­ material, gibt umgekehrt Aufschluß über die Verfaßtheit des Menschen in einer fast unüberschaubar gewordenen Situation. Gerechtfertigt wird eine solche Betrach­ tungsweise dadurch, daß der Lyriker, überhaupt der Künstler, »stellvertretend der Wirklichkeit begegnet und stellvertre­ tend, also exemplarisch, leidet, erkennt, gestaltet« (Hilde Dornin), und daß die Artikulation dieser exemplarischen Lage einlädt »zu der einfachsten und schwierig­ sten aller Begegnungen, der Begegnung mit uns selbst«.

Befragt werden in diesen Überlegungen unter anderem: Hans Arp, Ingeborg Bach­ mann, Hugo Ball, Gottfried Benn, Max Bense, Bertold Brecht, Johannes Bobrowski, Paul Celan, Hilde Dornin, Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Helmut Heißenbüttel, Marie Luise Kaschnitz, Karl Krolow,Christine Lavant, Franz Mon, Christa Reinig, Peter Rühmkorf und Nelly Sachs.

Wilhelm Höck

Formen heutiger Lyrik Verse am Rand des Verstummens

Paul List Verlag München

Deutsche Originalausgabe

[ist Taschenbücher

34*

109 © 1969 by Paul List Verlag. Alle Rechte Vorbehalten Printed in Germany. Schrift: Garamond Antiqua Satz und Druck: Presse-Druck- und Verlags-GmbH. Augsburg Bindearbeit: R. Oldenbourg GmbH. München

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung: Disziplinlose Erfahrungen......................................

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Schreibenkönnen ist nicht schwer......................................................

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Vorläufiges Ende der Geschichte............................................................ 29

Fragment - »Schönheit« - Prosa - »Menschenbild«............................ 42 Lyrik - Sprache - Philosophie..................................................................60

Parodie und Endzeitklage....................................................................... 77 Monolog und Warngedicht....................................................................... 88 Spiel und Gebet, Nonsense und Mystik................................................ 110

Die symbolische Schönheit des Fragments.......................................... 137 Als Nachbemerkung: Einige Fragen..................................................... 143

Literaturhinweise..................................................................................... 148

Für Eva und Wolfgang Roscher auf Abenteuer in der musikalischen Dimension des heutigen Gedichts

Vorbemerkung: Disziplinlose Erfahrungen

Natürlich kann man »objektiv«, nach Literaturhistorikerart etwa sorgsam Parallelstellen belegend und sich selber abseits lassend, von heutiger Lyrik handeln; doch solche »Objektivität« hätte zur Folge, daß man es als ratsam empfände, sie auf der Stelle wieder durch die bessere Objektivität der Gedichte selber zu ersetzen. Die Exaktheit des Philologen, der von sich absieht, könnte sich angesichts seiner Objekte nur zu leicht als besonders sublime, damit als besonders böse Form der Subjektivität erweisen, aus­ gezeichnet dadurch, daß sie, es »ernst« meinend, nichts ganz ernst nimmt. Der Zugang zu den Dingen in litteris und zu der ihnen innewoh­ nenden humanitas dürfte dagegen sehr wohl derjenige durch die ausdrückliche Subjektivität sein: eine Konfrontation mit den Formen, die nichts vom hinzutretenden Ich außerhalb läßt, ein Risiko des Irrens und Verfehlens, entschieden genug, um schon wieder zur Gewißheit zu werden. Etwas altmodischer gesagt: man sollte beispielsweise über heutige Lyrik so schreiben, daß sich darin nichts weiter spiegelt als eine völlig subjektive »Be­ gegnung«, als eine »Erfahrung« mit ihren sämtlichen Vorein­ genommenheiten und Beschränktheiten. Vielleicht verbürgt allein das, daß etwas gesagt wird, das der subjektiven Gleichgültigkeit der »Objektivität« entrinnt: nämlich die Objektivität des jewei­ ligen so und nicht anders Betroffen-Seins, das am ehesten noch dafür einsteht, daß die lyrischen Gestalten, von denen die Rede ist, als Lebendiges, Notwendiges erfahrbar werden - und sei es im Widerspruch. Nicht zitierbare »Resultate« haben die hier angestellten Überlegungen im Sinn, sondern eher die Aufforde­ rung, auf ähnlich »subjektive«, freilich immer wieder verschie­ dene Weise den Dingen erneut ihre Objektivität, ihre Realität zu bestätigen. (Daß dabei kein systematisches Erfassen des ganzen Phänomens »moderne deutsche Lyrik«, sondern nur ein Verwei­ len bei einigen »kritischen Formen« möglich ist, sollte sich fast von selber verstehen.) Das Folgende möge also so verstanden werden, wie es gemeint

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ist: als disziplinlos. Es entzieht sich mit voller Absicht der philo­ logischen Selbstdisziplin, um so etwas wie philologisch sein zu können - vorausgesetzt, man nehme es auch in dieser Disziplin mit der Disziplin samt der Systematik (also mit der Objektivität) wenigstens ebenso ungenau. Der Widerspruch gegen das Gesagte, auch gegen die fragmentarische Willkür seiner Anordnung, könn­ te dann audi noch bestätigen, daß es nicht ganz sinnlos ist. W. H.

Schreibenkönnen ist nicht schwer . »Du mußt dein Leben ändern.« Rainer Maria Rilke

Nie, so scheint es, ließen sich Gedichte leichter schreiben als heute. Man weiß sehr viel, und man kennt sehr viel. Nie war es offenbar einfacher, Gedanken und Bilder lyrisch zu zügeln, sprachhand­ werklich halbwegs untadelige Verse zu verfassen, Wortreihen interessant anzuordnen (»faszinierend« zu »montieren«, wie Gottfried Benn vor anderthalb Jahrzehnten den lyrischen Vor­ gang beschrieb), und die Gedichtbände älterer und jüngerer Autoren, die Jahr um Jahr auf den literarischen Markt (vielleicht mehr zu den Kritikern als zu den unprofessionellen Lesern) kommen, und die recht zahlreichen Anthologien weisen kaum eindeutig Schlechtes auf, das den selbstverständlichen Anstands­ regeln modernen lyrischen Schreibens nicht folgte. (Auch die Lek­ toren sind schließlich poetisch gewitzt.) Daß neben dieser eigent­ lich modernen Lyrik, die es mit der Übernahme und Weiterent­ wicklung bekannter Errungenschaften in Empfindung und Aus­ druck durchaus ernst meint, für den Bedarf etwa des Provinz­ blattfeuilletons oder des Gesangbuchs weiterhin Verse in schön gereimter Eichendorff- und Volksliednachfolge und ähnliches ent­ stehen, ändert nichts am Gesamtbild; ändert nichts daran, daß im Bereich des Diskutablen die Quantität offenbar schon eine Quali­ tät ist, nämlich ein Wesensmerkmal derzeitiger lyrischer Betäti­ gung. Studiert man halbwegs aufmerksam den zur Verfügung stehen­ den Vorrat in Versen, wird man rasch erfahren, was man heute im Gedicht kann und darf, wie man etwas zustande bringt, das sich sehen (wenn auch nicht unbedingt hören) lassen kann. Vor ein paar Jahren erschien, herausgegeben von Armin Schmid, ein Band Primanerlyrik Primanerprosa, und diese Sammlung läßt deutlich erkennen, in welchem Maß auch der Anfänger in litteris bei einiger Beflissenheit, rhythmisch-sprachliches Talent sowie zeitgemäße Empfindungen vorausgesetzt, interessante Sprachund Versgebilde herstellen kann, die durchaus den Anschein des 9

Bedeutenden oder wenigstens des aktuell Stichhaltigen haben. Ein Gedicht von Eberhard Delius trägt die Überschrift am fenster stehen; die beiden ersten Strophen lauten: oder auf grünem teppich zwisdien Zeitungen balancieren gleichgewicht bewahren auf glattem papier oder ein buch aufschlagen das gerade der geschichtslehrer vergessen und versuchen ins horn vergeblicher revolutionen zu blasen ... Die Infinitive, die das Probeweise eines bestimmten Existierens und die Austauschbarkeit der Verhaltensweisen demonstrieren, geben dem Gedicht das Flair des Altklugen, Lebensmüden, neh­ men dem Ich, das da spricht, die personale Eindeutigkeit; die »oder«-Verknüpfungen legen nahe, Kausalität und Konsequenz als scheinhaft zu durchschauen; die Spannungen zwischen Satz(Gedanken-)Rhythmus und Versfhythmus und der Verzicht auf Interpunktionen stehen in einem hübschen Kontrast zu den alliterierenden Bindungen innerhalb der Verse und Strophen und zu den recht geschickt angelegten Modulationen der Vokalisation. Man könnte ein solches Gedicht nach den Regeln der philologi­ schen Kunst durchinterpretieren und eine Perspektive von Stim­ migkeiten aufweisen, die dann Anlaß genug wären, ein solches Gebilde dem Bereich der lyrischen »Kunst« zuzuordnen. Ließe man es an der gespannten Aufmerksamkeit nur etwas fehlen, würde man vielleicht überhaupt nichts bemerken, wenn solche Verse versehentlich etwa in einen Gedichtband von Karl Krolow gerieten, zum Beispiel neben das Solo für eine Singstimme:

io

Nimm das hin. Laß es mich ruhig versuchen tonlos zunächst, ein ruhiger Singvogel oder so. Du sollst nicht denken, daß ich an meiner Stimme ersticke. Bei zugehaltener Kehle singt es sich einfach und kurz. Das kann eine Weile gutgehn. Du mußt nur dabei dir nicht auf den Mund sehen, die Nachtigall läßt auf sich warten. (Landschaften für mich) Gewiß, der Ton bei Krolow ist schärfer, die Konturen der Ver­ geblichkeit sind genauer gezogen, die Bilder sind entschiedener aus dem Anschaulichen ins Metaphorische versetzt (was sich mög­ licherweise aber erst im Zusammenhang mit den anderen, meta­ phorisch noch klirrender zugespitzten Gedichten der Sammlung wirklich erkennen läßt); und allein schon die Pointierung solcher Verse, ihre poetologische Schlüssigkeit verleiht ihnen einen an­ deren Rang. Doch die Stilmittel, vor allem in der lyrischen Bre­ chung der Syntax und ihres Rhythmus und in der Vokalisation, weisen Entsprechungen auf, die nicht einfach als unwesentlich zu übersehen sind, ebenso wie die Korrespondenz in der »Stim­ mung« im Sinn moderner Vergeblichkeitserfahrung. Die Beispiele für einen weitgestreuten lyrischen »Gleichklang« in der Gegenwart ließen sich fast beliebig vermehren: ein Beleg dafür, daß es tatsächlich so etwas wie eine Qualität der Quantität gibt. Nie schreiben sich offenbar Gedichte, die sich nicht sofort als belanglos selber entlarven, leichter als heutzutage, und demzu­ folge konnte Kurt Leonhard in seiner Monographie Moderne Lyrik mit halbwegigem Recht äußern, er sei auf eine dreistellige Zahl gekommen, als er sich die »bemerkenswerten deutschspra­ chigen Lyriker ... unter den heute Lebenden« aufzählte. II

Doch die Sache mit den »bemerkenswerten« Lyrikern bedarf einer Differenzierung, wenn nicht unversehens der Eindruck ent­ stehen soll, als entstände heute eine beachtliche, schier unüber­ schaubare Anzahl von lyrischen Sprachkunstwerken säkularen Ranges. Gerade die Fülle des Brauchbaren oder halbwegs Belang­ vollen zwingt zur Unterscheidung. Nur das vollkommene Kunst­ gebilde ist nach einem Wort Goethes überhaupt im strengen Sinne existent, und Gottfried Benn hat einmal geäußert, ein Gedicht müsse entweder »exorbitant« sein, oder es sei gar nicht. Schon historische Vergleiche legen den Schluß nahe, daß an der drei­ stelligen Zahl »bemerkenswerter« Lyriker etwas nicht stimmen dürfte, wenn damit Autoren gemeint sein sollten, deren Produk­ tionen die Aussicht hätten, das Jahrzehnt ihrer Entstehung wirk­ lich im Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit zu überdau­ ern. Schließlich war es in jeder Epoche allemal nur eine Handvoll Lyriker, von denen sich im kritischen Nachhinein herausstellte, daß sie für ihre Zeit stichhaltig waren. (Wie fragwürdig im übri­ gen Leonhards dreistellige Auswahl ist, zeigt sich schon daran, daß Autoren wie Johannes Bobrowski und Nelly Sachs im Jahr 1963 zwar ins Autorenverzeichnis aufgenommen wurden, daß es aber möglich war, eine Darstellung moderner Lyrik zu schreiben, ohne im Text selber auf diese Stimmen auch nur mit einem Wort einzugehen. Ein Yvan Goll, Wegbereiter für eine neue Möglich­ keit der Metapher und des mystischen Wortes, taucht im Register erstaunlicher- oder verständlicherweise überhaupt nicht auf.) Es ist leicht, heute »gute« Verse zu schreiben, doch mit dem »gut« ist dann vor allem das gekonnte lyrische Handwerk, das Erlern­ bare gemeint, das sich bis zur Virtuosität im Gebrauch der Sprach­ elemente und der Formen steigern kann: Sicherheit im Rhythmi­ schen und Klanglichen, präzise Wortwahl, zuverlässige Verknüp­ fung von Bild und Gedanke zur Metapher und so fort. Das im strengen Sinn bedeutende Gedicht, das kraft seiner Intensität und »Schönheit« die Wirklichkeit übersteigt und erweitert, das dem Unsagbaren im Wort der Gegenwart zur Erscheinung verhilft (und das so, allen radikal-poetologischen Thesen zum Trotz, dennoch »hilfreich«, ja kurzfristig »erlösend« ist) - dieses große Gedicht bleibt wie zu allen Zeiten die Ausnahme - aber 12

nur seinetwegen ergibt es letztlich einen Sinn, sich überhaupt mit Lyrik einzulassen. (Obwohl man sich natürlich auch mit Emanuel Geibel oder mit den Versen Walter Höllerers beschäftigen kann.) Die Zahl der Lyriker, die das anspruchsvolle Erbe eines Georg Trakl, eines Yvan Goll, eines Gottfried Benn, eines Hans Arp, eines Bertolt Brecht so verwalten, daß sich das lyrische Kapitel wirklich vermehrt, ist gering. Im Handwerklichen, im »Kön­ nen« unterscheiden sie sich, wie gesagt, kaum von den zahl­ reichen Meisteradepten des lyrischen Worts und der lyrischen Form. Nicht daß Nelly Sachs, Paul Celan, Christine Lavant, Jo­ hannes Bobrowski, Hans Magnus Enzensberger vordergründig­ auffällig mehr »könnten«, macht ihren Rang aus, sondern genau jenes unwägbare und nicht beschreibbare Mehr, das sich nicht durch sprachlich-formalistische Arbeit herbeizwingen läßt, son­ dern - und hier muß man sich der Gefahr aussetzen, als konser­ vativ oder altmodisch verschrien zu werden - durch die mensch­ liche Arbeit des Ich an sich selber, durch das lebenslang-mühevolle Einsichtsuchen in die Befindlichkeit des Menschen in dieser und zu allen Zeiten. Anders gesagt: ein Gedicht erweist sich dann als stichhaltig oder als »groß«, wenn es vermittels seiner bemeisterten Schönheit dem lesenden Du eine Möglichkeit an die Hand gibt, seine eigene Verfaßtheit in dieser Welt genauer zu sehen, etwas in seinem Dasein und im Vorhandensein der Welt richtig zu stellen, etwas besser zu machen, etwas zu befreien, ja etwas zu erlösen. Das ist, und gerade dies muß im Augenblick nachdrück­ lich gesagt werden, keine Sache dessen, was das Gedicht direkt »ausspricht«, sondern nahezu ausschließlich eine Angelegenheit der Gestalt, die sich in einem zweiten Akt der Artikulation ab­ ringt, wie sich vorgängig das Artikulierte dem Sprachlosen ent­ ringt. Zur moralischen oder ethischen Instanz wird das Kunst­ gebilde, heute wie früher, nahezu ausschließlich durch sein Geformtsein, durch das, womit es sich vom Stoff, auch vom »Stoff« der Sprache befreit (denn Literatur hat es, anders als das Helmut Heißenbüttel meint, nicht nur mit der Sprache zu tun, deren sie sich bedient). Nichts spricht dafür, daß Rilkes Bestimmung des Kunstcharakters überholt wäre, wie sie sich in anderthalb Versen des Archaischen Torso Apollos findet: »... da ist keine Stelle, / >3

die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.« Du mußt nach dem Vorbild des Kunstdinges Stoff in Gestalt verwandeln, mußt sehr Vorläufiges in fast Endgültiges umsetzen, mußt dich selber beständiger Form nähern. Also doch »Kunst«, also doch »können«, also doch »Handwerk«? Wo bliebe jenes menschliche »Mehr«, auf das wir so großen Wert legten, wenn es nicht in der gekonnten Form aufgehoben wäre? Gewiß, auch beim neuen Gedicht, und bei ihm wohl noch radika­ ler als beim »alten« mit seiner Fähigkeit zur eindeutigen Aus­ sage, läuft alles auf die »Kunst« hinaus, auf die Bemeisterung. Aber die Kunst der vielen »bemerkenswerten« Lyriker erschöpft sich eben in einem Können sprachlich-formaler Art, das es sich versagt, auch noch das in die Gestaltung einzubeziehen, was elementar vor und hinter dem Sagbaren angesiedelt ist: die exi­ stentielle Befindlichkeit dessen, der sich dem Wort anheimstellt, mit ihm wächst und mit ihm versagt. Ach, die Wörter »Einsatz«, »Ganzheitlichkeit«, »Eigentlichkeit« und ähnliche sind so verdor­ ben und ins Gemütlich-Heile verzerrt, daß sie sich nur noch schlechten Gewissens verwenden lassen, obwohl sie am ehesten das träfen, was hier gemeint ist: eben die nichts auslassende Ver­ wandlung von Dinglichem, Sprachlichem und sprachjenseitig Menschlichem in Gestalt. Das Wort »The whole man must move at once«, das Hugo von Hofmannsthal so sehr liebte, drückt et­ was davon aus: auch beim Verfertigen von »Texten« kommt Stichhaltiges, nämlich nicht mehr Selbstbezogenes, nur dann zu­ stande, wenn sich »der ganze Mensch« dem Abenteuer der Form anvertraut. Um einen geringeren Preis erhält man nur Kunst­ handwerk, nur Stillyrik von der Art der Stilmöbel. Um einen Beleg für diese fast unbelegbare, dem Selbstverständ­ nis gegenwärtiger Lyrik ärgerniserregende Behauptung nicht schuldig zu bleiben: zwei Gedichte aus der jüngeren lyrischen Vergangenheit, die es beide mit Landschaft zu tun haben, ohne »Naturpoesie« zu sein, für die vielmehr die Landschaft einen Anlaß darstellt, das lyrische Ich in seiner Weltbefindlichkeit ein Stück weit aufzuschlüssseln. Das erste Gedicht stammt aus Karl Krolows Landschaften für mich, das zweite, von Johannes Bobrowski, findet sich in der Sammlung Wetterzeichen. 14

Einen Garten zeichnen

Mit feuchtem Bleistift einen Garten zeichnen niemand kaut Blumen in einer Landschaft ohne mythologische Wesen. Reden, die nichts besagen in der unruhigen Bewegtheit der Luft.

Bis an den Hals reichen die Gedanken an die zu Pflanzen gewordenen Frauen.

Ende des Abenteuers mit einer Karaffe grüngefärbten Wassers.

Der Mai steigt mit grünen Worten auf eine Bühne von Narzissen und waagrecht gespaltenen Tierpupillen. Katzenhaar im Wind -

es läßt sich auf der Handschrift der Gärten nieder.

Wiedererweckung

Das Land leer, durch ausgebreitete Tücher heraufgrünt das andere, darunter gelegte, das ein Verdacht war früher. Es kommt aus der Pestzeit, weiß von Knochen, Rippen, Wirbeln, Speichen, vom Kalk.

Zähl die Gräser und zähl Fäden aus Regenwasser, und Licht, die Blättchen zähl, und zeichne ein deine Schritte, beleb mit Worten das Blut in den Bäumen und den Lungen, den Rost schlag von Wänden und Stufen, an deinen Händen bleibt er, dort mag er sich nähren mit deinen Nägeln Es ist nicht die Zeit, ihn zu fragen. Es ist die Zeit für das Wasser an Halmen, für die erneute Fügung der Blätter, und Augen öffne das Laub.

Krolows Gedicht Einen Garten zeichnen ist zunächst einmal ein raffiniertes Balancespiel, das die Möglichkeit des Zeichnens sanft ad absurdum führt. Zwei Strophengruppen, ineinander ver­ schränkt, lassen sich abheben. Die erste, dritte und fünfte Stro­ phe sind als Gruppe streng symmetrisch: ein Fünfzeiler, ein Vier­ zeiler, ein Fünfzeiler. Die zweite Gruppe ist insgeheim ähnlich symmetrisch, durchbricht diese Symmetrie jedoch der Zeilenan­ ordnung nach: zwei Dreizeiler, denen als dritte Strophe die drei letzten, voneinander getrennten Verse folgen. Nun geschieht diese Trennung der Schlußstrophe nicht willkürlich oder nur, um durch die Distanz eine rhythmische Pointierung zu setzen; denn auch syntaktisch hebt sich der Schluß von den beiden anderen dreizeili­ gen Strophen ab, die elliptisch ohne Satzaussage auskommen, während die vorletzte Zeile mit dem »läßt« ein Prädikat setzt, sich so an die andere Gruppe vorsichtig anschmiegt und durch den Gedankenstrich zusätzlich noch an die erste, die wiederum durch die Ellipse der beiden Anfangsverse etwas von der syntaktischen Gestalt der dreizeiligen Strophen vorwegnimmt. Überdies setzt sich die Gruppe der Dreizeiler von der anderen noch dadurch ab, daß in ihr die Genitive des Gedichts auftreten, und zwar wieder in symmetrischer Anordnung: die erste und die letzte Strophe die­ ser Gruppe enthalten je einen, die mittlere weist zwei auf. Die Verdoppelung eines Elements an dieser Stelle des Gedichts be­ zeichnet einen Sammelpunkt, und eine zweite derartige Verdop­ pelung findet sich in der dritten Strophe: »an den«, »an die«. Die syntaktische Anordnung des Gedichts legt also, im Zusam­ menhang mit den verschiedenen Symmetrieelementen, nahe, im Umkreis dieser beiden durch Verdoppelung ausgezeichneten Brennpunkte auch so etwas wie eine »lyrische Sinnmitte« zu su­ chen (die freilich die schon in Prosa leicht unbeholfene Formulie­ rung »an die zu Pflanzen / gewordenen Frauen« verstellt). Und im Nebeneinander dieser beiden Strophen schlüsselt sich hier tatsächlich die »Meinung« des Gedichts auf: Was der Anfang mit seinem elliptischen Infinitiv (der nach Ergänzung durch ein »sollte man« oder ein »möchte ich« verlangt) als eben nur eine Möglichkeit anbietet, nämlich ein magisches Einswerden von Ich und Landschaft auf dem Vehikel des Papiers - im mittleren Stro­

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phenpaar wird das zurückgewiesen. Etwas, das »bis an den Hals« reicht (wie einem das Wasser »bis an den Hals« steht), verzerrt das Bild des Gartens, nämlich die von Mythologie (zu Pflanzen gewordene Frauen) durchwirkten Gedanken, wodurch überdies (wie im Niedersteigen des personifizierten Mai in der vorletzten Strophe) das Element des Mythologischen aus der ersten Strophe wieder aufgenommen wird, damit sich der Vorsatz endgültig er­ ledige. Das ist dann das »Ende des Abenteuers«, und zwar des Abenteuers »mit einer Karaffe grüngefärbten Wassers«. Auch dieses gefärbte Wasser knüpft an den Eingang an, an den feuch­ ten Bleistift, und zwar so, daß das Abenteuer des Zeichnens sich nicht zwischen Ich und Landschaft abspielt, sondern zwischen dem Ich und seinem Zeichengerät, und auch das erledigt wieder das Unterfangen: all das sind Versuche, »die nichts besagen«, wie es in der zweiten Strophe vorweggenommen ist. Und auf diese »Re­ den« der zweiten Strophe antworten dann, wieder in einer Sym­ metrie, die »Worte« der vorletzten, in denen sich der mythologi­ sche Vorgang verkörpert. Die Sprache der Natur setzt sich ge­ gen die des lyrischen und des zeichnerischen Ich durch. Doch selbst die Natur dieser vorletzten Strophe ist nicht ursprünglich, son­ dern ganz in mythologischer Konsequenz »Bühne«, Ort für einen Auftritt. Nur einmal in diesem Gedicht tritt Natur in einfacher Sichtbarkeit auf: in der isolierten Zeile »Katzenhaar im Wind-«, deren Einzelgängertum und deren Ausbruch aus der Symmetrie von daher erst eigentlich ganz sinnvoll wird. Sofort sehen dann die beiden Schlußverse das Naturhafte wieder in doppelter künstlicher Brechung: die anthropomorphe »Handschrifts-Meta­ pher knüpft bereits an dem humanisierten Garten, an der dome­ stizierten Natur an. Zweifach also läßt der Mensch die Natur nicht Natur sein, wie es die beiden Schlußstrophen (mit ihrer zu­ sätzlichen Parallele der absteigenden Bewegung) andeuten: durch Hineindenken mythischer Akte und durch die Domestizierung (die auch eine Art Symmetrisch-Machen darstellt). Und eben vor dieser dem Menschen anbequemten Landschaft geht das Aben­ teuer der Aneignung im nächsten Kunstzugriff vorschnell zu Ende: ein Rest von sozusagen Realem (Katzenhaar) deckt das Humanisierte sanft zu und macht es ungreifbar.

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Dieses Gedicht läßt sich dank seiner raffiniert ausbalancierten und ebenso raffiniert gestörten Symmetrien, die unvermittelt in Sinn und Bedeutung übergehen, durchaus so interpretieren, als handle es sich bei ihm, eben weil alles »stimmt« und »aufgeht«, um große lyrische Poesie: um das Abbild einer kunstjenseitigen Vollkommenheit auch im Äußern einer Vergeblichkeit (so ließe sich »Kunst« unter anderem definieren). Und dabei könnte man es vielleicht bewenden lassen, falls man nur bereit wäre, die syn­ taktische Unbeholfenheit der dritten Strophe als Ausdruck der von dem Gedicht benannten Vergeblichkeit in eine Qualität um­ zudeuten und ähnlich die Verse »niemand kaut Blumen / in einer Landschaft ohne / mythologische Wesen« als ein transrationales Einsprengsel zu akzeptieren, das für die Irrealität des ganzen Zeichenunterfangens einsteht. Doch für das genauere Zusehen, das dem Gedicht nichts durchgehen läßt, bleibt ein peinlicher Rest an formloser Zufälligkeit, die offenbar nicht handwerklich­ sprachkünstlerischer Natur ist, sondern möglicherweise eben aus einem Verzicht auf existenziellen Einsatz des lyrischen Ich her­ rührt. Gewiß, man soll mit »moralischen« Urteilen, Vorurteilen und Verurteilungen mehr als vorsichtig sein, man soll nicht verlangen, was der andere nicht geben kann oder will; doch im Ästhetischen hat, anders als im Ethischen, die Toleranz sehr enge Grenzen, und der Verzicht auf jenen Einsatz bewirkt, daß einem artisti­ schen Gebilde die äußerste - und hilfreich ordnende - Stichhaltig­ keit versagt, daß es, zwar im besten Sinn, aber doch Spiel-»Zeug« bleibt und nicht das stringente Spiel selber wird, das die Kunsthandwerklichkeit unabsehbar hinter sich läßt. Für dieses ernste Spiel steht dagegen etwa das Gedicht Wiedererweckung von Jo­ hannes Bobrowski ein. Diese Verse, schon die erste Lektüre weist es aus, sind weniger brillant, weniger raffiniert zur Kunstgestalt geordnet. Ihr Auf­ bau ist weniger leicht durchschaubar als eine Spielfigur. Nur weni­ ges läßt sich über ihre »Form« unabhängig vom Ausgesagten er­ mitteln. Drei Einheiten, nicht als »Strophen« voneinander abge­ sondert, sind zu erkennen: eine elfzeilige bis zur Zeile »Speichen, vom Kalk«, eine sechzehnzeilige bis zum Vers »mit deinen Nä-

geln« und die fünfzeilige Schlußgruppe. Also letztlich auch hier eine geheime Symmetrie, ein Ausbalancieren der Gewichte - ver­ stärkt noch durch die grammatischen Formen: prädikatlose El­ lipse und indikative Aussage in der ersten Gruppe; Imperative in der zweiten; indikative Aussagen, durch die Imperative durch­ schimmern, und ein Imperativ in der dritten. Ein solches Aus­ balancieren ist insofern bedeutsam, als die Verse dieses Gedichts, anders als bei Krolow, sich ausdrücklich nicht als vorwiegend optische, sondern als Atemeinheiten zu erkennen geben und da­ durch eine gesteigerte Intensität besitzen. Diese drei Versgruppen sind jeweils in sich als klangliche Einheiten abgeschlossen: die er­ ste auf dem a-Laut aufruhend, die zweite auf dem ä-Umlaut, die dritte durch die Diphthonge ei und au akzentuiert. Eine in Ein­ zelheiten gehende Untersuchung dieser klanglichen Schicht könnte zeigen, daß auch hier eine strenge Balance herrscht, die durch vielerlei über das ganze Gedicht hinwegreichende Bezüge der Vokalisation zustande kommt. Was jedoch unmittelbarer ins Auge fällt oder eigentlich ins Ohr geht, ist ein anderes Merkmal der Verse, der Atemeinheiten, näm­ lich die Verteilung der einwortigen Verse über das Gedicht. Zu Anfang folgen drei derartige Einheiten unmittelbar aufeinander, dann werden die Abstände immer größer: das »war« steht noch in der ersten Versgruppe, die beiden anderen, das »zähl« und das »nähren« (Umlaut!) stehen am Anfang und fast am Ende der zweiten Versgruppe, und zwar so weit voneinander getrennt, daß schon fast nicht mehr auffällt, wie diese zweiten drei einwortigen Atemeinheiten genau den drei ersten Versen des Gedichts die Waage halten: diese Symmetrie, und damit die ganze Symmetrie des Gedichts, wird vorsichtig aufgelockert, sie macht sich selber vergessen. Überdies hat der letzte einwortige Vers des Gedichts im Gegensatz zu den fünf anderen zwei Silben, die Einheit ver­ liert dadurch etwas von ihrer dringlichen Schwere, nähert sich be­ reits den längeren Versen an. Doch diese Beobachtungen geben erst einen Sinn im Zusammenhang mit der thematischen Schicht des Gedichts, mit dem, was hier ausdrücklich »gesagt« ist, näm­ lich »Wiedererweckung« (Frühling und Anspielung auf Ostern zugleich - denn die »Nägel« »an deinen Händen« lassen sich 20

durchaus doppeldeutig verstehen, zumal im Zusammenhang mit dem »Rost«). Die drei ersten Verse: mühsam, schwer sich losringend jedes ein­ zelne Wort, die Leere des Landes wie eine fast unumstößliche Tat­ sache, ein Totenzustand. Und auch das, was »heraufgrünt«, ist Totenland, grün zwar, aber dennoch »weiß«, der Wandel, der sichtbar wird, erweist sich als Übergang vom Tod zum Tod. Die »Wiedererweckung«, von der die Überschrift spricht, ist fast nur scheinhaft, eine Täuschung, stände nicht da in schwerfälliger Nachstellung, wie gerade noch mühsam ergriffen, das »früher«, das durch seine harte Fügung in die bedrückende, schwer atmende Undurchdringlichkeit der Todeslandschaft einen Sprung reißt. (Auch das läßt sich österlich verstehen.) Dieses »früher« macht es möglich, daß die zweite Einheit des Gedichts mit ihren Impera­ tiven zur Aufforderung werden kann, die Todeslandschaft doch nicht als endgültig zu verstehen: »Wiedererweckung« ist möglich, wenn der Mensch durch sein Beobachten und Eingehen der töd­ lichen Landschaft etwas hinzufügt, nämlich eben sein Eingehen; das macht sie zur terra humana. Die Anweisung »beleb mit Wor­ ten« ist dabei der Angelpunkt aller Imperative dieses Gedichts: sprechend erwecke der Mensch die tödliche Natur zum Leben. So schließlich wird der letzte Imperativ des Gedichts »und Augen öffne das Laub«, der nicht mehr an ein humanes Du gerichtet ist, sondern an die Natur selber, zum gleichnishaften Schöpfungs­ wort, zu einem Nachhall des anfänglichen »es werde« - schon der ungefüge syntaktische Anschluß dieser letzten Wendung mit seinem biblischen »und« legt eine solche Deutung nahe. Ostern und Genesis rücken zueinander, Genesis freilich als Auftrag an den Menschen, die Herrschaft über die Schöpfung anzutreten, durch sein Eingehen auf sie, ihr Bedrohliches, Tödliches immer wieder neu zu bannen. »Es ist die Zeit«, nämlich die Zeit, da die Totenlandschaft endgültig ins »früher« verwiesen ist: Kairos des Lebens. (Es ist sicher auch kein bloßer Zufall, daß Bobrowski die­ ses österliche Gedicht gerade für den jüdischen Lyriker Paul Celan geschrieben hat, dem er lange fremd gegenübergestanden hatte.) Doch die Interpretation, die es im Grunde nicht darauf angelegt 21

hat, diese Verse als religiöse Lyrik auszuweisen, sondern der Un­ terscheidung zwischen lyrischem Kunsthandwerk, zwischen gut Gedichtetem und lyrischer Kunst dienen soll, ist noch nicht am Ende angelangt. Gerade das, was dieses Gedicht Bobrowskis von dem Krolows abhebt, muß noch zur Sprache kommen: das ge­ spannte Wechselverhältnis von Atem- und syntaktischen Sinnein­ heiten. Auch Krolow arbeitet mit Brechungen des Satzes durch die Versgliederung, doch so, daß sich die Verszeilen auch als Prosa schreiben ließen, wobei sie nichts weiter verlören als etwas von ihrem rhythmischen Reiz. Sogar andere Rhythmisierungen wären innerhalb der einzelnen Strophen möglich, ohne den Sinn, ohne die Aussage grundsätzlich zu ändern; z. B. auf diese Weise: »Bis an den Hals reichen / die Gedanken an / die zu Pflanzen ge­ wordenen / Frauen.« (Damit wäre sogar noch die fatale Prosa »an die zu Pflanzen gewordenen« etwas kaschiert.) Und eben eine solche Umrhythmisierung ist bei Bobrowski nicht möglich, rein äußerlich schon deswegen nicht, weil sich sonst die Verse nicht mehr als die Atemeinheiten verstehen ließen, die sie sind, weil die Lockerung der einwortigen Zeilen nicht mehr statt­ fände, die so genau mit dem Thema »Wiedererweckung« von Totem korrespondiert. Doch das ist noch nicht das Entschei­ dende: die Brechung der Sinneinheiten in Atemeinheiten bewirkt hier, daß das Gedicht durchgängig doppelschichtig wird, zumal dann, wenn man es nicht einfach optisch, sondern, wie es wohl auch gemeint ist, zugleich akustisch wahrnimmt. Versucht man nur zu hören, spielt sich schon zwischen der vierten und der fünf­ ten Zeile eine gleichsam »enharmonische Verwechslung« ab. Man kann folgendermaßen lesen: »Das / Land / leer, / durch ausge­ breitete Tücher ...« Damit ist eine Sinneinheit gegeben, der Ein­ druck ist nahegelegt, als sei »durch ausgebreitete Tücher« die Leere des Landes bewirkt. Im Fortgang der gehörten Lektüre nimmt sich diese erste Sinneinheit zurück, man muß die vierte Zeile neu, nämlich der fünften zuordnen: »durch ausgebreitete Tücher / heraufgrünt das andre, darunter -...« Aber eine solche Neuorientierung des Sinngefüges kann die erste, objektiv »falsche« Sinnordnung nicht mehr ganz vergessen ma­ chen, etwas von ihr bleibt wirksam. Ähnliches geschieht dann im 22

Übergang von der fünften zur sechsten Atemeinheit, bei der Bre­ chung des Worts »darunter-gelegte«. Das »andre, darunter« wird im Fortgang des Hörens das »andre darunter-gelegte.« Eine zweite Stelle von solcher enharmonischen Kontrapunktik findet sich in der mittleren Versgruppe, und zwar von der Zeile an: »und Stimmen, beleb«, die durchaus auch so zu hören ist, als stände da kein Komma, das erst nachträglich, von der nächsten Zeile her, sinnvoll zu hören ist. Eine nächste Verwechslung schließt sich unmittelbar an: »... beleb / mit Worten / das Blut in den Bäumen und / den Lungen, den Rost. . .« Erst der folgende Vers macht deutlich, daß es nicht heißt: »be­ leb ... den Rost«, aber da es nun einmal nicht heißt: »den Lun­ gen, schlag / den Rost von Wänden und Stufen«, ist das zuerst Gehörte »beleb . . . den Rost« nicht mehr ganz rückgängig zu machen: es war einmal so gesagt; auch das Zerfallsprodukt be­ kommt noch etwas von der »Wiedererweckung« mitgeteilt. Aber die Doppeldeutigkeit der Verse verschlingt sich an dieser Stelle noch mehr: ». . . den Rost / schlag von Wänden und Stufen, / an deinen Händen . . .« Auch das läßt sich hören, als stände da kein Komma, als führt ;e nicht der nächste Vers erst das Gesagte zu seinem »eigentlicher ,1« Zusammenhang. Schließlich das Ende dieser Mittelgruppe: »n? ih­ ren / mit deinen Nägeln.« Die Präposition »mit« ist nicht ganz eindeutig. Sie kann ein ■ »zu­ sammen mit« bedeuten, dann wäre gesagt, daß Rost und F Jägel sich gleicherweise nähren, nämlich von Lebendigem, von den Hän­ den. Aber in dem »mit« schwingt vielleicht auch umgangss prachlich ungenau ein »von« mit: der Rost nährt sich von den F iägeln, die in dem österlichen Zusammenhang des Gedichts überd .ies 'wie­ der doppelsinnig zu verstehen sind, in denen sogar no- ch e.twas von den Nägelmalen sich andeutet. Eine letzte Sinnbrechung und Sinnverdoppelung durch die Atem­ führung weist das Gedicht schließlich in den Schluß' /ersten auf: »Es ist die Zeit.../... für die erneute / Fügung der J dlät.ter, und Augen . . .« Wieder kann und muß das Komma erst < jinnnal über­ hört werden, so daß überdies der Schlußvers zunächs ,t al s eine im­ perativische Aufforderung im Sinn des »zähl«, de;; »b>eleb«, des 23

»schlag« aus der mittleren Versgruppe zu verstehen ist und erst in der syntaktischen Rückerinnerung deutlich wird, daß hier ein andersgerichteter Imperativ, eine Aufforderung an die Natur steht: eben das wiederholte Schöpfungswort. Die durch die Atemeinheiten erzwungenen Sinnbrechungen und Sinnverdoppelungen verleihen dem Gedicht Bobrowskis eine Weite, die das Resultat lyrischer Intensität ist. Das genaue Zu­ sehen und Zuhören macht deutlich, daß hier im Grunde viel radi­ kaler, viel notwendiger »gespielt« wird als in den virtuosen Ver­ sen Krolows, daß das Gedicht ernstes Spiel ist, nicht mehr nur höchst kunstvolles Spiel-Zeug. Und es ist umfassender zur Form geworden, weil ein ganzer »Einsatz«, eine entschlossene Preis­ gabe des Ich nicht nur gesagt, sondern in die Gestalt eingewirkt ist: Zweifel vermittels der Worte und Bewältigung des Zweifels ebenfalls vermittels der Worte: Metanoia, Umkehr, Gestalt ge­ worden im Vers. Auch das, die reine »Mechanik« der poetischen Sprache, ist so von der östlichen Umkehr durchformt, welche die Totenlandschaft ins »früher« zurüdcverweist. Man kann nach der gesammelten Lektüre solcher Verse sich nicht i nehr mit der Feststellung beruhigen: Aha, so ist das nun also, s< □ läßt sich das also sehen, erfahren und ausdrücken. Das Gedicht Bi ibrowskis fordert zur Entscheidung auf: das Gesagte, Formgewc irdene anzunehmen oder sich abzuwenden. »Du mußt dein Le­ ben ändern« oder wegsehen. Daß sie ein übers Ästhetische hina usr eichendes existenzielles Verhalten des Lesers erzwingt, daß ihr Spiel’ so unbedingt das Sprachlich-Handwerkliche übersteigt: das etwa kann als ein Kriterium dafür genommen werden, daß in der benieis '«terten Gestalt solcher Verse der Rang des Lyrisch-Künst­ lerische 'n erreicht ist, der dem nur »Bemerkenswerten« versagt bleib t. ( Ähnlich gelagerte Verhältnisse zwischen dem existenziell Stichhalt igen und dem meisterlich Gekonnten lassen sich übrigens auch in di ?r Prosa oder etwa in der Malerei der Gegenwart feststel­ len: nie sd trieb sich Prosa so leicht wie heute, nie ließen sidt so leicht »bemerken swerte« Bilder malen und »bemerkenswerte« Maler aufzähle.n; aber nie war deshalb auch die aus dem Bemerkenswer­ ten herau.sra gende Qualität der Menge nach geringer als heute.) Wir haben g esagt, die Quantität der gekonnten, handwerklich-

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sprachartistischen Gedichte sei ein Wesensmerkmal, sozusagen eine Qualität heutiger lyrischer Produktion. Man kann das so lange gelten lassen, wie man nicht versucht, diese Qualität der reinen Menge mit dem Rang und dem Wert zu verwechseln, die immer nur dem einzelnen Kunstgebilde zukommen. Dabei könnte sich dann freilich noch eine Frage stellen, die wir allerdings un­ beantwortet lassen: ob nämlich nicht die Qualität der Menge, die prinzipiell mögliche Machbarkeit »bemerkenswerter« Lyrik ins­ geheim an jener anderen Qualität des singulären Ranges und Wertes zehrt; ob möglicherweise angesichts der modernen Mög­ lichkeiten überhaupt das alte, sicher noch bis Rilke gültige Rangund Wertkriterium nicht mehr so strikt anwendbar ist. Eine Ant­ wort auf solche Überlegungen kann vermutlich erst aus histori­ schem Abstand erfolgen. Da uns dieser fehlt, darf man wohl noch bei den überkommenen Qualitätsvorstellungen im Sinn des Sin­ gulären bleiben, auch wenn aus der Nähe nicht unbedingt fest­ stellbar ist, welches nun absolut die paar Lyriker sind, die für diese Epoche, für diese Jahrzehnte einstehen, welchen paar Dut­ zend Gedichten die Klassizität des heute möglichen Mustergülti­ gen ein für allemal zukommt. Aber die Frage nach einer möglichen Umorientierung der Quali­ tätskriterien sollte und muß auch probeweise dennoch gestellt werden, zumal die allgemeine sichere Beherrschung des sprach­ lyrischen Instrumentariums, die es zuweilen schwierig und von einer gründlichen Interpretation abhängig macht, aus dem Guten das Bedeutende auszusondern, mit einem historisch vorbereiteten Phänomen zusammenhängt, das selber wieder epochentypisch verstanden werden muß. Hans Magnus Enzensberger hat im Vor­ wort zu seinem Museum der modernen Poesie dieses Phänomen als »poetische Weltsprache«, als »Weltsprache der modernen Poe­ sie« angesprochen: »In den fünfunddreißig Jahren von 1910-1945 haben die Dich­ ter .. . unter sich ein Einverständnis erreicht, das wie nie zuvor die nationalen Grenzen der Dichtung aufgehoben und dem Be­ griff der Weltliteratur zu einer Leuchtkraft verholfen hat, an die in anderen Zeiten nicht zu denken war . .. Unter den führenden Köpfen der modernen Poesie waren manche, die ihren Kontext

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schon sehr früh übersahen und als Kundschafter und als Über­ setzer, Kritiker und Essayisten daran gingen, ihn ausdrücklich und sichtbar zu machen.« Das hier erzielte Einverständnis hat nach Enzensberger nichts mit direkten Abhängigkeiten und »Ein­ flüssen« zu tun, wie sie die Philologie so gerne ausgräbt, es ist vielmehr ein Konsensus eher im »Geist« der Epoche. »So finden sich zwischen Santiago de Chile und Helsinki, zwischen Prag und Madrid, zwischen New York und Leningrad immer wieder ganz überraschende Übereinstimmungen, die sich nicht auf ge­ genseitige Abhängigkeiten zurückführen lassen. Der Prozeß der modernen Poesie führt ... in wenigstens fünfunddreißig Län­ dern zu Ergebnissen, die Vergleich über Vergleich herausfordern: er führt, mit einem Wort, zur Entstehung einer poetischen Welt­ sprache. Diese Feststellung kann nicht dazu führen, die Vielfalt, die sich in dieser Weltsprache ausdrückt, über einen Kamm zu scheren. Die lingua franca ... hat ihre Größe gerade darin, daß sie sich dem Ausdruck des Besonderen nicht verschließt; daß sie vielmehr das Besondere aus der Bindung an die nationalen Lite­ raturen befreit.« Es wäre freilich, und der Schlußsatz dieses Zitats weist schon dar­ auf hin, zu kurz gegriffen, wollte man in »Weltsprache« das Ele­ ment »Sprache« nur metaphorisch im Sinn von Einverständnis nehmen. Indem diese Weltsprache das einzelne Gedicht oder das einzelne Oeuvre aus der nationalsprachlichen Bindung befreit, verändert sie zugleich etwas im Verhältnis des Gedichts zu dem Medium, in dem es sich äußert, nämlich zu seiner Sprache. Die Weltsprache, das Einverständnis hat neue Möglichkeiten der Übersetzbarkeit geschaffen, ist selber zu dem Medium geworden, das bewirkt, daß das Gedicht nicht mehr als das schlechthin un­ übersetzbare Sprachgebilde gelten kann. Kaum mehr läßt sich sagen, ein in diesem weltsprachlichen Umkreis entstandenes Ge­ dicht sei in einer »Muttersprache« geschrieben. Eine Distanz hat sich aufgetan zwischen der »Sprache« eines Gedichts und der Sprache, die sein Autor als Angehöriger eines bestimmten Sprach­ kreises spricht. Die Sprache des Gedichts ist auf radikale Weise künstlich geworden, hat sich dem sogenannten Naturlaut ent­ fremdet. (Was allerdings nicht als ein Verlust von Mitte gedeutet 26

werden möge; vielmehr verweist diese neue Zuordnung von Ly­ rik und Sprache in der poetischen Überspitzung darauf, daß im Grunde alles menschlich-bewußte Sprechen mit dem Naturlaut nur äußere Merkmale gemeinsam hat, an »Natur« gemessen aber prinzipiell künstlich ist. Doch davon später mehr.) Der Verzicht auf muttersprachliche Bindung des modernen Ge­ dichts steht, wie es scheint, in unmittelbarem Zusammenhang mit Einsichten über die Funktion und die Realitätsweise von lyrischer (oder poetischer) Sprache überhaupt. Seit Hölderlin oder Bau­ delaire, zumindest seit der Erkenntnis, daß etwa bei diesen Lyri­ kern die wichtigsten Wurzeln heutiger Lyrik zu finden sind, herrscht weithin Übereinstimmung darin, daß die Sprache des Gedichts nicht nachahmend und Darstellen im Sinn des Erzäh­ lens oder Berichtens sein kann, daß sie vielmehr konstitutiv für Wirklichkeit ist: daß sie neue Realität ist und schafft und daher zu äußerster Intensität, zur Abstraktion von allem Zufällig-Be­ sonderen gezwungen ist, das noch auf den stofflichen Aussagewil­ len des Schreibenden verwiese. Und in diesem Bestreben, die Ly­ rik von Außerpoetischem strikt zu reinigen, haben sich die Poe­ sien der Nationalsprachen weithin von deren Verständigungs­ charakter gelöst und sind sich im selben Zug nahe gekommen. Von einem »schönen«, von einem »guten« Gedicht ist nur noch dort zu sprechen, wo im Sinn jener Reinigung ein »intensives« Poem vorliegt. Damit aber ist die entscheidende Voraussetzung dafür gegeben, daß nun, in den nächsten Generationen, so mühe­ los »bemerkenswert« gedichtet werden kann: unter poetologischsprachrealistischem Aspekt entfällt die Nötigung, sich im Gedicht existentiell, sozusagen mit einer beim Wort zu nehmenden Aus­ sage einzusetzen. Das Reservoir ist ausschöpfbar geworden, die Weltsprache steht zur Verfügung. Aber das Ich mit seinem Ein­ satz, mit seiner unbedingten Preisgabe an den Vers entscheidet zuletzt doch noch über dessen Stichhaltigkeit. Genau genommen mag also das Sprachhandwerkliche, Poetotechnische tatsächlich leichter geworden sein, das »Dichten« dagegen hat es insofern un­ absehbar schwerer, weil es jenen Einsatz vermittels einer Poesie leisten muß, die eben diesen Einsatz in der Aussage nicht brau­ chen kann, wenn sie ihren eigenen Grundsätzen treu bleiben will.

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Um auf unsere Beispiele zurückzukommen: Gedichte wie das des Primaners oder diejenigen Karl Krolows lassen sich mit poeti­ scher Strategie und mit ästhetischen Sensorium erzwingen, und zwar noch dazu so, daß von diesem Zwang nichts mehr zu be­ merken ist, daß er in Spiel umschlägt - Verse wie diejenigen Bo­ browskis, die paradox genug sind, der lyrischen Grundforderung nach unpersönlicher »Sprachobjektivität« gerecht zu werden und gleichermaßen doch singulärer »Ausdruck« zu sein: von solchen Gedichten ließe sich rechtens sagen, daß sie »geschehen«, Gott­ fried Benns Wort zum Trotz, Gedichte entständen nicht, sondern würden »gemacht«. Man dichtet gut, man dichtet »bemerkenswert«, man ist Kenner der »poetischen Weltsprache«, poeta doctus. Aber man dichtet immer auch, und gerade wenn man in der Weltsprache heimisch ist, am Rand des Epigonentums. Seit 194;, schreibt Enzensberger, zeige die Weltsprache der Poesie »Spuren der Erschöpfung, des Alterns. Ihre großen Meister sind fast alle tot. Nur als konven­ tionelles Spiel kann sie fortgesetzt werden, als gäbe es zu ihr keine historische Differenz«. Die Beobachtung ist richtig und be­ darf trotzdem der Differenzierung. Die Weltsprache hat ein neu­ artiges Epigonentum möglich gemacht: man kann seit ihrer Ent­ faltung epigonal dichten, ohne einen bestimmten Autor als Vor­ bild nachzuahmen. Epigonentum ist schon dadurch gegeben, daß einer sich den artistisch-ästhetischen Errungenschaften dieser Weltsprache als eines poetischen Mediums unterwirft, etwa so, wie wenn am Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein Poet im »Volksliedton« ä la Eichendorff dichtete. Die übernationale Weltsprache der Poesie ist, einmal vorhanden und bedenkenlos gebraucht, selber eine Art sprachartistisch-intellektueller Liedton geworden, dem freilich nicht schon dadurch zu entrinnen ist, daß man sich über jene Weltsprache und ihre lyrischen Errungenschaf­ ten hinwegsetzt und vielleicht gar eine neue »schlichte« Volksliedhaftigkeit mit muttersprachlichen »Naturlauten« suchte, son­ dern offenbar nur durch das, was wir anhand des BobrowskiGedichts als den »Einsatz« zu beschreiben versuchten, der ver­ mittels der Weltsprache und durch sie hindurch das lesende Du in die Entscheidung stellt: »Du mußt dein Leben ändern.«

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Vorläufiges Ende der Geschichte

»daß keiner je sich je und je« Hans Aar So sehr die heutigen Lyriker in ihrem Bezug auf jene »Welt­ sprache« verständigt sind, so deutlich sind ihre Differenzen, so unbedingt scheinen sie in ihrem Anspruch, die Sprache ihrer Zeit zu sprechen, einander auszuschließen. Welcher Weg führt von Helmut Heißenbüttel zu Nelly Sachs? Gibt es einen gemeinsamen Nenner für solche lyrische Poesie:

(konjunktivisch) bis zur Mitte der Hälfte weniger als zu wenig am wenigsten als ob als ob wahrscheinlich wahrscheinlich auf sich genommen nicht auf sich genommen unentschieden vorläufig vorläufig (Heißenbüttel, Einfache grammatische Medition, Textbuch i) So kurz ausgeliefert ist der Mensch wer kann da über Liebe sprechen das Meer hat längere Worte auch die kristallgefächerte Erde mit weissagendem Wuchs Dieses leidende Papier schon krank vom Staub zum Staube - Lied das gesegnete Wort entführend vielleicht zurück zu seinem magnetischen Punkt der Gottdurchlässig ist -

(Nelly Sachs. In: Jahresring 66/67)

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Abgesehen vom Umstand, daß es sich hier einmal um strikt a-religiöse und dann um entschieden geistliche Dichtung handelt (Heißenbüttel schirmt sein Gedicht sorgsam gegen den Einbruch eines Numinosen ab, Nelly Sachs ordnet es ausdrücklich dem Numinosen zu) - abgesehen davon, ist offenbar die lyrische Sprache in ihrer Funktion grundverschieden angesetzt. Heißen­ büttel gibt eine »grammatische Meditation«, er meditiert vermit­ tels der Sprache über eben diese Sprache, schließt damit das Poem gegen Außerpoetisches ab (unter der theoretisch gefaßten Vor­ aussetzung, daß es Literatur mit nichts anderem als mit Sprache zu tun habe, daß der Vers schlechterdings nicht berechtigt und be­ fähigt sei, ein »Etwas« zu benennen oder auszusagen), er betreibt Welterkundung, Aufklärung eines angenommenen Dunkels durch die Versenkung in eine Sprache, deren »Grammatik« jenseits der Grammatik angesiedelt ist, die das Medium der zwischenmensch­ lichen Verständigung darstellt. Nelly Sachs »sagt« dagegen etwas, das sich scheinbar unmittelbar beim Wort nehmen läßt, sie setzt Metaphern ein, um Unaussprechliches zu umstellen, führt die Verse vom »kurz ausgelieferten«, fragmentarisch gezeichneten Punkt zu Gott, der, mystisch verstanden, das unendlich Große im unendlich Kleinen ist. Sprache ist diesem Gedicht der Weg, auf dem eine solche Bewegung stattfinden kann, und zugleich die Be­ wegung selber. Ein Bezugspunkt zu Heißenbüttels Versen wäre auszumachen; auch das Gedicht der Nelly Sachs stellt eine, viel­ leicht nicht gerade grammatische, so doch sprachliche Reflexion dar: das Gedicht kann »vielleicht« das Wort dorthin zurückfüh­ ren, wo es symbolisch für das Numinose transparent wird; das lyrische Wort vermag möglicherweise dem Nicht-Sagbaren, das größte Helligkeit und größte Dunkelheit zugleich ist, den Weg zum »kurz ausgelieferten« Menschen vorzubahnen. Es könnte »aufklären«, wie die Sprache Heißenbüttels aufklären, dem Dun­ kel etwas abringen soll, indem es dem Sagbaren etwas hinzuge­ winnt. Doch reicht diese Gemeinsamkeit in der Hochschätzung der Sprache hin, für beide lyrische Welten einen Nenner abzu­ geben - zumal doch bei Nelly Sachs das Wort fast messianischlogoshaft verstanden ist? Und welche Verbindungen lassen sich etwa zwischen Hans Ma-

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gnus Enzensberger und Johannes Bobrowski erkennen (und von ihnen zur Sprachversunkenheit eines Heißenbüttel)? Ikone Türme, gebogen, verzäunt von Kreuzen, rot. Finster atmet der Himmel, Joann steht auf dem Hügel, die Stadt gegen den Fluß. Er sieht kommen das Meer mit Balken, Rudern, räudigen Fischen, der Wald wirft sich herab in den Sand. Her vor dem Wind geht der Fürst, er schwenkt Fackeln in beiden Händen, er streut lautlose Feuer über die Ebenen aus.

(Bobrowski, Schattenland Ströme) ehre sei der Sellerie der steinbruch, der uhu, die milch, unbezweifelbar wie das licht, der fels, von tauben bewaldet, der föhn, der dotter, das brom, warum nicht, und meinetwegen der blitz, ja der wal und der blitz, sie stehen fest, auf sie laß uns bauen, sie sind eine ode wert...

(Enzensberger, Landessprache)

Beidemale ist von Dingen der Natur die Rede, gewiß: eine Ge­ meinsamkeit; doch nur für den ersten Blick. Bobrowski entfaltet eine von der Melancholie der Worte durchtränkte Landschaft,

ein in sich geschlossenes Bild, das dem Ich zum Gegenüber zu werden vermag, in das er eintreten kann. Natur ist gewisser­ maßen im Indikativ gesehen und benannt. Genau das Gegenteil spielt sich in den Versen Enzensbergers mit dem verkappten Gloria-Titel ab: Einzelheiten der Natur, Gegenstücke zur ver­ ratenen, verkauften, entstellten Welt des Menschen sind ange­ sprochen: es gibt sie noch, »warum nicht«, und »meinetwegen«, aber ihr Existieren bleibt in der ironischen Distanz. Daß sie »eine ode wert« sind, besagt noch nichts darüber, ob sich diese Ode auch schreiben läßt; und das ganze Gedicht ist denn auch eine kon­ junktivische, ja negative Ode, nämlich die Darlegung dessen, daß der Koexistenz des Menschen mit diesen Dingeri, die »richtig« sind, keine Chance mehr einzuräumen ist. Und aus diesem Ver­ hältnis entwickelt sich ein negativer Psalm, der zu verstehen gibt, wie sehr die Verfaßtheit des Menschen überhaupt gestört ist; er kann nur noch das rühmen, was »unter« ihm ist, und selbst das allenfalls in einer Haltung der Ironie, die von vorneherein aus­ schließt, daß den Dingen Gerechtigkeit widerfahren könnte: gepriesen sei die friedliche milch, rühm dem uhu, er weiß wie er heißt und fürchtet sich nicht, ehre dem salz und dem erlauchten wal, und der barmherzigen Sellerie, gebenedeit unter den kochen, die auf dem teller stirbt. Zweifellos ist das »Blasphemische« dieser Verse, die verbale Aggression gegen das Heilige als Ausdrucksform der Trauer zu verstehen, als maskierte Melancholie - aber reicht das aus, ein solches Gedicht der Ikone Bobrowskis zuzuordnen, der die Dinge in ihrem fast geheiligten Sosein hinnimmt, während die Verse Enzensbergers, indem sie indirekt gegen die humane »Ordnung« rebellieren, auch noch gegen das den Aufstand anzetteln, was sie rühmen, vor allem aber gegen den, der diese an sich rühmens­ werten Dinge geschaffen hat und mit ihnen den Menschen, der es mit der Menschlichkeit nicht schafft (»das zarte erdherz, du 32

Sellerie, / menschlicher als der mensch, / frißt nicht seinesglei­ chen ...«)? Oder Peter Rühmkorf und Paul Celan: Parodie auf das unmög­ lich gewordene Gedicht im »alten« Ton und der Versuch, diesen Ton durch die radikal »künstlich« gewordene Sprache so wieder­ zugewinnen, daß sich Assonanz und Reim einer Erfahrung unter­ werfen, die unverstellt ausgesagt werden muß; Magie der Maske und Magie der Maskenlosigkeit:

Lied, unter dem Messer zu singen

Blast die goldenen Hörner leer, Wind- und Grillenschwäger! Ach, die Erde hängt sich schwer an die Hosenträger ... Schenkt mir einen schwarzen Brei: Schludcen! oder Scheiden Liegt die Katz dem Ketzer bei, Ledet die Not an beiden ... (Rühmkorf, Kunststücke)

Was geschah? Der Stein trat aus dem Berge. Wer erwachte? Du und ich. Sprache, Sprache. Mit-Stern. Neben-Erde. Ärmer. Offen. Heimatlich. Wohin gings? Gen unverklungen. Mit dem Stein gings, mit uns zwein. Herz und Herz. Zu schwer befunden. Schwerer werden. Leichter sein. (Celan, Die Niemandsrose)

Beidemale meldet sich die Erfahrung von Vergeblichkeit zu Wort - sicher eine Übereinstimmung, ein möglicher gemeinsamer Nen­ ner. Doch die Art und Weise, wie Rühmkorf und Celan diese Erfahrung lyrisch bewältigen, wie sie ihr ein Gebilde abgewinnen, das diese Erfahrung transzendiert, ist unvergleichlich, trotz der 33

ähnlichen äußerlich-formalen Elemente. Einmal ein Karneval der Wörter, der die metaphorischen Möglichkeiten der Sprache ein­ setzt, um sie zu verhöhnen und als Lügenzauber zu entlarven. Dann eine Intensität des Sagens, die an der Grenze des Ausein­ anderfallens einfache sprachliche und »gegenständliche« Elemente so aneinanderstückt, daß in der gebundenen Ordnung das Aus­ einanderfallen, die auch lyrische Vergeblichkeit gegenwärtig bleibt und daß umgekehrt im Stückwerk, in der Unvollkommen­ heit der Erfahrung wie der sprachlichen Äußerung sich eine Hoff­ nung auf Ordnung, auf sinnvollen Zusammenschluß ankündigt: Ausbruch aus der Dialektik der UnVollkommenheit im restlosen Erfüllen der Unmöglichkeit zu existieren: was »zu schwer befun­ den« ist, muß »schwerer werden« - das ist der Weg zur Leichtig­ keit, zur Lösung von der Vergeblichkeit. Läßt sich da ernstlich von einem Konsensus sprechen? Schon darüber ist keine Übereinstimmung mehr herzustellen, was eigentlich ein Gedicht zu sein habe, wie es der Sprache, dem Menschen, der Welt zugeordnet sei, welche Funktion ihm zu­ komme, wo sein sozialer Ort sei. Spricht sich in ihm das einsame Ich vor sich selber und für sich selber aus, befreit es sich im Me­ dium der vom »Gegenständlichen« emanzipierten Sprache von seiner Stoff- und Weltverfallenheit, spricht es warnend das Du an, diese Welt nicht hinzunehmen, sondern sie zu verändern, ver­ schafft es sich durch das symbolisch dem Urgrund des Daseins zugeordnete Wort eine Möglichkeit zum Gebet? Heißenbüttel über seine sprachlichen Einsätze: »Es geschieht als Versuch, ein erstesmal einzudringen und Fuß zu fassen in einer Welt, die sich noch der Sprache zu entziehen scheint. Und die Grenze, die er­ reicht wird, ist nicht die zum Nichts, zum Sprachlosen, zum Chaos ... es ist die Grenze zu dem, was noch nicht sagbar ist.« Nelly Sachs über ihr Gedicht In der Flucht . . .: »Wie aller Ge­ schöpfe Verwandlung geht die unbewußte Sehnsucht der Ge­ schöpfe weiter in die Elemente zurück. Darum sehnt sich der Schmetterling wieder zum Meer. Beim Menschen bricht der To­ desschweiß aus. Das Gedicht ist ganz auf >Verwandlung< gestellt. Auch der Stein ist Universum. In ungezählten Weltjahren ver­ fällt er sich drehend zu Staub ... Auf jeden Fall ist eine kosmi34

sehe Verwandlung gemeint - wie ... der Stein sich wieder in Musik verwandelt, also die Materie die innere geistige Kraft wieder entläßt, an die ich glaube, jene Unsterblichkeit, die im Tode uns allen geschieht.« Johannes Bobrowski: »Ich habe ein ungebrochenes Vertrauen zur Wirksamkeit des Gedichts - viel­ leicht nicht >des Gedichts«, sondern des Verses, der wahrschein­ lich wieder mehr Zauberspruch, Beschwörungsformel wird wer­ den müssen. Die Klarstellung von Sachverhalten, Lehrgedicht und sonst etwas, damit ist’s aus. Ballade usw. ist heute Karnevals­ lied, Schnulze ... Die Literatur wird entvölkert werden, ge­ schichtslos sein müssen. Die Geschütze der Zukunft werden mit geweihten Kugeln geladen, ihre Bahnen mit Beschwörungszauber gelenkt. Das ist ziemlich grausig, aber es spricht alles gegen ein Aufgebenkönnen. Wir müssen unsere Litaneien in die gräßlichen Prospekte hineinsagen, ganz einfach sagen, nicht lautstärker als vorher. Das muß so sein - zwischen den Stühlen, das ist eine Position. Wir pflanzen auf das Chaos Blumen und ziehen uns mit einer Zeile Davids oder Deborahs wieder ins Tageslicht.« »Der Ansturm der Monstren allerdings - der ist nicht mehr zu über­ sehen. Wir müssen also gegen den Tod schreiben, anders will ich nicht reagieren.« Hans Magnus Enzensberger: ».. . gebrauchs­ gegenstände, nicht geschenkartikel im engeren sinne.« »Gedichte sind ... nicht Konsumgüter, sondern Produktionsmittel, mit deren Hilfe es dem Leser gelingen kann, Wahrheit zu produzie­ ren. Da Gedichte endlich, beschränkt, kontingent sind, können mit ihrer Hilfe nur endliche beschränkte, kontingente Wahrheiten produziert werden. Die Poesie ist daher ein Prozeß der Verstän­ digung des Menschen mit und über ihn selbst, der nie zur Ruhe kommen kann. Damit das, was vorgezeigt werden soll, beachtet wird, müssen Gedichte allerdings schön sein. Es muß ein Ver­ gnügen sein, sie zu lesen.« Peter Rühmkorf: »Wie mache ich Widersprüche dichterisch homogen, ohne die Spannungen zu verschleifen, wie halte ich Heiß und Kalt, wie Affekt und Intel­ lekt die Waage, wie kreuze ich Reflexion und Sangeslust, wie vereinige ich den Trieb zum Trällern und den Zwang zum Denken so, daß beide Tendenzen sich voll entfalten können und trotz der Dissoziation schließlich ein organisches Ganzes entsteht?... Wenn

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wir ... fragen, ob ein Poem fähig sei, etwas Außerpoetisches, Gesellschaftliches hervorzurufen, soziale Prozesse anzukurbeln, Revolutionen vorzuwärmen, Bomben später oder langsamer fal­ len zu machen, so bleibt uns als Antwort nur ein bedauerndes Nie-und-Nimmer.« Und Paul Celan: »Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem - gewiß nicht immer hoffnungsstarken - Glauben, sie könnte ir­ gendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. - Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirk­ lichkeit. - Um solche Wirklichkeiten geht es, so denke ich, dem Gedicht.« Die Differenzierungen, Widersprüche und zaghaften Querverbindungen ließen sich vermehren. Die Divergenzen zwi­ schen den lyrischen Gestaltungen kehren im lyrischen Bewußtsein wieder. Doch der Vorgang ist nicht neu. Walter Hollerer sammelte im ersten Band seiner Theorie der modernen Lyrik Selbstzeugnisse von Autoren, die zwischen 1772 (Coleridge) und 1921 (Rdzewicz) geboren wurden: die also an der Vorbereitung, der Entfal­ tung und der Weiterführung der »poetischen Weltsprache« be­ teiligt waren (die Jüngeren, die sich erstmals in den fünfziger Jahren zu Wort melden konnten, sind nicht vertreten). Was sich in dieser Dokumentensammlung abzeichnet, hat Hollerer so be­ schrieben: »Älteres und Jüngeres liegen da nebeneinander, man­ ches Jüngste ist im Älteren schon vorzufinden: die Sprache auf dem Seil zwischen den Ideologien; die über die leere Fläche hin geordnete Wortkonstellation; das Schweigen, das die Worte und Gegenworte dem Poeten abfordern; das Engagement gegen Ge­ wohnheit und Gewalt; Dichtung als Atemwende; der Inhalt als Widerstand; Aphorismus der Absurdität: »Kotflügel«, »Steinigung der Nacht«; mathematisiertes Bild- und Redewendungs-Gerüst; gefilterte Expression; genaue und supranaturalistische Beobach­ tung; Übersetzen aus einer Sprache, die wir nicht kennen; das poröse, durchlässige Poem; das Ungelegenheitsgedicht; Wirkung der Fakten und Intensität der Bedeutungen; Schrift und Bild; 36

Lautveränderungen auf Tonband; kybernetische Reihung, Or­ ganisation der Sprachelemente jenseits der alten, hierarchischen Ordnung; Dokumentation des Subjektiven und des Allgemeinen auf solche Art; Forderung nach einem angemessenen Bewußt­ sein.« Der Katalog der möglichen theoretischen und praktizierten Positionen ist natürlich fortsetzbar. Die in der Lyrik und der Lyriktheorie zu beobachtende Gleich­ zeitigkeit des Unterschiedlichen, auch des strikt Widersprüch­ lichen, zwingt zur Reflexion über den Zusammenhang solcher Erscheinungen mit dem Phänomen des Geschichtlichen. (In ande­ ren Gattungen der Poesie und den anderen Künsten ließe sich übrigens ähnliches feststellen.) Historik zieht Entwicklungslinien oder entdeckt sie und zieht sie nach: Kausalität ist am Werk und wird wahrgenommen. Bestimmte Kunst- und Dichtformen, be­ stimmte, in Kunst umgesetzte Weisen des Weltverständnisses und des menschlichen Selbstverständnisses stehen als symptomatisch für bestimmte Epochen ein. Das Nicht-Symptomatische läßt man als Randerscheinung gelten, vielleicht -als Vorwegnahme von Künftigem. Eine solche Betrachtungs- und Ordnungsweise versagt völlig vor neuerer Kunst: typisch, symptomatisch für sie ist die repräsentative Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen, Dispara­ ten. Die Phänomene lassen sich nicht auseinander ableiten, allen­ falls ohne wechselweise Kausalität einander konfrontieren, als hätten sie sich von den Zwängen der historischen Entwicklung absentiert. Das Spätere ist eher zufällig denn notwendig später als das Frühere. In der »poetischen Weltsprache« ist die Ge­ schichte der Poesie zum Stillstand gekommen (unbeschadet des­ sen, daß mancher sich weiterhin historisch als Avantgardist füh­ len mag). Diesen posthistorischen Zustand hat die deutsche Lyrik spätestens in den Zwanzigerjahren erreicht. Die lyrischen Phäno­ mene treten, auseinander nicht mehr ableitbar, gleichberechtigt und höchstens durch ihre Qualität gegeneinander ausspielbar, in Konkurrenz. Die folgenden Verse und Gedichte entstanden um das Jahr 1925 :

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Vorfrühling Härte schwand. Auf einmal legt sidi Schonung an der Wiesen aufgedecktes Grau. Kleine Wasser ändern die Betonung. Zärtlichkeiten, ungenau,

greifen nach der Erde aus dem Raum. Wege gehen weit ins Land und zeigens. Unvermutet siehst du seines Steigens Ausdruck in dem leeren Raum. (Rainer Maria Rilke) Grenzenlos Blüte des Primären, genuines Nein dem Gebrauchs-chimären, dem Entwicklungs-sein, kosmisch akausale Arbeitsaversion dämmernd das Totale einer Vorregion ...

(Gottfried Benn)

er kommt abhanden mit der hand er kommt abfußen mit dem fuß und trägt in seinem taschenfleisch den aufgerollten Redefluß in acht und bann und neun und zehn so übermannt und überfraut daß keiner je sich je und je und an der täfel nacktes kaut

sonst triptycht das grammatikkreuz staniolverpadct als schwarzer spaß als einzahl mehrzahl rübezahl als faselhans am faselfaß

(Hans Arp)

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Der Ölbaum

Es kommt zu mir die blonde Dämmerung Und feuchtet mein Haar, Der heilige Mittag Und schickt mir seine Bienen, Und die Nacht, die wahnvolle Nacht Die über die Berge streift Mit schwarzen Hunden, Die Nacht beneidet mich Um meinen Schlaf' Im samtenen Tal... Es gießt der Mond Aus seinen verschiedenen Krügen Die goldene Milch Der Jahreszeiten: Ich stehe still und will nichts mehr erwandern Was nicht in mir schon war: Die Sonne steigt vom fernsten Weltenpunkt Und reift mir mühelos Die Frucht des Wissens Des Geists geduldige Olive. (Yvan Goll) Anleitung für die Oberen

An dem Tag, an dem der unbekannte gefallene Soldat Unter Kanonenschüssen beerdigt wurde Ruhte von London bis Singapore Mittags zur selben Zeit Von zwölf Uhr zwei bis zwölf Uhr vier Volle zwei Minuten lang alle Arbeit Einzig zum Zweck der Ehrung des Gefallenen Unbekannten Soldaten.

Aber trotz alledem sollte man Vielleicht doch anordnen Daß dem Unbekannten Arbeiter Aus den großen Städten der bevölkerten Kontinente Endlich eine Ehrung bereitet wird ... (Bertolt Brecht) 39

Der Generationenunterschied von fast einem Vierteljahrhundert zwischen dem ältesten dieser Poeten (Rilke, geb. 1875) und dem jüngsten (Brecht, geb. 1898) könnte dann als Erklärung herange­ zogen werden, wenn es möglich wäre, die zitierten Gedichte aus sich heraus in die Mitte der Zwanzigerjahre zu datieren. Genau das aber kann der philologische Zugriff hier nicht mehr leisten, vielleicht von dem Rilke-Beispiel abgesehen; es bliebe, wären die Entstehungs- oder Veröffentlichungsdaten und Parallelbeispiele derselben Autoren nicht bekannt, unentscheidbar, wann zwischen etwa 1920 und 196$ sie entstanden sind - ebenso wie manches späte Gedicht der Nelly Sachs oder mancher Vers Bobrowskis aus der Zeit jener Poeme stammen könnten. Die »historischen« Diffe­ renzierungen, die wir dennoch vornehmen können, ergeben sich größtenteils aus unserem Vorwissen oder aus Sekundärmerkma­ len, zum Beispiel der Wortwahl (wenn in einem EnzensbergerGedicht »anti-raketen-raketen« angesprochen werden, kann das eben nur in der aktuellen Gegenwart geschrieben sein). Die historische Distanz zwischen den Zwanzigerjahren und 1967 ist aufgehoben; wo sie wahrnehmbar ist, handelt es sich weithin um Randerscheinungen, die kaum von Bedeutung für die lyrische Stringenz eines Gedichts sind. Gegenwart, Moderne ist die post­ historische Gleichzeitigkeit des nur zufällig in zeitlichem Abstand voneinander Entstandenen. Das aber hat seine Auswirkungen auf die Dichtungsgeschichte überhaupt; ist nämlich einmal die Kon­ tinuität der Entwicklungslinien durchbrochen, dann steht der Begriff der Entwicklung grundsätzlich in Frage. Als aktuelle Weltliteratur kann nun nicht mehr das in der Zeitgenossenschaff poetisch Produzierte gelten, sondern alles »geschichtlich« Vor­ handene muß unter dem Vorzeichen der Kontemporaneität ge­ sehen werden. Das »Museum der modernen Poesie« könnte sich in absehbarer Zeit als fast willkürlicher Ausschnitt aus dem »musée imaginaire« einer geschichtsjenseitig zu verstehenden, mit Poesie befaßten Menschheit erweisen. Etwas davon hat Enzens­ berger im Vorwort zu seinem Museum angedeutet, das zwischen 1910 und 1945 entstandene Poesie enthält: »Das Museum ist eine Einrichtung, deren Sinn sich verdunkelt hat. Es gilt gemeinhin als Sehenswürdigkeit, nicht als Arbeits-

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platz. Richtiger wäre es, das Museum als Annex zum Atelier zu denken; denn es soll Vergangenes nicht mumifizieren, sondern verwendbar machen, dem Zugriff der Kritik nicht entziehen, son­ dern aussetzen. So verhält sich das literarische Museum zum Schreibtisch der gegenwärtigen produktiven Arbeit wie das Mit­ tel zum Zweck. Daraus folgt, daß es keine endgültige Einrich­ tung zuläßt. Es ist kein Mausoleum, sondern ein Ort unaufhör­ licher Verwandlung. Nur, wenn seine Ordnung dem Augenblick entspricht, kann es seine Aufgabe erfüllen: die Werke der Ver­ gangenheit der bloßen Bewunderung ebenso wie der Vergessen­ heit und der Nachahmung zu entziehen. Sie sollen den Betrachter dazu herausfordern, sich an ihnen zu messen, ja ad liminem, sie produktiv zu verbrennen - ein Akt, aus dem das Alte (!) immer von neuem phönixhaff hervorgeht.« Daraus ergibt sich denn auch, daß jede Anthologie moderner Poesie unbefriedigend, weil verzweifelt vorläufig bleiben muß und dennoch sinnvoll sein kann. (Befriedigend dem Ordnungs­ prinzip nach sind allenfalls chronologische Sammlungen - nur sind sie angesichts der posthistorischen Gleichzeitigkeit schlech­ terdings nicht mehr sinnvoll, ihrem Gegenstand nicht mehr an­ gemessen.) Entsprechendes gilt für jeden Versuch, den Vorrat der modernen Lyrik als einen sinnvollen Zusammenhang zu be­ schreiben: sowie die historischen Kategorien von Entwicklung, Kausalität, Kontinuität ins Spiel kommen und Objektivität zu verbürgen scheinen, hat sich das wesentliche Merkmal der Gleich­ zeitigkeit bereits verflüchtigt, ist nicht mehr von der tatsächlichen historischen Verfaßtheit dieser Poesie die Rede. Es ist offenbar gerade nur möglich, Einzelheiten so festzuhalten, daß es nicht schwerfällt, sie auch anders gegeneinander zu setzen und aus ihrer unablässigen Neuordnung neue, vielleicht sogar wider­ sprüchliche Deutungen des Gesamtphänomens abzuleiten. Die sinnvolle Ordnung der Erfahrungen mit moderner Lyrik scheint tatsächlich die zufällig-kaleidoskopische Versammlung von Frag­ menten zu sein - und dies nicht zuletzt deshalb, weil das Frag­ mentarische in vielerlei Hinsicht Wesensmerkmal dieser Poesie selber ist.

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Fragment - »Schönheit* - Prosa - »Menschenbild* »das nicht Beendbare nicht beenden« Helmut Heissenbüttel

Eine »klassische« Ästhetik will wissen, daß das Kunstgebilde, um »schön« und »wahr« zu sein, »Vollkommenheit« besitzen, näm­ lich so fraglos in sich selber ruhen müsse, daß es im kleinen eine ganze, geordnete Welt, einen »Kosmos« darstelle. »Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst« - dieser Mörike-Vers faßt eine solche Ästhetik fast programmatisch zusammen. Daß sie im Grunde auf Poesie, vor allem auf »traditionelle«, nur bedingt zutrifft, weil das Sprachkunstwerk durch die vorgewußte Bedeu­ tung der Wörter und der Wortzusammenstellungen immer schon gezwungen ist, über sich selbst hinauszuweisen; daß also diese klassische Ästhetik eben auf diejenige Poesie genauer zuträfe, die sich mit Notwendigkeit von ihr abkehrt, nämlich auf die der »konkreten«, von der umgangssprachlichen Semantik abstrahie­ renden Texte - das sei nurWerkklassisch< zu werden. Wo Konserva­ toren am Werk sind, muß eine Leiche zu erwarten sein.« Um der Erstarrung zu entgehen, will Heißenbüttel zwar keine »neue« Sprache zuwege bringen, sondern eine Rede finden, »die sich des Kontrasts zur überkommenen Syntax und zum überkommenen Wortgebrauch bedient«. Und diese Rede sieht dann so aus: »Wör­ ter verschleifen ineinander, weil die eindeutige Identifizierbar­ keit nun endgültig in den Bereich aufgeht, der in sich unbestimm­ bar bleibt ... Satzsubjekte, Satzobjekte, Satzprädikate fallen weg, weil die Erfahrung, von der geredet wird, außerhalb der 47

eindeutigen Subjekt-Objekt-Beziehung steht... Zusammenhänge bilden sich nicht in systematischer und logisch-syntaktischer Ver­ flechtung, sondern aus Nebenbedeutungen, aus Zweideutigkeiten, die in der verwitterten Syntax aufkommen.« Was Heißenbüttel hier beschreibt, ist der bewußte Eingriff in die vorhandene Spra­ che, um sie zu zerschlagen, um aus ihr Bruchstücke zu gewinnen, die gerade noch Assoziationen an tradierte Sinnzusammenhänge gestatten, aber dennoch auf eine »neue« Sprache zugeordnet sind, eben auf eine Sprache, die sich der aristotelischen Erfahrungslogik (die ja Resultat indogermanischen Sprach-Denkens ist) entwin­ det und die, als vorläufig noch literarische Sprache, so intensiv neue Wirklichkeiten ermitteln muß, bis sie als die Sprache einer »Gesellschaft der Gleichgerichteten« wieder umgangssprachliche Funktionen übernehmen, bis sie »allgemein« werden kann. So­ lange sie das aber nicht ist, solange sie nicht verständigt, sondern noch erkundet, ist sie selber kraft ihrer Vorläufigkeit fragmenta­ risch. Diese literarisch-lyrische Sprache ist, wenn man dieses Wort auf sie anwenden will, insofern »ungegenständlich«, als sie es sich versagt, Sinn und Bedeutung des Gesagten zu einer Mitteilung zu runden, und ihre fragmentarische Ungegenständlichkeit, ihr vorläufiges Auf-sich-Bezogensein jenseits der umgangssprach­ lichen Ordnungen (mögen sie nun tatsächlich leichenhaft sein oder nicht) verlangt und verbietet zugleich die Interpretation auf einen sprachjenseitigen Sinn hin: Ambivalenz der Unbe­ stimmtheit. Und sie ist in einer weiteren Bestimmung fragmenta­ risch - und mit ihr sind es die aus ihr sich kristallisierenden lyri­ schen Gebilde: was nicht der nachvollziehbaren Mitteilung eines Sinnes dient, was nicht zur »Antwort«, zum Einverständnis auf­ fordert, bleibt monologisch. Es ist ein aus dem Ganzen heraus­ gelöstes Element des Zwischenmenschlichen, das in sich selber, weil es der Starrheit der Konventionen entrinnen will, notwen­ digerweise selber wieder erstarrt. Solche lyrische Sprache ist ein Vehikel in die Einsamkeit, die Gedichte, die in ihr entstehen, haben den Charakter von Eremitenklausen in einer unerforsch­ ten Wirklichkeit - oder, »positiver« gesagt: sie sind vorgescho­ bene Posten in einer terra incognita und immer in Gefahr, sich

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dort zu verlieren. Vielleicht ist dieses radikale Einverständnis mit dem Fragmentarischen das faszinierendste Abenteuer der modernen Literatur. Konkrete, das heißt der umgangssprachlichen Verständigung ent­ zogene Lyrik mit allen Merkmalen des Fragmentarischen liegt im übrigen auch dort noch vor, wo solche Texte scheinbar ganz im Material der vorgegebenen Sprache verharren und es dazu benutzen, seine Unzulänglichkeit aufzuhellen. Ein Text Eugen Gomringers, der nichts benennt als Infinitive Vorgänge (nämlich syntaktisch-grammatisch unbestimmte und zugleich grenzenlos­ unbeendbare), versiegt in einem »und«, dessen Verknüpfungs­ funktion sich angesichts des Infinitiven zu Tode spielt:

einanderzudrehen und aufeinandereinstellen ineinandergreifen und einandermitteilen miteinanderdrehen und voneinanderlösen auseinanderkreisen und einanderzudrehen

aufeinandereinstellen und ineinandergreifen

einandermitteilen und miteinanderdrehen voneinanderlösen und auseinanderkreisen einanderzudrehen und (Die Konstellationen)

Die Tanzfiguren, die sich durch den Wortlaut dieses Textes mit­ teilen, sind beliebig wiederholbar, aber eben deshalb nidit schlüs­ sig. Das »einander«, das dieses Gedicht durchtastet, schlägt um in die pure hilflose Vergeblichkeit. Noch das Infinite nimmt den 49

Gestus des Fragmentarischen, des Unerfüllbaren an. »das nicht Beendbare nicht beenden« lautet die Schlußzeile eines Heißen­ büttel textes, der mit der Zeile »das Sagbare sagen« einsetzt: das Sagbare hat keine Aussicht, schlüssig zu werden. Der zitierte Text Gomringers bringt die »sinnvolle«, auf Ver­ ständigung angelegte Sprache in die »gegenstandslos«-konkrete ein. Die Bereiche sind nicht mehr zu trennen, und das Fragmen­ tarische wäre kein Wesensmerkmal moderner Lyrik überhaupt, beträfe es nur die der Umgangssprache mit notwendiger Ent­ schlossenheit abgekehrten »artikulationen«, »konstellationen«, »topographien« - eben die konkreten Texte, die auf der Suche nach Sprache sind, indem sie Wirklichkeit erkunden. Die Erfah­ rung des Nicht-»Sagbaren«, die Nötigung zum Verstummen, auf die nur noch das Fragment zu antworten vermag, soll nicht be­ langloses lyrisches Gerede zustande kommen - diese Erfahrung sitzt als Stachel im heutigen Gedicht überhaupt, das nach einem Wort Heißenbüttels gesprochen ist »wie unmittelbar vor dem letzten Atemzug«: stammelnd gegen das Sprachlose ankämpfend, ohne Aussicht, ein sagbares »Ganzes« in den sprachlichen Griff zu bekommen. Das Gedicht kann weithin nicht mehr antworten, sondern eben nur noch fragen, in eine Richtung steuern, wo es eine Antwort vermutet. Diese Verfaßtheit äußert sich im Ver­ hältnis des Verses zum Satz, der im Grunde abschließend, ord­ nend, beendend sein will, dessen Schlüssigkeit das Gedicht im traditionellen Sinn durch seine strophische, metrische, gereimte Gliederung noch bekräftigt. Gewiß, nicht alle moderne Lyrik wird aus innerem Zwang mit dem Sinnträger und Sinnordner Satz nicht mehr »fertig«, und auf weite Strecken äußert sich das heutige Gedicht noch immer in syntaktisch scheinbar geordneten Verhältnissen. Doch nicht die Häufigkeit dieser oder jener Erscheinungsform gibt das Kriterium dafür ab, ob hier ein kritisches Phänomen vorliegt, sondern allein der Umstand, daß die Auflösung der bündigen Syntax überhaupt die Annäherung des auf Sinnvermittlung gerichteten Gedichts an die konkrete Poesie ermöglicht oder sogar bewirkt. So arbeitet etwa Hans Peter Keller mit syntaktisch durchgeprobten Formen der Sprache, um deren Unzulänglichkeit zu erweisen. Gleichsam 5°

stenographierte »Aussagen« reihen sich aneinander, schlingen sich ineinander, keine findet einen Abschluß, wie auch ihre Konstel­ lation unabgeschlossen, auf eine Ergänzung hin angelegt bleibt, die sich dem Sagen verschließt. So kann ein Versgebilde auf einer konjunktivischen Dominante enden, den Boden der Eindeutigkeit unter den Füßen verlieren, und gerade in diesem Verzicht auf Schlüssigkeit wird das Gedicht zur Deutung von Existenz, der das Verstummen wie eine Schuld auferlegt ist, gewissermaßen als Mal einer elementaren Schäbigkeit, die entlarvt wird, ohne daß sich schon ein Weg der Richtigstellung erkennen ließe: deine tapete

wenn sie endlich ganz häßlich geworden ist und stumm ist voll Fliegendreck die Brille filtert keins der Blumenmuster die Ohren haben satt die spitzfindige Taubheit

wenn du für dich bist wenn du hörst endlich und stumm bist und hättest zu reden

(Grundwasser) Gerade in der Unentscheidbarkeit der syntaktischen Zusammen­ hänge, vor allem zwischen der zweiten und der dritten Versgruppe, wird ein solches notwendiges Fragment, über das »Ge­ sagte« hinaus, zum moralischen Akt und zum moralischen Vor­ wurf: Du mußt ganz offenbar »dein Leben ändern«. Die Verssammlung Glühende Rätsel der Nelly Sachs umkreist zyklisch die Unvollendbarkeit des Gedichts. Von den Eingangsversen abgesehen, endet jedes dieser Gedichte mit einem Gedan­ kenstrich: es ist noch etwas zu sagen, das nicht gesagt werden kann oder nicht gesagt werden darf, jedes Gedicht verweist durch

seine intensive Vorläufigkeit auf eine Antwort, an deren Vorhan­ densein es glaubt. Und auch hier kommt oft der Satz im Vorgang des Sagens nicht an ein Ende:

Lilien am Äquator des Leidens Als du mit deinen Händen den Segen sprachst die Fernen sich näherten die Meeresverwandten dem Jenseits zuspülten der Staub gedächtnislos zu rinnen begann Als deine Kinnlade sank mit dem Gewicht der Erde (Späte Gedichte)

Gerade nur die »Lilien« des Anfangs legen eine Ergänzung der Sprachgestalt gewordenen Erfahrungen nahe, leiten die Flucht­ linien der Worte auf den Punkt hin, der »Gottdurchlässig« ist. (Darüber, wie diese Form des verstummenden Gedichts sich dem Gebet nähert, später mehr.) Paul Celans Gedicht Einem, der vor der Tür stand schließt so:

»Wirf auch die Abendtür zu, Rabbi. Reiß die Morgentür auf, Ra- -« (Die Niemandsrose)

Noch das abbrechende Wort, das im Schweigen erstarrt, öffnet so das Gedicht aufs Unsagbare hin, das sich der sprachlichen Ver­ fügung, der Inbesitznahme durch das Ich versagt. Die lyrischen Positionen Kellers, Celans und der Nelly Sachs sind weit vorgeschoben in den Bezirk des Unerforschten, des Dunkels; daher ist es kaum verwunderlich, wie hier der Satz als Ordnungsträger unablässig sein Versagen manifest macht. Doch auch im weit »konventionelleren« poetischen Bereich etwa einer Hilde Dornin oder einer Marie Luise Kasdmitz sind entsprechenS*

de Vorgänge zu bemerken. Nicht müde werden von Hilde Domin ist ein kunstvoll in sich geschlossenes kleines lyrisches Gebilde, das scheinbar ganz im Rahmen des verständigten Sagens bleibt:

Nicht müde werden sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.

(Hier) Doch trotz der »verständlichen« Eindeutigkeit solcher Verse, die keine vereinzelte Erscheinung darstellen, kommt es nicht zum Schluß: die Sammlung ist durch das Infinite der grammatischen Form erkauft, durch den Verzicht auf ein syntaktisches ZurRuhe-Kommen. Es bleibt schon unentschieden, ob diesen Zeilen ein »Du sollst« oder ein »Ich möchte« hinzuzuhören ist oder beides zugleich, ob sie Aufforderung oder Wunsch sind - und damit trifft beides zu, hört der Prozeß des Gedichts im Grunde nicht auf. Die Verse Bräutigam Froschkönig der Marie Luise Kaschnitz verstrichen sich angesichts der Unfaßbarkeit des Erfahrenen zu­ letzt in einen stammelnden, ungelösten Satz: Wie häßlich ist Dein Bräutigam Jungfrau Leben Eine Rüsselmaske sein Antlitz Eine Patronentasche sein Gürtel Ein Flammenwerfer seine Hand

Dein Bräutigam Froschkönig Fährt mit Dir (Ein Rad fliegt hierhin, eins dorthin) Über die Häuser der Toten. 53

Zwischen zwei Weltuntergängen Preßt er sich In Deinen Schoß Im Dunkeln nur Ertastest Du Sein feuchtes Haar Im Morgengrauen Nur im Morgengrauen Nur im Erblickst du seine Traurigen Schönen Augen.

(Überallnie)

Gewiß, dieses Gedicht gehört nicht zu denen, die Epoche machen können - dazu sind die zweite und die dritte Strophe zu wenig »gestaltet«, zu sehr nur »gesagt« - aber eben deshalb wird deut­ lich, welcher Zwang zum Verwirrt-Fragmentarischen sich dort geltend macht, wo die Gestaltung Platz greift. Hier in den beiden letzten Strophen, die kunstvoll das unausgesprochene, aber gegenwärtige Grauen des Anfangs ins »Morgengrauen« umdeuten und damit einen Weg zur Versöhnung auftun: ohne die syntaktisch sinnlose Wiederholung der Verszeile »Nur im«, die es sich vielleicht versagt »Nur im Grauen« auszusprechen, käme diese Verwandlung nicht zustande. Die Bedeutungsverdoppelung im rhythmisch gebrochenen Satz, von der eingangs im Zusammenhang mit Johannes Bobrowskis Wiedererweckung die Rede war (s. S. 22 ff): auch sie bedeutet letz­ ten Endes nicht nur eine Intensivierung des lyrischen Vorgangs, sondern im selben Maß zugleich eine aus der Notwendigkeit des Sagenmüssens »vor dem letzten Atemzug« herrührende Öffnung des Gedichts fürs Fragmentarische. Abbruch des Sagens und am­ 54

bivalente Verdoppelung des Gesagten sind nur zwei verschie­ dene Äußerungsformen einer und derselben Erfahrung, daß nämlich das Gedicht als »Werk« eine strikte Unmöglichkeit ist, die dennoch keine letzte Auskunft der Poesie darstellt. Und noch ein Lyriker wie Hans Magnus Enzensberger, der aus­ drücklich die Poesie als einen »Prozeß der Verständigung des Menschen mit und über ihn selbst« zu verstehen gibt, der alles daransetzt, seine Verse einem Du zuzusprechen, das etwas mit ihnen anfangen möge, das sich von ihnen in seinem Selbst- und Weltverstehen orientieren lassen soll: noch Enzensberger kann sich bei aller Kunst, im Sinn Bertold Brechts Vers und ordnenden Satz gegeneinander zu verspannen, dem Drängen der Sprache zum Fragment hin nicht immer entziehen, so in dem Gedicht auf einen steinernen tisch: auf der weit war dein tisch mit seinen adern und äugen mit seinem marmorgedächtnis nicht zu verwerfen und fest

auf dem tisch war deine hand mit ihren adern und Zeichen mit ihrem marmorgedächtnis undurchdringlich und fest auf den alten büchern auf den neuen Zeitungen

ein glas frisches wasser

Wie die präpositionale Zuordnung der drei letzten Zeilen zu verstehen ist, bleibt offen, der Versuch, eindeutigen Sinn in diesen Zusammenhang zu bringen, müßte augenblicklich das Gedicht in seiner Ambivalenz zerstören. Enzensberger treibt zwar in einem Gegengedicht zu diesem ersten ein Stück von der Doppeldeutigkeit wieder aus, verweigert aber in der Wieder­ holung der Schlußzeile an der entscheidenden Stelle dennoch die Einstimmigkeit: 5$

ich las auf deinem tisch ich las in deiner hand (glatt, undurchdringlich) ich sah das blut in den Zeitungen ich sah das blut in deiner hand ich sah das blut im gestein ich las und las

fast alles was der fall war auf deinem tisch war die weit ein glas frisches wasser (Blindenschrift)

Es bleibt nicht entscheidbar, ob gemeint ist: Ein Glas frisches Wasser auf dem Tisch bedeutet stellvertretend die Welt, auf der der Tisch selber ist, oder ob eine Parallelität über ein ausgelasse­ nes »und« hinweg gehört werden soll oder etwa gar ein Kon­ trast: das Glas Wasser hält allem anderen, »was der fall war« in seiner Reinheit die Waage. Sowie es überhaupt nur möglich ist, nach solchen Bedeutungsmöglichkeiten zu fragen, müssen sie alle auch schon mitgehört und mitgelesen werden - und vielleicht sogar eine weitere: die Bitte nämlich um »ein glas frisches was­ ser«. Wo das Gedicht in einer sprachlich-grammatischen Aussage eine Reihe von »Bedeutungen« unterbringen muß und dem Leser strikt die Festlegung auf eine einzige verwehrt, läßt es ihn am Prozeß des Fragmentarischen selber teilnehmen, in dem vorläu­ fig kein Urteil gesprochen werden kann, es sei denn das, daß das Leben geändert werden müsse. (Und Rilkes Vers ist immerhin auf den Torso eines Apollo geschrieben, der diese Erfahrung nahe­ legt!)

Das fragmentarische Gedicht ist ein Gebilde, das es sich versagt, auch nur so zu erscheinen, als sei es »selig in ihm selbst«. Dazu 56

muß es sich unablässig als Poesie selber verleugnen, muß es durch seine Existenz der Vorstellung von harmonischer Geschlossenheit entgegentreten. Es kann Gedicht nur dadurch sein, daß es zu­ gleich »Prosa« ist, und zwar sowohl im Sinn des »Prosaischen« als auch der Erscheinungsform nach. An seiner Fähigkeit zur Prosa entscheidet sich sein Rang. Friedhelm Kemp hat, von Jean Paul und Baudelaire ausgehend, das Prosagedicht untersucht und dazu bemerkt: »... das poème en prose singt nicht, es spricht, es ist nicht Gesang, sondern Rede; keinem durchgehenden Rhyth­ mus unterworfen, melodische Reize verschmähend; es verzichtet auf die Schwellwerke und Tremulanten der Poesie, um so leb­ hafter geht es dafür in den Registern der gedachten Pfeifen und der Schnarrwerke zu« (Dichtung als Sprache). Aber das trifft ebenso auf das in Verse abgeteilte freirhythmische Gedicht der Gegenwart zu : es bleibt allemal in der Nähe der Prosa, gewinnt mit deren Mitteln der Wirklichkeit ein Fragment Sprache, der Sprache ein Fragment Wirklichkeit ab. Und noch das metrisch strenge und das gereimte Gedicht bleiben weithin prosaisch; Metrum und Reim geben sich als Masken zu erkennen, so bei Christa Reinig:

ich rede wie die irren reden für mich allein und für die andern blinden für alle die in diesem leben nicht mehr nach hause finden (Gedichte) Und selbst Verse, die in ihrer an Abzählverse gemahnenden Sangbarkeit scheinbar völlig lyrische Harmonie vorstellen, er­ starren zur Maske, die nicht ablösbar ist von einer Erfahrung des Nicht-zur-Ruhe-Kommens, wie zum Beispiel bei Paul Celan:

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Selbdritt, selbviert

Krauseminze, Minze, Krause, vor dem Haus hier, vor dem Hause. Diese Stunde, deine Stunde, ihr Gespräch mit meinem Munde.

Mit dem Mund, mit seinem Schweigen, mit den Worten, die sich weigern. Mit den Weiten,'mit den Engen, mit den nahen Untergängen. Mit mir einem, mit uns dreien, halb gebunden, halb im Freien.

Krauseminze, Minze, Krause, vor dem Haus hier, vor dem Hause. (Die Niemandsrose) Die Wiederholung der beiden Eingangsverse rundet das Gebilde nur sehr scheinbar ab: sie haben plötzlich etwas fast Irres an­ genommen, das die »Poesie« Lügen straft. Und das ist im Grunde »Prosa«. Prosa und Vers sind unlösbar ineinander verstricht. Äußere Ur­ sache dafür ist in erster Linie wohl die sprachliche Intensität, die vom heutigen Gedicht verlangt wird: der Rückgriff auf die ele­ mentare Sprachgebärde, der nicht von feststehenden lyrischen Formen und Gattungen ausgehen kann (denen ein »Inhalt«, eine »Stimmung«, eine »Aussage« unterworfen würde). Nur so ist »unmittelbar vor dem letzten Atemzug« Sprechen möglich - und damit schlägt die äußere Ursache in Notwendigkeit um. Die Sprache des fragmentarischen Gedichts ist als Kunstmittel auf sich selber gestellt und in dieser Einsamkeit gezwungen, sich ihre fragmentarischen Formen jeweils selber zu entwickeln. Gerade ein Experimentator wie Heißenbüttel, der auf weite Strecken bewußt auf eine »gedicht«-ähnliche Gliederung seiner Texte ver­ zichtet, der bruchstückhaft Essayistisches, Aphoristisches und



Anekdotisches in seine Arbeiten einführt und sie zuweilen nur aus Satzfetzen anderer Autoren montiert: gerade Heißenbüttel demonstriert, zwar im Extrem, aber eben deshalb um so auf­ schlußreicher, die Unmöglichkeit, eine klare Trennungslinie zwi­ schen »Prosa« und »Vers« zu ziehen. Aber auch auf höchster lyrischer Stufe, bei Nelly Sachs oder bei Paul Celan, wird deut­ lich, wie der am Satz scheiternde Vers des Gedichts gleichsam eine zur Maske erstarrte vorläufige Prosa ist, wie er in äußerstem Kraftaufwand kurzfristig dem »prosaischen« Sagen entrinnt: auf Kosten einer schönen, harmonischen Ganzheit. Man soll die Frage nach dem Menschenbild, das eine Literatur zu erkennen gibt, nicht voreilig stellen und sie schon gar nicht aus vordergründig Ablesbarem zu beantworten sudien. Die fragmen­ tarische Verfaßtheit des modernen Gedichts jedoch ist nichts Vordergründiges, sondern konstitutives Formprinzip. Daher ist der Schluß auf denjenigen erlaubt, der in solcher Form sich sucht und mitteilt: auf den Menschen, der sich als hinfälliges, unvoll­ kommenes Wesen erfährt, der dennoch seiner Hinfälligkeit im Fragment eine Hoffnung auf Vollkommenheit abgewinnt - nicht mehr als eine Hoffnung, keine »harmonische« Erfüllung; aber eben das genügt, ihn im Spiegel seiner Lyrik als ein Wesen er­ kennen zu lassen, das über sich ebenso hinausverlangt wie über den kurzfristigen Schein einer Harmonie von seinen eigenen Gnaden. Wer will, mag im Fragmentarischen dieser prosaischen Poesie ein religiöses Phänomen erblicken (das freilich im Augen­ blick den wissenschaftlichen Verwaltern des Religiösen, den kon­ fessionell ausgerichteten Theologen, noch nicht zugänglich sein dürfte).

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Lyrik - Sprache - Philosophie »Commedia dell’ arte Zeit« Günter Eich

Das Gedicht als Fragment ist ergänzungsbediirftig. Die lyrische Poesie im Ganzen, als ein selber fragmentarischer Komplex aus Fragmenten, ist es gleichermaßen. Und dieser Komplex entwikkelt, wie es scheint, eine zunehmende Affinität zur Philosophie, die selber wieder weithin fragmentarische Struktur besitzt: »sy­ stematische« Hauptwerke, philosophische »Summen« von epo­ chaler Bedeutung entstehen nicht mehr; das vermutlich wichtigste, auf ein Ganzes hin angelegte Philosophiewerk dieses Jahrhun­ derts, Martin Heideggers Sein und Zeit, bricht an der »Kehre« ab und wurde in den vierzig Jahren seit seinem Erscheinen nicht mehr fortgesetzt, es sei denn in einzelnen denkerischen Ansätzen, die in ihrer Sammlung erst so recht die Ergänzungsbedürftigkeit jenes Hauptwerkes spürbar machen. Ursache für die Torsohaftigkeit dieser Philosophie dürfte etwas sein, das Heidegger in dem Vortrag Der Weg zur Sprache sagte: »Die Erfahrung könnte erwachen: Alles sinnende Denken ist ein Dichten, alles Dichten aber ein Denken. Beide gehören zusammen aus jenem Sagen, das sich schon dem Ungesagten zugesagt hat, weil es der Gedanke ist als der Dank.« Freilich ist nach Heidegger »der Dichtungs­ charakter des Denkens« noch weitgehend »verhüllt«, weil wir zu spät für die »Götter« und zu früh für das »Seyn« kämen. Doch der Zusammenhang der beiden Sphären menschlichen Sagens ist, vor allem im Rüchblidc auf die vorsokratischen Anfänge der europäischen Philosophie, nun einmal ausgesprochen, und Heid­ egger widmete sein nächstes Hauptwerk dem Philosophen, der in Fragmenten dachte und als Lyriker Bedeutsames zur Sprache brachte: Friedrich Nietzsche. Freilich ist das, was Heidegger in seiner poetischen Kehre hin und wieder äußert - ganz abgesehen von den gewaltsamen pandeutschen Etymologisierungen und den wagnerisch-blutbodenhaften Poetisierungen seiner »philoso­ phischen« Sprache - so beschaffen, daß es dem Anspruch moder-

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nen lyrischen Sagens überhaupt nicht standhält, wie etwa diese Äußerung Aus der Erfahrung des Denkens:

Wälder lagern Bäche stürzen Felsen dauern Regen rinnt. Fluren warten Brunnen quellen Winde wohnen Segen sinnt. Es wäre vielleicht überflüssig, im Zusammenhang mit moderner Lyrik Heidegger überhaupt zu erwähnen, fänden sich nicht in entgegengesetzten philosophischen Positionen gewisse Parallelen, die ebensowenig von ungefähr sind. In seinen Philosophischen Untersuchungen versuchte Ludwig Wittgenstein die Sprache als »Sprachspiel« zu deuten, als das »Resultat einer Verabredung«, die es auf Grund ihrer »Spielregeln« möglich macht, so zu tun, als sagte man etwas über das Wesen von Dingen aus. Sprache in diesem Sinn aber abstrahiert radikal von sogenannter Wirklich­ keit, sie hat es im Grunde nur noch mit sich selber zu tun: die von der Realität wie von grammatisch-syntaktisch-logischen Sinnzu­ sammenhängen abgehobene »Sprache« der konkreten Texte ist damit in der philosophischen Reflexion bereits legitimiert. Und von Wittgenstein führt ein gerader Weg etwa zu einem zeit­ genössischen Philosophen, bezw. Inhaber eines philosophischen Lehrstuhls, der im Sinne des Sprachspiels an der »bewußten Er­ zeugung >ästhetischer< Zustände in Wortmengen« theoretisch und praktisch interessiert ist: Max Bense, sozusagen Chefideologe der radikalen, selbstbefangenen Poesie. Nicht aus dem Bedürfnis, »etwas« sprachliche Gestalt werden zu lassen, das aus dem Un­ gesprochenen zum Wort drängt, sondern aus dem »intellektuellen Vergnügen an der methodischen, also kontrollierbaren Selektion bestimmter Wörter und ihrer Zusammenhänge« hat Bense bei­ spielsweise auf dem Weg über »Zufallszahlen« 1200 Wörter 61

»der Literaturbeilage einer Tageszeitung mittlerer Auflage« aus­ gewertet und daraus diesen Text abstrahiert: MEIN Standpunkt und der Kirschbaum oder die Wegfahrt und der Überblick oder die Handhabe und das Fortbleiben oder Josef K. und der Vormärz oder die Polizei und das dritte Fenster oder ein Horizont und das zerrissene Blatt oder der Duft und der Anflug das Verwelkte und das Schift oder das Unerwartete und das Wort oder die Zärtlichkeit und das Gehn oder das Lesebuch und das Selbst oder die Nachwelt und Paris oder das ermüdete Sein und noch ein Händedruck oder irgendwo und Niemand Das »Vergnügen« an »ästhetischen Zuständen«, das Bense zu seiner Poesie treibt, manifestiert sich wie in diesen Texten so auch in den Interpretationen, die er seinen und fremden Arbeiten angedeihen läßt. Über Mein Standpunkt äußerte er: »Der Text ... besteht aus 83 Wörtern. Davon sind 28 Wörter Substantive, 26 Konjunktionen, 23 Artikel, 3 Adjektive, 2 Ad­ verbien, i Pronomen. 33 Wörter haben einen außersprachlichen Bezug (>mots de signification«). 50 Wörter haben eine rein inner­ sprachliche Funktion (>mots de strucuremittleren Silbenzahl« und >mittleren Text­ entropie« von z = 1,639 und hl = 0,4574 dit. Das Rechnungs­ schema für die Ermittlung dieser Werte sieht folgendermaßen aus:

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I 2 3 4 5

47 23 IO 2 I

N = 83

S = I

p = n/N

z. p.

H= -pldp

0,566 °,277 0,121 0,024 0,012

0,566 0,534 0,363 0,096 0,060

0,4648 0,5130 0,3687 0,1291 0,0766

H = 1,5522

= 0,4674 dit

z = 1,639

Der maximale Wert der Silbenentropie ist

HMax = ld5 = 2,322 bit· Daraus ergibt sich der relative H-Wert mit HRel = H/HMax = 016641 bit·

Der Redundanz-Wert ist danach R = 1 — HrD = 0,3359 bit.

3 von 83 Wörtern sind >deformiert< (nach grammatischen Regeln verändert). Der >Deformationsgrad< liegt also bei rund 2,8®/o.« Und als Maßzahl für den »ästhetischen Zustand« des Gedichts ergibt sich die Formel »Μ.. = O/C = R/H = 0,3359/0,6641 = 0,2164.«

Diese nur sich selbst befriedigende lyrische Praxis und Theorie rechtfertigt sich aus einer Texttheorie, die das sprachliche Kunst­ werk schon darin gegeben sieht, daß ein Text »ästhetische In­ formation« verwirklichte, und das sei schon der Fall, wenn ein »statistisch beschreibbarer Anordnungsgrad« von Elementen vor­ liege. Das Ideal einer »reinen« Poesie führt diese Textästhetik schließlich zu der Überzeugung, daß eine radikal »künstliche« Poesie, deren Herstellung am besten der Computer vornimmt, zur höchsten Form der »Realisation« führt. Nun stellt freilich Bense für den poetophilosophischen Zusam­ menhang ebenso ein Extrem dar wie Heidegger: beidemale liegt das lyrische Resultat außerhalb dessen, was als Lyrik diskutabel ist. Doch die Konsequenz des »Künstlichen«, zu der sich Bense gezwungen sieht, wirft ein Licht auf die grundsätzliche sprach­ liche Verfaßtheit moderner Lyrik und auf ihr Verhältnis zu einer sogenannten natürlichen Sprache, und dieses Problem ist selber wieder philosophischer, nicht ästhetisch-literarischer Na­ tur. Die Sprache ist diesem Jahrhundert wie wohl keinem zuvor fragwürdig geworden. Ein großer Teil der gegenwärtigen Be­ mühung des Menschen um sich selber in der Philosophie richtet sich auf die Möglichkeiten der Verständigung und Mitteilung durch Sprache, die nicht mehr als wenigstens teilweise identisch mit dem gedacht wird, was sie benennt, sondern eben im Sinn Wittgensteins als eine künstliche Verabredung, ein geregeltes Spiel zum Zwedc einer Als-ob-Verständigung. Hinter all dem verbirgt sich die Erfahrung eines Realitätsschwundes, die seit den Anfängen dieses Jahrhunderts immer beklemmender wird. Und dieser Verlust an Realitätsgewißheit ist seit derselben Zeit zum Problem für die Literatur geworden, die sich vom Verstum­ men zusehends bedroht sieht. In den Anfängen des Jahrhunderts, zur Zeit der entscheidenden Entdeckungen Plancks und Einsteins, schrieb Christian Morgen­ stern sein Großes Lalula, ein Gedicht in streng künstlicher Spra­ che, das durch seine Reimform das völlig ad absurdum führt, was der Reim eigentlich zu leisten hat, nämlich die Sinnbindung im ästhetischen Schein: 64

Kroklokwafzi? Semememi! Seiokrontra - prafriplo: Bifzi, bafzi: hulalemi: quasti basti bo ... Lalu lalu lalu lalu la!

Hontraruru miromente Zasku zes rü rü? Entepente, Leilopente Klekwapufzi lü? Lalu lalu lalu lalu la! Simarar kos malzipempu silzuzankunkrei (;)! Marjomar dos: Quempu Lempu Siri Suri Sei □ ! Lalu lalu lalu lalu la!

Gewiß, das ist ein vergnügliches, übermütiges Spiel mit dem Gedicht und mit der Sprache, aber es bekommt nachträglich Gewicht durch die Bestrebungen von Dada, im Zerschlagen der sinnordnenden Sprache der schlechten Welt zu entrinnen, die in dieser Sprache sich scheinhaft abspiegelt. Daß dabei natürlich der verbindliche Reim, der gleichfalls ein Täuschungsmanöver der Sprache ist, überall dort geopfert werden mußte, wo das Spiel mit der künstlichen Sprache ganz ernst genommen wurde, versteht sich von selber. Der erste Weltkrieg liegt zwischen Mor­ gensterns Großem Lalula und Hugo Balls Totenklage:

ombula take biti solunkola tabla tokta tokta takabla taka tak Babula m’balam tak tru - ü wo - um 65

biba bimbel o kla o auw kla o auwa la - auma o kla o ü la o auma klinga - o - e - auwa ome o-auwa klinga inga Mao - Auwa omba dij omuff pomo - auwa tru- ü tro-u-ü o-a-o-ü mo-auwa gomum guma zangaga gago blagaga szagaglugi m ba-o-auma szaga szago szaga la m’blama bschigi bschigo bschigi bschigi bschiggo bschiggo goggo goggo ogoggo a - o - auma

Versteht man solche Formen des lyrischen Sagens nicht als eine sprachjenseitige Annäherung an die Glossolalie, an das »Zungen­ reden« in der Entrücktheit (und dafür spricht, wie sich später zeigen wird, manches), so muß man in dieser Abkehr von der verständigenden Sprache erst einmal eine Verlautbarung des Verstummens erkennen. Welt und Sinn entziehen sich dem Ich, das nur noch stammeln kann - auch dort, wo sein Stammeln zu ästhetischen Reizen, Werten oder »Informationen« führt. Spra­ che, die eine solche letzte Konsequenz aus ihrer Künstlichkeit zieht, die ihre Künstlichkeit in ästhetisch verbindliche »Natur­ laute« umschlagen läßt, kann sich weiter zu dem reduzieren, was Morgenstern, sicher auch hier mutwillig spielend, in Fisches 66

Nachtgesang erreicht hat: zur völligen Stille. Die lautlose Sprache der stummen Dinge hat sich des radikal künstlichen Gedichts be­ mächtigt. Daß dessen »Nonsense« mit seiner gleichfalls künst­ lichen Logik nicht als unverbindliche Spielerei halbwegs bezie­ hungslos neben der »eigentlichen« Lyrik dieses Jahrhunderts her­ läuft, sondern tief in sie verstrickt ist, mag schon eine frappie­ rende zeitliche Parallele zu Fisches Nachtgesang mit seiner Spra­ che der stummen Dinge zeigen: Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief vom Jahrhundertanfang. In der Maske eines literarisch tätigen Adeligen der englischen Spätrenaissance spricht Hofmannsthal eine Erfahrung aus, die entscheidend, auch unab­ hängig von diesem Brief, das Selbstverständnis der Literatur in diesem Jahrhundert geprägt hat, nämlich die Erfahrung des Verstummens, des sprachlichen Versagens angesichts einer unfaß­ baren Wirklichkeit: »Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über ir­ gend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen .. . die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze ... Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts ließ sich mehr mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarren und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzu­ sehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.« Und da sich dem Schreiber dieser Sätze die natürliche Sprache in ihrer abstrakten Künstlich­ keit versagt, verzichtet er auf jede weitere literarische Betäti­ gung: ». . . weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre .. . eine Sprache (ist), von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.« Die Erfahrung des Verstummens, die notwendig alles dennoch Gesagte zum ergänzungsbedürftigen Fragment macht, ist der

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Lyrik dieses Jahrhunderts unabweisbar geblieben. Für Johannes Bobrowski etwa eignet der Sprache nicht die zeitlos-selbstver­ ständliche Ruhe der Naturdinge, sondern sie ist »abgehetzt« un­ terwegs, vielleicht ohne Aussicht, ans Ziel zu gelangen:

Der Baum größer als die Nacht mit dem Atem der Talseen mit dem Geflüster über der Stille Die Steine unter dem Fuß die leuchtenden Adern lange im Staub für ewig

Sprache abgehetzt mit dem müden Mund auf dem endlosen Weg zum Hause des Nachbarn.

(Wetterzeichen) In solchen vorpoetischen, humanen Erfahrungen mag der eigent­ liche Grund dafür liegen, daß das lyrische Wort im Sinn der sprachkritischen Philosophie sich so entschlossen auf die Schicht der Sprache zurückgezogen hat, in der ihre prinzipielle Künstlich­ keit manifest wird. Damit wird das lyrische Schreiben aber sel­ ber zum philosophischen, zumindest zum sprachphilosophischen Akt. »Moderne Lyrik ist eine kühle Angelegenheit geworden«, heißt es in Hugo Friedrichs Untersuchung Die Struktur der moder­ nen Lyrik: »Der Dichter wird zum Abenteurer in bisher unbe­ tretenen Sprachfeldern.« Das Gedicht will Wirklichkeit erschlie­ ßen, neue Wirklichkeit entdecken, und dies kraft einer Sprache, die sich vom Klischee der gängigen Erfahrungen und damit auch vom Klischee der abgeschliffenen Verständigungssprache befreit. 69

Seine »neue« Sprache ist noch nicht vorhanden, und so muß es auch sie erkunden, ja jeweils neu schaffen; sein vordringliches Thema ist die Spracherfindung (aus der wie von selber die Reali­ tätsentdeckung hervorgehen soll), und diese Spracherfindung ist zugleich schon immer Sprachkritik: Aufschluß dessen, was durch seine »Verbindlichkeit« die »Unfaßbarkeit der Wahrheit« über­ spielt. Im Sinn solcher Sprachkritik und Sprachphilosophie muß man etwa diesen Text Heißenbüttels lesen: »überall: immer und überall je und je : morgens mittags und abends sogar im Büro : ein dies dies ist ein : wasfürein : wie am wenn auf oder in das heißt als was andersartiger als : und das was wenn nichts als dies und so fort : Fixierung fixiert : in der Lage ich man leit in genau ins man : chanisch chanisiert pfern : meta fern : Domizil mizivil zivil: ein Zel mir griffig mir greifend mir Kiel« (Text­ buch i). Dabei reißen die theoretischen Diskussionen um das Verhältnis von Lyrik und Sprache nicht mehr ab. Heißenbüttel betrachtet, wie gesagt, sein Schreiben »als Versuch, ein erstes Mal einzudrin­ gen und Fuß zu fassen in einer Welt, die sich noch der Sprache zu entziehen scheint. Und die Grenze, die erreicht wird ... ist die Grenze zu dem, was noch nicht sagbar ist.« Als Sprache, als System von formulierten Realisierungen habe es Lyrik zwar mit »Welt« zu tun, doch nicht im Abschildern, nicht in Reproduk­ tionen, sondern in »Verdoppelungen«: es entstehe durch Litera­ tur eine »Welt aus Sprache«, die sich »gleichsam halluzinatorisch von der Realwelt der sinnlichen Erfahrung« ablöse. Eine noch radikalere Position nimmt Hugo Friedrich ein: »... die Lyrik wurde endgültig zur Sprache einer ausschließlich von der Phan­ tasie erschaffenen, die Wirklichkeit überspringenden oder ver­ nichtenden Welt.« Vorsichtiger sieht es Günter Eich: Schriftsteller zu sein, bedeutet ihm »die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen. Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen. Aus dieser Sprache, die sich rings um uns befindet, zugleich aber nicht vorhanden ist, gilt es zu übersetzen«. Der vielfach vertretenen und vielfach abschat­ tierten Meinung, daß ein Gedicht Sprache sei und nichts weiter, tritt Enzensberger entgegen: Material des Gedichts sei wenigstens

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im selben Maß wie die Sprache der »Gegenstand«. Und an die Gegenstände halte er die »laue Sprache«, die er vorfinde. Aber nahezu keiner der jüngeren Lyrik-Autoren würde wohl ganz guten Gewissens diese fast einzelgängerische Äußerung Bertolt Brechts unterschreiben: »Ich weiß nicht, warum die Jüngsten so krampfhaft an ihrem Material herumneuern und mit der Reform bei der Sprache anfangen, die doch recht eigentlich das Unbedach­ teste, Leichtwiegendste, Schwebendste sein soll und deren ganzer Reiz verblaßt, wenn sie absichtlich wirkt und willkürlich, ja schon, wo sie überhaupt Objekt scheint.« Brecht beiseite: Die fragwürdig gewordene Sprache - poetisch offenbar nur als »künstliche« Sprache zu verwenden: in ironi­ scher Distanz zur natürlichen Sprache, mit der sie nur die Wörter, aber nicht den Geist gemeinsam hat - das einzige, was der Dichter hat, um sich auszudrücken, ist ihm zugleich das Unvertrauteste, dessen er sich im artistischen Akt immer wieder neu, vorläufig und kurzfristig, versichern muß. Das Motto zu Hilde Dornins Sammlung Hier deutet etwas davon an: »Lyrik / das Nichtwort / ausgespannt / zwischen / Wort und Wort.« So gibt es weder eine natürliche poetische Sprache noch ein »natürliches« Gedicht: heutige Lyrik ist radikal »künstlich«, Artefakt auch und gerade dort, wo sie übers Artistische hinauszielt.

Lyrik, die als Spracherkundung und als eine dieser Spracherkun­ dung eingewirkte Sprachkritik auf die Entdeckung von Wirklich­ keit abzielt, die sich einer »Wahrheit« nähert, ohne sie freilich jemals ganz fassen zu können: eine solche Lyrik kann tatsächlich als philosophischer Akt verstanden werden. Poesie sei die »ästhe­ tische Form der Spekulation«, schrieb Max Bense, wobei er immer noch andere Formen der Spekulation, der Philosophie zuläßt, aber ein Theoretiker wie Kurt Leonhard geht einen Schritt über diese Parallelität von Literatur und Philosophie hinaus und nähert sich dabei, sicher ungewollt, der Position Heideggers, wenn er behauptet, das Gedicht habe heute »das Erbe der Philo­ sophie angetreten«. Ähnliches wird übrigens auch von der Natur­ wissenschaft als der neuen Philosophie behauptet, und diese bei­ den Standpunkte versucht Heißenbüttel zu versöhnen, wenn er



äußert, Literatur, und vor allem die Literatur der konkreten Texte, sei ein Weg der Erfahrung, ein der Naturwissenschaft fast analoges Eindringen ins Unbekannte, und so habe sie die Rolle der Philosophie in der Aufklärung des Menschen über sich selber übernommen. Zusammen mit der neuen Wissenschaft obliegt es der Literatur, die Lage des Menschen und seine Welt zu erken­ nen, die eingefahrenen Erfahrungen zu überschreiten, »weiter ins Dunkel« und in »neue und unbekannte Perspektiven« vorzu­ dringen, auf die ideologische Fixierung »letzter Gründe« und damit auf rational ordnende Perspektiven mit einem leitenden Fluchtpunkt zu verzichten, sich der »in alle Ewigkeit zu ertra­ genden Unerklärbarkeit der Welt durch letzte Gründe« zu stel­ len, was schwerer und erschredcender sei als der Gedanke des Nichts. Freilich übersieht Heißenbüttel bei alldem, daß das Zusammendenken von Literatur und Naturwissenschaft selber schon wieder philosophischer Natur ist, so daß Literatur, wenn sie anderen Möglichkeiten der Welterkundung zugeordnet wird, überhaupt nicht die Rolle der Philosophie übernehmen kann, sondern immer nur einen Beitrag zur Philosophie zu leisten im­ stande ist. (Wie sie auch der Theologie neue Impulse geben könnte, was im Augenblidc nur weder die Literaten noch die Theologen so recht wahrhaben wollen.) Aufklärung kraft der halluzinatorischen Künstlichkeit ihrer Sprache leistet Literatur, vor allem Lyrik der Gegenwart, allein insofern, als sie sich nicht selbstbefangen in artistisch-ästhetischen »Harmonien« abkapselt, sondern indem sie sich, eingedenk ihres fragmentarischen Charak­ ters, allem öffnet, indem sie deutend zu den anderen Phänomenen menschlichen Tuns hinzutritt und sich von diesen selber wieder deuten läßt.

»Was aber schön ist, selig sdieint es in ihm selbst« - dieser Mörike-Vers verweist, über den Zusammenhang von Harmonie, Schönheit und Schein hinaus, auf eine weitere Unterscheidung zwischen »klassischem« und »modernem« Gedicht: Das Schöne ist in sich selber zur Ruhe gekommen, es hat sich von allem anderen losgelöst, ist in sich erfülltes Dasein, nur aus sich selber verständlich, es will nur eines: angeschaut oder angehört werden. 7i

Es will so genommen sein, wie es ist: unerklärbar und selbst­ verständlich. Noch ein Jahrhundert später hat der poetische Feuilletonist Alfred Polgar dieses Programm auf seine Weise bestätigt, als er übers Erklären von Dichtung notierte, Geister würden »nicht besser sichtbar, wenn man Licht macht«. Man soll Dichtung in sich selber ruhen lassen, ihr gegenüber in gesammelter Anschauung so lange verweilen, bis sie sich durch ihr reines, unge­ störtes Dasein wie von selber deutet. Und Interpretation wäre dann einfach der unzulässige Versuch, durch einen Trick die Mühe dieses gesammelten Verweilens abzukürzen. Moderne Lyrik, die einigermaßen auf der literarischen Höhe der Zeit steht, straft ganz offenbar diese Theorie Lügen. Sie will nicht im Sinn klassi­ scher Schönheit genossen werden; sie verlangt vielmehr eine Weise des Verstehens, die von intellektueller Anstrengung getragen wird. Sie drängt darauf, gedeutet zu werden, weil sie ohne eine solche Deutung wesenlos bliebe. Sie fordert dazu heraus, sich interpretierend mit ihr einzulassen, und was das moderne Ge­ dicht auch immer will - eines will es sicher nicht: als ein schöner Gegenstand »selig in ihm selbst« ruhen. Bezeichnend ist schon eines: die Lyriker sind zugleich Theoretiker der Lyrik, indem sie immer wieder die Praxis des Herstellens von poetischen Texten mit einer Philosophie der Literatur verquicken. Und das Frag­ ment, das nicht gesammelt in sich ruht, sondern seine Ergänzung provoziert, das unterwegs ins noch ungesagte Dunkel ist, das nicht verständigt, sondern auf vielerlei Weise noch in sein Suchen verstrickt ist: dieses Fragment verlangt, daß ihm die Ergänzung, die ihm im Kunstakt selber versagt bleibt, wenigstens in der Erkenntnis seiner Verfaßtheit zuteil wird - eben in der deuten­ den Interpretation, die selber wieder, wenn sie ernst genug an­ setzt, das Literarische hinter sich läßt und in einen philosophi­ schen Akt, eben einen Akt der Selbsterkenntnis im deutenden Ich umschlägt. Diesen Anspruch des modernen, fragmentarischen Kunstwerks, den im posthistorischen Nachhinein dann auch die »älteren« erheben, hat Theodor W. Adorno formuliert: »Ver­ stehen im spezifisch begrifflichen Verstände des Wortes, wofern das Werk nicht rationalistisch verschandelt werden soll, stellt erst auf höchst vermittelte Weise sich her; indem nämlich der im

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Vollzug von Erfahrung ergriffene Gehalt, in seiner Beziehung zur Formensprache und den Stoffen des Gebildes, reflektiert und benannt wird. Derart verstanden werden Kunstwerke allein durch die Philosophie der Kunst, die freilich ihrer Anschauung nichts Äußerliches ist, sondern von jener immer schon erheisdit, und in der Anschauung terminiert.« Nun kann man, trotz der Ästhetik einer in sich deutungslos­ bedeutsamen Harmonie, auch vor-moderne Gedichte interpretie­ ren, man kann das Geflecht ästhetischer Elemente deutlicher sicht­ bar machen, dem sie ihre Schönheit verdanken, und auf diesem Weg ihrer vordergründigen Bedeutung, die sich sofort zu er­ kennen gibt, neue Dimensionen des Sinnvollen abgewinnen. Meist ist es dabei so, daß dem Leser von vorneherein etwas von dem entgegentritt, was mit dem lyrischen Gebilde gemeint ist, ein erster Sinn, der es zunächst einmal möglich macht, sich mit dem Gesagten zu verständigen. Das moderne Gedicht dagegen ver­ langt im allgemeinen einen anderen Weg des Verständnisses: Sinn, Bedeutung des Fragments ohne abgeschlossenen »Sinn« er­ schließt sich nur, wenn man bereit ist, die ästhetische Schicht des Gedichteten wahrzunehmen und aufzuschlüsseln. Rilkes Panther etwa gibt der ersten, noch völlig auf »Alltagssprachliches« kon­ zentrierten Lektüre sofort einen Sinn preis: Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille und hört im Herzen auf zu sein. (Neue Gedichte)

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Der Gegenstand dieses Dinggedichts, der eingesperrte Panther, ist ebenso selbstverständlich wie der Zustand, der sich im Leser als Stimmung niederschlagen soll, eben das Gefangensein, die Ausweglosigkeit des Sich-Drehens im Kreis, die Kraft, die sich nicht entfalten kann. Man braucht nicht weiter zu fragen, um einen unmittelbaren und vor allem richtigen Eindruck von diesen Versen zu gewinnen. Sie sind Verkörperung einer in sich selbst ruhenden Schönheit. Aber man kann dennoch etwas von dieser Schönheit fürs Verständnis entfächern: man kann etwa zusehen, wie eine raffinierte Musik dazu beiträgt, jenen Eindruck von Schönheit hervorzurufen. Man nähme dann zuerst wohl die Umlautreime der ersten Strophe wahr, die von den auf i und e reimenden Ausgängen der zweiten Strophe abgelöst werden, und in den i- und ei-Reimen der dritten Strophe balanciert sich diese Differenz dann vorsichtig wieder aus, nachdem schon der Anfang der zweiten Strophe Möglichkeiten des ei-Diphthongs durchge­ spielt hat. Nur die Befragung dieser klanglichen Schicht kann auf ein Wort verweisen, das weiter in die Bedeutungsschicht des Ge­ dichtes hineinführt, das »gäbe« in der dritten Zeile. Der Binnen­ reim »Stäbe gäbe« verwandelt auch die Dinglichkeit der Stäbe, gleicht sie dem Konjunktiv an, setzt sie unters Vorzeichen des »Als ob«. Diese Stäbe, dieses Gefangensein werden so leise irreal, verlieren ihre Eindeutigkeit - und darauf antwortet dann auch die dritte Strophe. Das »gäbe« der ersten Strophe hat darauf vorbereitet, ja eigentlich bewirkt, daß jetzt das Gefangensein durchbrochen ist: der Panther ist noch immer das Raubtier, das keine Stäbe kennt, es kann sich noch immer ein Bild, ein Ziel, ein Objekt aneignen und zum Nicht-mehr-sein bringen: im Her­ zen, in der gesammelten Existenz. Dieser angedeutete Interpre­ tationsweg von einem ersten Sinnverständnis über die Entschlüs­ selung formaler Elemente zu einem tieferen Sinnverständnis läßt sich kaum gehen bei der Erschließung von Günter Eichs Ge­ dicht Bett hüten:

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Anginatage, blauer Schnee, die Zeit versteckt in Ausschnittbögen, die Zeit ist blau, die Zeit ist Schnee, und rote Ärmel, schwarzer Hut, die Zeit ist eine gelbe Frau.

Anginatage, schweizerisch, ist blau Devon, schwarz Cambrium. Commedia dell’arte Zeit, Pantoffeln rot und rot Silur, ein Plan von England gelb und Zeit. Anginatage, blaues Kent, die Zeit so gelb, daß keiner sie erkennt, ein schwarzer Zeigefinger aus einem blauen Handschuh zeigt die rote Mauer lang nachhause.

(Anlässe und Steingärten)

Die Frage, was hier »gemeint« sei, läßt sich nicht vordergründig stellen. Der Gedichttitel Bett hüten und die Begründung durch das Wort »Anginatage« besagen so lange nichts, als man sie nicht im Rhythmus des Ganzen liest oder hört. Und wer voreilig fragen wollte, was die Farben, die Erdzeitalter, England und Schweizerisches zusammen zu bedeuten hätten, ginge in die Irre, wenn er sich nicht von dem Tändeln und Schweifen der Worte und Verse mittragen ließe, die fortwährend so tun, als seien sie gereimt, aber doch nur einige Reime, auch als versteckte Reime, enthalten. Nur von dieser raffiniert-saloppen Form, von ihrem verzwickten Charme und ihrer augenzwinkernden Spielfreude her, läßt sich eine Bedeutungsmitte des Gedichts finden, nämlich die Verszeile: »Commedia dell’arte Zeit«. Das deutet dann auch die »Anginatage« und das »Bett hüten«, nämlich als eine Gelegenheit zum improvisierten Spiel, zum asso­ 75

ziativen, sanft verantwortungslosen Umgang mit allem, was sich den Augen, den Gedanken darbietet. Von daher stellt sich das Gedicht als eine Collage aus Wachtraumfetzen dar, und unver­ sehens kommt es dazu, auch noch etwas übers Wesen der Poesie überhaupt zu sagen, daß sie nämlich zuweilen etwas mit einem genüßlich ausgekosteten Kranksein, mit einem verspielten »Bett hüten« zu tun hat, verkörpert in einem der Alltagslogik und ihren Forderungen entrückten freien Tänzeln und Tändeln der Worte, Bilder und Gedanken. Und ohne eine solche Interpreta­ tion, ohne ein solches Hinzufügen des eigenen Verständnisses bliebe ein derartiges Gedicht wohl unzugänglich. Doch die Interpretationsbedürftigkeit der Gegenwartslyrik hat noch einen anderen Grund als die Prädominanz des Formalen vor dem Sinn: das fragmentarische Gedicht existiert, weil es nicht rund ist in sich, auch nicht für sich allein. Seinen Sinn gibt es erst preis, wenn sein Ort im posthistorischen Sprachkonzert der gan­ zen Lyrik ermittelt und so poetophilosophisch als ein Zug in dem unabgeschlossenen Menschenbild erkannt wird, das sich im Gan­ zen dieser Lyrik und ihrer Sprache abzeichnet.

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Parodie und Endzeitklage »du sollst das haus verlassen« Christa Reinig

Das Menschenbild, auf das alle Überlegungen zur modernen Lyrik wie zu aller Kunst und Poesie immer wieder zugeordnet sein müssen, sollen sie nicht unverbindliche Gedankenspielereien bleiben, läßt sich letztlich sicher nur an dem ablesen, was sich als poetische Gestalt vom Privaten, Biographischen abgelöst hat, was als Form die Stoffe und Aussagen transzendiert; denn nur in dieser Form, die nicht nur nach Goethes Wort »ein Geheimnis den meisten« ist, sondern als Spiegelbild ihres »Produzenten« immer einen entscheidenden Rest von Geheimnis behält, kommt der lyrisch sich äußernde Mensch als das Wesen voll zu Wort, das in der Selbsterkundung zugleich das nicht aufschlüsselbare Geheim­ nis seines fragmentarischen Existierens gewahr wird. Das Ge­ heimnis der Form und das Geheimnis des Ich weisen gleichsam symbolisch aufeinander hin. Dennoch ist es wohl zulässig, mehr vordergründig, mehr den gesagten Stoffen und den ausgesprochenen Haltungen nach den Komplex gegenwärtiger Lyrik auf seine Ordnungen hin zu be­ fragen: das Gesagte, das Ausdrückliche wird durch die Gestal­ tung ja nicht einfach negiert oder gar Lügen gestraft, sondern »aufgehoben« im doppelten Sinn von »überholt« und »bewahrt« - manchmal freilich in einer intrikaten Ironie, in schmerzlicher Maskierung des Ich, die es ihm gerade noch erlaubt, das Wort zu ergreifen. Daß dabei die Haltungen und Äußerungsformen der Suche nach Wahrheit nicht nur strikt geschieden, nicht nur in Gegensätzen zur Sprache kommen, sondern sich mischen und in vielfach gebrochenen Übergängen darstellen, daß etwa masken­ hafte Parodie und apokalyptische Klage, Spielformen und solche, die dem Gebet sich nähern, ineinandergreifen, daß die lyrischen Autoren selber nicht auf programmatisch fixierten Standpunkten des Selbstverständnisses verharren, erklärt sich im Grunde aus dem posthistorischen Zustand dieser Lyrik fast von selber: so wenig es außer dem Fragmentarischen einen poetischen »Stil«

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gibt, der stellvertretend für das Selbstbewußtsein der Epoche einstände, so wenig gibt es überhaupt ein ideologisch erfaßbares eindeutiges Menschenbild der Gegenwart, das ihren Geist reprä­ sentativ spiegelte. Die Pluralität der Selbstverständnisse geht mit der Pluralität der Selbstdarstellungsformen Hand in Hand wobei unentschieden bleiben mag, wie im einzelnen sich diese Pluralitäten im Sinn von Ursache und Wirkung gegeneinander verhalten. Der Mensch dieser Epoche ist »beschädigt«; man kann das aus seiner Kunst, seiner Poesie, seiner Philosophie wie aus seiner rat­ losen Alltäglichkeit ablesen. Doch diese Erfahrung läßt nicht nur den Schluß zu, daß er damit fast ein anderer geworden sei als der aus früheren Zeiten, sondern auch den, daß unsere Gegen­ wart erst in vollem Maß des existentiellen Beschädigtseins inne­ geworden ist. Deswegen ist die Äußerung Theodor W. Adornos, nach Auschwitz könnten und dürften eigentlich keine Gedichte mehr geschrieben werden, nicht unbesehen hinzunehmen (was bedeuten würde, daß alles Lyrisch-Poetische nach 1945 als Lüge aufzufassen sei oder als Flucht des Menschen vor sich selber ins Unverbindlich-Schöne). Schon der Begriff »Auschwitz« ist dop­ pelsinnig, wenn ihm im allgemeinen auch nur eine Bedeutung abgehört wird, nämlich die des unfaßbaren und unreflektierten Grauens, der radikalen menschlichen Selbstverstümmelung in der totalen Untat: Auschwitz bedeutet zugleich vielmehr auch ein Höchst- oder Übermaß an Leiden, an Opfer, an Martyrium, ja an Heidentum, das freilich weithin anonym geblieben ist. Noch das entsetzliche, sinnlose Geopfertwerden ist, als Gegenphänomen zur Vertierung des Menschen, eine Möglichkeit humanen Existie­ rens. Nur indem man das mitsieht, wird man dem apokalypti­ schen Ereignis Auschwitz wirklich gerecht. Und das ist der Grund dafür, warum nach Auschwitz dennoch Gedichte geschrieben werden dürfen, ja vielleicht geschrieben werden müssen, und ihr Dasein ist kein blanker Hohn auf das Entsetzlich-Unbegreifliche, sondern der Versuch einer Antwort, der Versuch des lyrischen Ich, durch die Erfahrung des Unvor­ stellbaren hindurch Möglichkeiten der Richtigstellung zu ermit­ teln, so aussichtslos er für manche auch sein mag.

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Diese Vergeblichkeit, jenseits des Grauens eine neue Harmonie zu installieren, zwingt das lyrische Ich vielfach, sich hinter seinem Gedicht wie hinter einer Maske zu verschanzen, und das ist auch im Sinn der modernen Lyrik legitim, für die das Gedicht als Fragment immer zugleich schon Nicht-Gedicht, für die das radi­ kal künstliche Wort allemal auch »Nicht-Wort« ist. Dieses Ge­ dicht hat seinem Wesen nach schon etwas von Maske an sich, und es parodiert sich und die Möglichkeit, Gedichte zu schreiben, und das Stilmittel der lyrischen Parodie erzeugt eine völlig neue Ding­ lichkeit. Es war noch ein verhältnismäßig harmloses Spiel, wenn Paul Scheerbart um die Jahrhundertwende die DivAN-Verse »Sag Poete, sag Prophete, / was bedeutet dieser Traum?« in seiner Frage parodierte: Meine ganze Welt ist kantig, und die Bäume sind verrückt. Sage, Wilhelm, sage, Sauhirt, Warum gehst du so gebückt? Wenn Ingeborg Bachmann Goethe parodistisch zitiert (Der Kö­ nig in Thule), dann hat das eine andere, verzweifeltere Dring­ lichkeit: .. . Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt, sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Haß und reicht dir die Schüssel des Herzens. Eine Handvoll Schmerz verliert sich über den Hügel.

Sieben Jahre später fällt es dir wieder ein, am Brunnen vor dem Tore, blick nicht zu tief hinein, die Augen gehen dir über. Sieben Jahre später, in einem Totenhaus trinken die Henker von gestern den goldenen Becher aus. Die Augen täten dir sinken ...

(Die gestundete Zeit)

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Die Maske des parodistischen Zitats ist dabei nicht nur ein Mit­ tel, das Unerträgliche ins halbwegs Erträgliche zu wenden, sie erweist sich vielmehr, indem sie das Volk der Dichter und Den­ ker mit dem der »Richter und Henker« konfrontiert, als eine Verschärfung der Klage und Anklage aus dem Schmerz heraus. Die Maske wird selber Figur des Endzeitlichen. Und etwas davon ist noch in Versen spürbar, in denen das er­ schreckte, geängstigte Ich sich die Maske des Kinderreims vor­ hält, um so durch die Diskrepanz von Form und Gesagtem die parodistisch ummäntelte Klage zu potenzieren, wie etwa im Deutschen Abzählvers von Wolfdietrich Schnurre: Der Wolf grast auf den Wiesen, das Schäflein blökt im Heer; rote Fahnen, rote Biesen leben bleiben, das fällt schwer. (Abendländler)

Selbst dort, wo sidi das an der Zeit und ihrer Frohgemutheit leidende Ich als Clochard vermummt, damit es sich nicht kon­ form machen muß, damit es sich von einer schlechten Wirklich­ keit distanzieren kann, mit der es sich dennoch einlassen muß: selbst dort schwingen noch apokalyptische Töne mit, so bei Gün­ ter Bruno Fuchs:

Ich wohne hinter den Schritten des Polizisten, der meinen Paß kontrolliert. Ich wohne im Keller einer mittelgroßen Ruine, im Altersheim für den pensionierten Wind . . . (Brevier eines Degenschluckers)

Was die Parodie als Aussage nicht nur über das parodierte Ge­ bilde, sondern über die Distanz zu jenem und über die moderne Verfaßtheit des lyrischen Ich zu leisten vermag, läßt sich an der Neuformulierung eines Rilke-Gedichts aus dem Stundenbuch

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durch Günter Grass ablesen. Es handelt sich um die Verse: »Wer jetzt weint irgendwo in der Welt, / ohne Grund weint in der Welt, / weint über mich. / Wer jetzt lacht irgendwo in der Nacht, / ohne Grund lacht in der Nacht, / lacht mich aus ...« Die Parodie gerät zum selbständigen Gebilde, das unabhängig von seiner Vor­ lage eine aktuelle Befindlichkeit zur Sprache bringt - nicht mehr die mystische Zusammengehörigkeit der Menschheit, sondern deren totales Verfremdetsein, das freilich in der Spannung zwi­ schen Rilke und Grass erst sein ganzes, erschreckendes Ausmaß zu erkennen gibt: Wer lacht hier, hat gelacht? Hier hat sich’s ausgelacht. Wer hier lacht, macht Verdacht, daß er aus Gründen lacht. Wer weint hier, hat geweint? Hier wird nicht mehr geweint. Wer hier weint, der auch meint, daß er aus Gründen weint...

(Gleisdreieck)

Zur lyrischen Methode hat die Parodie am entschiedensten in diesen Jahren Peter Rühmkorf gemacht, um im »Vorüberlied«, das dem Tradierten den Boden der Legitimität wegzieht und es als lügenhaften Schein entlarvt, das »Dennochlied« zuwege zu bringen, das einen Rest von Tradition rettet, indem es sie scharf­ züngig in Frage stellt. Das Abendlied von Matthias Claudius verfremdet sich unter Rühmkorfs lyrischem Zugriff zur Mani­ festation von Einsamkeit und Vergeblichkeit. Die brüderlich­ fromme Menschlichkeit der alten Verse nimmt den Gestus des bösen Fatalismus an, und das Einverständnis mit ihnen erhält einen Schlag ins Gesicht, der darüber hinwegtäuschen kann, daß sich hier im Grunde die Klage zu Wort meldet:

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Der Mond ist aufgegangen. Idi, zwischen Hoff- und Hangen, rühr an den Himmel nicht. Was Jagen oder Yoga? Ich zieh die Tintentoga des Abends vor mein Angesicht...

Wollt endlich, sonder Sträuben, still linkskant liegen bleiben, wo euch kein Schmerz mehr trifft. Müde des oft Gesehnen, gönnt euch ein reines Gähnen und nehmt getrost vom Abendgift. (Kunststücke)

Das heutige Gedicht, schon das expressionistische, vor allem aber das nach dem letzten Krieg entstandene, nimmt das barodce Thema der Vergänglichkeit wieder auf: es ist weithin Klage, Trauergesang angesichts einer Wirklichkeit, die sich als übermäch­ tig und zugleich radikal nichtig darstellt. Das lyrische Ich ist bereit, diese Realität zu verlassen, sich von ihr abzuwenden, das Böse in ihr bloßzustellen, wo es ihm nicht gelingt, Stimme des Protests zu sein, und wo ihm die Maske des Spiels fadenscheinig wird. Sein Gedicht ist apokalyptisch-endzeitlich, sei es hoffend, sei es verzweifelnd. Botschaft

Aus der leichenwarmen Vorhalle des Himmels tritt die Sonne. Es sind dort nicht die Unsterblichen, sondern die Gefallenen, vernehmen wir. Und Glanz kehrt sich nicht an Verwesung. Unsere Gottheit, die Geschichte, hat uns ein Grab bestellt, aus dem es keine Auferstehung gibt.

(Ingeborg Bachmann, Die gestundete Zeit)

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Das lyrische Ich sieht sich hineingestellt ins Unvertraute, ins nicht zu Bewältigende. Und es empfindet die Angst vor dem Leeren, vor dem »Nichts«. Das ist die letzte Konsequenz des romanti­ schen Strebens nach dem Absoluten, die radikale Erfahrung des Scheiterns, die unversehens über die Romantik zurückführt zur barocken Einsicht, daß durch das nur nodi »künstlich«-gleichnishafte, »uneigentliche« Wort gerade eine Ahnung dessen zu geben ist, was sich möglicherweise hinter der Leere findet. Dabei ist freilich der heutige Ton auf unbarocke Weise verhalten, und die Metaphern treten bei aller Präzision und Eindringlichkeit fast scheu auf:

... Warte nicht! Die Nacht wird vollkommen sein, mit in den Wind hängenden Haaren, Mit dem hygienischen Weiß der Verzweiflung, Mit der Pechfarbe absoluter Stille: Schwarz und weiß . . . Und ich in ihr: ein leichtes Bündel, ohne Gedanken, ohne Erinne­ rung, Wie Reisig, auf das einzelne Sterne scheinen. Die letzte Nacht, in der niemand wartet! (Karl Krolow, Gesammelte Gedichte)

Am eindringlichsten vielleicht hat Christa Reinig die Situation des lyrischen Ich in einer unvertrauten Realität dargestellt: sein Dasein als Aufbruch ins Ungewisse: Ausweg

Das was zu schreiben ist mit klarer schrift zu schreiben dann löcher hauchen in gefrorne fensterscheiben dann bücher und papiere in ein schubfach schließen dann eine katze füttern eine blume gießen

und ganz tief drin sein - und zum türgriff fassen: zieh deinen mantel an du sollst das haus verlassen (Gedichte)

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Das Natur- und Landschaftsgedicht, überhaupt das Dinggedicht, ist ebenfalls vom Hauch des Endzeitlichen, von der Trauer der Vergänglichkeit überlagert. Die beruhigte Rückkehr zu den ein­ fachen, schuldlosen Dingen und zur Natur ist nur im utopischen Sinn möglich. Doch sie wird auch noch von einem Enzensberger durch den Protest herbeigesehnt, wenn er in der botschaft des tauchers sagt: die stumme muschel hat recht und der herrliche hummer allein, recht hat der sinnreiche seestern (LANDESSPRACHE)

oder wenn er das Unentstellte als Zeugen gegen eine entstellte Wirklichkeit aufruft:

ich spreche nicht mehr von euch, planem der spurlosen tat, und von mir nicht, und keinem, ich spreche von dem was nicht spricht von den zahnlosen zeugen, von Ottern und robben, von den alten eulen der erde (LANDESSPRACHE)

Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Karl Krolow, Hilde Dornin sie alle und viele andere kommen nicht los von der Naturmeta­ pher, von der inständigen, verzweifelt-vergeblichen Verklärung der unentstellten Dinge, in die sich das verletzte Ich unablässig hineinversetzt wie in einen paradiesischen Anfangs- oder End­ zustand. Sogar im politischen Gedicht ist immer wieder von Natur, von reinen Dingen die Rede, so etwa bei Karl Alfred Wolken: Es ist gefährlich in diesem Land sein Haus zu verlassen nach vorne. Die Weisen treten nach hinten hinaus, in den Hof, in die Sonne. (Wortwechsel)

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Oder Carl Guesmers Fenster zur Zonengrenze: Gräser dringen in den Feldweg ein, Wiesenschaumkraut wie Fluten ins Leck. Über den Feldwegresten, treibenden Wracks, schlägt die Einsamkeit mit rollenden Wolkenkämmen zusammen.

(Zeitverwehung)

Endzeitliche Trauer spricht aus den Versen eines Peter Hüchel: Wenn mittags das weiße Feuer Der Verse über den Urnen tanzt, Gedenke, mein Sohn. Gedenke derer, Die einst Gespräche wie Bäume gepflanzt. Tod ist der Garten, mein Atem wird schwerer, Bewahre die Stunde, hier ging Theophrast, Mit Eichenlohe zu düngen den Boden, Die wunde Rinde zu binden mit Bast. Ein Ulbaum spaltet das mürbe Gemäuer Und ist noch Stimme im heißen Staub. Sie gaben Befehl, die Wurzeln zu roden. Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub.

(Chausseen Chausseen) Und noch in den inständig gesammelten, Sprache und Dinge vereinigenden Versen Johannes Bobrowskis hat die Natur etwas von einem verlorenen und erhofften Paradies an sich: Ebene See. Der See. Versunken die Ufer. Unter der Wolke der Kranich. Weiß, aufleuchtend der Hirtenvölker Jahrtausende. Mit dem Wind

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kam ich herauf den Berg. Hier werd ich leben. Ein Jäger war ich, einfing mich aber das Gras. Lehr mich reden, Gras, lehr mich tot sein und hören, lange, und reden, Stein, lehr du mich bleiben, Wasser, frag mir, und Wind, nicht nach.

(Schattenland Ströme) Gedichte nach Auschwitz; fragmentarische Gedichte, die nicht das Grauen durch selig-unbekümmerte Harmonie überdecken, sondern dessen Einbruch ertragen und am Rand des Verstummens eben noch überdauern. Lyrische »Schönheit« wäre Lüge - so scheint es. Und doch gibt es ein Gedicht, das durch seine Existenz, durch seine geheimnisvolle Schönheit das Entsetzliche noch auf andere Weise bewältigt, es in Vollkommenheit aufhebt und so dartut, daß das Endzeitliche noch eine andere Dimension hat als die der Klage, der Vergänglichkeit, des Untergangs, nämlich die Dimension der Erwartung, der Hoffnung auf Richtigstellung, auf messianische Erlösung. In Paul Celans Todesfuge, die einsam dasteht im Bereich der neuen Lyrik, ist dem Tödlichen durch eine konsequente Kontrapunktik der Stachel genommen, ohne daß sein Vorhandensein verschwiegen würde. Im musikalischen Durchspielen der Themen (das deutsche und das jüdische Mäd­ chen, Rüden und Juden, Traum und Vernichtung, Spiel und Schlagen) drängt sich das Unvereinbare so ineinander, daß das Unmenschliche gebändigt wird und in der kontrastierenden Schönheit ein neues Humanum entsteht, das kraft seiner »Voll­ kommenheit« übers Menschliche hinausverweist. Die Sprache wird dabei gleichsam in Selbständigkeit entlassen, so daß sich die Kunstmittel frei entfalten, unmittelbar in »Aussage« umschlagen können und schon wieder die Selbstverständlichkeit »natürli­ chen« Sprechens annehmen, wodurch sich das Fragmentarische, das hier präsent ist, dennoch wie von selber aufhebt:

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Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith (Mohn und Gedächtnis) In seiner Sonderstellung innerhalb der gegenwärtigen deutsch­ sprachigen Lyrik kann die Todesfuge das Gesamtbild des Vor­ läufig-Fragmentarischen kaum verändern. Aber man darf es als ein Symptom dafür ansehen, daß »unmittelbar vor dem letzten Atemzug« vielleicht noch Wege zu einer neuen Annäherung des Torsohaften an eine eschatologische Harmonie offenstehen.

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Monolog und Warngedicht »Das ganze Leben nehmen sie uns dann ab.« Erich Fried

Warngedichte - so hat Erich Fried eine Versammlung betitelt, und er traf mit diesem Wort sehr genau das Wesen einer lyrischen Haltung, die in der Geschichte wenig literarische Geltung besaß, in den Jahren nach dem letzten Krieg und nadi Bertolt Brecht aber zu einer entscheidenden Komponente der Poesie wurde. „Warngedichte« - sie wollen den Leser nicht zur Ruhe, zur Ver­ söhnung mit der Welt oder zur selbstgenügsamen Abkehr von ihr bringen, sondern zur Unruhe, zum kritischen Wachsamsein, zum rastlosen Fragen nach dem Richtigen und dem Besseren, ja zur Veränderung des Bestehenden und seiner eingefahrenen Ord­ nungen. Diese Gedichte haben es mit dem Politischen im weitesten Sinn zu tun; mit allem, was das gemeinschaftliche Dasein der Menschen betrifft - genauer, mit allem, was dieses gemeinschaft­ liche Dasein entstellt, beschädigt oder unmöglich macht: in erster Linie das voreilige Streben nach Behaglichkeit in Sicherheit, nach bequemen, endgültigen Lösungen. Sie konstatieren Sachverhalte, um sie als böse zu entlarven. Eines jener Gedichte Frieds, Die Abnehmer, lautet:

Einer nimmt uns das Denken ab Es genügt seine Schriften zu lesen und manchmal dabei zu nicken Einer nimmt uns das Fühlen ab Seine Gedichte erhalten Preise und werden häufig zitiert Einer nimmt uns die großen Entscheidungen ab über Krieg und Frieden Wir wählen ihn immer wieder

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Wir müssen nur auf zehn bis zwölf Namen sdiwören Das ganze Leben nehmen sie uns dann ab Diese kühle, distanzierte und auf die entlarvende Pointe abzie­ lende Sprechweise, hinter der sidi das Erschrecken, das Leiden und das Mitleiden wie hinter einer starren Maske verbergen, ist vielleicht noch weiter als konkrete Sprache von dem entfernt, was man gern unter »lyrisch« verstehen möchte. Sie sagt ihm aus­ drücklich ab, will nichts mit ihm zu tun haben, mißtraut seinem Traum von einer seligeren Existenz im besänftigten Gefühl. Doch daneben gibt es eine Form der lyrischen Warnung, die das Pathos, die beschwörende Inständigkeit des Sagens, fast einen biblischen Gestus einsetzt, um zur Wachsamkeit, zur Umkehr aufzufordern. Bei Günter Eich stehen die Verse:

Wacht auf, denn eure Träume sind sdilecht! Bleibt wach, weil das Entsetzliche näher kommt. Audi zu dir kommt es, der weit entfernt wohnt von den Stätten, wo Blut vergossen wird, audi zu dir und deinem Nachmittagsschlaf,

worin du ungern gestört wirst. Wenn es heute nicht kommt, kommt es morgen, aber sei gewiß . . .

Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind! Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch er­ werben zu müssen! Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird! Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand, nicht das 01 im Getriebe der Welt!

(Ausgewählte Gedichte)

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»singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet« - es sind eben die Lieder, die dem lyrischen Einverständnis, der Traumseligkeit im Gedicht abschwören, es sind die Lieder, in denen sich das Ich nicht aus der Welt zurückzieht, um sie sich selber und ihren Unbilden zu überlassen. Diese Warngedichte ziehen einen Strich unter anderthalb Jahrhunderte lyrischer Ent­ wicklung, für die das Ich und seine Befreiung aus den Fängen des Weltgeschehens ein letzter Wert war, zumindest aber die Abkapselung der Gleichgesinnten, die es besser wissen.

Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet...

So heißt es im West-östlichen Divan, während ein Gedicht von Hans Magnus Enzensberger an alle Fernsprechteilnehmer überschrieben ist. In Goethes bekanntem Mondgedicht stehen die Verse: Selig, wer sich vor der Welt Ohne Haß verschließt, Einen Freund am Busen hält Und mit ihm genießt, Was, von Menschen nicht gewußt Oder nicht bedacht, Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht.

Die Gegenposition dazu steckte Bertolt Brecht ab, dem in der äußeren Emigration, »öfter als die Schuhe die Länder wechselnd«, die Möglichkeit zu jener inneren Emigration versagt blieb, wie sie der klassisch-romantische Individualismus als Weg zu einem persönlichen Heil entwickelt hat. Die Eremitenklause der Weis­ heit blieb ihm verschlossen in seiner finsteren Zeit:

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Ich wäre gern auch weise. In den alten Büchern steht, was weise ist: Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit Ohne Furcht verbringen. Aber ohne Gewalt auskommen Böses mit Gutem vergelten Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen Gilt für weise. Alles das kann ich nicht: Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! (Gedichte 4)

Als Gottfried Benn vor anderthalb Jahrzehnten in seinem pro­ grammatischen Vortrag das moderne lyrische Ich als Einzimmer­ bewohner beschrieb, als den Einzelgänger par excellence, als den radikalen Artisten, war ihm wohl nicht recht deutlich, daß er damit nur eine letzte Konsequenz aus dem romantischen Selbst­ verständnis der Poeten zog. Benns lyrischer Einzimmerbewohner ist der ä la zwanzigstes Jahrhundert aufgeputzte Poet Spitz­ wegs, der unter seinem Regenschirm im unbehaglichen Dach­ kämmerlein seine dichterische Sache betreibt und nicht damit rechnet, den Zustand dieser Welt zu verändern. Benns Position ist eine letzte Station auf dem lyrischen Weg, den Mörikes Verse bezeichnen: Verborgenheit Laß, o Welt, o laß mich sein! Locket nicht mit Liebesgaben, Laßt dies Herz alleine haben Seine Wonne, seine Pein!

»Bleiben und stille bewahren / das sich umgrenzende Ich« - so lautet die zustimmende Antwort Benns ein Jahrhundert später auf diese weltabgekehrten Verse Mörikes. Nur das Ich hat für Benn Sinn und Wert, und zwar nur das Ich, insofern es schöpfe­ risch ist, insofern es im Sinne Nietzsches durch das Kunstgebilde dem Nichts etwas abgewinnt, das nicht mehr welthaft-nichtig ist.

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Die Verse Benns, Nur zwei Dinge, sind der Zuspruch des lyrischen Ich an sich selber, in dieser Situation der Vereinsamung, der Kon­ taktlosigkeit auszuharren und durch keine Selbsttäuschungen von diesem Zustand sich ablenken zu lassen:

Durch so viel Formen geschritten, durch Ich und Wir und Du, doch alles blieb erlitten durch die ewige Frage: wozu?

Das ist eine Kinderfrage. Dir wurde erst spät bewußt, es gibt nur eines: ertrage - ob Sinn, ob Sucht, ob Sage dein fernbestimmtes: Du mußt. Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, was alles erblühte, verblich, es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich.

(Gedichte) Dieses Gedicht ist ein meisterliches Beispiel für Symmetrie - und damit zugleich ein später Versuch, im Widerstand gegen das »beschädigte« Leben »Harmonie« zu finden. Drei Strophen: die erste und die letzte jeweils vierzeilig, die mittlere fünfzeilig. Das Reimschema mit einer faszinierenden Konsequenz durch­ brochen: die erste und die dritte Strophe reimen nach klassischem Vorbild wechselweise a b a b, erste und dritte, zweite und vierte Zeilen verschränken sich durch den Reim. Dem folgt scheinbar auch die mittlere Strophe, aber ihre vierte Zeile nimmt den Reim der dritten nochmals auf und bestärkt dadurch deren Reimwort »ertrage«. So wird unversehens dieses rein formal zentrale Reimwort des Gedichts mit der ganzen Bedeutung der Verse belastet. Die Erfahrung der Einsamkeit zieht sich in dieses eine Wort »ertrage« zusammen. Über die Einsamkeit ist nicht hinauszukommen. Und das wird noch bestätigt durch die Wie­

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derholung einer sprachlichen Figur. In der mittleren Strophe steht der Vers: »- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -« Und in der letzten Strophe heißt es: »Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere«. Die an sich harmoniestiftende Wiederholung wird so zu einer Formel der Vergeblichkeit: nichts hilft dir, das alles trägt dich nicht, dein Ich, ausgesetzt der Leere, ist gezeichnet durch ein »fernbestimmtes: Du mußt«: Einsamkeit ist Schicksal. Nur eines bleibt darüber allenfalls dem von der Verlassenheit gezeichneten Ich: dasjenige, was Benn einmal das »hinterlassungsfähige Gebilde« genannt hat, das Kunstding, das artistisch-ästhetische Produkt, das aus der Einsamkeit aufsteigt und ihr einen Rest von Sinn abgewinnt. Freilich, diese Gebilde, diese Gedichte sind nach Benns Überzeu­ gung keine Mittel, die Einsamkeit wirklich zu durchbrechen. Er sagt, sie seien als »absolute Gedichte« streng »monologisch«. Sie können nicht helfen, schon weil sie im Grunde, auch wenn sie dem Sinngefüge der Sprache verpflichtet bleiben, nichts mitzu­ teilen vermögen. Das gilt auch noch dort, wo ein Benn und an­ dere als lyrisches Material entlarvende Aussagen über das Be­ stehende aggressiv in den Vers einbeziehen. Daraus wird kein aufbegehrendes Drängen nach Veränderung, sondern sofort wie­ der ein Absentieren im Besserwissen. Die Hoffnung auf welthafte Richtigstellung gilt diesen Versen als fauler Zauber. Sie ertasten lediglich »seismographisch« die »Lage« - zum Zweck des Kunst­ werks und zur Legitimation der monologischen Abkapselung. Von dieser Grundhaltung des einsamen Gedichts her ist es nur natürlich, daß sich das lyrische Wort immer mehr in sich zurück­ ziehen mußte, bis es schließlich ganz darauf verzichten konnte, noch mit nachprüfbaren Sinn- und Satzzusammenhängen zu ar­ beiten. Es lauscht in sich selber hinein und verwendet Elemente der Erfahrung fast nur noch als Mittel, sich ästhetisch zu erfüllen. Das monologische Gedicht wird zum »konkreten Text«. Die Brücken zwischen Leben und Kunst sind abgebrochen. Wenige Jahre nach jenen Versen Benns wurde von der damaligen jungen Generation die extreme Gegenansicht formuliert, am ent­ schiedensten in Hans Magnus Enzensbergers erstem Gedichtband Verteidigung der wölfe. Darin stehen die Verse ins lesebuch für die oberstufe:

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lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne: sie sind genauer, roll die Seekarten auf, eh es zu spät ist. sei wachsam, sing nicht, der tag kommt, wo sie wieder listen ans tor schlagen und malen den neinsagern auf die brust zinken, lern unerkannt gehn, lern mehr als ich: das viertel wechseln, den paß, das gesicht, versteh dich auf den kleinen verrat, die tägliche schmutzige rettung. nützlich sind die enzykliken zum feueranzünden, die manifeste: butter einzuwickeln und salz für die wehrlosen, wut und geduld sind nötig, in die lungen der macht zu blasen den feinen, tödlichen staub, gemahlen von denen, die viel gelernt haben, die genau sind, von dir. Auch wenn solche Verse, freilich auch viele von Bertolt Brecht, so radikal anders klingen, daß sie allen traditionellen Vorstellun­ gen von Lyrik zu widersprechen scheinen, stehen sie doch nicht ganz außerhalb der Tradition. Das politische Gedicht gibt es in Deutschland seit dem Mittelalter, wo es seine großartigste Aus­ prägung in der warnenden Spruchlyrik eines Walther von der Vogel weide erfuhr. Das Barock dagegen bezog politisch-gesell­ schaftliche Themen in seine Lyrik unter religiösen Aspekten ein; es ging ihm darum, durch die Verstrickungen ins Irdische und seine Vergänglichkeit hindurch das Heil der Seele zu retten: so sind seine Warngedichte, die großen Anteil an der lyrischen Pro­ duktion der Epoche haben, Warnungen vor der Welt und Auf­ forderungen, durch ein richtiges Leben im Sinn der Heilsverhei­ ßung dieses Heil nicht zu verscherzen. Das achtzehnte Jahrhun­ dert mit seiner neuen humanitas setzte wieder ausdrücklich dies­ seitige Akzente, soweit es überhaupt das politische Gedicht, vornehmlich das Gedicht gegen den Krieg pflegte - am schönsten wohl im Kriegslied des Matthias Claudius:

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’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre, und rede du darein! ’s ist leider Krieg - und ich begehre nicht schuld daran zu sein!... Klassik und Romantik mit ihrer Ausrichtung aufs Musterhafte und Allgemein-Menschliche hatten wenig Gelegenheit, das Poli­ tisch-Gemeinschaftliche ins Gedicht hereinzunehmen, und erst als Heinrich Heine der romantischen Vorherrschaft ironisch den Gar­ aus gemacht hatte, konnte er, der exemplarische Emigrant, im politischen Vers seinem Herzen Luft machen; aber zugleich durch­ schaute er, wie gering die Möglichkeiten politischer Lyrik in seiner Zeit waren:

Der Knecht singt gern ein Freiheitslied Des Abends in der Schenke: Das fördert die Verdauungskraft Und würzet die Getränke.

Immerhin schrieb dieser Heinrich Heine aber auch Deutschland. Ein Wintermärchen oder ein Gedicht wie Die schlesischen Weber, eine der ersten lyrisch-sozialen Anklagen, in der es heißt: Im düstern Auge keine Thräne, Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne: Deutschland, wir weben dein Leichentuch, Wir weben hinein den dreifachen Fluch Wir weben, wir weben!...

Ein Fluch dem falschen Vaterlande, Wo nur gedeihen Schmach und Schande, Wo jede Blume früh geknidct, Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt Wir weben, wir weben!.. .
Artistik