Formen ambulanter Gruppentherapie: Kann, will, muss ich Gruppe? [1. Aufl.] 9783662590911, 9783662590928

Dieses Buch ist ein Plädoyer für Gruppenangebote in der ambulanten psychotherapeutischen Praxis. Es versammelt Grundlage

1,196 49 5MB

German Pages XIII, 287 [278] Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Formen ambulanter Gruppentherapie: Kann, will, muss ich Gruppe? [1. Aufl.]
 9783662590911, 9783662590928

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Editorial (Dankwart Mattke, Martin Pröstler)....Pages 1-20
Front Matter ....Pages 21-21
Psychosomatik (Martin Pummerer)....Pages 23-37
Meine erste Gruppe und wie es weiterging (Peter Wollschläger)....Pages 39-46
Gruppe – wie geht das - bei mir? (Christian Willnow)....Pages 47-57
Arbeit mit Märchen in der Gruppe (Hildegunde Georg)....Pages 59-69
Front Matter ....Pages 71-71
Tanz ums Goldene Kalb oder Fight-Club? (Martin Pröstler)....Pages 73-79
Analytische Gruppentherapie: Komplexbearbeitung in der Gruppe (Ulrich Stuck)....Pages 81-91
Front Matter ....Pages 93-93
Mentalisierungsbasierte Psychotherapie in Gruppen (MBT-G) (Ulrich Schultz-Venrath)....Pages 95-105
Front Matter ....Pages 107-107
Die heilende Wirkung von Beziehung in Gruppen (Christiane Pennecke)....Pages 109-118
Ambulante verhaltenstherapeutische Gruppentherapie: störungs- und problemspezifische Konzepte (Michael Marwitz)....Pages 119-129
Front Matter ....Pages 131-131
Tiefenpsychologisch fundierte Gruppen in der Richtlinientherapie (Friederike Tamm-Schaller)....Pages 133-143
Ein drittes Setting der ambulanten Psychotherapie – Einzeltherapie und Gruppentherapie in Kombination (Dorothe Türk)....Pages 145-154
Kombinierte psychodynamische Gruppen- und Einzelpsychotherapie (Bernd Klipp)....Pages 155-163
Die Kombination Einzel- und Gruppentherapie: In der Theorie akzeptiert – in der Praxis vielschichtig (Michael Marwitz, Christiane Pennecke)....Pages 165-175
Front Matter ....Pages 177-177
Psychodynamische Gruppentherapie mit Kindern, Jugendlichen und ihren Bezugspersonen (Ursula Wienberg)....Pages 179-189
Schematherapeutische Gruppentherapie mit Kindern/Jugendlichen (Christian Ferreira de Vasconcellos)....Pages 191-200
Front Matter ....Pages 201-201
Psy-Rena: Gruppentherapie als Nachsorgekonzept, praktisch betrachtet aus tiefenpsychologisch fundierter Sicht (Monique Friedrich, Jessica Hepp)....Pages 203-214
Kontinuität von psychosomatischer Rehabilitation und psychotherapeutischer Nachsorge (PsyRENA) (Thomas A. Langens)....Pages 215-224
Die PsyRena-Gruppe in der Anwendung einer halboffenen Gruppe (Claudia Otto)....Pages 225-234
Front Matter ....Pages 235-235
Organisation und Abrechnung von Gruppen (Brigitte Alt)....Pages 237-251
Front Matter ....Pages 253-253
Beispiele für typische Gruppenverläufe (Brigitte Alt)....Pages 255-264
Front Matter ....Pages 265-265
Ausgewählte Aspekte der nationalen und internationalen Gruppenpsychotherapieforschung (Rainer Weber)....Pages 267-280
Back Matter ....Pages 281-287

Citation preview

Psychotherapie: Praxis

Dankwart Mattke · Martin Pröstler Hrsg.

Formen ambulanter Gruppentherapie Kann, will, muss ich Gruppe?

Psychotherapie: Praxis

Die Reihe Psychotherapie: Praxis unterstützt Sie in Ihrer täglichen Arbeit – praxisorientiert, gut lesbar, mit klarem Konzept und auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand. Weitere Bände in der Reihe 7 http://www.springer.com/series/13540

Dankwart Mattke Martin Pröstler (Hrsg.)

Formen ambulanter Gruppentherapie Kann, will, muss ich Gruppe?

Hrsg. Dankwart Mattke München, Deutschland

Martin Pröstler München, Deutschland

ISSN  2570-3285 ISSN  2570-3293  (electronic) Psychotherapie: Praxis ISBN 978-3-662-59091-1 ISBN 978-3-662-59092-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 7 http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Fotonachweis Umschlag: © joerg dirmeitis/stock.adobe.com Verantwortlich im Verlag: Monika Radecki Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

V

Vorwort Es gibt zwei Anlässe, die das vor Ihnen liegende Buch notwendig gemacht haben. Einmal hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) die Psychotherapie-Richtlinie

zum 1.7.2018 sehr gruppenfreundlich reformiert. In der Erörterung des Petitionsausschusses vom 14.01.2019 zur Petition zum Terminservicegesetz (TSGV) sagte der aktuelle Bundesminister für Gesundheit, dass Gruppenpsychotherapie zu wenig genutzt werde. Die Frage liegt nahe, wie es gelingen kann, dass vermehrte Gruppenangebote in der ambulanten Praxis der zunehmenden Nachfrage nach Psychotherapie begegnen können. Dieses Buch möchte dazu beitragen, dass wieder mehr Gruppentherapie durchgeführt wird. Wir werden in unserem Editorial im Detail darauf eingehen, wie die gesetzlichen gruppenfreundlichen Neuerungen die Rahmenbedingungen für die Erbringung der Leistung „Gruppentherapie“ inhaltlich bereits beeinflusst haben und weiter beeinflussen werden. Dabei wird in dieser Auflage des Buches auf inhaltliche und qualitative Aspekte der Umbrüche fokussiert. Es wird erfahrungsgemäß einige Zeit der sich verändernden Praxis in der Leistungserbringung dauern, bis quantitative Ergebnisse vorliegen.

Zum anderen - das wurde in der öffentlichen Debatte nicht so prominent und heftig

kommentiert, hat auch der andere relevante Träger öffentlich-rechtlicher Gesundheitsleistungen - die gesetzliche Rentenversicherung (DRV) - eine neue gruppenmäßige Interventionsform geschaffen: Psy -Rena.

Das Regelwerk für die Erbringung der Leistung „Psy -Rena Gruppen“ ist bei weitem nicht so komplex gestaltet wie die Richtlinie für die Leistung „Gruppenpsychotherapie“ der gesetzlichen Krankenkassen. Das mag auch daran liegen, dass sich bei allen Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen zwei Akteure gegenüberstehen: der „GKVSpitzenverband“ auf der einen und die „Kassenärztliche Bundesvereinigung“, Spitzenverband der Ärzte und psychologischen Psychotherapeuten, auf der anderen Seite. Bei Psy-RENA handelt es sich um eine Reha-Nachsorge, die im Anschluss an eine psychosomatische Rehabilitation dabei unterstützen soll, die erlernten Verhaltensweisen und Strategien zur Stress- und Konfliktbewältigung im Alltag und im Berufsleben umzusetzen. Die Nachsorge-Leistung umfasst 25 wöchentliche Gesprächstermine in einer geschlossenen oder halb-offenen Gruppe mit 8 bis 10 Teilnehmern und einer Dauer von je 90 min. Zusätzlich finden ein Aufnahme- und ein Abschlussgespräch als Einzelgespräch mit einer Dauer von je 50 min statt. Diese dezidiert gruppenmäßige Interventionsform ist in den letzten Jahren aus dem IRENA Leistungskatalog der DRV hervorgegangen. Sie wurde spezifiziert als eine DRV Leistung nach einer stationären psychosomatischen REHA-Behandlung, anfangs zentralisiert überprüft und gesteuert über die DRV in Berlin. Zwischenzeitlich hat sich eine Regionalisierung herausgebildet. Frequenzstatistische Angaben oder gar eine Begleitforschung sind bisher leider nicht vorgesehen.

VI

Vorwort

Die Reform des sehr viel komplexeren Regelwerkes „Richtlinien Psychotherapie“, durch den G-BA veranlasst, wird in ihrer zahlenmäßigen Erfassung und qualitativen und prozessualen Ausgestaltung laut G-BA durch einen sogenannten Innovationsfonds begleitet werden. Eine Anfrage bei der kassenärztlichen Bundesvereinigung zu aktuellen Frequenzstatistiken für dieses Buch erschöpfte sich verständlicherweise mit dem Hinweis auf den gerade begonnen inhaltlichen und geldmäßigen Vergabeprosess für diesen Fonds. Bisher – das wird in einer Forschungsübersicht für unser Buch nachdrücklich beklagt – gibt es zu wenig evidenzbasierte Forschung - weder zu Psy-Rena Gruppen nach SGB IX (bisher komplette Fehlanzeige!) noch zu Gruppenpsychotherapien in der kassenärztlichen Versorgung. Die für dieses Buch zusammengeführten Werkstattberichte werden ergänzt durch einen Bericht zur Organisation einer „typischen“ Gruppenpraxis mit der Schilderung von „typischen“ Verläufen. Die mentalisierungsbasierte Gruppenpsychotherapie haben wir als eine moderne gruppenmäßige Interventionsform hinzugenommen. Diese könnte nach der weiterhin anstehenden Novellierung des Psychotherapeutengesetzes zu einer neuen transdiagnostischen und eher kontextuellen gruppenmäßigen Interventionsform werden. Sie halten mit diesem Buch das erste Werk in Händen, das 1. alle Verfahren der krankenkassenfinanzierten Richtlinien-Psychotherapie und 2. das neue Gruppenangebot (Psy-Rena) der deutschen Rentenversicherung berücksichtigt. Alle im GKV Spitzenverband zusammengeschlossenen Krankenkassen haben sich verpflichtet, die nach der Psychotherapie-Richtlinie (RPT) beantragten und befürworteten Psychotherapien ohne weitere Prüfung nach Art, Dauer und Notwendigkeit zu 100 % zu finanzieren. Nach der Etablierung der RPT (1967) wurde über die folgenden Jahre ein umfangreiches Regelwerk entwickelt, das bis zur heute 11. Auflage des „Kommentars Psychotherapie-Richtlinien“ (im internen Jargon dem sog. „Faber-Haarstrick“) fortlaufend kommentierend begleitet wurde Sozialrechtlich (SGB V) zugelassen sind derzeit drei sog. „Verfahren“: Verhaltenstherapie, Analytische Psychotherapie, Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Dieses Buch handelt von der jeweiligen Anwendung dieser Verfahren auf Gruppenpsychotherapie. Zudem gibt es noch eine Neuigkeit: die mentalisierungsbasierte Psychotherapie und ihre Anwendung in Gruppen (MBT-G). Diese Anwendungsform wurde in England entwickelt, allerdings zumeist im teil-stationären Rahmen. Man darf gespannt sein, ob und in welchem der sozialrechtlich anerkannten Verfahren der RPT sich die MBT-G etablieren wird. Möglicherweise wird die Mentalisierung allerdings mehr in einer einzuübenden Haltung in gleich welchem Verfahren der RPT zu integrieren sein?

VII Vorwort



Wir schreiben dieses Vorwort mitten in der Corona-Pandemie, die niedergelassene Gruppenpsychotherapeuten vor enorme Herausforderungen stellt: Offensichtlich haben die gravierenden Einschränkungen des sozialen Lebens im Dienste des Infektionsschutzes massive Auswirkungen auf die psychische und somatische Gesundheit von Patienten sowie auch von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Ausgerechnet in einer Zeit, in der die therapeutische Hilfe durch den Zusammenhalt, die Reflexion und das Containment in Gruppen so notwendig wäre, ist die praktische Durchführung von Gruppenpsychotherapie erschwert und teilweise unmöglich: Oft können beispielsweise die Sicherheitsabstände der Teilnehmer im Gruppenraum nicht eingehalten werden oder der Weg zur Praxis ist für sogenannte „Risikopatienten“ mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zumutbar. Während im Feld der Einzeltherapie viele Therapeuten schnell die Möglichkeiten von Videosprechstunden genutzt haben und so die Bindung zu den Patienten wenigstens grundsätzlich aufrechterhalten konnten, war eine entsprechende Möglichkeit für Gruppenpsychotherapie zunächst nicht verfügbar. Argumente der Datensicherheit führten dazu, dass der Einsatz von Videoplattformen für Gruppenpsychotherapie bislang weder erlaubt noch abrechnungsfähig war. Mit Verweis auf einige Studien, die die Durchführbarkeit und Wirksamkeit videogestützter und telefonischer psychotherapeutischer Interventionen auch in Gruppen belegen, sowie auf positive Erfahrungen mit videogestützter Gruppenpsychotherapien im internationalen Kontext forderten der Berufsverband der Approbierten Gruppenpsychotherapien (BAG) gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie (D3G), dass in sozialen Notfallzeiten auch Online-Video-Therapie als befristete, vorübergehende Möglichkeit zur weiteren Durchführung von ambulanter Gruppenpsychotherapie zugelassen werden sollte. Denn – so die Argumentation – Gruppenpsychotherapie kann inhaltlich nicht durch Einzelkontakte adäquat ersetzt werden. Sie braucht wesentlich die affektive und kognitive Spiegelung sämtlicher Mitglieder der Gruppe. Als Hilfestellung für die je eigene Entscheidung der Gruppenleitung, wie eine Gruppe in Struktur und Prozess auch in einer solchen extremen Krisensituation wie der Corona-Pandemie gestaltet werden kann, dient das Schema aus dem Editorial des vorliegenden Buches (Abb. 1). Die durch die Krise auferlegten Modifikationen der strukturellen Rahmenbedingungen müssen in ihren spezifischen Auswirkungen auf den Prozess der jeweiligen Gruppentherapie angemessen berücksichtigt und reflektiert werden. So kann eine verantwortliche und konstruktive Gruppenleitung auch unter erschwerten Bedingungen gelingen. Die weitere Diskussion in der Fachwelt und hoffentlich auch folgende Studien werden in Zukunft die Möglichkeiten und Grenzen von videogestützter Gruppenpsychotherapie weiter erhellen. In der internationalen Literatur gibt es bereits Hinweise, wie sich videogestützte Möglichkeiten auf Struktur und Prozess einer Gruppentherapie auswirken und konzeptionalisiert werden könnten (vgl. z. B. Gentry et al. 2019; Weinberg und Rolnik 2020).

VIII

Vorwort

Leider gibt es bislang hierzulande kaum Forschung über die Auswirkungen dieser Modifikationen auf das deutsche Richtliniensystem. Wir wollen uns bemühen, in einer der hoffentlich folgenden Auflagen dieses Buches dazu zu referieren. Wir wünschen eine spannende und gute Reise durch die modernen Gruppenwelten! Dankwart Mattke Martin Pröstler

München im September 2020 Literatur Gentry, M. T., Lapid, M. I., Clark, M. M. & Rummans, T. A. (2019). Evidence for telehealth group-based treatment: A systematic review. J Telemed Telecare, 25 (6), S. 327–342. Weinberg, H. & Rolnik, A. (2020). Theory and Practice of Online Therapy: Internet-delivered Interventions for Individuals, Groups, Families, and Organizations. New York: Routledge, Taylor and Francis.

IX

Inhaltsverzeichnis 1

Editorial. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Dankwart Mattke und Martin Pröstler

I

Psychodynamische Psychotherapie in Gruppen: Tiefenpsychologische Psychotherapie

2

Psychosomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Martin Pummerer

3

Meine erste Gruppe und wie es weiterging . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Peter Wollschläger

4

Gruppe – wie geht das - bei mir? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Christian Willnow

5

Arbeit mit Märchen in der Gruppe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Hildegunde Georg

II

Psychodynamische Psychotherapie in Gruppen: Analytische Psychotherapie

6

Tanz ums Goldene Kalb oder Fight-Club?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Martin Pröstler

7

Analytische Gruppentherapie: Komplexbearbeitung in der Gruppe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Ulrich Stuck

III

Mentalisierungsbasierte Psychotherapie in Gruppen (MBT-G)

8

Mentalisierungsbasierte Psychotherapie in Gruppen (MBT-G). . . . . . . . . . . 95 Ulrich Schultz-Venrath

IV

Verhaltenstherapie in Gruppen

9

Die heilende Wirkung von Beziehung in Gruppen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Christiane Pennecke

X

Inhaltsverzeichnis

10

Ambulante verhaltenstherapeutische Gruppentherapie: störungs- und problemspezifische Konzepte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Michael Marwitz

V

Kombination von Einzel- und Gruppenpsychotherapie

11

Tiefenpsychologisch fundierte Gruppen in der Richtlinientherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Friederike Tamm-Schaller

12

Ein drittes Setting der ambulanten Psychotherapie – Einzeltherapie und Gruppentherapie in Kombination. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Dorothe Türk

13

Kombinierte psychodynamische Gruppen- und Einzelpsychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Bernd Klipp

14

Die Kombination Einzel- und Gruppentherapie: In der Theorie akzeptiert – in der Praxis vielschichtig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Michael Marwitz und Christiane Pennecke

VI

Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in Gruppen

15

Psychodynamische Gruppentherapie mit Kindern, Jugendlichen und ihren Bezugspersonen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Ursula Wienberg

16

Schematherapeutische Gruppentherapie mit Kindern/Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Christian Ferreira de Vasconcellos

VII Gruppenpsychotherapie in der ambulanten Rehabilitation/Nachsorge (Psy-Rena) 17

Psy-Rena: Gruppentherapie als Nachsorgekonzept, praktisch betrachtet aus tiefenpsychologisch fundierter Sicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Monique Friedrich und Jessica Hepp

18

Kontinuität von psychosomatischer Rehabilitation und psychotherapeutischer Nachsorge (PsyRENA). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Thomas A. Langens

XI Inhaltsverzeichnis

19



Die PsyRena-Gruppe in der Anwendung einer halboffenen Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Claudia Otto

VIII Organisation von Gruppenpsychotherapie 20

Organisation und Abrechnung von Gruppen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Brigitte Alt

IX

Typische Gruppenverläufe

21

Beispiele für typische Gruppenverläufe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Brigitte Alt

X

Forschung zu Gruppenpsychotherapie

22

Ausgewählte Aspekte der nationalen und internationalen Gruppenpsychotherapieforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Rainer Weber

Serviceteil Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Herausgeber- und Autorenverzeichnis Über die Herausgeber Dr. med. Dankwart Mattke Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse München, Deutschland [email protected]

Dipl.-Psych., Dipl.-Theol. Martin Pröstler Praxis für Psychoanalyse und Psychotherapie München, Deutschland [email protected]

Autorenverzeichnis Dipl.-Psych. Brigitte Alt

Dipl.- Psych. Bernd Klipp

Psychologische Psychotherapeutin Burgdorf, Deutschland [email protected]

Praxis für Psychotherapie Bremen, Deutschland [email protected]

Dipl.-Psych. Christian Ferreira de Vasconcellos

PD Dr. phil. Thomas A. Langens

Psychologischer Psychotherapeut mit Zusatzqualifikation Kinder/Jugendliche und Gruppen; Verhaltenstherapie Praxis für Psychotherapie Rodi Frankfurt am Main, Deutschland [email protected]

Tagesklinik am Hansaring Köln, Deutschland [email protected]

Dr. Dipl.-Psych. Michael Marwitz

Dr. Monique Friedrich

Leitender Psychologe/Leiter Therapie Schön Klinik Roseneck Prien am Chiemsee, Deutschland [email protected]

Psychologische Psychotherapeutin München, Deutschland

Dr.med. Dankwart Mattke

München, Deutschland [email protected]

Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse München, Deutschland [email protected]

Dipl.-Psych. Jessica Hepp

Dipl.-Psych. Claudia Otto

Psychologische Psychotherapeutin Ottobrunn, Deutschland [email protected]

Psychotherapeutische Praxis München, Deutschland [email protected]

Dr. med. Hildegunde Georg

XIII Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Dipl.-Psych. Christiane Pennecke

Dr. med. Friederike Tamm-Schaller

Psychologische Psychotherapeutin Berlin, Deutschland [email protected]

Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Erlangen, Deutschland [email protected]

Dipl.-Psych., Dipl.-Theol. Martin Pröstler

Dr. med. Dorothe Türk

Praxis für Psychoanalyse und Psychotherapie München, Deutschland [email protected]

Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse Köln, Deutschland [email protected]

Dr. med. Martin Pummerer

Dr. rer. medic. Dipl.-Psych. Rainer Weber

FA für Psychosomatische Medizin und Innere Medizin Nürnberg, Deutschland [email protected]

Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie Universitätsklinikum Köln (AöR) Köln, Deutschland [email protected]

Professor Dr. med. Ulrich SchultzVenrath Praxis für Psychosomatische Medizin, Psychoanalyse und mentalisierungsbasierte Gruppenpsychotherapie Universität Witten/Herdecke Köln, Deutschland [email protected]

Dipl.-Psych. Ursula Wienberg Psychologische Psychotherapeutin Markt Schwaben, Deutschland [email protected]

Christian Willnow Köln, Deutschland [email protected]

Dipl.-Psych. Ulrich Stuck Psychologischer Psychotherapeut München, Deutschland [email protected]

Dr. med. Peter Wollschläger Traunstein, Deutschland [email protected]



1

Editorial Dankwart Mattke und Martin Pröstler

1.1  Gruppenpsychotherapie ist anerkannt, aber in der ambulanten Praxis selten – 2 1.2  Formen ambulanter Gruppenpsychotherapie in diesem Buch – 2 1.3  Was wirkt in Gruppen thera­peutisch? Eine allgemeine formale Veränderungstheorie – 4 1.3.1  Anatomie und Physiologie von Gruppen: Struktur und Prozesse – 4 1.3.2  Prägende Struktur: Vorbereitung, Zusammensetzung und frühe Formierung der Gruppe – 6 1.3.3  Emergente Struktur: Gruppenentwicklung, Subgruppen und Normen – 6 1.3.4  Grundlegende sozialpsychologische Prozesse – 7 1.3.5  Emergente Prozesse: therapeutische Wirkfaktoren – 7

1.4  Spezifische formale Veränderungstheorien in Psychotherapiegruppen – 12 1.4.1  Störungs-, methoden- und einzelfallorientierte Gruppen – 12 1.4.2  Konflikt-, beziehungs- und interaktionsorientierte Gruppen – 12

1.5  Sozialpolitische Einflüsse und Kontexte – 14 1.6  Wegweiser durch das Buch – 17 Literatur – 18

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_1

1

2

1

D. Mattke und M. Pröstler

1.1  Gruppenpsychotherapie

ist anerkannt, aber in der ambulanten Praxis selten

Das Bild der Gruppenpsychotherapie in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland ist sehr ambivalent: Einerseits genießt die Anwendung psychotherapeutischer Verfahren in der Gruppe sowohl in der Fachwelt als auch bei Patienten, die Erfahrungen in Gruppentherapien gemacht haben, insgesamt einen guten Ruf. Viele Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten haben selbst langjährige Praxis in Selbsterfahrungsgruppen, organisieren sich berufsbegleitend in Qualitätszirkeln und Intervisionsgruppen, und auch in den meisten psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildungen finden sich in vielfältiger Weise Gruppenformate. Der Blick in die konkrete Versorgungslandschaft liefert allerdings ein ganz anderes Bild, das mit der hohen Wertschätzung, die „der Gruppe“ landläufig entgegengebracht wird, nicht in Einklang zu bringen ist: Heute sind in Deutschland etwa 8.500 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zur ambulanten Gruppenpsychotherapie im kassenärztlichen Versorgungssystem (KV-System) zugelassen. Nach Zahlen von Heuft und Knott (2019) und Walendzik (2011) bieten jedoch nur etwa 300 von diesen Kolleginnen und Kollegen auch tatsächlich Gruppenpsychotherapie nach den Psychotherapie-Richtlinien in ihrer Praxis an. Während bis 1993 noch 9,7 % aller ambulanten psychotherapeutischen Behandlungen im Gruppensetting erfolgten (Enke 1998), wird nach der Frequenzstatistik heute nur mehr rund ein Prozent (!) der von den Krankenkassen finanzierten Psychotherapie in der Gruppe durchgeführt. Warum diese Kluft so tief ist, welche Hindernisse (z. B. administrativer und organisatorischer Aufwand, Raumfragen) dafür verantwortlich gemacht werden können und welche Motive bei den niedergelassenen Gruppenpsychotherapeutinnen und -therapeuten bei der Entscheidung für oder gegen

Gruppenangebote eine Rolle spielen, wird derzeit in Deutschland in einer flächendeckenden Studie (BARGRU-Studie), gefördert vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), empirisch untersucht (Heuft und Knott 2019). Der G-BA, dem Gesundheitsministerium nachgeordnet als oberstes Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung aller Ärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland, hat diesen gravierenden Sachstand zumindest erkannt und mit der Überarbeitung der Psychotherapie-Richtlinien zum 1. April 2017 die Gruppenpsychotherapie gefördert. Seitdem sind in allen Richtlinienverfahren Gruppentherapien mit drei bis neun Teilnehmern unabhängig vom Alter möglich. Außerdem wurde zum 1. Juli 2017 durch eine neue Vergütungssystematik die Gruppentherapie für die Leistungserbringer (Gruppentherapeuten) lukrativer gestaltet. Ob diese strukturellen Verbesserungen bereits zu einem Anstieg der gruppentherapeutischen Angebote in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung führen, ist zum heutigen Zeitpunkt noch nicht absehbar. Eines ist jedoch klar: Auf dem Weg zu einer besseren psychotherapeutischen Patientenversorgung kann und muss die ambulante Gruppenpsychotherapie in Zukunft eine viel wichtigere Rolle spielen als heute (Sulz et al. 2019). 1.2  Formen ambulanter

Gruppenpsychotherapie in diesem Buch

Hier setzt dieses Buch an: Vor Ihnen liegt ein Plädoyer für Gruppenangebote in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung. Versammelt sind vielfältige Erfahrungen von Autorinnen und Autoren, die alle in ihrer Praxis ambulante Gruppen anbieten. Das Konzept des Buches grenzt gleichzeitig ein und aus: Ausgegrenzt werden alle Formen ambulanter Gruppen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie Selbsterfahrungsgruppen beispielsweise im Feld der

3 Editorial

Erwachsenenbildung und Therapiegruppen, die für Selbstzahler angeboten werden. Eine weitere Form, die ebenfalls nicht in dieses Buch aufgenommen wurde, ist die Gruppentherapie im sogenannten „Erstattungsverfahren“: Hier übernehmen die Krankenkassen die Kosten, ohne dass eine Überprüfung an den Richtlinien vorgenommen wird. Über Umfang und Relevanz dieser Leistung liegen keine verlässlichen oder gar publizierten Statistiken vor. Man geht davon aus, dieser Bereich sei etwa gleich umfangreich wie die Psychotherapien innerhalb der Richtlinien. Die Beiträge in diesem Buch handeln von Gruppen, die im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) finanziert werden. Diese Angebote sind nach den Richtlinien des G-BA „genehmigungspflichtig“ und unterliegen dem sogenannten Gutachter-Verfahren, das in der „Psychotherapie-Vereinbarung“ nach SGB V geregelt wird.  Dazu kommen drei Beiträge zum Modell „Psy-RENA“: Das sind Gruppentherapien, die von der „Deutschen Rentenversicherung Bund“ (DRV-Bund) finanziert werden. Dieses Nachsorgeangebot „Psy-RENA“ steht für Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit psychischen Erkrankungen zur Verfügung. Im Jahre 2015 hat die Deutsche Rentenversicherung ein trägerübergreifendes Rahmenkonzept für die Nachsorge nach medizinischer Rehabilitation auf Grundlage § 15 SGB VI verabschiedet. Um „Psy-RENA“ flächendeckend anbieten zu können, werden bundesweit Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten gesucht. Voraussetzung für eine Registrierung als Psy-RENA-Anbieter ist neben der Approbation ein Kurs bei der Deutschen Rentenversicherung, der die notwendigen Kenntnisse der Teilhabeleistungen der Sozialversicherungsträger sowie sozialmedizinische Grundbegriffe vermittelt. Nach bisherigem Stand existiert für dieses verfahrensübergreifende Angebot noch kein den „Psychotherapie-Vereinbarungen“  und den „Psychotherapie-Richtlinien“ vergleichbares Regularium.

1

Um nach der Approbation als Psychotherapeut Gruppenpsychotherapie nach den Psychotherapie-Richtlinien anbieten zu können, ist eine Zusatzqualifikation aufbauend auf einer sozialrechtlich anerkannten Qualifikation in einem der drei Grundverfahren erforderlich. Die Genehmigung zur Gruppenbehandlung wird für das jeweilige Verfahren (Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, analytische Psychotherapie) erteilt. Dies geschieht in der Regel durch die jeweilige regionale kassenärztliche Vereinigung (KV). Die fachlichen Voraussetzungen, die gegenüber der regionalen KV (!) nachgewiesen werden müssen, um Gruppenpsychotherapie im jeweiligen Richtlinienverfahren anbieten zu können, sind: 5 40 Doppelstunden analytische oder tiefenpsychologisch fundierte oder verhaltenstherapeutische Selbsterfahrung in der Gruppe, 5 24 Doppelstunden Theorie der Gruppen-Psychotherapie und Gruppen-Dynamik, 5 60 Doppelstunden selbstdurchgeführte Gruppenbehandlung mit analytischer Psychotherapie, tiefenpsychologisch fundierter oder Verhaltenstherapie unter Supervision von mindestens 40 Stunden (Psychotherapie-Vereinbarung Teil B § 5 für ärztliche Psychotherapeuten, § 6 für psychologische Psychotherapeuten, § 7 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten). In den beiden psychodynamischen Verfahren gilt somit die Zulassung für die Abrechnung je nach abgeschlossener Fachkunde tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bzw. analytische Psychotherapie.  Das hat damit zu tun, dass die einzeltherapeutische Fachkunde die Voraussetzung für die Fachkunde „Gruppenpsychotherapie“ ist und damit die Gruppenpsychotherapie jeweils die Anwendung eines der drei Grundverfahren darstellt.

4

1

D. Mattke und M. Pröstler

1.3  Was wirkt in Gruppen thera­

peutisch? Eine allgemeine formale Veränderungstheorie

Während alltagssprachlich der Begriff „Gruppe“ für eine Vielzahl von sozialen Systemen und Phänomenen – von der Fußballmannschaft bis hin zur Kategorie „Gruppe der Nichtraucher“ – gebraucht wird, hat insbesondere die sozialpsychologische und sozialwissenschaftliche Forschung differenzierte Perspektiven auf das Phänomen „Gruppe“ entwickelt (Stürmer 2009; Sader 1991). Für die meisten Sozialpsychologinnen und -psychologen ist heute die subjektive Sicht der Gruppenmitglieder, Teil einer Gruppe zu sein, ein zentrales Definitionskriterium (Tajfel und Turner 1986). Zur Differenzierung und zum Verständnis von unterschiedlichen Gruppenprozessen dient die Kategorisierung nach Gruppengröße.  Demnach haben Kleingruppen zwischen drei und zwölf Teilnehmende. Diese Gruppengröße findet sich auch in den therapeutischen Gruppen, um die es in diesem Buch gehen soll. Mittlere Gruppen mit 12 bis 24 Teilnehmenden gelten in der Gruppendynamik als ideale Gruppengröße beispielsweise für Seminare und psychoedukative Formate. Großgruppen mit über 25 Mitgliedern zeichnen sich vor allem durch steigende Komplexität und Unübersichtlichkeit aus. In der gruppenanalytischen Tradition sind insbesondere niedrigstrukturierte Großgruppen ein bewährtes Format, um regressive Gruppenprozesse zu erfahren und zu erforschen (Schneider und Weinberg 2003). So werden auch Gruppenphänomene in der Gesellschaft oder in Organisationen, die sich beispielsweise durch wachsende Anonymität, einen hohen individuellen Angstpegel und verschiedene hierarchische Effekte kennzeichnen, dem Erleben und der Reflexion zugänglich. Therapeutische Prozesse im engeren Sinne lassen sich in diesem Setting zwar meist nicht mehr sinnvoll gestalten, in einer moderat durchgeführten Form können

Großgruppen aber durchaus ein therapeutisch günstiges Klima unterstützen, indem sie als Ort des Austausches und der Reflexion über Atmosphäre und Rahmenbedingungen, zum Beispiel in einer Klinik oder einer Organisation, dienen (Mattke et al. 2017). Was genau passiert in Kleingruppen? Und weiter gefragt: Kann das, was in Kleingruppen passiert, von therapeutischem Nutzen sein? Für erfahrene Gruppentherapeuten ist die Frage, ob und wie Gruppen wirken, scheinbar trivial. Allerdings lohnt der genaue Blick: Die Empirie (Mattke und Weber 2020) liefert mittlerweile eine Vielzahl von Belegen, dass – ganz unabhängig von der theoretischen Orientierung der Gruppenleitung – bestimmte intrinsische Gruppeneigenschaften und Gruppenprozesse wirksam sind. Burlingame et al. (2008) stellen ein Schema vor, das verschiedene Struktur- und Prozesselemente von Kleingruppen differenziert (. Abb. 1.1). Dieses Schema haben wir allen Autorinnen und Autoren als „kognitive Landkarte“ für die Beschreibung der eigenen Gruppe an die Hand gegeben, und es kann sowohl bei der Lektüre des vorliegenden Buches als auch bei Überlegungen zum Aufbau und zur Gestaltung eigener therapeutischer Gruppen hilfreich sein. 1.3.1  Anatomie und Physiologie

von Gruppen: Struktur und Prozesse

Das Schema (. Abb. 1.1) unterscheidet nach der medizinischen Terminologie die Anatomie, verstanden als Gruppenstruktur, und die Physiologie, verstanden als Gruppenprozesse. Auf beiden Ebenen lassen sich sowohl vorgegebene Elemente wie auch emergente (lat. emergo, emergere  = auftauchen, herauskommen) Bestandteile einer Gruppe, die infolge des Zusammenspiels der verschiedenen Elemente entstehen, beschreiben. Damit wird verdeutlicht, dass Kleingruppen – vergleichbar mit lebenden Organismen – ein Eigenleben mit beschreibbaren

5 Editorial

1

Gruppenstruktur – Anatomie Gruppe als Vehikel für Veränderungen

Emergente Struktur:

Vorgegebene Struktur: Gruppenvorbereitung

Gruppenentwicklung Subgruppen Normen

Frühe Formatierung der Gruppe Zusammensetzung der Gruppe

Formale Veränderungstheorie

Inhalt, Form & Struktur der Gruppeneigenschaften und -prozesse

Grundlegende sozialpsychologische Prozesse:

Patienten- & Therapeutenfaktoren

Emergente Prozesse: Therapeutische Faktoren

Reziproke Rollen

Interpersonales Feedback

Konformität, Macht & Konflikt

Selbstöffnung

Leistung

Kohäsion – Klima

Entscheidungsfindung

Gruppenprozesse – Physiologie Interpersonaler Austausch als Veränderungsmechanismus

. Abb. 1.1  Anatomie und Physiologie von Kleingruppen (adaptiert nach Burlingame et al. 2004; Copyright: Wiley, mit freundlicher Genehmigung). Das Schema konzipiert Kleingruppen als Organismen, die ein Eigenleben mit identifizierbaren Eigenschaften und Prozessen führen. Form, Inhalt und Struktur von Gruppen sind im Zentrum abgebildet. Die formalen Veränderungstheorien, an denen sich Gruppenleiter orientieren, haben auf Gruppeneigenschaften und -prozesse ebenso Einfluss wie die Merkmale der einzelnen Mitglieder und der Gruppenleiter. (aus Strauß und Mattke 2018)

Eigenschaften und Prozessen führen. Bei aller möglichen Vorbereitung und Formatierung werden Gruppen typischerweise ihre eigene „Persönlichkeit“ oder charakteristische Funktionsweisen entwickeln. In der sogenannten GRAS-Studie beispielsweise, in der gruppenanalytisch geführte Therapien

begleitend untersucht wurden, zeigte sich, dass verschiedene Gruppen, die jeweils denselben Gruppenleiter hatten, sowohl vom Leiter als auch von den Gruppenmitgliedern unterschiedlich erlebt wurden (Strauß und Kirchmann 2004). Vielleicht schreckt auch diese Unberechenbarkeit von Gruppen viele

6

1

D. Mattke und M. Pröstler

Therapeutinnen und Therapeuten davon ab, Gruppen in der ambulanten Praxis zu leiten. Im Zentrum des Schemas stehen Form, Inhalt und Struktur der jeweiligen Gruppeneigenschaften und -prozesse, die jede Gruppe unverwechselbar machen. Sowohl die formale Veränderungstheorie, an denen sich die Gruppenleitung orientiert, als auch die Merkmale der einzelnen Mitglieder (Patientenund Therapeutenfaktoren) haben auf dieses „Gruppenmilieu“ entscheidenden Einfluss. 1.3.2  Prägende Struktur:

Vorbereitung, Zusammensetzung und frühe Formierung der Gruppe

Auf der Ebene der Anatomie einer Gruppe lassen sich als Strukturelemente, die durch explizite Entscheidungen der Gruppenleitung geprägt werden, die Vorbereitung, die Zusammensetzung und die frühe Formierung der Gruppe unterscheiden. Eine Vielzahl von empirischen Belegen (Piper und Perrault 1989) deutet daraufhin, dass eine sorgfältige Gruppenvorbereitung positive Effekte sowohl auf die Behandlungserwartung, auf die Ausbildung von Gruppenregeln sowie auf die Entwicklung einer günstigen Kohäsion in der Gruppe hat. Wenn potenzielle Mitglieder über die Vielfalt in der Gruppe sowie mögliche Gruppenprozesse (wie eine Gruppe „funktioniert“) informiert werden, reduziert sich die Angst vor dem Schritt in die Gruppe. Hilfreich kann beispielsweise auch das konkrete Eingehen auf verbreitete Missverständnisse (z. B. „Wenn ich die Probleme anderer Menschen höre, geht es mir erst recht schlecht“ oder „In der Gruppe habe ich bestimmt nicht genügend Platz für meine eigenen Themen“) sein. Mittlerweile gibt es vielfältige Methoden, die eine gute Vorbereitung von Gruppenmitgliedern unterstützen. So hat die American Group Psychotherapy Association (AGPA) eine sogenannte „CORE-Battery“ vorgelegt,

die konkrete Anregungen liefert (7 www.agpa. org; Burlingame et al. 2006; Strauß und Mattke 2018). Für den deutschsprachigen Raum ist eine manualisierte Gruppenvorbereitung publiziert worden (Mattke et al. 2015). Die Zusammensetzung von Gruppen unterscheidet sich in der Praxis erheblich, was auch die Beiträge im vorliegenden Buch zeigen. Es gibt Gruppen, die hinsichtlich der Diagnosen und Störungsbilder sowie auch der Persönlichkeitseigenschaften der Mitglieder sehr homogen zusammengesetzt sind, andere Gruppen sind sehr vielfältig. Die empirischen Befunde und Empfehlungen sind an dieser Stelle nicht einheitlich und fordern weitere Untersuchungen (Piper 1994; Burlingame et al. 2008). In der Praxis scheint es Konsens zu sein, dass es eher ungünstig ist, wenn sich einzelne Gruppenmitglieder grundlegend und isoliert von den übrigen in wesentlichen Merkmalen (z. B. Alter, Geschlecht, Strukturniveau, Diagnose, sexuelle Orientierung) unterscheiden. Viele erfahrene Gruppentherapeuten achten auf das „Arche-Noah-Prinzip“, nachdem immer mindestens zwei sich ähnliche Menschen in der Gruppe sein sollten. Die Frage nach der „frühen Formierung“ zielt auf die Etablierung einer Gruppenstruktur, die angstreduzierend wirkt und die Arbeit der Gruppe unterstützen soll. Manche Praktiker setzen dafür regelhaft bestimmte Methoden ein, wie zum Beispiel das sogenannte „Blitzlicht“, bei dem jedes Gruppenmitglied reihum und kurz Affekte und/oder Eindrücke zum Gruppenprozess schildert (Türk 2018). 1.3.3  Emergente Struktur:

Gruppenentwicklung, Subgruppen und Normen

Jede Gruppe entwickelt eine eigene Struktur, die im Zusammenspiel von gesetzten Rahmenbedingungen der Gruppenleitung, den Merkmalen der einzelnen Gruppenmitglieder sowie den spezifischen Interaktionen innerhalb der Gruppe im Laufe

7 Editorial

der Zeit entsteht. In der Literatur (beispielsweise MacKenzie 1997) finden sich verschiedene Phasenmodelle, die oft als lineare Muster, zum Beispiel von Unverbundenheit zur Verbundenheit oder von wenig Engagement hin zu viel Engagement in der Gruppe, beschrieben werden. Kennzeichen für spezifische Gruppenentwicklungen sind die Ausbildung von Subgruppen sowie von expliziten und impliziten Normen und Regeln in der Gruppe. Phasenmodelle der Gruppenentwicklung werden auch als Anhaltspunkte für Interventionen formuliert.  Demnach soll beispielsweise eine Gruppe in einer „frühen Entwicklungsphase“ nicht durch übermäßiges Schweigen oder provokante Deutungen „überfordert“ und damit in ihrer Entwicklung gehemmt werden. Eine epigenetische Perspektive geht von der Grundannahme aus, dass eine erfolgreiche Bewältigung früher Gruppenphasen für den Entwicklungsfortschritt in späteren Phasen notwendig sei. Auf eine „Orientierungsphase“ (geprägt durch Fokussierung auf die Gruppenleitung) folgt zum Beispiel eine „Phase der Differenzierung“ (Konflikte in der Gruppe nehmen zu), nach einer „Normierungsphase“ (Kohäsion nimmt zu) tritt die Gruppe in die eigentliche „Arbeitsphase“ ein, und schließlich wird der Abschied vorbereitet, indem gemeinsame Erfolge betont werden und das Ende der Gruppe sichtbar wird. Auch eine einzelne Sitzung kann einer solchen Rhythmik folgen. Beispielsweise ist jede einzelne Gruppensitzung durch die Phasenabfolge von Eröffnung, Arbeitsphase und Abschiedsbzw. Schlussphase geprägt. Obwohl die in der Literatur vorgestellten Modelle der Gruppenentwicklung sehr verschieden sind, scheint es empirische Belege für eine solche Sicht auf die phasenspezifische Entwicklung von und in Gruppen zu geben. Offen bleibt allerdings noch die Frage, in welchem Zusammenhang die Interventionen auf Gruppenebene mit den Veränderungen der Gruppenstruktur stehen (Burlingame et al. 2008).

1

1.3.4  Grundlegende

sozialpsychologische Prozesse

Auf der Ebene der Gruppenprozesse (im vorliegenden Schema verstanden als „Physiologie“ der Kleingruppe) lassen sich zunächst allgemeingültige Phänomene der Sozialpsychologie beobachten und beschreiben: In jeder Gruppe von Menschen – also auch in Therapiegruppen – kommt es zur Ausbildung von geteilten Erwartungen, wie sich bestimmte Gruppenmitglieder verhalten (sollen), und es bilden sich Rollen, die aufeinander reziprok bezogen sind (z. B. „Opfer“ und „Täter“). Das Erleben von Konformitätsdruck, dem das Individuum in einer Gruppe ausgesetzt ist, der Umgang mit zwischenmenschlichen Konflikten und die Reflexion von Gefühlen der Macht und Ohnmacht sind wesentliche Themen, die auch in Therapiegruppen verhandelt werden. Erstaunlich ist, dass nach wie vor wenig interdisziplinärer Dialog zwischen der Sozial- und der Organisationspsychologie, die sehr differenzierte Erkenntnisse zu Gruppenprozessen geliefert haben, und der Gruppenpsychotherapie stattfindet. 1.3.5  Emergente Prozesse:

therapeutische Wirkfaktoren

Die beschriebene Gruppenstruktur („Anatomie“) bildet den Rahmen für die Entwicklungsprozesse der jeweiligen Gruppe und die Interaktionen innerhalb der Gruppe, die wesentlich sowohl für die Entwicklung der Gruppe als Ganzes als auch für die individuellen Veränderungsprozesse der Gruppenmitglieder sind. Eine zentrale Rolle dabei nimmt die Gruppenleitung ein, deren professionelle Aufgabe es ist, die sehr komplexe Welt der jeweiligen Gruppe inhaltlich zu formen. Dazu sind intensive Ausbildung, Selbsterfahrung, Supervision und lebenslanges professionelles Training notwendig.

8

1

D. Mattke und M. Pröstler

Praktisch erfolgt die Professionalisierung zur therapeutischen Arbeit mit Gruppen in Deutschland durch eine schulenabhängige Ausbildung als Einzeltherapeut und eine folgende Weiterbildung als Gruppentherapeut. Dabei unterscheiden sich sowohl die theoretischen Modelle und Veränderungskonzepte als auch die behandlungstechnischen Konsequenzen, die den verschiedenen Richtlinienverfahren zugrunde liegen, erheblich. Die psychodynamischen Verfahren (tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und analytische Psychotherapie) betonen in ihrer formalen Veränderungstheorie die Einsicht: Erkenne dich selbst! Unbewusste Prozesse, Konflikte und Motive stehen dabei im Fokus. Dem gegenüber betont die Verhaltenstherapie die adaptive Verhaltensmodifikation: Verhalte dich sinnvoller! Hierbei steht die Arbeit mit handlungsleitenden Kognitionen und Verhaltensweisen im Vordergrund. Beide in diesem Buch beschriebenen Verfahren haben Methoden entwickelt, mit dem Setting „Gruppe“ zu arbeiten. Beide nutzen dabei in der Anwendung ihrer Verfahren auf das Setting „Gruppe“ die sogenannten „Gruppenwirkprinzipien“. Wie diese allgemeinen Wirkfaktoren zu spezifischen Wirkfaktoren oder therapeutischen Faktoren für das jeweilige Verfahren werden können, soll im Folgenden erläutert werden. Die beiden Schulen (Verhaltenstherapie und psychodynamische Verfahren) teilen die Annahme, dass in entsprechend geleiteten Gruppentherapien spezifische therapeutische Faktoren als ein Spezialfall allgemeiner Wirkfaktoren von Psychotherapie initiiert werden können. Diese Faktoren wurden entwickelt, um eine Vorstellung von den therapeutischen Mechanismen zu bekommen, die spezifisch in Kleingruppen wirksam sind. Bedenkt man, dass es eine Reihe von Belegen dafür gibt, dass sich die Auffassungen von Gruppenmitgliedern über den Therapieverlauf fortwährend verändern, ist es unwahrscheinlich, dass eine einmalige Klassifikation von therapeutischen Faktoren eine Gruppe wirklich ausreichend charakterisieren kann. Dies

bedingt, dass die empirischen Befunde zu therapeutischen Faktoren bisher bestenfalls als „uneinheitlich“ klassifiziert werden können. Trotzdem haben sich die Yalom’schen Wirkfaktoren (Yalom 2005) oder heute meist therapeutische Faktoren genannten veränderungswirksamen Faktoren in Gruppentherapien im klinischen Sprachgebrauch weitgehend durchgesetzt. Wir wollen darum für das vorliegende Buch einen Vorschlag von MacKenzie (1997) aufgreifen. Dieser Autor und in Anlehnung an dieses Konzept auch Mattke et al. (2017) haben diese Faktoren leicht modifiziert und rearrangiert zu vier klinisch über die Schulen hinweg handbaren therapeutischen Faktoren in Gruppentherapien. Diese sind:

Supportiver Faktor, Selbstöffnung und Katharsis, interpersonelles Lernen, psychologische Arbeit Die ersten drei dieser Wirkfaktoren gelten als settingspezifische Wirkfaktoren einer Gruppentherapie. In der Gruppentherapie kommen zu den methodengebundenen (verhaltenstherapeutisch, psychodynamisch) und allgemeinen Wirkfaktoren die an das Setting gebundenen Wirkfaktoren hinzu. Letztere sind aktiviert, sobald eine Gruppe vorhanden ist. Sie wirken auch dann, wenn etwa in einer Gruppe bei einer Expositionsübung die Gruppe „nur zuschaut“. a. Supportives Klima herstellen Die Dichotomie von Einsicht auf der einen Seite und Unterstützung auf der anderen Seite gilt als überholt. Unterstützende (supportive) Interventionen werden heute als Voraussetzung in allen Formen von Psychotherapie angesehen. Der Faktor „therapeutische Beziehung“ wird in allen Formen der erforschten Therapien als universeller Wirkfaktor angesehen. Die historische Trennung dieser beiden therapeutischen Einstellungen resultiert aus Erfahrungen in der Behandlung von Patienten, denen die Fähigkeit zur Selbstreflexion und zu

9 Editorial



selbstreflexiven Einsichten nicht oder noch nicht zur Verfügung steht. Diese Patientengruppen profitieren nachweislich mehr von unterstützenden und ermunternden Interventionen, die bei nicht so kranken Menschen als zu gratifizierend für infantilere Bedürfnisse wirken können. Diese Patientengruppe würde dann im therapeutischen Veränderungsprozess unterfordert in der Entwicklung ihrer Eigeninitiativen.  So entstand historisch eine Form von psychodynamischer Technik, auch in der Gruppe, die sich auf Interpretation der Übertragung als alleinige veränderungsrelevante Intervention beschränkt. Es wurde dabei eine Zeit lang die Tatsache übersehen, dass das Annehmen und Verstehen von Interpretationen und die Einsicht in Erleben und Verhalten erst dann im therapeutischen Prozess auftreten können, wenn Patienten sich sicher, akzeptiert, zugehörig, und aufgehoben fühlen. Die Bindungstheorie beschreibt diese Dynamik als „sichere Basis“, von der aus die Exploration von interpersonellen und intrapsychischen Beziehungswelten fortschreiten kann (eine Übersicht dazu gibt es in Strauß et al. 2007). Dieses Gefühl wird bei Patienten initiiert durch eine therapeutische Haltung von Respekt, Interesse und selektivem Antworten (HeiglEvers 1983; Staats et al. 2017). Man kann wohl davon ausgehen, dass heute diese therapeutische Haltung in allen modernen Therapieformen praktiziert wird. Man könnte auch ganz allgemein von Regeln der Höflichkeit, der Menschlichkeit und Beachtung der Würde sprechen, um das Gefühl der Sicherheit in einer Gruppe bei dem Teilnehmer oder der Teilnehmerin zu entwickeln, das Gefühl der Zugehörigkeit. In der Begrifflichkeit der Objektbeziehungstheorie handelt es sich um „Holding“ und „Containing“, also um haltende und verstehende Einstellungen seitens des Therapeuten. Nach und nach wird die Gruppe dann selber dieses



1

Grundelement des gegenseitigen Respekts für einander und der Zugehörigkeit zueinander entwickeln und übernehmen Das Gefühl, nicht so isoliert, entfremdet und allein zu sein in einer Gruppe, sondern dazuzugehören zu einem Projekt, in dem alle Teilnehmer gemeinsame Interessen und gewisse Ähnlichkeiten haben, ist wesentlich. Diese Gemeinsamkeit besteht ganz einfach darin, dass Teilnehmende an einer Gruppentherapie bei aller individuellen Heterogenität das gemeinsame Ziel haben, ihre Probleme zu lösen, derentwegen sie in die Therapiegruppe kommen. Faktoren, die zur Entwicklung von Kohäsion, also Zusammengehörigkeitsgefühl beitragen, sind Altruismus und das Initiieren von Hoffnung. Altruismus wird verstanden als die Erfahrung, trotz eigener Krankheit in einer Gruppe Wertvolles an andere weitergeben können. Natürlich gibt es leider auch eine andere Seite der Medaille: Es erfüllt und führt zu mehr Selbstakzeptanz, wenn ich anderen Tipps und Hinweisen geben kann, die offenbar hilfreich sind. Aber: In frühen Phasen einer Gruppentherapie können solche Ratschläge auch Hiebe (Rat-Schläge!) sein und Abwehrfunktionen verstärken. Der Berater versteckt sich dann hinter seinen Ratschlägen und öffnet sich selbst nicht mit seinen eignen Problemen. Gefühle von Hoffnung auf Veränderung werden in frühen Phasen der Gruppenentwicklung erfahren, wenn sich Veränderungen bei anderen oder den Betreffenden selbst anbahnen. Es geht hier oft um spontane und ganz nebenbei gesprochene Mitteilungen wie „ich kann etwas besser schlafen“ oder „ich komme mit meiner Frau/den Kinder etwas besser zurecht“ oder „ich war heute nicht gleich eingeschnappt, als mir mein Chef/eine Kollegin etwas Kritisches sagte“ oder „Mir geht es auch so, wie Kathrin hier erzählt hat“. Solche Veränderungen werden in frühen Phasen der Gruppenentwicklung noch nicht zu verstehen

10

1

D. Mattke und M. Pröstler

sein im Sinne von Einsicht nach psychologischer Arbeit. Sie passieren „einfach“ in einem Klima emotionaler Sicherheit, in dem ein Austausch über gemeinsame Probleme und Kümmernisse möglich wird. Das kann erleichtern, entspannen, entkrampfen, eben Hoffnung auf Veränderungsbereitschaft vermitteln und Mut machen. b. Bereitschaft zur Selbstöffnung und Katharsis Etwas von sich in einer Gruppe zu sagen bzw. im Verhalten zu zeigen, braucht neben einem basalen Sicherheitsgefühl immer auch Mut. Auch für sich genommen relativ harmlose, aber irgendwie eigentümliche Verhaltensweisen und Ansichten in einer Gruppe mitzuteilen ist uns peinlich, wenn der soziale Kontext noch der einer sich gerade formierenden Gruppe ist und es so eine Mitteilung gegenüber noch fremden Menschen ist. Emotionale Öffnung in frühen Phasen der Gruppentherapie kann nicht selten starke Gefühle auslösen. Es werden Emotionen freigesetzt, die ihrerseits das Gefühl der Befreiung, Erleichterung und Entlastung bewirken, wenn die sich bildende Gruppenkohäsion diesen Prozess trägt und mit Respekt begleitet. In den Aufführungen altgriechischer Tragödien wurde dieser Vorgang „Katharsis“ (in etwa: Reinigung, Abreagieren) genannt. Wenn aber die Selbstöffnung zur „Selbstenthüllung“ wird, unter Umständen mit einem Abreagieren von lange aufgestauten Emotionen (oder gar traumatischen Erzählungen), dann können Schamprozesse bei den Betreffenden oder Teilnehmern der Gruppe die Folge sein. Das kann leider zu einem Abbruch der Gruppentherapie oder einem langen Verstummen hinsichtlich Selbstöffnung führen. Oder: das Mitgeteilte (Abreagierte) kann nicht verstanden und durchgearbeitet werden. Darum ist es Aufgabe der Gruppenleitung, die Pro-

zesse der Selbstöffnung, Katharsis und Kohäsionsbildung sorgfältig, geduldig und sensibel zu steuern. Patienten sollten im Gruppenprozess soweit wie möglich selbst testen und einschätzen können, ob für das Mitteilen sehr persönlicher Gefühle und Verhalten die Zeit in der Gruppenentwicklung schon reif ist. c. Interpersonelles Lernen Von den sogenannten therapeutischen Faktoren in der Gruppenpsychotherapie greifen wir jetzt noch das interpersonelle Lernen heraus, auch deshalb, weil sich in diesem Faktor die für unser Buch relevanten formalen Veränderungstheorien gut verknüpfen (Mattke et al. 2017; Marwitz 2016): Es wurde bisher angenommen, dass viele Elemente beim Lernen zunächst kognitiv verlaufen, worauf vor allem die Entwicklung kognitiv-behavioraler Therapieformen aufbaute. Allerdings haben neuere neuropsychologische Forschungsergebnisse zeigen können, dass wir mit den Primaten gemeinsam über das System der Spiegelneurone verfügen (Rizzolati und Sinigaglia 2008). Dieses System ermöglicht von Geburt an das Probehandeln, d. h. ein ausgeprägtes Beobachtungslernen mit anschließender Imitation. Die Steuerung erfolgt wohl über das limbische System, wenn auch unter Beteiligung kortikaler Strukturen. Daraus folgt der wichtige Hinweis für die Praxis der Gruppentherapie, Patienten genügend Zeit und Raum zu lassen, damit sich das Gefühl persönlicher Sicherheit in der Gruppe entwickeln kann. Es gibt mindestens die folgenden vier Typen von Lernen in Gruppen: I. Lernen im engeren Sinne, Lernen in Gruppen zu arbeiten, das heißt ein Stück Disziplinierung und Erziehung zur gemeinschaftlichen Arbeit an Emotionen und Kognitionen II. Aufklärung, Rat, Information und Konsultation unter den Gruppenteilnehmern

11 Editorial

III. Lernen am Modell: Wie machen es andere in ähnlichen Situationen? IV. Das Einüben von neuem Verhalten. – Zu I: Die initiale Strukturierung der Gruppe durch den Therapeuten ist ein Lernen, wie man eine Gruppe am besten für sich nutzen kann. Die Arbeitsempfehlung, eigene Gefühle und Gedanken mitzuteilen und nicht den anderen hauptsächlich Fragen zu stellen, ist beispielsweise eine Intervention, die anleiten und ermuntern kann: eine zum ausprobierenden Lernen auffordernde Intervention. – Zu II: Die Teilnehmenden geben sich gegenseitig Empfehlungen und Rat. Meistens ist ihnen Ähnliches schon außerhalb einer Gruppentherapie geraten worden. Allerdings kann das in einer Gruppe durchaus anders verlaufen: Der Schlüssel ist die besondere Haltung und Beziehung, in der eine Empfehlung gegeben wird. Worte und Erzählungen sind höchst kontextabhängig. Patienten lernen und beobachten bei sich und anderen, wenn die Worte etwas anderes mitteilen als ihre Gebärden, Gesten, Augenkontakt und Stimmlage. Wir sind, wie uns die Neurobiologie lehrt, „soziale Tiere“ mit ausgefeilten Kommunikationsund Interaktionsstrategien. In einer Gruppe sind es eben nicht nur die Sprachsignale und ihre Inhalte, die auf den verschiedenen Kommunikationskanälen sinnlich affektiv erfahren und kognitiv verarbeitet werden. – Zu III: Der Gruppentherapie-Prozess wurde in einer Metapher von Foulkes (1992) verglichen mit einem Saal voller Spiegel, in denen Patientinnen und Patienten kontinuierlich und gleichzeitig Aspekte von sich selbst und anderen sehen und beobachten können. So können sie am Modell von anderen sehen, beobachten und lernen, wie andere in ähnlichen





1

Situationen agieren. Sie sehen und erleben sich selbst in anderen wieder. Sie sehen und erleben gelungene und weiterführende Kommunikation, aber auch, wie selbstzerstörerisch und destruktiv Menschen miteinander umgehen können, wie andere Menschen Chancen nutzen, aber auch verpassen können und wie sie selbst in ähnlichen Situationen agiert haben. Eine typische Mitteilung: „Hans, du verhältst dich hier so, wie ich es auch oft tue, und du bekommst offenbar auch ähnliche Antworten und Reaktionen.“ – Zu IV: Schließlich ist die vierte Lernform das Einüben von neuem Verhalten, eine im engeren Sinne aktive gruppendynamische Lernform. Patienten und Patientinnen probieren und wagen neues Verhalten, indem sie beispielsweise die erste Lernform praktizieren und statt Fragen zu stellen mutig das kommentieren, was sie bei anderen beobachten und bei sich selbst dabei fühlen. In Kohuts Selbstpsychologie gibt es den Begriff der „Zwillingsübertragung“, der manche dieser Phänomene verstehen hilft (Kohut 1977). Zusammengenommen sind alle diese Lernformen typisch für Gruppentherapien. In einer Einzeltherapie wären derartige Erfahrungssequenzen, wenn überhaupt, höchstens in Rollenspielen möglich. Die hierarchische Rahmung überlagert in der Regel jede Form von Peer-to-peer-Begegnung. Patient an Gruppenleiter (Praxisbeispiel): „Sie haben mir sehr geholfen, Hinweise und Hilfestellung gegeben. Jedoch! Sie werden dafür bezahlt, es ist Ihr Job! Sie müssen das tun! Mitpatienten aber sind frei von diesen Verpflichtungen. Sie haben die Dinge so auf den Punkt gebracht, wie ich es nie vergessen kann. Es waren einfach Geschenke. Ich konnte

12

1

D. Mattke und M. Pröstler

und kann nicht anders als selbst auch einmal anders zu sein und es geht!“ d. Psychologische Arbeit in Gruppen In diesem vierten der therapeutischen Faktoren unterscheiden sich jetzt die beiden formalen Veränderungstheorien der Richtlinienverfahren. Die psychologische Arbeit in einer Gruppentherapie kommt dort zu ihrem Optimum, wo Patientinnen und Patienten beginnen, kognitives Verstehen und emotionale Erfahrungen zu integrieren. Diese Verbindung wird in psychodynamischen Therapien Einsicht genannt, in verhaltenstherapeutischen Gruppentherapien sinnvolleres Verhalten. 1.4  Spezifische formale Ver-

änderungstheorien in Psychotherapiegruppen

Aufgrund der unterschiedlichen Grundansätze der beiden Schulen der Richtlinienpsychotherapien (psychodynamische und verhaltenstherapeutische) lassen sich ganz grob zwei Richtungen kategorisieren: A. Störungs-, methoden-, einzelfallorientierte Therapiegruppen B. Konflikt-, beziehungs-, interaktionsorientierte Therapiegruppen 1.4.1  Störungs-,  methoden-

und einzelfallorientierte Gruppen

In diesen Gruppentherapieformen stehen nicht so sehr die Entwicklung und Reflexion der Gruppendynamik und damit der aktuellen Interaktionen und der interaktionellen Schwierigkeiten der Gruppenteilnehmer untereinander im Mittelpunkt der Gruppenarbeit. Vielmehr geht es um Themen, um das Wissen über Störungen oder auch für eine bestimmte Zeit um  die  Probleme Einzelner oder um störungsspezifische und/oder themenspezifische Probleme mehrerer Patienten in der Gruppe. Es geht zunächst mehr

um Problemstellungen der Patienten außerhalb der Gruppeninteraktionen in der aktuellen Gruppe. Gruppenarbeit in diesem hier gemeinten Sinne bezieht sich mehr auf störungs- und zielorientiertes Vorgehen. Gegenüber der anderen Vorgehensweise geht es hier mehr um eine Ätiologie spezifischer Therapieplanung. In unserem Buch sind cum grano salis die Beiträge von Ferreira, Marwitz und Pennecke Beispiele für diese Gruppenform. Nach der Terminologie der Psychotherapie-Richtlinien heißt das: Seitens der Gruppenleitung wird vornehmlich mit der formalen Veränderungstheorie der Verhaltenstherapie gearbeitet. Struktur und Prozess folgen kognitiv-behavioralen Theorien therapeutischer Veränderungsziele. 1.4.2  Konflikt-, beziehungs- und

interaktionsorientierte Gruppen

Gruppentheoretisch sind diese Ansätze gruppendynamisch beziehungsweise interpersonell orientiert. In etwa zeitgleich mit der Entwicklung der Gruppendynamik seit Lewin (1947) haben psychodynamisch orientierte Konzepte in der gruppentherapeutischen Praxis eine rasche Verbreitung gefunden (Bion, Foulkes, Slavson, Heigl und Heigl-Evers, um nur einige Pioniere zu nennen). Carl Rogers (1983) fügte mit den gesprächspsychotherapeutischen Encountergruppen einen eigenen gruppendynamisch inspirierten Ansatz hinzu. Entscheidend für die mögliche Unterscheidbarkeit, mit der sich in diesen Gruppen gruppendynamische Prozesse entwickeln, ist die theoretisch-konzeptuelle Grundorientierung des Therapeuten („Therapeuten-Faktor“ in unserer Abbildung). Der Therapeut verhält sich der Gruppe gegenüber eher zurückhaltend und prozessdeutend. Dies bedeutet in aller Regel und insbesondere zu Beginn der Gruppenentwicklung eine Frustration für die Erwartung der Gruppenteilnehmer (Patienten), der T ­ herapeut möge die Führungs-, Eltern-, Geberrolle übernehmen.

13 Editorial

Die aus dieser Frustration resultierenden Gruppenkonflikte und die settingspezifischen gruppendynamischen Interaktionen der Gruppenteilnehmer untereinander wie dem Therapeuten gegenüber sind jedoch therapeutisch intendiert. Über diese Dynamik wurde in der Gruppenvorbereitung zwar informiert. Doch wenn sie sich dann im Prozess ereignet, wird es Aufgabe der Gruppenleitung sein, die Gruppenprozesse so zu begleiten, dass die Ressourcen der Teilnehmer sich entfalten können, das  heißt: sich in der Gruppe mit dem Therapeuten zu arrangieren, zu organisieren, zu interagieren. Wie in einer guten, gemeinsamen Projektarbeit gilt es, Zusammenhalt und Zusammenarbeit, also Kohäsion zu entwickeln. In unserem Buch sind die Beiträge von Wollschläger, Willnow, Tamm-Schaller, Pummerer und Georg Beispiele für die formale

Veränderungstheorie der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Die Beiträge von Pröstler, Stuck, Türk, Klipp und Wienberg sind Beispiele für die Veränderungstheorie der analytischen Psychotherapie und die Beiträge von Marwitz, Pennecke und Ferreira de Vasconcellos für die Veränderungstheorie der Verhaltenstherapie. Die beiden Beiträge von Alt zeigen zum einen die Organisationsform einer Praxis, die vornehmlich Gruppenbehandlungen anbietet. Zum anderen werden von der Autorin in den Kasuistiken typische Verläufe exemplifiziert, die am ehesten der Veränderungstheorie psychodynamischer Psychotherapie zuzuordnen sind. Diese Bezeichnung hat sich international etabliert für die beiden im deutschen Richtlinienkodex noch getrennt aufgeführten Veränderungstheorien der tiefenpsychologisch fundierten und analytischen Psychotherapie. Auch im Kommentar für die Richtlinien wird eingeräumt, dass sich im Verständnis des Prozesses einer Gruppentherapie diese Unterscheidung nur schwer aufrechterhalten lässt. Allerdings soll an dieser Stelle auch nicht unerwähnt bleiben, dass aus der Perspektive

1

berufspolitischer Überlegungen die ­wesentlich höheren Kontingente, die dieser Unterscheidung zu verdanken sind, (noch) nicht aufgegeben werden sollten.  Kommen wir zurück zum Aufbau unseres Buches und der Würdigung der Beiträge unserer Autorinnen und Autoren. In dem Beitrag von Schultz-Venrath wird mit mentalisierungsbasierten Interventionsstrategien eine international zunehmend wichtiger werdende Veränderungstheorie vorgestellt. Diese Arbeit zeigt, dass im engen Korsett der deutschen Richtlinienpsychotherapie Entwicklungen möglich sind, die an gruppenanalytische Schulen in England (u. a. Peter Fonagy und Anthony Bateman) und Skandinavien (Sigmund Karterud) Anschluss finden können. Der wissenschaftstheoretisch verdienstvolle Beitrag der US-amerikanischen Entwicklungen, die von der interpersonalen Theorie der Psychiatrie von Sullivan über Corsini und Rosenberg und Yalom zu den sogenannten Wirk- oder Heilfaktoren oder therapeutischen Faktoren der Gruppentherapien führte, wird uns jetzt in unserem Editorial beschäftigen. Denn  über die therapeutischen Faktoren und ihre Bedeutung für die Struktur und den  Prozess von Gruppentherapien lassen sich auch die Beiträge von Langens, Friedrich, Hepp und Otto in unserem Buch einordnen. Diese Formen ambulanter Gruppentherapie können als „Kurzgruppen-Interventionen“ verstanden werden. Diese spielen in dem mehr nach Kriterien der Effizienz gestalteten US-amerikanischen Gesundheitssystem eine Rolle. Als zeitgenössische Vertreter sind vor allem Gruppenforscher und Gruppenpraktiker wie Scott MacKenzie und Gary Burlingame zu nennen. Außer den zugrunde liegenden Verfahren (Psychoanalyse und Verhaltenstherapie) ist Gruppentherapie in der Praxis der Versorgung noch von anderen Faktoren geprägt, auf die wir in dieser Einführung nun eingehen wollen:

14

1

D. Mattke und M. Pröstler

1.5  Sozialpolitische Einflüsse

und Kontexte

Diese Entwicklung spiegelt sich eindrücklich in den sogenannten Frequenzstatistiken wider: Während in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts noch bis zu 10 % der ambulanten Krankenbehandlungen mit Gruppentherapien getätigt wurden (Enke 1998), sind wir heute in der Frequenzstatistik bei der Allokation von Mitteln der öffentlichen Krankenkassenbeiträgen bei um die 1 % der kassenpflichtigen Psychotherapien angelangt. (Verlässliche Zahlen sind von der KV inzwischen nicht mehr zu erhalten, eine offizielle Anfrage für dieses Buch wurde mit dem Hinweis auf den Innovationsfonds des GBA und dessen dazu laufende Projekte im Innovationsfond beantwortet. Das Projekt BARGRU wurde bereits oben erwähnt.) Einerseits hat es die die Notwendigkeit der Förderung von Gruppentherapien bis in die Koalitionsvereinbarung unserer Regierung geschafft. Zum anderen hat der G-BA, die oberste dem BMG (Bundesministerium für Gesundheit) nachgeordnete Behörde dieses Missverhältnis erkannt und nach 40 Jahren erstmals eine Reform der PTR auf den Weg gebracht. Nach dieser Reform, die auch Anlass für unser Buch war, ist die Erbringung der Leistung „Gruppentherapie“ wesentlich erleichtert und finanziell attraktiver. Das haben wir zuvor bereits beschrieben und davon handeln viele, wenn nicht in Teilen alle Beiträge in unserem Buch. Innerhalb der professionellen Community – nicht nur unter Gruppenpsychotherapeuten – wurde und wird dazu eine breite Diskussion geführt. Veranschaulichen lässt sich das an den konfliktreichen Auseinandersetzungen um die Terminservicestellen (TSS). Diese wurden unter dem Druck von Krankenkassen und informierter Öffentlichkeit von den KVen eingerichtet, um Druck aus dem Kessel zu nehmen. Dieser Druck hatte sich aufgebaut durch lange/zu lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz in einer psychotherapeutischen Versorgungspraxis. Je nach Auslegung wird

von einigen Monaten (fünf  Monate nach BMG-Zahlen) gesprochen, in jedem Fall aber länger als ein Untersuchungs- und Behandlungstermin in einer fachärztlichen Praxis. Dazu muss man wissen, dass die Psychotherapeuten zur Facharztfraktion zählen, die der Hausarztfraktion in der Vertreterversammlung der Bundes-KV gegenübersteht. Zwar können wir in dieser Einführung die heftigen berufspolitischen Kämpfe der Interessenvertretungen und Lobbyisten nicht  vollständig wiedergeben. Zur Veranschaulichung aber ein kurzer Blick in die Tagespresse. Die SZ berichtete nach Anruf beim BMG am 23.1.2019 mit einem Hinweis aus dem Büro unseres Gesundheitsministers:

» Ärzte und Therapeuten sollten ihre

Patienten schneller an andere Ärzte und Therapeuten vermitteln, indem sie regelmäßig miteinander in einem Ärztenetzwerk kommunizieren. Eine zentrale Koordinationsstelle unterstützt die Mediziner, solche Treffen zu organisieren. Dort tauschen sie sich dann nicht nur über ihre Patienten aus, sondern stoßen auch auf Angebote wie offene Gesprächsgruppen oder Online-Selbsthilfe, die sie ihren Patienten erst einmal empfehlen können.

Dies wird in der Tagespresse in dem Kontext berichtet, dass fast alle Berufsverbände eine Neujustierung und Erhöhung der Bedarfszahlen für die psychotherapeutischen Versorgungen verlangen. Warum gehört dieses Szenario in die Einführung zu diesem Buch? Neben aller tagespolitischen Aufmerksamkeit, deren sich die psychotherapeutische Versorgungspraxis derzeit gewiss sein kann, sind die beiden Kernfragen: 1. Lassen sich die Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz durch ein erhöhtes Gruppenangebot reduzieren? 2. Ist das sogenannte Inanspruchnahmeverhalten der Therapieplatzsuchenden durch mehr Gruppenangebote regulierbar?

15 Editorial

Die erste Frage lässt sich klar mit Ja beantworten. Heinzel und Breyer haben bereits 1987 ausgerechnet, dass mehr Gruppenangebote die Therapie Kosten und die Wartezeiten auf einen Therapieplatz senken könnte. International, d. h. für die englischsprachige Öffentlichkeiten, hat dies das Wallstreet Journal ausgerechnet. Auch zum Inanspruchnahmeverhalten gibt es inzwischen eine repräsentative Studie (Strauß et al. 2015). Kommen wir zu der zweiten Frage. Hier inszeniert sich die aktuelle öffentliche Diskussion. Der amtierende Minister für Gesundheit hat laut darüber nachgedacht und angeregt, dass die Terminservicestellen (TSS) durch Experten entlastet werden könnten. Diese sollten die Notwendigkeit und Dringlichkeit (Akuität) einer nachgesuchten psychotherapeutischen Behandlung beurteilen, d. h. im Fachjargon: Indikationen überprüfen und nach Dringlichkeit entscheiden.  Daraufhin brach ein Sturm der Entrüstung über das Ministerium herein und nach einer Petition an das Parlament musste das Projekt zurückgenommen werden. Die Kernaussage der Petition war, dass dieser Steuerungsversuch das Ende der individuellen Wahlfreiheit bedeuten würde. Hier sind wir bei einem Herzstück der deutschen Gesundheitspolitik insgesamt und nicht nur der psychotherapeutischen Versorgung angekommen. Im Vergleich mit anderen europäischen Staaten haben wir in Deutschland zwar europaweit das teuerste Gesundheitssystem (11,2 % des Bruttoinlandsprodukts), aber bei den Ergebnissen von Markern wie Lebenserwartung, Sterblichkeit von Säuglingen liegen wir weit hinten. Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin spricht von einer Über- und Fehlversorgung.

Ein neuer Versuch, dem zu begegnen, stellt nun das vom Bundestag am 14.03.2019 verabschiedete Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) dar. Das Gesetz ist bei Ärzten und Krankenkassen und vor allem Verbänden höchst umstritten (DÄ 4/2019  S.  223). Es bleibt abzuwarten und – so hoffen

1

wir – zukünftigen Auflagen dieses Buches vorbehalten, wie sich die psychotherapeutischen Fachverbände zu der neuen Gesetzeslage positionieren werden. Zurück zum Kontext unseres Buches: In keinem anderen europäischen Land ist die psychotherapeutische Versorgung so gut organisiert und bezahlt. Und noch spezifischer: Die Honorare für eine Sitzung Gruppentherapie waren seit der Einführung der Richtlinien „Psychotherapie“ als Kassenleistung stets gekoppelt an das Honorar für die Leistung „Einzeltherapie“, die in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts wesentlich angehoben wurden. Erst nach der Gründung des Berufsverbands Approbierter Gruppentherapeuten (BAG)  hatte der Honorar-Bemessungsausschuss der KV  und Krankenkassen einen Ansprech- und Verhandlungspartner, und die Honorare stiegen. Leider durchzieht diese Systemlogik von Fachpolitik und Berufspolitik auch die Stellungnahmen und Forderungen der psychotherapeutischen Interessenverbände. An der Spitze wird differenziert und oft konfliktreich getrennt: Die Bundesärztekammern bzw. Bundespsychotherapeutenkammern sind zuständig für die Standards („Mores“ im Jargon). Auf der einen Seite stehen die KV mit ihren Subinstitutionen und verhandeln mit dem Spitzenverband der Krankenkassen die Honorare („Monetes“ im Jargon). Bei den „Lobbyisten“ der Szene ist Fach- und Berufspolitik häufig vermischt. Für den Kampf um die Gruppentherapiehonorare gibt es jetzt immerhin den Berufsverband BAG und für die fachlichen Belange die Deutsche Gesellschaft für Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie (D3G). Aber auch hier hat die beschriebene Systemlogik Wirkung gezeigt: Der GBA hat einen Innovationsfonds aufgelegt, um zu eruieren, inwieweit seine Beschlüsse für die Versorgung relevante Ergebnisse zeitigen: in unserem Fall Erleichterung und bessere Bezahlung von Gruppentherapie-Leistungen und ggf. Verkürzung von Wartezeiten auf einen Therapieplatz.

16

1

D. Mattke und M. Pröstler

Der einzige Antrag, der beim G-BA dazu gestellt wurde, kam aus dem BAG. Im Beitrag von Rainer Weber zu Evaluation und Forschung in diesem Buch werden der BARGRU-Antrag und das Projekt vorgestellt. Inhaltlich soll es darum gehen, in wieweit bei den Leistungserbringern wie bei den die Leistung Nachfragenden Barrieren bestehen und worin diese bestehen.

Nach diesem Ausflug in das aktuelle Versorgungspanorama hierzulande nun zurück zur Systematik, die wir unserem Buch zugrunde gelegt haben.

Das verbindende Gemeinsame aller Beiträge ist das Setting „Gruppe“. Während der berufspolitischen Auseinandersetzungen vor der Verabschiedung des Psychotherapeuten-Gesetzes (PTG) wurde die Forderung erhoben, eine eigene Approbation „Gruppentherapeut“ anzustreben. Durch dieses Gesetz wurde neben der Approbation als „Arzt“, „Zahnarzt“, „Tierarzt“, „Apotheker“ ein fünfter Heilberuf, der „psychologische Psychotherapeut“, etabliert. Entsprechend gibt es nach Landesrecht für diese fünf „Heilberufe“ die jeweiligen „Heilberufskammern“. Mit Inkrafttreten des PTG (Psychotherapeutengesetz) zum 01.01.1999 hat dann der Bundeszuschuss der Ärzte- und Krankenkassen (G-BA) die „Psychotherapierichtlinien“ neu verabschieden müssen. Marianne Schneider-Düker (1992) hat im Vorfeld der Beratungen zum PTG eine bemerkenswerte Studie publiziert, in der sie die wissenschaftlichen Grundlagen der Psychotherapie-Richtlinien kritisch reflektiert. Sie ist vor allem der Frage nachgegangen, wie es zur exklusiven Anerkennung der analytischen Psychotherapie und der Verhaltenstherapie als für die Krankenbehandlung geeignete Verfahren in den Psychotherapie-Richtlinien gekommen sei. Für unseren Kontext der ambulanten Gruppenpsychotherapie ist hervorzuheben, wie die Yalom’schen therapeutischen Faktoren eine integrative Sichtweise zwischen den Schulen und Methoden (Psychoanalyse und

­ erhaltenstherapie) und zwischen Forschung V und klinischer Praxis entwickelten. Alle von Yalom systematisch untersuchten therapeutischen Faktoren, die in Gruppen wirken, seien interpersonale Faktoren. Besonders im Bereich der psychoanalytisch orientierten Psychotherapie-Forschung sei die interpersonale Perspektive „absolut in“ (Strupp et al. 1988). Die Yalom’schen Wirkfaktoren für den therapeutischen Veränderungsprozess in und durch Gruppenpsychotherapie werden heute nicht mehr infrage gestellt. Im Feld der Entwicklung in den analytischen Psychotherapien, und insbesondere der Psychoanalyse, habe eine parallele Bewegung stattgefunden, hin zu mehr Integration von unterschiedlichen Konzepten und Behandlungstechniken (Beidmann, Goldfried und Norcross 1989). Marianne Schneider-Düker positioniert sich in ihrer Studie zum interpersonalen Modell wissenschaftsgeschichtlich ähnlich, wenn sie zitiert:

» „Die integrative Bewegung scheint

Kraft zu gewinnen und wird wohl der Zeitgeist der nächsten Dekaden Psychotherapieforschung und -praxis sein… Ausbildungskandidaten werden weniger ideologisch programmiert werden, es wird ihnen beigebracht werden, den Wert des einzelnen Ansatzes ebenso anzuerkennen, wie den Einfluss ihrer eigenen Persönlichkeit auf den Prozess … Eine Reihe fabelhafter Hindernisse steht dieser Bewegung entgegen, z. B.: können umfassende Bezugssysteme und/oder eine gemeinsame Sprache entwickelt werden, die von dem verschiedenartigen Publikum akzeptiert wird? Können wir interprofessionelle Stichelei überwinden und den fanatischen Glaubenseifer, der die psychotherapeutische Entwicklung behindert?“ (Beitman et al. 1989, S. 145)

Da wir aktuell vor der längst überfälligen Novellierung des PTG stehen, werden wir mit diesen Fragen erneut konfrontiert.

17 Editorial

Allerdings ist Skepsis hinsichtlich der Umsetzung dieser Position für die Rahmenbedingungen in der psychotherapeutischen Versorgung der Bundesrepublik Deutschland angebracht. Es ist der Krankheitsbegriff: Obwohl in der ICD 10 jetzt auch von seelischen Störungen und nicht mehr von seelischen Krankheiten gesprochen wird, sprechen die Psychotherapie-Richtlinien weiterhin von „seelischer Krankheit“. Der Konflikt besteht zwischen einem medizinischen Krankheits-Modell und einem interpersonalen Störungs-Modell. Dieser ungelöste Konflikt wird zwangsläufig verhindern, dass das interpersonale Modell eine dritte Grundorientierung im Sinne der PsychotherapieRichtlinien sein kann. Das interpersonale Modell hat sich jedoch als deskriptives Verfahren in der Psychotherapieforschung und als Interventionstheorie in wissenschaftlich begründeten Psychotherapien wie auch in Gruppenpsychotherapien als sehr geeignet erwiesen. Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, dass die eigenständige Approbation „Gruppenpsychotherapie“ eine wohlmeinende Utopie bleiben wird und muss. Die Psychotherapie-Richtlinien als Vereinbarung zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen sollen eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten gewährleisten. Geregelt werden insbesondere: Einzelheiten über die behandlungsbedürftigen Krankheiten, die zur Krankenbehandlung geeigneten Verfahren, das Antrags- und Gutachterverfahren sowie in den Psychotherapie-Vereinbarungen Art, Umfang und Durchführung der Behandlung. Im Vorfeld des PTG war ein „Forschungsgutachten zu Fragen eines Psychotherapeutengesetzes“ (Meyer et al. 1991) erstellt worden, mit welchem dem BMG Vorschläge unterbreitet wurden, wie die zukünftige Ausbildung der psychologischen Psychotherapeuten zu planen sei. Die Gutachter nannten zwei sogenannte  „Grundorientierungen“: die psychodynamische und die verhaltenstheoretische. Diese Auswahl wurde durch die Forschungs- und

1

Ausbildungslage begründet. Beide Verfahren waren auch bereits vor Erstellung des  Forschungsgutachtens in den Psychotherapie-Richtlinien als für die Krankenbehandlung geeigneten Verfahren definiert worden. Ebenso wurden bei der Neuverabschiedung der Richtlinien nach In-KraftTreten des PTG diese beiden Verfahren exklusiv übernommen. Aufgrund eines neuerlichen wissenschaftlichen Gutachtens (Strauß et al. 2009) wurden die Befunde zu Diagnostik und Behandlung für die beiden Grundverfahren ebenfalls übernommen. Seitdem haben die Gesprächspsychotherapie (GT) und die systemische Therapie mit ihrer jeweiligen Krankheits- und Behandlungslehre um Anerkennung als Richtlinienverfahren nachgesucht. Die bürokratischen und wissenschaftstheoretischen Hürden sind beträchtlich und können hier nicht in Detail geschildert werden. Im Kontext der Anerkennung der Gruppenpsychotherapie als eigenständiges Verfahren soll lediglich vermittelt werden, dass die legalistische Prozedur für diese Anerkennung wohl Jahrzehnte dauern könnte. Es müsste eine eigenständige Krankheits- und Behandlungslehre für mindestens drei Indikationen nachgewiesen werden. Im Kontext der Fragestellung für unser Buch heißt das, dass in der Frage der Anerkennung das interpersonale Modell als Diagnostik und Behandlungslehre für die Anerkennung der Gruppenpsychotherapie als eigenständiges Verfahren in absehbarer Zeit nicht realisiert werden kann. Damit wird die Fachkunde „Gruppenpsychotherapie“ weiterhin durch die regionalen KV nach den bereits beschriebenen Regularien erfolgen. 1.6  Wegweiser durch das Buch

Das vorliegende Buch versammelt Beiträge von erfahrenen praktizierenden Gruppenpsychotherapeutinnen und Gruppenpsychotherapeuten. Es handelt sich um „Werkstattberichte“, die einen differenzierten Einblick in die ambulante Praxis erlauben

18

1

D. Mattke und M. Pröstler

und die Frage beleuchten, was in Gruppentherapien geschieht. Dabei wird deutlich: Gruppenpsychotherapie in der ambulanten Praxis hat viele verschiedene Gesichter und ist vielstimmig. Dabei entsteht ein komplexes und facettenreiches Bild. Als Wegweiser durch das Buch und die vielfältigen Erfahrungsberichte können Ihnen die Systematik und die Faktoren aus . Abb. 1.1 helfen. Die Fragen können auch dazu dienen, die eigene Praxis der Gruppenleitung zu reflektieren oder auch dabei helfen, eine eigene Gruppe in der ambulanten Praxis aufzubauen und zu etablieren. Impulsfragen in Anlehnung an . Abb. 1.1: 5 Gruppe: Wie mache ich meine Gruppe/ Gruppen oder wie haben die Autorinnen und Autoren dieses Buches ihre Gruppen gemacht? Wie lassen sich die Anatomie (Struktur) und die Physiologie (Prozesse) der spezifischen Gruppe beschreiben? 5 Patienten: Wie ist die Gruppe zusammengesetzt (z. B. nach Diagnose, Störungsbild, Gender, Alter)? 5 Therapeutin/Therapeut/Sie/Ich: das sind jetzt Sie als Leser: Frau, Mann, gruppenerfahren oder nicht, jung, alt, wie vernetzt, in einer Fachgesellschaft, in Supervision, Intervision, wie viele Gruppen schon geleitet …? Notabene können diese Stichworte wie auch die folgenden Faktoren nicht alle relevant sein, um sich Ihre Gruppenpraxis vorzustellen, aber eventuell können sie beim Lesen und Vergleichen helfen. 5 Struktur: Wie viele Teilnehmer hat Ihre Gruppe? Wie ist Vorbereitung, Frequenz? Ist sie offen/halboffen/geschlossen? Findet sie im Praxisraum statt? Sind es Kinder/ Jugendliche/Erwachsene? Andere strukturelle Elemente, die sich wiederholen und damit die zur Struktur gehören: Blitzlicht zu Anfang, Ende, mittendrin? Startet wiederkehrend die Gruppe mit Ritualen, beispielsweise mit Übungen, Gesang, Meditationen, Gedicht, typischen Eingangssätzen? Werden von Zeit zu Zeit psychoedukative Elemente eingefügt? Wie läuft die Vorstellung eines neuen Teilnehmers?

Wie erfolgt die Verabschiedung eines ausscheidenden Teilnehmers? Gibt es einen Kontrakt, den Patienten/Patientinnen und Therapeutin/Therapeut unterschreiben bezüglich Ausfallshonorar, Trinken/Essen, feste Sitzplätze, identische Bestuhlung für alle, leere Mitte? – Auch für diesen Faktor sind alle Fragen nur Anlässe, um sich die jeweilige Gruppe/Gruppen in der jeweiligen Praxis vorzustellen. Eine häufig verwendete Methode zur Formatierung von Gruppen ist die Nutzung von Gruppenübungen zu Beginn einer Sitzung. Besonders häufig angewandt wird das sogenannte Blitzlicht, bei dem – meist reihum – die Gruppenmitglieder kurz über ihr Befinden und ihre Wünsche an die Gruppe berichten. Gibt es Einschübe von Psychoedukation? Derartige Übungen wurden entwickelt, um den therapeutischen Prozess anzustoßen oder zu erleichtern. 5 Formale Veränderungstheorie: ergibt sich durch das spezielle Unterkapitel. 5 Prozess/Prozesse: Das ist das Einzigartige der jeweiligen Gruppe, die sich entwickelt (emergiert) und worüber in dem Beitrag geschrieben wird bzw. das Einzigartige Ihrer konkreten Gruppe. Nun wünschen wir Ihnen auf der Entdeckungsreise durch die vielfältigen Gruppenerfahrungen in diesem Buch viel Freude, überraschende Lesemomente und interessante Erkenntnisse. Wir hoffen, dass auch Sie nach der Lektüre Lust auf das „Abenteuer Gruppe“ in der eigenen ambulanten Praxis verspüren!

Literatur Beitmann, B. D., Goldfried, M. R., & Nocross, J. C. (1989). The movement toward integrating the psychotherapies: An overview. American Journal of Psychiatry, 146, 138–147. Bion, W. R. (2001). Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften (3. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Burlingame, G. M., MacKenzie, K. R., & Strauß, B. (2004). Small group treatment: Evidence for effectiveness and mechanisms of change. In M. Lambert (Hrsg.),

19 Editorial

Bergin and Garfield’s handbook of psychotherapy and behavior change (5th edition). Hoboken: Wiley. Burlingame, G. M., Johnson, J., & Strauß, B. (2008). Gibt es allgemeine Veränderungsmechanismen in Gruppenpsychotherapien? Eine Einführung in ein konzeptuelles Modell. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 44, 177–214. Corsini, R. J., & Rosenberg, B. (1955). Mechanisms of group psychotherapy: Processes and dynamics. The Journal of Abnormal and Social Psychology, 51, 406–411. Deutsches Ärzteblatt. (1998). Neufassung der Psychotherapie-Richtlinien und der Psychotherapie-Vereinbarungen. Deutsches Ärzteblatt, 95, 51–52. Deutsches Ärzteblatt (2019). Bundestag billigt umstrittenes Gesetz. Deutsches Ärzteblatt, 4(2019), 223–225. Enke, H. (1998). Überfällige Reformen: Gruppenpsychotherapie in der ambulanten kassenärztlichen Versorgung. Gruppenpsychother. Gruppendynamik, 34, 65–78. Foulkes, S. H. (1975). Group Analytic Psychotherapy. London: Gordon & Breach. Foulkes, S. H. (1992). Praxis der gruppenanalytischen Psychotherapie. München: Pfeiffer. Gruppenpsychotherapeuten BdA. BARGRU-Studie: Welche Barrieren sehen GruppenpsychotherapeutInnen gegenüber der Ambulanten Gruppenpsychotherapie? 2018, DOI. Heigl-Evers, A., & Heigl, F. (1983). Das interaktionelle Prinzip in der Einzel- und Gruppenpsychotherapie. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 29, 1–14. Heinzel, R., Breyer, F., & Klein, T. (1998). Ambulante analytische Einzel- und Gruppenpsychotherapie in einer bundesweiten katamnestischen Evaluationsstudie. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 34, 135–152. Heuft, G. und Knott, H. (2019): BARGRU-Studie: Welche Barrieren sehen GruppenpsychotherapeutInnen gegenüber der ambulanten Gruppenpsychotherapie? 7 https://www.ukm.de/index. php?id=bargru. Zugegriffen: 6. Mai 2019. ICD 10. Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD 10. Kap. V (F). Klinisch diagnostische Leitlinien. Bearbeitet von Dilling, H./Mombour, W. & Schmidt, M.H. Bern: Huber, 1991. Kohut, H. (1977). The restoration of the Self. New York: International Universities Press. MacKenzie, K. R. (1997). Time – Managend group psychotherapy: Effektive clinical applications. Washington D. C: APA. Marwitz, M. (2016). Verhaltenstherapeutische Gruppentherapie. Grundlagen und Praxis. Göttingen: Hogrefe. Mattke, D., Dammann, G., & Martius, P. (2007). Der Transfer von einzeltherapeutischen Behandlungskonzepten auf Gruppenformate: Das Beispiel der

1

Übertragungsfokussierten Psychotherapie (TFP). Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 43, 161–180. Mattke, D., Streeck, U., & König, O. (2015). Praxis stationärer und teilstationärer Gruppen (S. 36). Stuttgart: Klett-Cotta. Mattke, D., Reddemann, L., & Strauß, B. (2017). Keine Angst vor Gruppen! Gruppenpsychotherapie in Praxis und Forschung (3. Aufl.). Stuttgart: KlettCotta. Meyer, A. E., Richter, R., Grawe, K., Graf von der Schulenburg, J. M., & Schulte, B. (1991). Forschungsgutachten zu Fragen eines Psychotherapeutengesetzes. Im Auftrag des BMJFFG. Hamburg: Universitätskrankenhaus Eppendorf. Piper, W. E. (1994). Client variables. In A. Fuhriman & G. M. Burlingame (Hrsg.), Handbook of group psychotherapy: An empirical and clinical synthesis (S. 83–113). New York: Wiley. Piper, W. E., & Ogrodniczuk, J. (2001). Pre-group training. In V. Tschuschke (Hrsg.), Praxis der Gruppenpsychotherapie (S. 74–78). Frankfurt: Thieme. Piper, W. E., & Perrault, E. L. (1989). Pretherapy preparation for group members. International Journal of Group Psychotherapy, 39, 17–34. Rizzolati, G., & Sinigaglia, C. (2008). Empathie und Spiegelneurone – Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt: Edition Unseld. Sader, M. (1991). Psychologie der Gruppe. Weinheim: Beltz. Schneider, S., & Weinberg, H. (2003). The Large Group Re-Visited. London: Jessica Kingsley Publishers. Schneider-Düker, M. (1992). Gruppenpsychotherapie Gruppendynamik, 28, 93–113. Staats, H., Dally, A., & Bolm, T (Hrsg.). (2017). Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse – Ein Lehr- und Lernbuch für Klinik und Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Strauß, B. (2007). Bindung und Gruppenprozess: Wie nützlich ist die Bindungstheorie für die Gruppenpsychotherapie? Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 43, 90–108. Strauß, B., & Mattke, D. (Hrsg.). (2018). Gruppenpsychotherapie, Lehrbuch für die Praxis (2. Aufl.). Heidelberg: Springer. Strauß, B., & Kirchmann, H. (2004). Eine naturalistische Studie zu Veränderungen und therapeutischen Faktoren in der Gruppenanalyse – Ergebnisse der GRASStudie. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 40, 394–415. Strauß, B., Barnow, S., Brähler, E., Fegert, J., Fliegel, St., Freyberger, H.J., Goldbeck, L., Leuzinger-Bohleber, M., Willutzki, U. (2009). Forschungsgutachten zur Ausbildung von Psychologischen PsychotherapeutInnen und Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen. Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit.

20

1

D. Mattke und M. Pröstler

Strauß, B., Spangenberg, L., Brähler, E., & Bormann, B. (2015). Attitudes Towards (Psychotherapy) Groups: Results of a Survey in a Reprepresentative Sample. International Journal of Group Psychotherapy, 65(3), 410–430. Strupp, H.H./Schacht, T.E. & Henry, W.P.(1988). Problem-treatment-outcome congruence: A principle whose time has come. In Dahl/Kächele & Thomä, 1–4. Stürmer, S. (2009). Sozialpsychologie. München: Reinhardt. Sullivan, H.S. (1953): The interpersonal theory of psychiatry. New York: Norton (deutsch: Die interpersonale Theorie der Psychiatrie, Frankfurt: Fischer, 1980). Sulz, S. K. D., Sichort-Hebing, M., & Walter, A. (Hrsg.). (2019). Gruppen-Psychotherapien. München: CIP-Medien.

Tajfel, H., & Turner, J. C. (1986). The social identity theory of intergroup behavior. In S. Worchel & W. G. Augustin (Hrsg.), Psychology of intergroup relations. Chicago: Nelson-Hall Publishers. Türk, D. (2018). Das sogenannte „Blitzlicht“ - geliebt, gehasst, unanalytisch (?) und andere schwierige Situationen in der Gruppentherapie. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 54, 117–135. Walendzik, A., Rabe-Menssen, C., Lux, G., Wasem, J., & Jahn, R. (2011). Erhebung zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgung 2010. Berlin: Deutsche Psychotherapeutenvereinigung. Yalom, I. D., Leszcz, M. (2005). The theory and practice of group psychotherapy (5th ed.). New York, N.Y.: Basic Books. Deutsch: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. 11. Auflage 2012. Stuttgart: Klett-Cotta.

21

Psychodynamische Psychotherapie in Gruppen: Tiefenpsychologische Psychotherapie Inhaltsverzeichnis Kapitel 2

Psychosomatik – 23 Martin Pummerer

Kapitel 3

Meine erste Gruppe und wie es weiterging – 39 Peter Wollschläger

Kapitel 4

Gruppe – wie geht das - bei mir? – 47 Christian Willnow

Kapitel 5

Arbeit mit Märchen in der Gruppe – 59 Hildegunde Georg

I

23

Psychosomatik Martin Pummerer

2.1 Einleitung – 24 2.2 Zu meinem Hintergrund, Klientel und Setting – 24 2.3 Theoretischer Hintergrund meines Settings und Erläuterung des Störungsbilds – 25 2.4 Psychoedukation (PE) – 26 2.5 Kasuistiken – 28 Anhang – 36 Literatur – 37

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_2

2

24

M. Pummerer

2.1  Einleitung

2

Gruppentherapie ist einem ständigen Anpassungs-/Entwicklungsprozess unterworfen und wird differenzierter. Berichtet wird hier die konzeptuelle Modifikation eines ambulanten Gruppenkonzepts, bei dem psychoedukative Elemente in ein richtlinienkonformes, modifiziertes Gruppentherapiekonzept (GTK) integriert werden. Primär geht es um die Vermittlung dessen, wie sich Geist, Körper und Psyche gegenseitig beeinflussen, und um die Etablierung eines biopsychosozialen Krankheitskonzepts. Dann geht es um interaktionelles Lernen, um Mentalisierung und Achtsamkeit u. a. mehr. Das Therapieangebot richtet sich schwerpunktmäßig auf somatoforme Störungen (im engeren Sinne, ICD 10), die v. a. auch im Kontext einer Ich-strukturellen Störung/Frühstörung auftreten. Ziel meines Ansatzes ist es, die Gruppentherapie für dieses Klientel so „störungsspezifisch“ wie möglich zu gestalten. Dies ist der Erfahrungsbericht aus meiner Praxis, eine tiefere Evaluation bleibt der weiteren Forschung vorbehalten. 2.2  Zu meinem Hintergrund,

Klientel und Setting

Zu meiner Person: Während meiner langjährigen Tätigkeit an einer psychosomatischen Abteilung eines großen städtischen Klinikums habe ich 19 Jahre als Facharzt für psychosomatische Medizin und Internist im stationären Setting als Stationsarzt und Gruppentherapeut gearbeitet. Seit 25 Jahren praktiziere ich Gruppentherapie. Ende der 1990er Jahre habe ich eine Psychoedukationsgruppe – als separates Gruppensetting – mit entwickelt und geleitet, siehe hierzu auch mein Buch Psychosomatik verstehen (2009). In einer Großgruppe von 15–18  Patienten wurde dabei der aktuelle neurobiologische und physiologische

Wissensstand vermittelt. Meine theoretische Gruppentherapieausbildung – tiefenpsychologisch-interaktionell – habe ich in Göttingen (sog. Göttinger Modell s. u.) absolviert. Seit ca. sechs Jahren bin ich in eigener Praxis niedergelassen; hier stellte sich anfangs die spannende Frage, wie es in einer ambulanten, psychodynamisch orientierten Therapiegruppe von 100 min/Woche gelingen kann, psychoedukative Elemente zu integrieren. Zu meinem Klientel: Meine Patienten haben v.  a. somatoforme, aber auch Angst- und depressive Störungen, meist in Komorbidität. Sie werden zu über 50 % von Hausärzten zugewiesen. Die somatoforme Störung geht meist einher mit einer sog. strukturellen Störung und Mentalisierungsschwäche (s. u.). Zwischen beiden sehe ich auch einen inneren Zusammenhang, z. B. in puncto Selbst- und Objektwahrnehmung sowie Kommunikation nach der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik 2 (M. Cierpka) (Achse IV). Das Patientenalter variiert zwischen 25 und 65 Jahren; das Geschlechterverhältnis liegt meist bei 33 %/67 % (Männer/Frauen). Zum Setting: Ich biete ein tiefenpsychologisch fundiertes, interaktionelles GTK-Setting an: 1-mal 100 min/Woche mit fünf bis maximal neun Patienten. Es ist eine offene Gruppe mit bis zu 80 Sitzungen. In Ausnahmefällen kann der Patient (als Selbstzahler) noch weitere 20 Sitzungen bekommen. Zu Gruppenbeginn wird eine Zeit lang gewartet und geklärt, welche Themen an diesem Tag bearbeitet werden sollen. Meist müssen Themen zurückgestellt werden, die dann in einer der nächsten Sitzungen zur Sprache kommen. Brennende Themen oder aktuelle Krisen haben Vorrang. Jedes Thema ist wichtig, mitunter werden konkrete medizinische Fragen gestellt, die evtl. nur ich als Arzt beantworten kann (Prinzip „Antwort“), z. B.: „Wie wirkt eigentlich das Psychopharmakon XY?“ Darauf gebe ich immer zumindest eine kurze Antwort.

25 Psychosomatik

2.3  Theoretischer Hinter-

grund meines Settings und Erläuterung des Störungsbilds

Das von mir als Basis erlernte tiefenpsychologisch-interaktionelle Göttinger Gruppentherapiemodell (Heigl-Evers et al. 1994; König und Lindner 1991) wurde Anfang der 80er Jahre durch eine Göttinger Forschergruppe entwickelt. Dabei handelte es sich um eine Modifikation des klassischen Psychoanalysesettings. Hintergrund war die Erkenntnis, dass man primär strukturell gestörten Patienten mit dem traditionellen Modell nicht ausreichend helfen kann. Im Unterschied zur neurotischen Störung prägen bei der (Ich-) strukturellen Störung, entwicklungsbedingt, strukturelle Defizite das Störungsbild, siehe hierzu auch OPD 2 (Arbeitskreis OPD, Kapitel Struktur). Während bei ersterer interpersonelle Konflikte ins Innere der Person verlagert werden und auftretende Spannungen zu pathologischen Kompromissbildungen führen, die dann allmählich durch Therapie veräußerlicht werden und in die Übertragung gelangen, werden bei der vorwiegend strukturellen Störung innere Unverträglichkeiten voneinander getrennt gehalten. Dadurch kommt es zu einer stärkeren somatoformen Verarbeitung (Somatisierung) und einer primär interaktionellenStörung (gestörteres Sozialverhalten). Diese interaktionelle Störung geht einher mit gravierenden Beziehungsschwierigkeiten und einem Mangel an interpersoneller Kompromissbildung. Die Fähigkeit zur interpersonellen Kompromissbildung setzt relativ intakte Ich-Strukturen und ausreichend verfügbare Ich-Funktionen voraus. Bei Fehlen solcher Strukturen werden u. a. Außenobjekte instrumentalisierend in die Existenzsicherung und Weltbewältigung einbezogen. Von daher bedarf es bei der strukturellen Störung anderer therapeutischer Strategien. Die tiefenpsychologisch-interaktionelle Gruppentherapie setzt hier an, sie fördert die Selbstreflexion, Selbstexploration und Beziehungsdynamik. Zudem

2

bietet sie dem Patienten ein Nachlernen am Modell sowie die Hilfs-Ich-Funktion des Therapeuten und das Prinzip „Antwort“ vor dem Prinzip „Deutung“ an. Weitere wichtige theoretische Ansätze, die meine Therapiepraxis inspiriert haben, erfolgten durch folgende Entwicklungen: Therapie der strukturellen Störung (Rudolf 2013), die Implementierung des OPD (M. Cierpka), zur besseren diagnostischen Einteilung der strukturellen Störung, die Entwicklung der Bindungstheorie (Bowlby 2016) mit der Erkenntnis, dass der „sichere Bindungsmodus“ als methodenübergreifender Wirkfaktor für die Persönlichkeitsentwicklung, die Emotionsregulation und die Resilienz sehr wichtig ist. Hinzu kommen die Erkenntnisse der Mentalisierungstheorie, des Achtsamkeitskonzepts (Kabat Zinn 1988) und die bahnbrechenden Erkenntnisse der neurobiologischen Forschung. Parallel dazu hat sich in den letzten Jahren die Methode der Psychoedukation (PE) etabliert, als klar wurde, dass der Behandlungsbeginn der somatoformen Störung nicht ohne die Etablierung eines biopsychosozialen Krankheitskonzepts und nicht ohne eine Wissensvermittlung beim Patienten möglich ist. Seitdem gehört dies heute in einem multimodalen Therapieansatz zum Standard. Bisher wird Psychoedukation aber v. a. im stationären Setting getrennt von der Einzel- und Gruppentherapie angeboten. Im ambulanten Setting kommt diese Wissensvermittlung und Konzeptänderung heute noch zu kurz. Dabei besteht ein Spannungsfeld zwischen dem tiefenpsychologisch-interaktionellen Ansatz und dem pädagogischen Ansatz der PE, das es zu balancieren gilt. Zur Mentalisierungstheorie: Die Mentalisierungstheorie erweitert und ergänzt das ursprüngliche Alexithymiekonzept. Die Alexithymie wird heute als Persönlichkeitseigenschaft und nicht mehr als spezifisches Krankheitsmodell gesehen. Sie gibt uns wertvolle Impulse und bildet einen guten Bezugsrahmen in der Behandlung somatoformer Störungen: „Inzwischen konnten erste Studien Zusammenhänge zwischen somatoformen

26

2

M. Pummerer

Störungsbildern und eingeschränkter Mentalisierungsfähigkeit oder Bindungsstörungen zeigen“ (C. Subic-Wrana, .a.a.O, S. 153, *7/8). Primär geht es bei der Mentalisierung um die Entwicklung einer basalen psychischen Affektrepräsentation während der ersten zwei Lebensjahre, die dann bis zur Adoleszenz ausgebaut wird und in einer adäquaten Emotionsregulation des Erwachsenen mündet. Basis dafür ist die mimische und lautmalerische Begleitung sowie die Verwörterung der Affekt- und Spannungszustände eines Kindes, welches all dies naturgemäß sehr körperlich (somatoform) erlebt, durch eine sich einfühlende Bezugsperson (beziehungsorientiert). Dabei wird das Emotionserleben kognitiv eingebunden und reguliert. Bei Menschen mit ausgeprägten somatoformen Störungen ist diese kognitive Einbindung bzw. die daraus resultierende Mentalisierungsfähigkeit und Fähigkeit zur Selbstberuhigung zu wenig vorhanden. Gemäß der Bindungstheorie liegt hier oft ein unsicherer Bindungsmodus zugrunde. Daher zielt der Therapieansatz in der Behandlung somatoformer Störungen heute auf die Verbesserung dieser Fähigkeiten. Ich bin der festen Überzeugung, dass v. a. die Verbesserung des Mentalisierungsvermögens ein sehr wichtiges Therapieziel in der Therapie der somatoformen Störung ist und die PE dabei ein wesentlicher Baustein ist. Zur Achtsamkeit: Dem Entwickeln von Achtsamkeit kommt ein hoher Stellenwert zu. Nach der Definition des mbsr-Verbandes („mindfulness based stress reduction“) übt man, die Phänomene im Inneren des Körpers (Psyche und Physis) und die Erscheinungen im Äußeren (vor-)urteilsfrei wahrzunehmen. Man hält inne, betrachtet Gedanken, Gefühle, Emotionen und Körperempfindungen und übt, sich von diesen nicht mitreißen zu lassen. Durch diese Übung entsteht ein Raum zwischen der komplexen Wechselwirkung von Gedanken, Gefühlen, Körperempfindungen und Handlungen/Reaktionen, den wir nutzen können, um uns für Alternativen zu entscheiden oder diese auszuprobieren.

Zur Neurobiologie: Die faszinierenden Erkenntnisse der Hirnforschung sind nicht nur spannend, sondern auch sehr hilfreich. Sie bieten uns bisher fehlende Missing Links, Erklärungen zu der Frage, „wie die Seele den Körper leiden lässt“. In den letzten Jahren wurden viele Erkenntnisse über die neurobiologischen Vorgänge und Umstrukturierungsprozesse im Gehirn gemacht, die den menschlichen Lern- und Entwicklungsprozessen zugrunde liegen. Eine grundlegende Erkenntnis betrifft die enorme Fähigkeit des Gehirns, sich lebenslang zu verändern (sogenannte neuronale Plastizität), durch die Einwirkung menschlichen Erlebens und Verhaltens. Damit wird auch therapeutischen Interventionen der Effekt zugesprochen, im Gehirn ablaufende neurobiologische Prozesse und Strukturen zu verändern, und es entsteht die Frage, durch welches Therapeutenverhalten die neuronalen Bedingungen geschaffen werden können, um dauerhafte therapeutische Veränderungen zu ermöglichen. Das limbische System und der Thalamus fungieren als neurobiologische Schnittstelle, als Vermittler zwischen den seelischen und leiblichen Vorgängen. Hinzu kommt das vegetative Nervensystem, welches den endokrinen Drüsen Impulse für die Ausschüttung von Neurotransmittern und Hormonen gibt. Der Psychotherapieforscher Grawe hat mit seinem Buch Neuropsychotherapie Wege aufgezeigt, wie man die neurobiologischen Erkenntnisse für die Psychotherapie nutzbar machen kann (Grawe 2004). 2.4  Psychoedukation (PE)

Die PE ist ein weites Feld. Es geht um die Entwicklung eines biopsychosozialen Krankheitskonzepts, die Symptomerläuterung und Informationsgabe und darüber hinaus um die Erläuterung einer Fülle anderer psychologischer, medizinischer und somatischer Themen, die weit in den somatischen Bereich hineinreichen, bis hin zu Erkrankungen und

27 Psychosomatik

Medikamenten. Letztlich geht es um die emotionale Entlastung drängender Fragen und

Ängste (Kasuistik 2 S. 8), gemäß dem Motto „Wissen hilft bzw. heilt“. Die Abgrenzung zwischen Information, Schulung, Beratung und Aufklärung fällt schwer. Besser würden wir wohl von einer „Patientenedukation in Gesundheitsfragen“ sprechen, nur hat sich der Begriff „Psychoedukation“ bereits sehr etabliert. Am Anfang der Therapie steht die Vermittlung eines biopsychosozialen Krankheitskonzepts, da die meisten psychosomatischen Patienten von einem somatogenen Krankheitskonzept überzeugt sind. Wir Psychosomatiker wissen, dass sich diese Patienten erst auf die Therapie einlassen können, wenn sie verstanden haben, dass ihnen die Psychotherapie und das Gespräch auch bei der Bewältigung all ihrer körperlichen Probleme helfen können. Da ist es z. B. wenig hilfreich, wenn der Therapeut 2 z. B. sagen würde: „Über Ihre Schmerzen können wir jetzt nicht reden, ich möchte erst mal mehr über Ihre Eltern erfahren.“ Aber auch bei dem Patienten mit dem etablierten psychosomatischen Krankheitsverständnis gibt es immer wieder Situationen, bei denen er am somatogenen Konzept festhängt: „Bei diesem Symptom kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das die Seele macht oder machen kann.“ Das bedeutet, dass insbesondere am Anfang der Therapie die Psychoedukation zum Einsatz kommen sollte, um dem Patienten zu helfen, sich überhaupt auf die Therapie einzulassen. Diese Informationsgabe und Überzeugungsarbeit muss zeitnah erfolgen und sich dem Wissens- und Bildungsstand des Patienten anpassen. Aber auch im Therapieverlauf, während einer Gruppensitzung, passiert es immer wieder, dass ein quälendes Körpersymptom auftritt. Ich halte es dann für notwendig, dem Patienten nach Möglichkeit ad hoc eine passende Antwort auf seine ihn momentan vorrangig beschäftigenden Fragen nach der Ursache, Wertigkeit und Bedrohlichkeit des aktuellen Symptoms zu geben. Die Feststellungen „Das ist psychosomatisch“

2

oder „Das ist seelischer Natur“ reichen dabei in der Regel nicht aus. Hier gilt auch das Prinzip „Störungen haben Vorrang“. In dieser Situation, z. B. beim Auftreten eines akut auftretenden Rückenschmerzes während der Sitzung, würde ich sagen: „Okay, wir haben jetzt eine Störung in Form eines akuten Rückenschmerzes. Ich glaube, wir sollten uns jetzt erst einmal um dieses Thema kümmern, bevor wir mit dem anderen Thema weitermachen.“ Hierbei achte ich darauf, dass es eine möglichst kurze Unterbrechung bleibt. Es geht dann nicht nur darum, das Symptom psychodynamisch/neurobiologisch zu verstehen und einzuordnen, sondern auch, mit den üblichen „Hausmitteln, die parat liegen“, zu lindern. Die PE in der Gruppe bietet mehrere Vorteile gegenüber der Einzel-PE. Sie ist effektiver, da mehr Menschen erreicht werden, und die Patienten lernen sehr voneinander, v. a. die Unerfahrenen von den Erfahreneren: am überzeugendsten ist immer ein positives Vorbild. Zum Schulungsmaterial: Jeder weiß, dass ein gutes Buch oder ein Lehrfilm sehr hilfreich sein können, und meist geben wir den Patienten ja auch Buchtipps. Ein Teil meiner Patienten benützt beispielsweise mein Buch Psychosomatik verstehen als Lektüre und Ratgeber. Inwieweit dieses oder andere Bücher wie auch vielfältige weitere Medien, die konsumiert werden, die Therapie befruchten, vermag ich nicht zu beantworten. Die Frage dabei ist: Wie lässt sich dieser Input nicht mehr oder weniger eklektisch, sondern systematisch und bedarfsangepasst zur Optimierung der Therapie integrieren? Optimal wäre die richtige Info zum richtigen Zeitpunkt, dann, wenn der Patient sein Symptom und den Leidensdruck verspürt oder er sich gedanklich sehr mit einem Thema beschäftigt. Natürlich hängt auch vieles vom Kompetenzbereich des Therapeuten ab, der ja im Grundberuf Arzt oder Psychologe sein kann und daher über eine unterschiedliche Wissensbasis verfügt. Bisher gibt es hierzu weder Standards noch eine Art Curriculum. In der Praxis betreibt daher jeder Therapeut

28

2

M. Pummerer

PE nach seiner Fasson und stellt sich sein eigenes Schulungsmaterial zusammen, da die Fülle an Vorlagen und Materialien unüberschaubar ist. Über die Jahre habe ich mir mein eigenes Schulungsmaterial zusammengestellt, wobei ich mich an den ständigen Fragen der Patienten orientiert habe. Dabei war immer mein Leitgedanke: Wie kann ich dem individuellen Informationsbedürfnis dieses konkreten Menschen am besten gerecht werden? Anfangs habe ich dabei auf meine Bibliothek im Sprechzimmer zurückgegriffen und nach dem passenden Buch oder Anatomieatlas gesucht. Besonders hilfreich waren dabei immer die sehr anschaulichen anatomischen Illustrationen des Atlas der Anatomie von Frank H. Netter (2008). Daraus ist mein Buch Psychosomatik verstehen entstanden, welches seither ständig griffbereit liegt. Aus diesem Buch verwende ich ein vorbereitetes Sortiment an Folien, ein White-Board sowie bei entsprechendem allgemeinen Interesse auch eine kurze Overhead-Präsentation (maximal 15 min mit Diskussion). Immer kommt es mir dabei auf die Anschaulichkeit an, was dazu führte, dass ich etliche Grafiken selber entworfen habe (Beispiel im Anhang). Mein Bemühen dabei ist es, dieses Wissen sachlich richtig und angemessen für den durchschnittlich gebildeten Patienten in der Gruppentherapie zu präsentieren. Dabei gilt es auf die Balance zu achten, dass einerseits drängende Fragen ausreichend beantwortet werden und andererseits der gruppendynamische-interaktionelle Prozess nicht zu sehr beeinträchtigt wird. Die überwiegende psychoedukatorische Arbeit beträgt geschätzt 15 %, die Arbeit mit Hilfsmitteln daran hat einen Anteil von maximal 5 % der gesamten Gruppenarbeit. Häufige Themen: Besonders häufig wird der chronische Schmerz zum Thema (v. a. der Rückenschmerz). Bei diesem Thema erkläre ich den Unterschied zwischen dem akuten und dem chronischen Schmerzmodell und den Unterschied zwischen der spezifischen und unspezifischen Schmerzentstehung sowie die zentral-nervöse Modulation. Für die Erläuterung des recht komplizierten

Schmerzsystems benötige ich ca.15–20 min. Wenn das Thema zu einem für den Gruppenverlauf ungünstigen Zeitpunkt auftritt, biete ich an, es am Anfang der nächsten Sitzung anhand von Overhead-Folien zu besprechen. Das Schmerzsystem wird dabei anatomisch neurobiologisch erläutert. Film-Clips habe ich bisher nicht verwendet, dies wäre aber sicher eine gute Option. Falls von allgemeinerem Interesse, erläutere ich das Serotoninsystem und die Synapsen – ebenso anhand von Folien. Manchmal entspinnt sich daraus eine lebendige Diskussion, und es entsteht ein Erfahrungsaustausch darüber, wer alles Psychopharmaka und mit welchem Erfolg nimmt. Beim Thema Trauma wird die Sonderform des Psychotraumas erläutert und was dabei neurobiologisch passiert. Beim Auftauchen von Intrusionen in der Gruppe wird dies als Störung begriffen und zur Unterstützung z. B. mit Imaginationsübungen nach Reddemann gearbeitet. Hinzu kommen aber auch allgemeine Fragen wie: „Was passiert eigentlich bei Panik in meinem Gehirn? Wie funktioniert das Denken oder das Bewusstsein, das Schlafen und das Träumen?“ Eine Aufgabe dabei ist es, die Fülle des Wissens, die vermittelt werden kann, auf ein sinnvolles Maß zu begrenzen. Therapieferne Fragen vermeide ich zu beantworten, während ich versuche, alle Fragen, die einen Bezug zum aktuellen Problem haben oder die für die Entwicklung und den therapeutischen Prozess hilfreich sein können, zu beantworten (s. o. theoretischer Hintergrund und Kasuistik 3 S. 10). Primär geht es um eine spezifische, die Therapie unterstützende PE. 2.5  Kasuistiken

Anhand von drei Beispielen möchte ich mein Vorgehen erläutern: Der chronisch angespannte Schmerzpatient mit geringem Introspektionsvermögen, die Ledige mit ständigem Schwindel und die superreflektierte Angstpatientin mit krankem Kind. Die Kasuistiken wurden zum Schutz der Betroffenen

29 Psychosomatik

verfremdet. Alle hatten bereits etliche psychoedukatorische Exkurse hinter sich und sind hochgebildet und belesen. Der erste Patient befand sich in der Orientierungs/Differenzierungsphase, die beiden anderen Patienten in der Arbeitsphase (*5 Mattke et al. 2009). Dabei machte ich die Beobachtung, dass in der anfänglichen Orientierungsphase das Bedürfnis nach PE am größten ist und so begierig aufgenommen wird, dass die Arbeitsmotivation erhöht wird. Im weiteren Verlauf und in der Arbeitsphase hingegen wird die interaktionelle Arbeit viel wichtiger und das Interesse nach PE lässt nach. z Kasuistik 1

Herr V., ein 35-jähriger Physiker mit geringem Introspektionsvermögen und alexithymen Zügen, bringt sich ein mit dem Thema: „Ich habe solche Spannungen und kann nichts dagegen tun!“ Während der Sitzung sitzt er steif im Stuhl und wirkt permanent angespannt, in sich gefangen und hat u. a. wegen akuter Schmerzschübe am rechten Knie teilweise eine so massive Bewegungseinschränkung, dass er kaum laufen und auch nur eingeschränkt Auto fahren kann. Auf kleinste Anforderungen reagiert er mit einer Stressreaktion, seine Sprechweise wirkt gepresst. Die Arbeitsfähigkeit ist aktuell nicht mehr gegeben. Im analytischen Setting läge es nahe, nach den unbewussten Motiven der Anspannung zu suchen. Er hatte einen sehr gewalttätigen und leistungsorientierten Vater, „den man nie zufrieden stellen konnte“. Seine Mutter sei extrem ängstlich und habe ihm nie etwas erlaubt. Nach dem Abschluss seines Studiums fand er eine Anstellung bei einem polternden Chef, dem er es auch nicht recht machen konnte, was zu einer Aktualisierung der Übertragungssituation Vater – Chef führte. Das brachte Herrn V. in eine permanente Anspannungs-Erstarrungssituation und führte zum Auftreten starker, immobilisierender Knieschmerzen. Ein solcher Deutungsversuch wäre bei

2

seinem Mangel an Ich-struktureller Reife und seiner Mentalisierungsschwäche unfruchtbar gewesen und hätte wohl nur Verunsicherung und Schweigen hervorgerufen. Zudem hätte ich sehr auf seine Schwäche und Vaterwunde zentriert und Schamgefühle mobilisiert. Neben der Chef-Vater-Problematik waren noch folgende Themenkomplexe involviert: 5 Die Frage nach dem aktuellen Auslöser seiner chronischen Anspannung und seines Schmerzes, 5 die hypochondrische Verarbeitung seines Schmerzerlebens, 5 seine gering integrierte Selbst- und Objektwahrnehmung und Kommunikation nach außen und innen (OPD 2007, Abschn. 4.4, S. 255). Die Frage war also: Worauf lege ich hier den Fokus unter Einbeziehung der Gruppe? Zunächst entschied ich mich dazu, einen kurzen psychoedukatorischen Exkurs zum Thema Anspannung und Spannungsregulation zu geben, da diese Thematik auch andere Patienten aktuell sehr beschäftigte, sozusagen im Gruppenbewusstsein präsent war, und die „aktuell bedrohliche Vaterdynamik“ nicht berührte: „Was ist Anspannung, wie entsteht sie und wie lässt sie sich neurobiologisch erklären, was ist ihr Zweck?“ Ich erklärte willkürliche und unwillkürliche Anspannung, Sympathikus- und Vaguseinfluss anhand von anatomischen Folien und Schemata zum Thema. Ich erläuterte ebenfalls die Differenzierung zwischen chronischer Grundanspannung und zusätzlicher Akutanspannung. Dann ging es um die Frage: „Wie stelle ich Spannung an mir selbst ohne instrumentelle Spannungsmesser fest?“ Anschließend ließ ich eine Achtsamkeitsübung (Körperreise) folgen. Ich forderte jedes Gruppenmitglied dazu auf, bei der Reise durch den Körper achtsam zu beobachten, wo die größte Anspannung war und bat jeden darum, eine Einschätzung in Prozent zu geben. Schließlich forderte ich zu einem imaginativen Gedankenspiel auf: „Stellen Sie sich jetzt bitte vor, Sie sitzen im Auto und sind in Eile,

30

2

M. Pummerer

weil Sie zum Zug müssen. Es wird gelb, Sie kämen noch bequem über die Ampel, aber der trödelnde Vordermann bremst abrupt. Wie gelassen reagieren Sie?“ Dann folgte eine Anspannungsübung: „Spannen Sie jetzt bitte mal alle Muskeln mit maximaler Kraft an, ohne sich zu bewegen. Geht es bis an die Schmerzgrenze? Wer bekommt wo Schmerzen und bricht ab?“ Es ergab sich eine lebhafte Diskussion. Danach regte ich jeden in der Gruppe dazu an, sich zu überlegen, welche Aktivitäten und Methoden er gegen seine eigene Anspannung einsetzte und bat darum, dies mitzuteilen. Zum Schluss gab es noch eine Atmungsübung zur Entspannung. Herr V. erkannte, dass er bisher keine aktiven Strategien zur Spannungsregulation hatte, und war erstaunt, wie viele verschiedene Möglichkeiten es gibt. Er realisierte, dass er außerhalb der Gruppensitzungen regelmäßig etwas dafür tun muss und war nun dazu motiviert. Angesprochen wurde auch das Thema Selbst- und Körperwahrnehmung und dass jeder unterschiedlich achtsam in Bezug auf sich selbst ist. Herr V. kam aus einem Elternhaus, in dem wenig gesprochen wurde, schon gar nicht über Gefühle, sodass er auch keine Anleitung oder Vorbilder dafür hatte. Auch die Gruppenmitglieder reflektierten bezüglich ihrer Körperwahrnehmung und An-/Entspannung und konnten die Sitzung zur Selbsterfahrung nutzen. Ein Gruppenmitglied äußerte, dass sie zum ersten Mal ihre hohe Grundanspannung wahrgenommen hätte und zuvor immer nur von einer ­Akut-anspannung, z. B. durch einen aktuellen Konflikt, ausgegangen wäre. Jetzt hätte sie erstmals die Idee, etwas gegen die chronisch erhöhte Grundanspannung machen zu können: eine Bemerkung, die auch bei anderen Zustimmung fand. Diese Gruppe und die Erkenntnis, auf diese Weise etwas für sich tun zu können, motivierte Herrn V. schließlich dazu, sich einer stationären psychosomatischen Behandlung zu unterziehen, der er bisher noch sehr reserviert gegenüberstand. Aus dieser Behandlung kam er deutlich gebessert

zurück, und er machte die Erfahrung, dass sein Schmerzerleben sehr abhängig auch von der beruflichen Belastungssituation ist, und dass er dieses somit selber beeinflussen kann. z Kasuistik 2

Frau M., eine 35-jährige Abteilungsleiterin, kam mit ausgeprägten körperlichen Missempfindungen (Somatisierung) und Schwindelgefühl bei einer Angst-Panikstörung. Wegen ihrer körperlichen Symptomatik hatte sie bereits eine Arztodyssee hinter sich, war verzweifelt und hatte auch zwischenzeitlich das Vertrauen in das Gesundheitswesen verloren, da keiner der vielen Experten ihr bisher helfen konnte. Nachdem sie sich anfangs nur mit Skepsis auf die Gruppentherapie einlassen konnte, da sie den Halt primär beim Therapeuten suchte, war sie später dankbar, dass sie durch die Gruppe eine passende Form der Außenorientierung bekommen hatte. Es gelang ihr allmählich, ihr inneres Koordinatensystem mithilfe der Gruppe neu zu justieren. Zum bisherigen Therapieverlauf: Frau M. konnte während der bisherigen Therapie (ca. 50 Sitzungen und zwei Klinikaufenthalte) ihre Probleme bei der Abgrenzung, der Affektdifferenzierung, der Selbst- und Fremdwahrnehmung, der Frustrationstoleranz und dem Reizschutz bereits gut verbessern. So konnte sie früher die Grenzen ihres Leistungsvermögens und die Körpersignale, die sie vor Überlastung schützen sollen, zu wenig wahrnehmen. Den vermeintlichen Makel als wertloses Kind versuchte sie lange Jahre über berufliche Tüchtigkeit und unermüdlichen Arbeitseifer bei hohem Selbstanspruch und einem „Durchhaltesyndrom“ zu kompensieren. Mit Multitasking, Powerfrau-Haltung und einem Helfersyndrom ging sie ständig über ihre Grenzen. Nachdem sie ein gutes biopsychosoziales Krankheitsverständnis entwickelt hatte und sie ihre körperlichen Beschwerden gut einordnen konnte, reduzierten sich zunächst ihre Arztbesuche deutlich. Im weiteren Verlauf verbesserte sich ihr

31 Psychosomatik

Mentalisierungsvermögen deutlich, und es gelang ihr, sich in allen Ich-Funktionen zu verbessern, sich von der Mutter fernzuhalten und den Kontakt auf ein absolutes Minimum zu begrenzen, was sich sehr positiv auf ihre ständigen Beschwerden auswirkte. Sie brachte sich nun mit der Frage nach ihrer Identität ein: „Ich weiß nicht, wer oder was ich bin. Ich fühle mich weder als Frau noch als Mann – auch, was meine sexuelle Orientierung angeht.“ Sie war sich in ihrer sexuellen Identität nicht sicher und fühlte sich für eine Partnerschaft nicht beziehungsfähig. Zur Biografie und Psychodynamik: Die Beziehung zum Vater war nicht existent („Desinteresse an mir“) und besserte sich erst später, als Frau M. Anerkennung über Leistung bezog. Aus der Retrospektive betrachtet hatte der Vater wohl auch eine soziale Phobie und Burnout. Die Mutter war ein emotionales Pulverfass: impulsiv, hysterisch, unberechenbar, aggressiv, manipulativ, vereinnahmend. Sie habe Frau M. ständig emotional ‚rumgeschubst‘ und ihr Angst gemacht und litt wohl unter einer schweren Angststörung (DD: Borderlinestörung), habe sich aber nie einer spezifischen Behandlung unterzogen. Zwischen den Eltern gab es ständig lauten Streit, mit Handgreiflichkeiten vonseiten der Mutter. Nicht nur habe die Mutter ihre Tochter genötigt, für sie Partei zu ergreifen, sondern sie habe sich dann symbiotisch an sie angeklammert und als „seelischen Mülleimer“ bzw. Therapeutin funktionalisiert (teilweise mit täglichen Telefonaten). Die Kindheit der Patientin war insgesamt von ständiger Dysharmonie, Dramatik und Entwertung („du bist faul“, „du bist blöd“ etc.) geprägt. Erst sei Frau M. brav gewesen, sie wurde dann aber später rebellisch und zum schwarzen Schaf der Familie. Durch die selbstunsichere, ständig dramatisierende Mutter und den für sie nicht existenten Vater fand sie keinerlei Halt bei den Eltern. Schutz, Trost und Lob erhielt sie so gut wie nicht, im Gegenteil, sie wurde als Kind dafür bestraft, wenn sie sich verletzt oder wehgetan hatte. Ständig fühlte sie sich allein gelassen und übernahm früh

2

Verantwortung für die Mutter (Parentifizierung), wodurch sie nach außen als starke Frau wirkte. Eine kompakte weibliche Identität fehlte ihr auch aufgrund der Tatsache, dass sie in ihrer selbstunsicheren Mutter kein weibliches Vorbild fand. Auch väterlicherseits fehlte ihr ein identitätsstiftendes Modell. Somit bestand ein ausgeprägter Selbstwertund Identitätskonflikt. Durch eine enorme Anpassungsleistung schaffte sie es, Gefühle von Trauer, Angst und Wut – insbesondere auf die Eltern – abzuspalten. Die abgespaltenen negativen Gefühle (Introjekte) entwickelten sich zu negativen Selbstrepräsentanzen in Form von ständigen Selbstzweifeln, Nichtwahrnehmen und Misstrauen gegenüber der eigenen Wahrnehmung und Autoaggression. Mit einem kurzen psychoedukatorischen Exkurs erläuterte ich in der Gruppe, was man landläufig unter einer typisch weiblichen und einer typisch männlichen Identität verstehen kann, welche Stereotype es gibt und ließ jeden Teilnehmer selbst einschätzen, wo er sich auf einer Skala von 0–10 mit seiner Identität, zwischen typisch weiblich und typisch männlich, sah. Hier konnte sich Frau M. eine 3–4 geben und sie fragte sich, ob sie vielleicht ein Neutrum sei. Dabei wurde deutlich, dass sie einen fundamentalen Mangel an eigenem Halt, Orientierung und innerer Sicherheit hatte. Hier ließ sich der Bogen spannen zur Somatisierung, v. a. auch zu den Schwindelgefühlen als ein Ausdruck ihrer Ich-Schwäche und der Tatsache, dass sie für sich keinen Kompass hatte. Schließlich verhalfen ihr die vielen – im Verlauf der Therapie erfolgten – psychoedukatorischen Erläuterungen zu ElternKind-Interaktionen, zum Bindungssystem, Wahrnehmungssystem und zu dem Zyklus von Wahrnehmung, Bewertung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Verhalten dazu, ihr dysfunktionales Wahrnehmungs- und Beziehungserleben zu erkennen. Ihre hohe Intelligenz und ihr Introspektionsvermögen verhalfen ihr dazu, diese Informationen rasch mit ihren biografischen Erfahrungen zu verknüpfen und die früheren Wahrnehmungsverzerrungen zu korrigieren. Aktuell arbeitet

32

2

M. Pummerer

sie daran, ihren inneren Kompass neu zu justieren und eine kompaktere weibliche Identität zu entwickeln. z Kasuistik 3

Frau X., eine 40-jährige sehr reflektierte Angstpatientin (Pädagogin), brachte sich verzweifelt mit der Frage in die Gruppe ein:

» „Meinem 5-jährigen Sohn wurde die

Diagnose Epilepsie gestellt, und ich soll ihm jetzt sofort ein stark wirksames Antiepileptikum geben (sie zeigt mir den Arztbericht). Es fällt mir schwer, diese Diagnose zu akzeptieren, zumal ich hierzu von den Ärzten schlecht informiert wurde. Mir widerstrebt es total, ihm so ein heftiges Mittel zu geben, ich habe Angst ihm zu schaden und bin völlig durcheinander und verzweifelt, ich glaube der liebe Gott hasst uns, nachdem dies schon die zweite ernste Erkrankung des Kindes innerhalb eines Jahres ist. Außerdem kann ich mit niemandem darüber reden, da es so viele Vorurteile, selbst im Kindergarten, gegenüber dieser Erkrankung gibt. Ich werde oft nicht verstanden. Auch fehlt mir ein Kinderarzt meines Vertrauens. Was soll ich jetzt tun?“

Hier sind nun verschiedene Themenkomplexe berührt: 5 Die tiefe Verzweiflung einer sehr besorgten, evtl. überbesorgten Mutter 5 Zweifel an der Diagnosesicherheit gegenüber einer schwerwiegenden, das Leben der gesamten Familie erschütternden Diagnose 5 Das Vertrauen in die Ärzte, v. a. ihrer Aufklärung und Informationsgabe gegenüber 5 Die Medikamentenangst, welche die Patientin selber hat und auf ihren Sohn überträgt 5 Die gesellschaftliche Stigmatisierung und Ausgrenzung bei diesem Krankheitsbild 5 Ihre Bestrafungsangst bei negativem Selbstbild

5 Ihre interaktionelle Problematik: Schwäche und Hilfsbedürftigkeit als Powerfrau sich schwer eingestehen und zeigen können, und Hilfe halbherzig, latent aggressiv (trotzig) einfordern und sich nicht ernst genommen fühlen. Den Hintergrund bildet eine Angststörung bei sexuellem Missbrauch mit Vergewaltigung im 14. Lebensjahr, negativen Elternbildern und einem eklatanten Mangel an frühem, elterlichen Support und Halt. Die als bedrohlich erlebte Entwertung und fehlende Anerkennung durch ihre Vorgesetzte, in der sie zunächst Halt fand, löste eine narzisstische Krise aus, in der sie das Vertrauen in ihre berufliche Umwelt verlor, in der sie zunächst kompensatorisch Schutz und Halt suchte. Hinzu kam jetzt die lebensbedrohliche Erkrankung des Sohnes. Dies führte zur Reaktivierung ihres zugrunde liegenden Identitäts- und Selbstwertkonflikts. Durch die dadurch auftretenden Selbstzweifel und die Selbstentwertung sah sie ihr Fundament (hohe Intelligenz, geistige Funktionstüchtigkeit und Leistungsfähigkeit im Beruf und als Mutter, zwei maßgebliche Stützen ihrer Identität und ihres Selbstwerts) infrage gestellt. Der unbewusste Konflikt wurde durch die schwierige frühe Kindheit geprägt, in der Frau X. von der Mutter wegen ihrer Erkrankung schon abgeschrieben wurde und sie viele frühe Trennungssituationen von der Mutter durch Krankenhausaufenthalte hinnehmen musste. Ihr Identitätskonflikt wurde durch den wenig identitätsbestärkenden Lebensund Beziehungsstil der Mutter verstärkt, sie wollte nie so sein wie die Mutter. Der eher positiv besetzte Vater fiel als haltendes Objekt und Schutzperson, u. a. wegen Inhaftierung aus. Zeitlebens suchte sie kompensatorisch Zuwendung und Bestätigung, weniger über weiblichen Charme als über Leistung, Burschikosität, Kumpelhaftigkeit und berufliche Tüchtigkeit. Dabei setzte sie auch ihre Power ein, oft zum Preis der Verausgabung. Zur Biografie und Psychodynamik:

33 Psychosomatik

Durch die Erkrankung des Sohnes sah sie nun auch ihre mütterliche Identität bedroht und wurde gleichzeitig an ihr eigenes kindliches Schicksal erinnert. Ihr bisheriges, kompensatorisches Lebenskonzept drohte nun zu scheitern, was eine fundamentale Erschütterung ihres Selbstwerts und existenzielle Ängste auslöste. Daneben kam es zur inneren Unruhe, Somatisierung und Selbstunsicherheit. Zudem fand sich das Funktionieren um jeden Preis mit forcierter Selbstbehauptung und Durchhaltesyndrom („Zähne zusammenbeißen“). Mangels adäquater Selbstfürsorge, Selbsteinschätzung und Antennen für Überlastungssignale tat sie sich im Wahrnehmen und realitätsgerechten Umsetzen eigener Wünsche und Bedürfnisse schwer. Zudem begab sie sich ständig in eine Helferrolle für andere und versuchte, mit ständigem „Gut-drauf-seinMüssen“, „Stark-sein-Müssen“ und „Lösungen-Bieten“ anderen zu helfen. Zunächst war ich bei ihrer Verzweiflung als haltgebendes, elterliches Objekt gefragt und konnte Frau X. in dieser Situation, wie sie es so oft in ihrem bisherigen Leben erfahren hatte, nicht im Stich lassen. Zudem war ich als ärztlicher Ratgeber mit meiner medizinischen Kompetenz gefragt. Ich hätte mich hinter meiner fachlichen Unsicherheit in Bezug auf kindliche Epilepsie mit dem Argument, kein Kinderarzt oder Neurologe zu sein verstecken können, ich entschied mich aber dagegen. Auch hätte ich, mit Rücksicht auf die anderen Gruppenmitglieder, das Thema abwenden und sie auf ein späteres Einzelgespräch verweisen können. Damit wäre ich aber der aktuellen Not von Fr. X. nicht gerecht geworden, auch nicht mit reiner Anteilnahme: „Das tut mir sehr leid“. So entschied ich mich ihr zunächst den emotionalen Halt zu geben, indem ich ihre Fragen ernst nahm und ihr gemäß dem Prinzip „Antwort“ ihr bisher unbefriedigtes Informationsbedürfnis zu stillen. Damit war klar, dass ich das Thema in der Gruppe behandelte und sie so auch Anteilnahme und Halt durch die Gruppe erfahren konnte. Nach kurzer Analyse des Arztberichts – differenzialdiagnostisch konnte man auch

2

an eine „migraine accompagnée“ denken, gab ich ihr kurze allgemeine Informationen zum Thema Epilepsie und eröffnete die Gruppenrunde mit der Bitte, jeder möchte doch bitte seine Erfahrungen zum Thema Epilepsie/Migräne mitteilen, die er bei sich selbst oder den Angehörigen in ihrem Leben gemacht hat. Dabei gab es erstaunliche Erfahrungsberichte, die für Fr. X. hilfreich waren. Circa die Hälfte der Gruppenmitglieder war selbst von Epilepsie oder Migräne betroffen bzw. hatte im privaten oder beruflichen Umfeld damit zu tun, auch mit dem verbreiteten Unverständnis, und einige gaben hilfreiche Informationen. Danach wurde ihre Medikamentenphobie zum Thema. Es stellte sich heraus, dass sie starken Medikamenten, v.  a. Psychopharmaka, überkritisch und ablehnend gegenüber stand, auch vor dem Hintergrund dramatischer und teils übergriffiger Medikationen durch Ärzte und Angehörige in der eigenen Biografie. Ihr Vater war als Regime-Kritiker längere Zeit inhaftiert, was ihr Vertrauen in den Staat und in Institutionen sehr erschüttert hat. Neben dem Thema Psychopharmakaeinnahme (ja/nein/ wann?) wurde auch das Thema Nocebo- und Plazebo-Effekt behandelt, ein Thema das immer wieder auftaucht, z. B. mit der Frage, ob man den Beipackzettel lesen sollte. Auch das Thema Umgang mit gestressten und genervten Ärzten taucht oft auf („Mein Doktor hat nur 5 min. Zeit für mich“), verbunden mit der Frage, welche alternativen Informationsquellen einem als verängstigtem Patienten zur Verfügung stehen. Nach der Gruppensitzung zeigte sich Frau X. emotional deutlich entlastet. Die Tatsache, dass sich die Epilepsie-Diagnose später bestätigte, konnte sie erstaunlich gut akzeptieren und sie fand rasch zu einem entspannten Umgang mit der Erkrankung und der Medikation. In ihrem Feedback meldete sie zurück, dass ihr das Gefühl sehr geholfen hatte, dem Willen der Ärzte nicht mehr so hilflos gegenüber zu stehen. Durch die Erklärungen und die praktischen Anweisungen hatte sie wieder einen Fahrplan. Die Fähigkeit sich eigenes Wissen zur Krankheit des Sohnes anzueignen und so zum gleichen Urteil wie die Ärzte gelangen

34

2

M. Pummerer

zu können, habe sie wieder handlungsfähig gemacht. Aber auch andere Gruppenmitglieder zeigten sich dankbar darüber, dass solche Themen in der Gruppe besprochen werden können, und sie reflektierten ihre Ängste und ihren Umgang mit dieser Erkrankung und mit Medikamenten. Das Thema ihrer interaktionellen Problematik wurde dann einige Gruppensitzungen später zum Thema. z z Gefahren und kritische Betrachtung

Folgende Gefahren der PE bestehen und bedürfen einer ständigen Reflektion und Balancierung. 1. Die Psychodynamik (tiefenpsychologische und interaktionelle Arbeit) könnte durch die PE zu kurz kommen und die Therapie zu einer Beratungs- oder Schulstunde verkommen. Die Forschung (Yalom, S. 16, Strauß, Mattke u. a.) hat festgestellt, dass die Gruppentherapie ihre Wirkung v. a. durch die aufmerksame Beobachtung interaktioneller Prozesse erzielt. Den Wirkfaktoren wie Gruppenkohäsion, Selbstöffnung, stellvertretendes Lernen, Feedback, Zuneigung, Aufgabenorientierung (S. 50) kommt dabei eine hohe Bedeutung zu. 2. Einzel- und Gruppentherapie sind zwei fundamental verschiedene Verfahren. Die latent immer gegebene Gefahr, dass der Gruppenleiter die Gesamtgruppe gegenüber Einzelinteressen vernachlässigt und die Gruppentherapie zu sehr zu einer Einzeltherapie in der Gruppe verkommen lässt, wird durch die PE verstärkt. 3. Der Gruppenleiter könnte die Strukturierung der Gruppe zu stark bestimmen und den emergenten Strukturen (Gruppendynamik) zu wenig Spielraum lassen.

4. Es kann zur Rollenkonfusion beim ärztlichen Therapeuten kommen. Als Therapeut hat man eine andere Rolle als ein medizinischer Informationsgeber oder Berater im Gesundheitssystem oder auch als Hausarzt. Bei der PE kommt es auch vor, dass man bestehende Informationsdefizite im Gesundheitswesen und individuelle Bildungsdefizite ausgleicht, die eher von anderer Seite (Fachärzte, Medien etc.), als vom Gruppentherapeuten angegangen werden sollten. Zum anderen kann man als Hausarzt-Ersatz funktionalisiert werden, da man als Arzt ein breiteres Service-Paket (z. B. Rezepte, evtl. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Atteste ausstellen) anbieten kann, bis zu dem Punkt, dass der Therapeut als ­„Reserve-Hausarzt“ benützt wird, z. B. wenn der eigentliche Hausarzt im Urlaub ist. Dies kompliziert die Übertragungssituation und kann den Patienten außerhalb der Gruppe stärker an den ärztlichen Therapeuten binden. Die Anpassungsbereitschaft kann sich dadurch erhöhen, und es kann auch verwirren, wenn man sich in der Hausarztfunktion anders verhält als in der Therapeutenrolle. 5 Zu 1: Der Balanceakt besteht darin, spezifische, therapieunterstützende Informationen (Faktenwissen) im notwendigen Ausmaß zu vermitteln, Einsichten zu fördern, ungünstige Sichtweisen und Einstellungen zu begrenzen, ohne die Gruppe zu einer reinen Unterrichtsveranstaltung werden zu lassen. Daher sollte der Edukationsanteil einen gewissen Prozentsatz nicht überschreiten. Dieser Prozentsatz wäre noch zu definieren. Meine subjektive Einschätzung ist, dass ein Limit an PE bei ca. 20 % pro Sitzung liegen sollte.

35 Psychosomatik

5 Zu 2: Dieser Gefahr sollte dadurch begegnet werden, dass man neben der Einzeltherapieausbildung eine fundierte gruppentherapeutische Ausbildung absolviert. Therapeuten, die fast nur Einzeltherapie gelernt haben und dann ohne größere Erfahrung Gruppentherapie anbieten, sind eher in der Gefahr, in der Gruppe Einzeltherapie zu praktizieren. Die Implementierung der PE kann diese Gefahr verstärken, dies gilt es im Hinterkopf zu haben. 5 Zu 3: Neben dem hier Dargestellten laufen natürlich parallel viele psychodynamischinteraktionelle Prozesse im Hintergrund ab, die man nicht übersehen sollte. Interessanterweise ist es oft so, dass es nach einer ausgeprägteren PE-Gruppenstunde in der nächsten Sitzung interaktioneller zugeht. Eine gute Mischung sollte man immer im Auge behalten. 5 Zu 4: Diese Rollenübernahme kann vorteilhaft sein, weil man ein differenzierteres Bild vom Patienten erhält, aber auch nachteilig, weil eine gruppenunabhängige Bindung entsteht, die nicht für jeden Patienten gleich ist. Hier ist eine gewisse Abstinenz zu empfehlen. Manche Kollegen lehnen eine „Ersatz-Hausarztfunktion“ komplett ab, ansonsten ist ein transparenter Umgang nötig, damit dem Patient der Rollenwechsel bewusst wird. Fazit und Bewertung Meine langjährige Erfahrung ist, dass die Implementierung einer spezifischen, therapieunterstützenden PE in die Gruppentherapie nicht nur möglich, sondern auch sehr hilfreich ist und den Therapieprozess günstig beeinflusst. Eine spezifische PE, sprich die Vermittlung des aktuellen Wissensstandes aus Bindungsforschung, Mentalisierungstheorie, Achtsamkeitskonzept, Neurobiologie und den dazu

nötigen medizinischen und physiologischen Fakten, wird interessiert und dankbar aufgenommen und führt oft zu lebhaften und fruchtbaren Diskussionen in der Gruppe. Das Bildungsniveau und die Verständnismöglichkeiten eines Patienten spielen dabei eine nicht unerhebliche Rolle. Im Vergleich zu einer Therapiegruppe ohne PE, wie ich sie früher praktiziert habe, konnte ich keine negativen Effekte, was erwünschte Verhaltensweisen in Bezug auf die Wirkfaktoren – Gruppenkohäsion, Selbstöffnung, stellvertretendes Lernen, Feedback, Zuneigung, Aufgabenorientierung – feststellen, im Gegenteil. Neben der positiven Resonanz bei den Patienten sind externe Rückmeldungen z. B. von zuweisenden Hausärzten, positiv. Zunehmend gibt es Patienten, die nicht nur einen Therapieplatz, sondern explizit einen Gruppentherapieplatz bei mir nachfragen, was früher nicht der Fall war. Die Behandlungswünsche übersteigen meine Kapazität. Immer wieder tauchen Fragen auf, die in der haus- und fachärztlichen Versorgung zu kurz kommen: „Ach, könnte ich doch auch mal so offen und ausführlich mit meinen anderen Ärzten reden!“, „Warum hat mir das mein Hausarzt nicht schon vor Langem gesagt?“ oder „Warum gibt mir mein Orthopäde immer nur Spritzen gegen meinen Rückenschmerz und klärt mich nicht über die Grundlagen des chronischen Schmerzes auf?“ Häufig wird nach einer abgeschlossenen Richtlinientherapie der Wunsch geäußert, diese Form der Gruppenarbeit fortsetzen zu können. Insgesamt hat sich gezeigt, dass der Bedarf nach einer solchen spezifischen PE sehr hoch ist und es wünschenswert wäre, wenn sich junge Kollegen noch mehr für den Bereich Gruppentherapie und PE interessieren würden. Es deutet meines Erachtens aber auch darauf hin, dass dieser Bedarf im Gesundheitswesen allgemein zu wenig gedeckt wird. Insgesamt besteht ein hoher Evaluations- und Forschungsbedarf.

2

36

M. Pummerer

Anhang

2

Rückenmark Halsteil

Haut*

Schweißdrüsen*

Auge Tränendrüse Nasen-Schleimhaut Gaumen Speicheldrüse Mundschleimhaut Ohrspeicheldrüse Herz Kehlkopf Bronchien Speiseröhre Magen Blutgefäße/Bauch Leber Pankreas

Muskel*

Nebenniere Dünndarm Dickdarm

Lendenteil Niere

*Pauschalierte Zuordnung die nicht der genauen Anatomie entspricht.

Vegetatives Nervensystem, Parasympathikus blau, Sympathikus rot

Harnblase Geschlechtsorgane

37 Psychosomatik

Literatur Bowlby, J. (2016). Frühe Bindung und kindliche Entwicklung (7. Aufl.). München: Reinhardt-verlag. Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Heigl-Evers, A., Heigl, F., Ott, J. (1994). Lehrbuch der Psychotherapie (2 Aufl.). Stgt: G.Fischer Verlag. Kabat, Z. J. (1988). Achtsamkeit für Anfänger. Freiburg im Breisgau: Arbor Verlag. König, K., & Lindner, W.-F. (1991). Buch Psychoanalyt. Gruppentherapie. Göttingen: V&R. Mattke, D., Reddemann, L., & Strauss, B. (2009). Keine Angst vor Gruppen. Stuttgart: Klett-Cotta.

2

Netter F. H. (2008). Atlas der Anatomie (4. Aufl.). München: Urban & Fischer. OPD 2 (Hrsg.). (2007). Arbeitskreis OPD (2. Aufl.). Hogrefe: Huber (Kapitel-Nr. 4.4., S. 255). Pummerer, M. (2009). Psychosomatik verstehen. Aachen: Shaker media. Reddemann, L. (2001). Imagination als heilsame Kraft. Stuttgart: Klett-Cotta. Rudolf, G. (2013). Strukturbezogene Psychotherapie (3. Aufl.). Stuttgart: Schattauer Verlag. Subic-Wrana, C., et al. (2017). Lb der psychosomatischen Medizin. München: Urban & Fischer (Kap. 13, S. 145, aus Üexküll 8. Aufl.).

39

Meine erste Gruppe und wie es weiterging Peter Wollschläger

Literatur – 46

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_3

3

40

3

P. Wollschläger

„Darf ich Ihnen einen jungen Kollegen zur Supervision schicken? Er ist seit einem Jahr als Psychotherapeut niedergelassen und würde gerne in seiner Praxis Gruppentherapie anbieten.“ Die Anfrage meines Lehrers Dankwart Mattke freute mich, und ich überlegte mir, wie ich dem Kollegen vermitteln könnte, was ich mir selber Jahre zuvor erarbeitet hatte. Ich konnte mich noch gut erinnern, wie schwer mir der Start meiner ersten ambulanten Gruppe gefallen war. Zwar hatte ich während meiner klinischen Ausbildung im Krankenhaus Tiefenbrunn bei Göttingen schon Gruppen geleitet, aber unter ganz anderen Bedingungen. Die Gruppe war eingebettet in ein stationäres Setting. Die Verantwortung ruhte auf vielen Schultern, und wenn es Fragen gab, stand ein Oberarzt oder Kollege zur Verfügung. Eine Gruppe in der Praxis ganz alleine zu leiten, erschien mir dagegen wie ein gewagter Hochseilakt. Also machte ich mich auf die Suche nach Unterstützung. Bei meiner Literaturrecherche stieß ich auf den praxisnahen Artikel von Sigrid Pape aus Hamburg (Pape 2007). Das war doch schon mal ein guter Anfang! Später habe ich dann mehr Zeit zum Lesen gefunden und für meine Supervisanden einen Literaturkanon zur Gruppentherapie zusammengestellt. Er umfasst sowohl kurze und anregende Artikel und Bücher für den Einstieg als auch Werke, in denen es um Grundlagen und die Geschichte der Gruppentherapie geht. Als Nächstes bewarb ich mich um die Aufnahme in einen Fachverband für Gruppentherapie, der Sektion Klinik und Praxis im Deutschen Arbeitskreis für Gruppentherapie (DAGG), später aufgegangen in der Deutschen Gesellschaft für Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie (D3G). Sie bot wie jedes Jahr eine spannende Tagung zur Gruppentherapie an. Ich hoffte, dort KollegInnen kennenzulernen, die bereits Gruppen im Richtlinienverfahren anböten. Zu meiner Ernüchterung musste ich allerdings feststellen, dass mir niemand begegnete, der seine/ihre Gruppen über die Krankenkasse abrechnete. Die KollegInnen berichteten von Ausbildungsgruppen,

Selbsterfahrungsgruppen oder Gruppen für SelbstzahlerInnen. Mir ging es aber ja gerade darum, Gruppentherapie in meiner Praxis auch solchen PatientInnen anzubieten, die nicht in der Lage waren, sie selber zu finanzieren. Ich regte deshalb an, ein Seminar zur Gruppentherapie nach den Psychotherapierichtlinien in das jährliche Tagungsprogramm aufzunehmen. Die Kollegen waren durchaus angetan von meiner Idee und schlugen vor, ich könne doch bei der nächsten Jahrestagung ein solches Seminar halten. Ehe ich mich versah, hatte ich den Ball wieder bei mir und war nun doppelt gefordert: Ich sollte meine eigene Gruppe ins Leben rufen und das am Besten so dokumentieren, dass es Kollegen als Handlungsanleitung dienen konnte. So entstand das Seminar: „Gruppentherapie in der ambulanten Praxis: Ein Hürdenlauf mit Hindernissen.“ Mein Beratungsbedarf bestand weiter und so machte ich mich auf die Suche nach einer Einzelsupervision. Ich konnte dafür Dankwart Mattke gewinnen, und wir vereinbarten regelmäßige Termine in seiner Praxis in München. Er riet mir zu einem Vorlauf von etwa drei Monaten, und wir erstellten miteinander eine Checkliste, bevor ich mit den ersten PatientInnen startete. Was für eine Gruppe wollte ich anbieten? Wie viele TeilnehmerInnen sollte sie haben? Sollte es eine geschlossene Gruppe über einen bestimmten Zeitraum sein oder sollte sie offen sein für neue TeilnehmerInnen, wenn jemand ausschied? Wie musste der Raum aussehen? Wann sollte die Gruppe stattfinden? Und wer kam für die neue Gruppe in Frage? Ich ging in Gedanken meine PatientInnen – damals waren es etwa dreißig – durch und fand vier, die mir geeignet schienen. Aus den Erstgesprächen der nächsten Wochen konnte ich vier weitere PatientInnen gewinnen und so startete ich im August 2007 mit acht TeilnehmerInnen meine erste Sitzung: Bereits bei der Vorbereitung war mir der erste Fehler unterlaufen. In meiner Aufregung hatte ich mich bei einem Patienten auf dem Terminzettel um eine Stunde vertan. Der 57-jährige Nebenerwerbslandwirt Theo kam deshalb erst mit Verspätung zur ersten Sitzung.

41 Meine erste Gruppe und wie es weiterging

Die anderen sieben TeilnehmerInnen hatten da bereits begonnen, sich kennenzulernen. Ingo, ein 40-jähriger Schreinermeister, hatte bereits zwei Ehen mit jeweils zwei Kindern hinter sich. Weil er regelmäßig mit den Alimenten in Verzug war, war er mehrfach beinahe im Gefängnis gelandet. Er erklärte das so, dass er „fachlich ein Perfektionist, im Büro ein Chaot“ sei. Rechnungen blieben ewig liegen, und seine eigenen Forderungen stellte er erst mit langer Verzögerung. In den Vorgesprächen hatte ich mit ihm ein Genogramm seiner Herkunftsfamilie erstellt. In seiner Familie gab es sieben Kinder. Er hatte drei ältere und drei jüngere Geschwister. Die Atmosphäre zu Hause nannte er „hart, aber herzlich“. Als er einmal mit elf oder zwölf Jahren sein Essen nicht aufessen wollte, sei der Vater sauer geworden und hätte ihn hart bestraft. Er sei daraufhin für etwa drei Tage von zu Hause ausgerissen. Dazu meinte er, dass es in der Familie zwar einen gewissen Zusammenhalt gegeben habe, Probleme aber nie besprochen worden seien. Die neue Gruppe begann er damit, dass er sich einen Schreibblock nahm und die Namen der anderen Teilnehmer aufschrieb. Die anderen sagten sie ihm und er bot an, die Liste für sie zu kopieren. Anschließend schilderte die 30-jährige Gisela die Geschichte ihrer Anorexie, wegen derer sie bereits vor zehn Jahren in meiner Behandlung war. Sie war damals eine meiner ersten Patientinnen gewesen und ihr Leben hing förmlich an einem seidenen Faden. Sie hatte sich so weit heruntergehungert, dass ich sie stationär einweisen musste, und wir hatten über Jahre eine Menge Kämpfe um Kontrolle und Autonomie miteinander ausgetragen. Jetzt kam sie wegen eines unerfüllten Kinderwunsches und aus Sorge um ihre Partnerschaft. Sie war die ältere von zwei Kindern eines Postangestellten, der kaum über seine Gefühle redete und einer massiv übergewichtigen Mutter, die als Krankenschwester in der Geriatrie arbeitete. Gisela war ein äußerst angepasstes Kind gewesen, sparsam und schüchtern. In der

3

Schule war sie wegen ihres Übergewichtes gehänselt worden. Sie hatte sich daraufhin immer mehr zurückgezogen. Mit Beginn der Pubertät hatte sie mit Diäten begonnen und ihre Mutter schließlich zur Verzweiflung gebracht, weil sie mit dem Hungern gar nicht mehr aufhören wollte. Nach mehreren Jahren Behandlung hatte sie sich weitgehend stabilisiert, eine Berufsausbildung zur Erzieherin abgeschlossen und lebte nun in einer festen Partnerschaft. Wegen der weiterhin bestehenden Selbstunsicherheit sah ich in einer Gruppentherapie eine sinnvolle Fortsetzung der bisherigen Behandlung. Sie erzählte von sich aus der Gruppe von ihrer Essstörung und ging offen auf die Nachfragen der anderen ein. Im Nachhinein gehe ich davon aus, dass sie in dieser Situation gut für mich und die Gruppe sorgte, eine Rolle, die ihr aus ihrer Herkunftsfamilie vertraut war. Ingo, der seinen Schreibblock inzwischen beiseite gelegt hatte, begann, ohne auf sie einzugehen, mit einem langen Vortrag über den Sinn des Lebens. Er verlor sich in Allgemeinplätzen und war wenig auf die anderen bezogen. Die anderen in der Gruppe verdrehten die Augen und schienen sich darüber einig zu sein, dass er sie mit seinem Reden nervte. Keiner sprach das zu diesem Zeitpunkt allerdings aus. Eine weitere Teilnehmerin, Monika, sprach, nachdem er ausgeredet hatte, ihre Suchtthematik an. Sie hatte nach einem Streit mit ihrem Freund deutlich zu viel getrunken, war von der Polizei aufgehalten worden und hatte ihren Führerschein verloren. Sie hat einen siebenjährigen Sohn aus einer früheren Beziehung und lebte mit ihrem Freund auf dem Bauernhof seiner Eltern. Diese mischten sich ständig in die Beziehung der jungen Leute ein. Sie verlangten vom Freund der Patientin, immer wieder auf dem Hof zu helfen, obwohl der ältere Bruder der eigentliche Hoferbe war. Ihr Freund müsse endlich mal lernen, Nein zu sagen und sie habe keine Lust, ständig hinten anzustehen, wenn er wieder auf dem Hof zur Verfügung stehen müsse, statt mit ihr etwas zu unternehmen. Sie selber war das

42

3

P. Wollschläger

dritte Kind aus einer Scheidungsfamilie. Beide Eltern hatten Alkoholprobleme und waren in psychiatrischer Behandlung. Nach mehreren gescheiterten Beziehungen hatte sie an ihrem Freund dessen Ruhe und seine Zuverlässigkeit geschätzt. Jetzt hatte sie jedoch immer öfter das Gefühl, dass er nicht ausreichend zu ihr stand. Lucie nahm den Ball auf und erklärte, sie stünde vor der Entscheidung Kind oder Karriere. Bevor sie das jedoch weiter ausführen konnte, mischte sich Ingo wieder ein und nahm das Thema „Sinn des Lebens“ wieder auf. Diesmal sagte Ludwig, ein Schlosser, in ärgerlichem Tonfall, er solle doch mal aufhören, ständig von „man“ zu reden. Ob er nicht einmal etwas von sich selber sagen wolle. Auch Konrad, der bis dahin noch nichts gesagt hatte, stieg in die Kritik ein und meinte: „Es interessiert mich einen Scheiß, was du denkst. Ich erzähle hier ja auch nichts.“ Nach der Stunde kam er auf mich zu, meinte, die Gruppe bringe ihm nichts und er wolle wieder einen Einzeltermin haben. In diese aufgeladene Situation kam der Landwirt Theo mit einer Stunde Verspätung hinein. Es dauerte einen Moment, bis sich aufklärte, dass ich ihm den Termin falsch aufgeschrieben hatte. Ich entschuldigte mich für den Fehler und bot ihm an, Platz zu nehmen. Er erzählte dann, ohne von der vorherigen Auseinandersetzung etwas mitbekommen zu haben, fast zehn Minuten lang seine Geschichte. In seiner einfachen, dabei herzlichen Art gewann er rasch die Aufmerksamkeit der anderen, berichtete von seiner Erschöpfung, seinen Versagensängsten, der ungerechten Behandlung durch die Kollegen auf dem Bauhof, wie er keinen Ausweg mehr gewusst und schließlich einen Suizidversuch unternommen hatte. Schlagartig änderte sich die Stimmung in der Gruppe und die anderen überboten sich mit guten Ratschlägen, wie er sich besser gegenüber seinen Kollegen hätte zur Wehr setzen können. Zwanzig Minuten vor Ende der Stunde wandte sich dann Monika an mich mit dem

Anliegen, dass sie der jetzigen Freundin ihres Ex-Partners einen Entschuldigungsbrief schreiben wolle. Sie hatte ihr aus Eifersucht eine heftige Ohrfeige versetzt und wollte sich für ihre Tat entschuldigen, wisse aber nicht, wie. Ich regte an, die Möglichkeiten der Gruppe dafür zu nutzen. Die anderen fragten nach den Umständen, wie es zu der Auseinandersetzung gekommen war, solidarisierten sich mit ihr und fanden es mutig, dass sie auf die andere Frau zugehen wollte. Mein Resumee der ersten Sitzung war, dass es hoch her ging, die TeilnehmerInnen viel miteinander ausgehandelt hatten und es möglicherweise darum ging, welche Möglichkeiten es gibt, mit Meinungsverschiedenheiten, Krisen und Konflikten umzugehen. Im Anschluss an die Sitzung fühlte ich mich wie durch eine kalte Badewanne gezogen. Es war mir peinlich, dass ich gleich beim ersten Mal den Fehler mit dem Terminzettel gemacht und dadurch Theos Verspätung verursacht hatte. Gleichzeitig war ich dankbar über den versöhnlichen Abschluss der Sitzung. Aber wie sollte ich in dieses Chaos jemals Ordnung bringen? Wie konnte ich die vielen Geschichten der einzelnen PatientInnenn gleichzeitig auf dem Schirm haben? Und was wären die richtigen Interventionen gewesen? Ich fühlte mich hilflos und überfordert und war dankbar über den kurz darauf anberaumten zweistündigen Supervisonstermin. Wir haben diesen Termin  so gestaltet, dass ich Herrn Mattke die einzelnen Teilnehmer und ihre Geschichte vorstellte. Ich habe mir angewöhnt, mit jedem Patienten in den Anamnesesitzungen ein Genogramm zu erstellen. Eine ausführliche Anleitung dazu findet sich bei  McGoldrick und Gerson (2000). Das daraus entstandene Bild bietet auf einen Blick eine gute Gesamtschau der Lebensverhältnisse, der  wichtigen Ereignisse und Konfliktlinien in den Familien der PatientInnen. Inzwischen habe ich gelernt, dass einer der Pioniere der Gruppentherapie, Sigmund Heinrich Foulkes, für solche komplexen Beziehungsgeflechte und die damit

43 Meine erste Gruppe und wie es weiterging

verbundenen Geschichten und Affekte den Begriff der Matrix benutzt hat (Foulkes 1964, S. 118). Er postulierte, dass sich in einer Gruppe aus den Erfahrungen und Empfindungen, die sie auf die anderen Mitglieder, den Leiter und auf die Gruppe als Ganzes projiziert, eine gemeinsame Gruppenmatrix herauskristallisiert. Die oben beschriebenen Dialoge der neuen Gruppe stellten ein Kondensat dieser Gruppenmatrix dar, die die Teilnehmer, ohne sich dessen bewusst zu sein, spontan miteinander gestalteten. Aufgrund ihrer Vielschichtigkeit ist es auch für eine erfahrene Leitung nicht möglich, sie in ihrer Komplexität vollständig zu erfassen. Foulkes geht aber davon aus, dass sich durch die Vernetzung der einzelnen Matrizes die Gesamtheit der Gruppe in jeder Äußerung, Assoziation oder Reaktion der einzelnen Teilnehmer widerspiegelt. Die Aufgabe der Leitung besteht darin, einen sicheren und Halt gebenden Rahmen zur Verfügung zu stellen, sodass die Gruppe von sich aus kreative Lösungen erarbeiten kann. Einen solchen kreativen Gruppenprozess beschreibt ein weiterer Pionier der Gruppentherapie, Winfried Bion, der ebenso wie Foulkes im Northfield Hospital in England gearbeitet hat. Bion, selber ein erfahrener und hoch geehrter Frontsoldat, war beauftragt worden, eine Rehabilitationseinrichtung für Soldaten im Zweiten Weltkrieg zu leiten und hatte sich Gedanken gemacht, wie er das zustande bringen könne. Die Haltung eines Gruppenleiters verglich er mit der eines „Offizieres, der sich als erfahrener Mann seiner Schwächen bewusst ist, die Würde seiner Leute achtet und weder ihren guten Willen noch ihre Feindseligkeit fürchtet“ (Bion 1990, S. 8). Er schildert, wie er die etwa hundert Soldaten motivierte, sich mit ihren interpersonalen Beziehungen auseinanderzusetzen (ebd. S. 10 ff.) Er übertrug ihnen die Verpflichtung, sich für eine von mehreren Themengruppen zu entscheiden oder sich in einem Erholungsraum aufzuhalten. Jeden Mittag sollten sich alle Patienten treffen und sich über ihre Erfahrungen austauschen. Wer ein weiteres

3

Thema hatte, konnte eine neue Gruppe eröffnen, sofern er Mitstreiter dafür gewann. Die Soldaten, die bisher an Strukturen von Befehl und Gehorsam gewohnt waren, waren anfangs irritiert über die neue Situation, und die Unteroffiziere beschwerten sich über einen Mangel an Struktur und Disziplin. Im Verlauf lernten die Gruppen jedoch rasch, selber Verantwortung zu übernehmen. Als es Probleme mit der Sauberkeit der sanitären Anlagen gab, schlugen einige Soldaten vor, eine eigene Ordnungsgruppe zu gründen und teilten die Putzdienste selbstständig auf. Innerhalb weniger Wochen hatte sich ein vollständiger Wandel innerhalb der Einrichtung vollzogen. Die Soldaten traten selbstbewusster auf, waren zufriedener, und es gab viel weniger Bedarf für die Vorgesetzten, disziplinarisch einzugreifen. In diesem Sinne ermutigte mich auch Dankwart Mattke zu einer zurückhaltenden und wohlwollenden Haltung der Gruppe gegenüber (Mattke 2009). Wir haben miteinander überlegt, wie ich für einen sicheren Rahmen sorgen kann. Dazu gehört in erster Linie, die Teil-

nehmer gut auf die Gruppe vorzubereiten

(Staats et al. 2014; Yalom 1974). Das Zusammentreffen mit anderen, unbekannten Menschen löst bei den meisten von uns eine Mischung aus Interesse und Angst aus, die je nach Persönlichkeit variieren kann. Ohne dass es uns bewusst ist, werden wir dabei an frühere Begegnungen erinnert. Wenn diese schwierig waren, fürchten wir deren Wiederholung in der aktuellen Situation. Ziel der Gruppentherapie ist es, die Zusammenhänge zwischen den damaligen Geschehnissen und der aktuellen Situation zu erkennen, ihren emotionalen Gehalt zu verstehen und neue Strategien zum Umgang mit den Problemen zu erarbeiten. Dafür bedarf es eines klaren Rahmens mit wenigen klar formulierten Regeln. Diese bestehen in der Aufforderung,

die eigenen Gedanken und Empfindungen so frei wie möglich zu äußern. Damit das möglich ist, braucht jede/r die Sicherheit, dass das, was in der Gruppe besprochen wird, nicht

44

3

P. Wollschläger

an Dritte weitererzählt wird. Auch sollen alle wichtigen Dinge in der Gruppe und nicht außerhalb miteinander besprochen werden. Als Leiter achte ich darauf, dass immer nur ein/e TeilnehmerIn spricht. Das hilft, einander zuzuhören und sich gegenseitig ausreden zu lassen. Ich weise auf die Notwendigkeit der regelmäßigen und pünktlichen Teilnahme hin und habe für den Fall, dass jemand fehlt, ein Ausfallhonorar vereinbart. Falls ich selber verhindert bin, kündige ich das lange vorher an. Die Krankenkasse genehmigt in einem ersten Schritt zwölf Gruppensitzungen, die eine gute Gelegenheit sind, sich mit der Arbeit in der Gruppe vertraut zu machen. In weiteren Genehmigungsschritten können in der tiefenpsychologischen Gruppenpsychotherapie bis zu 80 Sitzungen vereinbart werden, wozu ab der 25. Sitzung ein Bericht an den Gutachter erforderlich ist (Dieckmann et al. 2018). Anmerkung: Seit Dezember 2019 nur noch erforderlich, wenn Gruppen- und Einzeltherapie kombiniert werden. Einmal im Quartal lese ich die Versicherungskarten ein und informiere die PatientInnen über die noch verbleibende Zahl an Sitzungen, sodass sie sich entscheiden können, ob sie eine Verlängerung beantragen wollen. Die Gruppe soll möglichst ungestört verlaufen, sodass ich darum bitte, Mobiltelefone während der Gruppensitzungen abzuschalten. Ausnahmen, wenn zum Beispiel Kinder zu Hause krank sind, sollen in der Gruppe vorher besprochen werden. Über die von mir vorgegebenen Regeln hinaus hat jede Gruppe im Lauf der Zeit eigene Rituale entwickelt, wie sie miteinander umgehen, wie neue TeilnehmerInnen  aufgenommen und solche, die aufhören, verabschiedet werden. Viele dieser Umgangsformen werden automatisch an „die Neuen“ weitergegeben, und so hat jede meiner Gruppen inzwischen ihre eigene Kultur. Am Ende der Sitzungen erstelle ich ein Protokoll. Dafür nummeriere ich die Sitzung, ausgehend von der ersten Stunde, halte Datum, Uhrzeit und die Sitzordnung der TeilnehmerInnen fest. Ich schreibe auf, wer

fehlt, wer abgesagt hat, wer neu angefangen oder sich verabschiedet hat. Auf den nächsten Seiten erfasse ich kursorisch das Grundthema der Sitzung, besondere Ereignisse und wer sich wie eingebracht hat. Weiter versuche ich, meine eigene Stimmung der Gruppe gegenüber zu erspüren und in Worte zu fassen. Ich benötige einschließlich der Eingabe im Praxisverwaltungsprogramm dafür etwa zwanzig Minuten Zeit. Später kann ich anhand der Protokolle versuchen, den Verlauf der Gruppe über einen weiteren Zeitraum zu verfolgen. Die oben beschriebene Gruppe ging noch einige Zeit turbulent weiter. Es kam zu zwei Abbrüchen, die ich meiner damals noch geringen Erfahrung im Umgang mit heftigen Affekten zuschreibe. Im weiteren Verlauf stabilisierte sich die Atmosphäre und die Gruppe begann, konstruktiv miteinander zu arbeiten. Bion hat in seinen Gruppen ähnliche Erfahrungen gemacht und das so verstanden, dass es unterhalb der diskutierten Themen – der Sachebene – eine unbewusste Ebene gibt, die er „Grundannahmenebene“ nannte. Auf dieser unbewusst ablaufenden Ebene würde die Gruppe die Modalitäten „Versorgung“, „Kampf und Flucht“ und „Paarbildung“ verhandeln. Ich gehe an dieser Stelle nicht weiter auf seine Ausführungen ein, sondern verweise auf seine Arbeit „Erfahrungen mit Gruppen“, in der er seine Gedanken in sehr anschaulicher Weise beschreibt. Heute helfen sie mir, das Geschehen in Gruppen besser zu verstehen und einzuordnen. Zu Beginn meiner Arbeit mit Gruppen ist es mir noch schwer gefallen, PatientInnen für diese Form der Therapie zu motivieren. Die meisten wollten lieber in die Einzeltherapie kommen. Die Vorstellung einer Behandlung in der Gruppe erschien ihnen unheimlich und sie wollten die Zeit mit mir ungern mit anderen teilen. Mir war nicht klar, dass das größte Hindernis bei mir selber lag. Das kam vor allem daher, dass auch ich die Exklusivität der Zweiersituation als etwas Besonderes erlebte. Die Gruppe erschien unter diesem Aspekt wie die zweite Wahl. Das änderte sich deutlich,

45 Meine erste Gruppe und wie es weiterging

als ich bemerkte, dass soziale Themen, Ängste aber auch Depressionen viel besser in der aktuellen Situation einer Gruppe erfahren und behandelt werden können. Die gegenseitige Solidarität in der Gruppe, das Expertenwissen der Betroffenen und die Erfahrung gemeinsamer Kompetenz im Umgang mit schwierigen Lebenssituationen sind Möglichkeiten der Gruppe, die ich in der Einzeltherapie nicht zur Verfügung habe. Seit ich das begriffen habe, kann ich PatientInnen viel besser verständlich machen, warum ich eine Gruppentherapie für sinnvoll halte. Damit stellt sich auch die Frage, für wen die Behandlung in der Gruppe nicht infrage kommt. Das können Personen sein, die in besonderer Weise in der Öffentlichkeit stehen, wie Politiker, Firmenchefs oder Pfarrer. Sie fürchten oft zu Recht Nachteile, wenn in der Kleinstadt, in der ich arbeite, bekannt wird, dass sie in psychiatrischer Behandlung sind. Auch behandle ich in meiner Praxis keine PatientInnen mit Alkoholabhängigkeit. Für diese bietet die örtliche Caritas spezialisierte Gruppen an. Zeitliche Probleme ergeben sich bei PatientInnen mit wechselnden Arbeitszeiten. Ich bitte dann, im Vorfeld abzuklären, ob deren Dienstplan so gestaltet werden kann, dass eine regelmäßige Teilnahme an der Gruppe möglich ist. In den ersten Jahren habe ich Gruppen ausschließlich in den frühen Abendstunden angeboten. Die Zeit zwischen siebzehn und neunzehn Uhr hat sich dabei als sehr praktikabel erwiesen. Inzwischen habe ich auch eine Gruppe am Mittwochmorgen, in die ich PatientInnen mit langen krankheitsbedingten Ausfällen, PatientInnen ohne Arbeitsplatz und ältere PatientInnen aufnehme. Eine weitere Spezialisierung hat sich eher durch Zufall ergeben. Montags waren eines Tages keine Männer mehr in der Gruppe und auch keine neuen männlichen Aspiranten in Sicht. In dieser Zeit habe ich die Erfahrung gemacht, dass die verbliebenen Frauen viele Themen angeschnitten haben, die in den gemischten Gruppen nicht zur Sprache kamen. Ich habe daraus den Schluss gezogen, dass Frauen mit einer hohen Schamschwelle und

3

nach Erfahrungen von Übergriffen und Gewalt eine Zeit lang in einer gleichgeschlechtlichen Gruppe besser aufgehoben sind. Von den etwa 8500 Therapeuten, die eine Abrechnungsgenehmigung der KV für Gruppen haben, führen nur etwa 300 solche Gruppen durch (Heuft 2018). Ein Grund dafür dürften die notwendigen Berichte an die Gutachter sein. Bei fünf Gruppen, wie ich sie in meiner Praxis durchführe, kommen da schnell über vierzig Berichte zusammen. Ich stand also vor der Frage, wie ich diese Aufgabe so effektiv wie möglich lösen könnte. Seit 2013 haben PatientInnen das Recht, alle ihre ärztlichen Unterlagen einzusehen. Dazu gehört auch der Bericht an den Gutachter. Warum sollte ich den Bericht dann nicht gleich mit den PatientInnen gemeinsam formulieren? Mir fielen die Arbeiten des norwegischen Familientherapeuten Tom Anderson zum Reflecting Team ein. (Anderson 1990). Nach Jahren, in denen die Therapeuten die Familien durch eine Einwegscheibe beobachtet hatten, hatten die Kinder einer Familie vorgeschlagen, doch selber einmal hinter der Scheibe zu sitzen und den Therapeuten beim Erarbeiten ihrer Interventionen zuzuschauen. Vielleicht könnte das ja auch beim Erstellen der Gutachtenanträge gehen? Ich habe also in meiner Praxis einen Beamer und eine Leinwand installiert, auf die der Patient oder die Patientin und ich gemeinsam schauen. Glücklicherweise habe ich in meiner Jugend gelernt, relativ flüssig mit zehn Fingern Schreibmaschine zu schreiben  und kann so meine Gedanken spontan formulieren. Wenn also ein Patient oder eine Patientin einen Antrag auf Umwandlung von Kurz- in Langzeittherapie stellt, vereinbaren wir ein bis zwei Einzelstunden und gehen anhand des Formblattes (PTV 3 der Psychotherapierichtlinie) die einzelnen Punkte miteinander durch. Es ist beeindruckend, wie viel die PatientInnen selber zu den Berichten beitragen können, wie interessiert sie an den Rückmeldungen im psychischen Befund sind und wie spannend es ist, miteinander Hypothesen zur Psychodynamik zu erarbeiten. Meine anfängliche Sorge, PatientInnen damit zu viel zuzumuten, hat sich als ungerechtfertigt erwiesen. Vielmehr

46

3

P. Wollschläger

beschreiben diese die Sitzungen als eine wichtige Rückmeldung, die ihnen noch einmal vieles klar gemacht habe. Ich habe es mir angewöhnt, sie in der nächsten Gruppenstunde noch einmal auf die Situation anzusprechen und so ihre Erfahrung mit den anderen zu teilen. So ist aus der oftmals lästigen Pflicht zum Verfassen der Therapieberichte ein wirkungsvolles Therapieinstrument geworden, auf das ich nicht mehr verzichten möchte. Nach über zehn Jahren gruppentherapeutischer Arbeit in meiner ambulanten Praxis möchte ich diese Form der Therapie nicht mehr missen. Sie stellt eine wirkungsvolle Alternative und Ergänzung zur Einzeltherapie dar (Wollschläger 2019) und wird inzwischen auch dem Aufwand entsprechend angemessen honoriert. Zum Schluss möchte ich noch auf meine anfänglich geäußerte Idee eines Literaturkanons zur Gruppentherapie zurückkommen: Für den Einstieg bietet sich der Roman Die Schopenhauer Kur (Yalom 2005) des amerikanischen Gruppentherapeuten Yalom an. Er beschreibt darin, wie ein narzisstisch schwer gestörter Mann zu einem älteren und bereits schwer an einer Krebserkrankung leidenden Gruppentherapeuten in Therapie kommt. Immer im Wechsel und Rückgriff auf Erfahrungen des deutschen Philosophen Schopenhauer beschreibt Yalom die Erlebnisse des Patienten in der Gruppe. Deren wechselvoller Verlauf ist dabei alles andere als lege artis, was das Buch abwechslungsreich und lebendig macht. Ebenfalls für Anfänger gut geeignet ist das Buch von Mattke und Strauß (2012): Keine Angst vor Gruppen. Wer sich für die Anfänge psychoanalytisch orientierter Gruppentherapie interessiert, wird bei den Arbeiten von Trigant Burrow, bei Foulkes und Bion fündig. In Deutschland ist die Gruppentherapie wesentlich von Heigl und Heigl Evers in Tiefenbrunn bei Göttingen und in Österreich in Altaussee geprägt worden. Die aktuelle Arbeit mit dem Göttinger Modell beschreiben Hermann Staats, Andreas Dally und Thomas Bolm in ihrem Lehr- und Lernbuch (2014).

Als regelmäßiges Publikationsorgan des DAGG, inzwischen D3G, beinhaltet die Zeitschrift Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik regelmäßig aktuelle wie historische Aufsätze zur Gruppentherapie. Darin werden auch die Vorträge auf der jährlichen Fachtagung der D3G veröffentlicht. Ein ausführliches Lehrbuch zur Gruppenpsychotherapie haben Bernhard Strauß und Dankwart Mattke herausgegeben (2012).

Literatur Anderson, T. (1990). Das Reflektierende Team. Dialoge und Dialoge über die Dialoge. Dortmund: Verlag modernes Lernen. Bion, W. (1990). Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Frankfurt: Fischer. Bion, W. (1961). Experiences in groups and other papers. London: Tavistock Publications Limited. Dieckmann, M., Dahm, A., & Neher, M. (2018). Faber – Haarstrick. Kommentar Psychotherapie-Richtlinien (S. 116). München: Elsevier. Foulkes, S. H. (1964). Therapeutic group analysis. London: George Allen & Unwin. Heuft, G. (2018). BARGRU – Studie. Welche Barrieren sehen GruppentherapeutInnen gegenüber der ambulanten Gruppentherapie? 7 https://www. ukm.de/index.php?id=bargru. Zugegriffen: 29. März 2019. Mattke, D. (2009). Keine Angst vor Gruppen. Gruppenpsychotherapie in Praxis und Forschung. Stuttgart: Klett Cotta. Mattke, D., & Strauß, B. (2012). Gruppenpsychotherapie. Lehrbuch für die Praxis. Berlin: Springer. McGoldrick, M., & Gerson, R. (2000). Genogramme in der Familienberatung (2. Aufl.). Bern: Huber. Pape, S. (2007). Wie plane ich eine Therapiegruppe? Forum Psychotherapeutische Praxis, 7(1), 7–14. Staats, H., Dally, A., & Bolm, T. (2014). Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse. Ein Lehr- und Lernbuch für Klinik und Praxis (S. 213–219). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Wollschläger, P. (2019). Gruppentherapie. Ja oder Nein. Eine Fallgeschichte zur Psychodynamischen Gruppentherapie. In S. Sulz, M. Sichort-Hebing & A. Walter (Hrsg.), Gruppen-Psychotherapien - höchst wirksam, ganz einfach und sehr beliebt. München: CIP-Medien. Yalom, I. (1974). Gruppenpsychotherapie. Grundlagen und Methoden. Ein Handbuch (S. 242–254). München: Kindler. Yalom, I. (2005). The schopenhauer cure. New York: Harper Collins.

47

Gruppe – wie geht das bei mir? Antworten auf einige W-Fragen (Was? Wie? Wo? Wen? Wozu?) zur Gruppenpsychotherapiepraxis unter PTR-Bedingungen Christian Willnow

4.1 Wo? – 48 4.2 Was und wen? – 48 4.3 Wie gehe ich vor? – 49 4.4 Wen nehme ich in die Gruppe? – 50 4.5 Was mache ich in der Gruppe? Mein Gruppenkonzept – 50 4.6 Zu den Rahmenbedingungen – 54 4.7 Wozu führt es? – 54 4.8 Fazit – 57 Literatur – 57

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_4

4

48

4

Ch. Willnow

Im Folgenden können Sie lesen, wie man mit gutem Erfolg ambulante Gruppentherapie machen kann. In den letzten 26 Jahren habe ich einen tiefenpsychologisch fundierten pragmatischen Ansatz entwickelt, mit dem sich sehr verschiedene Patienten erreichen lassen. Es gibt einige Ausschlusskriterien, die zumeist in den probatorischen Sitzungen deutlich werden. Es hat sich bewährt, die Patienten nach Lebensphasen in unterschiedliche Gruppen zuzuordnen. Beschrieben wird der klare Rahmen mit einigen Standardelementen. Der Gruppenprozess bewegt sich zwischen Einzelarbeit in der Gruppe und dem freien Spiel der Dynamik der Gruppe, zwischen dem Geschehenlassen von Übertragungen und psychoedukativer Erörterung. Einige Ergebnisse von 313 abgeschlossenen Behandlungen werden dargestellt.

4.1  Wo?

Ich bin seit 1990 in Bergisch Gladbach als Psychiater in Einzelpraxis niedergelassen. Aus dem Behandlungsspektrum der Psychiatrie biete ich nur Psychotherapie an. Zur Medikation kooperiere ich mit Kollegen, die psychopharmakologisch behandeln. Ich habe eine Sekretärin, die das Telefon bedient, das Büro organisiert, Termine macht und die Protokolle meiner Gruppen schreibt. Sie organisiert den Aufwand der Antragsstellung und hilft mir bei den sonstigen Schreibarbeiten. Sie verkörpert die „persönliche telefonische Erreichbarkeit“ mit sechs Stunden/Woche. Die Räume sind im Parterre einer kleinen Villa von 1911. Es gibt ein Büro und ein Ordinationszimmer: zwei 14-Quadratmeter-Räume, die mit einem großen Durchgang leicht versetzt ineinander übergehen. Der vordere ist das „Einzelbehandlungszimmer“, da steht auch das große Regal mit Materialien zum nonverbalen Ausdruck: Gegenstände, Zeichenblöcke, Stifte und Musikinstrumente. Der Gruppenraum liegt dahinter. Er ist leer, es gibt dort Meditationskissen, auf denen die Patienten an der Wand

sitzen (für die Rentner- und Frührentnergruppe gibt es Hocker). 4.2  Was und wen?

1992 habe ich mit fünf Patienten meine erste Gruppe begonnen, 1996 ist eine zweite Gruppe dazu gekommen, 2004 die dritte Gruppe. Sie werden als „Slow-open-Gruppen“ geführt. Seit 2000 sortiere ich sie nach Lebensphasen. 1. Die „Junge-Leute-Gruppe“ (JLG) hat ein Altersspektrum zwischen Anfang 20 bis Anfang 40. Wichtiges Thema ist: den Platz im Leben finden. Viele sind noch in Ausbildung, bei der Partnersuche. Es gibt immer wieder Patienten – beiderlei Geschlechts – welche noch keine Liebesbeziehung hatten. 2. In der „Erwachsene-LeuteGruppe“ (ELG) sind Menschen zwischen 40 und 60 Jahren, sie stehen im Arbeitsleben, haben oder hatten Beziehungen, meist auch Kinder. 3. Die „Rentner- und FrührentnerGruppe“ (RFG) hat den Charme, vormittags Zeit zu haben. Das Altersspektrum: ab Mitte 50 bis 81 Jahre. Häufige Themen sind das Altern, Trauern über Partnerverluste und Depression über die Tatsache, aus dem Arbeitsalltag heraus zu müssen und das Leben neu zu strukturieren. Ich habe einen Datensatz von allen Gruppenpatienten seit 1992 und einen weiteren von allen Patienten seit 2003, mit denen ich mich für probatorische Sitzungen verabredet habe. Ich behandle mehr Patienten in Gruppe als einzeln. Mit 617 Patienten gab es seit 2003 mindestens eine probatorische Sitzung. Bei knapp zwei Drittel hat das zu einer Behandlung geführt: Ich habe 171 Einzeltherapien mit im Durchschnitt 30 Sitzungen, 226 Gruppentherapien mit 46 Sitzungen und davon 23 erst Einzeltherapie und dann Gruppentherapie mit 80 Sitzungen durchgeführt (vgl. Schreiber-­

49 Gruppe – wie geht das - bei mir?

Willnow und Willnow 2010). Mit der Überzeugung, dass es sich beim Wechsel von Einzeltherapie auf Gruppentherapie um einen Methodenwechsel handelt, sind Anträge auf Gruppentherapie  nach längerer Einzeltherapie von den Gutachtern und dann von den Krankenkassen immer akzeptiert worden. Nach den neuen Richtlinien wird das wohl so nicht mehr gehen. Die Kombination Gruppe/ Einzeln ist jetzt ganz explizit vorgesehen. Bei Kombination werden Therapieeinheiten genehmigt. Ich habe bis März 2018 von 337 begonnenen Gruppenbehandlungen 313 abgeschlossen. Siebzehn Patienten waren zweimal bei mir in Behandlung, acht davon zweimal in Gruppe, einer war sogar dreimal. 4.3  Wie gehe ich vor?

Ich habe schon immer „Sprechstunden“, wie sie jetzt verpflichtend sind, angeboten, sie hießen früher „Erstgespräche“. Dieses erste Gespräch ist auf 30 min beschränkt; so kurz, damit nicht zu viel Übertragung und Bindung entstehen. Dabei geht es um ganz grundlegende Klärung: Der Patient erfährt, bei wem er einen Termin gemacht hat, und ob er sich vorstellen kann, mit mir zu arbeiten. Manchmal wird schon an der Tür beim Öffnen klar, dass es nicht gehen kann. Ich erfahre, wer sich gemeldet hat, ob eine mit ambulanter Psychotherapie zu behandelnde Störung vorliegt, oder ob Suchtberatung oder Eheberatung indiziert sind und ob mein Angebot für den Patienten hilfreich sein kann. Nach kurzer, orientierender Exploration mache ich, wenn ich eine Behandlungsindikation sehe, ein Therapieangebot. Dabei überprüfe ich auch, ob eine Gruppentherapie indiziert ist. Wenn ich eine Indikation für Gruppentherapie sehe, dann biete ich nur diese an. Wenn der Patient aber eine Einzeltherapie will, dann nicht bei mir. Ich habe das Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V, § 12 auf meiner Seite („… ausreichend, wirtschaftlich und zweckmäßig …“). Dabei hilft mir auch

4

die feste Überzeugung, dass Patienten, für die Gruppentherapie indiziert ist, davon mehr profitieren als von Einzeltherapie. Ich plädiere für Gruppentherapie mit drei Argumenten, angelehnt an Yaloms Wirkfaktoren  Universalität des Leidens, interpersonales Lernen und Affektaustausch (Yalom 1995).  Etwa 85 % nehmen dieses Angebot an. Wenn ich gute Argumente höre, weshalb Gruppe nicht gehen kann, lasse ich mich auch überzeugen; manchmal ist die Scham doch zu groß, und wir können erst mal daran arbeiten und dann später die Gruppe ins Auge fassen. Dann verabreden wir probatorische Sitzungen. Mit den Gruppenpatienten mache ich meistens nur zwei Sitzungen, auch damit nicht zu viel Einzelübertragung entsteht. Am Ende der ersten probatorischen Sitzung gebe ich einen Anamnesefragebogen mit. In der zweiten Sitzung lese ich den Bogen und stelle Fragen, wo es der Ergänzung bedarf. Ich frage nach, wie es dem Patienten mit dem Ausfüllen des Bogens und nach der ersten Probesitzung ergangen ist. Wenn mein Eindruck bestehen bleibt, dass Gruppentherapie ginge, schlage ich vor, ihn in die Gruppe zu nehmen. Dann gibt es Organisatorisches zu besprechen. Zuerst stelle ich meine „Vereinbarung zur Gruppenpsychotherapie“ vor. Es geht darum, sich in der Gruppe zu öffnen, aber verschwiegen gegenüber Dritten außerhalb der Gruppe zu sein, und es ist wichtig, regelmäßig zu kommen. Außerdem erkläre ich Ausfallhonorare und Kündigungsfristen. Wenn die Vereinbarung akzeptiert wird (sie ist nicht verhandelbar), muss der Patient die Therapie bei der Krankenkasse beantragen. Das macht er, indem er mir ein Formular unterschreibt. Wichtig ist mir dabei, dass es der Antrag des Patienten ist und nicht meiner. Dann folgt die ausführliche Aufklärung, über Nebenwirkungen und darüber, dass sich Beziehungen verändern können, und über den Umgang mit der Tatsache, dass in der Gruppe jemand sein kann, den der neue Patient kennt.

50

Ch. Willnow

Ich stelle dann einige weitere Aspekte der Gruppe vor, wie die Struktur der ersten Sitzung eines neuen Patienten, das Blitzlicht als Sitzungsende und die Phase der Stille zu Beginn der Sitzung.

4

4.4  Wen nehme ich in die Gruppe?

Grundsätzlich lässt sich jeder und jede Störung mit Gruppentherapie behandeln. Im stationären Rahmen kommen regelhaft alle Patienten in die Gruppe. Wen ich in die Gruppe nehme, hängt weniger von der Diagnose ab. Es gibt äußere Gründe gegen die  Gruppentherapie: Schichtarbeiter können ganz selten organisieren, regelmäßig an den Terminen teilzunehmen. Auch alleinerziehende Mütter von kleinen Kindern können zu der Zeit, an der die Kinder ein Abendprogramm brauchen, nicht kommen. Indiziert ist Gruppentherapie vor allem, wenn die Störung ein Gruppenthema anspricht. Auch Selbstwert lässt sich wunderbar im Kontakt mit anderen kalibrieren. Und soziale Ängste lassen sich besser in der Gruppe bearbeiten. > Grundsätzlich lassen sich alle Patienten

in der Gruppe behandeln; es gibt allerdings Ausschlusskriterien.

Kontraindikationen: Patienten mit Demenz finden auch in meiner Rentnergruppe keinen Platz, da sind die Veränderungsmöglichkeiten zu gering. Auch habe ich mit meinem doch auch recht verunsichernden Beziehungsangebot bei Patienten mit schizophrenen oder affektiven Psychosen keine guten Erfahrungen gemacht. Suchtkranke werden besser in der Beratungsstelle und in Selbsthilfegruppen versorgt. Wenn es Sucht in der Anamnese gibt, die als akute Erkrankung längere Jahre her ist, stellt das keine Kontraindikation dar. Es kam vor, dass das Suchtproblem erst im Rahmen der Gruppe deutlich wurde. Da beendete ich die Behandlung und verwies an die Suchtberatung.

Traumatisierung stellt für sich erst mal keine Kontraindikation dar. Vor Jahren wurde mir in einer Sitzung der „Erwachsenen-LeuteGruppe“ (ELG) plötzlich klar, dass ich da mit neun teilweise schwerer misshandelten Kindern saß, die sich gegenseitig stützten. Es gibt aber auch da Grenzen. Die Patientin, die sich durch teils zu extensive Erzählungen selbst verletzt (durch Retraumatisierung) und  teils die anderen Gruppenmitglieder dadurch gefährdet, muss ich bremsen, um alle zu schützen. Wenn wir keinen hilfreichen Umgang mit dem Trauma finden, dann muss ich die Patientin – ohne Kündigungsfrist – aus der Gruppe herausnehmen. Zu expansive, eher narzisstisch gestörte Patienten nehme ich auch nicht in die Gruppe. Es ist mir zu anstrengend bis unmöglich, sie immer wieder einzugrenzen. Zu viele Akademiker in der Gruppe sind nicht so günstig. Ich erinnere mich, wie eine Patientin mit Sonderschulabgangszeugnis einer „verkopften“ Lehrerin mit einer Emotionalität von Herzen Rückmeldung gab, mit der sie die andere in wunderbarer Weise erreichte. Es ist hilfreich, wenn Patienten Gemeinsamkeiten haben. Geschlechtermischung ist auch gut, wenn es geht: mindestens drei zu sechs. 4.5  Was mache ich in der

Gruppe? Mein Gruppenkonzept

> Patientenorientierung: Mit großer Vielfalt der Angebote können viele verschiedene Patienten erreicht werden.

So wie ich in meinem Bildungsweg neben dem tiefenpsychologischen Curriculum ein breites Spektrum psychotherapeutischer Techniken gelernt habe, so ist mein Ansatz in hohem Maße eklektisch. Bei Irvin D. Yalom The Theory and Practice of Group Psychotherapy finde ich viele Aspekte, die auch in meinen Therapien vorkommen.

51 Gruppe – wie geht das - bei mir?

Den Rahmen für meine Arbeit bilden die Psychotherapierichtlinien (PTR), insbesondere der Abschnitt über die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Die Überzeugung, dass der therapeutische Prozess letztlich im Patienten stattfindet, ist zentral. Therapie kann eine Veränderung der Programmierung des Gehirns des Patienten (als Computeranalogie) bewirken. Diese Programmierung ist wie das Langzeitgedächtnis substanziell. Psychotherapie verändert das Gehirn (Kandel 2006). Leben ist der lebenslange Prozess der Adaptation an sich immer verändernde Bedingungen. Das geschieht vor dem Hintergrund der „hardware“, mit der wir geboren wurden und der Erfahrungen, die wir im Laufe des Lebens gemacht haben, die diese „hardware“ und die „software“ gestalten. Im Rahmen von Therapie wird dieser Prozess in den Fokus genommen, diese Programmierung ist Thema. Das geschieht sowohl in der Einzeltherapie als auch in der Gruppe und in allen Verfahren. Das passiert auch im Kontakt mit verschiedenen Therapeuten, wie die neuen PTR es möglich machen. Die Veränderungen geschehen aber im Patienten, und nur der kann sie auch vornehmen. Der Therapeut hat (in Analogie zur Informationstechnologie) keine Zugangsberechtigung, keine Administratorrechte zum „Computer“ im Kopf des Patienten. Er kann Veränderungen anregen, aber nicht vornehmen. Die Verantwortung liegt beim und im Patienten. So ist es auch in der stationären Behandlung, wo ein Patient in den verschiedenen Settings (einzeln, in der Gruppe, in der Spezialtherapie, in der Patientengruppe) an sich „arbeitet“, noch mal konzentrierter und dort mit verschiedenen Personen, die aber auch eine gute Verbindung untereinander haben sollten. > Die eigentliche Arbeit macht der Patient!

Arbeitsstil: Mehr Behandlung in der Gruppe als Behandlung durch die Gruppe. Der Prozess in der Gruppe bewegt sich auf einer Geraden zwischen zwei Polen, die selten

4

erreicht werden. Auf der einen Seite arbeitet die Gruppe völlig autonom; ich sage nicht viel mehr als „guten Tag“ und „auf Wiedersehen“. Der therapeutische Prozess der Gruppe trägt sich selbst. Am anderen Pol bin ich sehr aktiv, ich mache Einzelarbeiten in der Gruppe, die ich aber immer wieder auch an das Erleben und Miterleben der Mitpatienten anbinde. Dabei achte ich darauf, dass die Beiträge der Mitpatienten weniger dem Patienten, mit dem gerade einzeln gearbeitet wurde, gelten, sondern sich auf das eigene Erleben des Beitragenden beziehen. Dieser Patient soll nicht zum Zentrum der Gruppenarbeit werden; und alle anderen fühlen sich entlastet, da ein anderer „dran“ ist – und der kriegt das dann nicht wieder los! Die Einzelarbeit wird auch zum Anstoß für Resonanzen: Was klingt bei den Mitpatienten an? „Was kennen Sie an dem gerade Gehörten, welche Gefühle löst das bei Ihnen aus?“ Die meisten Gruppensitzungen bewegen sich zwischen diesen beiden Polen. z Standardelemente

Es gibt fünf Elemente, die integrale Bestandteile meiner Therapien sind: 1. Sitzungseröffnung: Jede Sitzung, in der kein neuer Patient dazu kommt, beginnt mit zwei bis drei Minuten „Sitzen in der Stille“. Es gab einen Patienten, der seine soziale Verweigerung in die Gruppe verschoben hatte, dort nur schwieg und so in seinem normalen Leben funktionieren konnte. Das hatte damals die Gruppe sehr beeinträchtigt. Dies hatte mich dazu bewogen, dem „Schweigen“ einen Platz in der Gruppenzeit zuzuweisen. Im Sinne eines Primings gibt es zwei Effekte: 1) das Problem des Anfangsschweigens wird eingegrenzt und bekommt einen Rahmen. Der Schweigeangstpegel hat weniger Gelegenheit, zu sehr zu steigen. Es entängstigt. 2) Die Einladung „Was können Sie hier heute tun, damit es

52

4

Ch. Willnow

Ihnen kurz-, mittel- oder gar langfristig besser gehen kann?“ fokussiert auf die Verantwortung des Patienten und auf die Frage, worum es ihm geht. Längeres Schweigen ist therapeutisch nicht hilfreich. Von einem Patienten stammt der wunderbare Satz: „Nur wer spricht, dem kann geholfen werden!“ Längeres Schweigen über fünf Minuten lasse ich nicht aufkommen (Interventionen siehe unten). 2. Sitzungsende: Jede Gruppenstunde endet mit einem Blitzlicht. Die letzten fünf Minuten sind für die Abschlussrunde vorgesehen, in die ich mich auch einschließe. Jeder muss sich dazu äußern, wie es ihm geht und wie zufrieden er mit sich und der Sitzung ist. Im Blitzlicht gibt es keinen Austausch unter den Patienten mehr. 3. Einführung neuer Gruppenmitglieder: Wenn neue Patienten in die Gruppe kommen, mache ich ein Handlungsoder Erlebensangebot: eine geleitete Fantasie, ein Bild malen, einem Klang lauschen, sich einen Gegenstand oder ein Musikinstrument aus dem Regal heraussuchen. Die Erfahrung wird dann für eine Vorstellungsrunde genutzt: Jeder nennt seinen Namen, sagt ein paar Sätze zu dem gerade mit dem Angebot Erlebten, ein paar Sätze zum Grund für die Behandlung und, wer schon länger dabei ist, auch zum Stand der Dinge. Dabei geht es nur um eine kurze Vorstellung, damit die alten und die neuen Gruppenmitglieder eine Idee davon haben, mit wem sie in der Gruppe sind. Ich grenze das auch ein. 4. Fortsetzungsverhandlungen: Fünf Sitzungen vor Ende eines Bewilligungsabschnittes eines Patienten ist es Zeit für die Fortsetzungsverhandlungen. Es gibt Stundenkontingente, die dem Patienten von der Kasse bewilligt werden. Für die TP war das bis zum 01.04.2017: 25 Sitzungen Kurzzeittherapie (KZT), 40 Sitzungen Langzeittherapie (LZT) mit der Möglich-

keit, zweimal um jeweils 20 Sitzungen zu verlängern. Ab dem 1. April 2017 gibt es zweimal 12 Sitzungen KZT und 60 Sitzungen LZT mit einer Verlängerung auf 80 Sitzungen. Danach wird es schwierig. Ein Behandlungskontingent über die Höchstgrenze wurde in begründeten Ausnahmefällen (meist im Obergutachterverfahren) jedoch immer wieder befürwortet. Fortsetzungsverhandlungen finden als eine Art „rituelle Handlung“ statt. Sie besteht aus drei Schritten: I. Der Patient kann formulieren, was sich für ihn, seitdem er hier ist und seit dem letzten Bewilligungsschritt, getan hat, was sein Therapieziel war, wie zufrieden er mit dem, was er erreicht hat, ist. II. Er kann dann von den Mitpatienten Rückmeldung erhalten, welche Veränderungen und Entwicklungen gesehen wurden. Die sind immer wohlwollend, aber auch kritisch: „Ich habe nicht gesehen, dass sich etwas verändert hat!“ Das verhilft dann zu vermehrten Anstrengungen. III. Dann können wir besprechen, ob das Erreichte ausreicht und zufriedenstellend ist – das sind Abschlussverhandlungen, oder ob eine Fortsetzung notwendig ist und welche dann die erreichbaren Therapieziele wären. Ich lasse sie mir dann gerne noch mal schriftlich formulieren, was auch den Bericht zum Antrag einfacher macht. 5. Therapieende: Fünf Sitzungen vor Ende spreche ich das Ende der Behandlung in der Gruppe an. Es gibt dann Raum, sich damit zu beschäftigen. Ich erfrage an drei von diesen fünf Sitzungen, wie es dem Patienten mit dem Ende geht, wie zufrieden er mit der Therapie und dem Erreichten ist, was geholfen hat; auch eine Schulnote kann gegeben werden. In der letzten Stunde kommt dann die Frage, was er heute in der letzten Sitzung noch braucht. Ich nutze die Gelegenheit aber

53 Gruppe – wie geht das - bei mir?

auch, die verbleibenden Patienten zu fragen, wie es ihnen damit geht, dass jemand, oder dieser spezielle Patient, geht, und um zu fragen: „Was muss bei Ihnen passieren, dass Sie auch so gehen können?“ z z Die eigentliche Sitzung

Nach dem Beginn – entweder durchs Angebot oder durch die stille Phase – bringe ich vor, was ich zu besprechen habe, z. B. wenn Stundenkontigente auslaufen und Fortsetzungsverhandlungen zu führen sind; oder wenn wir verabredet haben, dass ich einen Patienten, der sich sehr schwer tut, anspreche, anzufangen. Ich stelle die Frage, was es zu tun gäbe. Wird zu lange geschwiegen, lasse ich manchmal eine Runde machen, in der jeder sagen soll, wo er mit seiner Aufmerksamkeit zur Zeit ist. Manchmal sage ich: „Ich gehe davon aus, dass Sie ihre Zeit nutzen, so gut wie es geht. Schauen Sie doch mal, wo Ihre Aufmerksamkeit hingeht und gleichen Sie es mit dem ab, weshalb Sie eigentlich hier sind!“ Ich habe als Gruppenleiter mehrere Aufgaben. Die wohl wichtigste ist, eine wohlwollende akzeptierende Atmosphäre in der Gruppe sicherzustellen. Zu viel negative Übertragung ist kontraproduktiv! Zu viel Angst erhöht den Stresslevel, und Stresshormone blockieren das Lernen. Die Patienten müssen sicher sein, dass sie geschützt sind. Manchmal muss ich Patienten auch vor sich selbst schützen (wenn zu viel Selbstoffenbarung stattfindet). Manchmal muss ich Patienten schützen, die zu hart von anderen angegangen oder kritisiert werden. In der Regel gehen die Patienten wohlwollend miteinander um. Wie in den Rückmeldungsrunden gibt es konstruktive wohlwollende, aber auch konfrontative Kritik. Dafür ist es wichtig, Standards vorzugeben,  z.  B. dass es besser ist, von sich oder von eigenen Erfahrungen zu sprechen als anderen Leuten Tipps zu geben.

4

Kürzlich war es zu einer viermonatigen Pause in der Junge-Leute-Gruppe gekommen, da von neun Patienten zwei in die Klinik gingen und sechs feststellten, dass die Behandlung – für mich nachvollziehbar – zu Ende war. Ich habe dann mit drei neuen Patientinnen wieder angefangen, eine kam nach der Tagesklinik-Behandlung wieder; eine andere, die aufgehört hatte, war wieder dekompensiert und kam zurück in die Gruppe. Eine neue Patientin stellte – in ihrer dritten Sitzung – sowohl überrascht als auch anerkennend fest, wie offen und zugleich angemessen zwei Patientinnen über ihre sexuellen Gewalterfahrungen berichteten und das betrauern konnten.

Ich interveniere und unterstütze bei der Klarifizierung und Identifizierung von Gefühlen. Ich bemühe mich, die Teilnehmer im Prozess zu halten, ihr Therapieziel zu verfolgen und zu erreichen. Wer zu wenig tut, wird gefördert und gefordert; wer zu viel tut, wird gebremst. Geht es nicht voran, spreche ich einzelne Gruppenmitglieder an und erbitte auch mal ein Einzelgespräch. Aus dem Handwerkskasten der Traumatherapie stammt die Stoppregel: Wenn im Raum etwas passiert, das jemand im Raum wirklich nicht will, dann kann er „Stopp!“ sagen oder signalisieren. Dann hört alles auf. Die „Notbremse“ ist gezogen! Das Thema wird gewechselt. Erst wenn die wieder gelöst ist, können wir auf das eingehen, was zu viel war. Es gibt psychoedukative Elemente; hier habe ich einige Themen genannt, die ich bei Bedarf in der Gruppe erläutere: Affekte, wie sie funktionieren und wozu sie gut sind:

5 Angst: Differenzierung von Angst und Ängsten (als Symptome von Angststörungen) und Panik (als immer krankhafter Prozess, „wie Allergie“) 5 Wut: Wozu ist die gut? 5 Trauer: Welche Funktion hat Trauer?

54

Ch. Willnow

5 Tränen: Menschen weinen vor Schmerz, vor Trauer, vor Wut, vor Freude und vor Anrührung. Welches sind angemessene gesellschaftliche Normen:

4

5 Wann ist man egoistisch, wann pathologisch altruistisch, was ist angemessen? 5 Das Gebot der christlichen Nächstenliebe: Wie kann ich mich selber so lieben wie ich den Nächsten liebe? Eine Hälfte für mich, die andere für alle anderen. 5 Was ist der Unterschied zwischen Esallen-recht-Machen und Es-allen-anderen-recht-Machen? Weitere Themen:

5 Das Helfersyndrom als Projektion eigener Bedürftigkeit 5 Arbeit mit „inneren Kindern“ als Visualisierungen von Selbst- und Objektrepräsentanzen 5 Psychotherapie als Arbeit an den Selbstbelohnungssystemen 5 Wie „Sucht“ (stofflich oder nichtstofflich) verhindern kann, dass die Selbstbelohnungssysteme ihrer Funktion nachkommen können, mir zu signalisieren, was gut für mich ist. Zur Illustration erzähle ich auch gerne kleine Geschichten:  gelesene, ausgedachte, selbst erlebte und auch Geschichten von ehemaligen Patienten. 4.6  Zu den Rahmenbedingungen z Angst vor „Gruppe“?

Patienten haben Angst vor der Gruppentherapie: vor dem Anfang, was sie erwartet, vor der Veränderung, die auf sie zukommt. Es ist wichtig, den Angstpegel in der Gruppe niedrig zu halten. Da hilft es aufzuklären, zu informieren, die Autonomie zu bestärken, zuzusichern, dass der Patient den eigenen

Prozess steuert, dass es einen klaren Rahmen gibt, dass der Therapeut diesen aufrecht erhält. Dieses Vorgehen gibt Sicherheit und entängstigt. Gibt es Angst beim Therapeuten? Welche Angst? Ich muss gestehen, dass ich das eigentlich nicht kenne. Ich habe keine Angst vor den Gruppentherapien, die ich durchführe. Ich stelle die Gruppen zusammen – und das mit klaren Ausschlusskriterien. Ich sorge für die Atmosphäre in der Gruppe, auch durch die oben beschriebenen Regeln und Elemente. Ich habe in Gruppen schon so vieles – Bedrohliches und Anrührendes – erlebt, dass mich wenig erschreckt. Ich leite die Gruppe und werde von allen als der Leiter anerkannt. z Unterstützung

Ich hatte einen Qualitätszirkel Gruppenpsychotherapie initiiert und langjährig geleitet, mit Kollegen, die möglichst unterschiedliche Ansätze hatten. Dort gab es für mich immer kollegialen Austausch und die notwendige Unterstützung. z Antragstellung

Das war lästig und früher auch sehr viel Arbeit. Inzwischen ist das Gutachterverfahren für reine Gruppentherapien und somit auch der Aufwand, Berichte zu schreiben, entfallen. 4.7  Wozu führt es?

Ich habe in 26 Jahren 337 Gruppenbehandlungen begonnen und bis März 2018 313 abgeschlossen. Die Prozentangaben beziehen sich auf die 313 abgeschlossenen Behandlungen. 161 (51 %) waren Frauen, 152 (49 %) Männer. Zu Beginn waren 31 (10 %) unter 25 Jahren, 69 (22 %) zwischen  26 und 35 Jahren, 91 (29 %) zwischen 36 und 45 Jahren, 91 (29 %) zwischen 46 und 55 Jahren, 40 (13 %) zwischen 56 und 65 Jahren und 15

55 Gruppe – wie geht das - bei mir?

(5  %) waren  über 65  Jahre alt. 45  % der Patienten waren bei Ersatzkassen versichert, 46 % bei Primarkassen und 8 % waren Privatpatienten. 93 Patienten (30 %) waren vor oder während der Behandlung in stationärer oder teilstationärer Behandlung. Bei Behandlungsbeginn habe ich 195mal (59 %) eine depressive Störung diagnostiziert (F32/F33: 70 [22 %], F34.1: 125 [40 %]). Darüber hinaus gab es 54-mal (17 %) F40–42, 26-mal (8 %) F43, 20-mal (6 %) F45, 12-mal  (4  %) F6x als Haupt- und 44-mal (14 %) als Nebendiagnose, 8-mal (3 %) sonstige. Die Dysthymie F34.1 ist die häufigste vergebene Diagnose, oft im Sinne einer „neurotischen Depression“. Aber es ist auch die „blandeste“ Diagnose, die die Leistungspflicht der Krankenkasse auslöst. Um unnötige Diskriminierung zu vermeiden, gehen viele Psychotherapeuten eher „dissimulierend“ mit der Diagnosestellung um. Die anderen Diagnosen wurden von mir enger gefasst. Die durchschnittliche Behandlungszeit – vom ersten Kontakt bis zur letzten Gruppensitzung, ggf. mit initialer Einzeltherapie, betrug 89 Wochen (Standardabweichung s = 68 Wochen), Median: 75 Wochen, Spannweite: 3–508  Wochen. 17 Patienten (5  %) waren länger als 200 Wochen, 18 (6 %) kürzer als 16 Wochen in Behandlung. Betrachtet man die Anzahl der Gruppensitzungen, so wurden drei Viertel der Patienten in dem Behandlungsumfang, den die Psychotherapie-Richtlinien (PTR) vorgeben, behandelt: 226 (72 %) erhielten 16–80 Gruppensitzungen. 59 (19  %) nahmen an weniger als 15 Gruppensitzungen teil und 28 (9 %) blieben länger als 80 Gruppensitzungen. Nach Diagnosegruppen sortiert variieren die Behandlungszeiten: 70 Patienten mit F32/33 hatten 54 Gruppensitzungen, 125 mit F34.1 hatten 44 Gruppensitzungen, 54 Patienten mit F40-F42 hatten 39 Gruppensitzungen, 22 mit F44–45 hatten 56 Gruppensitzungen und die 12 Patienten mit F6X als Hauptdiagnose hatten 61 Gruppensitzungen.

4

z Komplikationen

Es gab keinen Suizid oder Suizidversuch während einer meiner Behandlungen, eine akute Suizidalität, die eine zeitnahe Einweisung zur stationären und dann bald teilstationären Behandlung notwendig machte. Das Dramatischste war, als ein Patient eine vagale Synkope nach einer zu konfrontativen Intervention hatte. Er kollabierte, was einen (erfolgreichen) Notarzteinsatz zur Folge hatte. z Behandlungsergebnis

Ich vergebe am Ende der Therapie für die Behandlung eine Schulnote und einen kurzen Kommentar wie zum Beispiel: Sehr gut geworden „1“; gut geworden „2“; mittelmäßig/hat sich etwas stabilisiert „3“; schwierige Behandlung/vorzeitige Beendigung/mäßiges Ergebnis „4“; hat sich nicht eingelassen/ist nicht mehr gekommen „5“. 5 55 Patienten (18 %) bekamen nach durchschnittlich 76 Gruppensitzungen eine „1“. Von ihnen waren vierzehn in kombinierten Einzel- und Gruppenbehandlungen (E&G) mit insgesamt 131 Sitzungen. 5 113 Patienten (36 %) bekamen nach durchschnittlich 52 Gruppensitzungen eine „2“, davon zwölf in E&G mit 111 Sitzungen. 5 58 Patienten (19 %) bekamen eine „3“ nach durchschnittlich 45 Gruppensitzungen, davon sieben in E&G mit 79 Sitzungen. 5 49 Patienten (16 %) bekamen nach durchschnittlich 27 Gruppensitzungen eine „4“, davon sieben in E&G mit 57 Sitzungen. 5 38 Patienten (12 %) bekamen nach durchschnittlich 14 Gruppensitzungen eine „5“. Sie werden von mir als Abbruch gewertet, davon fünf in E&G mit 37 Sitzungen. z Beurteilung nach Diagnosegruppen

Wenn ich die Benotungen in zwei Erfolgsgruppen unterteile (erfolgreich: „1“ – „2“; weniger erfolgreich: „3“ – „5“), dann zeigt die Gesamtgruppe 54 % erfolgreiche, und 46 % weniger erfolgreiche Behandlungen (N = 313).

56

4

Ch. Willnow

Nach Diagnosengruppen aufgeschlüsselt in erfolgreich/weniger erfolgreich: F32–33: 61 %/39 % (N = 70), F34.1: 48 %/52 % (N = 125), F40–42: 46 %/54 % (N = 54), F43: 64 %/36 % (N = 26), F44–45: 64 %/36 % (N = 22). Mit Angststörungen scheine ich weniger erfolgreich zu sein als mit somatoformen Störungen und Anpassungsstörungen, mit Depressionen besser als mit Dysthymien. z Page Studie (Projekt Ambulante Gruppenpsychotherapie Evaluation)

Ich habe an der Page Studie über ambulante Gruppenpsychotherapie (Tschuschke und Anbeh 2008) teilgenommen. 32 meiner Patienten sind in die Auswertung von 244 Patienten mit psychodynamischer Behandlung gekommen. Dort fanden sich nach einer mehrdimensionalen Einteilung 59 % erfolgreiche und 41 % weniger erfolgreiche Patienten sowohl in der Gesamtgruppe als auch in meiner Stichprobe. Wenn ich meine Beurteilung zusammenfasse, so finden sich in meiner Gesamtgruppe (N = 313) 54 % erfolgreiche Patienten und 46 % weniger erfolgreiche, was zu den Ergebnissen der Page-Studie passt. z Kurze Behandlungen

59  Patienten (19  % der Gesamtgruppe) waren weniger als fünfzehn Sitzungen in Behandlung. Bei sieben von ihnen (12 %) gab es ein gutes Ergebnis, zwei (3 %) (aus der  Junge-Leute-Gruppe) sind wegen ihres Studiums verzogen, drei (5 %) hatten ein Alkoholproblem. Von den Letzteren sind zwei in eine Entgiftung gegangen, bei einem habe ich die Behandlung beendet. Zwei Patienten (3 %) sind schwer dekompensiert (psychotisch, mit einer psychogenen Synkope). Die übrigen 45 (76 %) Kurzbehandlungen (14 % der Gesamtgruppe) werden von mir als Abbruch gewertet. Begründungen: ist nicht mehr gekommen

hat sich nicht eingelassen; war dann doch schwerer gestört und deshalb nicht in Gruppe zu behandeln. Es gab auch eine Ablehnung des Gutachters, die wir nicht ins Obergutachterverfahren verfolgt haben. z Lange Behandlungen

28 (9 %) Behandlungen waren länger als 80 Gruppensitzungen. Es handelte sich um Patienten, bei denen mehr oder weniger schwere frühkindliche Traumatisierungen eine wesentliche Rolle für die Pathologie spielten. Einige von ihnen habe ich erst in Einzeltherapie und dann in Gruppentherapie gesehen, einige waren nach der PTR-Behandlung Selbstzahler, oder ich habe sie über psychiatrische Ziffern abgerechnet. Es waren M/W 10/18, 9 RFG, 7 JLG, 12 ELG, 17 waren in der Klinik; 7-mal F6X als Hauptdiagnose (25 % der Subgruppe, 2 % der Gesamtgruppe); 17 hatten Traumatisierungen in der Anamnese. z Gruppe nach Einzeltherapie (E&G)

Unter die langen Behandlungen fallen, wie oben schon erwähnt, die 45 (14 %) Patienten, die ich mit einer Gruppenbehandlung nach Einzelbehandlung versorgen konnte. Es waren meist schwerer gestörte Patientinnen, die mit den mir als tiefenpsychologisch fundiertem Behandler zur Verfügung stehenden Behandlungskontingenten nicht annähernd auskamen. Meiner Einschätzung nach hätten sie aber auch in angemessener Zeit keinen Psychoanalytiker gefunden, der sich ihrer angenommen hätte. In den Auseinandersetzungen mit den Gutachtern und Obergutachtern wurde immer wieder deutlich, dass diese psychoanalytischen Gutachter sie für nicht behandelbar hielten. M/W 17/28 (38 %/62 %), 26 (58 %) waren in der Klinik, 12 (27 %) hatten eine F6X Hauptdiagnose und 23 (52 %) Traumatisierungen in der Anamnese.

57 Gruppe – wie geht das - bei mir?

4

5 (11 %) waren unter 20 Sitzungen in E&G Behandlung, 21 (47 %) mit 20 bis 100 Sitzungen und 19 (42 %) mit mehr als 100 Sitzungen. 58 % der Patienten beurteilte ich als erfolgreich, 42 % als nicht erfolgreich.

ungefähr gleich viel Männer wie Frauen in Behandlung.

z Wie unterscheiden sich die drei Gruppen?

Wenn ich das alles zusammennehme, komme ich zu dem Schluss: Es gibt fünf gute Gründe, Gruppenpsychotherapie zu machen: 1) sie macht Spaß; 2) sie ist wirksam; 3) sie ist erfolgreich; dazu ist sie 4) für die Versorgung wichtig und 5) es rechnet sich!

5 In der „Junge Leute Gruppe“ (JLG) habe ich 142 Patienten behandelt. Sie waren im Schnitt 33 Jahre alt, die Behandlungen dauerten 78 Wochen, die Hälfte mit einer F34.1. 46 % beendeten die Behandlung erfolgreich. 5 Die 119 Patienten der „Erwachsenen Leute Gruppe“ (ELG) waren im Schnitt 48 Jahre alt, überwiegend mit Depressionen (F32–33 27 %, F34.1 38 %), 62 % waren erfolgreich. 5 In der „Rentner- und Frührentner Gruppe“ (RFG) waren 60 Patienten im Durchschnitt 59 Jahre alt, 48 % mit einer F32–33. Hier waren 57 % erfolgreich. In der Geschlechterverteilung unterschieden sich die drei Gruppen nicht: es waren

4.8  Fazit

Literatur Kandel, E. (2006). Auf der Suche nach dem Gedächtnis. München: Siedler. Schreiber-Willnow, K., & Willnow, C. (2010). Interpersonelle und psychodynamische Gruppenbehandlung von Persönlichkeitsstörungen. In V. Tschuschke (Hrsg.), Gruppenpsychotherapie (S. 229–232). Stuttgart: Thieme. Tschuschke, V., & Anbeh, T. (2008). Ambulante Gruppentherapie. Stuttgart: Schattauer. Yalom, I. (1995). The theory and practice of group psychotherapy (4. Aufl.). New York: Basic Books.

59

Arbeit mit Märchen in der Gruppe Hildegunde Georg

5.1 Einführung – 60 5.2 Unbewusstes bewusst machen – das große Forschungsfeld der Psychotherapie – 60 5.3 Struktur der Gruppe – 62 5.4 Märchenarbeit in der Gruppe – 64 5.4.1 Märchenarbeit – praktisches Vorgehen  – 65 5.4.2 Märchenarbeit – Deutung – 65

5.5 Zusammenfassung – 67 Anhang – 67 Literatur – 68

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_5

5

60

H. Georg

„Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort und die Welt hebt an zu singen, triffst Du nur das Zauberwort“ (v. Eichendorff 1838).

5.1  Einführung

» „…mach dass er seine Kindheit 5

wieder weiß, das Unbewusste und das Wunderbare und seiner ahnungsvollen Anfangsjahre unendlich dunkelreichen Sagenkreis…“ (Rilke 2006).

Märchen lehren uns Staunen darüber, was an unbewusstem Wissen bereits in uns angelegt ist. In der Gruppe haben wir die Möglichkeit, uns gegenseitig mit diesem Wissen zu bereichern und die heilende Wirkung der Märchenbilder in uns und anderen zu erfahren. Märchen werden wahrscheinlich erzählt und mündlich überliefert, seit es in der Menschheitsentwicklung die Sprache gibt. Wir wissen, dass bestimmte Märchenthemen, deren Grundmotive sich weltweit nicht verändern und in allen Sprachen und bei allen Völkern anzutreffen sind, bis auf 25.000 Jahre v. Chr. zurückreichen (v. Franz 1989a). Märchen wurden zur Zeit der Romantik in Deutschland von den Brüdern Grimm zusammengetragen. Die Romantik war eine Art Gegenbewegung zur Aufklärung, in der die Naturwissenschaften (mit Descartes) begannen, sich als „Zweig des Wissens“ vom „Zweig des Glaubens“ abzuspalten. Der Zweig des Glaubens wurde von der materiell orientierten und atheistisch gewordenen naturwissenschaftlichen Richtung abgewertet als eine überkommene Religion, die der aufgeklärte Mensch nicht mehr nötig habe (Georg 2016). In einem Gedicht von Novalis zeigt sich die Suche der Romantiker nach einer inneren Lebendigkeit, die die naturwissenschaftliche Welterfassung infrage stellt:

» „Wenn

nicht mehr Zahlen und Figuren sind Schlüssel aller Kreaturen.



Wenn die, so singen oder küssen, mehr als die Tiefgelehrten wissen. Wenn sich die Welt ins freie Leben und in die Welt wird zurück begeben. Wenn dann sich wieder Licht und Schatten zu echter Klarheit werden gatten. Und man in Märchen und Gedichten erkennt die wahren Weltgeschichten. Dann fliegt von einem geheimen Wort das ganze verkehrte Wesen fort.“ (Novalis 1800) > Um Märchen zu verstehen, brauchen

wir ein „träumendes Bewusstsein“, wie Kinder es noch ganz natürlich haben, eine Welterfahrung des reinen Fühlens und Empfindens, die noch ohne kognitive Verknüpfung auskommt. Es ist ein Bewusstseinszustand, der Wahrnehmungen aus dem Unbewussten zulässt.

Mit dem EEG lassen sich bewusste und unbewusste Bewusstseinszustände durch verschiedene Hirnwellen abbilden, wobei der Zustand des Denkens sich in Beta-Hirnwellen abbildet, der des träumenden Bewusstseins in Alpha-Hirnwellen und unbewusste Zustände in Theta-, Delta- und Gamma-Hirnwellen. Im Theta-Hirnwellenbereich bildet sich das Wissen unserer eigenen Lebenserfahrungen ab, im Delta-Hirnwellenbereich das Wissen der Menschheit (Wise 2017). C. G. Jung nennt den allen Menschen gemeinsamen Bereich das „kollektive Unbewusste“. Aus diesem Bereich stammen die Märchenbilder. Die geistigen Kräfte, die das kollektive Unbewusste gestalten, hat C. G. Jung „Archetypen“ genannt. 5.2  Unbewusstes bewusst

machen – das große Forschungsfeld der Psychotherapie

> Märchen sind lebendige ewige Bilder

menschlicher Erfahrungen, die wir auf unserem Lebensweg im Dialog des Ich mit dem Unbewussten machen.

61 Arbeit mit Märchen in der Gruppe

Freud hatte mit seiner Traumdeutung (1921) erstmals eine Definition über „den unbewussten Apparat des Ich“ vorgelegt. Er verstand das Unbewusste als etwas, das im Verlauf einer Biografie durch Verdrängen und Vergessen zustande kommt und das – durch Bildung gefühlsbeladener Komplexe – Störungen im Bewusstsein verursacht. Jung erweiterte Freuds Definition des persönlichen Unbewussten zunächst um die Dimension des kollektiven Unbewussten (Jung 1991, 1997) und als „Krönung“ (Obrist 2013) durch die Definition des Selbst. „Die folgenschwerste Entdeckung C. G. Jungs war … die Entdeckung, dass die gesamte Psyche im Unbewussten zentriert ist und dass das Ich von dort her überwacht, korrigiert, aber auch geleitet und befruchtet wird“ (Obrist 2013). Wie diese Leitung und Befruchtung aus dem Zentrum des Unbewussten in unseren Seelen wirkt und unsere Lebenswege ethisch mitgestaltet, bilden die Märchen ab. Es sind „lebendige ewige Bilder“ menschlicher Erfahrungen, die wir auf unserem Lebensweg im Dialog des Ich mit dem Unbewussten machen. Diesen Dialog sollten wir führen, wenn wir im Kontakt mit unserer inneren Lebendigkeit sein wollen. Märchen zeigen sogar auf, wie wir vorgehen können, wenn wir im Einklang mit unserer inneren Stimme unseren Lebensweg gehen wollen. C. G. Jung hat in seinen Werken aufzeigen können, dass in der menschlichen Psyche oft zwei „moralische Mächte“ wirken: der kollektive Moralkodex (das Freudsche Über-Ich) einerseits und eine direkt sprechende individuelle „ethische“ Stimme des Gewissens andererseits. Letztere stammt vom Selbst. „Die große Schwierigkeit für uns liegt aber darin, herauszufinden, um welche der beiden Instanzen es sich in den jeweiligen Situationen handelt, da einem das gar nicht immer von vornherein klar ist und die eigenen Wünsche oft die innere Sicht trüben. Der ethische Konflikt gehört deshalb ganz eigentlich zum Individuationsprozess… Irgendwo weiß man ja zuunterst in der Seele meistens schon, wohin es geht, aber sehr oft macht der Hanswurst, den wir Ich nennen, einen solchen

5

Lärm, dass die innere Stimme nicht hörbar ist“ (v. Franz 1964). > Märchen berichten von Schicksals-

aufgaben, die die Helden der Geschichte im Einklang mit ihrer inneren Stimme lösen.

Märchen sind der „reinste und einfachste Ausdruck kollektiv-unbewusster psychischer Prozesse. Deshalb übersteigt ihr Wert für die wissenschaftliche Erforschung des Unbewussten den von allem anderen Material. Sie stellen die Archetypen in ihrer einfachsten, knappsten und präzisesten Gestalt dar. In dieser reinen Gestalt gewähren uns die archetypischen Bilder die besten Hinweise zum Verständnis der Prozesse, die in der kollektiven Psyche vor sich gehen“ (v. Franz 1989b). „Vom Traum unterscheidet sich das Märchen dadurch, dass es nicht das Produkt einzelner, sondern vieler Menschen, eventuell ganzer Völker ist. Märchen sind Träume der Menschheit und beantworten Menschheitsprobleme. > In den Märchen wird das Drama der

Seele gespielt, und die Figuren, die es spielen, finden sich in jeder Psyche.

Da auch der Deutende Teil der Menschheit ist, werden im Märchen auch seine Probleme beantwortet, nicht die alltäglichen kleinen, aber die tieferen, die er mit jedem Menschen teilt“ (Birkhäuser-Oeri 1977). Nach C. G. Jung sind die höheren Mächte, die Götter und Wirkkräfte, die in der archaischen Weltsicht außen gesehen wurden, Projektionen von Archetypen, die heute einer Rücknahme – der Erfahrung im eigenen Seeleninnern – bedürfen. > In der Gruppenarbeit mit Märchen

verlebendigen wir Erfahrungen aus dem eigenen, mehr oder minder unbewussten, Seeleninneren. Wir tauchen gemeinsam ein in ein Wissen, das uns kollektiv verbindet und doch nur individuell erlebbar ist.

62

5

H. Georg

Über die Arbeit mit den Symbolen der Märchenbilder, kann der je eigene Zugang erfahren und in der Gruppe geteilt werden. Aus oben dargestellten Gründen arbeite ich nur mit überlieferten Märchen, wie den Hausmärchen der Gebrüder Grimm (erste Fassung der Gesamtausgabe 1856), oder Märchen aus anderen Ländern, aber nicht mit Kunstmärchen, wie zum Beispiel von Andersen oder anderen AutorInnen. 5.3  Struktur der Gruppe

Als Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse, bin ich seit 1989 niedergelassen mit Kassenzulassung. Die hier vorgestellte tiefenpsychologisch fundierte Gruppenarbeit mit Märchen führe ich seit 2006 in der Richtlinienpsychotherapie als halboffene Gruppe durch –mit vielen Unterbrechungen, wenn ich die Vorgabe (bis 6/2017) von „mindestens sechs Teilnehmern“ nicht erfüllen konnte. Abrechnung seit 7/2017 Gruppe tiefenpsychologisch fundiert: EBM: KZT Ziffer 3550-X (X = 3–9 TN) Gruppe tiefenpsychologisch fundiert: EBM: LZT Ziffer 3551-X (X = 3–9 TN) Gruppe tiefenpsychologisch fundiert: GOÄ: LZT Ziffer 862 (max. 8 TN) Die Gruppe findet 1 × Woche statt (100 min): montags 18.00 Uhr, seit 2 Jahren mittwochs 10.00 Uhr, in Planung zusätzlich freitags 18.00 Uhr.

Im Gruppenraum stehen vier Sessel und zwei Sofas zur Verfügung. Es gibt PatientInnen, die unbedingt im Sessel sitzen wollen und andere, die die Nähe suchen und auf dem Sofa Platz nehmen (geeignet für max. drei Personen), genutzt meistens von zwei Personen. Ich nehme einen Sessel. Am Anfang, als noch die alten Richtlinien galten, war es ausgesprochen mühsam und

schwierig, jeweils die Auflage zu erfüllen, mindestens sechs Teilnehmer in einer Gruppe zu haben (andernfalls war es „keine Gruppe“ und konnte nicht abgerechnet werden). Obwohl ich die Befreiung von der Gutachterpflicht für Anträge auf Kurzzeittherapie (KZT) hatte und also fortlaufend neue PatientInnen hätte aufnehmen und integrieren können, war die Auflage schwer zu erfüllen. Ich musste neun PatientInnen (gesetzlich versichert) in der Gruppe haben, um sicher gehen zu können, dass mindestens sechs dann zum vereinbarten Zeitpunkt auch anwesend waren. Neben Grippewellen, eigenen Krankheiten oder Krankheiten der Kinder, Urlaub, Verkehrsbehinderungen, Reha etc. gibt es viele – verständliche – Gründe, warum jemand gerade nicht kommen kann und sich, oft in letzter Minute, entschuldigt. Diese Probleme sind im Einzelsetting viel leichter zu handhaben als im Gruppensetting. Seit Juli 2017 gibt es die neuen Regelungen, nach denen eine Gruppe bereits mit drei Teilnehmern abrechenbar ist und es ausreicht, wenn sechs Teilnehmer zur Gruppe gehören, auch wenn dann nur drei davon erscheinen. Was für eine Erleichterung für die Arbeit in Gruppen!  Indikation Die Gruppenarbeit ist ein unschätzbarer Wert gegenüber der Einzelarbeit. In der Einzelarbeit besteht immer ein Gefälle zwischen Therapeut und Patient (Wissender – Lernender). Dieses Gefälle ist in der Gruppe aufgehoben. In der Gruppe erfahren wir uns in verschiedenen Rollen: Wir werden beobachtet und sind Beobachtende. Wir sind Empfangende und Gestaltende, Lernende und Wissende, Rat und Hilfe Suchende und Gebende. Unser Dasein in der Welt wird erlebt, gesehen und reflektiert.

Als Therapeutin habe ich die Aufgabe, diese Rollenmöglichkeiten zu erkennen, zu würdigen und zum Wohle der Patienten zu deuten

63 Arbeit mit Märchen in der Gruppe

und im Einzelnen gruppenorientiert zu unterstützen (Mattke et al. 2017; Strauß und Mattke 2018; Schimkus und Stuck 2016). Durch die Märchenarbeit nehme ich einen triangulierenden Faktor hinzu, der es ermöglicht, uns allen kollektiv etwas zu lehren und uns alle erfahren zu lassen, was in uns als Bereitschaft und Wissen bereits angelegt ist und nur abrufbereit darauf wartet, individuell und kreativ genutzt zu werden. Jedes Märchen behandelt ein eigenes Konfliktfeld, das sich mit der Fokussierung in der tiefenpsychologisch fundierten Arbeit vergleichen lässt, aber dann kollektive Bilder als Lösung anbietet, die es ermöglichen, im Individuum eine Kreativität zu entbinden, die dem kognitiven Wissen überlegen ist und für unerwartete Überraschungen sorgen kann. Patientenstruktur Teilnehmer sind vorwiegend Frauen im Alter von etwa 35–55 Jahren (nur zwei Männer in all den Jahren, die besonders freundlich von der Gruppe aufgenommen und behandelt wurden). Die Teilnehmerinnen sind vorwiegend gesetzlich versichert, vereinzelt kamen/ kommen aber auch privat Versicherte dazu. Die aktuelle Gruppe besteht aus sechs Teilnehmerinnen.

Störungsbilder Vorwiegend Depressionen, Ängste, Belastungsreaktionen, Selbstwertunsicherheit. Für meine Gruppenarbeit ist mindestens ein mittleres Strukturniveau Voraussetzung, um Lernen im Sozialen zu ermöglichen und aktive Imaginationen (optimalerweise) oder Fantasiereisen/ Entspannungsübungen durchführen zu können.

5

Vorbereitung Vor Beginn der Einführung von neuen Patientinnen in die Gruppe führe ich Einzelgespräche (Sprechstunden/ probatorische Sitzungen) mit ihnen durch, in denen ich die Indikation für die Gruppe stelle. Gemäß dem tiefenpsychologisch fundierten Ansatz leite ich aus dem psychischen Befund, der Symptomatik und der Biografie den zu bearbeitenden Konflikt ab und bespreche mit der Patientin das Therapieziel. Ist aus meiner Sicht die Indikation für eine Gruppentherapie für die Patientin gegeben, erläutere ich ihr die Vorteile, die eine Gruppentherapie gegenüber einer Einzeltherapie hat (siehe auch weiter oben: Indikation) und bereite sie darauf vor, dass und wie ich Märchen in die Arbeit einbeziehe. Ist die Patientin einverstanden, gebe ich ihr das Blatt „Gruppenregeln“ (s. Kapitelende: Vorlage I) und bespreche es gemeinsam mit ihr. Dann lade ich sie zu einer kostenlosen Probesitzung in die Gruppe ein.

Die Gruppe ist, da halboffen und damit fortlaufend, auf diese Probesitzung für Neue eingestellt. Gemeinsam üben wir uns darin, eine Form zu finden, in der die Gruppe diese Unterbrechung ihrer gewohnten Arbeit als Möglichkeit anerkennen kann, sich mit neuen – meist unwillkommenen – Herausforderungen zu konfrontieren, wie das Leben sie vielfach bietet, und die wir gemeinsam erfahren und in unserer Arbeit, möglichst unterstützt durch ein Märchen, betrachten, beleuchten und mit neuen Erkenntnissen anreichern können.

64

H. Georg

5.4  Märchenarbeit in der Gruppe

Der Rahmen

5

Jede Gruppensitzung beginne ich damit, dass ich nach der allgemeinen Begrüßung einen Redestab herumreichen lasse, den jede solange in der Hand hält, wie sie von sich berichtet: Was hat sie seit der letzten Stunde bewegt? Was hat sie heute als Thema mitgebracht? Nach Abschluss dieser Runde wissen wir alle, was „heute im Raum ist“. Ist eine Neue dabei, lesen wir gemeinsam die „Gruppenregeln“ (s. Kapitelende: Vorlage I), die ich zwar allen vor Beginn einer ersten Gruppensitzung aushändige, aber die Blätter gehen dann gern verloren und damit auch das Bewusstsein für die Regeln, die ja nicht nur für die Gruppe, sondern auch für das Einüben sozialer Kompetenz hilfreich sind. Ich lasse jede einzelne Regel reihum von einer Teilnehmerin vorlesen und sie berichtet, wie gut sie bereits mit dieser Regel umgehen kann oder ob sie sich noch darin übt, ob sie sie mag oder nicht, welche (von den zehn Regeln) sie am liebsten hat, welche ihr am Schwersten einzuhalten fällt. Daran schließt sich meist eine angeregte Diskussion an.

Dies ist eine eher psychoedukative Maßnahme, die ich aber bevorzugt einsetze, weil sie den Rahmen des sorgfältigen Umgangs miteinander gewährleistet, in dem dann auch die Arbeit an den tieferen und unbekannteren Schichten der Seele stattfinden kann und diejenige, die sich öffnet, eine wohlwollende Spiegelung erfahren kann. Das Thema Nach der „Stabrunde“, und wenn gerade nicht die Regeln neu hinterfragt werden, zeigt sich meistens, welche Themen bedeutungsvoll sind: Der Streit mit dem

Partner, die Herabsetzung durch die Mutter, Alpträume, suizidale Wünsche, soziale Ängste, Wut, die am Einschlafen hindert, fehlende Unterstützung und Verständnis … Die Frauen sprechen ihre Themen offen an. Neue sind berührt durch diese Offenheit, manchmal verängstigt, oder aber ermutigt, es gleich zu tun. Auch das wird thematisiert. Gemäß der Regel nach Ruth Cohn „Störungen haben Vorrang“ findet die Gruppe gemeinsam heraus, welches Thema Vorrang hat. Werden suizidale Absichten geäußert, hat dieses Thema Vorrang.

Auch wenn die betroffene Teilnehmerin in depressiver Rücknahme nicht dieser Meinung ist, findet die Gruppe das heraus. Natürlich mit Unterstützung der Leiterin, aber ich halte mich so viel wie möglich zurück, um den Teilnehmerinnen das Erleben ihrer eigenen Kompetenz zu ermöglichen. Die suizidale Patientin wird von den anderen gefragt, was los sei. Nun ja, sie sei „das Aschenputtel“ in ihrer Familie und komme aus dieser Rolle nicht heraus und wolle und könne so nicht mehr leben. Oh, ein Märchen! Nachdem wir in dieser Gruppensitzung zunächst an der Stabilisierung arbeiten, andere von ihren „schwarzen Löchern“ berichten, die Betroffene sich aufgefangen fühlt und glaubhaft zusichert, sich, zumindest bis zur nächsten Gruppensitzung, nichts anzutun, schlage ich vor, das Märchen von Aschenputtel das nächste Mal dazuzunehmen, und frage, wer dazu bereit wäre, es vorzulesen. Es mögen sich bitte alle auf das Vorlesen vorbereiten und -wichtig – Papier und etwas zum Schreiben/Malen mitbringen. Natürlich kann es auch vorkommen, dass es einer suizidalen Patientin so schlecht geht, dass ich Einzelsitzungen durchführe und die Stabilisierung nicht nur durch die Gruppe, sondern durch weitere Maßnahmen (stationäre oder teilstationäre Behandlung,

65 Arbeit mit Märchen in der Gruppe

medikamentöse Behandlung, Gespräche mit Bezugspersonen) unterstützt werden muss. Wenn ich hier beschreibe, wie es läuft, wenn es gut geht, heißt das nicht, dass es immer reibungslose Abläufe gibt. In diesem Beitrag möchte ich beschreiben, dass und wie Märchen in die tiefenpsychologisch-fundierte Gruppenarbeit integriert werden können, und bevorzuge daher die Darstellung eines störungsfreien Ablaufs, wobei ich der Leserin/ dem Leser anheim stelle, sich mögliche Störungen vorzustellen, die alle auftreten können, aber nicht müssen: „Shit happens“, das lernen und üben wir auch in der Gruppe. In der nächsten Sitzung wird das Märchen eingeführt. Am Anfang gibt es wieder eine „Stabrunde“. Ich habe das Märchenbuch der Brüder Grimm dabei. Gemeinsam wird herausgefunden, ob das Märchen „Vorrang“ haben kann oder ein anderes wichtiges Thema zu bearbeiten ist. Wie geht es der suizidalen Teilnehmerin? Sind diese Fragen geklärt und das Votum für das Märchen von allen abgegeben, können wir beginnen. 5.4.1  Märchenarbeit – praktisches

Vorgehen 

1. Das Märchen wird vorgelesen Ich frage, wer vorlesen mag. Ich bin selbst immer wieder erstaunt, was diese Frage, die ich deswegen auch schon vorher stelle, bei den Einzelnen auslösen kann. Die Frage des Vorlesens beschäftigt jede auf eigene, biografische Weise, und die meisten berichten, dass sie in der Vorbereitung auf die Sitzung mit Fragen umgegangen sind, wie: Wer hat mir etwas vorgelesen? Wie war das für mich? Wann und wie lese ich vor? Wie geht es mir dabei? Die Frauen berichten, dass sie sich diese Fragen bislang nie bewusst gestellt hatten und über die Beschäftigung mit dieser Frage auf weitere Fragen kommen. Also, wer mag vorlesen? Wer Angst hat, wird ermutigt, wenigstens einen Absatz zu lesen. Wollen mehrere vorlesen, wird das Buch weitergereicht, sodass jede dran kommt. Wir anderen hören zu (s. Vorlage II).

5

2. Schweigeminute Die „Schweigeminute“ nach dem Vorlesen ist notwendig, damit jede Zeit hat, in sich nachzuspüren, welche Szene sie besonders berührt/erfreut/verärgert oder in irgendeiner anderen Weise angesprochen hat. 3. Notizen/Malen: Welche Szene spricht mich besonders an? Hier lasse ich jede Einzelne für sich ihre Aufzeichnungen machen oder die Szene malen. Ich achte darauf, dass alle genug Zeit dafür haben. 4. Sharing-Runde (nur eigenes Befinden = Ich-Botschaft, keine Du-Botschaft) Das ist oft bereits die Abschlussrunde dieser Doppelstunde, in der das Märchen eingeführt wurde. Jede Teilnehmerin kann nun berichten, welche Szene sie besonders berührt hat, aber nur, wenn sie möchte. Ich weise darauf hin, dass die Bilder auf tiefgreifende Weise symbolisch unsere aktuelle Lebenssituation spiegeln können, und jede möge prüfen, was sie davon schon in Worte fassen oder in eine Frage (was oft den Bildern besser gerecht wird) kleiden kann. 5.4.2  Märchenarbeit – Deutung

In der Einführung habe ich beschrieben, dass die Märchen ihre Gestaltung aus dem kollektiven Unbewussten schöpfen, wenn Delta-Hirnwellen produziert werden. Das können wir zwar alle, aber meistens sind wir dann im Tiefschlaf. Es bedarf also einiger Mühe, die Inspirationen und Intuitionen, die in dieser Tiefe leben, in unser Wachbewusstsein zu befördern. Anna Wise (2017) beschreibt in ihrem Buch Awakened Mind Training anschaulich, wie wir übend lernen können, Informationen, die wir aus tieferen Schichten (Theta- und DeltaHirnwellenmuster) über den Alpha-Hirnwellenmodus (träumendes Bewusstsein) in den Beta-Hirnwellenbereich  (kognitives Wissen) übertragen können. Je klarer wir mit dem

66

H. Georg

Alpha-Hirnwellenbereich umgehen können, desto besser können wir die Informationen aus tieferen Schichten in Bildern erfassen und diese unserer kognitiven Verarbeitung zuführen. > Es geht also sozusagen um einen

Mentalisierungsprozess von Symbolen, die das Märchen uns aus dem kollektiven Unbewussten bereits in Bildern vorlegt.

5

Diese Arbeit hört sich kompliziert an, ist aber so schwer nicht. Es geht vor allem darum, eine fragende Haltung (s. Vorlage III) den Bildern gegenüber aufzubauen. Wir werden den genauen Gehalt eines Märchenbildes nie ganz wissen können, denn dann wäre der Symbolgehalt aufgehoben und wir wären im konkreten Bereich, damit hätten wir den Seelenbereich verlassen.

herausfordernd an. Spannungsgeladene Stille, alle schauen die an, die sich ratlos in der Runde umschaut – und dann in ein schallendes Gelächter ausbricht. „Kapiert!“, schreit sie und klatscht sich auf die Oberschenkel, „ich will doch lernen, mich zu wehren, probiere ich doch gerade mit meiner Mutter aus – habe ich es doch glatt wieder vergessen“. Es herrscht eine ausgesprochen heitere Stimmung in der Runde. „Genau“, bestätigen es ihr mehrere. Eine sagt: „Ja, das kenne ich auch, kaum hat man was verstanden und bemüht sich, es zu beachten, schon landet man wieder im alten Fahrwasser. So ist das.“ Wieder eine andere korrigiert sie, sie solle nicht „man“ sagen und erläutert, dass sie sich durch eine solche Gleichmachung manipuliert fühle.

Fallbeispiel Gruppendynamik: Im Märchen Aschenputtel können verschiedene tiefenpsychologisch relevante Konflikte belebt und bearbeitet werden. Bei der oben genannten suizidalen Patientin imponiert ein Autonomie-Anpassungskonflikt  mit einem ÜberIch- und Schuldkonflikt im passiven Modus mit depressiver Struktur. Bei ihr wird das Bild „Aschenputtel ist ohnmächtig der bösen Stiefmutter und den bösen Schwestern ausgesetzt“ belebt. Die Patientin ergänzt noch: „Und keiner hilft ihr, es ist aussichtslos.“ Eine andere Patientin, ebenfalls mit Autonomie-Anpassungskonflikt, aber mit pseudoautonomer Verarbeitung und schizoider Struktur, springt ein und empört sich: „Aschenputtel sollte sich beschweren und nicht so lange und so viel Drecksarbeit machen, sie weiß noch nichts von Emanzipation, das ärgert mich.“ Eine weitere Patientin mit einem depressiven Grundkonflikt (frühe Bedürftigkeit versus Klaglosigkeit) und mit deutlicher Aggressionshemmung, erklärt uns allen, dass es manchmal sinnvoll sei, nichts zu sagen und still seine Arbeit zu tun, dann werde alles gut. „Ach ja?“, fragt die sich mehr Emanzipation Wünschende und schaut die Sanftmütige

Jetzt sind wir in einer typischen Gruppendynamik. Es ist spürbar, wie die Teilnehmerinnen sich gegenseitig in ihren jeweiligen „Fahrwassern“ erkennen und sich spiegeln, sich abgrenzen und selbst entdecken, sich Impulse von den anderen holen und zugleich selbst welche geben. Diesem Prozess lasse ich so viel Raum wie möglich, wobei ich das Märchen dazu nehme, um dem Prozess einen Rahmen zu geben. Wir hatten dieses Märchen genommen, weil eine suizidale Patientin ihr Leben mit einem „aussichtslosen Aschenputtel-Dasein“ verglich. In der Gruppenszene habe ich beschrieben, wie unterschiedlich die verschiedenen Teilnehmerinnen auf das „dienende Aschenputtel“ (Höhepunkt des Dramas) reagieren und wie sich intrapsychische und interpersonelle Konflikte zeigen und in der Gruppe bearbeitet werden. Nachdem alle die Möglichkeit hatten wahrzunehmen, welche Reaktionen (Gefühle, Empfindungen, Erinnerungen, Fantasien, Gleichnisse …) diese Märchenszene in ihnen wachrufen kann, wenden wir uns wieder dem Märchen zu und stellen die Frage: „Wie kommt die Heldin aus ihrer schrecklichen Situation heraus? Was  macht sie? Ist sie nur passiv oder auch aktiv?" Das Märchen gibt darauf eine Antwort. 

67 Arbeit mit Märchen in der Gruppe

Aber diese Antwort ist nicht zu verstehen, wenn wir in unserem Beta-Hirnwellenmuster aktiv sind. Kognitiv werden Märchenbilder nicht verstanden. Wir üben also, uns in den Alpha-Hirnwellenbereich zu begeben, um die Bilder zu erleben. Dazu helfen Entspannungsübungen, die das Denken (Beta-Hirnwellen) ausblenden und ein möglichst mit allen Sinnen belebtes Imaginieren ermöglichen. Ausgehend von einem Märchenbild (auf das wir uns gemeinsam einigen), leite ich Fantasiereisen (Imaginationen) an, die ich malen lasse. Das Malen ist oft in der Sitzung aus zeitlichen Gründen nicht möglich. In diesem Fall einigen wir uns auf die Aufgabe, zu Hause zu malen und die Bilder das nächste Mal mitzubringen. In der nächsten Sitzung bestaunen und würdigen wir gemeinsam die Verschiedenheit der Bilder und Vorstellungen nach einer gemeinsamen Fantasiereise. Oft scheuen sich die Teilnehmerinnen zu malen, dann lasse ich das Bild genau beschreiben, rege aber immer wieder an, die Scham, nicht malen zu können, zu überwinden. Denn oft ist in den spontan gemalten Bildern noch mehr enthalten, was erst später, auch von der Malerin selbst, erstaunt entdeckt wird.  5.5  Zusammenfassung

Die Märchenarbeit in der Gruppe ist deswegen so bereichernd, weil am Anfang niemand dem Märchen diese Seelenwirkung zutraut, die sie aufzurufen ermöglicht. Oft berichten mir Teilnehmerinnen viel später, wie tiefgründig die Märchen sie begleitet haben und noch begleiten. Für die Gruppenarbeit gibt es verschiedene Möglichkeiten herauszufinden, welches Märchen gerade für eine Gruppe passt. Es können die Lieblingsmärchen erfragt werden, weil diese oft die Problematik des eigenen Schicksals behandeln, ebenso wie die Märchen, die wir als Kinder nicht mochten. Die Gruppe kann gemeinsam abstimmen, welches Märchen sie bearbeiten möchte.

5

Manchmal habe ich auch eine Idee, welches Märchen gerade gut passen könnte. In der Literatur gibt es eine Fülle an Märcheninterpretationen, die Anregungen geben, beispielsweise (zusätzlich zu den bereits genannten Quellen): Kast (2016), ­Riedel (2012), Riemann (2007), Bly (2005) und viele andere. Mir persönlich gefallen vor allem die Märcheninterpretationen von v. Franz (1989, 2016/2017). Um die Arbeit mit Symbolen  (Kast 2012, Dorst 2014) zu erleichtern, beginne ich gern mit Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen (Jon Kabat-Zinn 2013) oder Fantasiereisen (Riemann 2007). Mit Fortgeschrittenen kann dann auch eine aktive Imagination durchgeführt werden (Jung 1934/1991, Dorst und Vogel 2014 und Zajonc 2009).

Anhang

Vorlage I 10 Regeln 1. Ich spreche nur in der Ich-Form = Ich-Botschaft. Ich verstecke mich nicht hinter Wir- und Man-Formulierungen; ich übernehme damit Verantwortung für meine Aussagen. 2. Ich theoretisiere nicht über meine Gefühle, sondern ich versuche auszudrücken, was mich gerade hier und jetzt bewegt – Achtsamkeitsübung. 3. Störungen haben Vorrang. Wenn ich zu aufgewühlt bin oder innerlich „abschalte“, teile ich den anderen mit, dass ich dem Gruppenprozess gerade nicht folgen kann: Zeichensprache „T“. 4. Fragen dienen nicht der Befriedigung der Neugier, sondern dem Verständnis für mein Weltbild. Darum teile ich mit, warum ich eine Frage stelle, bzw. warum mich etwas berührt und interessiert. 5. Körpersprache: Ich achte bei mir selbst und bei den anderen auf Botschaften, die sich ohne Worte ausdrücken:

68

5

H. Georg

Gesichtsausdruck, Körperhaltungen, Körperbewegungen. 6. Ich nehme die Probleme des Du/die Gruppenstimmung ernst und lasse jedem/jeder Zeit, seine/ihre Gefühle in der Gruppe darzustellen und zu verarbeiten, so wie ich es auch für mich in Anspruch nehme. 7. Ich gebe Feedback, wenn ich erlebe, dass der- bzw. diejenige es hören möchte und verkraften kann. Wenn mich etwas stört, habe ich mit dem Thema ein eigenes Problem. Das teile ich mit. 8. Nicht um die Ecke sprechen: Ich rede nicht über andere Gruppenmitglieder, sondern ich sage jedem/jeder direkt und persönlich, was ich sagen möchte. 9. Der andere ist nicht dazu da, meine Erwartungen zu erfüllen – auch, wenn ich mich schwer damit abfinden kann, dass der andere nicht so ist, wie ich ihn haben möchte. 10. Schweigepflicht: Alles in der Gruppenstunde Erlebte bleibt im Raum. Die Vertraulichkeit ist wichtig, weil ich mich sonst selbst den anderen nicht rückhaltlos öffnen und anvertrauen könnte.

Vorlage II z Märchenarbeit – praktisches Vorgehen

1. Das Märchen wird vorgelesen 2. Schweigeminute 3. Welche Szene ist individuell belebt? (Eigene Notizen oder ein Bild dazu) 4. Sharing-Runde

welches Drama es in diesem speziellen Märchen-Fall geht.  5 Was fehlt am Anfang? (= Einführung in das Problem) 5 Was ist der Höhepunkt des Dramas? 5 Wie ist die Wende? 5 Was zeigt sich am Ende? (= Lösung des Problems) 5 Welche Entwicklung findet statt?  (= Reise des Helden/der Heldin) 5 Welche Gefahren sind auf dem Weg? 5 Wie werden sie bewältigt? 5 Was hindert? 5 Was hilft? 5 Was ist verletzt? 5 Was fehlt? 5 Was kommt hinzu? Nach C.G. Jung gestalten wir unser Leben im Sinne eines Individuationsprozesses, der in Märchen und Mythen als „Reise des Helden“ imponiert. Spricht uns ein Märchenbild an, können wir fragen: 5 Was wird von dem Held/der Heldin verlangt? 5 Mit welchen Fragen wird der Held/ die Heldin konfrontiert? Herausfinden des eigenen Individuationsprozesses: 5 Was würde ich anders machen? 5 Was passiert in mir, wenn ich mich mit diesem Märchen auseinandersetze? 5 Welche Fragen habe ich an die Märchengestalten? 5 Welche neuen Fragen entstehen?

Literatur Vorlage III z Märchenarbeit – Befragung des Märchens

Entsprechend der analytischen Psychologie wird allgemein das Märchen als „Drama“ betrachtet. Es  kann gefragt werden, um

Birkhäuser-Oeri, S. (1977). Die Mutter im Märchen (7. Aufl., S. 10). Stuttgart: Bonz. Bly, R. (2005). Eisenhans. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch. Cohn, R. C. (2018). Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion (15. Aufl., S. 124). Stuttgart: Klett-Cotta.

69 Arbeit mit Märchen in der Gruppe

Dorst, B. (2014). Therapeutisches Arbeiten mit Symbolen. Wege in die innere Bilderwelt. Stuttgart: Kohlhammer. Dorst, B., & Vogel, R. T. (Hrsg.). (2014). Aktive Imagination. Schöpferisch leben aus inneren Bildern. Stuttgart: Kohlhammer. Freud, S. (1921). Die Traumdeutung (6. Aufl., S. 445). Leipzig: Deuticke. Georg, H. (2016). Traumarbeit in Gruppen. In M. Schimkus & U. Stuck (Hrsg.), Selbst, Ich und Wir (S. 218–219). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Grimm, J. & Grimm, W. Kinder und Hausmärchen der Gebrüder Grimm (viele verschiedene Verlage, auf Neuauflage der Originalausgabe von 1856 achten). Jung, C. G. (1991). Symbole der Wandlung. GW 5 (6. Aufl., S. 12). Olten: Walter. Jung, C. G. (1991). Die Transzendente Funktion. In Die Dynamik des Unbewussten. GW 8 (S. 82–83). Olten: Walter (Erstveröffentlichung 1934). Jung, C. G. (1997). Über die Natur – das vergessene Wissen der Seele (S. 13). Zürich und Düsseldorf: Walter. Kabat-Zinn, J. (2013). Gesund durch Meditation: Das große Buch der Selbstheilung mit MBSR. München: Knaur Tb. Kast, V. (2012). Imagination – Zugänge zu inneren Ressourcen finden. Düsseldorf: Patmos. Kast, V. (2016). Die Dynamik der Symbole – Grundlagen der Jungschen Psychotherapie. Düsseldorf: Patmos. Mattke, D., Reddemann, L., & Strauß, B. (2017). Keine Angst vor Gruppen. Gruppenpsychotherapie in Praxis und Forschung. Stuttgart: Klett-Cotta.

5

Obrist, W. (2013). Das Bewusste und das Unbewusste (S. 14, 143). Stuttgart: opus magnum. Riedel, I. (2012). Spieglein, Spieglein an der Wand – Märchen vom Neiden und Gönnen. Düsseldorf: Patmos. Riemann, C. (2007). Alter König/Neuer König. Seelenweisheit im Märchen. Regensburg: Pustet. Rilke, R. M. (2006). Die Gedichte (S. 267). Frankfurt a. M.: Insel. Rölleke, H. (Hrsg.). (2009). Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen (7.  Aufl., nach 1857). Stuttgart: Reclam. Schimkus, M., & Stuck, U. (Hrsg.). (2016). Selbst, Ich und Wir. Frankfurt: Brandes & Apsel. Strauß, B., & Mattke, D. (2018). Gruppenpsychotherapie. Lehrbuch für die Praxis. Berlin: Springer. von Franz, M.-L. (1964). Der Individuationsprozess. In C. G. Jung, M.-L. von Franz, J. L. Henderson, J. Jacobi & A. Jaffé (Hrsg.), Der Mensch und seine Symbole (S. 161–162, 175). Olten: Walter. von Franz, M.-L. (1989a). Psychologische Märcheninterpretation. Eine Einführung (S. 193). München: Knaur Tb. von Franz, M.-L. (1989b). Psychologische Märcheninterpretation. Eine Einführung (S. 11). München: Knaur Tb. von Franz, M.-L. (2016/2017). Symbolik des Märchens (Bd. 3). Stuttgart: opus magnum. Wise, A. (2017). Awakened Mind Training. Ein Hirnwellen-Trainingsprogramm (S. 18). Petersberg: Via Nova. Zajonc, A. (2009). Aufbruch ins Unerwartete. Meditation als Erkenntnisweg. Stuttgart: Urachhaus.

71

Psychodynamische Psychotherapie in Gruppen: Analytische Psychotherapie Inhaltsverzeichnis Kapitel 6

Tanz ums Goldene Kalb oder Fight-Club? – 73 Martin Pröstler

Kapitel 7

Analytische Gruppentherapie: Komplexbearbeitung in der Gruppe – 81 Ulrich Stuck

II

73

Tanz ums Goldene Kalb oder Fight-Club? Das Ringen um Bedeutung in der analytischen Gruppenpsychotherapie Martin Pröstler

6.1 Analytische Gruppenpsychotherapie als Anwendungsform der Gruppenanalyse – die „Matrix“ als zentrales Konzept – 74 6.2 Was in Gruppen passieren kann – „Fight-Club“ oder „Tanz um das Goldene Kalb“ – 75 6.3 Der Blick in die Gruppe: Idealisierung und Entwertung, Umgang mit Angst und Aggression – 76 6.4 Fallvignette – 77 6.5 Das Ringen um Bedeutung in der Gruppe – 78 Literatur – 79

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_6

6

74

6

M. Pröstler

Analytische Gruppenpsychotherapie verbindet die psychoanalytische Auffassung von der zentralen Wirkung unbewusster Prozesse mit spezifischen Wirkfaktoren in Gruppen. Aus der Erfahrung, dass die Begegnung von Menschen in Gruppen sowohl wohltuend und heilsam als auch verstörend und angstauslösend sein kann, ergeben sich vielfältige Phänomene, die therapeutisch genutzt werden können. Ausgehend vom zentralen gruppenanalytischen Konzept der „Matrix“ als „Beziehungsnetz“ stellt dieser Beitrag eine klinische Vignette aus einer analytischen Gruppenpsychotherapie vor. Dabei wird deutlich, wie sich „Bedeutung“ in diesem Setting intersubjektiv konstruiert und immer wieder wandelt.

6.1  Analytische Gruppenpsycho-

therapie als Anwendungsform der Gruppenanalyse – die „Matrix“ als zentrales Konzept

Analytische Gruppenpsychotherapie, so wie sie heute in den „Richtlinien Psychotherapie“ verankert ist, versteht sich als eine Anwendungsform der Gruppenanalyse, die sich von Anfang an in spannungsreich-konstruktiver Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis der Psychoanalyse entwickelte und dabei bis heute gleichzeitig im Dialog mit angrenzenden Wissenschaften steht. Hier sind vor allem die Sozialpsychologie und die Soziologie zu nennen, aber auch die Ethnologie, Systemtheorie und Gestaltpsychologie spielen in der Geschichte der gruppenanalytischen Konzeptentwicklung eine wichtige Rolle (Sandner 2013; Schultz-Venrath 2018). Sandner (2013) stellt aufgrund der geschichtlichen Entwicklung der Gruppenanalyse verschiedene Konzepte vor, die auch für die praktische Arbeit in der analytischen Gruppenpsychotherapie äußerst relevant sind. Zum einen lassen sich dabei Ansätze beschreiben, die auf eine psychoanalytische Klärung der Emotionen, Konflikte und Verhaltenstendenzen der einzelnen Gruppenmitglieder in und mit der Gruppe fokussieren.

Dabei wird vor allem Wert darauf gelegt, dass die individuellen Anliegen der Teilnehmer innerhalb der Gruppe Gehör finden. Der Arzt und Psychologe Trigant Burrow (1875–1950) war vermutlich der erste Psychoanalytiker, der bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in seiner Praxis in Baltimore die dyadische Konstellation der Psychoanalyse zu einem Gruppensetting erweiterte und seinen Ansatz „Gruppenanalyse“ nannte. Ihm ging es darum, die Asymmetrie der einzelanalytischen Situation zwischen Analytiker und Analysand möglichst zu überwinden und die mit der Einbindung der beteiligten Personen in soziale und kulturelle Bedingungen notwendig einhergehenden Verzerrungen ihrer Wahrnehmung („blinde Flecken“) zu minimieren. Die Gruppenteilnehmer sollten im Mehr-Personen-Setting gemeinsam mit dem Leiter erforschen, was die verschiedenen emotionalen Zustände und Verhaltenstendenzen der Einzelnen im sozialen Kontext bedeuten könnten. Eine etwas andere Perspektive nehmen Behandlungsansätze ein, die weniger auf das Individuum in der Gruppe fokussieren, sondern das „Ganze der Gruppe“ betonen. S. H. Foulkes (1898–1976), ein deutscher Arzt und Psychoanalytiker, der 1933 von Frankfurt am Main nach London emigrierte, kannte und schätzte zwar die Arbeiten von Burrow, verfolgte aber in seinem gruppenanalytischen Denken und Handeln einen anderen Akzent. Zentral ist für die analytische Gruppenpsychotherapie in der Foulkes’schen Tradition der Begriff der „Matrix“ als Netzwerk oder Beziehungsgeflecht: In Gruppen entsteht durch die Begegnung verschiedener Menschen ein Beziehungsnetz, in dem die einzelnen Gruppenmitglieder und auch der Gruppenleiter jeweils als „Knotenpunkt“ verstanden werden können. Dabei bringt jeder Mensch seine bisherigen Beziehungserfahrungen aus der „Primärgruppe“ (z. B. der Herkunftsfamilie) ein und projiziert seine Erwartungen, Fantasien und Wünsche auf die neue Gruppe. Dies führt zu einer vorrangig sozialen Sicht auf Psychodynamik

75 Tanz ums Goldene Kalb oder Fight-Club?

und Psychopathologie: Der einzelne Patient ist demnach nur auf dem Hintergrund seiner sozialen Erfahrungen zu verstehen und seine jeweils spezifischen Symptome sind Ausdruck von Beziehungspathologien. Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Behandlungstechnik in Gruppen: Im Zentrum der analytischen Arbeit in und mit Gruppen stehen die (bewussten wie unbewussten) Wiederholungen von früheren Verhaltens- und Erlebnisweisen, wie zum Beispiel ungelöste, verinnerlichte Konflikte des einzelnen Gruppenmitglieds. Diese zeigen sich im Zusammenspiel der gesamten Gruppe. Menschen neigen dazu, in Gruppen zunächst auf ihnen vertraute Muster des Erlebens und Verhaltens zurückzugreifen. Damit trägt jedes Gruppenmitglied zur Gestaltung der „dynamischen Matrix“ bei, die jede Gruppe jeweils einzigartig ausbildet. Das szenische Geschehen der Gruppeninteraktionen bildet den Ausgangspunkt für die gemeinsame Klärungs- und Deutungsarbeit, die vom beobachtbaren Verhalten der Gruppe (zum Beispiel Phänomene wie Streit, Diskussion, Schweigen, Rückzug einzelner Gruppenmitglieder, Rollenzuschreibungen und Rollenübernahme) bis hin zu vor- und unbewussten Inszenierungen, Wiederholungen und Konflikten in der Gruppe reicht. Die Chance der gemeinsamen Auseinandersetzung ist, dass dadurch neuartige und oft korrigierende emotionale Erfahrungen möglich werden. In der Folge kann sich Erleben und Verhalten modifizieren. Foulkes nennt dieses Geschehen „Ego-Training in Action“ (Foulkes 2007). 6.2  Was in Gruppen passieren

kann – „Fight-Club“ oder „Tanz um das Goldene Kalb“

Beim Nachdenken über die Gruppe, die ich im Folgenden vorstellen will, sind mir immer wieder zwei Assoziationen in den Sinn gekommen, die verschiedene Facetten von möglichen Prozessen in Gruppen

6

veranschaulichen: Der „Fight-Club“ und der „Tanz um das goldene Kalb“. Im verstörend-faszinierenden Film „FightClub“ (Regie: David Fincher, 1999) findet ein junger Mann, der ohne Namen bleibt, vorübergehende Linderung für seine quälende Schlaflosigkeit, indem er sich einen Zugang zu einer Selbsthilfegruppe mit der Lüge erschleicht, er sei unheilbar krank. Die Einfühlung und Anteilnahme der Gruppenmitglieder führt dazu, dass seine Symptome spontan verschwinden – er fühlt sich durch die „geborgten Gefühle“ erleichtert. Allerdings ist diese Heilung nur von kurzer Dauer: Er entdeckt, dass eine Frau sich ebenfalls durch Simulieren den Zugang zur Gruppe erschlichen hat. Daraufhin zieht er sich beschämt und ertappt zurück und leidet erneut an Schlaflosigkeit. Erst die Begegnung mit einem rätselhaften Seifenhändler namens Tyler Durden ändert das Leben des Protagonisten radikal: Nachdem seine Wohnung durch eine Explosion verwüstet wurde, zieht er bei Tyler ein, der als Gegenleistung für seine Gastfreundschaft verlangt, von ihm geschlagen zu werden. Nach einer fast kumpelhaften Prügelei fühlt sich der Hauptdarsteller seltsam belebt. Die beiden zelebrieren daraufhin immer öfter Faustkämpfe und es schließen sich ihnen weitere Männer an, die offensichtlich ebenfalls den Kick einer Schlägerei suchen. Daraufhin gründen die beiden den „Fight-Club“, zu dem sich die Männer regelmäßig treffen. In diesem Club, der zur neuen kathartischen Selbsthilfegruppe wird, gelten klare Regeln: „Wer neu ist, muss kämpfen.“ Und die wichtigste Regel: „Verliert kein Wort über den Fight-Club – niemals und zu niemandem darüber sprechen.“ Der „FightClub“ wird zur Gruppe im Untergrund, einem Gegenentwurf zur glatten, oberflächlichen Welt, die nach der rational-ökonomischen Logik von Angebot und Nachfrage organisiert ist. Es bildet sich eine „Art Peergroup (…), die Identität stiftend ist, Stärke und Rückhalt verspricht und auch die Hoffnung auf Initiation verheißt, nämlich dass man dort – ähnlich wie bei den Ritualen in schlagenden

76

6

M. Pröstler

Verbindungen – zum Manne reifen kann.“ (Piegler 2008) Im Laufe der Geschichte gelingt dem Protagonisten die Aufhebung quälender Spaltungsprozesse, die Gruppe im „FightClub“ wird zum Durchgangsstadium. Der Ausweg aus dem „narzisstischen Dilemma“, begleitet von grenzenloser sadistisch-masochistischer Destruktivität, gelingt schließlich. Aufgrund der Entdeckung des „wahren Selbst“ wird es dem jungen Mann möglich, auf das Ausagieren von Wut und Hass zu verzichten – so zeigt der Film fast idealtypisch einen möglichen Entwicklungsweg, wie er auch in einer analytischen Gruppenpsychotherapie erfahren werden kann. Meine zweite Assoziation zur Gruppentherapie findet sich im Alten Testament im Buch Exodus und ist der berühmte „Tanz ums Goldene Kalb“: Nach dem Auszug aus Ägypten machen die Israeliten auf ihrer Wanderung durch die Wüste am Berg Sinai Station. Dort überreicht Gott dem Volk das Gesetz und schließt mit ihm einen Bund. Während Mose auf dem Berg die beiden Tafeln mit den Zehn Geboten erhält, wird das Volk ungeduldig und verlangt von Aaron, den Mose zu seinem Stellvertreter ernannt hatte, Götter zu machen, die sie führen sollen. Aaron fertigt aus dem Schmuck der Menschen ein Gussbild an und weiht es feierlich ein: „Dies sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben!“ Als Mose zum Volk zurückkehrt und den Tanz um das Goldene Kalb sieht, zerschmettert er die Tafeln mit den Zehn Geboten. Sein Zorn lässt sich nicht bändigen – er stiftet die Leviten zu einem blutigen Massaker an, bei dem im Namen Jahwes 3000 Männer getötet werden. 6.3  Der Blick in die Gruppe: Idea-

lisierung und Entwertung, Umgang mit Angst und Aggression

Die Gruppe, um die es im Folgenden gehen wird, existiert als analytische psychotherapeutische Gruppe seit gut sieben Jahren.

Organisiert ist sie in meiner ambulanten Praxis als halb-offene („slow-open“) Gruppe: Wenn ein Platz frei wird, kann wieder ein neuer Mensch in die Gruppe kommen. Die Anzahl der Gruppenmitglieder ist auf maximal neun Personen begrenzt, die Zusammensetzung nach Alter, Geschlecht, sozialen Merkmalen und Störungsbildern ist heterogen. Die Gruppe trifft sich einmal wöchentlich für 100 min. Die Anfangsphase dieser Gruppe erinnere ich als sehr turbulent. Die erste Zeit war einerseits gekennzeichnet von Idealisierungen („Gruppentherapie wird mich endlich retten“, „Ich will heil werden, ohne viel dafür zu tun“), andererseits wurde die gemeinsame Arbeit immer wieder harsch abgewertet („Was machen wir hier überhaupt?“, „Im Kreis sitzen und reden hilft doch auch nicht weiter“). In dieser Phase entstand in mir das Bild vom „Tanz ums Goldene Kalb“: Als Gruppenleiter spürte ich immer wieder die Versuchung, wie Aaron aus dem Alten Testament der Gruppe ein „Goldenes Kalb“ zu präsentieren, das angebetet werden kann und quasi automatisch Heilung bringt. Die Gruppe hatte mir offensichtlich die Aufgabe zugeschrieben, Bedeutung zu erschaffen und ich kämpfte mit dieser Aufgabe: Welche Interventionen kann ich setzen, damit die Arbeit in der Gruppe gelingen kann? Wie lautet die hilfreiche Deutung, die tieferes Verstehen in psychodynamische Zusammenhänge fördert? Das Hin  und Her zwischen Idealisierung und Entwertung der Gruppe lässt sich als Ausdruck vielfältiger Widerstände verstehen, hinter denen die Abwehr von multiplen Ängsten der einzelnen Gruppenmitglieder zu vermuten ist: Immer wieder – explizit und implizit – tauchte in dieser Phase die Frage auf, ob die Gruppe ein stabiler, sicherer Ort sei und ob es gelingen könne, sich offen zu zeigen, ob Vertrauen untereinander möglich werden könne. In der Anfangsphase waren auch massive Gefühle von Aggression erlebbar. Immer wieder wurden Abbruchfantasien geäußert und mein Ringen, als Leiter die Gruppe

77 Tanz ums Goldene Kalb oder Fight-Club?

aus- und zusammenzuhalten, brachte mich an die Grenzen meines Denkens und Fühlens. Hier haben die Assoziationen von der Gruppe als „Fight-Club“ ihren Ursprung. Oft habe ich mir gedacht: „Müssen wir uns hier wirklich gegenseitig verprügeln, nur, um uns lebendig zu fühlen?“ Nach und nach war aber auch zu erleben, dass der Zusammenhalt, die Kohäsion in der Gruppe, zunahm. Es entstand ein ausreichend sicherer Ort. Immer mehr näherte sich die Gruppe auch scheinbar unerträglichen Gefühlen und es wurde für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer möglich, oft „zum ersten Mal“ Dinge an- und auszusprechen. Im Jargon der Veränderungstheorie könnte man sagen: Die Interaktion in der Gruppe wirkte affektregulierend, die Fähigkeit zur Symbolisierung (Hirsch 2010) nahm zu. Zentral wurde im weiteren Verlauf der Gruppe die Frage: Wie kann das gelingen – sich um sich selbst gut zu kümmern und gleichzeitig die Angst zu spüren, die Eltern (symbolisiert im Rahmen der Gruppe) mit der eigenen Aggressivität zu zerstören? 6.4  Fallvignette

Es handelt sich um die vorletzte Gruppensitzung vor einer dreiwöchigen Sommerpause. Ich beginne die Stunde: „Es ist Zeit.“ Es folgt eine kurze Schweigepause. Thomas spricht mich direkt an: „Der Satz, den Sie da immer sagen, der ist ja von Rilke. Machen Sie das mit Absicht?“ Ohne auf meine Antwort zu warten, zitiert er das bekannte Rilke-Gedicht: „Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.“ Thomas, Mitte 50, ist seit knapp einem Jahr in der Gruppe. Auslöser für seinen Wunsch nach Therapie war nach einer langen, konfliktreichen Lebensphase die Trennung von seiner Frau, auf die er mit einer schweren depressiven Episode, vor allem geprägt von starken Versagens- und Minderwertigkeitsgefühlen, ­

6

reagierte. Sein Hauptthema in der Gruppe sind seine sozialen Ängste – insbesondere von Frauen fühlt er sich oft gegängelt, nicht ernst genommen und er zieht sich dann verängstigt zurück. Anfangs fiel es ihm sehr schwer, in der Gruppe das Wort zu ergreifen – ich bin beeindruckt, wie souverän er heute einsteigt. Er erzählt davon, dass er momentan schlecht schlafe und erinnert eine Episode aus seiner Kindheit: Als Achtjähriger war er einen Sommer lang auf einem Kuraufenthalt in einem Heim. Dort wurde er von den Pädagogen gezwungen, Fisch zu essen, was ihm zuwider war. Daraufhin musste er sich erbrechen und erlebte starke Gefühle von Ekel und Scham, die er ausführlich schildert. Die Gruppe reagiert mitfühlend, nimmt Anteil. „Schrecklich, wenn man Kinder zu etwas zwingt, was sie gar nicht wollen.“ – „Da ist ja jeder Widerstand zwecklos, der wird einfach gebrochen.“ Es werden weitere Kindheitserinnerungen geteilt und es entwickelt sich ein Gespräch über Rebellion von Kindern gegenüber Geboten der Erwachsenen. Ich nehme eine wachsende Wut in der Gruppe wahr und versuche, die Stimmung in Worte zu kleiden – etwa: „Das kann ganz schön wütend machen, wenn man überhaupt nicht gehört wird, wenn der eigene Wille nicht geachtet wird.“ Es folgt verhaltene Zustimmung, gleichzeitig erlebe ich, wie mich die Gruppe scheinbar ausschließt. „Sie kommen ganz gut ohne mich klar“, denke ich. Oder soll ich stärker eingreifen? Braucht mich die Gruppe als „Ringrichter“ im anschwellenden ­Faustkampf? Helmut hört lange regungslos zu. Plötzlich äußert er eine Körperempfindung: „Als ihr das jetzt so erzählt habt, da hab ich so ein komisches Klopfen in der Brust gespürt.“ Helmut, ein erfolgreicher und vielbeschäftigter Geschäftsmann Anfang 50, kam in die Gruppe, weil er „endlich auch mal was fühlen“ wollte. Er ist Vater zweier Kinder. Seit der Scheidung von seiner Frau (vor rund zehn Jahren) hat er nur noch oberflächliche Bekanntschaften und Affären, die er

78

6

M. Pröstler

im Internet anbahnt. Von Beginn an fordert er die Gruppe sehr, er mahnt immer wieder an, „dass das hier kein Kaffeekränzchen ist, wir wollen doch hier an unsere eigentlichen Themen ran.“ Gleichzeitig strapaziert er die Geduld der Gruppe, da er oft zu spät kommt, oder – vermeintlich aus beruflichen Gründen – Sitzungen ausfallen lässt. Iris geht direkt auf Helmut ein: „Mensch, Helmut, endlich fühlst du auch mal was!“ Helmut wehrt ab: „Ist das ein Gefühl? Ich weiß nicht …“ Iris: „Also, wenn das jetzt kein Gefühl ist, was denn dann?“ Iris geht immer wieder in Konfrontation mit Helmut: „Deine Gefühllosigkeit geht mir echt auf die Nerven, das nehm ich dir einfach nicht ab.“ Sie selbst ist die jüngste Tochter einer vielköpfigen Familie eines Holocaust-Überlebenden, der seine Familie in ihrer Erinnerung „wie im Lager geführt hat. Bei uns daheim hat der Krieg nie aufgehört.“ Plötzlich und unvermittelt steigt Monika ein. Monika, eine Studentin Mitte 20, nutzt die Gruppe seit neun Monaten, um ihre – wie sie es nennt – „vollkommen verkorkste Mutterbeziehung“ zu verarbeiten. Dies versucht sie oft auf sehr aggressive Weise durch wütende Angriffe auf andere Gruppenmitglieder: „Ach, halt doch deinen Mund, ihr habt doch alle keine Ahnung, wie es mir ­wirklich geht“. Monika berichtet plötzlich einen Traum aus den vergangenen Tagen: „Ich habe geträumt, dass meiner Mutter die Kehle durchgeschnitten wurde. Ganz grausam. Alles war voller Blut. Aber das Kind – die hatte ein Kind – das Kind hat überlebt.“ Es entsteht eine Pause, die Gruppe schweigt. Monika fährt fort: „Ich glaube, meine Mutter wollte mich auffressen oder wieder zurück in den Unterleib stopfen, oder so.“ Sie fängt an zu weinen. Ich empfinde in diesem Moment große Ohnmacht, ringe um meine Denkfähigkeit und suche adäquate Worte. Vielleicht, so geht es mir durch den Kopf, zeigt sich im Traum das Erleben in der Gruppe und ich stelle die

Frage: „Wie ist das möglich – jemandem nahe zu sein, ohne aufgefressen zu werden?“ 6.5  Das Ringen um Bedeutung

in der Gruppe

Wie könnte man nun – im Nachhinein – das Geschehen in dieser Gruppensitzung verstehen? Was bedeutet das alles? Eine mögliche (keinesfalls die einzig richtige!) Deutungsperspektive ergibt sich aus dem Blick auf das, was in der Gruppe offensichtlich vermieden wird: Obwohl es nie explizit ausgesprochen wird, beschäftigt sich die Gruppe in meinem nachträglichen Verständnis von Anfang an mit der anstehenden Sommerpause – eine Grenze, die ich als Gruppenleiter willkürlich gesetzt habe und die nicht verhandelbar ist. Die Sitzung beginnt mit einer Entwertung meiner Eröffnung (etwa „Sie nutzen hier Rilkes Worte, ohne ihn zu zitieren …“), danach laufen die Gruppeneinfälle rund um das Thema „Unbehaust-Sein“, „Trennung“, „Gefühllosigkeit“. Nach und nach nimmt die Regressionstiefe zu und das Thema der Gruppe entfaltet sich in Monikas Traum, der auch als Gruppentraum zu verstehen ist: Überlebt das Kind, wenn die Mutter umgebracht wird? Vielleicht zeigt sich hier auch ein Ausdruck der Angst: Wenn es die Mutter nicht mehr gibt, gibt es dann auch keine Ordnung, keine Geborgenheit mehr? Es entsteht eine eigentümliche Gruppenkohärenz, die mich aus dem Prozess scheinbar ausschließt, gleichzeitig deponiert die Gruppe in mir Affekte, die nicht ins Wort gebracht werden können: Gefühle der Ohnmacht und Angst. Verbal wie nonverbal drückt sich die Sehnsucht der Gruppenteilnehmer nach Sicherheit und Geborgenheit aus, immer wieder scheint die Frage durch, ob das „Netz der Gruppe“ stabil genug ist und tragen kann. In analytischen Gruppen wird permanent um Bedeutung gerungen. Was ein Wort, eine Geste oder auch ein Schweigen jeweils bedeuten kann, ist nie ganz eindeutig. Es

79 Tanz ums Goldene Kalb oder Fight-Club?

­ andelt sich beim Geschehen in der Gruppenh matrix eben gerade nicht um objektive Wahrheiten, die es zu finden gilt und die wir dann – wie das Goldene Kalb – auf einen Sockel stellen und anbeten können. In Gruppen entstehen Bedeutungen immer wieder neu, es ist nie ganz klar, ob wir uns im Faustkampf verstricken oder gemeinsam auf dem Weg ins gelobte Land sind. In jeder Sitzung, wahrscheinlich sogar in jeder Minute, wandelt sich die Wahrnehmung, wie etwas zu verstehen sein könnte, was ein Gefühl, eine Stimmung, ein Kommentar für mich oder für dich bedeutet. Wir haben es in Gruppen also in erster Linie mit Phänomenen der Transformation zu tun. Analytische Gruppen bieten ein hervorragendes Feld, um solche Veränderungs- und Verwandlungsprozesse sowohl auf individueller wie auch auf sozialer Ebene zu erfahren, zu beobachten und zu erforschen. Dabei lassen sich auf der individuellen Ebene der Gruppenteilnehmerinnen und -teilnehmer die Fähigkeiten zur Transformation, zur Wandlung und zum flexiblen Umgang mit möglichen Bedeutungen auch als Indikator für eine wachsende Ich-Reife verstehen. Damit diese Transformationsprozesse, dieses Ringen um Bedeutung überhaupt in Gang kommen kann, übernimmt der Gruppenleiter in der analytischen Gruppenpsychotherapie eine wesentliche Rolle: Er schafft und hält den Rahmen. Dabei fungiert er manchmal als Dirigent oder Leiter (Foulkes beschrieb die Rolle der Gruppenleitung mit dem mehrdeutigen Begriff „conductor“),

6

manchmal aber auch als Ring- oder Schiedsrichter. Sichere Grenzen ermöglichen, dass die Gruppe zum Schutzraum werden kann. Gleichzeitig fordert die dauernde Wandlungsbewegung kontinuierliche Reflexion: Was geschieht in der Gruppe? Was nehme ich wahr? Was verstehe ich? Was verstehe ich nicht? Ermöglicht der Gruppenprozess das freie Denken oder wird unsere Denkfähigkeit eingeschränkt und blockiert? Bedeutung in Gruppen konstituiert sich im besten Sinne intersubjektiv: Die Bezogenheit in der Gruppe schafft einen Entwicklungsraum für die Fähigkeit, Gefühle (bei mir selbst wie auch bei meinem Gegenüber!) wahrzunehmen, darüber nachzudenken und sich auszutauschen: Ich bin ich, du bist du – wir sind gemeinsam.

Literatur Foulkes, S. H. (2007). Gruppenanalytische Psychotherapie (2. Aufl.). Eschborn bei Frankfurt a. M.: Klotz. Hirsch, M. (Hrsg.). (2010). Die Gruppe als Container. Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppenpsychotherapie (2. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Piegler, T. (2008). Mit Freud im Kino. Psychoanalytische Filminterpretationen. Gießen: Psychosozial. Sandner, D. (2013). Die Gruppe und das Unbewusste. Berlin: Springer VS. Schultz-Venrath, U. (2018). Gruppenanalyse. In B. Strauß & D. Mattke (Hrsg.), Gruppenpsychotherapie. Lehrbuch für die Praxis (2. Aufl.). Berlin: Springer.

81

Analytische Gruppentherapie: Komplexbearbeitung in der Gruppe Ulrich Stuck

7.1 Begriffsklärung „Komplex“ – 82 7.2 Komplexhafte Reaktion: Wo ein Weg sich nicht finden lässt – 82 7.3 Komplexgeschehen in der Gruppe – 83 7.4 Wie stellt sich ein Komplex in der Gruppentherapie dar? Was ist Komplexbehandlung in der Gruppentherapie? – 85 7.5 Einflüsse des Komplexgeschehens in der Gruppe – 86 7.6 Gibt es Gruppenkomplexe? – 88 7.7 Behandlung der Komplexe in Gruppen – 89 7.8 Neidkomplex – 90 7.9 Fazit – 90 Literatur – 91

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_7

7

82

7

U. Stuck

Dieser Beitrag stellt die Gruppenpsychotherapie aus der Sicht der analytischen Psychologie C. G. Jungs unter Einbeziehung der Komplextheorie dar. In groben Zügen wird die Komplextheorie erläutert, die eine der Möglichkeiten der Jungianischen „Neurosenlehre“ ist, „Psychopathologie“ zu beschreiben. Im Weiteren werden  die Struktur und das Strukturgeflecht in Gruppen angesprochen und die Art und Weise, wie sich Komplexhaftes niederschlägt. Zum Dritten wird an Hand von Beispielen erläutert, in welcher Art und Weise Komplexe in Gruppen behandelt werden ­können.

Von meinem Werdegang her bin ich zunächst Gruppenanalytiker. Am Anfang meiner analytischen Selbsterfahrung besuchte ich mehrere Jahre eine Gruppentherapie. Die Einzelanalysen kamen anschließend. Gruppen leite und begleite ich seit 30 Jahren. Gegenwärtig sind es noch zwei Slowopen-Gruppen. Mit der analytischen Psychologie habe ich mich erst in meinen späteren Berufsjahren auseinandergesetzt. Ich wurde Jungianer, nachdem ich bereits Gruppenanalytiker war. In diesem Beitrag möchte ich aufzeigen, wie für mich Gruppenanalyse und analytische Psychologie zusammenpassen. Den Begriff „Komplex“ halte ich für ein Instrument, das einiges von den Geschehnissen in der Gruppe theoretisch transparent macht und mir praktische Handlungsmöglichkeiten erlaubt. Darüber hinaus meine ich, dass die Arbeit mit dem Komplexbegriff einiges an den Gruppenprozessen deutlich macht, was sonst schwerer verständlich oder weniger kohärent darzustellen ist. 7.1  Begriffsklärung „Komplex“

Umgangssprachlich wird „Komplex“ als Charakterisierung für ein etwas seltsames, neurotisch wirkendes Verhalten verwendet. Von

dem Verhalten wird geschlossen, dass der oder die Betreffende einen Komplex habe. Für die analytische Psychologie sind Komplexe zentral. Der Begriff hat über den Ödipuskomplex Eingang in das Denken der Freud‘schen Psychoanalyse  gefunden, als „Minderwertigkeitskomplex“ ist er im Denken Adlers zu finden. Im Verständnis der analytischen Psychologie ist es das Komplexgeschehen, das die Neurose bildet. Die Komplextheorie wurde von Jung ab 1904 entwickelt (Jung 1911). Komplexe haben einen archetypischen Kern, zeichnen sich dadurch aus, dass sie gefühlsgeladen sind, sich mit neuen Inhalten anreichern und sich in Handlungen oder anderen Reaktionen und Positionen des Individuums äußern. Die bekanntesten sind vielleicht Vaterkomplex und Mutterkomplex, aber natürlich auch Neidkomplex, Minderwertigkeitskomplex usw. In der analytischen Psychologie sind es die Komplexe, welche die „via regia“ zum seelischen Verständnis der Entwicklung des Menschen und seiner Neurosen sind. Komplexe führen eine Art Eigenleben. Sie sind unbewusste Positionen, die sich dem Bewusstsein gegenüber unabhängig verhalten können. Das Bewusstsein hat jetzt keine Gewalt und keine Kontrolle. Der Komplex besetzt das Bewusstsein, was Jung damit ausdrückte: „Nicht wir haben die Komplexe, sondern die Komplexe haben uns“ (Jung 1934). Psychische Positionen werden eingenommen, die sich in Komplexen zeigen. Diese Positionen sind nicht angepasst, nehmen die Dinge nicht so wahr, wie sie sind, sind eben neurotisch. Im Kern der Komplexe zeigen sich die Grundelemente der Psyche, die wir mit Jung Archetypen nennen. Prägende Ereignisse der Kindheit formieren Komplexe auf diesem Hintergrund. 7.2  Komplexhafte Reaktion: Wo

ein Weg sich nicht finden lässt

Die Übernahme einer komplexhaften Reaktion zeigt sich in einer inadäquaten gefühlsmäßigen Reaktion, die nach Abklingen der

83 Analytische Gruppentherapie: Komplexbearbeitung in der Gruppe

Komplexreaktion ebenfalls wie unmotiviert in sich zusammenfallen kann. Der Kern der Komplexe ist in der Regel unbewusst und archetypisch. Ein Beispiel: Ein Oberstudiendirektor ist zu einem Vorstellungsgespräch (es heißt da „Vorsingen“) bei einer ministeriellen Behörde. Die Situation ist demütigend und quälend: Häufig sind die Stellen bereits eigentlich vergeben, die Ausschreibung ist pro forma, die Mitarbeiter sind nicht motiviert, die Zeiten der Vorstellung häufig eine Zumutung. Der angehende Mitarbeiter in der ministeriellen Behörde hat einen negativen Vaterkomplex, der sich in einem Elementarcharakter zeigt. Der Vaterkomplex ist verbietend, rigide, zerstörerisch und vernichtend. Lebensgeschichtlich entspricht er einem Vater, der den Sohn aus nichtigem Anlass mit dem Ledergürtel prügelte. Der Bewerber bekommt Schwindelgefühle, fängt an zu zittern, kann das Schild nicht entziffern, das den Maria-Theresia-Platz anzeigt. Stattdessen sieht er nur ein Schild zum Arbeitsplatz. Er muss erst Kaffeetrinken gehen, sich distanzieren, dann kann er das Schild richtig entziffern, das ihm den Weg zum Maria-Theresia-Platz weist. Trigger für das Auslösen von Vaterkomplexen können z. B. Begegnungen mit der Polizei, aber auch z. B. mit Bankmitarbeitern sein, also dann, wenn eine Projektion von Autorität eine Rolle spielt. Ein Mutterkomplex kann sich auch auf ein Ausbildungsinstitut oder eine Firma beziehen, die Projektion und Übertragung bezieht sich dann auf das Haltgebende und Tragende. Wir sehen, es bedarf keiner expliziten Übertragungssituation, damit sich der Komplex konstelliert; er geht, neben der Wahrnehmungsstörung, mit einer Reihe von somatischen Störungen einher. 7.3  Komplexgeschehen in der

Gruppe

In der Gruppe konstellieren sich Vater- und Mutterkomplex (zumeist in umgekehrter Reihenfolge) sehr schnell. Indem in der

7

Gruppe, im Prozess des sich Schließens, die anfänglichen Fragestellungen („Habe ich hier einen Platz? Kann ich hier Antworten auf meine Fragen finden?“, „Kann der/die Leiter/in das, was er/sie vorgibt zu können?“) zumindest teilweise beantwortet sind  und dies als tragend und Halt gebend von den Teilnehmern empfunden wird, konstelliert sich ein Mutterkomplex. Man könnte auch von einer mild positiven Übertragung auf die Gruppe als Ganzes sprechen. Häufig gibt es eine große Angst vor Gruppen. Dies zeigt sich mitunter bei Gesprächen, in denen der Therapeut dem Patienten eine Gruppentherapie vorschlägt (und in der Konsequenz der Gruppe die Aufnahme eines neuen Patienten). In der Angst vor Gruppen wird die Angst vor dem Fremden mobilisiert, das Eindringen des anderen in meine Welt, was unter Umständen als Eindringen des anderen in mich selbst erlebt wird, und mein Eindringen in die Welt des anderen. Hier sind bereits die ersten Hinweise auf komplexhaftes Geschehen zu finden, das auch dann stattfindet, wenn die Erfahrungen des neuen Mitgliedes selbst mit Gruppen nicht konflikthaft sind. Der Mutterkomplex, der sich für den einzelnen konstelliert, kann sowohl positiv als auch negativ sein. Positiv und negativ versteht Dieckmann (1991) nicht als gut oder schlecht, sondern er versteht darunter, ob es in dem Patienten ein subjektives Bild einer annehmenden Verbundenheit oder einer Ablehnung der eigenen Mutter gegenüber gibt. Ob die annehmende Verbundenheit eine positive Konsequenz für den Patienten hatte oder ihn in seiner Entwicklung behinderte, ist noch eine andere Sache. Dieckmann (ebd.) bringt als Beispiel den Maler Chagall, der seine Mutter verehrte. Sie habe auf den Tisch geklopft und gesagt: „Alle Welt schläft. Was habe ich für Kinder? Gibt es denn niemand, mit dem ich plaudern kann? Sie liebte es zu plaudern … Aber sie hatte niemanden. Allein hörte ich von der Ferne zu. Sie forderte mich auf: Mein Sohn, plaudere mit mir! Aber ich bin nur ein Straßenjunge, und Mutter ist eine Königin. Wovon sollte man mit ihr sprechen?“

84

7

U. Stuck

Chagall heiratete später seine erste Frau, die er bald malte. Das Bild heißt „Bella mit dem weißen Kragen“. Wenn Sie das Bild mit dem Literaturverweis im Literaturverzeichnis im Internet öffnen, sehen Sie eine überdimensionierte, unnahbare Frau. Dieckmann nennt sie eine Göttin, eine Demeter-KoreFigur. Bis zu deren Tod scheint Chagall seine Frau sehr verehrt zu haben. Der hier geschilderte positive Mutterkomplex zeigte sich in seiner prospektiven Seite. Dies muss aber nicht immer so sein. Auch der positive Mutterkomplex kann für den Patienten behindernd sein und es ihm unmöglich machen, sein eigenes Leben zu leben. Es kann sein, dass er in diesem Komplex eingeschlossen bleibt. Dies kann sich darin zeigen, dass einerseits Initiative, Aktivität, Entwicklung und Erweiterung dem Patienten anscheinend verwehrt bleiben. Der Ich-Komplex (dazu noch später) bleibt eingeengt, eine Selbstverwirklichung gelingt nicht. In einer zweiten Form ist das Mutterintrojekt eher verführend, im vorhergehenden Fall verhindernd. Ich erinnere mich an einen suchtabhängigen Patienten, der von seiner Mutter nicht lassen konnte. Er wusste das über sich selbst und formulierte es so, dass er permanent seine Mutter „in sich drinnen spüren muss“. Solange das so blieb, tat er sich bei seiner Entwicklung unendlich schwer und musste sich überdimensional anstrengen, um von ihm angestrebte Ziele zu erreichen. Hat der Mensch in seiner Primärgruppe schädigende Erfahrung gemacht, ist die vordringliche Thematik dieser Phase bekanntlich Angst, zuallererst Verlassenheitsangst, die Einsamkeit des kleinen Kindes, die Verlorenheit in der Welt. Diese Betrachtung macht aber nur ungenügend deutlich, warum diese Position bei gegenteiliger Erfahrung nicht aufgegeben werden kann. Es konstelliert sich ein Mutterkomplex mit seinem Elementarcharakter. „Ein Komplex ist wie eine Schlucht in der Persönlichkeitslandschaft, manchmal tiefer, manchmal weniger tief. Der betroffene Mensch fällt durch einen aktuellen Auslöser

ungewollt und reflexartig in sie hinein und muss sich jeweils mühsam wieder herausarbeiten. Wenn der Betroffene gelernt hat, die Schlucht bereits von weitem zu sehen und den Auslöser kennt, kann er oder sie an der Kante stehenbleiben statt hineinzufallen“, schreibt Isabell Meier (2017, S. 16) zum Wesen der Komplexe. Ein Komplex in diesem Verständnis ist nicht nur die Wiederholung einer zuvor gemachten realen Erfahrung mit einer realen Person, sondern sie ist darüber hinaus eine seelische Position, die von den betreffenden Menschen eingenommen wird. Diese seelische Position ist eine autonome unbewusste Positionierung des betreffenden Menschen. Dieckmann geht davon aus, dass sich alle Komplexe auf einen Vater- und/ oder einen Mutterkomplex zurückführen lassen. Ich kann das nicht so sehen; Scham und Schuld sind wirkmächtige Komplexe, ebenso wie der die Sozialität betreffende Komplex, der Neidkomplex. Die Erscheinungsform des Weiblichen auch im übertragenen Sinn zeigt sich im Mutterkomplex und wird unterschieden in seinen Elementar- und seinen Wandlungscharakter. Der oben beschriebene Mutterkomplex, der sich im Verhindernden und im Verführenden zeigt, entspricht diesen beiden Dimensionen. Dieckmann (1991) führt in seinem Standardwerk über Komplexe aus:

» „Neumann (1956) hat in seiner „Großen

Mutter“ eine weitere Differenzierung geschaffen, die in vielen Fällen nicht nur beim Mutterkomplex, sondern auch beim Vaterkomplex anwendbar und von Wert ist. Es handelt sich um die Einteilung in einen Elementarcharakter und einen Wandlungscharakter, wozu er eine Reihe von deutlichen archetypischmythologischen Beispielen aufführt. Neumann unterscheidet einen positiven und einen negativen Elementar- und Wandlungscharakter. Unter den positiven Elementarcharakter fallen Eigenschaften wie z. B. Gebären, Freigeben, Aufbauen,

85 Analytische Gruppentherapie: Komplexbearbeitung in der Gruppe

Neugeburt und Wiedergeburt. Der negative besteht dagegen aus Festhalten, Einfangen, Verringern, Krankheit und Tod. Auf der anderen Seite sind Eigenschaften des positiven Wandlungscharakters: Geben, Steigern, Inspiration, Ekstase, Schau und Weisheit, während der negative Verstoßen, Entziehen, Auflösen, Wahnsinn, Sucht und Betäubung enthält. Auch im Hintergrund der persönlichen Elternkomplexe lassen sich diese beiden Charaktere oft deutlich unterscheiden, gerade weil das Archetypische durch das Persönliche immer hindurchschimmert und ihm seine Akzente gibt.“

7.4  Wie stellt sich ein Komplex

in der Gruppentherapie dar? Was ist Komplexbehandlung in der Gruppentherapie?

Das Geschehen in einer Gruppe ist vielschichtig. Wir versuchen es mit Begriffen zu erfassen, zum Beispiel soziale Interaktion, Übertragung, Interdependenz und Wiederholung einer real erlebten Situation aus der frühen Kindheit in der Interaktion, Mentalisierung und Symbolisierung, um nur einige Termini zu nennen. Die Gruppe ist Container für eine Vielzahl von Prozessen. Dabei ist die Theorie immer nur ein Versuch einer Annäherung an das, was in Gruppen tatsächlich stattfindet. Um das Geschehen in Gruppen besser erfassen zu können, gehe ich auf die Arbeiten des italienischen Psychoanalytikers Claudio Neri zurück. Neri (2004) geht von der Unterscheidung von vier Aufmerksamkeitsobjekten des Gruppenanalytikers aus: 5 die beteiligten Personen, 5 die interpersonalen Beziehungen, 5 das Verhältnis zwischen den Einzelpersonen und der Gruppe und 5 die trans-personalen Phänomene. Er beschreibt damit die Auflösung der Ich-Grenzen in der Gruppe.

7

Neri benennt drei Phänomene, die Atmosphäre oder den „Grundton“ einer Sitzung, dann das Medium, und drittens die Wirkung der primitiven Mentalität und der Grundannahme. Neri bezieht sich auf Bion, demzufolge die primitive Mentalität (gemeint sind die von Le Bon [1895] beschriebenen Massenphänomene der Entindividualisierung in großen Menschenmengen) von drei sich abwechselnden Fantasien aufrechterhalten und durchdrungen sind: Paarbildung, Leiterabhängigkeit und Kampf und Flucht. Die beiden ersteren beschreiben eher die Entstehung des intersubjektiven Raumes, letzteres eher die Abwehrreaktion einer bedrohlich erlebten Nähe. Diese vier Aufmerksamkeitsebenen sollen es ermöglichen, dass der Gruppenleiter das Netz (die Matrix), das Gruppendenken und, was Neri die Präsenz der Gruppe nennt, den Kontakt in der Gruppe wahrnimmt. Zusätzlich zu den Dimensionen von Neri erachte ich noch die folgenden Dimensionen für wichtig: 5 die Lebensgeschichte der Patienten 5 die seelische Position der Patienten 5 das Komplexgeschehen und erste Überlegungen, wie das Geschehen archetypisch zu verstehen ist 5 die Interdependenz des Komplexgeschehens Gruppentherapie ist die Therapie der Gruppe durch die Gruppe in der Gruppe, so benennt Foulkes das Prinzip der Gruppenpsychotherapie. Den Kontakt in der Gruppe würde ich schon als ein komplexhaftes Geschehen bezeichnen (so habe ich Neris trans-personale Phänomene verstanden). Mit dem, was man auch als intermediären Raum oder Interdependenz  oder Intersubjektivität beschreiben könnte, ist das gemeint, was Foulkes (1948) als Matrix bezeichnete und Neri (2004) als Brüderbund. Es entsteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Grundlage dafür bietet, dass die Äußerungen, die ein spezifisches Gruppenmitglied oder ein anderer in der

86

7

U. Stuck

Gruppe tun, von besonderer Bedeutung für mich sind. Das ist die Voraussetzung, dass das, was der andere sagt, mich in besonderem Maße etwas angeht, dass ich mich öffne, dass mich die Worte des anderen auf einer tieferen Ebene berühren können. Auf einer anderen Ebene entspricht diese Öffnung der Reverie von Bion. Er versteht unter Reverie bekanntlich die Fähigkeit der Mutter, sich unbewusst in einer quasi träumerischen Haltung auf die Bedürfnisse des Kindes einzustellen. Es entspricht dem Begriff von Sterns „attunement“ (dtsch. Feinabstimmung, Report oder Kontingenz), oder Winnicotts „(primary) maternal preoccupation“ (dtsch. primäre Mütterlichkeit). Sie entspricht auch dem Beziehungsquaternio im Denken C.G. Jungs. Die Beziehung zwischen Gruppenmitgliedern, zu denen auch der Gruppenleiter gehört, verläuft auf einer unbewussten Ebene. Diese unbewusste, komplexhafte Ebene ermöglicht eine Kommunikation zwischen den Gruppenmitgliedern, die nonverbal und wie jede Kommunikation als Senden und Empfangen zu verstehen ist. Wenn der Komplex eines Gruppenmitgliedes zum Tragen kommt, affiziert das die anderen Gruppenmitglieder ebenfalls komplexhaft. Es entsteht eine Interaktion eines Komplexgeschehens. Diese ist es letztlich, die verändernd wirkt oder wirken kann. In diesem Komplexgeschehen vermittelt sich nicht nur die bewusste Position der Mutter (also die Position, welche die Mutter auf Befragen formulieren könnte), sondern ebenso die von ihr verinnerlichten auch transgenerationalen inneren seelischen Positionen. Das Komplexgeschehen und der Austausch darüber finden in der Gruppe auf bewusster und unbewusster Ebene statt. Hier besteht die Möglichkeit, ohne personale Erfahrungen eine Veränderung im Mutterkomplex herbeizuführen. Es geht also nicht nur um das Erleben eines Gruppenpatienten, der den Gruppenleiter oder die ganze Gruppe im Sinne eines „repair and repeat“ als positiv mütterliche Figur erleben könnte.

Es geht um eine Veränderung des Mutterkomplexes: dass nämlich der Wandlungscharakter des Mutterkomplexes zuungunsten des Elementarcharakters im Unbewussten des Patienten betont wird, um mit Neumann (siehe oben) zu sprechen. Hinderlich ist dabei sicherlich der  Neid. Er,  auch komplexhaft, behindert eine Veränderung. 7.5  Einflüsse des Komplex-

geschehens in der Gruppe

Wir alle kennen die ansteckende Funktion von Komplexen. Der Komplex ergreift nicht nur denjenigen, der von einem Komplexgeschehen ergriffen ist, sondern auch sein gegenüber. Es entsteht eine Interdependenz von komplexhaften Geschehen. Ein Mensch in unserer Nähe, der viel Angst hat oder viel Wut, beeinflusst uns unbewusst und zeigt uns damit einen Aspekt unserer eigenen Komplexstruktur. Wenn die Beeinflussung sehr unbewusst ist, nennen wir sie projektive Identifizierung. Dieckmann weist darauf hin, dass der Begriff „participation mystique“ das Gleiche umfasse. Es muss auch noch einmal betont werden, dass Gruppen nicht nur förderliche und heilende Wirkung haben können, sondern ebenso behindernd und die eigene Entwicklung beeinträchtigend sein können. Dies hängt nicht nur von den Besonderheiten der Komplexstruktur des Patienten oder den besonderen Mängeln des Gruppenleiters ab. Es gibt Situationen, wo ein Gruppenmitglied den Eindruck hat, es werde eine Wahrheit durch Gruppenkonsens übergestülpt, die für den Einzelnen nicht stimmig sei. Das muss sich nicht nur auf das Ergebnis eines Gruppenprozesses, sondern kann sich auch auf den Weg dorthin beziehen. Komplexe verlieren ihre Wirkkraft oder können sie verlieren, wenn sie bewusst gemacht werden. Es gilt der Satz von Bion in Bezug auf die Alpha-Elemente in seiner Theorie: „thoughts that can be thought by the thinker“ Bion (1992, S.  313) Indem Komplexinhalte

87 Analytische Gruppentherapie: Komplexbearbeitung in der Gruppe

bewusst gemacht werden, verlieren sie ihre unbewusste Wirkfunktion. Bei Komplexen gilt natürlich dasselbe wie allgemein beim Umgang mit dem Unbewussten, dass Bewusstwerdung alleine noch nicht unbedingt Veränderung bewirkt, sondern zusätzlich zur gefühlsmäßigen Beteiligung mitunter auch das veränderte Tun eine Notwendigkeit ist. Komplexe sind in einem intersubjektiven Feld wirksam. Sie werden in die Therapie hineingetragen in Form von Projektionen und Faktifizierungen (Herstellung von äußeren Wahrheiten/Konstellationen). Sie zeigen sich in Übertragungen, positiven und negativen. Ohne eine mild-positive Übertragung (der Herstellung eines zumindest rudimentären positiven fürsorglichen sorgenden wahrgenommenen Mutterkomplexes, der sich in einer emphatischen Haltung des Gruppenleiters zeigt), ist Therapie nur schwerlich möglich. Der 56-jährige freischaffende Inhaber einer Agentur kommt nach einer Einzeltherapie, die er selber nicht als besonders erfolgreich betrachtet, in die Gruppentherapie. Zeitweise hatte er sehr gut verdient, derzeit ist er nicht mehr krankenversichert, braucht seine verbleibenden Geldreserven auf, wohnt bei Freunden und schlägt sich mit kleinen Aufträgen durch. Seine Ehe ist in die Brüche gegangen, seine Frau hat ihn mit den drei Töchtern verlassen und die Beziehung zu einem früheren Liebhaber im Alter ihres Vaters wieder aufgenommen. Nach der Scheidung verblieb das Vermögen wie im Ehevertrag vereinbart bei der Frau. Ab und zu schreibt er ihr Bettelbriefe, auf die sie mal freundlich, mal ablehnend reagiert.  Seiner Wut und Verzweiflung begegnete er mit erhöhtem Alkoholkonsum. Auf der bewussten Ebene ist es sein größter Wunsch, endlich wieder eine Partnerin zu finden. Die Mutter des Agenturinhabers war ein Waisenkind und heiratete einen 50 Jahre älteren Mann, der eine Frau suchte, die ihm den Haushalt führen und ihn im Alter pflegen sollte. Die junge Frau konnte zu dem Kind keine freundliche Beziehung entwickeln, prügelte

7

den Säugling und das Kleinkind und verließ es schließlich. Der alte Vater, skurril und tendenziell verwahrlost, zog den Sohn auf, der elementare Kenntnisse von Hygiene nicht kannte und infolgedessen von der Kinder- und später Jugendlichen-Gruppe ausgestoßen wurde. Der Mutter gegenüber hat der Sohn Sehnsuchts- und Hassgefühle. Durch den Mangel an Spiegelung hat sich eine eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit den Gefühlen anderer Menschen gegenüber entwickelt. Der Patient leidet unter einem einerseits negativen Mutterkomplex, der sich in einem rigiden Elementarcharakter des Weiblichen zeigt. Die Welt wird quälerisch verweigernd und bösartig erlebt. Er tut sich schwer, sich wirklich in der Gruppe wohl zu fühlen. Einerseits nimmt er wahr, dass die Gruppenmitglieder sich um ihn bemühen und ihn auch mögen. Sie führen dennoch mitunter deutliche Auseinandersetzungen mit ihm. Für ihn ist es schwer, mit seiner allgemeinen Ablehnung, die mit seiner Sehnsucht nach Nähe oszilliert, umzugehen. Eine Entwicklungsperspektive besteht in der Wandlung des Mutterkomplexes, sodass sich der Elementarcharakter zu einem Wandlungscharakter verändert. Erst wenn der Patient von einem Wandlungscharakter getragen wird, können sich tatsächliche Änderungen in seinem Leben ergeben. In seinem affektiven Erleben könnte man das auch als Zunahme seiner Liebesfähigkeit beschreiben. Erst wenn es ihm gelingt, seiner Zuneigung anderen Menschen gegenüber innerlich Raum zu geben, ohne die Zuneigung gleich zerstören zu müssen, kann es zu einer veränderten seelischen Positionierung kommen. Das vorgegebene Beispiel zeigt, dass ein wesentliches Ziel der Komplexbehandlung in der Gruppenanalyse darin besteht, dem Wandlungscharakter – und zwar sowohl des Weiblichen als auch des Männlichen, also  dem Mutter-  und dem Vaterarchetypus, die sich komplexhaft zeigen – Raum zu geben. Der Wandlungscharakter des Weiblichen kann es dem Patienten ermöglichen, Zuneigung zu spüren, ihr innerlich Raum zu

88

7

U. Stuck

geben  und letztlich auch Liebe und Erotik zuzulassen. In ähnlicher Art und Weise verhält es sich auch mit dem Männlichen. Der Vaterkomplex des Patienten ist ebenfalls von einem rigiden, inkompetenten oder zerstörerischen Vaterbild geprägt. Der Vater, der anfänglich sicher auch mit dem Mutterarchetyp verbunden war, war unfähig, mütterlich zu sein und unfähig, für ihn zu sorgen, unfähig fürsorglich zu sein und unfähig, die Bedürfnisse seines Sohnes zu erkennen.  Später, gerade weil er ein schwacher Vater war und alt, zeigte sich der Vaterkomplex in seinem Elementarcharakter. Heute klagen viele Menschen über die abnehmende Bedeutung des realen Vaters im Leben der Familien in der westlichen Welt. Das in Vorabendserien gezeichnete Bild ist im günstigsten Fall eher das eines netten Kerls, der nicht so ganz durchblickt. Die Mutter ist es, welche die Familie zusammenhält und Kompetenz zeigt. Dies bedeutet aber nicht, dass der Vaterkomplex weniger rigide, verbietend und deformierend ausgeprägt ist. Ein abwesender Vater wird sich innerseelisch eher rigide konnotiert zeigen als weich und schwach. Eine Erklärung dafür ist, dass sich ein archetypischer Kern zunächst in seinem Elementarcharakter, also von seiner rigiden, verbietenden, einschränkenden und verletzenden Seite zeigt. Erst im realen Kontakt wandelt sich das Bild, und der reale Vater und trennt sich von dem Bild eines archetypischen Vaters, das eher einem alttestamentarischen JHWH/Jahve gleicht. 7.6  Gibt es Gruppenkomplexe?

Bevor ich mich der Frage der Interdependenz von Komplexen in der Gruppe zuwende, möchte ich noch auf die Frage zu sprechen kommen, ob es Gruppenkomplexe gibt. Auf ein erstes komplexhaftes Geschehen weist Neri bei der Entstehung von Gruppen hin (2004, S.  45). Gruppen konstituierten sich auf der Grundlage einer messianischen

Idee, die sich um die Person des Analytikers herum bildet. Von der Gruppe verspricht sich der einzelne Teilnehmer Besserung oder sogar Heilung seiner Beschwerden. Auch wenn er äußerlich skeptisch der Gruppe gegenüber sein mag, innerlich wird er Erlösung erhoffen. Ein solcher Wunsch weist bereits auf einen Komplex hin. Die Erlösungsvorstellung, auch wenn sie an einen männlichen Gott gebunden sein mag, bezieht sich in der Regel auf ein mütterliches Element, das Schaden von mir abwenden wird, oder wenn ich bereits Schmerzen habe, mir bei der Bewältigung der Schmerzen zur Seite stehen wird. Es ist der Wunsch nach dem Wandlungscharakter eines Mutterkomplexes. Neri weist auf die Verführungsmöglichkeit für den Gruppenanalytiker hin. Diese Gruppenillusion würde bedeuten, einem Komplex auf den Leim zu gehen und ihn zu befördern. Die Gruppenillusion, so Neri, entspricht einem Verlangen von Sicherheit nach Bewahrung der bedrohten Einheit des Ich. Es entsteht hier ein Spannungsbogen für den Ich-Komplex zwischen einsamer Autonomie und Assimilation, zwischen Auflösungsbedrohtheit und Wohlempfinden in der Gruppe. In der Bearbeitung des Komplexes geht es darum, dieses Paradoxon bewusst zu machen und in dem Bewusstmachen dem einzelnen Gruppenteilnehmer die Möglichkeit zu geben, seinen Platz zu finden. Ziel der Bearbeitung dieses Aspektes eines Mutterkomplexes ist es, den Wandlungscharakter im Mutterkomplex zu betonen – und damit die Anfangsvoraussetzungen von Geburt und Entwicklung – und den Elementarcharakter des Mutterkomplexes, Zerstörung und Verwirrung, im Hintergrund zu belassen. Es gibt noch weitere Gruppenkomplexe, vor allem narzisstischer Natur (besonders zu sein, besonders klug, besonders analytisch, besonders heilend zu sein) die im Wesentlichen verführenden Charakter haben. Andererseits ist es nur wenig tauglich, sich dagegen völlig immunisieren zu wollen. Man sitzt dann genauso einem Komplex auf, einer Reinheitsvorstellung und Sauberkeitsvorstellung,

89 Analytische Gruppentherapie: Komplexbearbeitung in der Gruppe

die mit einer Art Unbeflecktheit versucht, das notwendige Ringen um Wahrheit schon vorweg zu nehmen. Man kann dem Komplex nicht ausweichen, nicht „komplexlos“ bleiben, der Komplex bleibt, es gilt ihn zu erkennen. Vielleicht darf ich an dieser Stelle anmerken, dass – richtig verstanden – die Komplextheorie eine Möglichkeit ist, weniger wertend und weniger mit diagnostischen Kategorien sich selber und anderen gegenüber aufzutreten. Eine scheinbare Möglichkeit, sich mit seinen Komplexen auseinanderzusetzen ist es, allen Verführungen „zu widerstehen“, sich über sich selber zu stellen. Dies führt zu einer Spaltung des Ich-Komplexes, dass ich mich quasi in zwei Figuren aufspalte: in die eine, mit der ich mich als zu erziehendes Subjekt identifiziere und in die andere, die mich belehren soll. Auf die Art und Weise wird ein innerer stabiler Zustand hergestellt, in dem nicht der Wandlungscharakter, sondern der Elementarcharakter wechselweise des Weiblichen oder des Männlichen angesprochen wird. Das, was eigentlich intendiert ist, nämlich Änderung, wird auf die Art und Weise verhindert. Das soll keinesfalls als Freibrief zu einem wie immer gearteten Agieren verstanden werden. Im Gegenteil: Es ist die Verantwortung gegenüber meinem Handeln, die mich leiten muss. 7.7  Behandlung der Komplexe

in Gruppen

Es lassen sich unterschiedliche Manifestation von Komplexen differenzieren. Die Komplexe können auftreten 5 als interagierende Komplexe 5 als einzelne Komplexdarstellungen 5 als das, was man Komplexinfektionen bezeichnen könnte 5 als das, was man als Komplexprovokationen bezeichnen könnte. Ich komme zum ersten Punkt, zu Situationen, in denen Komplexe interagierend

7

auftreten. Phänomenologisch zeigt sich das häufig am „Hochgehen aneinander“, wobei häufig für die anderen Teilnehmer das Ausmaß der Affekte kaum verständlich ist. Das ist sogar ein Diagnostikum, dass es sich nicht um eine notwendige Auseinandersetzung divergenter Positionen handelt, sondern um ein Komplexgeschehen. Häufig lässt sich das Geschehen nicht in der Sitzung klären. In der Gegenübertragung tritt häufig das Gefühl des Verbeißens (wie eines Hundes in die Wade) auf. Gerade wenn man das Gefühl hat, dass „etwas Luft hineingekommen“ ist, dreht sich das Kampfrad von Neuem. Ich komme zum zweiten Punkt, zur einzelnen Komplexdarstellung. Die Reaktion auf die Schilderung ist schweigende Betroffenheit und Ratlosigkeit. An der Darstellung des Gruppenmitgliedes bleibt trotz aller Empathie etwas fremd. Die Gruppenmitglieder spüren sehr genau, dass es für den Betreffenden ein heikles Thema ist. Sie spüren auch, dass Belehrungen unangebracht sind. Das Gefühl der Fremdheit bei der Schilderung und gleichzeitig der mitfühlende Kontakt ist das Paradoxon, das die Voraussetzung dafür bildet, dass das Gruppenmitglied sich verstanden fühlen kann, sich öffnen kann und in die innere  Position kommt, tatsächlich etwas ändern zu können. Das Ändern selber ist ein ebenfalls komplexhafter Prozess, wenn es tatsächlich eine Änderung und nicht nur eine erzwungene Anpassung ist. Dass sich etwas geändert hat, ist für den Menschen erst im Nachhinein verstehbar. Eine Komplexinfektion ist ein Charakteristikum von Paarbeziehungen (und kann dort das Zusammenleben vergällen). Sie tritt in anderer Form ebenfalls in Gruppen auf. Es ist ähnlich dem Aneinander-Hochgehen, vielleicht mit unterschiedlicher Betonung. Es hatte den Anschein für einen der Beteiligten, mit dem Thema des anderen nichts zu tun zu haben, doch plötzlich fühlte er sich mit hineingezogen in eine Thematik des anderen. Eine solche Interaktion bleibt zunächst völlig wortlos. In einem günstigeren A ­ ugenblick

90

7

U. Stuck

wird der Gruppe später mitgeteilt, dass man dies und jenes von dem anderen wahrgenommen habe. Eine weitere Form, in der sich Komplexe in der Gruppe konstellieren können, ist das, was man Komplexprovokationen nennen könnte. Ein Gruppenmitglied spürt, was in dem anderen komplexhaftes Geschehen auslöst. Mit einer Intervention zielt er unbewusst darauf ab, eine komplexhafte Reaktion bei dem anderen auszulösen. In der Regel ist es weniger ein sadistischer Impuls, auch weniger die Entlastung von eigenem komplexhaften Geschehen, als ein ein unbewusster Klärungsversuch eigener Anteile. 7.8  Neidkomplex

Ein Thema, das ich indirekt schon am Anfang des Kapitels behandelt habe, ist, dass es neben Vater- und Mutterkomplex meiner Auffassung nach noch einen dritten, sozialen Aspekt gibt, nämlich einen Neidkomplex, der ubiquitär und wenig beachtet auftritt. Neid, und damit der neidvolle Vergleich mit dem anderen, ist eine komplexhafte menschliche Reaktion, die weitgehend tabuisiert regelhaft auftritt. Die dem Neid zugrunde liegende psychische Energie ist eine Regulation sozialen Zusammenlebens und weniger ein „unanständiges“ Gefühl. Kierkegaard beschreibt als erster die Intersubjektivität des Neides, indem er neben dem Neidenden auch denjenigen, der neidisch macht, als Neider bezeichnet. In Massenpsychologie und Ich-Analyse (1972) beschreibt Freud die Angst des einsamen Kindes, die primär ist und sich durch die Verarbeitung der Angst und des Neides in ein Gemeinschaftsgefühl umwandeln kann: „Diese Gleichheitsforderung ist die Wurzel des sozialen Gewissens und des Pflichtgefühls.“ Freud führt also die Entstehungsgeschichte der sozialen Gerechtigkeit auf den Neid zurück. Neid ist damit ein Regulativ in Gemeinschaften, er ist der Antagonist zum Hervorstechen aus Gemeinschaften.

Der Soziologe Helmut Schoeck hat sich in den 60er Jahren mit dem Neid auseinandergesetzt. Der Neid hat weniger mit dem Wunsch der Aneignung zu tun. Auch wenn ich mir das Gut eines anderen, um das ich den anderen angeblich beneide, nicht aneignen will, bleibe ich neidisch. Der Neid ist eine komplexhafte Reaktion auf meine soziale Position. Neid unterscheidet sich damit von einem Aneignungsansinnen. „Das Beneiden ist eine so ausschließlich zwischenmenschlich orientierte Leidenschaft und eine so negative, dass keine Gruppe oder Gesellschaft funktionieren könnte, wenn es nicht gelungen ist, den Neid weitgehend zu ächten und – soweit er bleibt – auf Werte zu lenken, die für den Bestand der Gesellschaft nicht entscheidend sind“ ­(Schoeck 1966). Schoeck führt noch weiter aus, wie der Neid in Naturvölkern strukturiert ist: „Der Mensch wurde also als Neider, über die Neidfähigkeit zum eigentlichen Menschen.“  Dem Grundaxiom des Neides stehen andere Denkaxiome gegenüber, religiöse Vorstellungen, Ungleichheit der Schicksalsbestimmungen etc. Auch Verena Kast (1994) weist auf die Produktivität des Neidkomplexes hin. Der Neid ermöglicht auf subjektiver Ebene eine Auseinandersetzung mit meinen erwünschten Positionen im Leben. In therapeutischen Gruppen ist der Neidkomplex zwar anwesend, spielt aber eine eher verdeckte Rolle. Das Ansprechen des Neides ist mit großen Scham- und Demütigungsgefühlen verbunden. Die Offenbarung dieser Schwäche kommt einer Kapitulation vor dem Leben gleich und einem Versagensgefühl, das den progressiven Postulaten der gruppentherapeutischen Intention entgegensteht. Um so wichtiger ist die Bearbeitung und Wandlungsmöglichkeit dieser seelischen Position. 7.9  Fazit

Abschließend möchte ich feststellen, dass es meiner Ansicht nach in einer Gruppentherapie im Wesentlichen um die Veränderung seelischer Positionen geht. Eine

91 Analytische Gruppentherapie: Komplexbearbeitung in der Gruppe

archetypische Betrachtungsweise und damit der Umgang mit Komplexen ermöglicht es der Gruppe, Veränderungsprozesse im Denken anzustoßen und eine Arretierung im Unbewussten der Gruppenteilnehmer aufzuheben. Die Neurose, darauf wird Jung nicht müde hinzuweisen, ist immer auch eine  Anpassungsstörung. In der Neurose manifestiert sich, dass es dem Individuum nicht gelingt, auf eine äußere Situation adäquat zu reagieren. Der Mensch leidet darunter, dass er sich nicht verändern kann. Komplexbehandlung heißt, die inneren Kräfte zu mobilisieren, die ihm dies ermöglichen.

Literatur Bion, W. R. (1992). Cogitations. (Edited by F.Bion). London: Karnac Books. Chagall, M. (1917). „Bella mit weißem Kragen“ gemalt. 7 https://www.wikiart.org/en/marc-chagall/bellawith-white-collar- 1917. Dieckmann, H. (1991). Komplexe: Diagnostik und Therapie in der analytischen Psychologie. Berlin: Springer.

7

Foulkes, S. H. (1948). Introduction to group – Analytic psychotherapy: Studies in the social integration of individuals and groups. London: Heinemann. Freud, S. (1972). Massenpsychologie und Ich-Analyse In: GW (Bd. xiii). München: Lingam Press (Raubdruck). Jung, C. G. (1911). Ein kurzer Überblick über die Komplexlehre. In: Experimentelle Untersuchungen, Appendix, GW 2. Düsseldorf: Walter, 1995, S. 622–629. Jung C.G. (1934). Allgemeines zur Komplextheorie, Antrittsvorlesung ETH Zürich, GW 8. Düsseldorf: Walter, 1995, S. 109–123. Kast, V. (1994). Väter-Töchter, Mutter-Söhne, Wege zur eigenen Identität aus Vater- und Mutterkomplexen. Stuttgart: Kreuz. Kast, V. (1998). Neid und Eifersucht, Die Herausforderung durch unangenehme Gefühle. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Le Bon, G. (1895). Psychologie der Massen. Norderstedt: BoD-Books on Demand. Meier, I. (2017). Komplexe und Dissoziationen. Weiterentwicklung von Theorie und Praxis der Analytischen Psychologie. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Neri, C. (2004). Gruppenprozesse. Theorie und Praxis der psychoanalytischen Gruppentherapie. Gießen: Psychosozial. Neumann, E. (1955). Die große Mutter: Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltung des Unbewussten. Olten: Walter (Erstveröffentlichung 1987). Schoeck, H. (1966). Der Neid und die Gesellschaft. Freiburg: Herder.

93

Mentalisierungs­ basierte Psychotherapie in Gruppen (MBT-G) Inhaltsverzeichnis Kapitel 8 Mentalisierungsbasierte Psychotherapie in Gruppen (MBT-G) – 95 Ulrich Schultz-Venrath

III

95

Mentalisierungsbasierte Psychotherapie in Gruppen (MBT-G) Ulrich Schultz-Venrath

8.1 Psychoedukative Einführung in MBT-G – 98 8.2 Prinzipien mentalisierungs­basierter Gruppenpsychotherapie (MBT-G) – 99 Literatur – 104

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_8

8

96

8

U. Schultz-Venrath

Mentalisierungsbasierte Psychotherapie (MBT) wurde von der Arbeitsgruppe um Anthony Bateman, Peter Fonagy, Patrick Luyten und anderen in den 90er Jahren als Konzept zum Verständnis und für die Behandlung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstö­ rungen (BPS) entwickelt (Peter Fonagy et al. 2004). Dabei zeigte sich in den letzten Jahren mehr und mehr, dass es für Psychotherapeuten sehr vorteilhaft sein kann, auch bei anderen psychischen und psychosomatischen Störungen auf Mentalisierungsdefizite zu achten. Weniger bekannt ist, dass die hohen Effektstärken der randomisiert-kontrollierten MBT-Studien in erster Linie durch Gruppentherapien erreicht wurden; sie wiesen in allen drei Publikationen den größten Dosis-Anteil an den in den Tageskliniken angebotenen Psychotherapien auf (Bales et al. 2015; Bateman und Fonagy 2008). So verwundert nicht, dass sich mentalisierungsbasierte Gruppentherapie (MBT-G) auch im ambulanten Setting einem Standardverfahren mit gleich dosierten Anteilen von Einzel- und Gruppenpsychotherapie pro Woche als überlegen erwies (Bateman und Fonagy 2009). Der spezifische Fokus auf Mentalisie­ ren scheint in den verschiedensten Psycho­ therapien, insbesondere in Gruppentherapien für Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, speziell mit schwereren Borderline-Pathol­ ogien (Kvarstein et al. 2018), mit affekti­ ven Störungen oder mit Angststörungen und Somatisierungsstörungen nützlich zu sein (Brand et al. 2016; Hecke et al. 2016). Für diese Annahme spricht, dass Gruppentherapien im Vergleich zu anderen Psychotherapien eine mindestens gleichwertige, in der Regel aber sogar deutlich höhere Wirksamkeit erzielen (Schultz-Venrath und Felsberger 2016, S. 120). Dies lässt sich am ehesten damit erklären, dass Gruppenpsychotherapien durch Resonanz- und Spiegelungsphänomene sowie durch die Möglichkeit des multiplen „Reflectings“ sich selbst und ande­ ren gegenüber offensichtlich besonders geeignet sind, Mentalisieren zu fördern.

Mentalisieren scheint darüber hinaus das berühmte „missing link“ zu sein, das zwischen Individuum, Dyade und Gruppe Intersubjektivität überhaupt erst prozesshaft herstellen kann. Dies ist allerdings davon abhängig, ob nichtmentalisierende oder prä­ mentalistische Phasen (s. u.) vom Gruppenleiter erkannt und durch entsprechende Interventionen überwunden werden können. Insofern kommt dem Mentalisieren als „meist vorbewusste imaginative Fähigkeit, ‚terms of mental states‘ (Gedanken, Gefühle, Überzeugungen und Wünsche) intentional (also mit einer Absicht) auszutauschen, wodurch ein Individuum implizit und explizit die Handlungen von sich selbst und anderen als sinnhaft versteht“, eine zentrale Rolle zu, frühe Bindungsstörungen zu korrigieren (Schultz-Venrath 2018). Mit der Definition von „Mentalisieren“ als intrapsychischem und gleichzeitig interpersonellem (sozialen) Prozess (!) wurde ein neues Paradigma für Psychotherapien entwickelt, das besonders für das Verständnis von Gruppenprozessen und Gruppenpsychotherapien aller Art geeignet ist (Schultz-Venrath und Felsberger 2016, S. 12). Diese Definition beruht unter anderem darauf, dass alle psychischen Phänomene des menschlichen Denkens und Handelns ausschließlich in Begriffen von „intentionalen“ Zuständen gedeutet und verstanden werden. (Physikalische Phänomene besitzen keine Intentionalität.) Dies betrifft die Intentionalität von Affekten und Emotionen, von Wahrnehmungsakten (Sehen von etwas), von Denkakten (Denken an etwas) und von sprachlichen Äußerungen (Sprechen über etwas). Insofern bedeutet Mentalisieren auch, dass wir mit unseren eigenen Gedanken, Gefühlen und Motiven in Kontakt sind, diese relativieren und mit Abstand betrachten können, dass aber auch bei anderen Gedanken, Gefühle und Motive bestehen, die deren Verhalten zugrunde liegen, und dass wir diese Gedanken, Gefühle und Motive erahnen, erschließen, aber nie wirklich „wissen“ können. Da im Mentalisierungsmodell

97 Mentalisierungsbasierte Psychotherapie in Gruppen (MBT-G)

davon ausgegangen wird, dass das Selbst sich nicht ausschließlich in der Dyade, sondern eher im Kontext mit anderen entwickelt, wird dem Sammeln von Erfahrungen des Selbst in Beziehungen eine besondere Bedeutung eingeräumt. Darüber hinaus ist die Entwicklung des Selbst an eine gelingende Affektregulation in frühen Beziehungen gebunden. Die Integration zugleich selbstreflexiver als auch interpersoneller Komponenten eignet sich besonders gut als Konstrukt in Gruppenkontexten, fördert epistemisches Vertrauen zwischen Gruppenpatient(en) und Therapeut und unterstützt dadurch Patienten mit anhaltender Persönlichkeitsstörung, mit der Zeit (!) ihre Rigidität aufzugeben – ein spezifisches Merkmal ihrer Störung. Klinisch äußert sich eine solche Rigidität zum Beispiel bei Patienten mit paranoiden Persönlichkeitsstörungen, die grundsätzlich dem anderen, nur nicht sich selbst, jede Art von Versagen zuschreiben. Mentalisieren fördert über das Phänomen, sich in seiner Subjektivität verstanden zu fühlen, die Möglichkeit, die Wahrnehmung bezüglich unseres Selbst als auch der sozialen Welt zu ändern. Unter epistemischem Vertrauen (=  „epistemic trust“) wird Vertrauen in die Authentizität und persönliche Relevanz von interpersonell vermittelter Information verstanden, was sich bei frühen Bindungsstörungen nicht entwickeln kann (Fonagy und Allison 2014). Missbrauch oder Deprivation führen zur Erschütterung epistemischen Vertrauens in Form „epistemischer Hypervigilanz“ oder epistemischen Misstrauens. Verletzungen von Bindungsbeziehungen führen zu Schwierigkeiten des Mentalisierens, welche sich wiederum negativ auf Bindungsbeziehungen auswirken. Insofern verbleiben solche Patienten bis ins Erwachsenenalter in der Regel in einem hypervigilanten, nichtepistemischen „Vertrauens"-Modus, der die Aufnahme neuer Informationen erschwert oder gar verunmöglicht, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht hinreichend vertrauen können.

8

Dadurch weisen Menschen in diesem Modus deutliche Einschränkungen in ihrer psychosozialen Leistungsfähigkeit auf. Patienten mit schwereren psychischen und psychosomatischen Störungen, die häufig auf frühen Traumatisierungen und unsicheren Bindungsrepräsentanzen beruhen, äußern ihr epistemisches Misstrauen bezüglich des Vorschlags einer Gruppentherapie kurz nach einem Erstgespräch nicht selten mit den Worten: „Gruppe, nein danke!“ Dieses Misstrauen mischt sich nicht selten mit einer (meist unbewussten) malignen S­cham-Problematik, deren Ursache darin liegt, dass sich ein solches Individuum grundsätzlich als nicht erwünscht und/oder von Geburt an zurückgewiesen gefühlt hat. So verwundert nicht, dass die Angst vor Zurückweisung und vor sozialem Ausschluss den Beginn einer Gruppentherapie bei solchen Patienten dominieren kann. Dieser Umstand erfordert bereits im Vorgespräch und in den ersten Sitzungen vom Therapeuten eine sehr aktive Haltung, wenn ein Abbruch vermieden und der Patient für die Gruppentherapie gewonnen werden soll. Ein MBT-G-Therapeut ist kein Experte darin, dem Patienten zu sagen, was mit ihm los ist, sondern eher ein Experte im Stellen von (durchaus unkonventionellen) Fragen an die Gruppe, die dem einzelnen Patienten helfen, sich selbst besser zu verstehen. Dabei ist eine neugierige und wissbegierige Haltung einzunehmen, die sich auch in der Körperhaltung ausdrückt. Die primäre Aufgabe eines MBT-G-Therapeuten besteht darin, einen „Trainingsplatz für Mentalisieren“ bereitzustellen (Karterud 2015). Insofern integriert MBT-G psychodynamische und verhaltenstherapeutische Gruppenpsychotherapie-Aspekte. Der MBT­ G-Therapeut interveniert aktiv durch affektfokussiertes Fragen (Wie fühlt sich das für die Gruppe an?) und eine Haltung des NichtWissens im Sinne der Kriminalfigur Columbo (Ich habe das gerade nicht verstanden, ich hätte da noch eine Frage). Er unterstützt mit neugierigen Fragen die Gruppe und nicht denjenigen, der gerade gesprochen hat, ohne

98

8

U. Schultz-Venrath

darauf zu warten, wie die Gruppe ein Problem löst (Was denken die anderen darüber?). Seine Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, implizite (unbewusste) Dimensionen des Mentalisierens in explizite Narrative zu verwandeln (Welche Gefühle nehmen Sie in sich wahr, wenn Sie diese Geschichte hören?). Da MBT-G primär für Patienten mit Persönlichkeitsstörungen entwickelt wurde, sollte der Gruppentherapeut sich in der Lage fühlen, die Existenz von Antigruppen-Phänomenen zu akzeptieren (Kann es sein, dass Sie sich gerade so verhalten, weil Sie sich von der Gruppe nicht verstanden fühlen?). Unter A ­ntigruppen-Phänomenen wird verstanden, dass es bei diesen Gruppen immer wieder den einen oder anderen Patienten gibt, der mit allen Mitteln die Gruppe in ihrer Existenz stören oder zerstören will, wie es Nitsun (2006) präzise beschrieben hat. Deshalb sollte sich ein ­MBT-G-Therapeut auf negative therapeutische Prozesse positiv einstellen können, um solche Antigruppen-Phänomene als natürlichen Teil eines Gruppenprozesses anzusehen. Eine Toleranz bezüglich Aggression ist in dieser Hinsicht sehr von Vorteil, da der Ausdruck von Feindseligkeit als ein wichtiges therapeutisches Vehikel und als Ausdruck von Hoffnung anzusehen ist. Ängstlichkeit des Gruppentherapeuten hemmt dagegen aggressive und destruktive Impulse ebenso wie Mentalisieren. Zu guter Letzt sollte ein MBT-G-Therapeut fähig sein, Verbindungen zwischen den Gruppenteilnehmern herzustellen („connecting“, „linking“). 8.1  Psychoedukative Einführung

in MBT-G

Für psychisch und psychosomatisch schwerer erkrankte Patienten hat sich deshalb eine ambulante Gruppen-Psychoedukation mit maximal zehn Patienten bewährt, die über den Zeitraum von zehn bis zwölf Wochen 1-mal pro Woche für 90 min zum Thema Mentalisieren und den zugrunde liegenden Störungen vor der eigentlichen MBT-G nach

einem Manual durchgeführt werden (Bateman und Fonagy 2016, S. 287 f.). Weitere Themen betreffen die Vorbereitung auf eine Langzeitbehandlung, die Förderung der Motivation für eine solche, ein Erklären, was unter Mentalisieren bzw. Nicht-Mentalisieren, unter Emotionen, Bindung, interpersonellen Interaktionen und psychischer Gesundheit zu verstehen ist. Sinnvoll ist eine gemeinsame Verständigung über die Diagnose(n) und die Therapieziele, wobei deutlich gemacht werden sollte, dass psychische Veränderungen auf besseres Verstehen zurückzuführen sind. Die Übungen werden an Flipcharts und eventuell mit Unterstützung von Filmausschnitten so aufgebaut, dass von emotional eher entfernten zu schließlich persönlicheren Szenarien vorangeschritten wird. Dabei werden die Erfahrungen der Gruppenteilnehmer erst einbezogen, wenn sich eine gewisse kohäsive Atmosphäre und ein Vertrauen unter den Teilnehmern entwickelt hat. Immer wieder wird dabei auf Phänomene oder Indikatoren von NichtMentalisieren hingewiesen. Die psychoedukativen Module bestehen aus zwölf Elementen, die nacheinander bearbeitet werden sollten: 1. Was ist Mentalisieren und was eine mentalisierende Haltung? 2. Was bedeutet es, Probleme mit Mentalisieren zu haben? 3. Warum haben wir Emotionen und was sind die basalen Typen? 4. Emotionen mentalisieren 5. Bedeutung von Bindungsbeziehungen 6. Bindung und Mentalisieren 7. Was ist eine Persönlichkeitsstörung? Was ist eine Borderline-Persönlich­ keitsstörung? Was ist eine antisoziale Persönlichkeitsstörung? 8. Mentalisierungsbasierte Therapie – Teil 1 9. Mentalisierungsbasierte Therapie – Teil 2 10. Angst, Bindung und Mentalisieren 11. Depression, Bindung und Mentalisieren 12. Rekapitulation und Zusammenfassung

99 Mentalisierungsbasierte Psychotherapie in Gruppen (MBT-G)

8.2  Prinzipien mentalisierungs­

basierter Gruppenpsychotherapie (MBT-G)

Mentalisieren bedeutet, dass wir mit unseren eigenen Gedanken, Gefühlen und Motiven in Kontakt sind, dass wir diese auch relativieren und mit Abstand betrachten können, und dass wir uns darüber bewusst sind, dass auch bei anderen Gedanken, Gefühle und Motive bestehen, die deren Verhalten zugrunde liegen, und dass wir diese Gedanken, Gefühle und Motive erahnen oder erschließen, aber nie wirklich „wissen“ können. Dies ist allerdings überhaupt nur möglich, wenn aufgrund sicherer Bindungen zu unseren primären Beziehungspersonen in der frühen Entwicklung Repräsentanzen für die verschiedenen Affekte und Emotionen gebildet wurden, die schließlich eine stabile Selbstund/oder Objekt-Repräsentanz ermöglichen. Das Gemeinsame fast aller Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung ist eine Form affektiver Dysregulation, die sowohl die Bewusstheit und Wahrnehmung als auch die Toleranz gegenüber Emotionen betrifft, aber auch das Verstehen von Emotionen und die Fähigkeit, angepasst Emotionen auszudrücken (Karterud 2015). Insofern ist ein genaues Verständnis der emotionalen Probleme der Patienten in der Gruppe wichtig. Für die einen ist es der gestörte Zugang zu den eigenen Emotionen, für die anderen ist es die Intensi-

8

tät, das Überschwemmt-Sein von Emotionen, möglicherweise kombiniert mit einer niedrigen Toleranzschwelle, was eine aktive Leiterrolle erfordert. Die emotionale Dysregulation ist sowohl auf eine zu wenig gehemmte Amygdala als auch auf das Fehlen oder zu wenig differenzierter Repräsentanzen zurückzuführen. Dies kann sich bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen in einem ebenso unerträglichen wie unbeschreiblichen Leere-Gefühl, aber nicht selten auch darin äußern, dass die Affekte/ Gefühle im Gesicht eines anderen fehlgedeutet werden (Arcaro et al. 2017; Fertuck et al. 2013). Insofern ist für Gruppentherapeuten bedeutsam, auf vier empirisch gut belegte prä­ mentalistische Modi zu achten (vgl. . Tab. 8.1), auf die unter Belastung fast alle Menschen, auch Therapeutinnen, rekurrieren können. Je nach prämentalistischem Modus sind jeweils unter­ schiedliche Interventionen des Gruppenleiters erforderlich, um Mentalisieren zu fördern. Der Körper-Modus („body mode“) ist der früheste Modus in der menschlichen Entwicklung: Der Säugling ist in den ers­ ten neun Monaten ausschließlich mit seinen Körperempfindungen beschäftigt. Erst durch affektmarkierte Spiegelung bedeutsamer Bindungspersonen, aber auch durch Syn­ chronie, Rhythmus und Prosodie der Stimme wird der Prozess einer Strukturbildung durch sich entwickelnde Repräsentanzen für ein auftauchendes Selbst beziehungsweise Kern-­ Selbst angestoßen (Stern 1985). Vokale,

. Tab. 8.1  Prämentalistische Modi Modus

Beschreibung

Körper

Prä- und postnatal kann der Säugling etwa bis zum neunten Monat Körper und Psyche nicht getrennt erleben. Er ist primär mit seinen Körper- und Hautempfindungen beschäftigt.

Teleologisch

Mentale Zustände wie Bedürfnisse und Emotionen werden handelnd zum Ausdruck gebracht. Es zählen lediglich Aktionen und ihre greifbaren Folgen – nicht Worte.

Äquivalenz

Äußere Welt = innere Welt. Mentale Zustände werden als real erlebt, wie es in Träumen, bei Flashbacks und paranoiden Wahnvorstellungen geschieht.

Als-Ob

Mentale Zustände sind von der Realität abgekoppelt, behalten ein Gefühl der Unwirklichkeit, weil nicht mit der Realität verbunden und verankert.

100

8

U. Schultz-Venrath

visuelle, olfaktorische, sensorische sowie affektive Rückkoppelungsprozesse verschiedenster Art ermöglichen mit der Zeit prozessual eine Differenzierung zwischen dem Selbst und dem anderen. Affekte und Spiegelungsprozesse, die körperlich („embodied“) sind, moderieren die Entwicklung, wenn sie als Repräsentanzen zur Verfügung stehen. Im pathologischen Sinne äußert sich der Körper-Modus als unbewusste, meist regressive Selbstvergewisserungsstrategie bei instabilen oder nicht vorhandenen Selbstund O ­ bjekt-Repräsentanzen zum Beispiel in Form von Skin-Picking, Haare-Raufen oder gar -Ausreißen, Daumenlutschen, Nägelkauen (Onychophagie, bzw. Perionychophagie), Fuß-/Bein- oder Hand-Wippen bis hin zu den verschiedensten Arten von Selbstverletzung, wie sie zum Beispiel bei Anorexia oder Bulimia nervosa zu beobachten sind. Auch das Trinken aus einer Flasche oder einem Becher während einer Gruppensitzung kann auf diesen Modus als orale Bedürftigkeit hinweisen. Da in solchen Gruppensituationen das Präverbale dominiert, sind Patienten in diesem Modus entweder nur mit „berührenden“ Worten oder aber darüber zu erreichen, dass der Gruppenleiter in die Gruppe fragt, welche Fantasien oder Gedanken haben denn die anderen Teilnehmer während der Beobachtung dieser Körper-Handlungen. Ziel der Interventionen ist ein empathisches Validieren der Körperwahrnehmungen, ein Eruieren der dahinterstehenden Gefühle und das Benennen eigener Gefühle durch den MBT-G-Therapeuten, um Patienten auf der Resonanz-Ebene ein affektives Andocken zu ermöglichen. Als ungünstig hat sich ergeben, wenn der M ­BT-G-Therapeut körperliche Beschwerden/Phänomene übergeht, diese dem Betreffenden auszureden versucht oder ausschließlich im medizinischen Modell spricht oder handelt. Unter dem teleologischen Modus wird ein meist zielgerichteter Handlungsimpuls verstanden, unter dem das Kind oder der Patient davon ausnahmslos überzeugt ist, dass die Umwelt „funktionieren“ muss, um eigene innere Spannungszustände

zu mindern (beispielhafte Äußerung eines Patienten: „Wenn Sie mir nicht Ihre HandyNummer geben, bring ich mich um!“). In Gruppen setzen Patienten plötzlich eine Rauchpause durch oder möchten/müssen den Gruppenraum abrupt verlassen, wodurch die Kohärenz der Gruppe bedroht wird. Deshalb geht der teleologische Modus häufig auch mit ­ Antigruppen-Phänomenen einher (Nitsun 2006). Handlungen werden meist ohne inneren Denkprozess eingesetzt, um den Rahmen zu verändern oder andere zu etwas zu bewegen. Dabei ist nur real Beobachtbares von Bedeutung – Denken, Fühlen, Mentalisieren treten in den Hintergrund, ebenso sind nur real befriedigende Handlungen oder körperliche Eingriffe in der Lage, innere Zustände zu beeinflussen. Wegen des Drucks, der durch den teleologischen Modus sowohl beim Therapeuten als auch bei den Teilnehmern entsteht, kann davon ausgegangen werden, dass auf diesem prämentalistischen Niveau nur ein beschränktes Selbstverständnis von Urheberschaft existiert. Empathisches Validieren des teleologischen Modus sowie ein Eruieren des dahinterstehenden Bedürfnisses ist absolut notwendig, um einen Zwischenraum des Fühlens und Denkens zu ermöglichen. Dabei kann es notwendig sein, als MBT-G-Therapeut auf das Dilemma zu fokussieren, jetzt so unter Handlungsdruck gesetzt zu werden, dass ein wirkliches Nachdenken nicht mehr möglich ist. Agieren im therapeutischen Rahmen kann fast immer im Sinne des teleologischen Modus verstanden werden und erfordert einen besonders achtsamen Umgang mit der administrativen Leiterfunktion (Schultz-Venrath und Felsberger 2016). Als ungünstig hat sich herausgestellt, wenn der MBT-G-Therapeut in Aktivismus verfällt, schnell nachgibt und Beweise oder rationale Argumente anführt. Im Äquivalenzmodus findet sich so gut wie keine Differenz zwischen Fantasie und Realität. Das Denken über sich selbst und andere ist in diesem Zustand von ungerechtfertigten Verallgemeinerungen und einseitigen Zuschreibungen gekennzeichnet, wie z. B. „Ich weiß, wie es ist; keiner kann mir

101 Mentalisierungsbasierte Psychotherapie in Gruppen (MBT-G)

etwas erzählen!“, „Die ganze Welt ist schrecklich“, „Er ist immer böse!“ oder „Sie ist immer gut!“ Andererseits findet sich eine spezifische Konkretheit von Gedanken: Was gedacht wird, wird als wirklich, zuweilen als zu wirklich, angesehen. Dadurch findet sich nicht selten eine Sturheit oder Intoleranz gegenüber alternativen Perspektiven. Der zu beobachtende Konkretismus im Äquivalenzmodus erklärt andererseits die Wirkung von Witzen, die mit dem Äquivalenz-Modus spielen. Der MBT-G-Therapeut versucht empathisch Behauptungen im Äquivalenzmodus mithilfe der Mitpatienten zu validieren oder eigene Erfahrungen einzubringen. Neugierig fragt er: „Was denken die anderen, wie Herr X. zu dieser Sicht gekommen ist?“, und benennt seine eigene Irritation: „Ich bin jetzt ganz verwirrt oder überrascht, kann mir jemand helfen?“ Wenn dies alles nichts nützt, versucht er ein anderes Thema zu wählen, um später wieder darauf zurückzukommen. Beim Als-ob-Modus findet sich eine Trennung zwischen psychischer und physischer Realität (Bateman und Fonagy 2006, S. 22). Dieses Als-ob-Funktionieren wird, wenn es mit Psychopathologie einher geht, auch als Pseudomentalisieren bezeichnet – ein Begriff, dem durch das Wörtchen „pseudo“ eher etwas Negatives oder Dysfunktionales anhaftet. Karterud (2015, S.  39) vermutete, dass Pseudomentalisieren wahrscheinlich „der häufigste Typ kollektiver Verleugnung“ ist und führte dies auf den Einfluss der Medien zurück, die sich in einer Art Bombardement der Öffentlichkeit nicht zu schade seien, Medium für intimste Bekenntnisse und Tabus meist prominenter „Experten“ zu sein. Nicht selten nehmen Individuen, welche die innere Bedeutungslosigkeit und Leere ihrer psychischen Zustände spüren, Zuflucht zu Mystik, Gesundbeten, Spiritualismus, Okkultismus und anderen paranormalen Phänomenen. Auch eine Identifikation mit dem Opferstatus („Ich habe ein Trauma“) ist häufig mit dem AlsOb-Modus verbunden. Pseudomentalisieren liegt beispielsweise aber auch vor, wenn ein Psychotherapeut allzu oft im psycho-

8

logischen oder psychoanalytischen Jargon (z. B. mit „Hm“) interveniert. A ­ ls-ob-Modus, Pseudomentalisieren oder Hypermentalisieren werden oft im gleichen Atemzug genannt, als ob sie austauschbar wären. Pseudomentalisieren kann jedoch dann angenommen werden, wenn Patienten in oberflächlicher, emotional flacher, aber oft detaillierter Weise über ein Thema sprechen, sodass der Eindruck eines monologischen Gesprächs entsteht. Der MBTG-Therapeut verspürt in der Regel dann ein Gefühl der Langeweile und Unverbundenheit. Stimmt der Patient andererseits den Vorschlägen der Gruppe allzu schnell zu, entsteht fälschlicherweise ein Gefühl von Fortschritt. Interventionen sollten sich daran orientieren, die von den Patienten meist im P ­ sycho-Jargon verwendeten Begriffe zu hinterfragen, was bis zu der verblüffenden Aussage des Gruppenleiters führen kann: „Ich weiß nicht, was ein Trauma ist, aber vielleicht weiß es die Gruppe?“ Sollte der Als-Ob-Redefluss ungebremst sein, kann der Gruppenleiter diesen auch stoppen und zum Beispiel einfach frech fragen, ob jeder auch mitgekommen ist oder wer das jetzt gerade verstanden habe. Als ungünstig hat sich erwiesen, wenn der Gruppenleiter dem Patienten fälschlich zustimmt und einsichtsoder skillsorientiert weiterarbeitet. Da Mentalisieren ein multidimensionales Konstrukt ist, sollte ein MBT-G-Therapeut auf die vier Dimensionen des Mentalisierens achten (vgl. Übersicht)  die mit der Technik des „contrary move“, also Gegenbewegungsfragen, am erfolgreichsten mentalisierungsfördernd bearbeitet werden. Das bedeutet, wenn der Fokus eines Patienten zu kognitiv ist, dass der MBT-G-Therapeut auf die Emotion rekurriert und umgekehrt. Dimensionen des Mentalisierens 5 Automatisch-implizit versus explizitkontrolliert 5 Affektiv versus kognitiv 5 Innen versus außen 5 Selbst versus anderer

102

8

U. Schultz-Venrath

Mentalisierungsbasierte Therapie in der Gruppe findet dann statt, wenn an den Grenzen der Gruppe gearbeitet wird, wenn Gruppenphasen reguliert, Sprecherwechsel initiiert und durchgesetzt werden, wenn Gruppenmitglieder beim Mentalisieren interpersoneller Ereignisse unterstützt werden, wenn Ereignisse in der Gruppe identifiziert und mentalisiert werden, wenn der Leiter seine Sorge um die Gruppe und jeden Gruppenteilnehmer zum Ausdruck bringen kann, wenn eine Diskussion über Gruppennormen stimuliert wird und die Kooperation mit dem Ko-Therapeuten (falls vorhanden) gelingt, wenn eine neugierige Haltung des Nicht-Wissens eingenommen und Mentalisieren positiv anerkannt wird, wenn auf die Affekte fokussiert wird und „Stop and Rewind“ bei Ereignissen eingesetzt wird, um ein tieferes Verständnis zu erzielen und schließlich die Beziehung der Gruppenteilnehmern zum Gruppentherapeuten i.S. der Übertragung mentalisiert wird (vgl. . Abb. 8.1).

In zahlreichen Workshops hat sich herausgestellt, dass Interventionen bezüglich der verschiedenen prämentalistischen Modi und der Dimensionen des Mentalisierens am besten im Rollenspiel geübt und in Intervisionsgruppen anschließend vertieft werden sollten. Dabei hat sich ein Vergleich mit Interventionsarten in psychodynamischen Gruppentherapien als sinnvoll herausgestellt (Pries et al. 2019). Unterschiede der Interventionen zwischen psychodynamischen und mentalisierungsbasierten Gruppentherapien und die Art und Weise, wie häufig welche Patienten sich in beiden Verfahren äußern, hat die gleiche Forschungsgruppe in einer musikalischen Grafik dargestellt (vgl. . Tab. 8.2). Der Gruppenleiter ist in grün und die Patienten in unterschiedlichen Rottönung wiedergegeben. MBT-G zeichnet sich durch häufigere, aber kurze Leiterinterventionen aus, die mit einer größeren Beteiligung aller Gruppenmitglieder einhergehen, während PDGT lange Interventionen der Gruppenleiter widerspiegeln, auf die längere Beiträge einzelner, aber deutlich weniger Gruppenmitglieder folgen.

. Abb. 8.1  Unterschiede zwischen MBT-G und PDGT (Hören) (die farbige Ausführung dieser Abbildung findet sich in der elektronischen Version des Kapitels) (für die Überlassung dieser Audiodatei danke ich Johannes Pries)

8

103 Mentalisierungsbasierte Psychotherapie in Gruppen (MBT-G)

. Tab. 8.2  MBT-G-Interventionsliste (Karterud 2015; Schultz-Venrath und Felsberger 2016) Merkmal

Beschreibung

1. Umgang mit Gruppengrenzen

Die Therapeuten erkennen Ereignisse, die den Rahmen betreffen und kommentieren diese auf eine Art, die angemessen und klärend für die ganze Gruppe ist.

2. Gruppenphasen regulieren

Mindestens zwei Phasen werden so gestaltet, dass die Teilnehmer eingebunden werden, um über ihre Möglichkeiten und Optionen zu reflektieren.

3. Anregen von Sprecherwechseln

Die Therapeuten ergreifen die Initiative zum Sprecherwechsel und folgen auch dieser Initiative seitens der Patienten. Sie tragen dazu bei, einzelne Themensequenzen abzuschließen und den Übergang zur nächsten Themensequenz zu gestalten. Sie intervenieren so, dass ein umfassendes Narrativ entsteht und fokussieren auf Emotionen, auf mentale Zustände und zwischenmenschliche Interaktionen.

4. Teilnehmer in das Mentalisieren externer Ereignisse einbinden

Die Therapeuten laden die Teilnehmer der Gruppe – implizit oder explizit – ein, relevante Ereignisse zu klären, und binden diese in eine gemeinsame Exploration der mentalen Zustände ein.

5. Ereignisse innerhalb der Gruppe identifizieren und mentalisieren

Die Therapeuten identifizieren relevante Ereignisse in der Gruppe und binden die Teilnehmer in eine gemeinsame, bedeutsame und klärende Exploration ein.

6. Fürsorge für die Gruppe und jeden einzelnen Teilnehmer

Hinsichtlich der Fürsorge wird der Gruppenprozess im Gleichgewicht gehalten. Die Therapeuten achten auf destruktive Kommentare unter Gruppenteilnehmern und intervenieren in solchen Situationen schnell.

7. Anregen von Diskussionen über Gruppen-Normen

Die Therapeuten initiieren Diskussionen über Normen, bringen sich interessiert in spontane Diskussionen ein und modifizieren restriktive Lösungsversuche der Gruppe, wenn dies nicht durch andere Gruppenteilnehmer geschieht.

8. Kooperation zwischen KoTherapeuten

Die Beziehung zwischen den Therapeuten wirkt vertrauensvoll, sie unterstützen sich gegenseitig und kooperieren.

9. Exploration, Neugier und nicht wissende Haltung

Die Therapeuten stellen angemessene Fragen, um die Exploration mentaler Zustände, Motive und Emotionen von Patienten und anderen zu fördern und vermitteln ein aufrichtiges Interesse, mehr darüber herauszufinden

10. In Frage stellen von unberechtigten Überzeugungen

Die Therapeuten hinterfragen ungerechtfertigte Überzeugungen von Patienten über sich selbst oder andere in adäquater Weise.

11. Anerkennen von gutem Mentalisieren

Die Therapeuten identifizieren und explorieren gutes Mentalisieren und zeigen auf angemessene Weise Anerkennung.

12. Umgang mit den prämentalistischen Modi

Die Therapeuten erkennen die prämentalistischen Modi und intervenieren, um die Mentalisierungsfähigkeit zu verbessern.

13.Emotionen fokussieren

Die Interventionen beziehen sich vornehmlich auf Emotionen, weniger auf Verhalten. Die Aufmerksamkeit ist insbesondere auf Emotionen gerichtet und darauf, wie sich diese im Hier und Jetzt der Gruppe ausdrücken, beim einzelnen Patienten, zwischen den Patienten, gegenüber den Therapeuten und der Gruppe als Ganzes. (Fortsetzung)

104

U. Schultz-Venrath

. Tab. 8.2  (Fortsetzung)

8

Merkmal

Beschreibung

14.„Stop and rewind“

Die Therapeuten identifizieren, wenn Patienten ein zwischenmenschliches Ereignis inkohärent und affektgeladen beschreiben. Sie versuchen die Geschwindigkeit zu drosseln und Schritt für Schritt gemeinsam etwas über das Ereignis herauszufinden. Entsprechend stoppen die Therapeuten destruktive Vorgänge in der Gruppe und initiieren eine gemeinsame Exploration der jeweiligen Sequenz.

15. Auf die Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten fokussieren

Die Therapeuten kommentieren, wie die Patienten sich während der Sitzung zu den Therapeuten verhalten und versuchen, dies gemeinsam mit den Patienten zu explorieren. Sie regen Reflektionen zu alternativen Perspektiven an, wann immer es angemessen erscheint. Die Therapeuten setzen ihre eigenen Gefühle und Gedanken bezüglich der Beziehung zu den Patienten aktiv ein und versuchen dadurch, einen gemeinsamen Explorationsprozess dieser Beziehung anzuregen.

Solange eine Gruppe nicht mentalisiert, sollte ein MBT-G-Therapeut vorsichtig gegenüber jeder Art von Deutung sein, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet, Übertragungsdeutungen verschieben und eher bei den bewussten als den unbewussten Inhalten bleiben. Er sollte den Prozess gegenüber dem gesprochenen Inhalt für wichtiger halten. Darüber hinaus sollten sämtliche Interventionen kurz sein.

Literatur Arcaro, M. J., Schade, P. F., Vincent, J. L., Ponce, C. R., & Livingstone, M. S. (2017). Seeing faces is necessary for face-domain formation. Nature Neuroscience, 20(10), 1404–1412. 7 https://doi.org/10.1038/ nn.4635. Bales, D. L., Timman, R., Andrea, H., Busschbach, J. J., Verheul, R., & Kamphuis, J. H. (2015). Effectiveness of day hospital mentalization-based treatment for patients with severe borderline personality disorder: A matched control study. Clinical Psychology and Psychotherapy, 22(5), 409–417. 7 https://doi.org/10.1002/cpp.1914. Bateman, A. W., & Fonagy, P. (2006). Mentalizationbased treatment for borderline personality disorder. A practical guide. Oxford: Oxford University Press. Bateman, A. W., & Fonagy, P. (2008). 8-year followup of patients treated for borderline personality disorder: Mentalization-based treatment versus

treatment as usual. American Journal of Psychiatry, 165(5), 631–638. Bateman, A. W., & Fonagy, P. (2009). Randomized controlled trial of outpatient mentalization-based treatment versus structured clinical management for borderline personality disorder. American Journal of Psychiatry, 166(12), 1355–1364. doi:10.1176/appi.ajp.2009.09040539 (doi), appi. ajp.2009.09040539 (pii). Bateman, A., & Fonagy, P. (2016). Mentalization-based treatment for personality disorders – A practical guide. Oxford: Oxford University Press. Brand, T., Hecke, D., Rietz, C., & Schultz-Venrath, U. (2016). Therapieeffekte mentalisierungsbasierter und psychodynamischer Gruppenpsychotherapie in einer randomisierten Tagesklinik-Studie. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 52(2), 156–175. Fertuck, E. A., Grinband, J., & Stanley, B. (2013). Facial trust appraisal negatively biased in borderline perso­ nality disorder. Psychiatry Research, 207(3), 195–202. 7 https://doi.org/10.1016/j.psychres.2013.01.004. Fonagy, P., & Allison, E. (2014). The role of mentalizing and epistemic trust in the therapeutic relationship. Psychotherapy, 51(3), 372–380. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., & Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Hecke, D., Brand, T., Rietz, C., & Schultz-Venrath, U. (2016). Prozess-Outcome-Studie zum Gruppenklima in psychodynamischer (PDGT) und mentalisierungsbasierter Gruppenpsychotherapie (MBT-G) in einem tagesklinischen Setting – Was verändert wen? Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 52(2), 175–193.

105 Mentalisierungsbasierte Psychotherapie in Gruppen (MBT-G)

Karterud, S. (2015). Mentalization-based group therapy (MBT-G). Oxford: Oxford University Press. Kvarstein, E. H., Pedersen, G., Folmo, E., Urnes, O., Johan­ sen, M. S., Hummelen, B., & Karterud, S. (2018). Mentalization-based treatment or psychodynamic treatment programmes for patients with borderline personality disorder – The impact of clinical severity. Psychology and Psychotherapy. 7 https:// doi.org/10.1111/papt.12179. Nitsun, M. (2006) The anti-group – Destructive forces in the group and their creative potential. London: Routledge (Erstveröffentlichung 1996).

8

Pries, J., Vetter, A., Petrowski, K., & Schultz-Venrath, U. (2019). Expertenumfrage zu Interventionsarten in psychodynamischen Gruppenpsychotherapien – Eine Pilotstudie. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 55, 28–50. Schultz-Venrath, U. (2018). Ressourcen oder Katastro­ phen in Gruppen – Was fördert oder hemmt Mentalisieren? In K. H. Brisch (Hrsg.), Die Macht von Gruppenbindungen – Ressourcen und Sicherheit, Gefahren und Fanatismus. Möglichkeiten der Therapie und Prävention (S. 91–107). Stuttgart: Klett-Cotta. Schultz-Venrath, U., & Felsberger, H. (2016). Mentalisieren in Gruppen. Stuttgart: Klett-Cotta.

107

Verhaltenstherapie in Gruppen Inhaltsverzeichnis Kapitel 9 Die heilende Wirkung von Beziehung in Gruppen – 109 Christiane Pennecke Kapitel 10 Ambulante verhaltenstherapeutische Gruppentherapie: störungs- und problemspezifische Konzepte – 119 Michael Marwitz

IV

109

Die heilende Wirkung von Beziehung in Gruppen Christiane Pennecke

9.1 Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist (Beisser 1998) – 110 9.1.1 Fallbeispiel – 111 9.1.2 Worauf lassen sich die Patienten ein? – 111 9.1.3 Wer ist die Gruppe? – 112 9.1.4 Phase 1: Wir tasten uns vor – 113

9.2 Phase 2: Konflikte – 114 9.3 Phase 3: Begegnungen – 115 9.3.1 Wie haben sich die Patienten verändert? – 117

Literatur – 118

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_9

9

110

9

C. Pennecke

Als Verhaltenstherapeutin, die seit 35 Jahren in der Niederlassung arbeitet, habe ich viele „Wenden“ (vgl. Sulz 2015) in der theoretischen und praktischen Weiterentwicklung der Verhaltenstherapie miterlebt. Die moderne Verhaltenstherapie bezieht sich nicht mehr nur auf die Lerntheorie, sondern integriert all jene Ansätze, die in den Gedanken und Einstellungen Einfluss auf Gefühle und Verhalten haben. Der Fokus liegt auf der korrekten Anwendung des Behandlungskonzeptes. Hinsichtlich der Beziehung zwischen Therapeut und Patient wird eine komplementäre Beziehungsgestaltung empfohlen. Obwohl die Therapieforschung (Orlinsky et al. 1994) bereits Anfang der 90er Jahre die besondere Qualität der therapeutischen Beziehung als einen wesentlichen Wirkfaktor in der Psychotherapie belegt hat, spielte die therapeutische Beziehung (vgl. Zimmer 1983 und 2011) und insbesondere deren Gestaltung lange Zeit in der verhaltenstherapeutischen Literatur eine nachgeordnete Rolle. Erst in den letzten Jahren haben sich einzelne Therapeuten (Sulz 2015; Broda 2012) diesem Thema zugewandt. Die Beantwortung der Frage nach der Gestaltung der therapeutischen Beziehung ist und bleibt von zentraler Bedeutung. In ihr spiegelt sich nicht nur das zugrunde liegende Menschenbild (vgl. Pennecke 1999) wider, von dem sich wesentlich die therapeutische Haltung (vgl. Press, S. 255) und das Therapieverständnis (ebd.) ableiten. Aus diesem Verständnis heraus entwickeln sich die Prinzipien der Aufgabenstruktur und die der Prozesssteuerung. Veränderungsprozesse werden nach Grawe (1998, S. 132) initiiert, indem der Prozess, d. h. das, was zwischen Therapeut und Patienten geschieht, zum Inhalt wird. Daher ist die Gruppentherapie für mich die erste Wahl der Behandlung. Die Gruppentherapie ist das geeignete Setting, in dem prozessuales Geschehen zum Inhalt gemacht werden kann, da in der Gruppe alle TeilnehmerInnen miterleben, wie untereinander Beziehungen im Hier und Jetzt der Gruppe aufgenommen werden. Diese können dann direkt bearbeitet werden. Um die Potenz

einer Gruppe für die Psychotherapie zu nutzen, braucht es ein Gruppenkonzept, in dem die Gruppenmitglieder frei agieren und Kontakt zu anderen Teilnehmern aufnehmen können. Die therapeutische Haltung ist eher eine offene und spontane Haltung, in der sich der Therapeut auf die Begegnung auf das „Zwischen“ mit dem Patienten einlässt, was als „existenzielles Vertrauen“ bezeichnet werden kann, in dem sich Beziehungen entwickeln und vertiefen können. In einer so gestalteten Beziehung geht es nicht darum, den Patienten zu verändern, sondern seine Existenz zu verstehen und ihm zu begegnen. Esther Reglin bezeichnet die Beziehung im Sinne der Gegenseitigkeit als entscheidenden „Heilfaktor“ (Reglin 2009). Ein Therapeut, der aus der dialogischen Orientierung arbeitet, wird einen auf das Hier und Jetzt konzentrierten, bewertungsfreien Dialog etablieren, der dem Patienten die Chance gibt, eine Beziehung zu einem andern Menschen aufzunehmen (ebd. S. 43). (Beisser 1998). 9.1  Veränderung geschieht,

wenn jemand wird, was er ist (Beisser 1998)

Menschen sind Gruppenwesen (vgl. Bion 1991). Das Bindungsbedürfnis motiviert Menschen, sich in Beziehung zu anderen Menschen zu begeben. Menschliche Grundbedürfnisse können nur im zwischenmenschlichen Kontakt erfüllt werden (Grawe 1998, S. 618) Die in den primären Beziehungen erworbenen Bindungsmuster bestimmen unser späteres Beziehungsverhalten. Die im impliziten nonverbalen Gedächtnis gespeicherten Erfahrungen werden in Beziehungen „bottom-up“ (Grawe 1998) unbewusst aktiviert und tragen so zur Aufrechterhaltung von Beziehungsmustern bei (vgl. Pennecke 2001). Veränderungen im Beziehungsverhalten (s. u.) werden demzufolge in der Beziehung ausgelöst, wie z. B. zwischen Therapeut und Patient. In der therapeutischen Beziehung legt der Therapeut

111 Die heilende Wirkung von Beziehung in Gruppen

sein Augenmerk nicht nur auf den Inhalt des Erzählten, sondern vor allem auf den Prozess. Neuropsychologische Forschungsergebnisse über das implizite Gedächtnis bestätigen die in der Bindungsforschung gemachten Erkenntnisse. Stern spricht von einem „impliziten Beziehungswissen“, das Affekte, Kognitions- und V ­ erhaltens-/Interaktionsdimensionen umfasst. „Das implizite Beziehungswissen entwickelt sich durch „interaktionale, intersubjektive Prozesse“, die das Beziehungsfeld innerhalb des Kontextes dessen verändern, was wir als „gemeinsame implizite Beziehung“ bezeichnen (S. 22). In diesem Beziehungsprozess gibt es nach Stern eine besondere Art von „Gegenwartsmomenten“, die subjektiv und affektiv als einschlagend erlebt werden und die die Beteiligten verstärkt in die Gegenwart hineinziehen. Dies sind „Jetzt-Momente“ (S. 35). In seinem Buch über die Veränderungsprozesse beschreibt Stern (2012) präzise, wie sich die von Martin Buber beschriebene dialogische Beziehung entwickelt, indem sich beide – Patient und Therapeut – „auf die intersubjektive Gemeinsam-keiten und das gemeinsame Verstehen“ (ebd. S. 32) hinbewegen. Der Prozess des „Vorangehens besteht aus einer Aneinanderreihung von Gegenwartsmomenten“ (ebd. S. 35). Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass er „inhaltlich relativ kohärent, emotional homogen und auf ein bestimmtes Ziel hin orientiert ist“ (ebd. S. 34). Die Berührung durch einen anderen Therapeuten oder Teilnehmer löst häufig ein Gefühl des Gesehen- und oft auch des Verstandenwerdens aus, was den Betroffenen das Gefühl gibt, akzeptiert zu werden, selbst dann, wenn die Rückmeldung kritisch ist. Die grundlegende Aussage bei jeder Rückmeldung ist die Erkenntnis, dass da ein Mensch ist, für den ich im Moment wichtig bin. Dies ist häufig der Beginn einer Beziehung, die beide durch den Gruppenprozess trägt und zunehmend andere Teilnehmer involviert. Die sich so entwickelnde Beziehungsnähe führt zu einer tiefgreifenden Veränderung in den Teilnehmern, die den ganzen Menschen

9

betrifft. Yalom (2005) Im Hier und Jetzt, Richtlinien der Gruppenpsychotherapie btb Verlag Hier und Jetzt (ebd. S. 222/39). In der nun folgenden Falldarstellung einer interaktionellen Gruppentherapie werden einzelne Sequenzen vorgestellt, in denen sich Patienten begegnen. Die Auswirkungen dieser Begegnungen können hier nur kurz dargestellt werden. 9.1.1  Fallbeispiel

Die hier vorgestellte Gruppe begann im Februar 2015. Sie fand einmal wöchentlich für 100 min statt und war eine ­Slow-open-Gruppe, die über weite Strecken jedoch eine geschlossene war. Aus gruppendynamischen Gründen wurden parallel keine Einzeltherapiesitzungen angeboten. Es gab eine Ausnahme, als sich ein Patient in einer akuten psychischen Krise befand. Diese Zusatztermine waren in der Gruppe bekannt. Das Therapiekonzept (vgl. Pennecke 2001) basiert darauf, dass der Veränderungsprozess in Beziehung mit den anderen Teilnehmern und dem Therapeuten stattfindet. Die Rückmeldungen zu dem im Hier und Jetzt (vgl. Yalom) der Gruppe aufgetretenen Verhalten schaffen die Voraussetzungen, dass die Patienten, sofern sich Offenheit und Authentizität entwickeln, die von Stern beschriebenen „Jetzt Momente“ erleben, die sowohl für sie selbst wie auch für die Gruppe verändernd wirken. 9.1.2  Worauf lassen sich die

Patienten ein?

Die Gruppenpatienten habe ich vor Beginn der Gruppe 2- bis 3-mal im Einzelgespräch gesehen: einmal zum Kennenlernen und zur Etablierung einer ersten Bindung, zum anderen, um die möglichen Befürchtungen bezüglich einer Gruppentherapie zu besprechen. Nach der Anmeldung der Patienten habe ich probatorische

112

9

C. Pennecke

Sitzungen angeboten, in denen zunächst die Indikation für eine Gruppentherapie geklärt wurde. Mit der Indikationsstellung habe ich die Motivation und die Ziele, die die Patienten mit der Gruppentherapie erreichen wollten, besprochen. Sobald dieser Prozess abgeschlossen war, begann die Vorbereitung auf die Gruppentherapie. Zunächst habe ich die Patienten in die interpersonelle Theorie der Psychotherapie eingeführt und auf die entscheidende Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen für die psychische Entwicklung des Menschen hingewiesen „Interpersonelle Theorie“ (ebd. S.  68). Anschließend habe ich anhand ihrer eingangs geschilderten Symptome den Zusammenhang zwischen Symptomen und den Schwierigkeitenin ihren Beziehungen erklärt. Mithilfe der Gruppentherapie sei es möglich, dass sie einen Einblick in ihre Beziehungsmuster erhalten. Um dies zu gewährleisten, konzentriere sich die Gruppe vor allem auf das, was in der Gruppe geschieht, um es für jeden nachvollziehbar zu machen. In wieweit sie ihre Beziehungsmuster verändern könnten, hinge davon ab, wie sie sich in den Gruppenprozess einbringen. Der persönliche Beitrag sind Aufrichtigkeit in den Rückmeldungen und die Bereitschaft, das eigene Verhalten zu reflektieren. Anschließend habe ich den Patienten das Konzept einer Slow-openGruppe vorgestellt. Zu guter Letzt habe ich noch einige grundsätzliche Regeln besprochen: die Schweigepflicht, die regelmäßige Teilnahme, die Pünktlichkeit, sowie die Möglichkeit, dass sie jederzeit die Gruppenbehandlung beenden können. Dazu müssten sie zunächst ihren Entschluss der Gruppe mitteilen und könnten sich erst in der darauffolgenden Sitzung aus der Gruppe verabschieden. Das Setting habe ich bei der Bekanntgabe von Ort und Zeit besprochen. In unserem Fall wurden die Patienten darauf vorbereitet, dass die Gruppe nur mit vier Teilnehmern beginnt. Zur Einstimmung auf die Gruppe wurde ihnen empfohlen, das Buch Die Schopenhauer-Kur von I. Yalom (2005) zu lesen.

9.1.3  Wer ist die Gruppe?

Die Gruppe begann zunächst mit vier Mitgliedern, drei Männern und einer Frau, die allerdings zum zweiten Termin nicht mehr erschien. In der zweiten und dritten Sitzung kamen insgesamt fünf neue Mitglieder dazu. In der vierten Sitzung war die Gruppe mit acht Teilnehmern geschlossen. Die Gruppe war hinsichtlich der Diagnose sowie des intellektuellen wie strukturellen Niveaus heterogen. Die Namen wurden von mir geändert. Herr Alt (38 Jahre, ledig, Architekt, F 32.1) ist ein bedrückt wirkender Mann, der aus Angst, die falsche Entscheidung zu treffen, sich nicht entscheiden kann. Diese Entscheidungsunfähigkeit belaste seinen Alltag. Er befürchtet, aus diesem Grund seinen Job zu verlieren. In der Beziehung zu seinen Kollegen ist er oft unwirsch bis launisch, fordert viel von ihnen. Er sei nicht besonders beliebt bei ihnen. Bei Beginn der Gruppentherapie hatte er keine Beziehung. Herr Alt kann seine Schwierigkeiten reflektieren. Er ist sehr motiviert und erhofft sich von der Gruppe, mehr über sich zu erfahren und vor allem, wie er auf die anderen wirke. Herr Bauer (52 Jahre, geschieden, 2 Kinder, Beamter, F 43.1) ist ein sehr schweigsamer, reflektierender Mann mit geringem Selbstwertgefühl. Er leidet unter seiner Scheidung, für die er vor allem sich selbst die „Schuld“ gibt. Seine Töchter sind das Wichtigste in seinem Leben. Er ist motiviert und erhofft sich von der Gruppe, selbstbewusster zu werden. Herr Christen (22 Jahre, ledig i. A, F40.1/42.1) ist ein unsicher und unbeholfen wirkender junger Mann, der in seiner sprachlichen Ausdrucksfähigkeit eingeschränkt ist. Er verspricht sich jedoch von der Gruppe, dass er mehr Sicherheit im Auftreten erlernt. Herr Delle (41 Jahre, ledig, 1 Kind, arbeitssuchend, F 33.2/F 61) wirkt verschlossen bis trotzig. Er ist misstrauisch Menschen gegenüber. Im Kontakt ist Herr Delle zurückhaltend, kann jedoch bei Verletzungen, wenn er sich z. B. falsch wahrgenommen fühlt,

113 Die heilende Wirkung von Beziehung in Gruppen

schnell aufbrausend sein. Er möchte in der Gruppe lernen, anderen zu vertrauen. Frau Ehrlich (37 Jahre, ledig, F 61E 66.02) ist eine redegewandte, junge Frau, die sich im Kontakt unsicher fühlt. Sie hat schnell den Eindruck, abgelehnt zu werden und klagt über Mobbing-Erfahrungen. Ihre Motivation, an der Gruppe teilzunehmen, ist die Hoffnung, ihre negativen Erfahrungen mit anderen Menschen zu korrigieren. Herr Franz (35 Jahre, ledig, Programmierer, F40.1 Vd F 61) ist ein traurig wirkender junger Mann, der kaum soziale Beziehungen (abgesehen von Arbeitskollegen und den Eltern) hat. Er lebt im Haus seiner Eltern und verbringt seine Freizeit mit Fernsehen (manchmal mit den Eltern oder an seinem Computer). Herr Franz spricht kaum. Er hofft, in der Gruppe andere soziale Erfahrungen zu machen. Herr Gärtner (54 Jahre, leitender Angestellter, verheiratet, 1 Kind, F 32.2) ist ein ruhiger, in sich gekehrter Mann, der viel grübelt und über Depressionen klagt. Neben finanziellen Schwierigkeiten klagt er vor allem über Probleme in seiner Ehe. Er hofft, in der Gruppe wieder Mut zu fassen, für sich selbst einzustehen. Frau Heinrich (76 Jahre, geschieden, 2 Söhne, Rentnerin, F. 32.) ist eine recht aktive und jünger wirkende, ältere Frau, die sehr unter der Kontaktlosigkeit zu ihren Söhnen leidet. Sie fühlt sich abgelehnt und ist enttäuscht und bisweilen traurig über den Zustand. Sie möchte in der Gruppe herausfinden, was sie machen kann, um wieder Kontakt zu ihren Söhnen zu bekommen. Herr Liebermann (32 Jahre, wissenschaftlicher Mitarbeiter, AQ25ledig, F 33.1) wirkt zunächst sehr selbstsicher, wird jedoch im Kontakt diffus. Er hat Schwierigkeiten in Beziehungen, insbesondere mit Frauen, die er jedoch nicht genau benennen kann. Er hofft, mithilfe der Gruppe seine Schwierigkeiten zu verstehen. 9.1.4  Phase 1: Wir tasten uns vor

Ich folge nicht der Empfehlung, die Gruppe mit einem Blitzlicht zu beginnen, da diese

9

oft zur Vermeidung einer gemeinsamen Themenfindung genutzt wird. Die ersten drei Sitzungen dienten dem Kennenlernen und der Integration der neuen Teilnehmenden (TN). In diesen Sitzungen wurden die TN sowohl ermuntert, ihre Hemmungen in und vor der Gruppe zu sprechen, zu überwinden, indem sie aufgefordert wurden, ihre Eindrücke, Einfälle und Gefühle zu dem Gehörten und Erlebten mitzuteilen. In dieser Phase war ich als Therapeutin aktiv, indem ich immer wieder die TN einlud, ihre Gedanken laut zu äußern. Die offene Struktur rief zunächst einige Verunsicherung bei ihnen hervor, die sie mit Nachfragen überbrückten; z. B. fragte ein neues Mitglied Herrn Alt, was er beruflich mache. Er berichtete ihr dann etwas über seine Unsicherheit im Beruf. Die Patientin erkannte sich in seinen Schilderungen wieder und berichtete ihrerseits über ihre Unsicherheiten am Arbeitsplatz. Diese erste Kontaktaufnahme, die zu einer kurzen Begegnung der beiden in der Gruppe führte, minderte nicht nur ihre eigenen Gefühle von Angst und Unsicherheit, sondern öffnete anderen Gruppenmitglieder einen Weg in die Gruppe. Ich unterstützte die TN bei der Einbringung ihres Themas. In der nächsten Sitzung, in der wieder neue Mitglieder dazukamen, thematisierte Herr Franz seine Schwierigkeiten, sich in der Gruppe zu öffnen. Er saß bisher meist schweigend oder lächelnd in der Gruppe, was einige TN irritierte. Insbesondere wurde von einigen sein Lächeln angesprochen. Diese Gesprächsangebote konnte er nicht annehmen und die involvierten TN zogen sich zurück, da sie ihn nicht „weiter unter Druck setzen“ wollten. Er blieb weiterhin ein aufmerksames und waches, jedoch schweigsames Mitglied in der Gruppe (s. w. u.). Anschließend brachte sich die älteste Teilnehmerin, Frau Heinrich mit ihrem Thema ein. Sie litt seit längerer Zeit darunter, dass sie keinen Kontakt zu ihren Söhnen hatte. Während ihrer Schilderung identifizierten sich einige Männer in der Gruppe mit ihren Söhnen und äußerten Verständnis für die Reaktion der Söhne. In

114

9

C. Pennecke

unterschiedlichen Nuancen vermittelten sie Frau Heinrich ihren Eindruck, den sie bei ihrer Erzählung gewannen. Sie erlebten Frau Heinrich als sehr bestimmend und fordernd. Die Beziehung zu den Eltern beschäftigte die Gruppe auch in den nächsten Sitzungen. Vordergründig wird über die Probleme in der Beziehung zu den Eltern gesprochen. Herr Alt und Herr Gärtner schilderten Väter, die grenzüberschreitend kontrollierend waren oder sie berichteten über Vernachlässigung (Frau Ehrlich, Frau Heinrich, Herr Bauer). Die TN tauschten sich aus, gaben sich Rückmeldungen. Es entstand die Atmosphäre: Wir tragen alle unser Päckchen. Diese Phase endete mit der indirekten Frage an mich als Therapeutin, wie ich zu ihnen eingestellt sei; sie wurde jedoch nicht verbal gestellt. Dies war eine der ersten Möglichkeiten, das Gespräch über die Beziehungen aus dem Dort und Damals ins Hier und Jetzt zu holen. Auf meine Frage, wie es denn den TN hier mit mir gehe, antwortete Frau Heinrich, dass sie vorsichtig mir gegenüber sei. Ich sei ihr zu direkt, was sie als Ablehnung erlebe. Da ich Frau Heinrich sehr schätze und sie mit ihrer Rückmeldung sehr mutig fand, gab ich ihr das zurück und bestätigte ihre Wahrnehmung. Frau Heinrich erzählte daraufhin, dass sie sich zunächst abgelehnt fühlte, aber mittlerweile erfahren hatte, dass sie beim Nachdenken über meine Rückmeldungen oft bei sich etwas entdeckte, das ihr bis dahin nicht bewusst gewesen war. Die Möglichkeit, mit mir in Beziehung zu treten und in dieser Beziehung andere Erfahrungen zu machen, hatte für den weiteren Gruppenprozess sowie für die Beziehungsgestaltung der TN untereinander Modellcharakter (z. B. Gefühle von Ablehnung). In dieser Phase wurden lose Beziehungen in der Gruppe geknüpft, die jedoch noch vage waren. Trotz der vielen Aktivitäten (Einbringung von Themen) in der Gruppe waren die Kontaktaufnahmen flüchtig. Über eigene Gefühle, die sich in der Situation entwickelten, konnte in dieser Phase noch nicht geredet werden.

9.2  Phase 2: Konflikte

In der nächsten Sitzung sprach Frau Ehrlich ihren Ärger auf Herrn Delle an, den sie als sehr dominant erlebte. Dieses Erleben wurde von den anderen TN geteilt. Herr Delle begann sofort zu argumentieren, wodurch Frau Ehrlich sich angegriffen fühlte und sich zurückzog. In der nächsten Sitzung kam es zum offenen Konflikt. Herr Gärtner war wütend auf Herrn Delle, weil er den Konflikt mit Frau Ehrlich nicht gelöst hatte. Auf meine Frage, was ihn, Herrn Gärtner, so wütend mache, berichtete der Patient von seiner Beziehung zu seiner Mutter, von der er sich kontrolliert und abgewertet gefühlt habe. Er erlebe Herrn Delle ähnlich entwertend wie seine Mutter. Frau Ehrlich bestätigte, dass sie sich durch die Äußerungen von Herrn Delle entwertet fühle. Herr Delle verstand nicht, wie und wann er Frau Ehrlich entwertet hätte. Der Konflikt schwelte weiter und eskalierte zwischen Frau Ehrlich und Herrn Delle erneut. Herr Alt versuchte, zwischen den beiden zu vermitteln. Es gelang ihm nicht. Einige Sitzungen später ärgerte sich Herr Alt über Herrn Delle. Herr Alt fühlte sich nicht gesehen und war bemüht, sich verständlich zu machen. Er fühlte sich in der Art und Weise, wie Herr Delle sprach, mißachtet. Herr Delle erlebte die Auseinandersetzung seinerseits als einen Angriff. Trotz meiner Unterstützung und dem Hinweis, dass er für Herrn Alt wichtig sei, war ihm der Wunsch von Herrn Alt nicht verständlich und er wies diesen mit der Bemerkung zurück, dass nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen. Herr Delle verließ einige Sitzungen später die Gruppe. In dieser Phase wurde geklärt, wer dazu gehört und wer nicht. Ungeklärte oder auch unausgesprochene Konflikte zwischen Patienten und/oder Therapeuten sind m. E. häufig Ursache für einen Therapieabbruch. In diesem Fall war Herr Delle auch mit therapeutischer Unterstützung nicht bereit, sich zu öffnen. Im weiteren Verlauf des Gruppenprozesses entwickelten sich relativ stabile

115 Die heilende Wirkung von Beziehung in Gruppen

Beziehungen zwischen Herrn Alt, Herrn Bauer, Frau Heinrich und Herrn Franz, später auch Herrn Liebermann. Sie sorgten sich um einander und waren in den Schilderungen ihrer Anliegen, dem gegenseitigen Feedback und der Bereitschaft, den Prozess zu reflektieren, offen. 9.3  Phase 3: Begegnungen

Im Verlauf des Gruppenprozesses kam es zu einer bewegenden Begegnung zwischen dem neuen Mitglied, Herrn Liebermann, und Herrn Bauer. Herr Liebermann klagte, unter Druck zu stehen, weil er ständig versuche, mit allen Mitteln anderen zu gefallen. Letztlich wusste er nicht, wer er ist und schwankte zwischen der inneren Leere/Einsamkeit und dem Wunsch nach Aufmerksamkeit. Seine Angst vor Abwertung halte ihn davon ab, etwas zu ändern. Herr Bauer reagierte spontan und drückte sein Mitgefühl aus. Dies überraschte Herrn Liebermann, der seinerseits seine Sympathie für Herrn Bauer bekundete. Herr Bauer erinnerte ihn jedoch an seinen Vater, vor dem er Angst habe. Herr Bauer wollte daraufhin wissen, wie er sein Vertrauen gewinnen könne. Diese Reaktion berührte Herr Liebermann. Für einen Moment waren beide in Beziehung. Dieser bewegende Moment veränderte nicht nur Herrn Bauer und Herrn Liebermann, der sich angenommen fühlte, sondern auch die Gruppe. Diese war zunächst, ob der Nähe zwischen den beiden, peinlich berührt. Ich half der Gruppe mit dieser Peinlichkeit umzugehen. Die Nähe zwischen beiden machte es möglich, Einsamkeit zu thematisieren. Herr Alt setzte das Gespräch fort und erzählte von seiner Distanz zu anderen Menschen. Er versuche, seine Interessen durchzusetzen, weil er innerlich nicht stabil sei. Letztlich fühle er sich innerlich sehr einsam. Diese Isolation erlebe er jedoch positiv. Er lebe hinter einer Mauer, auf einer Insel. Er schilderte emotionslos eine Szene, die er als positiv bewertete. Er arbeitete zu Hause

9

an einem Modell und wurde hilflos und wütend, weil er nicht vorwärts kam. Das Modell genügte seinen Ansprüchen nicht. Aus Wut zerstörte er das Modell und zog sich auf seine Insel zurück. Das Thema Einsamkeit beschäftigte die Männer der Gruppe. Jeder konnte sich mit dem Thema identifizieren. Herr Gärtner erzählte von seiner Einsamkeit. Er hatte sich im Laufe seines Lebens von vielen Freunden getrennt, weil er die Beziehungen einseitig erlebt hatte. Herr Bauer kannte ähnliche Situationen, wobei er eher in den Rückzug ging, weil er sich wertlos fühlte. In dem folgenden Gespräch versuchten die Männer, Einsamkeit rational zu erfassen, bis sich ein Dialog zwischen Herrn Alt und Herrn Gärtner entspann, den ich gemeinsam mit der Gruppe reflektierte. Beide intellektualisierten, es gab keine persönlichen Statements. Schließlich wurde beiden klar, was fehlte – sie hatten während des Gespräches ihre Gefühle ausgeschaltet und jeder lebte in seiner Einsamkeit. Es gab keine Begegnung. Im Verlauf des Prozesses wurde die Rivalität zwischen den Frauen deutlich. Beide rivalisierten um die Aufmerksamkeit der Gruppe, auf die die Gruppe nicht einging, sondern Herr Bauer nahm dies zum Anlass für ein direktes Feedback an Frau Heinrich. Er erlebe sie nicht ehrlich, weil sie ihren Unmut ausgedrückt hatte, was ihn zunehmend ärgere. Frau Heinrich ging darauf nicht ein. In der Gruppe wurde stattdessen über die Schwierigkeit gesprochen, aus Angst vor Ablehnung Bedürfnisse und Wünsche auszudrücken Die Beziehungsdynamik verdichtete sich im Versuch, offener zu sein und die eigenen Gefühle, z. B. Wertschätzung, mitzuteilen. Dadurch entstand eine größere Nähe in der Gruppe. Frau Heinrich berichtete, wie sehr sie unter der Kontaktlosigkeit in ihrer Familie gelitten hatte (die sich gegenwärtig in der Kontaktlosigkeit zu ihren Söhnen wiederholt). Sie bat die Gruppe um eine Rückmeldung, was so „schlimm“ an ihr sei. Der Gruppe war aufgefallen, dass sie Themen an sich zog, die gar nichts mit ihr zu tun hätten. Herr Bauer

116

9

C. Pennecke

konkretisierte diese Rückmeldung. Er fühlte sich ohnmächtig, wenn sie durch Gesten die Unterhaltung kontrolliere. Frau Heinrich nahm die Rückmeldung zur Kenntnis. Zu einer emotionalen Reaktion kam es in der nächsten Sitzung, als sie über ihre Söhne sprach und wütend darüber war, dass diese sie „kommandieren“ würden. Sie versteht auch die Rückmeldungen der Gruppenmitglieder als „Kommandos“. Sie fühle sich dann nicht ernst genommen und abgelehnt. Herr Alt bemühte sich, Frau Heinrich wieder in die Gruppe zu holen, indem er ihr zunächst seine Wertschätzung für sie mitteilte, anschließend aber auch seine Hilflosigkeit angesichts ihrer massiven Zurückweisung und Verschlossenheit ausdrückte. In dem Prozess gelang es Frau Heinrich zu erkennen, was ihr Verhalten in anderen auslöste. Herr Franz berichtete in der nächsten Sitzung, dass es ihm besser gehe. Er wirkte sehr depressiv und rationalisierte, um nicht handeln zu müssen. In der nächsten Sitzung ging es ihm noch schlechter. Er fühlte sich elend, überfordert und er sah keinen Sinn mehr. Ich bat Herrn Franz, sich in einer psychiatrischen Klinik vorzustellen, was er auch tat. Er kam zur nächsten Sitzung nicht. In der übernächsten Sitzung berichtete er über seinen Klinikaufenthalt. Zunächst dachte er, dass er die Klinik nicht mehr bräuchte. Er sei dann doch am Samstag hingegangen, nachdem er seiner Frau eine kurze Notiz geschrieben hatte. Sie sei schockiert gewesen. In der Klinik sei es ihm gut gegangen. Er habe nicht mehr die ewig kreisenden Gedanken gehabt. Der Druck habe nachgelassen. Längere Zeit sprach er dann über seine Beziehung zu seiner Frau und über seine Kindheit. Herr Franz ist in der DDR geboren und besuchte eine Kaderschule für besonders begabte Schüler. Er nannte die Schule eine „Sonderschule“. Dort sei er sehr vereinsamt. Nach dem Abi studierte er und lernte seine Frau kennen. Auch nach der Wende begann er sofort eine Weiterbildung. Herr Franz ist hoch spezialisiert – jedoch emotional und

finanziell verarmt. Er stand unter dem Druck, seiner Frau etwas bieten zu müssen und fühlte sich unfähig, weil sie weiterhin unzufrieden schien. Auf seine Begabung war er nicht stolz. Die Gruppe reagierte auf diese Öffnung mitfühlend und verständnisvoll. Das tat dem Patienten ganz offensichtlich gut. Er entspannte. In der folgenden Sitzung machte ich Herrn Franz, der bis dato weiterhin schweigend an den Sitzungen teilnahm, den Vorschlag, in die Einzeltherapie zu wechseln, da ich den Eindruck hatte, dass er mit der Gruppe überfordert sei. Dies löste Ärger bei Frau Heinrich aus, sie meinte ich sei streng und grob. Dennoch verteidigte sie Herrn Franz nicht, da sie selbst ärgerlich auf ihn war. Sie war in einem Loyalitätskonflikt zwischen meiner Intervention und dem Anspruch, sich hinter ihn zu stellen. Dennoch bat ich Herrn Franz, den Vorschlag zu bedenken. In der nächsten Sitzung war Herr Franz wieder dabei und wurde von Herrn Alt gefragt, wie er sich entschieden habe. Er hatte darüber nachgedacht, in die Einzeltherapie zu wechseln. Er befürchtete aber, dass er auch dort schweigen würde. Frau Heinrich ärgerte sich über diese Antwort, weil sie mit seinem Verhalten nicht umgehen könne. Es würde sie sehr wütend machen. Sie hielt sich daraufhin zurück. Herr Alt bemühte sich weiterhin um Herrn Franz, indem er mehr über seine Entscheidung wissen wollte, konnte jedoch nichts erreichen. Herr Franz lächelte nur. Nach Aufforderung durch mich präzisierte Frau Heinrich ihren Ärger auf Herrn Franz. Sie ärgere sich, weil sie sich von ihm zurückgestoßen und im „Regen stehen gelassen“ fühle. Herr Franz hatte darauf keine Antwort. Danach wandte sich Herr Alt an Frau Heinrich und sagte ihr, dass er ihr Verhalten sehr authentisch und mutig gefunden und ihn das sehr berührt habe. Frau Heinrich konnte sich auf die Nähe zu Herrn Alt einlassen. Für die Gruppe war dies berührend und beängstigend zugleich.

117 Die heilende Wirkung von Beziehung in Gruppen

9.3.1  Wie haben sich die Patienten

verändert?

Welche Veränderungen wurden durch die Begegnungen in der Gruppe bei den Patienten auslöst? Ich will zunächst die Patienten selbst reden lassen: Herr Gärtner  „Ich glaube, zum ersten Mal hatte ich mich Ende August 2015 geöffnet, worauf Sie mir vorschlugen, freiwillig kurzzeitig in die Klinik zu gehen. Dies tat ich auch mit einem Tag Verzögerung. In der Woche und mit dem räumlichen Abstand konnte ich über viele Sachen nachdenken und anfangen, Dinge aufzuarbeiten. Hierbei stellte ich fest, dass ich eine riesige Angst vor dem Alleinsein hatte und somit alles erduldete. In den Gesprächen in der Gruppe merkte ich, dass die anderen Mitstreiter auch Probleme haben (na klar, sonst wären sie nicht dabei), und dass es auch Verständnis gab, dass man Probleme hat. Aus der Gruppe war in dieser Zeit Herr K. für mich eine wichtige Person gewesen, nicht nur wegen den Wortbeiträgen, sondern auch, wie er sein Leben/seine Einstellung geändert hatte. Er wurde ein bisschen wie eine Vorbild, denn ich wollte mich ja auch ändern.“ Herr Gärtner hat sich in der Zwischenzeit von seiner Frau getrennt, hat seine Hobbies wieder aufgenommen. Beim Line-Dance hat er eine etwas ältere Frau kennengelernt, in die er sich verliebte. Er hat mittlerweile so viel Selbstbewusstsein, dass er der Frau seine Gefühle eingestehen konnte. Herr Alt  „Ich habe den Zugang zu meinen

Gefühlen gefunden. Ich bin in der Lage, meine Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken. Ich kann Wut, Angst und Traurigkeit unterscheiden und gegenüber vertrauten Menschen ausdrücken. Ich kann mich zunehmend von den Bedürfnissen anderer Menschen abgrenzen. Ich habe verinnerlicht, dass sie die Verantwortung für die Erfüllung

9

selber tragen. Ich arbeite noch daran, meine Verantwortung für meine eigenen Bedürfnisse immer gleich zu erkennen. Eine Arbeitskollegin hat meine Entwicklung von einem nervösen, aggressiven, kontrollsüchtigen und geltungsbedürftigen Menschen 2013 hin zu einem ruhigen und entspannten Kollegen beobachtet.“ Frau Heinrich  „Ich bin seit der Gruppen-

therapie ruhiger geworden. Ich kann über mein Tun, meine Wahrnehmung sowie über Unstimmigkeiten mit mir und mit anderen in der Gruppe direkt reden und bekomme hilfreiche Angebote, Einsichten zu meinem Verhalten, die ich selbst noch nicht wahrgenommen habe. Ich reagiere nicht sofort mit Unverständnis, mit Angriff/Gegenmaßnahmen oder mit Rückzug. Ich frage nach bei Unstimmigkeiten oder Anschuldigungen und mache meine Vorstellungen der Dinge deutlich und klar, kann Unterschiede besser akzeptieren und hinterfragen. Die Veränderung angestoßen hat Herr Alt, indem er immer wieder auf mich zugegangen ist. Zu ihm habe ich eine Beziehung.“

Zusammenfassung und Fazit In diesem Artikel wurde versucht, anhand einer Fallvignette einer interaktionellen Gruppentherapie 1. den Wirkfaktor von „Beziehung“ darzustellen, 2. die Wirkungen der Arbeit an den Realbeziehungen der Patienten zu verdeutlichen, 3. den Prozess zu beschreiben, der aufgrund der inneren emotionalen Bewegungen bei den Patienten und zwischen ihnen zu verdichteten Beziehungen führt, 4. die verändernde Kraft der „Jetzt-Momente“ zu erläutern. Ähnliche Prozesse können auch in der Einzeltherapie stattfinden, wie Stern (2012) beschreibt. Dennoch haben Begegnungen in einer Gruppe größere Bedeutung, da alle

118

C. Pennecke

Beteiligten über das Erleben hinaus die Einstellung zu sich, zu ihrem Leben und ihre Vorstellung verändern. Diese Veränderungen, so konnte ich zeigen, umfasste nicht nur die Einstellung z. B. bestimmten Personen gegenüber, sondern führte auch zur Überprüfung eigener festgefahrener Glaubenssätze. Die Möglichkeit eigene Vorstellungen und Werte infrage stellen zu können, löste bei den Teilnehmenden die Bereitschaft aus, sich auf Beziehungen einzulassen, in denen sie ein selbstbestimmteres Leben führen können. Ich hoffe, dass ich mit meinem Fallbeispiel Diskussionen über die P ­atient-Therapeut-­ Beziehungen anregen und Lust und Freude an der Arbeit in und mit Therapiegruppen vermitteln konnte.

9 Literatur Beisser A. R. (1998). Gestalttherapie und das Paradox der Veränderung. Zeitschrift Gestaltkritik Heft 1-1998. Bion, W. (1991). Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften Fischer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Broda, M. (2012). Beziehungsweise Verhaltenstherapie: Zentrale therapeutische Dimension oder Aneignung fremden Gedankenguts? In J. Siegl, D. Schmelzer, & H. Mackinger (Hrsg.), Horizonte der Klinischen Psychologie und Psychotherapie. Papst: Lengerich. Buber, M. (1923). Ich und Du in Buber 1962 Das Dialogische Prinzip (8. Aufl., S. 1997). Heidelberg: Lambert Schneider. Grawe, K. (1998). Psychologische Therapie. Göttingen: Hochgrefe. Hyener R (1996) Die Ich-Du-Beziehung Martin Buber und die Gestalttherapie. Zeitschrift Gestaltkritik Heft 1-1996.

Irvin, D. Y. (1996). Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie (überarb. u. erweiterte Aufl.). München: Pfeiffer. Irvin, D. Y. (2005a). Die Schopenhauer- Kur. München: btb. Irvin, D. Y. (2005b). Im Hier und Jetzt. München: btb. Muth, C. (2004). Zum Hintergrund von Martin Bubers Ich&Du. Gestaltkritik Zeitschrift Heft 2-2004. Orlinsky, D. E., Grawe, K., & Parks, B. K. (1994). Process and outcome in psychotherapy. In A. E. Bergin & S. L. Garfield (Hrsg.), Handbook of psychotherapy and behavior change. Oxford: Wiley. Pennecke, C. (1999). Menschenbilder Zeitschrift Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Pennecke, C. (2001). Interaktionelle Gruppentherapie -verhaltenstherapeutisch betrachtet. Zeitschrift Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Preß, H., & Gmelch, M. (2012). Die „therapeutische Haltung“. In J. Siegl, D. Schmelzer, & H. Mackinger (Hrsg.), Horizonte der Klinischen Psychologie und Psychotherapie. Papst: Lengerich. Reglin, E. (2009). Heilen durch Begegnung Rede zur Eröffnung des Instituts für Psychotherapie, Spiritualität und Erwachsenenbildung Wien. Stern, D. N. (2012). Veränderungsprozesse. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Sulz, S. K. D. (2015). Die therapeutische Beziehung in der Verhaltenstherapie heute: Von der Strategie der Übertragung zur heilenden Beziehungserfahrung. Zeitschrift Psychotherapie, 20(2), 84–116. Waldl, R. (2002). Therapeutische Aspekte bei Martin Buber. Diplomarbeit, Universität Wien. Yalom, I. D. (2005). Die Schopenhauer-Kur. btb Verlag. Zimmer, D. (1983). Die Therapeut-Klient-Beziehung in der Verhaltenstherapie. In D. Zimmer (Hrsg.), Die therapeutische Beziehung. Weinheim: Edition Psychologie. Zimmer, D. (2011). Therapeut-Patient-Beziehung. In M. Linden & M. Hautzinger (Hrsg.), Verhaltenstherapiemanual (7. Aufl.). Berlin: Springer.

119

Ambulante verhaltenstherapeutische Gruppentherapie: störungsund problemspezifische Konzepte Michael Marwitz

10.1 Einleitung – 120 10.2 Formatierung und Indikationsstellung – 121 10.2.1 Störungsspezifische Gruppen – 122 10.2.2 Selbstsicherheitstrainings – 122 10.2.3 Psychoedukative, multimodulare Gruppen – 122

10.3 Zusammenstellung der Gruppe – 123 10.4 Vorbereitung der Teilnehmer – 124 10.5 Anforderungen an den Gruppentherapeuten – 125 10.6 Störungsspezifische Gruppen anhand des Beispiels der Depressionsbewältigungstherapie – 125 10.7 Inhalt und Durchführung der Depressionsbewältigungsgruppe – 126 10.8 Selbstsicherheitstraining und multimodulare Gruppen – 128 Literatur – 129

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_10

10

120

M. Marwitz

10.1  Einleitung

10

Thematisch fokussierte, vom didaktischen Aufbau her optimierte und stringent durchgeführte verhaltenstherapeutische Gruppenkonzepte stellen eine effektive und in Bezug auf den Kosten-Nutzen-Aspekt (vgl. B ­ urlingame et al. 2013) auch effiziente Ergänzung, wenn nicht sogar eine Alternative zur Einzeltherapie dar. Sie gehören zudem zu den Klassikern der verhaltenstherapeutischen Psychotherapie. Inzwischen liegen entsprechende manualisierte Therapiekonzepte für eine Vielzahl von Störungsbildern (z. B. unterschiedliche Formen von Angststörungen) und Problembereichen (z. B. Selbstsicherheitstraining) vor, die für die Behandlung von psychischen und psychosomatischen Störungsbildern herangezogen werden können (Fiedler 2005). Wie die vorliegenden Überblicksarbeiten verdeutlichen (vgl. Burlingame et al. 2013), kann deren Effektivität als hinreichend belegt gelten. Zur empirischen Absicherung verhaltenstherapeutischer Gruppentherapieverfahren wurden in etwa fünfmal mehr Studien durchgeführt als zu allen anderen gruppentherapeutischen Verfahren zusammen (Strauß und Burlingame 2012). Die in den durchgeführten Studien ermittelten Effektstärken für den Kontrollgruppenvergleich erreichen dabei regelhaft eine Größenordnung von ca. 0,80 und  entsprechen damit denjenigen, die auch in Studien zur Evaluation von einzeltherapeutischen Therapieverfahren berichtet werden (Marwitz 2016). Die vorliegenden Überblicksarbeiten legen den Befund nahe, dass sich Effekte in der genannten Größenordnung bereits nach 12 bis 15 Therapiesitzungen erreichen lassen. In den meisten Fällen wurden die Therapien hierbei im Kleingruppenformat von bis zu 12 Teilnehmern durchgeführt. Die Sitzungen wurden überwiegend wöchentlich angeboten, und gelegentlich wurden nach dem Abschluss der eigentlichen Therapiephase auch einige weitere Booster-Sitzungen durchgeführt (­Burlingame et al. 2013; McRoberts et al. 1998).

Auch wenn gruppendynamische Faktoren in jeder Gruppe zum Tragen kommen, scheinen diese für die Durchführung von störungs- und problemspezifischen Gruppenkonzepten weniger bedeutsam zu sein als dies für andere Gruppenkonzepte der Fall ist. Als zentrale Wirkfaktoren für störungs- und problemspezifische Gruppen können Kohäsion (oft als Äquivalent zur therapeutischen Beziehung in der Einzeltherapie verstanden), Vermittlung von Hoffnung bzw. einer positiven Therapieerwartung, Universalität des Leidens, interpersonelles Feedback, Einsicht in problemrelevante Zusammenhänge, Anleitung und Modelllernen sowie Rollenspiele genannt werden (Marwitz 2016; Yalom und Leszcz 2007). Die Aufzählung verdeutlicht, dass in verhaltenstherapeutischen Gruppen der Vermittlung von störungsbezogenem Wissen, der Erarbeitung von Wissen bezüglich prädisponierender, auslösender und aufrechterhaltender Bedingungen der Symptomatik bzw. des Problemverhaltens sowie (und vor allem) dem praxisnahen und übungsorientierten Erwerb von Fertigkeiten und Bewältigungsstrategien eine entscheidende Rolle zukommt. Bei der gezielten Aktivierung der gruppentherapeutischen Wirkfaktoren sollte vor allem darauf geachtet werden, dass diese eine möglichst optimale Vermittlung der therapeutischen Inhalte ermöglichen. So ist es bei der Durchführung eines sozialen Kompetenztrainings essenziell, dass sich die Teilnehmer der Gruppe zugehörig fühlen und sich mit zunehmender Vertrautheit aktiv und möglichst angstfrei an den in der Gruppe durchgeführten Rollenspielen beteiligen können. Hinderlich wäre es hingegen, wenn bei der Durchführung von Rollenspielen bei selbstunsicheren Teilnehmern  deren soziale Ängste aktiviert würden, da diese den Erwerb neuer Fertigkeiten hemmen, wenn nicht sogar gänzlich blockieren würden. Bereits im Vorfeld der Therapie sollte der Gruppenleiter deshalb bei Indikationsstellung und der

121 Ambulante verhaltenstherapeutische Gruppentherapie …

Zusammenstellung der Gruppe darauf achten, dass die Teilnehmer von dem angebotenen Selbstsicherheitstraining tatsächlich profitieren können. Durch den Einsatz geeigneter Interaktionsspiele sollte er außerdem zu Beginn der Gruppe darauf achten, eine entspannte und zugleich erfahrungsoffene Gruppenatmosphäre herzustellen, was unter anderem dadurch möglich wird, dass auf ein zu hohes Maß an Selbstöffnung verzichtet wird. Die Atmosphäre in einer Selbstsicherheitsgruppe sollte damit eher derjenigen eines Tanzkurses als derjenigen einer Gruppentherapie entsprechen! Vereinfacht gesprochen: Die zu vermittelnden Inhalte sollten die Gruppendynamik bestimmen und nicht umgekehrt (vgl. Marwitz 2016). 10.2  Formatierung und

Indikationsstellung

Störungs- und problemspezifische Gruppen in der ambulanten Routineversorgung sollten mindestens acht und maximal zwölf bis fünfzehn 100-min-Sitzungen umfassen, die wöchentlich angeboten werden. Für die Durchführung von In-vivo-Expositionen mit der Gruppe können auch 200-min- Sitzungen sinnvoll sein, die gegenüber den Kostenträgern jedoch vorab zu begründen sind. Weniger Sitzungen reichen in der Regel nicht aus, um die relevanten Inhalte in erlebnisnaher Weise zu vermitteln und die erforderlichen Bewältigungsfertigkeiten einzuüben. Therapeuten können hierbei auf einen breiten Fundus von Manualen zurückgreifen, die gegebenenfalls modifiziert und auf die spezifischen Bedürfnisse der behandelten Patienten abgestimmt werden können (­ Fiedler 2005). Dies erscheint häufig unabdingbar, da in der Praxis häufig auch solche Patienten in eine Gruppe aufgenommen werden sollen, die bei der Evaluation des Manuals ausgeschlossen wurden (z. B. Patienten mit einem Suizidversuch in der Vorgeschichte, solche mit Mehrfachdiagnosen oder Patienten, die eine Persönlichkeitsstörung aufweisen).

10

In der ambulanten Praxis haben sich vor allem drei Varianten von störungs- und problemspezifischen Gruppen bewährt. 1) Varianten des Gruppentrainings sozialer Kompetenzen bzw. des Selbstsicherheitstrainings, 2) psychoedukative, multimodular angelegte Gruppen zur Vermittlung verhaltenstherapeutischer Basisfertigkeiten und 3) störungsspezifische Gruppen. Alle drei Arten von Gruppen bieten den Vorteil, dass sich die zu vermittelnde Theorie und die praktischen Fertigkeiten im Gruppenformat stringenter und abwechslungsreicher vermitteln lassen als dies in der Einzeltherapie möglich ist. In der Einzeltherapie fällt es in der Regel schwerer, die Inhalte eines Therapiemanuals über mehrere Sitzungen hinweg konsequent zum Thema der Sitzungen zu machen. Stattdessen haben Patienten den verständlichen Wunsch, über ihre aktuellen Belastungen und die damit einhergehenden Probleme zu sprechen. Ein Beispiel hierfür wäre eine Patientin, die sich wegen einer Panikstörung mit Agoraphobie in Behandlung befindet und über einen aktuellen Konflikt mit ihrem Partner sprechen möchte, wohingegen sich ihr Therapeut auf die Erläuterung des Teufelskreis-Modells der Angst vorbereitet hat. Nehmen Patienten hingegen an einer störungsspezifischen Gruppentherapie teil, so besteht in weit geringerem Ausmaß das Bedürfnis, individuelle Anliegen, die nicht in direktem Zusammenhang mit der Symptomatik stehen, zu thematisieren. Auch stellt der Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen eine attraktive Alternative zur Schilderung weitergehender Probleme dar, was die Bereitschaft erhöht, diese nicht in die Gruppe einzubringen. Was die Gruppengröße angeht, hat es sich bewährt, multimodular, d. h. auf die Vermittlung von Basisfertigkeiten hin angelegte und störungsspezifische Gruppen mit vier bis neun Teilnehmern durchzuführen. Die Durchführung eines Selbstsicherheitstrainings legt hingegen eine Mindesteilnehmerzahl von sechs bis sieben Patienten nahe. Dabei ist

122

M. Marwitz

zu berücksichtigen, dass in der Praxis meist einer der Teilnehmer einer Gruppensitzung fernbleibt, was bei der Festlegung der Gruppengröße ebenfalls berücksichtigt werden sollte. Bei Gruppen mit nur drei oder vier Teilnehmern nimmt die Vertrautheit zu, was von diesen entweder als Druck erlebt wird, mehr als zunächst beabsichtigt von sich preiszugeben, oder die Vertrautheit wird von den Gruppenteilnehmern als Chance erlebt, sich mehr Raum zu nehmen und sehr persönliche Themen einzubringen, was wiederum der Vermittlung der Manualinhalte zuwiderläuft. Bei der Indikationsstellung für die Durchführung der beschriebenen Gruppentypen sollten daher folgende Kriterien berücksichtigt werden:

10

10.2.1  Störungsspezifische

Gruppen

5 Die vorliegende Störung (Angst-, Zwangsstörung usw.) verursacht erheblichen Leidensdruck und trägt wesentlich zu den bestehenden psychosozialen Funktionsbeeinträchtigungen bei (z. B. verlässt ein Patient mit einer Agoraphobie ohne Begleitung kaum noch das Haus; ein Student mit einer sozialen Phobie kann aufgrund seiner Sprechängste nicht mehr an Seminaren teilnehmen usw.). 5 Der Patient ist in ausreichendem Maße dazu motiviert, seine Störung zu überwinden, und ist bereit, hierfür aktiv mitzuarbeiten. 5 Der Patient ist motiviert, für eine gewisse Zeit stringent und fokussiert an der Bewältigung seiner Störung zu arbeiten.

Problemverständnis sowie zu einer Reduktion der Ängste geführt; bedingt durch Konflikte am Arbeitsplatz kam es jedoch wieder zu einer erneuten Exazerbation der Symptomatik. Die Patientin möchte in der Therapie Möglichkeiten an die Hand bekommen, ihre Ängste zu bewältigen bzw. zu überwinden.

10.2.2  Selbstsicherheitstrainings

5 Es liegen Defizite im Bereich der sozialen Kompetenz vor, denen eine auslösende und aufrechterhaltende Bedingung in Bezug auf die Symptomatik zukommt. 5 Die Teilnehmer haben Defizite in unterschiedlichen Dimensionen der sozialen Kompetenz und sind motiviert, ihr soziales Verhaltensrepertoire zu erweitern. 5 Die sozialen Kompetenzdefizite werden durch Schüchternheit, soziale Gehemmtheit, die Neigung zur Überanpassung und Konfliktvermeidung und/oder fehlende adäquate Modelle in der Lerngeschichte bedingt. Hingegen stehen diese nicht mit narzisstischen, schizoiden oder paranoiden Persönlichkeitszügen in Zusammenhang. Fallbeispiel Eine 24-jährige Pharmaziestudentin befindet sich aufgrund einer sozialen Phobie beim Vorliegen einer selbstunsicher-zwanghaften Persönlichkeitsakzentuierung in Psychotherapie. Nachdem sich die soziale Phobie gebessert und sich damit auch ihr sozialer Aktionsradius vergrößert hat, treten nun die sozialen Kompetenzdefizite deutlich zutage. Die Patientin ist motiviert, an der Verbesserung ihrer sozialen Kompetenz zu arbeiten.

Fallbeispiel Eine 36-jährige verheiratete Arzthelferin leidet seit mehreren Jahren unter zunehmenden agoraphobischen Ängsten und damit einhergehenden Panikattacken. Eine vor zwei Jahren abgeschlossene tiefenpsychologische Therapie hat zwar zu einem vertieften

10.2.3  Psychoedukative,

multimodulare Gruppen

5 Die Teilnehmer können in hohem Maße von der Vermittlung

123 Ambulante verhaltenstherapeutische Gruppentherapie …

kognitiv-behavioraler Therapietechniken profitieren (z. B. Genusstraining, kognitive Umstrukturierung usw.) 5 Es liegen mehrere gering- bis mittelgradig ausgeprägte komorbide Störungen vor, die einen multimethodalen Behandlungsansatz sinnvoll erscheinen lassen. 5 Die Teilnahme an einer transdiagnostisch zusammen gesetzten Gruppe bieten Vorteile für den Patienten. 5 Die Defizite im Bereich der sozialen Kompetenz sind eher geringgradig und punktuell ausgeprägt. Fallbeispiel Ein 43-jähriger geschiedener Industriekaufmann kommt aufgrund einer länger andauernden leichtgradigen Depression und Spannungskopfschmerzen in Psychotherapie. Bereits zu Beginn der Therapie wird deutlich, dass bei dem Patienten Defizite im Bereich der emotionalen Wahrnehmung und des emotionalen Ausdrucks, der Entspannungsfähigkeit und der Stressbewältigung vorliegen. Außerdem hat er erhebliche Schwierigkeiten, sich abzugrenzen und eigene Anliegen durchzusetzen.

Auf weitere relevante Punkte der einzelnen Gruppenformate wird dann im Zusammenhang mit der Beschreibung der Gruppen eingegangen. 10.3  Zusammenstellung der

Gruppe

Wie Burlingame et al. (2003) in ihrer Überblicksarbeit zeigen konnten, sind homogen zusammengestellte Gruppen effektiver als inhomogene. So lag die mittlere Effektstärke der homogenen Gruppe bei 0,56, diejenige der inhomogenen Gruppe bei 0,25. Der Vorteil homogener Gruppen kommt dabei umso mehr zum Tragen, je geringer deren Sitzungsanzahl ist (Yalom und Leszcz 2007). Dabei stellt sich die Frage, in Bezug auf welche Merkmale der Gruppenmitglieder eine

10

Homogenisierung erfolgen sollte. Pauschal lässt sich diese Frage nicht beantworten, sodass Yalom und Leszcz (2007) empfiehlt, die Gruppenmitglieder im Hinblick auf die zentralen Aufgaben, die für eine erfolgreiche Teilnahme an der Gruppe erforderlich sind, zu homogenisieren. An einer störungsspezifischen Gruppe sollten daher nur Patienten teilnehmen, die primär unter derjenigen Störung leiden, für die das Behandlungsmanual konzipiert wurde (diagnostische Homogenisierung). Bei der Zusammenstellung von Selbstsicherheitstrainings oder multimodalen Gruppen kann sich hingegen eine transdiagnostische Zusammensetzung als Vorteil erweisen, da dies u. a. das wechselseitige Modelllernen fördern kann und eine Generalisierung der vermittelten Fertigkeiten und Techniken auf unterschiedliche Problemstellungen erleichtert. Allerdings hat es sich in der Praxis bewährt, nach Möglichkeit mindestens zwei Patienten, die unter der gleichen Störung leiden, in die Gruppe aufzunehmen. Dies gilt umso mehr, je seltener oder schambesetzter die Symptomatik von den Betroffenen erlebt wird (z. B. bei Zwangsstörungen, dem Vorliegen einer Bulimia nervosa usw.). Ansonsten besteht die Gefahr, dass der Betroffene in eine Außenseiterrolle gerät oder aber einen Sonderstatus erhält, was zu einer ungünstigen Gruppendynamik führen kann. Sowohl für multimodale Gruppen als auch für Selbstsicherheitstrainingsgruppen wäre hingegen auf eine (nicht zu strenge) Homogenisierung in Bezug auf die bestehenden Fertigkeitendefizite zu achten, die in der Gruppe bearbeitet werden sollen. Eine Homogenisierung in Bezug auf soziodemografische Merkmale (Geschlecht, Alter usw.) ist bei störungsspezifischen, multimodalen und Selbstsicherheitstrainingsgruppen hingegen nicht erforderlich. Im Gegenteil kann eine heterogene Gruppenzusammenstellung in Bezug auf die genannten Merkmale vorteilhaft sein, da sich hierdurch bestimmte Wirkfaktoren der

124

10

M. Marwitz

Gruppentherapie wie die sogenannte „Universalität des Leidens“, „Unterstützung“ und „Modelllernen“ leichter aktivieren lassen als dies bei soziodemografisch homogenen zusammengestellten Gruppen der Fall wäre. Empfohlen wird außerdem die Realisierung einer Balance von eher extravertierten und emotional expressiven und eher introvertierten und emotional kontrollierten Gruppenmitgliedern (Mattke und Strauß 2012). Eine solche Zusammensetzung wirkt sich in der Regel belebend auf den Verlauf der Gruppe und die Atmosphäre innerhalb der Gruppe aus. Gerade bei der Durchführung einer ambulanten Gruppentherapie sollte von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, die Gruppen sorgfältig zusammenzustellen, da sich hierdurch quasi von selbst eine konstruktive Gruppendynamik einstellt und damit die Gefahr von Therapieabbrüchen minimiert wird. Denn diese wirken sich insbesondere bei geschlossenen  Gruppen ungünstig und oft demoralisierend auf die verbleibenden Gruppenteilnehmer aus. 10.4  Vorbereitung der Teilnehmer

In der Literatur wird eine Vorbereitung potenzieller Gruppentherapieteilnehmer angeraten (Yalom und Leszcz 2007). Die dazu vorliegenden Effektivitätsstudien konnten zwar nicht nachweisen, dass eine solche Vorbereitung einen Effekt auf das Therapieergebnis hat, jedoch hilft eine adäquate Form der Vorbereitung, Therapieabbrüchen vorzubeugen, und trägt außerdem dazu bei, dass sich relativ rasch eine tragfähige Gruppenkohäsion entwickelt (Piper und Perrault 1989). In der ambulanten Praxis ist eine ausreichende Vorbereitung der Gruppentherapieteilnehmer in jedem Fall zu empfehlen. Diese sollte im Wesentlichen drei Themenbereiche abdecken: 1) Der Therapeut sollte auf die wissenschaftlich nachgewiesene Effektivität von Gruppentherapie

hinweisen und den zusätzlichen Nutzen von gruppentherapeutischen Angeboten, gerade auch in Kombination mit Einzeltherapie, hervorheben. Dem Patienten sollte ausführlich die Indikationsstellung für die Gruppentherapie erläutert und mit seinen Therapiezielen und Erwartungen an die Therapie in Zusammenhang gebracht werden. Zugleich sollte auch auf die möglichen Risiken und unerwünschten Nebenwirkungen von Gruppentherapie eingegangen werden. 2) Die Patienten sollten zudem über die Ziele, Inhalte und den Ablauf sowie das Format der Gruppentherapie informiert werden (Anzahl und Dauer der Sitzungen, Anzahl der Teilnehmer, Frequenz usw.). Es sollte auch auf die Notwendigkeit einer aktiven Mitarbeit sowie auf die Bereitschaft, Hausaufgaben zu erledigen, hingewiesen werden. Außerdem sollte der betreffende Patient ausführlich nach seinen bisherigen Erfahrungen mit Gruppen (z. B. während seiner Schulzeit, in Peergruppen usw.) befragt werden. Auf mögliche negative Erfahrungen sollte eingegangen, und mögliche Befürchtungen in Bezug auf die Therapiegruppe sollten besprochen werden. Gelingt es jedoch nicht, die Befürchtungen zu zerstreuen und den Patienten für die Gruppenarbeit ausreichend zu motivieren, gilt es dies zu akzeptieren. Auf jeden Fall sollte darauf verzichtet werden, Patienten für die Teilnahme an einer Gruppe zu überreden, da dies mit einem Risiko eines Therapieabbruchs einhergeht. 3) Schließlich sollten auch die formalen Aspekte im Zusammenhang mit der Teilnahme an einer ambulanten Therapiegruppe besprochen und idealerweise mithilfe einer Therapievereinbarung festgehalten werden. In dieser sollte die Bereitschaft an der regelmäßigen Teilnahme, die Selbstverpflichtung zur Verschwiegenheit, der Umgang mit kurzfristigen Terminabsagen (z. B. die Fälligkeit eines Ausfallhonorars) und das Verhalten im Falle eines vorzeitigen Ausscheidens aus der Gruppe geregelt werden (vgl. Marwitz 2016).

125 Ambulante verhaltenstherapeutische Gruppentherapie …

10.5  Anforderungen an den

Gruppentherapeuten

Die Leitung der soweit beschriebenen Gruppenformate erfordert auf der Seite des Gruppentherapeuten ein aktiv-strukturierendes Leiterverhalten, das bisweilen direktive Züge annehmen kann. Der Therapeut agiert in dieser Art von Gruppen eher pädagogisch bzw. wie ein Lehrer und weniger therapeutisch. Seine Aufgabe besteht darin, bestimmte Lerninhalte zu vermitteln, zu erlebnisintensivierenden Übungen und Verhaltensexperimenten anzuleiten und die Gruppenteilnehmer immer wieder auf die gerade thematisierten Inhalte zu fokussieren. Auch gilt es, therapeutische Hausaufgaben aufzugeben und diese in der Folgesitzung zu besprechen. Je sorgfältiger die teilnehmenden Patienten der Gruppe zusammengestellt und auf die Gruppe vorbereitet wurden, umso einfacher wird sich die Leitung der Gruppe gestalten. Kommt es dennoch zu dysfunktionalen gruppendynamischen Prozessen, so sollten diese frühzeitig angesprochen, begrenzt und auf konstruktive Weise bewältigt werden, ohne dabei den zeitlichen Rahmen der angesetzten Therapie- bzw. Sitzungszeit aus den Augen zu verlieren. Ein entsprechend dominantes Therapeutenverhalten zu realisieren, stellt für Therapeuten bisweilen eine anspruchsvolle Aufgabe dar. Um nicht zu „oberlehrerhaft“ zu wirken, sollte der Therapeut den Gruppenteilnehmern gegenüber die Notwenigkeit seines direktiven Leitungsstils transparent machen und begründen, humorvoll agieren, wo dies angemessen erscheint, und immer wieder auflockernde, spielerische Elemente (z. B. in Form von Interaktionsspielen) einsetzen. Auch erleben die Patienten „ihren“ (Einzel-)Therapeuten in einer anderen Rolle, die unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, dass sie von ihm weniger exklusive Aufmerksamkeit erhalten als sie dies gewöhnt sind. In Abhängigkeit von der Persönlichkeit des Patienten und seinen Beziehungserfahrungen kann

10

dies zu Irritationen, zum  Erleben einer Zurücksetzung und damit verbundener Enttäuschung oder Ärger führen. Um entsprechenden Entwicklungen vorzubeugen, sollte der Therapeut die Gruppenteilnehmer vor Beginn der Gruppe auf den Ablauf der Gruppe und seine Rolle in der Gruppe vorbereiten. Außerdem kann der Therapeut Patienten nach einer Gruppensitzung dezidiert darauf ansprechen, wie es ihnen in der Gruppe ergangen ist, und mögliche Schwierigkeiten im Einzelkontakt mit dem Patienten klären. Anders als sonst im Verlauf einer Gruppentherapie üblich, sollten mögliche Konflikte gerade nicht in der Gruppe ausagiert und thematisiert werden! 10.6  Störungsspezifische Grup-

pen anhand des Beispiels der Depressionsbewältigungstherapie

Etwa die Hälfte aller Patienten, die sich in eine ambulante Therapie begeben, leiden unter einer depressiven Störung. Die meisten von ihnen lassen sich auch im Rahmen einer Gruppentherapie behandeln, vor allem wenn diese in Kombination mit einzeltherapeutischen Sitzungen angeboten wird. Eine entsprechend störungsspezifisch konzipierte Gruppe sollte etwa 12 Sitzungen umfassen und als geschlossene Gruppe mit wöchentlichen Sitzungen angeboten werden. Die Gruppe sollte in einem frühen Therapiestadium angeboten werden. Abgesehen von den probatorischen und vorbereitenden Einzelsitzungen können diese entweder parallel zur Gruppentherapie oder im Anschluss an diese durchgeführt werden. Da die Methoden der Depressionsbewältigung bereits in der Gruppe vermittelt und erprobt wurden, können diese in der Einzeltherapie effektiv genützt werden. Verglichen mit der Einzeltherapie führt die Teilnahme an einer Depressionsbewältigungsgruppe außerdem häufig zu einer schnelleren Stimmungsverbesserung, was auf die intensiver erlebte

126

M. Marwitz

soziale Unterstützung innerhalb der Gruppe, dem Aufbau einer positiven Therapieerwartung sowie der Vermittlung von Hoffnung zurückzuführen ist. Allerdings gelingt dies nur, wenn das Konzept gut durchdacht ist und es gelingt, die gruppenspezifischen Wirkfaktoren durch geeignete Interventionen in ausreichendem Maße zu aktivieren. Auch wenn das Konzept einem kognitiv-behavioralen Ansatz folgt, sollten deshalb auflockerndaktivierende Interventionen zur Anwendung kommen. 10.7  Inhalt und Durchführung der

Depressionsbewältigungsgruppe

10

Was die Inhalte der Gruppe betrifft, so kann man als Therapeut auf eine ganze Reihe von verhaltenstherapeutischen Gruppentherapiemanualen zur Behandlung der Depression rekurrieren oder sich an diesen orientieren (Fiedler 2005). In jedem Fall sollte der Therapeut auch in seinen einzeltherapeutischen Sitzungen auf die Inhalte und Arbeitsmaterialien des Gruppentherapiemanuals zurückgreifen, um auf diese Weise die Synergieeffekte optimal zu nützen. Für die Bearbeitung der individuellen Probleme der Patienten kann der Therapeut dann auf die in der Gruppentherapie vermittelten Inhalte zurückgreifen. Da die Methoden bekannt sind, kann er sich auf die Inhalte konzentrieren, was ein hohes Maß an Flexibilität ermöglicht, ohne dabei die methodische Stringenz zu vernachlässigen. Alternativ kann sich der Therapeut auch an den für die Einzeltherapie konzipierten Manualen von Hautzinger (2010) orientieren. Die Erfahrung zeigt, dass es vor allem vier bis fünf Komponenten sind, die in einer depressionsspezifischen Gruppe berücksichtigt werden sollten: 1. Die Vermittlung eines plausiblen Störungs- und Behandlungsmodells 2. Die Bedeutung positiver Aktivitäten und der Ressourcenaktivierung als Mittel der Stimmungsbeeinflussung

3. Die Bedeutung depressiogener Kognitionen im Rahmen der Depression und deren Modifikation 4. Der dysfunktionale Umgang mit Emotionen (insbesondere mit Ärger und Traurigkeit) und der Erwerb von adaptiven Emotionsregulationsstrategien 5. Alternativ die Verbesserung sozialer vor allem assertiver Fertigkeiten Geht man von 12 Therapiesitzungen aus, so reicht die Zeit jedoch meist nicht dafür aus, dem Training sozialer Fertigkeiten genug Zeit einzuräumen. Idealerweise könnte den Patienten daher angeboten werden, entweder an einem Selbstsicherheitstraining teilzunehmen, oder die Depressionsgruppe könnte zum Zwecke des sozialen Fertigkeitentrainings um weitere sechs bis acht Sitzungen verlängert werden. Was die Inhalte der Depressionsgruppe betrifft, hat es sich hingegen bewährt, sich auf die ersten vier Komponenten zu beschränken. Was den Ablauf angeht, so sollte auch die Durchführung einer manualorientierten Gruppe mehr sein als nur die Durchführung einer Einzeltherapie in Anwesenheit anderer. Auch hier sollten die gruppentherapeutischen Wirkfaktoren gezielt aktiviert und genützt werden, um die zu vermittelnden Inhalte in anschaulicher und „gruppengerechter“ Form darzubieten. Um dies zu ermöglichen, sollten Methoden wie Kleingruppenarbeiten, auflockernde Interaktionsspiele, Fantasiereisen, Verhaltensexperimente, Varianten der Aufstellungsarbeit und kreativ gestaltete Hausaufgaben zur Anwendung kommen. So können etwa die Gruppenmitglieder einer Depressionsgruppe dazu  ermutigt werden, sich im Rahmen einer kurzen Vorstellungsrunde zu Beginn der ersten Gruppensitzung pantomimisch mit einer Aktivität vorstellen, die sie in ihrer Freizeit gerne ausüben. Die Aufgabe der anderen Gruppenmitglieder besteht entsprechend darin zu erraten, um welche Aktivität es sich dabei handelt. So könnte ein Patient, der gerne

127 Ambulante verhaltenstherapeutische Gruppentherapie …

Gitarre spielt, dies in Form einer „Luftgitarre“ andeuten. Diese pantomimische Darstellung von Hobbys lockert die Atmosphäre in der Gruppe auf und ermöglicht zugleich eine erste Ressourcenaktivierung, die im weiteren Sitzungsverlauf vertieft werden kann. Wichtig ist, dass der Therapeut bei dieser Aufgabe mitmacht und als Modell fungiert, indem er als Erster eines seiner Hobbys darstellt. Damit sich die Teilnehmer der Gruppe kennenlernen, könnte dann die „Afrikareise“ (Hillert et al. 2016) durchgeführt werden. Diese wird in Paaren durchgeführt, die der Gruppenleiter zuvor eingeteilt hat. Die Instruktion lautet, dass für eine Reise durch Afrika ein Team zusammengestellt werden soll. Die Aufgabe des Interviewpartners ist es, in dem Paarinterview durch zielgerichtete Fragen an sein Gegenüber herauszufinden, welche Fähigkeiten, Hobbys oder Eigenschaften ihn für die Aufnahme in das Team qualifizieren. Nach dem Interview soll er dann in der Gruppe die Qualitäten seines Interviewers möglichst überzeugend darstellen, um die anderen davon zu überzeugen, dass die vorgestellte Person eine wichtige Aufgabe für eine erfolgreiche Reise durch Afrika übernehmen kann. So könnte ein Patient etwa darauf verweisen, dass sein Interviewpartner gut Gitarre spielen kann, was die Gruppe unterhalten, Kontakt zu Einheimischen herstellen oder durch Straßenmusik eine potenzielle Einnahmequelle darstellen könnte. Hierdurch wird auch der Bezug zur Vorstellungsrunde hergestellt. Gegen Ende der ersten Sitzung könnte der Therapeut dann den Bezug zur Depressionstherapie herstellen und den Teilnehmern die Hausaufgabe aufgeben, Belastungsfaktoren zu notieren, die zur Entstehung der Depression beigetragen haben könnten, um auf diese Weise die nächste Sitzung vorzubereiten. Was die Erarbeitung eines Störungsmodells angeht, so hat sich das Modell eines „Mischfasses der Depression“ als Metapher bewährt. Das Bild geht davon aus, dass verschiedene Komponenten („Flüssigkeiten“,

10

die sich in dem Fass befinden) bei der Entwicklung einer Depression von Bedeutung sind. So kommen beispielsweise genetische Faktoren, depressionsfördernde Einstellungen (z. B. Perfektionismus), mangelnde Selbstfürsorge und Abgrenzungsfähigkeit als Komponenten infrage, die dann im Zusammenspiel mit aktuellen Auslösern wie einer Trennung, dem Verlust einer wichtigen Bezugsperson oder einem Kränkungserleben das Fass zum Überlaufen bringen. Die meisten Patienten können sich in dem Modell gut wiederfinden. Auch können diejenigen Komponenten identifiziert werden, die man nicht verändern kann (z. B. genetische Faktoren) und solche, die sich verändern lassen (z. B. depressogene Einstellungen und Denkmuster) und die damit zu Ansatzpunkten für die Therapie werden. Das Modell und die daraus ableitbaren Therapieziele lassen sich gut in einem Paarinterview erarbeiten, und die anschließende Vorstellung in der Gruppe ermöglicht es, Gemeinsamkeiten zu erkennen, was häufig mit einer Entlastung einhergeht und die auch häufig anzutreffende Bewertung der Patienten, ihre Depression sei Ausdruck eines persönlichen Versagens, relativiert. In den Sitzungen, in denen es um die Aktivierung brach liegender Ressourcen und um den Aufbau positiver Aktivitäten geht, können neben Kleingruppenarbeiten ebenfalls erlebnisaktivierende Methoden  in Form von Fantasiereisen, dem Malen eines Ressourcenbildes oder dem Mitbringen eines Gegenstandes, der symbolisch für ein Hobby steht, das man gerne ausübt (z. B. ein Paddel, bei jemandem, der gerne Kajak fährt) zur Anwendung kommen. Neben der Bearbeitung geeigneter Arbeitsblätter (z. B. des Spaltenprotokolls für die Identifikation negativer automatischer Gedanken) und Hausaufgaben sollten auch beim kognitiven Teil der Gruppentherapie erlebnisaktivierende Methoden eingesetzt werden. So kann man die Gruppenteilnehmer beispielsweise auffordern, die unterschiedlichen

128

10

M. Marwitz

Denkfehler pantomimisch darzustellen, was zum einen der Auflockerung des Gruppenklimas dient, zum anderen dabei hilft, sich die Denkfehler besser einzuprägen. Auch kann ein Patient einige Mitpatienten damit beauftragen, seine typischen negativen Kognitionen auszusprechen und sich dabei im Kreis um einen ausgewählten Stellvertreter zu stellen, der diese Sätze auf sich wirken lässt. Hierdurch wird die destruktive Wirkung solcher „Giftsätze“ unmittelbar erlebbar, und gerade durch die Distanzierung des Fokuspatienten, der selbst nicht an der Intervention teilnimmt, wird ihm diese veranschaulicht. Sollte die Stellvertreterrolle die Gruppenmitglieder überfordern, so kann man alternativ auch einen leeren Stuhl in die Mitte des Kreises stellen. Auch für die Psychoedukation und die Verbesserung emotionaler Kompetenzen lassen sich anregende und erlebnisaktivierende Methoden sowie Papier-und-BleistiftÜbungen gut kombinieren. So kann der Therapeut ein Fußballspiel aufzeichnen (z. B. WM-Spiel) und mit den Gruppenteilnehmern die Sequenzen durchgehen, in denen die Spieler intensive Emotionen zeigen, da diese in der Regel authentisch sind und von den Kameras oft in Nahaufnahmen eingefangen werden. Auf diese Weise lassen sich die Auslöser der Emotionen, deren Ausdruck und Funktion veranschaulichen. Gerade wenn es sich um bekannte Fußballspiele handelt, dürften diese einigen Gruppenmitgliedern bekannt sein, was im Sinn eines Wiedererkennungseffekts von Vorteil ist. Die Gruppentherapie ermöglicht auf diese Weise eine umfangreiche Informationsvermittlung und den Erwerb von Bewältigungsfertigkeiten, auf die der Therapeut dann in der Einzeltherapie zurückgreifen kann. Zugleich hat die Teilnahme an der Gruppe auch für sich genommen einen antidepressiven Effekt und trägt auch zur Aktivierung der Teilnehmer bei, da diese durchweg mehr gefordert werden als dies in der Einzeltherapie der Fall ist.

10.8  Selbstsicherheitstraining

und multimodulare Gruppen

Man kann davon ausgehen, dass rund 60 bis 70 % aller ambulanten Psychotherapiepatienten von der Teilnahme an einem Selbstsicherheitstraining profitieren können. Der Erwerb sozialer Fertigkeiten lässt sich in der Gruppe weitaus besser realisieren als im Einzelsetting. Was die Inhalte und die Durchführung angeht, liegt die Orientierung an dem Manual von Hinsch und Pfingsten (2002) nahe. Abweichend vom Manual hat sich in der ambulanten Praxis jedoch bewährt, anstatt 7 ca. 12 bis 15 jeweils 100-min-Therapiesitzungen durchzuführen. Idealerweise sollten Patienten etwa nach der Hälfte der geplanten Einzeltherapiesitzungen mit dem Kompetenztraining beginnen. Die Einzeltherapie kann hierbei parallel weitergeführt oder auch unterbrochen werden. Auch wenn die Durchführung der Gruppen im geschlossenen Format zu bevorzugen ist, kann es aus rein organisatorischen Gründen auch sinnvoll sein, diese als halboffene Gruppe anzubieten. In diesem Fall könnten drei Blöcke mit je vier Sitzungen angeboten werden, in denen jeweils die drei von Hinsch und Pfingsten beschriebenen Situationstypen (z.  B. Rechte durchsetzen  usw.) bearbeitet werden. In jeder fünften Sitzung (also jeweils zu Beginn eines neuen Blocks) könnten dann neue Patienten aufgenommen werden, die die Plätze der ausgeschiedenen Teilnehmer einnehmen. In jedem Fall sollten bei der Durchführung Rollenspiele mit Videofeedback gearbeitet werden, da sich das als hoch effektiv erwiesen hat. Nach Beendigung des Selbstsicherheitstrainings sollten in jedem Fall noch Therapiestunden des bewilligten Kontingents zur Verfügung stehen, da es durch die Verbesserung der sozialen Fertigkeiten des Patienten in seinem Umfeld nicht selten zu vermehrten Spannungen und Konflikten kommt, die dann in der Einzeltherapie oder auch in Gesprächen mit den Angehörigen (Partner oder Familie) bearbeitet und nach

129 Ambulante verhaltenstherapeutische Gruppentherapie …

Möglichkeit konstruktiv aufgelöst werden sollten. Auch multimodulare Gruppen bereichern die Einzeltherapie und können dazu beitragen, deren Effektivität zu erhöhen. Auch hier ist es günstig, ca. 12 bis 15 Gruppensitzungen anzubieten, in denen unterschiedliche Therapietechniken vermittelt werden. Thematisch bieten sich hierbei Methoden an, die der Verbesserung der Selbstregulation bzw. der Selbstkontrolle in unterschiedlichen Funktionsbereichen dienen (z. B. Selbstwertund Emotionsregulation, Selbstbeobachtung und Achtsamkeit usw.). Die Teilnahme an solch einer Gruppe ist am ehesten in einer frühen Phase der Therapie indiziert oder auch als Vorbereitung auf die Einzeltherapie, z. B. um die Wartezeit auf einen entsprechenden Therapieplatz zu nützen. Auch hier bietet es sich an, die Gruppe in einem halboffenen Format anzubieten, und immer dann neue Gruppenteilnehmer aufzunehmen, wenn ein Themenblock abgeschlossen wurde und diejenigen Teilnehmer ausscheiden, die alle Blöcke durchlaufen haben. Auch ist eine Kombination aus einer störungsspezifischen oder modularen Gruppe mit einem nachgeordneten sozialen Kompetenztraining möglich und dürfte in Kombination mit der Einzeltherapie für nicht wenige Patienten sogar effektiver sein. Ambulant tätige Psychotherapeuten sollten daher verschiedene Gruppenformate in ihrer Praxis anbieten, um auf diese Weise ihren Patienten eine möglichst optimale Therapiekombination anbieten zu können.

10

Literatur Burlingame, G. M., Fuhriman, A., & Mosier, J. (2003). A meta-analytic review. Group Dynamics: Theory, Research, and Practice, 7, 3–12. Burlingame, G. M., Strauss, B., & Joyce, A. S. (2013). Change mechanisms and effectiveness of small group treatments. In M. Lambert (Hrsg.), Bergin & Garfields handbook of psychotherapy and behavior change (6. Aufl., S. 640–689). New York: American Group Psychotherapy Association. Fiedler, P. (2005). Verhaltenstherapie in Gruppen. Psychologische Psychotherapie in der Praxis (2. Aufl.). Weinheim: Beltz PVU. Hautzinger, M. (Hrsg.). (2010). Kognitive Therapie der Depression (5. Aufl.). Weinheim: Beltz. Hillert, A., Lehr, D., Koch, S., Bracht, M., Ueing, S., Sosnowsky-Waschek, N., & Lüdtke, K. (2016). Lehrergesundheit: AGIL – das Präventionsprogramm für Arbeit und Gesundheit im Lehrerberuf (2. Aufl.). Suttgart: Schattauer. Hinsch, R., & Pfingsten, U. (2002). Gruppentraining sozialer Kompetenzen GSK. Grundlagen, Durchführung, Anwendungsbeispiele (4. Aufl.). Weinheim: Beltz PVU. Marwitz, M. (2016). Verhaltenstherapeutische Gruppentherapie. Grundlagen und Praxis. Göttingen: Hogrefe. Mattke, D., & Strauß, B. (2012). Indikation, Prognose, Vorbereitung und Zusammensetzung von Therapiegruppen. In B. Strauß & D. Mattke (Hrsg.), Gruppenpsychotherapie. Lehrbuch für die Praxis (S. 59–66). Berlin: Springer. McRoberts, C., Burlingame, G. M., & Hoag, M. J. (1998). Comparative efficacy of individual and group psychotherapy. A meta-analytic perspective. Group Dynamics, 2(2), 101–117. Piper, W. E., & Perrault, E. L. (1989). Pre-therapy preparation for group members. International Journal of Group Psychotherapy, 39, 17–34. Yalom, I. D., & Leszcz, M. (2007). Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Ein Lehrbuch (9. dt. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.

131

Kombination von Einzel- und Gruppenpsychotherapie Inhaltsverzeichnis Kapitel 11 Tiefenpsychologisch fundierte Gruppen in der Richtlinientherapie – 133 Friederike Tamm-Schaller Kapitel 12 Ein drittes Setting der ambulanten Psychotherapie – Einzeltherapie und Gruppentherapie in Kombination – 145 Dorothe Türk Kapitel 13 Kombinierte psychodynamische Gruppen- und Einzelpsychotherapie – 155 Bernd Klipp Kapitel 14 Die Kombination Einzel- und Gruppentherapie: In der Theorie akzeptiert – in der Praxis vielschichtig – 165 Michael Marwitz und Christiane Pennecke

V

133

Tiefenpsychologisch fundierte Gruppen in der Richtlinientherapie Kombination Einzel- und Gruppentherapie Friederike Tamm-Schaller

11.1 Vorbemerkung zu meiner Praxisorganisation – 134 11.2 Auswahl der Gruppenteilnehmer – 135 11.2.1 Beispiele für Sonderformen – 136

11.3 Wem schlage ich eine Gruppentherapie vor? – 137 11.4 Gruppenvorbereitung (Aufklärung über Regeln, Vertrag, Beantragung) – 138 11.5 Inhalt, Form und Struktur der Gruppe – 139 11.5.1 Aufnahme- und Verabschiedungsritual – 139 11.5.2 Struktur der Gruppensitzung – 141

Literatur – 143

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_11

11

134

F. Tamm-Schaller

11.1  Vorbemerkung zu meiner

Praxisorganisation

Wie gewinne ich die Gruppenteilnehmer? Häufig bekomme ich von Kollegen zu hören: „Ich würde ja gerne Gruppen anbieten, aber meine Patienten wollen alle nur Einzeltherapie!“ Möglichkeiten, wie es gelingen kann, die Patienten von der Gruppenteilnahme zu überzeugen, werden im Text erläutert.

11

Alle Patienten, die zunächst über die Sprechstunden und dann die probatorischen Sitzungen in eine Behandlung aufgenommen werden, erhalten zunächst eine ­Einzel-Kurzzeittherapie in variabler Länge. Hierbei ist neben der gründlichen anamnestischen Exploration und Klärung des Therapieziels das Entwickeln einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung entscheidend. Wenn in der Einzeltherapie in der Dyade ein ausreichendes epistemisches Vertrauen hergestellt werden konnte (Fonagy und Allison 2014; König 2012), sind die Patienten meist auch bereit Vorschlägen zur Gruppen-Weiterbehandlung zu folgen. Der von Peter Fonagy und Eia Asen vom A ­nna-Freud-Center in London entwickelte Begriff („epistemic trust“) wird in Zusammenhang mit individuellen Bindungserfahrungen gesehen. Epistemisches Vertrauen Unter epistemischem Vertrauen wird die Bereitschaft verstanden, die jeweilige Bezugsperson als sichere und authentische Informationsquelle annehmen zu können (Schultz-Venrath und Felsberger 2016).

Übertragen auf die Arzt-Patienten-Beziehung zeigen Untersuchungen (Dittrich 2017; Sperber et al. 2010), dass die Bereitschaft sich auf eine Therapie einzulassen und sich zu öffnen, ganz wesentlich davon abhängt, ob der Patient seinem Therapeuten als zuverlässige,

sichere, kompetente und authentische Autorität vertraut. Ist die therapeutische Beziehung in dieser individuellen Vorbehandlung stabil gewachsen und haben die durch ungünstige Bindungserfahrungen beeinträchtigten Patien­ ten ihre epistemische Skepsis durch die empathische Resonanz eines verständnisvollen Gegenübers in eine situationsangemessenere Wachsamkeit weiterentwickelt, erlebe ich in der Regel eine große Bereitschaft, sich auf das Gruppenexperiment einzulassen. Hilfreich ist dabei meine Zusicherung, in Krisenfällen in die vertraute Dyade zurückkehren zu können. Das ist nur selten wirk-

lich notwendig, erleichtert aber den Patienten die Entscheidung für die Gruppe, weil sie sich therapeutisch sicher gebunden fühlen können. Die Reform der Richtlinientherapie mit der Möglichkeit der kombinierten Beantragung ist daher eine wirksame Verbesserung für die Praxis. Diese Vorbehandlung dient damit drei wesentlichen Voraussetzungen für eine eventuell nachfolgende Gruppentherapie: 5 Gründliche Anamnese mit gemeinsamer Erarbeitung der Psychodynamik 5 Klärung des Therapieziels 5 Entwicklung eines größtmöglichen epistemischen Vertrauens

Damit ist auch deutlich, dass je nach früheren Bindungserfahrungen die Vorbehandlung unterschiedlich lange Zeit benötigt. Ein Mensch mit traumatischen frühen Bindungserlebnissen und einem schwachen Strukturniveau benötigt unter Umständen sogar eine Langzeittherapie in Einzelarbeit, bis die Voraussetzungen für eine weiterführende Gruppentherapie gegeben sind. Andere Patienten, die unter günstigeren Bedingungen aufgewachsen sind, kommen vielleicht mit sehr wenigen Einzelsitzungen aus, bis sie für eine Gruppentherapie bereit sind. Und wieder andere Patienten kommen inzwischen sogar schon mit dem Wunsch nach Gruppentherapie in die Sprechstunde, weil sie bereits gute Erfahrungen mit Gruppen in

135 Tiefenpsychologisch fundierte Gruppen in der Richtlinientherapie

einer Tagesklinik machen oder von ehemaligen Gruppentherapie-Patienten überzeugt werden konnten. Hilfreich für die Motivierung ist auch folgendes Vorgehen: Viele Patienten sind nach der Gruppentherapie bereit, über ihre Erlebnisse in der Gruppe zu berichten. Sie erinnern sich an ihre eigenen Ängste vor der Gruppe und möchten dazu beitragen, es zukünftigen Gruppenmitgliedern leichter zu machen, sich auf eine Gruppentherapie einzulassen. Patienten, die unter ausgeprägten sozialen Ängsten leiden und daher besonders große Vorbehalte haben, erhalten daher von mir anonymisierte Erfahrungsberichte von ehemaligen Patienten, die von ihrer Erkrankung und Lebenssituation in etwa vergleichbar sind. Das hat sich als besonders überzeugend und ermunternd erwiesen. Monika M., Krankenschwester, 59 Jahre, verheiratet, zwei Kinder, rezidivierende depressive Störung: „Nach vielen Einzeltherapiesitzungen machte mir Fr. Dr. T.-Sch. den Vorschlag, an einer Gruppentherapie teilzunehmen. Ich konnte mich mit dem Gedanken nur sehr schwer anfreunden, mit Fremden über meine Probleme zu sprechen. Denn genau das war eines meiner größten Probleme, vor anderen zu reden: Ich habe mich nie getraut, meine Meinung zu sagen, von anderen etwas zu verlangen, lieber hab’ ich auf der Arbeit alles selber gemacht, nie nein gesagt, um Konflikten aus dem Weg zu gehen und es jedem recht zu machen. Zur ersten Gruppenstunde war ich fürchterlich aufgeregt, ich hatte Angst, dass mich jemand kennt. Es stellte sich heraus, alle hatten die gleichen Ängste, und nach kurzer Zeit hatte ich Vertrauen zu den Teilnehmern. Ich habe mich auf die Therapiestunde gefreut, es war, wie wenn man Freunde trifft und ich habe mich nicht mehr geschämt, über mich zu sprechen. Ich wurde von den anderen akzeptiert und ernst genommen, auch wenn ich mich manchmal nicht so gewählt ausdrücken konnte ... Heute nach 4-jähriger Behandlung bin ich stolz auf mich, dass ich mein Leben wieder positiv sehe.“

11

Durch gründliche Vorbehandlung und größtenteils gefestigte therapeutische Bezie hung zu den einzelnen Gruppenpatienten ist die Abbruchquote in meinen Gruppen außerordentlich gering, was der Kontinuität der Gruppenarbeit und der P ­ raxis-Organisation sehr entgegenkommt. Nach der Einzeltherapie wird für die Gruppentherapie ein gutachtenpflichtiger Umwandlungsantrag für die maximal mögliche Gruppendauer in diesem Bewilligungsschritt verfasst. Dabei wird nach den neuen, seit April 2017 geltenden Therapierichtlinien die Kombination mit Einzelsitzungen bei vorwiegender Gruppentherapie beantragt. Dadurch kann ich als Therapeut flexibel auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten eingehen, ohne nachrechnen und befürchten zu müssen, dass das maximale 1:10-Verhältnis ­ von Gruppentherapie zu Einzeltherapie vielleicht nicht immer eingehalten wurde. 11.2  Auswahl der

Gruppenteilnehmer

Wie stelle ich die Gruppe zusammen, d. h. nach welchen Kriterien mische ich die Teilnehmer? Mit welchen Übertragungsbeziehungen muss ich dabei rechnen? Weiterhin werden Sonderformen von homogenen Themengruppen vorgestellt.

Grundsätzlich werden die Gruppenteilnehmer nach Geschlecht, Alter und sozialökonomischem Status heterogen ausgewählt, sodass eine möglichst natürliche, dem realen sozialen Umfeld der Teilnehmer entsprechende Situation entsteht, um den Transfer ihrer neuen Erfahrungen in die Außenwelt zu erleichtern. In meinen Gruppen findet sich also eine Mischung aus Störungsbildern, Diagnosen, persönlichkeitsstrukturellen Funktionsniveaus und soziodemografischen Merkmalen, wie es für die ambulante Versorgung hierzulande typisch ist (Mattke und Strauß 2012).

136

F. Tamm-Schaller

Konflikthafte Themengebiete können in der bunt gemischten Gruppe tiefenpsychologisch häufig sehr gut bearbeitet werden, weil die soziografisch heterogenen Gruppenmitglieder vielfältige Übertragungspotenziale (Kinder, Mütter, Väter) anbieten, die nicht selten eine plastische, für die Betroffenen leichter verstehbare Deutung und damit hilfreiche Lösung ermöglichen. Die Teilnehmer erhalten durch die Heterogenität ihrer Zusammenstellung realitätsnahe pluralistische Rückmeldungen über ihre Wirkung nach außen, die häufig in deutlichem Gegensatz zu ihrem Selbstbild stehen. Sie lernen sich in diesem Experimentierfeld selbst mit den Augen anderer zu sehen, sodass ihre Mentalisierungsfähigkeit ­(Schultz-Venrath und Felsberger 2016) nachhaltig gefördert werden kann.

11

Angelika B., 38  Jahre, kaufmännische Angestellte, verheiratet, rezidivierende depressive Störung, soziale Phobie: „Ich fühlte mich als angenommener und integrierter Teil der Gruppe. Das tat gut. Nachdem ich anfangs eher zurückhaltend war, traute ich mich vermehrt, mich einzubringen. Es bestärkte mich zu erfahren, dass meine Meinung durchaus geschätzt war und ich mit meinen Empfindungen einen wertvollen Beitrag leisten konnte. In den regelmäßigen Reflektionen bekam ich widergespiegelt, wie ich auf andere wirke. Das war sehr wertvoll und interessant, auch wenn – oder gerade, weil – es in einigen Teilen von meiner eigenen Einschätzung abwich. Nach und nach baute ich mehr Vertrauen in mich auf. Es gab Situationen, da spürte ich richtig, was in einem anderen Gruppenteilnehmer/in (unbewusst innerlich?) vorging, auch wenn diese/r einen Sachverhalt recht nüchtern erzählte. Mit meiner Einschätzung lag ich oft richtig, was mich stärkte, vermehrt auf mich und mein Bauchgefühl zu hören.“

Nach meiner Erfahrung arbeitet die Gruppe umso produktiver, je vielfältiger die eingebrachten Erlebnisse und Gedanken dazu

sind, solange das „Arche Noah-Prinzip“ eingehalten wird, was bedeutet, dass  keiner der Gruppenteilnehmer ein soziales Alleinstellungsmerkmal aufweist, das ihn von der Gruppe isoliert (z. B. ein einziger Mann unter Frauen, ein einziger Teilnehmer mit großem Altersabstand zu den anderen Teilnehmern, der einzige  Nichtakademiker unter Hochschulabsolventen etc.). 11.2.1  Beispiele für Sonderformen

Frauengruppe Eine Ausnahme von dieser Regel ist meine kontinuierlich laufende Frauengruppe. Da Frauen zu einem Drittel häufiger psychotherapeutische Hilfe suchen  als Männer, bietet es sich an, für bestimmte Fragestellungen eine hinsichtlich des Geschlechts homogene Frauengruppe zu bilden. Die Frauengruppe, die wiederum hinsichtlich ihrer Altersstruktur gemischt ist, sodass junge und ältere Frauen aus unterschiedlichen Richtungen auf das Leben schauen, hat eine andere Dynamik und andere Themen als eine gemischte Gruppe. Hier können Frauen ihre geschlechtsspezifischen Herausforderungen aus Sexualität, Geburt, Wochenbett und Klimakterium, sowie partnerschaftliche Aspekte in einer Offenheit miteinander austauschen, wie es in einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe niemals möglich wäre. Hier ist vor allem an sozial geächtete oder tabuisierte Gefühle gedacht, die in der Intimität des gleichgeschlechtlichen Raumes Akzeptanz finden, wie z. B. Schwierigkeiten in der emotionalen Annahme eines Kindes, außereheliche Beziehungen, Probleme mit der eigenen Sexualität, Veränderungen des Körpers, Krankheit und Tod des Partners etc. Obwohl die Männer aus dieser Gruppe ausgeschlossen sind, sind wirksame Übertragungen möglich, weil es trotzdem „Geschwister“ und „Mütter“ gibt. Da sehr häufig bei den Patientinnen problematische Mutterbeziehungen zu den zur Therapie führenden Störungen beigetragen haben, kann es sehr heilsam sein,

137 Tiefenpsychologisch fundierte Gruppen in der Richtlinientherapie

eine wohlwollende „Mutter“ in der Gruppe zu erleben und dieses Wohlwollen auch annehmen zu können, ohne es als Fortsetzung der pathologischen Abwehr immer wieder misstrauisch hinterfragen zu müssen. Ein weiterer Vorteil der reinen Frauengruppe ist ganz praktischer Natur: Viele Frauen arbeiten in Teilzeit oder sind nach wie vor gar nicht berufstätig, sodass es möglich ist, eine Vormittagsgruppe anzubieten, was mir im Arbeitsalltag sehr entgegen kommt.

Mütter von psychisch kranken Kindern Zufällig ergab es sich, dass ich mehrere Frauen mit erwachsenen psychotisch erkrankten Söhnen und Töchtern in Behandlung hatte. Alle hatten infolge der Erkrankung ihrer Kinder eine Anpassungsstörung mit ängstlichen und depressiven Symptomen entwickelt. Die Frauen hatten sich mit ihren Sorgen immer mehr isoliert, weil sie sich aus Scham, in ihrer Mutterrolle versagt zu haben oder dem Gefühl, andere nicht belästigen zu wollen, in ihren jeweiligen sozialen Umfeldern nicht öffneten. In der niederfrequent alle 4 Wochen stattfindenden Gruppe fanden sie Entlastung und Trost, die Krankheit ihrer Kinder nicht länger als eigenes Versagen zu erleben, aber auch die Ermutigung, ihr eigenes Leben wieder bewusster anzugehen und eigene Bedürfnisse nicht mehr zu vernachlässigen. Hier erwies sich eine KZT als ausreichend, die Teilnehmerinnen zu stabilisieren. 11.3  Wem schlage ich eine

Gruppentherapie vor?

Fast alle Störungsbilder entwickeln sich in einem sozialen Kontext, und nahezu alle Patienten beziehen ihren Leidensdruck aus der sozialen Interaktion, auch wenn diese Tatsache nicht immer dem Bewusstsein zugänglich ist. Daher ist auch der soziale Raum der Gruppe bei den meisten Patienten

11

notwendiger Experimentierraum für neue Erfahrungen und Verhaltensweisen. Das gilt natürlich genauso für die Einzeltherapie, nur dass in der Gruppenbehandlung der Vorteil besteht, dass die Patienten diese neuen Verhaltensweisen nicht allein gelassen in ihrem realen sozialen Umfeld wagen müssen, sondern in einem therapeutisch geschützten Raum ausprobieren können. So muss die Frage also eher lauten: Wer ist nicht für die Gruppentherapie in meiner Praxis geeignet? Voraussetzung für die Teilnahme an einer Gruppe in meiner Praxis ist zunächst, dass für einen länger absehbaren Zeithorizont kein Ortswechsel vorgesehen ist, keine Schichtarbeit oder fehlende Kinderbetreuung der notwendigen Teilnahme-Kontinuität entgegensteht und die Praxis gut erreichbar ist, d. h. diese basalen Voraussetzungen müssen gegeben sein. Das klingt banal, ist aber nicht selten Grund für einen Gruppenausschluss, etwa bei Studenten, die absehbar ihr Studium beenden, Krankenschwestern in Wechselschicht, unzumutbar lange Anfahrtswege, Firmenbeschäftigte mit häufigen Auslandsreisen etc. Außerdem halte ich Patienten für nicht gruppentherapiegeeignet, die durch anhaltende traumatische Ereignisse in eine Labilität geraten sind, die wesent-

lich für die derzeitige affektive Beeinträchtigung ist. So ist es beispielsweise m. E. nicht zumutbar, dass eine ungewollt kinderlose Frau, die mehrere Totgeburten zu verkraften hatte, in einer Gruppe immer wieder ihre Geschichte referieren muss, was bei jeder neuen Vorstellungsrunde in einer ­Slow-open-Gruppe erwartet würde. Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung muss also individuell abgewogen werden, ob das Therapieziel mit Gruppentherapie realistisch erreichbar ist oder eher einer schädlichen Retraumatisierung Vorschub leistet. Selbstredend sind auch alle Patienten, die im öffentlichen Leben stehen und von lokaler Prominenz sind, nicht für eine Gruppentherapie vor Ort geeignet.

138

11

F. Tamm-Schaller

Hinsichtlich der Diagnosen müssen die Patienten grundsätzlich in der Lage sein, die Komplexität der Eindrücke in der Gruppe in einem angemessenen Spannungszustand verarbeiten zu können, ohne z. B. in selbstverletzende oder gar suizidale Krisen zu geraten oder psychotisch zu dekompensieren. Für die Beurteilung einer ausreichenden psychischen Stabilität hilft mir die oben beschriebene einzeltherapeutische Vorbehandlung sehr. Sie erlaubt mir größere Sicherheit in meinen eigenen Interventionen, weil nicht nur die Patienten Vertrauen in mich gewonnen haben, sondern ich auch Vertrauen in die individuelle psychische Belastbarkeit der Teilnehmer entwickeln kann. Außerdem ist die seit dem 01.04.2017 nach den Richtlinien neu geschaffene Möglichkeit, in Krisenfällen unbürokratisch Einzelsitzungen anbieten zu können, von unschätzbarem Wert. Allein das Wissen um die Möglichkeit entlastet die Patienten beim Wechsel von der Einzeltherapie in die Gruppentherapie von ihrer Angst, in einer möglichen Notsituation zukünftig zu wenig Raum und Unterstützung zu bekommen. Erfahrungsgemäß ist es dann in der Praxis kaum nötig, von diesem Angebot auch Gebrauch zu machen. 11.4  Gruppenvorbereitung (Auf-

klärung über Regeln, Vertrag, Beantragung)

Die Patienten erhalten nach zunächst mündlicher Aufklärung von mir ein Merkblatt, das sie mit nach Hause nehmen und in Ruhe studieren können. In der Folgesitzung werden dann Fragen geklärt, die sich aus dem Gelesenen ergeben. In dem Merkblatt wird auf die Wirkfaktoren und die Zielsetzung hingewiesen, und es werden die Gruppenregeln hinsichtlich Vertraulichkeit und regelmäßiger Teilnahme und aktiver Mitarbeit erläutert. Ich orientiere mich dabei an dem Vorschlag aus dem Lehrbuch von I.D. Yalom (Yalom 2010),

wobei ich die Formulierungen an die Erfordernisse meiner Praxis angepasst habe. Mitunter führt es zu Irritationen, dass eine Bereitstellungsgebühr vorgesehen ist, wenn die Patienten an Gruppensitzungen nicht teilnehmen, obwohl sie doch „rechtzeitig“ absagen. Nachdem durch die neue Vergütungsregelung kleinere Gruppen bessergestellt werden, spielt der ökonomische Ausfall keine so große Rolle mehr – aber die Gebühr hat auch einen disziplinierenden Effekt. Obwohl meine Patienten in der Regel finanziell gut gestellt sind und die Gebühr in Höhe eines Drittels des Kassensatzes ohne Weiteres bezahlen können, hilft die Gebühr in Erinnerung zu rufen, dass da ein freier Stuhl auf sie wartet, sie vermisst werden und ihr Fehlen eine Konsequenz hat. Die Gebühr wertet die Gruppe auf (was nichts kostet, ist nichts wert) und fördert sicherlich die regelmäßige Teilnahme, was für die Entwicklung der Kohäsion unbedingt erforderlich ist. Im Einzelfall vereinbare ich für finanzschwache Patienten Sonderkonditionen oder verzichte auf die Rechnungsstellung, sodass die Gebühr sicherlich kein Hindernis für die Teilnahme darstellt. Besonders viel Wert lege ich auf die Tatsache, dass in der Gruppe nicht nur die Schwierigkeiten, sondern auch Stärken und Fähigkeiten ihren Platz finden und damit jeder Teilnehmer auch zum Ko-Therapeuten für die anderen Patienten wird. Damit versuche ich auch, der gängigen Sorge, die Therapeutin mit „so vielen Geschwistern teilen zu müssen“, den Wind aus den Segeln zu nehmen – meist jedoch nur mit mäßigem Erfolg. Die wirkliche Überzeugung erfolgt in der Regel erst mit dem aktiven Erleben in der Gruppe. Die Aufklärung über die Vertraulichkeit und die Bereitstellungsgebühr lasse ich von den Patienten in einem gesonderten Formular unterschreiben, um die Bedeutung zu unterstreichen und den rechtlichen Anforderungen Genüge zu tun.

139 Tiefenpsychologisch fundierte Gruppen in der Richtlinientherapie

11.5  Inhalt, Form und Struktur

der Gruppe

Was macht die Gruppe und wie sieht die eigentliche Arbeit praktisch und inhaltlich aus? Struktur der Gruppensitzungen sowie eine Methode zur Aufnahme und Verabschiedung von Gruppenmitgliedern werden vorgestellt.

Meine Praxis hat ein Einzugsgebiet von ca. 1  Mio.  Einwohnern, sodass die Wahrscheinlichkeit, dass sich Teilnehmer aus der Außenwelt bereits kennen, wie das in kleinstädtischen Strukturen fast unausweichlich ist, gering ist. Dennoch kommt es manchmal vor, dass neue Teilnehmer bei der ersten Gruppensitzung auf Bekannte stoßen. Bisher ließ sich das problemlos lösen, indem der neue Teilnehmer dann in eine andere Gruppe wechseln konnte, oder beide feststellten, dass sie für den gemeinsamen Verbleib ausreichend Vertrauen in die gegenseitige Verschwiegenheit haben. Angelika B., 38 Jahre, kaufmännische Angestellte, verheiratet, rezidivierende depressive Störung, soziale Phobie: „Meine Therapeutin schlug mich für die Gruppentherapie vor. Einerseits empfand ich das wie einen ‘Genesungsschritt‘ und freute mich. Andererseits wusste ich nicht ‚was‘ und vor allen Dingen auch ‚wer‘ mich erwartete. Was ist, wenn ich jemanden kenne oder wir uns später auf der Straße sehen? Hab ich dann ein Schild auf dem Kopf: ‚Die ist bei der Gruppentherapie?‘ Ich ließ mich darauf ein und kam gespannt und nervös zum ersten Termin. Prompt sitzt im Raum eine Person, die ich tatsächlich entfernt durch meinen Beruf kenne. Ich fasse mich kurz: Wir hatten nach der ersten Sitzung ein Gespräch, und schnell haben wir beide realisiert, dass wir ja im selben Boot sitzen. Wir haben zugestimmt, weiterhin in derselben Gruppe bleiben zu wollen. Es war nie ein Problem gewesen.“

Die Durchführung erfolgt in Form sogenannter Slow-open-Gruppen, d.  h. Therapiegruppen, bei denen die Verweildauer der Teilnehmer

11

individuell nach ihren Bedürfnissen abgestimmt und die Plätze ausscheidender Mitglieder fortlaufend neu besetzt werden. Dadurch wird eine relativ hohe Gruppenkonstanz erreicht, was die Vertrautheit untereinander und damit ein offenes Gruppenklima erheblich begünstigt. Durch die regelmäßige Aufnahme neuer Mitglieder und Verabschiedung vertrauter Personen aus der Gruppe werden auch Lösungs- und Kennenlernprozesse wiederholt durchlebt und damit die Bindungsfähigkeit verbessert. 11.5.1  Aufnahme- und

Verabschiedungsritual

Für die Aufnahme neuer Mitglieder hat sich bewährt, die Verabschiedung und die Neuaufnahme überlappen zu lassen, d. h. das neue Gruppenmitglied quasi als „Gast“ der Verabschiedung seines Vorgängers beiwohnen zu lassen. Das hat mehrere Vorteile: Die Zuschauerrolle ist zunächst entängstigend. Die Gruppe ist mit der Verabschiedung des vertrauten Gruppenmitglieds völlig in Anspruch genommen und aufgeregt mit sich selbst beschäftigt. Viele Teilnehmer sind auch wehmütig und traurig, einen Menschen zu verabschieden, den sie gut kennengelernt haben, der ihnen vertraut ist und den sie zukünftig vermissen werden, was in der Wärme der Verabschiedung spürbar wird, sodass das neue Mitglied einen Vorgeschmack davon bekommt, in welchem Klima es aufgenommen werden könnte. Andererseits gibt es bei dem ausscheidenden Mitglied neben der Wehmut auch eine Vorfreude und gespannte Erregung, zukünftig ohne die Gruppe auszukommen. Der „Zauber, der jedem Anfang innewohnt“ (frei nach Hermann Hesse), ist bei dem Verabschiedeten daher oft zu spüren, mit einem Stolz über das Erreichte, was bei der feierlichen Verabschiedung von der Gruppe ausgiebig gewürdigt wird. In der

140

11

F. Tamm-Schaller

Regel hat ein Patient, der die Gruppe verlässt, circa zwei Jahre Gruppentherapie hinter sich und ein entsprechend sicheres Auftreten und strahlt ein Selbstvertrauen aus, das aus der Therapie im geschützten Rahmen gewachsen ist. Damit hat der Neuankömmling, der als stiller Beobachter die Szene zunächst von außen wahrnimmt, eine positive Vorbildperspektive: „So könnte ich auch eines Tages aus der Gruppe gehen!“ Ein weiterer Vorteil für die überlappende Aufnahme ergibt sich aus dem Abschiedsritual, was sich über die Jahre meiner Gruppenbehandlung etabliert hat. Jeder Gruppenteilnehmer gibt dem ausscheidenden Mitglied nochmal eine zusammenfassende Rückmeldung über besondere Eigenheiten und Stärken, sowie persönliche Wünsche mit. Das kann einfach mündlich oder mit einer Karte geschehen, auf die die Rückmeldungen geschrieben werden. Die Karte ist für den Patienten, der die Gruppe verlässt, besonders schön, weil er damit gebündelte Erinnerungen an seine Stärken bekommt, die er sich hervorholen kann, wenn es ihm zukünftig einmal nicht so gut geht. Der Ausscheidende wiederum gibt jedem Gruppenteilnehmer zum Abschied sein eigenes Feedback, wie er ihn im Gruppenverlauf erlebt hat, welche Entwicklung er mitverfolgt hat. Dabei sind die abschiedsnehmenden Teilnehmer oft sehr fantasievoll, indem sie z. B. für ihre letzte Gruppensitzung eigene Karten für ihre Mitpatienten vorbereiten und jedem einen passenden Spruch, eine Charakterisierung, ein Bild, oder ein kleines Geschenk mitgeben. Da diese Rückmeldungen nacheinander von jedem Teilnehmer an den Ausscheidenden und umgekehrt gerichtet vorgetragen werden, erfährt der Neuankömmling eine Menge über die Eigenschaften der Gruppenmitglieder, ohne seine geschützte Zuschauerrolle zunächst verlassen zu müssen und wird dadurch mit weniger Angst in die nächste Gruppensitzung gehen.

Der Ritus mit der Karte gibt mir in der Therapeutenrolle aufschlussreiche Hinweise über die soziale Kompetenz der Teilnehmer. So ist immer wieder erstaunlich, wie manchmal durchaus sehr beredte Teilnehmer große Schwierigkeiten haben, einem ausscheidenden Mitglied persönliche freundliche Worte aufzuschreiben und verlegen und beschämt ohne Karte dasitzen, während stille Teilnehmerinnen oft sehr kreative und hilfreiche Rückmeldungskarten schreiben, die eine kommunikative Tiefe offenbaren, die bei der Teilnahme zu wenig sichtbar war und im Verlauf dann besser gefördert werden kann. Gerade Männern fällt es oft schwer, diese freundliche Geste, die eine wichtige soziale Kompetenz bedeutet, zu realisieren, weil ihnen der Mut zur emotionalen Offenheit fehlt, und es gehört zu den besonders schönen Gruppenerlebnissen, wenn es ihnen im Laufe der Zeit dann gelingt, wie selbstverständlich an der Verabschiedung mitzuwirken. Siegfried M., 63 Jahre, Ingenieur, verheiratet, drei  Kinder, Krebserkrankung, schwere depressive Episode: „Aus den Situationen der anderen, ihren Sichtweisen und Problemen konnte ich für meine eigene Situation Schlüsse ziehen, was ich als sehr hilfreich empfunden habe und auch als entlastend, weil es mir das Gefühl gab, mit meinen Problemen nicht alleine zu stehen. Aber ich konnte dadurch auch mein Verhalten überdenken und ändern. Gegenüber meinen Kindern und meiner Frau habe ich gelernt, offener zu sein und meine Gefühle zu zeigen, das hat unser Familienleben positiv verändert. Es war auch ein sehr schönes Gefühl, über meine Erfahrungen zu sprechen und diese weiterzugeben. Zu sehen, wie diese gehört und bedacht wurden, was meinem Selbstwertgefühl guttat. Die Rückmeldungen der anderen gaben mir einen Blick auf mich – einen anderen Blick, als ich selbst hatte. Ich kann mich und meine Situation jetzt besser akzeptieren und habe mehr Vertrauen zu mir und zu den anderen.“

141 Tiefenpsychologisch fundierte Gruppen in der Richtlinientherapie

11.5.2  Struktur der

Gruppensitzung

Nahezu jede Gruppe beginne ich mit einem Blitzlicht mit dem Ziel, einen Eindruck über die aktuelle Befindlichkeit aller Teilnehmer zu gewinnen. Das hat den Hintergrund, dass ich in der ambulanten Gruppe, aus der jeder Teilnehmer hinterher in den Abend verschwindet, niemanden übersehen möchte, der vielleicht mit einem großen Problem hinter dem Berg hält. Jeder soll zumindest die Chance bekommen, persönlich angesprochen und gesehen zu sein. Da der Großteil der Patienten an depressiven Erkrankungen leidet und die meisten Patienten mindestens zeitweise Suizidgedanken angeben, möchte ich wenigstens von jedem Teilnehmer einen Eindruck gewonnen haben, bevor ich die Gruppe verabschiede. Ab und an kommt es vor, dass Teilnehmer bis zum Ende der Gruppensitzung nicht zufriedenstellend entaktualisiert werden können, wenn sie in einer drängenden Krise stehen. Hier ist es segensreich, dass die Möglichkeit zu Einzelsitzungen besteht, wodurch weitere Patientenkontakte im Intervall zwischen zwei  Gruppensitzungen vereinbart werden können, wenn der wöchentliche Abstand der Gruppensitzungen zu lang erscheint. Dies ist gerade bei strukturschwachen Patienten mit eingeschränkter Impulskontrolle und mangelnder Steuerungsfähigkeit für die ambulante Versorgung unverzichtbar, weil die Absprachefähigkeit nicht über eine ganze Woche tragen kann. Mithilfe des Blitzlichts, bei dem jeder Teilnehmer aufgefordert wird, kurz mitzuteilen, ob er für die heutige Gruppensitzung ein Anliegen hat, werden also Themen für die Sitzung gesammelt und strukturiert. Häufig ergeben sich Übereinstimmungen von Anliegen, die sich von verschiedenen Teilnehmern inhaltlich überkreuzen. Mitunter muss sich die Gruppe einigen, wer in dieser Sitzung zum Zuge kommt. Infolge

11

der Konkurrenzsituation im Aushandeln der wechselnden Mittelpunkt-Rolle in der Gruppe sollen Affekttoleranz und Selbstwertregulierung gefördert werden. Auf diese Weise kann es günstigenfalls zu einer Nachreifung struktureller Fähigkeiten in den Bereichen der Regulierung des Objektbezugs, der realistischeren Objektwahrnehmung, der emotionalen Kommunikation nach innen und außen und der Bindungsfähigkeit (durch Aufnahme triadischer Beziehungen) kommen. Methodisch arbeite ich interaktionell, d. h. ich bemühe mich selbst eher in einer zurückhaltenden, moderierenden Rolle zu bleiben und die Teilnehmer anzuregen, sich aufeinander zu beziehen und zu interagieren. Ich versuche meine eigene Selbstöffnung hinsichtlich der Gegenübertragung zurückhaltend zu modulieren und stattdessen die Teilnehmer zur Selbstöffnung zu ermuntern, übernehme aber manchmal als Modell für

die Gruppenmitglieder eine aktivere Rolle,

bis die Interaktion wieder in Schwung kommt. Dabei achte ich darauf, die Teilnehmer zu ermuntern, ihre Affekte bewusst wahrzunehmen und in Worte zu fassen, und bemühe mich, meine eigene Gegenübertragung geduldig zu reflektieren und nur dann offenzulegen, wenn ich den Eindruck gewinne, dass die Gruppe sonst nicht weiterkommt. Angelika B.: „Spannend war für mich zu merken, wie unterschiedlich sich Menschen mit ähnlichen Problemen, wie ich sie habe, verhalten. Auch wenn ich das in der Theorie wusste, war es nochmal wertvoller, das in den Gesprächen zu realisieren. Ein Beispiel: Ich ziehe mich eher zurück, wenn ich eigentlich Anerkennung bzw. Bestätigung bräuchte und hoffe, dass mich dann jemand sieht. Eine andere Person machte genau das Gegenteil und forderte immer mehr und mehr ein, wodurch sie Bestätigung zog. Für mich wäre das unvorstellbar, aber es war sehr hilfreich zu erkennen, dass trotzdem der gleiche

142

F. Tamm-Schaller

Ursprung zugrunde lag – die Suche nach Anerkennung.“

11

Unter der Vorstellung, dass jeder Teilnehmer seine neurotische Problematik früher oder später in der Gruppe reinszenieren wird, versuche ich, das Gruppengeschehen aus drei verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Das von den Teilnehmern geschilderte „Dort und Damals“ bzw. das gegenwartsbezogene „Dort und Dann“ (Yalom 2010) wird verbunden mit dem „Hier und Jetzt“ des Gruppengeschehens und miteinander in Beziehung gesetzt. Dieser Vorgang wird von den Teilnehmern in der Regel bald verstanden und selbstständig eingesetzt. Aussagen von Teilnehmern wie „Wenn du in der Firma so zurückhaltend und still bist wie hier, verstehe ich, dass du bei der Beförderung immer übersehen wirst!“, „Hast du vor deinem Chef so viel Angst wie früher vor deinem Vater? Macht dich das nicht ganz schön wütend?“ sind typisch für eine fortgeschrittene Gruppe und erfordern neben der therapeutischen Kreativität der Gruppenmitglieder auch Kenntnisse über die familiäre Vorgeschichte der Mitpatienten. Ich lasse die Patienten  von Zeit zu Zeit spielerisch mit einem systemischen Ansatz arbeiten, indem neue Mitglieder mit Tierfiguren aus meiner umfangreichen Zoo-Sammlung ihre Familienkonstellation ­ szenisch aufbauen. Damit können die Teilnehmer ihre Gefühle in der jeweiligen Beziehung plastisch darstellen, was den Gruppenmitgliedern oft Spaß macht, weil sich gerade aggressive Impulse lustvoll und elegant durch die Auswahl der Tiere umsetzen lassen. Die kleinen Szenen prägen sich auch für die anderen Teilnehmer gut ein, sind in den weiteren Sitzungen fortlaufend als Hintergrundbild präsent und helfen bei der Interpretation gegenwärtiger Schwierigkeiten im realen sozialen Umfeld.

Herta S., 44  Jahre, Ärztin, zwei Kinder, somatoforme Schmerzstörung: „Es ist mir klargeworden, wie sehr alles sich um meine Schmerzen drehte. Ich hatte kein Interesse an den Menschen, weil ich früher oft das Gefühl hatte, keiner kann mich verstehen. In der Gruppe konnte ich andere Erfahrungen machen. Mir wurden außerdem viele andere Themen klar: meine Leistungsgetriebenheit, Unfähigkeit, die Sachen so anzunehmen wie sie sind, Kontrollzwang, sehr wenig Vertrauen an das Leben und an die Mitmenschen, ja gewisse Verbitterung aufgrund der Schmerzen und Konflikte in meiner Herkunftsfamilie … Wahrscheinlich konnte ich mich nicht entspannen, weil ich immer unbewusst in der Kampfbereitschaft war ... Ich habe gelernt, offen über meine Schmerzen und meine Probleme zu sprechen, und konnte mich mit der Zeit emotional der Gruppe gegenüber öffnen. Das Angenommensein von der Gruppe war ein unerwartet schönes Gefühl. Ich habe auch gemerkt, dass ich ruhiger geworden bin, weniger aggressiv reagiere und viel besser mit den Schmerzen umgehen kann. Es gelingt mir immer öfter, mich rechtzeitig zu bremsen, wenn die Leistungsgetriebenheit wieder da ist.“

z Rollenspiele

Manchmal stehen aktuelle Konfliktthemen im Außen an, die den Teilnehmern große Angst bereiten. Das kann ein Gespräch mit einem Familienmitglied oder Vorgesetzten sein, wobei sehr häufig Übertragungsvorgänge zu dem Gefühl der Einschüchterung und Überforderung geführt haben. In diesen Fällen sind Rollenspiele hilfreich, in denen das im Fokus stehende Gruppenmitglied entweder selbst bereits die eigene Rolle übernimmt oder ein mutiges Gruppenmitglied als Modell fungiert. Erfahrungsgemäß führen diese beispielhaft

143 Tiefenpsychologisch fundierte Gruppen in der Richtlinientherapie

durchgeführten Konfliktgespräche häufig dazu, dass auch andere Gruppenmitglieder interpersonelle Schwierigkeiten nicht länger aufschieben, sondern mit größerem Mut ihre Konfliktgespräche angehen, um dann in der folgenden Gruppenrunde davon zu berichten und die Anerkennung dafür zu bekommen. Fazit Die Gruppentherapie erweist sich als potente und wirksame Behandlungsform in der psychotherapeutischen VersorgungsPraxis, für die seit der Neugestaltung der Psychotherapierichtlinien vernünftige und auch praktisch gut handhabbare Rahmenbedingungen vorliegen.

11

Literatur Dittrich, K. (2017). Systemische Forschung: Grundlagen der Psychotherapie. Deutsches Ärzteblatt, Juni 2017, S.  276. 7 http://www.aerzteblatt.de/ archiv/190415/Systemische-Forschung-Grundlagender-Psychotherapie. Zugegriffen: 19. Nov. 2017. Fonagy, P., & Allison, E. (2014). The role of mentalizing and epistemic trust in the therapeutic relationship. Psychotherapy, 51(3), 372–380. König, O. (2012). Gruppendynamische Grundlagen. In B. Strauß & D. Mattke (Hrsg.), Lehrbuch für die Praxis (S. 21 ff.). Berlin: Springer. Mattke, D., & Strauß, B. (Hrsg.). (2012). Gruppenpsychotherapie: Lehrbuch f. d. Praxis. Berlin: Springer. Schultz-Venrath, U., & Felsberger, H. (2016). Mentalisieren in Gruppen. Stuttgart: Klett-Cotta. Sperber, D., et al. (2010). Epistemic vigilance. Mind and Language, 25, 359–393. Yalom, I. D. (2010). Theorie u. Praxis der Gruppenpsychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta.

145

Ein drittes Setting der ambulanten Psychotherapie – Einzeltherapie und Gruppentherapie in Kombination Dorothe Türk

12.1  Vorbemerkungen – 146 12.1.1 Kombination von Einzel- und Gruppenbehandlung: Literaturübersicht – 147 12.1.2 Kombinationsbehandlung in der ambulanten Praxis – 147

12.2 Nacheinander von Einzel- und Gruppentherapie und umgekehrt – 148 12.3 Kombinierte einstündige Einzeltherapie und Gruppenbehandlung – 148 12.3.1 Vorübergehende Kombination zu Beginn einer Gruppentherapie – 148 12.3.2 Dauerhafte Kombination von Einzel- und Gruppensitzungen – 149 12.3.3 Deutungen und Übertragungen – 150

12.4 Gleichzeitige Gruppentherapie zusätzlich zu einer psychoanalytischen Einzelbehandlung – 152 12.5 Gruppentherapie und Einzeltherapie bei verschiedenen Therapeuten – 152 12.6 Persönliche Modifikationen der Behandlungstechnik und Gestaltung der eigenen Gruppen – 153 Literatur – 153 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_12

12

146

D. Türk

Die Kombination von Einzel- und Gruppentherapie ist nicht nur in der stationären Behandlung, sondern auch in der ambulanten Psychotherapie von erheblichem Nutzen. Dieses Setting kann Ängste reduzieren, sowohl bei Patienten als auch bei Therapeuten. Die Bedürfnisse und Erfordernisse jedes einzelnen Patienten sind unterschiedlich. Um eine gute Entwicklung zu ermöglichen, werden unterschiedliche Behandlungsbedingungen benötigt.

12

Verbindungen von Psychotherapie im Einzel- und Gruppensetting 1. Nacheinander von Einzel- und Gruppentherapie und umgekehrt („consecutive therapy“) 2. Kombinierte einstündige Einzeltherapie und Gruppenbehandlung einmal pro Woche – vorübergehend zu Beginn der Gruppentherapie oder als festes Setting („combined therapy“) 3. Gleichzeitige Gruppentherapie zusätzlich zu einer psychoanalytischen Einzelbehandlung („concurrent therapy“) 4. Verbundtherapie als Einzel- und Gruppentherapie bei verschiedenen Therapeuten („conjoint therapy“)

12.1  Vorbemerkungen

In Deutschland muss eher der Patient eine Anpassungsleistung an die vorzufindenden Behandlungsbedingungen in der jeweiligen ambulanten Praxis erbringen – statt umgekehrt, dass eine Anpassung an die Erfordernisse des jeweiligen Patienten stattfindet. Die Indikation für eine Gruppenbehandlung wird so selten gestellt, da es vielen Kollegen unmöglich ist, ohne eigene Erfahrung in diesem Verfahren die Indikation bei einem Patienten zu erkennen. Die überwiegende Zahl der niedergelassenen Psychotherapeuten arbeitet als Einzeltherapeut. Wenige von ihnen haben eine

Gruppenselbsterfahrung gemacht oder sind ausgebildete Gruppentherapeuten. Für die Patienten wäre es hilfreich, wenn alle Gruppentherapeuten auch über Einzelselbsterfahrung verfügen sowie auch alle Einzeltherapeuten eine Gruppenselbsterfahrung durchleben würden. In der stationären oder teilstationären Behandlung ist ein multimodales, integratives Setting, das unter anderem auch psychotherapeutische Einzel- und Gruppenbehandlung umfasst, inzwischen selbstverständlich (Janssen und Sachs 2018). Insbesondere bei der Behandlung von Patienten mit strukturellen Schwächen, also bei Patienten mit Essstörungen, psychosomatisch Erkrankten, Persönlichkeitsstörungen und Süchtigen ist ein Setting günstig, das multiple Übertragungsmöglichkeiten und dadurch viele Optionen für interaktionell-szenische Reinszenierungen bietet und die unbewussten Konflikte und Beziehungsmuster des Patienten lebendig werden lässt. Gerade Patienten mit strukturellen Defiziten benötigen eine psychotherapeutische Behandlung in der Gruppe, um ihre interpersonellen Schwierigkeiten im Hier und Jetzt bearbeiten zu können. „Die Einsicht in die in der interaktionellen Wiederholung erkennbar werdenden Introjekte (Internalisierungen von Selbst-Objekt-Affekt-Konstellationen) erfolgt über die Erfahrungen in den multilateralen Übertragungsprozessen“ (Janssen und Sachs 2018). Wie Streeck (2016) feststellt: „Erst über die Teilnahme an sozialer Interaktion wird implizites Beziehungswissen aufrechterhalten, weiterentwickelt und verändert.“ „Indessen ist episodisches und semantisches Wissen nicht jenes Wissen, dessen es vorrangig bedarf, um interpersonale Beziehungen zu regulieren und gestalten.“ Aber ausgerechnet die durch strukturelle Defizite belasteten Patienten haben in der Regel die größten Ängste, sich auf eine solche Form der Behandlung einzulassen, da bei ihnen häufig eine Bindungsstörung besteht. „Für Menschen, die traumatisiert wurden, vor allen Dingen, wenn sie schwer traumatisiert worden sind, bedeutet jede Kontaktaufnahme zu einem anderen Menschen auch eine

147 Ein drittes Setting der ambulanten Psychotherapie …

Bedrohung“ (Reddemann 2009, S. 287 f.). Oft benötigen sie eine mehr oder weniger lange Vorbereitungszeit von Wochen bis zu Jahren durch eine Einzeltherapie, die dann in eine anfänglich parallele Gruppenteilnahme übergeht, bis die Behandlung als ausschließliche Gruppenbehandlung fortgeführt werden kann. Gruppenangst ist immer Identitätsangst (Hirsch 2004), und diese kann häufig nicht in der Gruppe bearbeitet werden, da sie vorab den Eintritt in eine Gruppe verhindert. 12.1.1  Kombination von Einzel-

und Gruppenbehandlung: Literaturübersicht

Schon lange tauchen in der Literatur Beschreibungen von Psychoanalytikern über die Kombination der Einzel- und Gruppenbehandlung auf. Kemper (1964) und Lipsius (1991) publizierten darüber, und ein ganzes Heft des International Journal of Group Psychotherapy (2009) erschien zu diesem Thema. Staats et al. (2014) und auch Janssen und Sachs (2018) widmen dem Thema ein ganzes Kapitel in ihren Lehrbüchern. Ein Heft der Psychodynamischen Psychotherapie (2016) erschien ebenfalls zu diesem Thema. Die Zeitschrift für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik veröffentlichte mein Manuskript über kombinierte Einzel-und Gruppentherapie (2016) und von Klipp (2018) einen Artikel über kombinierte Behandlung als ambulantes Essstörungssetting. Angelo Silvestri hielt einen Vortrag auf dem GASI-Symposium in Berlin (2017) über die kombinierte Behandlung (zwei Gruppensitzungen pro Woche und eine Einzelsitzung) für Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. 12.1.2  Kombinationsbehandlung

in der ambulanten Praxis

In einer ambulanten Einzelpraxis eine eigene Gruppe zu beginnen ist ein ganz anderes Unterfangen, als eine Gruppe in einer Klinik

12

zu leiten. Anders als in der Klinik sitzt man in der Regel in der Praxis alleine in seiner Gruppe und hat keine Institution mit ihren Möglichkeiten (Bereitschaftsarzt, Möglichkeit zur stationären Notaufnahme) im Hintergrund. Wie Noack (2016) ganz richtig feststellt: „Jeder Patient mustert Sie, Ihre Antworten und Ihre Aktionen ständig mit prüfenden Blicken. Es ist nicht nur beängstigend, Patient in einer Gruppe zu sein; es ist auch beängstigend, Leiter einer Gruppe zu sein.“ Meine Angst vor meiner ersten Gruppe in meiner Praxis war allerdings sehr gering aufgrund der Voraussetzungen, die ich mir für dieses Projekt zu wählen erlaubte. Ich kannte alle Patientinnen aus der psychoanalytischen Einzelbehandlung über Monate oder Jahre. Mit allen Biografien und persönlichen Eigenheiten, Übertragungen und Abwehrmechanismen war ich gut vertraut. Die Beziehung zu jeder Patientin war soweit bearbeitet, dass ein tragfähiges Arbeitsbündnis hergestellt war. Das große anfängliche Misstrauen und Austesten meiner Person, welches bei bindungsgestörten Patientinnen zunächst zur Herstellung einer tragfähigen Beziehung erforderlich zu sein scheint, hatte bereits stattgefünden. Reddemann (2009) bemerkt dazu: „Ein beziehungstraumatisierter Mensch wird immer etwas misstrauisch sein müssen.“ Schon Monate oder Jahre vor Beginn dieses Projektes hatte ich immer wieder Fantasien, wie eine Patientin mit einer anderen Patientin im Gespräch sehr profitieren könnte. Es erschien mir wie die Idee, dass kleine Geschwister von den Erfahrungen der Großen profitieren können und die Großen durch die Reflektion und Weitergabe des Erreichten eine Konsolidierung erfahren. Sehr unterschiedliche Perspektiven können gewinnbringend aufeinander treffen, die Individuation jedes Gruppenmitgliedes wird gefördert und das Selbstwertgefühl wird durch die Gruppe genährt. Andere Gruppenteilnehmer als Zeugen für das Erlittene zu erleben und es mit ihrer Hilfe als Verbündete erfolgreich weiter bearbeiten zu können – das sind bewegende und verändernde Erfahrungen, die eine

148

12

D. Türk

Einzeltherapie so niemals leisten kann. Auch die Diskrepanzerfahrung zwischen der eigenen Welt der Introjekte, Werte und Normen zu der Welt anderer Menschen, nicht nur zu der des Einzeltherapeuten, ist in der Gruppe möglich. „Die Diskrepanz zwischen der Sicht der Patientin und der der anderen Gruppenteilnehmer hebt die Inkohärenz zwischen der inneren Erfahrung der Patientin und der geteilten Wirklichkeit hervor. Die Macht der Gruppe in diesem Prozess ist äußerst bemerkenswert und kennt kein Äquivalent im einzeltherapeutischen Prozess“ (Kauff 2009). Durch die vereinfachte Beantragung von Kurzzeittherapie, heute unterteilt in Kurzzeittherapie 1 und 2, kann jeder zugelassene Gruppentherapeut selbst bestimmen, wie viele Einzel- und Gruppensitzungen er nacheinander oder parallel für einen Patienten für erforderlich hält. Während noch weitere Teilnehmer für die zu gründende Gruppe gesucht werden, können bereits für die zukünftige Gruppe akquirierte Patienten durch wöchentliche, vierzehntägige oder monatliche Einzelsitzungen in der Wartezeit auf den Beginn der Gruppe durch eine Kurzzeittherapie begleitet und vorbereitet werden. Je mehr der Gruppenleiter begeistert und überzeugt ist von der zu startenden oder seiner laufenden Gruppe, desto einfacher ist es, Patienten zu rekrutieren und von dieser Behandlungsform zu überzeugen. 12.2  Nacheinander von Einzel-

und Gruppentherapie und umgekehrt

Die Option, dass erst eine psychoanalytische oder tiefenpsychologisch fundierte Einzeltherapie durchgeführt wird und anschließend eine Gruppentherapie erfolgt, gab es schon immer. Häufiger ist zunächst eine Einzelbehandlung erforderlich, um zunächst überhaupt die notwendigen Voraussetzungen, zum Beispiel im Sinne einer ausreichenden Angsttoleranz und Ich-Stärke zu schaffen, damit der

Patient an einer Gruppentherapie teilnehmen kann. Gelegentlich gibt es auch Patienten, die eine dyadische Behandlungsform zunächst ablehnen müssen, weil diese ihnen unerträglich wäre. Erst nach erfolgreicher Gruppenbehandlung können sie sich entschließen, eine Einzeltherapie zu beginnen (Klipp 2018). Analytische Behandlungen in dieser Form des Nacheinander benötigen allerdings viele Jahre Zeit. Die Möglichkeit, die Behandlungsdauer zu verkürzen, indem durch die Kombination beider Verfahren die Behandlungsintensität verdichtet wird, erscheint plausibel und möglich. Die gleichzeitige Behandlung in Einzel- und Gruppentherapie kann eine deutliche Reduktion der Angst und eine Abnahme des Widerstandes des Patienten induzieren und damit die Voraussetzungen für Veränderungsmöglichkeiten durch die Therapie deutlich verbessern. 12.3  Kombinierte einstündige

Einzeltherapie und Gruppenbehandlung

12.3.1  Vorübergehende

Kombination zu Beginn einer Gruppentherapie

Häufig kommen die Patienten in Deutschland in die psychotherapeutische Praxis mit dem Wunsch nach Einzelbehandlung. Sie kennen oft überhaupt nicht die Möglichkeiten einer Gruppenbehandlung, und meine Erfahrung ist, dass sie dieser dann durchaus offen gegenüber stehen, wenn sie erst einmal ausführlich über die Arbeitsweise einer Gruppe informiert wurden. Die Vorgehensweise, den Therapeuten in den probatorischen Einzelsitzungen kennenzulernen und die Sicherheit, dass zu Beginn des Einstiegs in die Gruppe weiterhin Einzelsitzungen stattfinden können, ermöglicht vielen dieser Patienten, sich dann auf eine Gruppenbehandlung einzulassen. Sobald sie sich in der Gruppe sicher fühlen und erkennen,

149 Ein drittes Setting der ambulanten Psychotherapie …

dass sie dort ihre Anliegen einbringen und bearbeiten können, bevorzugen sie aus meiner Erfahrung auf Dauer immer die ausschließliche Gruppenbehandlung. Die anfänglichen Einzelgespräche dienen hier der Angstreduktion und als „Einstiegshilfe“ in die Gruppe. Inzwischen konnte ich auch einige Patienten, die bei mir in Einzelbehandlung waren und eine Gruppenbehandlung abgelehnt hatten, überzeugen, an einer Gruppentherapie teilzunehmen. Unter der Bedingung, dass zur Reflexion des Prozesses die Einzelsitzungen beibehalten werden, bis sie selbst diese für nicht mehr notwendig halten, haben die Patienten meiner Empfehlung vertraut und es gewagt, trotz ihrer Bedenken aufgrund schlechter Beziehungserfahrungen den Versuch zu wagen, sich auf die Gruppenbehandlung einzulassen. Im Nachhinein waren fast alle diese Patienten sehr dankbar, dass ich, trotz ihrer anfänglichen Ablehnung der Gruppenbehandlung, diese so beharrlich immer wieder thematisiert hatte, und sie den mutigen Schritt in die Gruppe gegangen sind. Sie wollen diese Erfahrung keinesfalls mehr missen und halten die Gruppenbehandlung für die eigene Entwicklung für unverzichtbar. Durch die anfängliche Parallelität von Einzel- und Gruppensitzungen ist es möglich, gemeinsam das zentrale Anliegen und die wichtigsten Konflikte herauszuarbeiten. Die Übertragungen und fixierten Interaktionsmuster können in dem einen oder anderen Setting oder aber auch in beiden deutlich werden und die zu erwartenden Schwierigkeiten besprochen werden. 12.3.2  Dauerhafte Kombination

von Einzel- und Gruppensitzungen

Die gleichzeitige Einzel- und Gruppentherapie als festes Setting für Menschen mit strukturellen Defiziten in der ambulanten Behandlung ist eine den Behandler emotional sehr beanspruchende Aufgabe und aus meiner bisherigen Erkenntnis nur erfahrenen Kollegen zu

12

empfehlen. Die (emotionalen) Anforderungen an die Fähigkeit zu „containen“, an die eigene Integrität, Feinfühligkeit und die notwendige Diskretion im Umgang mit Material aus dem Einzel- oder Gruppenkontext und die erforderliche Loyalität mit jedem einzelnen Teilnehmer in jeder Situation sind sehr hoch. Eine meiner Gruppen, die ausschließlich aus Teilnehmerinnen mit strukturellen Defiziten besteht, ist seit Beginn 2016 gekennzeichnet durch das Vorherrschen früher Abwehrmechanismen, sodass die Beachtung, Beobachtung und Bearbeitung der Gegenübertragungsgefühle sehr im Vordergrund stehen müssen, aufgrund der beständigen Verwicklung des Behandlers, zum Beispiel qua projektiver Identifizierung oder durch auftretende Spaltungsprozesse zwischen den Settings. Die für jeden einzelnen Teilnehmer individuell notwendige Abwehr, die er konstellieren muss, gilt es zu respektieren und soweit es möglich ist, Schritt für Schritt zu bearbeiten, um so an der allmählichen Integration anfänglich getrennt gehaltener, projizierter Partialobjekte zu arbeiten. Die innere Haltung muss stets integer sein, um die Loyalität zu jedem Teilnehmer in allen Situationen zu erhalten. Dies gilt in der Gruppe und in den Einzelgesprächen mit dem entsprechenden Patienten, der sich über andere Gruppenteilnehmer beklagt und diese möglicherweise oder aus seiner Sicht zunächst notwendigerweise verachtet und entwertet. Menschen, die durch strukturelle Defizite anhaltende Schwierigkeiten in ihrem Lebensalltag und ihrer Lebensgestaltung haben, benötigen meines Erachtens eine modifizierte Form der Behandlung. Diese Menschen leiden in der Regel unter Bindungsstörungen, die in einem klassischen analytischen Behandlungssetting häufig ein früher sogenanntes „Agieren“ beziehungsweise dem heutigen Verständnis nach eine Inszenierung oder einen Handlungsdialog der Patienten nötig machen. Wie Janssen und Sachs (2018, S. 54) ausführen, „werden durch die Gruppenpsychotherapie unbewusste procedurale Gedächtnisinhalte rekonstruiert und ermöglichen ein Bewusstwerden des

150

12

D. Türk

unbewussten impliziten Beziehungswissens.“ Die Modifikation, die ich meine, bedeutet niemals die Aufgabe einer psychoanalytischen Grundhaltung oder der Abstinenz. Oft wird die Abstinenz aber heute noch als eine Verweigerung von Intersubjektivität verstanden. Abstinenz bedeutet für mich die klare Haltung, niemals den Patienten für meine Bedürfnisse zu benutzen. Sie bedeutet für mich aber kein Verbot, gerade diesen Patienten mitzuteilen, wohin ich in Urlaub fahre, welche Filme ich anschaue, welche Einstellung ich zu diesem oder jenem habe, in einen Austausch mit ihm zu gehen darüber, was ihm wichtig ist. Ein Oszillieren zwischen einer Haltung der psychoanalytisch-interaktionellen Methode mit dem Prinzip Antwort und aber auch einer weiterhin deutenden Haltung ist durchaus möglich. Übertragung findet nicht nur auf einen neutralen, leeren Spiegel statt, sondern immer und überall. Gerade in der Arbeit mit Menschen mit strukturellen Defiziten ist das Teilen einer gemeinsamen Realität und der Austausch darüber so wertvoll. Die gemeinsamen interaktionellen Erfahrungen aus einer Gruppensitzung miteinander im Einzelsetting besprechen zu können, im Sinne einer geteilten Realität, die von beiden aber sehr unterschiedlich erlebt wurde, kann äußerst gewinnbringend für die Behandlung genutzt werden. Was an Mentalisierungsarbeit für den einzelnen Patienten in der Gruppe aktuell noch nicht möglich war, da die Mentalisierungsfähigkeit aufgrund heftiger Affekte in der Sitzung zeitweise eingeschränkt war, kann in gewisser Weise in der ruhigen, sichereren Situation in der Einzelsitzung nachgeholt werden. 12.3.3  Deutungen und

Übertragungen

Entscheidend erscheint mir, wie die Übertragungsdeutung angeboten wird – in welcher Situation und in welchem Kontext, in welcher Verfassung der Patient oder die therapeutische Beziehung ist. Als Option kann eine

Deutung fast immer angeboten werden mit der klaren Möglichkeit, diese als unzutreffend oder irritierend abzulehnen. Im Sinne einer ungesättigten Deutung nach Ferro (2002) eröffnet sie einen Raum, statt abschließend und determinierend zu sein. Zur Behandlung von Patienten mit strukturellen Störungen in der Gruppe ist es meines Erachtens unerlässlich, zunächst eine möglichst sichere Beziehung in der Zweierbeziehung zu schaffen, mit dem Wissen, dass diese Patienten alles Recht der Welt haben, anderen Menschen gegenüber misstrauisch zu begegnen aufgrund ihrer schlechten Bindungserfahrungen. Gerade deshalb ist es für sie so bedeutend, zum Therapeuten, so weit dies nur möglich ist, eine gute Bindung zu entwickeln, bevor sie das Wagnis eingehen, sich in eine Gruppe fremder Menschen zu begeben. „Wird ein Individuum in einer solchen Gruppe aufgenommen, so fühlt es sich zunächst bedroht, hilflos und desorientiert“ – so beschreiben Janssen und Sachs (2018, S. 139) die Aufnahme eines neuen Patienten in die stationäre Behandlung, und so erleben viele Patienten durchaus auch die Aufnahme in eine nur einmal wöchentlich stattfindende ambulante Gruppe. Es ist notwendig, für diese Patienten ausreichend Sicherheit zu schaffen, damit sie den Schritt in die Gruppe wagen. Die Ängste vor Regression und Desintegration sind ernst zu nehmen. Meiner Erkenntnis nach ist die Qualität der therapeutischen Beziehung dafür entscheidend, ob und welche Deutung angeboten werden kann. Gerade bei Patienten mit strukturellen Störungen entgleist mir im Verlauf der Behandlung in der Hitze des Gefechtes oder in provozierenden Situationen manchmal meine Wortwahl. Oft ist dies ein Beweis für die gute Qualität der Bindung, da ein verbaler Fehlgriff dann nicht zum Beziehungsabbruch führt, sondern mir die Gelegenheit gibt, mich zu erklären und zu entschuldigen. Der Patient hat dann die Möglichkeit, mir zu verzeihen und eine Integrationsleistung zu vollbringen: Das Gute, was er bisher von mir erfahren hat, bleibt erhalten, obwohl ich

151 Ein drittes Setting der ambulanten Psychotherapie …

jetzt „Böses“ gesagt habe. Diese Allianzruptur nach Wöller (2016) hat, wenn es gelingt, sie erfolgreich zu bearbeiten, ausgesprochen positive Auswirkungen auf die Entwicklung der Beziehung und somit auf die psychische Entwicklung des Patienten. Eine Deutung kann als Messer oder als Heiligenschein eingesetzt werden – beides ist der Behandlung nicht dienlich und stellt ein Enactment vonseiten des Therapeuten dar. Die Gegenübertragung bedarf besonders sorgfältiger Beachtung, auch wenn es nicht immer schnell genug gelingen kann, sie zu erkennen, zu verstehen, zu bearbeiten und zu verwandeln. Die Entwicklung von Feinfühligkeit ist bedeutsam für die Behandlung von bindungsgeschädigten, strukturell geschwächten Menschen. Das als Agieren, Enactment, Handlungsdialog oder Inszenierungsgeschehen bezeichnete nonverbale, unbewusste Kommunizieren des Patienten halte ich teilweise für den so ausgedrückten Wunsch, in seiner Einzigartigkeit und mit seinen Bedürfnissen gesehen zu werden, etwas beim anderen bewirken zu können, für ihn etwas Besonderes zu sein und dies explizit in der Realität erleben zu können. Darauf vonseiten des Behandlers einzugehen bedeutet keineswegs Grenzenlosigkeit oder Beliebigkeit in der Behandlung, sondern vielmehr deutlich weniger Rigidität. Der Umgang mit Handlungsinszenierungen – unbewusste Sicherheitsvorkehrungen des Patienten – stellt unter anderem gewissermaßen eine Prüfung des Behandlers dar. Erst nach Bestehen dieser Prüfung wird dem Patienten die als Gefahr erlebte Öffnung seiner seelischen Welt gegenüber dem Therapeuten möglich. Das Fantasieren über den unbekannten Therapeuten mag bei vielen neurotischen Störungen sehr hilfreich sein. Bei strukturell schwächeren Patienten ist meiner Meinung nach ein Wissen über den Therapeuten hilfreicher als der Nutzen des Fantasierens. Die Möglichkeiten der Übertragung nehmen im kombinierten Setting deutlich zu: Es kann eine Übertragung auf den Einzeltherapeuten, auf denselben Menschen

12

als Gruppentherapeuten, auf die Gesamtgruppe und auf Untergruppen und einzelne Gruppenteilnehmer stattfinden. Die Möglichkeit die Übertragung aufzuspalten, macht eine Behandlung für viele Patienten erst möglich und erträglich.

Besonderheiten der gleichzeitigen Einzel- und Gruppentherapie Die gleichzeitige Behandlung eines Patienten in der Einzeltherapie und Gruppentherapie stellt besondere Anforderungen an den Therapeuten. Der Umgang mit dem Material aus der Einzelsitzung in der Gruppe ist mit dem Patienten immer wieder zu klären. Wurde Vertraulichkeit vereinbart, so benötigt der Behandler Geduld, denn der Patient bestimmt den Zeitpunkt, wann er welches Material in die Gruppe einbringt. Als Gruppenleiter mag man vorsichtig nachfragen, wenn es einem in einer Gruppensitzung selbst stimmig erscheint, das Material jetzt einzubringen, aber die letzte Entscheidung darüber sollte m.E. der Patient haben. Feinfühligkeit ist erforderlich in den Einzelsitzungen, wenn ein Patient Situationen aus einer Gruppensitzung nachbespricht und völlig ungebrochen seinen hassvollen, verachtenden Gefühlen gegenüber anderen, nicht anwesenden Gruppenteilnehmern freien Lauf lässt. Dies ist für Patienten mit strukturellen Störungen häufig notwendig. Die Einzelsitzung kann als eine Art Entgiftung verstanden werden, um die Gruppentherapie nicht abbrechen zu müssen. Hier ist es wichtig, die Loyalität und Vertraulichkeit nicht anwesenden Personen gegenüber aufrecht zu halten. Ich selbst spüre es manchmal fast wie einen körperlichen Schmerz, wenn die eine Patientin, die mir gerade in der Einzelsitzung gegenüber sitzt und auf die ich empathisch eingehe, einer anderen Patientin, der ich mich auch sehr verbunden fühle, so heftige negative Affekte entgegenbringt. Hier ist es wichtig, die nicht anwesende Patientin nicht vor dem Angriff schützen zu wollen, sondern mit der verbal angreifenden Patientin zu untersuchen, woher ihre Affekte ursprünglich stammen,

152

D. Türk

wie und wodurch die andere Teilnehmerin diese auszulösen in der Lage war. Und es ist zu begrüßen, dass dies geschehen ist. Wir sind in der Behandlung darauf angewiesen, dass nicht über die Erlebnisse und Affekte gesprochen wird, sondern dass diese stattfinden im Hier und Jetzt und dadurch der Bearbeitung zugänglich werden. 12.4  Gleichzeitige Gruppen-

therapie zusätzlich zu einer psychoanalytischen Einzelbehandlung

12

Bei einigen wenigen Patienten habe ich eine der psychoanalytischen Einzelsitzungen durch eine Gruppensitzung substituiert (Türk 2016). Meines Erachtens kann eine psychoanalytische Langzeitbehandlung auf der Couch beschleunigt und intensiviert werden, indem die dritte oder vierte Einzelsitzung durch die Teilnahme an einer psychoanalytischen Gruppe ersetzt wird. In den psychoanalytischen Einzelbehandlungen kommt es immer häufiger vor, dass ich mir die Unterstützung der Gruppe wünsche, aus dem Wissen heraus, wie viel unkomplizierter, rascher und intensiver die Übertragung oder andere Phänomene in der Gruppe für den Patienten durchgearbeitet werden können. Die Erfahrung, wie subjektiv die Welt erlebt wird, gesehen durch die eigene „biografisch getönte Brille“, wie unterschiedlich dieselben Dinge von verschiedenen Menschen erlebt werden, kann nur durch die Gruppe gemacht werden. Die eigene innere Welt anderen zu zeigen und deren innere Welt präsentiert zu bekommen, verändert in einzigartiger Weise die Entwicklung der Individuation, der Individualität und der Toleranz anderen gegenüber. Es reduziert die eigene Kränkbarkeit enorm, wenn erkannt wird, dass die Reaktionen und Gefühle des anderen häufig weniger mit einem selbst zu tun haben als vielmehr mit dessen eigener unentrinnbarer Welt.

12.5  Gruppentherapie und Einzel-

therapie bei verschiedenen Therapeuten

Eine Verbundtherapie hat ihre Besonderheiten sowohl für den Patienten als auch für die Behandler. Silvestri (2017) beschreibt langjährige ambulante Behandlungen von Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Gruppe und – abhängig vom Bedürfnis des Patienten – auch in paralleler Einzelbehandlung. Er ist Leiter einer Gruppe, die zweimal pro Woche stattfindet, und manche Gruppenteilnehmer sind in mehr oder weniger (jahre-) langen Einzelbehandlungen beim Gruppenleiter, bei anderen Therapeuten, oder aber auch ohne Einzelbehandlung. Ein Setting, das wir aus der stationären Behandlung kennen. Silvestri lehnt den Austausch von Material zwischen den beiden behandelnden Therapeuten ab, um seinen strukturell schwachen Patienten die Möglichkeit zu geben, ihre Spaltungsabwehr und Projektion von Partialobjekten zu ermöglichen. Mit Fortschreiten der Behandlung werde der Patient zunehmend fähig, getrennt gehaltene Übertragungen, Affekte oder Ich-Anteile zu integrieren. Der Austausch über das dem jeweiligen Behandler präsentierte Material ist vielleicht weniger wichtig als vielmehr der Austausch der Kollegen über ihre Gegenübertragungen und hier insbesondere auch über die Gefühle dem anderen Behandler gegenüber. Die wesentliche Aufgabe besteht wie in der vollstationären Behandlung darin, die im Team entstehenden Gegenübertragungsgefühle und Enactments zu analysieren, um die notwendige Integrationsleistung zu vollbringen und nicht Spaltungsübertragungen auszuagieren. Häufig sind es Teilobjektübertragungen auf den einen oder anderen Behandler, die Gesamtgruppe oder aber auch auf einzelne Gruppenmitglieder, die es zu erkennen, anzunehmen und zu integrieren gilt. Durch die Möglichkeit, die

153 Ein drittes Setting der ambulanten Psychotherapie …

Übertragungen aufzuspalten, erleben sich die Patienten zum Beispiel deutlich weniger ausgeliefert – sowohl dem aggressiven, bedrohlichen, zerstörerischen und verschlingenden mütterlichen Objekt gegenüber als auch den eigenen Wünschen nach Nähe und Verschmelzung. 12.6  Persönliche Modifikationen

der Behandlungstechnik und Gestaltung der eigenen Gruppen

Um sein eigenes Potenzial und das seiner Gruppe möglichst weitgehend entfalten zu können, tut jeder Gruppenleiter gut daran, seine Gruppe und seine Arbeitsweise ein Stück weit an seiner Persönlichkeit zu orientieren, damit er für sich und die Gruppe bestmögliche Arbeitsbedingungen hat. Diese sollten sowohl ihn als auch seine Gruppenteilnehmer in die Lage versetzen, in einer möglichst offenen und angstfreien Atmosphäre in einen Austausch miteinander zu kommen und in Resonanz zu gehen. Wie am Anfang dieses Beitrags beschrieben, konnte ich meine erste ambulante Gruppe angstfrei und mit viel Freude und Aufregung beginnen. Mir wurde deutlich, dass ich für mich gute Arbeitsbedingungen gewählt hatte: Ich kannte alle Gruppenteilnehmerinnen mit ihren zentralen Konflikten, hatte zu allen Mitgliedern eine tragfähige Beziehung aufgebaut, und die noch instabilen Teilnehmerinnen sah ich parallel noch in Einzelsitzungen. Die Gruppe initiierte ein Blitzlicht zu Beginn und am Ende jeder Gruppensitzung, sodass ein jeder zu Wort kam und ich auch im Wesentlichen wusste, wer in welcher Verfassung am Ende der Sitzung die Gruppe verließ (Türk 2018). Das passte so damals für mich – jeder sollte seine eigenen Bedürfnisse kennenlernen und gegebenenfalls Parameter einführen. Es gibt heute so viele Spielräume beziehungsweise Varianten, mit Gruppen

12

zu arbeiten, dass deutlich mehr Kollegen überlegen könnten, ihre eigenen Gruppen zu gestalten und mit noch mehr Spaß und Abwechslung in ihrer ambulanten Praxis tätig zu sein. Fazit Aus meiner Erfahrung können viele Patienten mit strukturellen Defiziten (hier: Persönlichkeitsstörungen und psychosomatisch Kranke) in der ambulanten Behandlung durch die Kombination von Einzel- und Gruppentherapie besser profitieren als von einer reinen Einzelbehandlung oder einer reinen Gruppenbehandlung.

Literatur Ferro, A. (2002). Interpretation, Dekonstruktion, Erzählung oder die Beweggründe von Jacques. Psyche – Z Psychoanal, 56(2002), 1–19. Hirsch, M. (2004). Psychoanalytische Traumatologie – das Trauma in der Familie. Stuttgart: SchattauerTaschenbuch. Janssen, P., & Sachs, G. (2018). Psychodynamische Gruppenpsychotherapie: Theorie, Setting und Praxis. Stuttgart: Schattauer. Kauff, P. F. (2009). Transference in combined individual and group psychotherapy. International Journal of Group Psychotherapy, 59(3), 29–45. Kemper, W. W. (1964). Das Problem der Gleichzeitigkeit von Individual- und Gruppenanalyse. Psyche, 18(5), 314–320. Klipp, B. (2018). Kombinierte Gruppen- und Einzelpsychotherapie am Beispiel eines ambulanten Essstörungssettings. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 54, 2–18. Lipsius, S. H. (1991). Combined individual and group psychotherapy: Guidelines at the interface. International Journal of Group Psychotherapy, 41(1), 313–327. Noack, A. (2016). Gruppenpsychotherapie – Eine Therapie erster Wahl? Gruppenpsychotherapie Vortrag Hamburg 3.3.2016 APH. Reddemann, L. (2009). TITEL?? In D. Mattke, L. Reddemann, & B. Stauß (Hrsg.), Keine Angst vor Gruppen. Stuttgart: Klett-Cotta. Silvestri, A. (2017). How many sessions, with whom? Conjoined and combined therapy for severe personality disorders (Silvestri A., Colombani L., Frassin M. e Furin A.; Vortrag GASI Berlin 19 August 2017).

154

D. Türk

Staats, H. (2014). Einzel- und Gruppenpsychotherapie kombinieren und verbinden. In H. Staats, A. Dally, & T. Bolm (Hrsg.), Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse (S. 350–360). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Streeck, U. (2016). Selbstregulierung und Beziehungsgestaltung. Psychodynamische Psychotherapie, 3(2016), 150–159. Türk, D. (2016). Kombinierte und parallele Einzel- und Gruppentherapie – immer noch ein rotes Tuch?

12

Gruppenpsychother. Gruppendynamik, 52, 288– 301. Türk, D. (2018). Das sogenannte „Blitzlicht“ – geliebt, gehasst, unanalytisch (?) und andere schwierige Situationen in der Gruppentherapie Gruppenpsychother. Gruppendynamik 54: 117–135, ISSN 0017-4947 (print), 2196–7989 (online) © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2018 Wöller, W. (2016). Der ausreichend gute Therapeut. Psychotherapeut, 61, 105–109.

155

Kombinierte psychodynamische Gruppen- und Einzelpsychotherapie Bernd Klipp

13.1 Mein paralleles Setting – 156 13.2 Behandlungsansatz – 157 13.3 Fallbeispiel – 157 13.4 Übertragung und Gegenübertragung – 158 13.4.1 Übertragung und Widerstand – 159

13.5 Behandlungstechnik – 161 13.5.1 Erhaltung der Essenz der Einzel- und der Gruppentherapie – 161 13.5.2 Schutz der Prozesse in Einzel- und Gruppentherapie – 161 13.5.3 Gegenseitiges Verstärken der Vorteile der Settings – 162 13.5.4 Nutzung der Berührungsfläche zwischen den Settings zur Integration konflikthafter Selbstanteile – 162

13.6 Fazit – 162 Literatur – 163

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_13

13

156

B. Klipp

Kombinierte Einzel- und Gruppenpsychotherapie ist insbesondere bei strukturellen Störungen mit starken Spaltungstendenzen oder bei hohem Schamniveau oft einer Einzeloder Gruppenpsychotherapie überlegen. Der Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung ist dabei zentral.

13.1  Mein paralleles Setting

13

In der Drogenentwöhnung ist die therapeutische Gemeinschaft üblich, in stationärer wie ambulanter Rehabilitation und Nachsorge von Sucht und in der Psychosomatik dagegen die parallele oder Verbundtherapie. Stationäre Therapieerfolge brechen durch fehlende ambulante Weiterbehandlung oft wieder weg. So entwickelte ich ein ambulantes kombiniertes Essstörungssetting gemäß der alten Psychotherapie-Richtlinie (B § 14a Abs.3 Nr. 4: niederfrequente Therapie in einer längerfristigen haltgewährenden therapeutischen Beziehung). Dank der Patienteninitiative im Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) von 2015 ist jetzt in allen analytischen und tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien die Kombination mit einem führenden Verfahren möglich. Von diesem kann weniger als die Hälfte der Therapieeinheiten in das jeweils andere übertragen werden, also von 60 Einheiten Einzeltherapie können bis zu 29 Einheiten als Gruppe durchgeführt werden. Beantragt werden beide EBM-Ziffern mit dem Gesamtkontingent des zu benennenden führenden Verfahrens. Da die Kontingente für Einzeltherapie größer sind (TfP 100:80; AP 300:150), ist bei paralleler und Verbundtherapie meist Einzeltherapie führend. Ich entschied mich pragmatisch für die Einzel- und Gruppenpsychotherapie im wöchentlichen Wechsel (wegen der alten Sitzungsbegrenzung). Dieses Setting wird fakultativ ergänzt durch: 5 körperzentrierte Therapie 5 Gewichts- und Blutwertkontrollen (Hausarzt)

5 Ernährungsberatung (ärztliche Verordnung) 5 intermittierende stationäre Behandlungen (Psychosomatik, Chirurgie). Einige Autoren (Kemper 1964; Rutan und Alonso 1982; Hirsch 2016) sehen eine geringere Vermengung der Übertragungen bei einem Therapeutenpaar oder die Möglichkeit zur Übertragungsspaltung. Sie erhoffen sich ein vollständigeres Bild des Patienten durch den Austausch der Therapeuten. Bei zwei Therapeuten ist ein regelmäßiger, nicht honorierter Austausch gefordert. Für die parallele Gruppen-Einzel-Behandlung bei einem Therapeuten sprechen, dass das Therapeutenpaar einen wirkmächtigen Faktor und damit eine Komplexitätssteigerung darstellt  (Rutan und Alonso 1982; Weinberger und Detroi 2007; Billow 2017). Es besteht die Gefahr der Konkurrenz zwischen beiden Therapeuten, die Spaltungstendenzen, Entwertungen usw. des Patienten fördern oder hervorrufen. Überforderung einiger Patienten entsteht durch sehr unterschiedliche oder gar widersprüchliche Interventionen der Therapeuten. Meiner Erfahrung nach ist Übertragungsspaltung auch zwischen den Settings, zwischen Therapeut/in und Gruppe oder Gruppenmitgliedern möglich. Im parallelen Setting entsteht Rivalität zwischen bevorzugten und benachteiligten „Kindern des Gruppenvaters“, nicht durch dieses. Patient wie Therapeut erleben Übertragung, Gegenübertragung und Interventionen in einer viel größeren Ganzheitlichkeit und sind meist erstaunt über die Unterschiedlichkeit des anderen in den beiden Settings. In ihrer Abwägung kommen Rutan und Alonso (1982) zu der Empfehlung, ein einziger Therapeut sei ein „extrem leistungsfähiges und nützliches therapeutisches Paket“ (Alle Übersetzungen durch D. Weber und B. Klipp).

157 Kombinierte psychodynamische Gruppen- und Einzelpsychotherapie

13.2  Behandlungsansatz

Das Therapiekonzept ist orientiert an der psychanalytisch-interaktionellen Methode (Heigl-Evers und Ott 1995; Streeck und Leichsenring 2011), den Arbeiten u. a. von R. M. Billow (2009, 2017) M. Hirsch (2000, 2004, 2007, 2011) und J. Küchenhoff (1996, 2000). Die psychodynamische Kombinationspsychotherapie gibt den Patienten Raum, ihre inneren Beziehungswelten in der Gruppe in unterschiedlichen Beziehungen und zusätzlich in der Patient-Therapeut-Dyade auszubreiten und so Zugang zu ihren Konflikten und Ängsten zu gewinnen. Sie erhalten ein Übungsfeld, in dem sie ihre Beziehungsgestaltungen verändern und in unterschiedlichen Beziehungen erproben können. Sie werden in eine altersgemischte Gruppe essgestörter Patient/innen integriert. Die Möglichkeiten, sich zu vergleichen, zu identifizieren, aber auch abzugrenzen (insbesondere bei emotionalen Reaktionen), sind hier besonders groß und hilfreich. Das Setting dient der Entwicklung der Ich-Funktionen und damit der Selbst- und Beziehungsregulation durch Übernahme von Hilfs-Ich-Funktionen. So werden die Patienten vor allem darin gefördert, sich und ihre Beziehungen über identifikatorische Prozesse immer besser unabhängig vom Essen selbst zu regulieren. Intrapsychisch heißt dies eine Integration von Teilobjekt-Repräsentanzen zu Ganzobjekten, auch der Selbst-Repräsentanzen (eine differenziertere Darstellung gibt es in Klipp 2018). Staats (2014) sieht die ambulante Parallelbehandlung durch einen geringeren Drop-out und eine höhere Erfolgsquote sogar der stationären Therapie überlegen. 13.3  Fallbeispiel

Die folgende Vigniette wurde von der Patientin gelesen und ihre Veröffentlichung genehmigt. Frau Y wurde von einer traumatisierten, schwerst persönlichkeitsgestörten Mutter

13

geboren, die neben mehreren Suizidversuchen auch versuchte, die Patientin als Säugling zu ermorden. Fremdplatzierungen in Heimen und 15 Pflegefamilien ab dem Alter von drei Monaten führten dazu, dass die Patientin einen unsicher vermeidenden Beziehungsstil entwickelte und ein Lebensschuldgefühl (Hirsch 2007). Sie lernte, sich maximal an das Objekt anzupassen, um es nicht wieder zu verlieren oder Opfer seiner Rache zu werden. Ihre Enttäuschungswut musste Frau Y maximal abwehren und depressiv gegen das eigene Selbst und das negative Mutterintrojekt richten. Sie lernte, sich über Leistung zu stabilisieren und eine Notreife zu entwickeln, die zugleich eine wirkliche Reifung verhinderte, sodass Frau Y auf ein steuerndes Objekt angewiesen ist. Traumatisiert durch Gewalt, Vernachlässigung, Bezugspersonverlust und sexuellen Missbrauch griff sie auf Spaltung und projektive Identifizierung als zentrale Abwehrmechanismen zurück. Die Anorexie begann bereits im Kindesalter durch Abspaltung und Benutzung des Körperselbst und des Körpers als Objekt. Die mit den negativen Introjekten identifizierten Selbstanteile wurden so auf den Körper projiziert und in ihm verfolgt. Frau Y lernte ihren Selbstwert über Zuwendung von mächtigen Männern und Leistung zu stabilisieren. In ihren Partnern sucht sie einerseits ein Sicherheit gebendes, steuerndes väterliches, aber zugleich auch ein versorgendes und die mangelnde Ich-Funktion ausgleichendes mütterliches Objekt. Zentral sind hier die Funktionen der Selbstberuhigung und der Selbstfürsorge. In der Anorexie drückt sich der verzweifelte Wunsch aus, die traumatischen Introjekte auszuhungern und sich von diesen zu befreien, unabhängig von Objekten zu werden, was im Widerspruch zu den großen Abhängigkeits- und Nähebedürfnissen steht. Frau Y brachte sich relativ schnell aktiv im Gruppenprozess ein und begann immer, allen helfen zu wollen und Mutterfunktion für die anderen Teilnehmer zu übernehmen. Langsam konnte die Essstörungsgruppe sie damit konfrontieren, was sie in ihrem Helfenmüssen entlastete. Frau Y begann die Arbeit am Emp-

158

13

B. Klipp

fang eines großen sozialen Unternehmens. Auch hier hatte sie große Schwierigkeiten sich abzugrenzen, z. B. die Arbeitszeiten einzuhalten. Die Tendenz zu Kontaktabbrüchen und -wiederaufnahmen zeigt sich in der Gruppe und konnte bearbeitet werden. Frau Y konnte sich gut stabilisieren, neigte unter starken Belastungen lange dazu, Alkohol zu missbrauchen oder anorektisch zu agieren. Die Mutter nutzte Frau Y während ihrer Sterbephase nochmals stark als mütterliches Objekt. Zugleich erlebte Frau Y immer wieder eine massive Enttäuschung und Entwertung. Ihr gelang es immer wieder und immer besser während des Krankheitsprozesses, sich abzugrenzen. Mit dem Tod der Mutter kam sie aber erwartungsgemäß wieder massiv in eine Krise. Frau Y konnte sich in der kombinierten Behandlung gut einlassen und hat einen stabilen Platz in der Gruppe. Ihre Spaltungs- und Entwertungstendenzen kann sie in diesem Setting gut verteilen (Übertragungsspaltung) und immer wieder im jeweils anderen Setting reflektieren. Dadurch gelingt es ihr zunehmend, Objektrepräsentanzen weniger lange und massiv spalten zu müssen. Der Prozess, diese zu ganzen Objekten zu integrieren, hat erst begonnen. Dies gilt auch für die Selbstrepräsentanzen. Trotz der massiven Belastung durch den Tod der Mutter und dem nun endgültigen Aufgeben-Müssen, von dieser noch die erhoffte Anerkennung und Liebe zu erhalten, gelingt es Frau Y, ihrer Arbeit nachzugehen und sich dort erstmals gegen ihre direkte Kollegin besser abzugrenzen, indem sie deren Arbeit nicht permanent erledigt. Für Frau Y ist es nach wie vor sehr wichtig, dass sie ihre Übertragungen spalten kann und so nicht auf Spaltungsübertragung zurückgreifen muss. Dadurch werden ihre ausgeprägten Frühstörungsanteile mit Spaltung und projektiver Identifizierung sowie Idealisierung und Entwertung besser haltbar und „containbar“ im Prozess, sodass sie nicht abbrechen muss. Sie hat eine recht stabile, meist positive Vaterübertragung zu mir entwickelt, während die Gruppe als mütterlich versorgendes und haltgebendes Objekt erlebt

wird. Das Kippen in ein verschlingendes oder verlassendes mütterliches Objekt trifft selten die Gesamtgruppe sondern eher Untergruppen oder einzelne Mitglieder oder mich. Dadurch ist Frau Y weniger bedroht und die anderen können als Zeugen und Stützen erlebt werden. Dies braucht sie noch deutlich länger, um sich weiter zu stabilisieren und Selbst- und Objektrepräsentanzen zu integrieren.

13.4  Übertragung und

Gegenübertragung

Wichtige Gründe für die Kombinationsbehandlung sind (Staats 2014; Yalom 2015): 5 Vermeidung einer stationären Psychotherapie (Kosteneinsparung) 5 Geringere Abbruchraten als bei einer reinen ambulanten Gruppenpsychotherapie (v. a. ausgeprägte Persönlichkeitsstörungen) 5 Durch die Einzeltherapie wird es für schwer strukturell Gestörte möglich, positive Gruppenerfahrungen in den Alltag zu übertragen.

Die kombinierte Psychotherapie wurzelt in der Komplexität und Intensität des multiplen Übertragungs-GegenübertragungsGeschehens, der intrapsychischen Abwehr, interpersoneller Strategien (psychosoziale Kompromissbildungen) und unvermeidlichen Enactments aller an der Behandlung Beteiligten (Billow 2009). Das Einlassen auf die kombinierte Psychotherapie beeinflusst die ganze berufliche Identität und Praxis des Therapeuten. Da sowohl Therapeut als auch Patient die Gruppe im Kopf haben, ist sie immer im Raum. Umgekehrt ist die Dyade auch bei ausschließlichen Gruppenpatienten immer im Kopf, z.  B. als Subgruppenrepräsentanz. Dies wird nicht zuletzt durch die dyadische Probatorik implementiert.

159 Kombinierte psychodynamische Gruppen- und Einzelpsychotherapie

Das kombinierte Setting provoziert weniger systematisches Agieren als die Kokonstruktion eines gemeinsamen Zwischenraumes. Weinberg und Detroi (2007) beschreiben das Mehr als die Summe von „Gruppe und Einzel“ als intermediären Raum, den Patient und Therapeut gemeinsam erschaffen und in dem sich ein analytisches Drittes bildet, das Gegenstand der gemeinsamen Konstruktion von emotionaler Wahrheit (Billow 2017) und Rekonstruktion der Vergangenheit (Herstellung von Geschichtlichkeit) ermöglicht. In der Einzeltherapie werden die Patienten darin gefördert frei in der Gruppe zu interagieren. Neue Lernerfahrungen können dort reflektiert werden. Die resultierende Komplexitätssteigerung nimmt ein Therapeut nur auf sich, wenn er die Vorzüge beider Settings sieht (Staats 2009). Dann vermittelt er, dass die Kombination gut ist und sorgt für den Prozess. Yalom (2015) sieht den Komplexitätszuwachs im Wissensvorsprung des Therapeuten durch die Einzeltherapie. Dieser ist in geringerem Ausmaß schon durch Probatorik, Anamneseerhebung und die Erstellung der Psychodynamik gegeben. Je mehr der Patient seine Übertragungstendenzen und deren Niederschläge in Verhalten und Erleben erkennt, desto freier kann er damit umgehen. „Jedes Fenster, das einen Zugriff auf den Prozess der Übertragung erlaubt, wird klar zum Gesamterfolg der Behandlung beitragen“ (Kauff 2009). Förderliche Bedingungen für das Auftauchen und die Erforschung der Übertragung nützen der Therapie. Gruppe und Dyade regen dieselben Übertragungen zu unterschiedlicher Zeit, in unterschiedlicher Stärke und mit verschiedenen Inhalten an (Kauff 2009). 13.4.1  Übertragung und

Widerstand

Freud (1914) definierte die Psychoanalyse durch die Arbeit mit den beiden fundamentalen Faktoren Übertragung und Widerstand.

13

Vor dieser Folie sehe ich die kombinierte Psychotherapie als Anwendung der Psychoanalyse neben Einzel- und Gruppenanalyse/-psychotherapie. Billow (2009) unterscheidet vertikale (Einzelanalyse) und horizontale (Gruppenanalyse) Übertragung. Die Einzelanalyse ermöglicht tiefe intrapsychische und biografische Erkundung und freie Assoziation sowie den Umgang mit sehr schambesetzten Geheimnissen. Die Gruppenanalyse ermöglicht eine breite interpersonelle Erkundung sowie die Exploration riskanten Verhaltens und die Untersuchung einer breiten Vielfalt an Übertragungen. In der vertikalen Übertragung wird auf Autoritäten und Eltern fokussiert, in der horizontalen Übertragung auf Gruppenmitglieder, Geschwisterrivalität, Neid, Eifersucht. Trianguläre Übertragungen dürften hier vorherrschen. Die beiden Anwendungen der Psychoanalyse befruchten sich dabei gegenseitig. Jedes Setting stellt ein Holding bereit, einen komplementären positiven Pol, der ein Containing der Angst und Negativität, die im jeweils anderen Setting entstehen, ermöglicht. So kann eine Gegenseitigkeit wachsen, in der jede Anwendungsform zum Raum der Erkundung der Reaktionen auf das jeweils andere Setting wird. Die häufige Kritik, zu viel Realität in der Gruppe verwässere die Übertragung in der Einzelanalyse, führt Lipsius (1991) auf Verhaftetsein in der Einpersonen-Psychologie zurück, das die Komplexität der heutigen Zwei- oder Mehrpersonen-Psychologie negiert. So können wir die Übertragung kaum noch ohne Gegenübertragung denken. In der Arbeit mit strukturellen Störungen ist eine Mehrpersonen-Psychologie essenziell. Wie Übertragung und Widerstand schien die Gegenübertragung ein Störfaktor in der Psychoanalyse zu sein (Freud 1910). Erst ab den 50er Jahren wurde sie zum Instrument des Verstehens.

160

B. Klipp

Moeller (2003) formuliert fünf Gegenübertragungen in der Gruppe: 1. multiple Gegenübertragung: die Gegenübertragung in der Gruppenanalyse antwortet auf die multiplen Übertragungen 2. Gegenübertragung auf Nebengegenübertragungen: Gruppenmitglieder antworten mit sog. Nebengegenübertragungen auf Übertragungen aus der Gruppe 3. Gruppengegenübertragung: Gegenübertragung auf die Gruppe als Ganzes 4. dynamischen Gegenübertragungen, die der Matrix der Gruppe entsprechen: eher archaische Defekt-Gegenübertragungen versus eher neurotische Konflikt-Gegenübertragungen 5. Personifikation: multiple Übertragung des Gruppenanalytikers auf die Gruppenmitglieder. (Ich verstehe als Gegenübertragung die unbewusste Reaktion des Analytikers auf die Übertragung. Eigene Übertragungen sind für mich keine Gegenübertragungen.)

13 Es ist schwer nachzuvollziehen, dass diese Komplexität an Übertragungs- Gegenübertragungs-Geschehen handhabbar sein soll, die verarbeitbare Komplexität jedoch plötzlich überschritten werde, wenn die ÜbertragungsGegenübertragungs- Dimension der Einzelbehandlung hinzutritt. In der Einzel- wie in der Gruppenanalyse kann immer nur ein Teil der Komplexität aufgenommen und verarbeitet werden; dies gilt auch für die kombinierte Psychotherapie. Wir müssen immer mit unserer Begrenztheit als (Gruppen-)Therapeut arbeiten und leben. Die Kombinationstherapie ermöglicht, eigene Begrenztheiten ein Stück durch die Gruppe und das in der Matrix bearbeitete

unbewusste Material auszugleichen. Die klinische Situation in der kombinierten Therapie ist vieldeutig. Beide Settings existieren in der äußeren Realität. Zentral ist, wie sie intrapsychisch repräsentiert werden. Die Übertragungen in der Gruppe ersetzen dabei oft die Nebenübertragungen, die wir aus der Einzeltherapie kennen. Nicht der Widerstand, sondern die unbewussten Motivationen, die z. B. hinter der Spaltung von Gruppen- und Einzeltherapie, als gäbe es keine Verbindung, liegen, geben den Patienten neue Einsichten. Diese entstehen neben Wiederholen und Erinnern auch durch neue Erfahrungen. Billow (2009) betont, die klassische Analyse übersehe das Körperselbst und die nonverbale Kommunikation sowie Now-Moments und Enactments und werde damit der menschlichen Natur nicht gerecht. Angst vor der Rache des Objektes verhindert den Ausdruck sehr negativer Übertragung gegenüber dem Therapeuten. In der Gruppe kann sie verschoben werden. In der kombinierten Psychotherapie kann man den Patienten diese ihre psychische Funktion bewusst machen und bösartigsten Widerstand (insbesondere den Über-Ich-Widerstand) vermindern (Kauff 2009). Hier verteilen sich die Übertragungen auf Therapeut, Gruppe und Gruppenmitglieder und erleichtern so, hartnäckige Pathologien zu handhaben. Die noch frischen Gefühle aus der Gruppe können in der Einzeltherapie erkundet werden. Diese Erkundungen dehnen sich zunehmend auf das Leben innerhalb und außerhalb der Therapie aus. Die Fantasie einer exklusiven Beziehung zum Therapeuten (einziger Patient) findet ein abruptes Ende mit der Gruppe und es besteht die Notwendigkeit, sich zu zeigen. Dies ist eine Verletzung des primären Narzissmus: Er liebt mich nicht, da ich nicht gut genug bin, das einzige Kind zu sein. Mit dem ersten Gedanken an die Gruppe treten Geschwisterrivalität und ödipale Konkurrenz hinzu. Primitive Fantasien von der bösen, destruktiven Brust im kleinianischen Sinne können so viel Angst vor der Gruppe (mütterliches Teilobjekt) hervorrufen, dass der

161 Kombinierte psychodynamische Gruppen- und Einzelpsychotherapie

Patient fliehen muss. Bei schweren Charakterpathologien kann die Gruppe aber das einzig tolerierbare Setting sein, in dem die negative Übertragung „containbar“ und verdaubar ist. In der Gruppe ist der Therapeut weder das einzige Objekt noch der Einzige, der deutet. Dies ist gerade zu Beginn einer Behandlung sehr hilfreich (Staats 2014). Die Unterschiedlichkeit in der Gruppe fokussiert die Inkohärenz zwischen der inneren Realität des Patienten und der geteilten Wirklichkeit, was keine Entsprechung in der Einzeltherapie hat (Kauff 2009). Regressives Erleben entsteht in Gruppen schnell und löst sich am Sitzungsende relativ rasch wieder auf, wird so weniger bedrohlich und besser nutzbar. Der Widerstand gegen Interpretationen aus der Gruppe ist geringer als gegenüber denen des Therapeuten. Auf die Gruppe bezogene Interventionen können Borderlinepatienten  und narzisstische Patienten „soweit auf sich beziehen, wie es für sie tolerierbar ist“ und so mehr Autonomie erleben. Beide Settings fordern den Therapeuten bei der Handhabung der Übertragung und Gegenübertragung, halten aber auch Entlastungen bereit. „Der Zugang zum Übertragungsprozess und dessen Verfügbarkeit für die analytische Erforschung ist das sine qua non der analytischen Methode. Der Umgang mit dem Widerstand gegen die Analyse ist ausschlaggebend für den Erfolg der Methode“ (Kauff 2009). Daher ist die Verbreiterung des Zugangs zur Übertragung und deren Handhabung, die die Simultantherapie bereithält, fruchtbar. 13.5  Behandlungstechnik

Lipsius‘ (1991) Regeln für den Umgang mit Übertragung und Widerstand (insbesondere Spaltung) an der Berührungsfläche zwischen Gruppen- und Einzelanalyse sind eine gute Hilfe:

13

13.5.1  Erhaltung der Essenz

der Einzel- und der Gruppentherapie

Das Material (auch Widerstand in Querverweisen) wird da analysiert, wo es auftaucht. Warum taucht Gruppenmaterial im Einzelgespräch und Material zur dyadischen Übertragungsbeziehung in der Gruppe auf? Nur im Einzelsetting zu analysieren würde Spaltungstendenzen bei frühen Störungen fördern. Ein großer Vorteil der Kombinationstherapie ist, den Widerstand aus einem Setting im anderen zu untersuchen, wo der Widerstand gegenüber der Manifestation und der Untersuchung des Widerstands und seiner unbewussten Hintergründe geringer ist. Wer das Material zu weit diskutiert, riskiert, dass ein Setting zum Widerstand gegen das andere wird. Dies passiert, wenn über die Bearbeitung des Widerstandes hinaus z. B. Deutungen einer negativen Übertragung in der Gruppe gegeben werden, um sich vor der Wucht der Reaktion des Patienten durch die Gruppe schützen zu lassen. 13.5.2  Schutz der Prozesse

in Einzel- und Gruppentherapie

Wir fördern die Patienten darin, das Material in das dafür zentrale Setting einzubringen. Sie werden ermutigt, Ärger auf Mitglieder in der Gruppe einzubringen. Warum der Patient dies im Einzelgespräch statt in der Gruppe äußert, kann zu einer triangulären  Übertragungskomponente führen („therapist in the group transference“). Wenn die Übertragung zusammen mit einer Einsicht über sie in die Gruppe eingebracht wird, kann das die Gruppe und ihre Mitglieder fördern. Ähnliches gilt für Einzelübertragungen in der Gruppe. In der Gruppe wird der

162

B. Klipp

Widerstand analysiert, warum dies passiert. Danach kann die Übertragung weiter in der Einzeltherapie verstanden werden. 13.5.3  Gegenseitiges Verstärken

der Vorteile der Settings

Von der Arbeit mit dem Gruppenmaterial (Einzelanalyse als Hintergrundwissen) bis hin zur direkten Frage Einzelmaterial verwenden zu dürfen, wird die am wenigsten intrusive Intervention genutzt. Klarifizierung und Richtigstellung von neurotischen Verzerrungen ist immer geboten, z. B. bei einer durch neurotisch verzerrten Wiedergabe von Szenen aus der Einzeltherapie in der Gruppe. Wir stellen dem unsere – hoffentlich reflektierte – Wahrnehmung zur Seite und arbeiten an der Differenz. Die Empfehlungen der 7 Abschn. 13.5.2 und 13.5.3 maximieren die Vertraulichkeit der Einzel- gegenüber der Gruppentherapie. 13.5.4  Nutzung der

13

Berührungsfläche zwischen den Settings zur Integration konflikthafter Selbstanteile

Der Patient wird eingeladen, Einzel- und Gruppenmaterial auf einander zu beziehen. Deutungen sollen die Integration von Selbstanteilen fördern. Widerstände zwischen den Settings sind so leichter zu erkennen. Der generelle Geist des gesamten kombinierten individuellen und Gruppenprozesses ist einer der Integration. Der Patient soll durch den Bau einer Brücke zwischen Einzel- und Gruppentherapie frei werden, um über alles in beiden Settings zu sprechen. Zu vermeiden ist zu intrusive Beelterung, mangelnde elterliche Beteiligung oder ein Alternieren dazwischen. Klare Setting-Grenzen

machen die Übertragung sichtbar und die Gegenübertragung leichter unterscheidbar. 13.6  Fazit

Die kombinierte psychodynamische Gruppen- und Einzelpsychotherapie bietet neben den klassischen nur einzel- oder gruppenpsychotherapeutischen Anwendungsformen der Psychoanalyse eine Alternative, die gerade bei deutlicher struktureller Beteiligung, großen Ängsten, schambesetzten Themen und einem schwachen Arbeitsbündnis bedeutend ist (Billow 2009; Hirsch 2016). Nicht nur meine stationäre Erfahrung mit der Kombinationsbehandlung ist positiv (Staats 2014 S. 354, Strauß 2016 S.163). Streeck (2016 S. 151) schränkt ein, dass es ein multimodales Setting ist. In meiner Praxis mache ich seit 2009 mit wenigen Ausnahmen sehr gute Erfahrungen mit der Kombinationsbehandlung. Patienrückmeldungen bestätigen dies häufig. Frau X konnte am Behandlungsende die Einzeltermine weniger wahrnehmen. Daher beantragten wir erfolgreich die Umwandlung von Einzel- in Gruppensitzungen. So konnte sie bis zum Ende an der Gruppe teilnehmen. Wie Kauff (2009) denke ich, dass die parallele Nutzung beider Settings höhere Komplexität bedeutet. Der Gesamtnutzen für den Patienten rechtfertigt diese therapeutische Herausforderung jedoch. Aus der relationalen und interpersonalen Psychoanalyse und den Bindungstheorien kann eine Änderung des kollektiven Denkens erwachsen. Psychoanalyse und Gruppenanalyse könnten sich von unvereinbaren Konkurrenten zu miteinander verknüpften Perspektiven und Schwerpunkten entwickeln. Der unwillkommene Bastard (Schermer 2009) kombinierte Gruppenund Einzelanalyse, der gelegentlich toleriert wurde, könnte so im Laufe der Zeit doch noch voll akzeptiert werden. Daraus entsteht die Freiheit, je nach den Erfordernissen

163 Kombinierte psychodynamische Gruppen- und Einzelpsychotherapie

des Patienten einzelanalytisch, gruppenanalytisch oder kombiniert zu arbeiten oder von einem Setting zum anderen zu wechseln.

Literatur Billow, R. M. (2009). Die radikale Natur der kombinierten Psychotherapie. International Journal of Group Psychotherapy, 59(3), 1–28. Billow, R. M. (2017). Relational Group Psychotherapy: An Overview: Part I: Foundational Principles and Practices. Group Analysis, 50(1), 6–22. Freud, S. (1910). Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie. GW VIII (S. 103–115). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1914). Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. GW X (S.  43–113). Frankfurt a.  M.: Fischer. Gemeinsamer Bundesausschuss: Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Psychotherapie-Richtlinie: Kombinierbarkeit von Einzel- und Gruppentherapie im Rahmen der psychoanalytisch begründeten Verfahren. Vom 16. Juli 2015. 7 https://www.g-ba.de/ downloads/40-268-3283/2015-07-16_PT-RL_Kombination-ET-GT_TrG.pdf. Zugegriffen: 16. Febr. 2018. Heigl-Evers, A., & Ott, J. (Hrsg.). (1995). Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode. Theorie und Praxis (2. Aufl.). Göttingen: Vanderhoeck & Ruprecht. Hirsch, M. (2000). Symbolfunktion und Objektverwendung des eigenen Körpers bei Selbstschädigung, Autoerotismus und Ess-Störungen. Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung, 4(6), 111–126. Hirsch, M. (2004). Körperinszenierungen. Über Parallelen des Körperagierens bei den „Naturvölkern“, zeitgenössischen Jugendlichen und pathologischen Formen. Forum der Psychoanalyse, 20(4), 367–378. Hirsch, M. (2007). Schuld und Schuldgefühl. Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt (4. Aufl.). Göttingen: Vanderhoeck & Ruprecht. Hirsch, M. (2011). Trauma. Gießen: Psychosozial. Hirsch, M. (2016). Die Kombination psychoanalytisch orientierter Einzel- und Gruppentherapie in der ambulanten Behandlung. Psychodynamische Psychotherapie, 15(3), 131–139. Kauff, P. F. (2009). Transference in combined individual and group psychotherapy. International Journal of Group Psychotherapy, 59(3), 29–45.

13

Kemper, W. W. (1964). Das Problem der Gleichzeitigkeit von Individual- und Gruppenanalyse. Psyche, 18(5), 314–320. Klipp, B. (2018). Kombinierte Gruppen- und Einzelpsychotherapie am Beispiel eines ambulanten Essstörungssettings. Gruppenpsychother. Gruppendynamik, 54(1), 2–18. Küchenhoff, J. (1996). Die psychodynamische Behandlung der Anorexia nervosa. In W. Herzog, et al. (Hrsg.), Anorexia und Bulimia nervosa. Brücken… 1 (S. 7–14). Frankfurt a. M.: VAS. Küchenhoff, J. (2000). Die Lesbarkeit des Körpers – Psychoanalytische Zugänge zu Somatisierung und Selbstverletzung. Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung, 4(6), 17–36. Lipsius, S. H. (1991). Combined individual and group psychotherapy: Guidelines at the interface. International Journal of Group Psychotherapy, 41(1), 313–327. Moeller, M. L. (2003). Gegenübertragung in der Gruppenanalyse. In A. Pritz & E. Vykoukal (Hrsg.), Gruppenpsychoanalyse. Theorie – Technik – Anwendung (2. veränderte Aufl., S. 70–102). Wien: facultas. (Erstveröffentlichung 1996). Rutan, J. S., & Alonso, A. (1982). Group therapy, individual therapy, or both? International Journal of Group Psychotherapy, 32(3), 267–282. Schermer, V. L. (2009). On the vicissitudes of combined individual and group psychotherapy. International Journal of Group Psychotherapy, 59(1), 149–162. Staats, H. (2014). Einzel- und Gruppenpsychotherapie kombinieren und verbinden. In H. Staats, et al. (Hrsg.), Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse. Ein Lehr- und Lernbuch für Klinik und Praxis (S. 350–360). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Strauß, B. (2016). Die Kombination von Einzel- und Gruppenpsychotherapie aus der Sicht der Psychotherapieforschung. Psychodynamische Psychotherapie., 15(3), 160–171. Streeck, U. (2016). Selbstregulierung und Beziehungsgestaltung. Psychodynamische Psychotherapie, 15(3), 150–159. Streeck, U., & Leichsenring, F. (2011). Handbuch psychoanalytisch-interaktionelle Therapie. Behandlung von Patienten mit strukturellen Störungen und schweren Persönlichkeitsstörungen (2. Aufl.). Göttingen: Vanderhoeck & Ruprecht. Weinberg, H., & Detroi, A. (2007). Concurrent therapy, countertransference, and the analytic third. Group, 31(1–2), 47–62. Yalom, I. D. (2015). Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Ein Lehrbuch. Stuttgart: Klett Cotta.

165

Die Kombination Einzel- und Gruppentherapie: In der Theorie akzeptiert – in der Praxis vielschichtig Michael Marwitz und Christiane Pennecke

14.1 Einleitung – 166 14.2 Faktoren, welche die Wechselwirkung von Einzel- und Gruppentherapie beeinflussen – 166 14.2.1 Quantitative Perspektive – 167 14.2.2 Sequenzielle Perspektive – 167 14.2.3 Die Perspektive der Gruppenleitung – 168 14.2.4 Inhaltliche Perspektive – 169 14.2.5 Synergieeffekte nützen – 169

14.3 Umsetzung in der Praxis: eine Fallvignette – 170 14.4 Überlegungen zur Kombination von Einzel- und Gruppenpsychotherapie – 172 14.5 Auswertung und Überlegungen – 174 Literatur – 175

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_14

14

166

M. Marwitz und C. Pennecke

14.1  Einleitung

14

Ein typisches Merkmal der Verhaltenstherapie war und ist die Entwicklung und Anwendung von Therapiemanualen, in denen empirisch gesichertes Wissen über einzelne Störungsbilder in didaktisch aufbereiteter Form dargestellt wird. Diese Manuale werden entweder 1:1 oder in leicht abgewandelter Form auf die Gruppe übertragen (Fiedler 2005) und folgen vor allem den Interessen der Zeitgewinnung und Ökonomie. So sehr die Standardisierung aus Forschungsperspektive wünschenswert ist, erweist sie sich in der Praxis als Nachteil, da die Manuale die Komplexität der individuellen Schwierigkeiten nicht adäquat berücksichtigen können. Daher ist eine begleitende Einzeltherapie notwendig (Fiedler in Tschuschke 2010). Die indikativen bzw. störungsspezifischen Gruppen sind heute die „Methode der Wahl“ (Fiedler 1996) und werden vorwiegend in den Kliniken angeboten. In einer Literaturübersicht stellen Fuhr­ iman und Burlingame (1994) fest, dass die Kombination von Einzel- und Gruppentherapie effektiv ist. Die Frage ist nun, welche Wechselwirkungen sich durch die Kombination von Einzel- und Gruppentherapie ergeben. Die Art der Wechselwirkung (hemmend oder verstärkend, synergetisch oder antagonistisch) hängt wiederum von mehreren Faktoren ab, die im Folgenden detaillierter dargestellt werden sollen. 14.2  Faktoren, welche die

Wechselwirkung von Einzelund Gruppentherapie beeinflussen

5 Quantitativer Faktor der beiden Formate: Wie viele Stunden sollen in Form von Einzel- und wie viele in Form von Gruppentherapie durchgeführt werden? 5 Sequenzieller Faktor: Sollten die therapeutischen Einzelsitzungen vor, während oder im Anschluss an die Gruppensitzungen gelegt werden?

5 Faktor der Gruppenleitung: Sollte der Einzeltherapeut auch die Gruppe leiten oder sollte diese von einem anderen Therapeuten geleitet werden? 5 Inhaltlicher Faktor: Welche Inhalte sollten in der Einzel- und welche in der Gruppentherapie thematisiert werden, und wie sollten diese aufeinander bezogen werden? Es erscheint unmittelbar evident, dass die genannten Punkte einander bedingen. Sollen beispielsweise in der Gruppentherapie bestimmte Fertigkeiten vermittelt werden, auf die in der Einzeltherapie dann zurückgegriffen werden soll (z. B. die Vermittlung kognitiver Methoden), dann sollte die Gruppensitzung  eher vor  oder parallel zur Einzeltherapie angeboten werden und nicht im Anschluss an sie (Berücksichtigung sequenzieller und inhaltlicher Aspekte). Will eine Traumatherapeutin, die mit sexuell traumatisierten Frauen arbeitet, im Anschluss oder parallel zu den einzeltherapeutischen Sitzungen eine Gruppentherapie anbieten, so ist die Frage, ob sie selbst oder eine andere Therapeutin (oder sogar ein Therapeut) diese durchführt, eine sehr bedeutsame Frage. Diese hängt wiederum in nicht unerheblichem Maße von den Inhalten der Gruppe ab. Sollen in dieser vor allem Themen wie Partnerschaft, Beziehungsgestaltung und Sexualität Inhalt werden, dann ist es wahrscheinlich sinnvoll, wenn die Einzeltherapeutin auch die Gruppe leitet. Sollen hingegen in der Gruppe soziale Fertigkeiten und Techniken der Selbstbehauptung vermittelt werden, kann es sinnvoller sein, wenn jemand anderes (gegebenenfalls gerade auch ein männlicher Therapeut) die Gruppe leitet, möglicherweise als einziger Gruppenleiter oder auch zusammen mit der Einzeltherapeutin (simultane Berücksichtigung sequenzieller, inhaltlicher Faktoren  und Aspekte der Gruppenleitung). Im Folgenden sollen einige pragmatische Empfehlungen in Hinblick auf eine möglichst effektive Kombination von Einzel- und Gruppentherapie in der ambulanten Praxis

167 Die Kombination Einzel- und Gruppentherapien …

gegeben werden. Dabei können jedoch die meist vorliegenden Limitationen, die sich bei der Umsetzung in der Praxis ergeben (u. a. aufgrund organisatorischer Probleme, knapper zeitlicher Ressourcen usw.) nur in Ansätzen berücksichtigt werden. 14.2.1  Quantitative Perspektive

Handelt es sich bei der Kombination von Einzel- und Gruppentherapie bei der Gruppe um ein störungs- oder problemspezifisches Gruppenkonzept (vgl. 7 Kap. 9), hat sich eine Relation von etwa 70 bis 75 % Einzel- und 25 bis 30 % Gruppentherapie bewährt – wobei die Sitzungszahl der Gruppentherapie bei mindestens sechs Sitzungen liegen sollte. Bezogen auf eine Langzeittherapie von 45 Sitzungen wären dies in etwa 30 Sitzungen Einzel- und 12 bis 15 Gruppentherapiesitzungen. In dieser Zeit lassen sich die meisten störungs- oder problemspezifischen Gruppenkonzepte (wie beispielsweise das Training sozialer Kompetenzen) gut durchführen. Handelt es sich hingegen um eine zieloffene bzw. anliegenorientierte verhaltenstherapeutische Gruppentherapie (vgl. Marwitz 2016), dann sollte die Relation bei 50:50 liegen, wobei die anliegenorientierte Gruppe mindestens 15 Sitzungen umfassen sollte. Auf eine Langzeittherapie bezogen würde dies einer Relation von etwa 25 bis 30 Einzel- und etwa 15 bis 20 Gruppensitzungen entsprechen. Dieses Verhältnis ermöglicht eine ebenso intensive einzeltherapeutische wie gruppentherapeutische Arbeit, deren Wirkungen sich in synergistischer Weise wechselseitig verstärken können. Dabei gilt es, insbesondere auch sequenzielle Aspekte zu berücksichtigen. 14.2.2  Sequenzielle Perspektive

Bei der Kombination von Einzeltherapie und anliegenorientierter Gruppentherapie  ist eine parallele oder eine der Einzeltherapie nachgeschaltete Durchführung der Gruppentherapie

14

zu empfehlen. Liegen ausgeprägte interpersonelle Defizite, akzentuierte Persönlichkeitszüge oder eine Persönlichkeitsstörung vor, dann hat es sich als vorteilhaft erwiesen, die Gruppentherapie parallel zur Einzeltherapie durchzuführen. Auf diese Weise ist es möglich, die Gruppensitzungen vor- und nachzubesprechen, sodass sich die Gruppe als Experimentierfeld nützen lässt und sich dysfunktionale intra- und interpersonelle Prozesse, die in der Gruppe auftreten, zeitnah bearbeiten und auflösen lassen. So können Konflikte, die in der Gruppe aufgetreten sind, in der Einzelsitzung nachbesprochen werden und die Ergebnisse dann in Form eines Anliegens wiederum in die Gruppe eingebracht und bei Bedarf durch zielführende gruppentherapeutische Interventionen bearbeitet werden (Marwitz 2016; Sipos und Schweiger 2018). Konzeptuell gesehen sollte dieses bidirektionale Vorgehen (was in der Gruppe geschieht, wirkt sich auf die nächste Gruppensitzung und die nächste Einzelsitzung aus, Entsprechendes gilt für die Einzelsitzungen) den Gruppenmitgliedern transparent gemacht und als prozessualer Wirkfaktor gekennzeichnet werden. In anderen Fällen ist es wiederum sinnvoller, die anliegenorientierte Gruppentherapie im Anschluss an die einzeltherapeutischen Sitzungen durchzuführen. Dies ist insbesondere bei sehr „anhänglichen“ Patienten sinnvoll, denen die Teilnahme an einer Gruppentherapie weitere Unterstützungsmöglichkeiten bietet und von ihnen dabei zugleich ein Mehr an Autonomie verlangt. In jedem Fall trägt die Gruppentherapie dazu bei, die Fixierung auf den Therapeuten zu reduzieren und damit die Ablösung von ihm zu erleichtern. Auch kann die Teilnahme an einer nachgeschalteten Gruppentherapie dann sinnvoll sein, wenn die Einzeltherapie stagniert, da sie zu wenig Veränderungsimpulse bietet oder wenn zunehmend existenzielle Themen in der Einzeltherapie angesprochen werden, deren Bewältigung weniger psychotherapeutische Expertenkompetenz als vielmehr zwischenmenschliche Anteilnahme, Trost und Unterstützung

168

14

M. Marwitz und C. Pennecke

erfordern. Zu nennen sind Themen wie der Verlust wichtiger Bezugspersonen (z. B. der Tod eines Kindes), schwierige Lebenslagen (z. B. Pflege eines an Demenz erkrankten Angehörigen) oder die Bewältigung einer schweren Erkrankung (z.  B. Multiple Sklerose). In solchen Fällen hat sich ein Verhältnis von 30 bis maximal 50 % Einzelund 50 bis 70 % Gruppentherapiesitzungen bewährt. Im Fall von störungs- und problemspezifischen Gruppen ist es für den Zeitpunkt der Therapie ausschlaggebend, wann im Therapieverlauf  die zu vermittelnden Informationen oder Fertigkeiten  ihren maximalen Nutzen in Bezug auf die Durchführung der Einzeltherapie entfalten. Werden diese Fertigkeiten zu einem frühen Zeitpunkt benötigt (z. B. bei einer Gruppe die Vermittlung von Basisfertigkeiten der kognitiven Therapie), dann sollte diese vor Beginn der Einzeltherapie oder in ihrer initialen Phase durchgeführt werden. In anderen Fällen ist es hingegen sinnvoll, die Gruppe parallel zur Einzeltherapie durchzuführen (z.  B. bei der Vermittlung von achtsamkeitsbezogenen Fertigkeiten oder Stressbewältigungsstrategien), und in wieder anderen Fällen kann es sinnvoll sein, die störungs- oder problemspezifische Gruppe gegen Ende oder sogar im Anschluss an die Einzeltherapie durchzuführen. Dies ist immer dann der Fall, wenn die Einzeltherapie erst die Voraussetzungen für eine sinnvolle Teilnahme an der Gruppe ermöglicht, beispielsweise bei depressiven Patienten, die mehr von der Teilnahme an einem sozialen Fertigkeitentraining profitieren, wenn sich die depressive Symptomatik im Verlauf der Einzeltherapie gebessert hat. 14.2.3  Die Perspektive der

Gruppenleitung

Die Entscheidung, ob eine verhaltenstherapeutische Gruppe von ein und demselben oder von unterschiedlichen Therapeuten geleitet werden sollte, lässt sich am besten

aufgrund pragmatischer Überlegungen treffen. Anders als in psychodynamischen Therapieverfahren  spielen Probleme in Bezug auf interferierende Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse eine untergeordnete Rolle, da diese nicht als die zentralen Agenzien der therapeutischen Veränderung aufgefasst werden. Dennoch kann es für Patienten irritierend, enttäuschend, verunsichernd oder aber auch anregend und überraschend wirken, wenn sie „ihren“ Einzeltherapeuten in der Rolle des Gruppenleiters erleben. Dies kann verschiedene Ursachen haben: (1) Die Patienten müssen nun die exklusive Aufmerksamkeit und Zuwendung „ihres“ Therapeuten mit anderen Gruppenmitgliedern teilen, was zu Frustration und Ärger führen kann. (2) Im Fall von störungsspezifischen Gruppen erleben sie ihren Therapeuten unter Umständen als direktiver und eher wie einen Lehrer als einen Psychotherapeuten. (3) Auch kann es zu Irritationen, Ärger oder Enttäuschungen kommen, wenn der Therapeut die in der Einzeltherapie gewonnenen Informationen über den Patienten nicht oder nicht angemessen in der Gruppensituation einbringt oder Informationen aus der Einzeltherapie eben nicht, wie vom Patienten erwartet (oder erhofft), anspricht oder in einer Form einbezieht, die der Patient als stimmig erlebt. Wie sich diese Faktoren auswirken, hängt wiederum auch von der Attribution des Patienten ab. Schreibt der Patient das Verhalten „seines“ Therapeuten situativen Merkmalen zu (also durch die Gruppe bedingt), so besteht ein sehr viel geringeres Risiko für eine negative Entwicklung, als wenn er das Therapeutenverhalten der Persönlichkeit des Therapeuten oder seiner Einstellung ihm gegenüber zuschreibt (z. B. „Ich bin ihm ja doch nicht wichtig, sonst hätte er mir in der Gruppe mehr Raum gegeben und mich mehr beachtet.“). Verhaltenstherapeuten sollten deshalb solchen potenziell dysfunktionalen Verarbeitungsprozessen proaktiv entgegentreten, indem sie diese vor Beginn und/oder im Verlauf der Gruppentherapie ansprechen und mit dem Patienten klären.

169 Die Kombination Einzel- und Gruppentherapien …

14

Was nun die eigentliche Frage angeht, ob der Einzeltherapeut auch der Gruppentherapeut sein sollte, so lassen sich einige Empfehlungen geben, obgleich empirische Studien hierzu fehlen. Grundsätzlich sollte der Einzeltherapeut immer dann auch der Gruppenleiter sein, wenn ihm die Informationen aus der Einzeltherapie die Durchführung der Gruppe erleichtern und umgekehrt. Ist der Einzeltherapeut auch der Gruppentherapeut, werden der Informationsverlust minimiert und die Kohärenz des therapeutischen Vorgehens maximiert. Verfügt der Gruppentherapeut hingegen über spezifische Kompetenzen, über die der Einzeltherapeut nicht verfügt, dann sollte dieser die Gruppenleitung auch nicht übernehmen. Dies ist auch dann sinnvoll, wenn durch die Teilnahme an einer Gruppentherapie die Ablösung vom Einzeltherapeuten erleichtert werden soll oder wenn der einzeltherapeutische Prozess stagniert und ein Wechsel des Formats mit einem Wechsel des therapeutischen Stils kombiniert werden soll, um hierdurch die Stagnation zu überwinden. Schließlich spielt der Umstand, ob der Einzeltherapeut auch der Gruppentherapeut ist, auch dann eine eher untergeordnete Rolle, wenn die Relation von Einzel- und Gruppentherapie eindeutig in eine Richtung verschoben ist (etwa weniger als 15 bis maximal 20 % Sitzungszeit im Einzel- oder Gruppenformat). Abschließend zu diesem Punkt soll nicht unerwähnt bleiben, dass  es viel wichtiger ist, dass ein Patient, bei dem die Indikation für eine Gruppentherapie gegeben ist, überhaupt an einer Gruppe teilnehmen kann, unabhängig davon, ob der Einzeltherapeut der Gruppenleiter ist oder nicht.

Formaten bearbeitet werden sollen. Entscheidend ist hierbei die Frage, ob sich die Anwesenheit anderer unterstützend oder hemmend auf die therapeutische Bearbeitung einer bestimmten Symptomatik (oder Problematik) auswirkt. So besteht in der Literatur ein Konsens darüber, dass die Durchführung von Expositionen im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer schweren Zwangsstörung in der Einzeltherapie erfolgen sollte. Anderseits ist die Durchführung eines sozialen Kompetenztrainings im Gruppenformat effektiver als im Einzelsetting. Allgemein gesprochen kann man deshalb die Empfehlung geben, dass immer dann, wenn die therapeutische Bearbeitung einer spezifischen Symptomatik ein hohes Maß an psychotherapeutischer Expertise, Konzentration, exklusiver Aufmerksamkeit, empathischer Begleitung und einer tragfähigen therapeutischen Beziehung erfordert, diese im Einzelsetting erfolgen sollte. Immer dann, wenn gruppenspezifische Wirkfaktoren wie die Universalität des Leidens, interpersonelles Feedback, Unterstützung usw. (vgl. Yalom und Leszcz 2007) essenziell und sogar in höherem Ausmaß als einzeltherapeutische Techniken zur konstruktiven Bearbeitung einer bestimmten Symptomatik oder maladaptiver Verhaltensmuster beitragen können, sollte die Therapie in der Gruppe durchgeführt werden. So wären bei einer Zwangsstörung die Expositionen mit Reaktionsmanagement in der Einzeltherapie durchzuführen, wohingegen sich die vorbereitende Psychoedukation und die interpersonelle Funktionalität der Symptomatik (z. B. Abgrenzung von anderen, Kontrolle ausüben usw.) sehr gut gruppentherapeutisch bearbeiten ließen.

14.2.4  Inhaltliche Perspektive

14.2.5  Synergieeffekte nützen

Mit der inhaltlichen Perspektive ist die Frage angesprochen, welche therapeutischen Inhalte in der Einzeltherapie und welche in der Gruppentherapie und welche in beiden

Die soweit ausgeführten Überlegungen machen deutlich, dass die Kombination von Einzel- und Gruppentherapie gerade auch in der ambulanten Versorgung keineswegs

170

M. Marwitz und C. Pennecke

trivial ist und die Kombination nicht nur aufgrund rein praktischer Erfordernisse erfolgen sollte. Wann immer möglich, sollten bei der Kombination der beiden Formate die oben aufgeführten Faktoren berücksichtigt werden, damit das beiden Formaten inhärente Potenzial seine optimale Wirkung entfalten kann, im Sinne von „das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ . 14.3  Umsetzung in der Praxis:

eine Fallvignette

14

Im Folgenden wird nun anhand eines konkreten Beispiels  der Versuch unternommen, mittels einer zieloffenen Verhaltenstherapiegruppe (hier anliegenorientierte Gruppe genannt) Indikationsmerkmale für eine begleitendende Einzeltherapie zu bestimmen und deren Auswirkungen aufzuzeigen. Das Gruppenkonzept lehnt sich an das interaktionelle Gruppenkonzept an, fokussiert jedoch vor allem auf die Beziehungs- und Kommunikationsentwicklung unter den Teilnehmern (TN). Die Gruppe wird als Kurzzeittherapie mit 20 Stunden à 100 min angeboten. An der Gruppe nahmen 7 TN im Alter zwischen 25 und 50 Jahren teil (4 Frauen, 3 Männer). Diagnostiziert wurden soziale Phobie (4-mal); rezidivierende depressive Episode (2-mal); depressive Episode (1-mal). Allen TN gemeinsam waren ihre sozialen Schwierigkeiten.  Zu Beginn der Gruppe standen neben der Absprache organisatorischer Belange die Vermittlung der Funktion einer Fokusgruppe sowie die Einführung in den Gruppenprozess im Vordergrund. Hierzu wurde im Anschluss an die Erläuterung des Konzepts ein Partnerinterview durchgeführt, bei dem sich die TN gegenseitig nach wichtigen Ereignissen in ihrem Leben befragten. Anschließend stellten die Paare den jeweils anderen TN in der Gruppe vor. In den folgenden Stunden wurden die Inhalte der jeweiligen Gruppensitzungen durch die eingebrachten Themen der TN

bestimmt. Der therapeutische Fokus lag auf der Art und Weise, wie die TN Kontakt aufnahmen, wie sie ihr Erleben einbrachten, ob sie ihre Aussagen an jemanden in der Gruppe richteten. Dieser Prozess wurde gemeinsam mit der Gruppe reflektiert. Die Rückmeldungen der Therapeutin waren so gefasst, dass sie einerseits Modellcharakter für konstruktive Rückmeldungen hatten und andererseits den Prozess unterstützten. Einzelne konflikthafte Interaktionssequenzen wurden auf der Grundlage der Erlebensweisen der TN auf der Metaebene betrachtet. Hierbei standen sowohl die Klärung des Interaktionsgeschehens im Rahmen der Gruppe als auch der Transfer in Alltagssituationen, in denen ähnliche Schwierigkeiten auftraten, im Fokus. Bereits zu Beginn der Gruppentherapie nahmen die TN schnell erste Kontakte auf. Die TN gingen schon vor dem Beginn der ersten Sitzung aufeinander zu und unterhielten sich. Diese aktive, schnelle Kontaktaufnahme wiederholte sich auch in den ersten Gruppensitzungen. Die TN richteten viele inhaltliche Nachfragen an das jeweils im Fokus stehende Gruppenmitglied. Sie gaben sich häufig handlungsorientierte Ratschläge oder baten die Therapeutin um konkrete Verhaltenstipps. Die Gruppenatmosphäre blieb auf einer humoristischen Ebene. Die TN sprangen vielfach von einem Thema zum nächsten. Dabei wurde deutlich, dass die Themen kaum einen Bezug zu ihrem Erleben hatten. Diese Art und Weise der Beziehungsgestaltung machte schnell die aktive Vermeidung tiefergehender Beziehungsaufnahmen deutlich, die eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben sowie die authentische Rückmeldung verhinderte. Die therapeutische Aufgabe bestand daher darin, die TN auf die Wahrnehmung und Äußerung ihres Erlebens und ihrer Emotionen im Rahmen der stattfindenden Interaktionen zu lenken, um ihnen somit einen Zugang zu ihren dahinter liegenden Beziehungsmotiven zu ermöglichen. Schließlich löste eine dysfunktionale und bewertende Äußerung eines Patienten (Herr H.), in der sich seine eigene Beziehungsbedürftigkeit

171 Die Kombination Einzel- und Gruppentherapien …

äußerte, einen Konflikt mit einer anderen Patientin aus. Dieser Konflikt wurde genutzt, gemeinsam mit den TN die Interaktionssequenz auf der Metaebene anhand des jeweiligen Erlebens zu reflektieren. In der Reflexion konnten die TN die Verletzung der Patientin Frau Z. als ein Ergebnis der von allen geteilten Wahrnehmung der von Herrn H. geäußerten Bewertung erkennen. In diesem Zusammenhang wurde der Wert von Ich-Botschaften in der Kommunikation als ein wertschätzender Umgang miteinander erkannt. Dennoch blieb  die Beziehungsgestaltung aufgrund bestehender Ängste und Unsicherheiten auf der Beziehungsebene weiterhin zurückhaltend und abwartend. Die TN konnten sich nur bedingt öffnen. Zwar bemühten sich alle TN zunehmend um die Wahrnehmung eigener Gefühle und die Rückmeldung ihres individuellen Erlebens, blieben aber in der Mitteilung ihrer Gefühle vorsichtig und zurückhaltend. Dies zeigte sich in der mehrfach von allen TN geäußerten Unzufriedenheit darüber, dass die Gruppe von den Einzelnen nicht besser genutzt wurde. Diese Schwierigkeiten äußerten sich z. B. bei der Findung eines gemeinsamen Themas. Im Laufe des Prozesses zeigte sich, dass die Reflexion des eigenen Verhaltens nur für einzelne TN zugänglich war. Frau Z. und Herr H. konnten diese Möglichkeit nutzen und ihre Angst vor einer Selbsteinbringung und dadurch entstehenden Verletzlichkeit in der Gruppe benennen. Um den Feedbackprozess zu fördern, wurde der Gruppe vorgeschlagen, in zwei Kleingruppen ein Bild zur Gruppe zu malen. Nachdem sich die Gruppe einverstanden erklärte, wurden ihr die Aufgaben gestellt: 1. Eine Metapher für die Gesamtgruppe zu finden, in der alle TN vorkamen (z.  B. Fußballmannschaft). 2. Danach sollte die Kleingruppe für jeden TN eine Rolle in dem Bild finden. Im Rahmen des vergleichsweise strukturierteren Übungsablaufs fiel es den TN leichter, sich gegenseitig Rückmeldungen zu geben. Dabei zeigte sich bei allen Gruppenmitgliedern eine gute und differenzierte

14

soziale Wahrnehmung. Gleichzeitig spiegelten sich in den Bildern die Beziehungen der TN in der Gruppe wieder. Anhand der Bilder wurde deutlich, wie wenig Beziehung die TN untereinander hatten. Daher wurde den Kleingruppen die Aufgabe gestellt, nochmals ihre Beziehungen zu überprüfen und ggf. darzustellen. Beiden Kleingruppen gelang es schließlich, Beziehungen unterschiedlicher Qualitäten zu identifizieren und darzustellen. In den anschließenden Nachbesprechungen wurde ein bis dahin unterdrückter Kommunikationskonflikt zwischen zwei Patientinnen  (Frau Z. und Frau B.) deutlich. Frau Z. äußerte in vager, Angst auslösender Weise, dass sie die Beziehung zu Frau B. weniger eng und vertraulich wahrnehme als diese. Frau B. hingegen stellte Vermutungen über die zugrunde liegenden Empfindungen von Frau Z. an, ohne diese zu hinterfragen. In der Reflexion mit der Gesamtgruppe wurden diese Störungen in der Kommunikation aufgedeckt und Konsequenzen der Verhaltensweisen benannt. Nach dieser Arbeit gelang es allen Gruppenmitgliedern, sich in der Gruppe zu öffnen, was in den letzten Gruppensitzungen positive Wirkung zeigte. Zunehmend wurde über offen gebliebene Beziehungsthemen gesprochen. Alle brachten in den letzten Gruppensitzungen intensiver ihre eigenen Themen ein. Zur Reflexion ihrer individuellen Entwicklung in der Gruppe sowie der gesamten Entwicklung der Gruppe erhielten die TN am Abschlusstermin die Aufgabe, den Gruppenprozess in Kleingruppen zu reflektieren und zeichnerisch frei darzustellen. Dabei zeigte sich in beiden Gruppen die übereinstimmende Wahrnehmung, dass die anfängliche erhebliche Distanz der Gruppenmitglieder untereinander und die Vermeidung von Beziehungen erst schrittweise im Gruppenprozess überwunden wurde und die Selbstöffnungen sowie der Interaktionsprozesse erst allmählich zugenommen hatten. Die TN gaben sich in der abschließenden Feedbackrunde wohlwollendes, konstruktives, aber auch ehrliches Feedback.

172

M. Marwitz und C. Pennecke

14.4  Überlegungen zur

Kombination von Einzel- und Gruppenpsychotherapie

Die Frage nach den Indikatoren für eine begleitende Einzeltherapie wird am Beispiel der vier Patienten, die eine begleitende Einzeltherapie hatten, dargestellt und im Anschluss werden die Auswirkungen auf den Gruppenprozess beschrieben. Fallbeispiel 1

14

Frau Z., eine 25-jährige Studentin, kam eigenmotiviert in die Praxis. Im Erstgespräch klagte sie über folgende Symptome: depressive Stimmung, ausgeprägte Stimmungstiefs mit Grübeln, Verzweiflung, Energielosigkeit, erhöhtem Schlafbedürfnis, Appetitlosigkeit, Freudlosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Fluchtund Lebensüberdrussgedanken. Sie benannte massive Schwierigkeiten in Beziehungen zu ihrer Lebenspartnerin und auch zu Kommilitonen. Die Symptome bestanden seit circa fünf Monaten. Zudem berichtete Frau Z. über zyklisch seit dem Kindergartenalter bestehende Unsicherheit und Ängstlichkeit mit Selbstzweifeln. Ziele der Therapie waren: Verbesserung der depressiven Stimmung und des Umgangs damit, hilfreiche Strategien im Umgang mit Unsicherheit und Ängstlichkeit im Kontakt sowie Abgrenzung. Bereits zu Beginn der Gruppe geriet Frau Z. in emotionale Krisen, die im Rahmen der Gruppentherapie nur bedingt aufgearbeitet werden konnten. Durch die Arbeit in der begleitenden Einzeltherapie, die von der Gruppenleiterin durchgeführt wurde, gelang es ihr zunehmend besser, Kognitionen und Emotionen in ihrem Erleben zu differenzieren. Dennoch blieb insbesondere der Ausdruck von Ärger für sie teilweise schwierig, wie z. B. in den von ihr nur angedeuteten Äußerungen der Ablehnung und des Ärgers gegenüber der Einschätzung und Rückmeldung von Frau B. Der eingeschränkte Ausdruck eigener Emotionen sowie die daraus resultierende Krise waren Hinweise für die Indikation einer begleitenden Einzeltherapie. Dort konnte sie

ihre Kommunikationsprobleme wahr- und annehmen und sich auf einen therapeutischen Prozess einlassen, in dessen Folge deutlich wurde, wie schwer es ihr fiel, Zugang zu ihren Gefühlen zu bekommen. Dieser einzeltherapeutische Prozess zeigte Auswirkungen auf ihr Verhalten in der Gruppe. Auch dort konnte sich Frau Z.  zunehmend auf die Reflexion eigener Anteile in der Interaktion und die dahinter liegenden Motive einlassen. Ihre Introspektionsfähigkeit wuchs und ihre Bereitschaft, konflikthafte Themen anzusprechen, stieg. Fallbeispiel 2

Frau M. ist eine 50-jährige, ledige Krankenschwester. Sie stellte sich nach einem Psychiatrieaufenthalt vor. Sie litt unter wiederholten depressiven Episoden (zuletzt im Herbst 2015 und im Frühjahr 2016 nach dem Tod des Partners). Nach ihrer stationären Entlassung kam es zur erneuten Symptomverschlechterung.  Sie klagte über Trauer, starke Stimmungsschwankungen, innere Leere, Lebensüberdruss, Suizidgedanken, Einsamkeitsgefühle sowie Rückzug aus den sozialen Bezügen. Ziele der Therapie waren ein  adäquater Umgang mit Trauer sowie Depression, der Rückkehr in den Beruf und die Wiederaufnahme sozialer Kontakte. Frau M. suchte zu Beginn der Gruppe nach Strukturen und stellte viele organisatorische Nachfragen. In der Gruppe verhielt sie sich ko-therapeutisch, suchte immer wieder betont den Kontakt zu ihrer Einzeltherapeutin (der Gruppenleiterin). Ihr emotionales Erleben authentisch und offen zu benennen, fiel ihr zu Beginn sichtbar schwer. Stattdessen äußerte sie überwiegend Rationalisierungen. Ihre Selbstund Fremdwahrnehmung differierte erheblich. So forderte sie wiederholt von anderen, dass diese sich mehr einbringen sollten, selbst offenbarte sie jedoch kaum emotionales Erleben. Bei Frau M. war von Beginn an die Einzeltherapie indiziert. Ihre große Trauer um den Verlust ihres Lebenspartners hatte sie derart labil gemacht, dass sie weiterhin Suizidgedanken hatte. Im Rahmen der

173 Die Kombination Einzel- und Gruppentherapien …

Gruppentherapie konnte diese Krise nicht aufgefangen werden. In der Einzeltherapie war es möglich, der Trauer um den Lebenspartner den Platz zu geben, den sie brauchte, sodass sie am ersten Todestag ihres Partners erstmals in der Gruppe ihren Verlust sowie ihre Trauer ansprechen konnte. Die Gruppe reagierte mit Anteilnahme und Unterstützung. Insgesamt gelang es ihr, im Gruppenverlauf mit der therapeutischen Unterstützung im Einzelkontakt ihr Erleben von Ärger wahrzunehmen und adäquater zu äußern. In ihrem Fall wurde das Problem deutlich, das aus einer kombinierten Therapie erwachsen kann. Die Patientin nahm ihren zusätzlichen Kontakt zu der Therapeutin zum Anlass, sich aus dem Gruppenprozess herauszuhalten und ihre Sonderstellung gegenüber den anderen GruppenteilnehmerInnen zu demonstrieren. Dies führte letztlich zu Konflikten in der Gruppe. Fallbeispiel 3

Frau B., eine 29-jährige, arbeitssuchende Einzelhandelskauffrau, alleinerziehend mit zwei Kindern, stellte sich auf Empfehlung der Familienhelferin und eines Bekannten vor. Sie berichtete von sozialen Schwierigkeiten. Sie finde keinen Kontakt zu Gleichaltrigen, habe Schwierigkeiten, auf andere zuzugehen, leide unter  Minderwertigkeitsgefühlen und Befangenheit im Kontakt mit anderen. Sie sei viel allein und fühle sich einsam, erlebe sich in Leistungs- und Bewertungssituationen unbeholfen und erlebe körperliche Symptome (Kloß im Hals, Schweißausbrüche, Fingernägelkauen, Magengrummeln, Durchfälle, Zittern). Sie vermeide daher Vorstellungsgespräche, Konflikte mit der Sachbearbeiterin im Jobcenter sowie mit  potenziellen Arbeitgebern. Ihre Ziele: sich mithilfe von Rückmeldungen besser kennenzulernen, langfristig stabile Kontakte zu gleichaltrigen Mitmenschen zu knüpfen, Wiedereinstieg in den Arbeitsalltag. Zu Beginn der Gruppentherapie zeigte sich Frau B. sehr zurückhaltend. Sie nahm kaum Blickkontakt auf, ihre Körperhaltung war verschlossen. Sie beteiligte sich kaum an Gesprächen. In ihrer Kommunikation traten

14

wiederholt Selbstabwertungen auf. Interaktionell schwankte ihr Verhalten zwischen Rückzug und weitschweifigen Redebeiträgen, wodurch ein Austausch mit den anderen Gruppenmitgliedern verhindert wurde. In emotional aufgeladenen Situationen zeigte sie sich zudem wiederholt distanzgemindert und übergriffig gegenüber den anderen Teilnehmern. So versuchte sie z. B. die Traurigkeit einer TN durch körperliche Zuwendung (z. B. in den Arm nehmen) zu trösten, ohne sich das Einverständnis der TN einzuholen. Nach entsprechender Rückmeldung aus der Gruppe reflektierte Frau B. einen biografischen Bezug: häufiges Alleingelassensein bei Traurigkeit. Bei Konflikten versuchte sie, Diskrepanzen durch vorwegnehmende Erklärungen über die Motive der anderen Teilnehmer zu lösen. Aufgrund ihrer hohen Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, die in der Gruppe nicht bearbeitet werden konnte, wurde Frau B. begleitend eine Einzeltherapie empfohlen. Hier konnte in kleinen Schritten der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Interpretation, Wahrnehmung und Gefühl herausgearbeitet werden. Ausgangspunkt war die unterschiedliche Wahrnehmung der Beziehung zu Frau Z., aber auch ihre Neigung zur Katastrophisierung. Es gelang ihr, die in der Einzeltherapie gewonnenen Erkenntnisse in die Gruppe einzubringen und Konfliktsituationen mit anderen Teilnehmern aktiver zu bewältigen. Fallbeispiel 4

Herr R., war ein 32-jähriger, im Erstkontakt arbeitssuchender Mann, der in einer Partnerschaft lebte. Er berichtete, dass er seit ca. 1,5 Jahren unter folgenden Beschwerden leide: soziale Ängste mit Panikattacken, Überforderungserleben und Selbstzweifeln, Schwierigkeiten, Nein zu sagen, unsicher vor vielen Menschen (insbesondere Frauen) zu sprechen, depressive Grundstimmung mit Antriebshemmung und Einschlafschwierigkeiten. Seine Ziele: mehr Selbstvertrauen, bessere Abgrenzungsfähigkeit und zu lernen, Nein zu sagen; mehr Aktivität.

174

14

M. Marwitz und C. Pennecke

Er hatte sich aus eigener Motivation in unserer Ambulanz vorgestellt. Herr R. zeigte sich im gesamten Verlauf der Gruppenbehandlung überwiegend zurückhaltend und abwartend. Trotz wiederholter Versuche der anderen TN, ihn zur aktiveren Gestaltung des Gruppenprozesses zu motivieren, blieb eine deutliche Ambivalenz seinerseits bestehen. Sein Zuspätkommen, das die Therapeutin markierte, wurde von der Gruppe akzeptiert. Er genoss in gewisser Weise den Schutz der Gruppe und erhielt viel Unterstützung. Am Ende der Gruppe äußerte Herr R. Bedauern darüber, dass er die Gruppe nicht umfangreicher für sich genutzt habe. Es fiel ihm aber sichtbar schwer, innerhalb der Gruppe sein Erleben und seine Emotionen klar zu äußern. In seinem Antwortverhalten blieb er überwiegend vage und ausweichend. Spürbaren Ärger zeigte er, als ein anderer Patient ihn mehrfach zu seinen Gefühlen befragte, um ihm schließlich vorzuwerfen, dass er die Gruppe nicht ausreichend für sich nutzte. Zum Ende der Behandlung entwickelte Herr R. depressive Symptome, die ihm sowohl die Teilnahme an den Gruppenterminen als auch die Einhaltung seiner Arbeitszeiten erschwerte, sodass eine anschließende Einzeltherapie angebahnt wurde. Bei allen Patienten hatte sich im Verlauf der Gruppenbehandlung eine nennenswerte Veränderung in ihrem Verhalten eingestellt. Die TN waren am Ende der Behandlung in ihrer Kommunikation direkter und authentischer. Dies äußerte sich auch in ihrer selbstbewussteren Haltung in der Feedbackrunde beim Abschluss der Behandlung. 14.5  Auswertung und

Überlegungen

In der gängigen Literatur gibt es wenige Untersuchungen zur Indikation für eine kombinierte Einzel- und Gruppentherapie. Es lassen sich jedoch einige empirische Hinweise finden, in denen die Kombination bei Patienten mit langanhaltenden interpersonellen

Schwierigkeiten indiziert ist  (Bateman und Fonagy 2001; de Zulueta und Mark 2000). Die Gruppentherapie ist ein bedeutsames und signifikantes Setting, das bei den Gruppenmitgliedern komplexe Reaktionen hervorrufen kann, die nicht ausschließlich im Rahmen der Gruppentherapie behandelt werden können. Dies ist insbesondere der Fall bei traumatisierten Patienten oder unsicher gebundenen Patienten. In diesen Fällen scheint eine Kombination, indiziert zu sein (Hirsch 2008 über Patienten mit einer Borderlinestörung). So können in der Gruppe Beziehungsprobleme auftreten, die unsicher gebundene Patienten überfordern, wie die Beispiele von Frau Z. und Frau B. zeigen. Bei beiden wurde die Indikation für eine begleitende Einzeltherapie gestellt. Am Beispiel des Konfliktes zwischen Frau Z. und Frau B. wurde deutlich, dass alte Beziehungsmuster (vgl. Grawe 1998) aktiviert wurden, die sich in der problematischen und missverständlichen Kommunikation ausdrückten. Diese konnten in den Einzelbehandlungen aufgrund der in der Gruppe gemeinsam erlebten und beobachteten (diagnostischen) Interaktionen in einen Kontext gestellt und aufgearbeitet werden. Therapeutin und Patientin sprachen über ein und dasselbe Ereignis. Das gemeinsame Erleben in der Gruppe hat sich darüber hinaus förderlich auf die therapeutische Beziehung ausgewirkt. Das Verhalten von Frau M. (ko-therapeutisch, distanziert) legt die ­ Überlegungen nahe, inwieweit die Einzeltherapie nicht von einem Kollegen/einer Kollegin hätte übernommen worden müssen. Die Bindung an die Therapeutin macht in diesem Fall nicht nur die Patientin abhängig, sondern bindet auch die Therapeutin, die das ko-therapeutische Verhalten der Patientin ­ nicht konfrontieren konnte, um die Beziehung in der Einzeltherapie nicht zu gefährden. Die Fallbeispiele gaben Anlass zu verschiedenen Überlegungen: 1. Herr R. konnte von der Teilnahme an der Gruppe nicht direkt profitieren und ließ sich auf die nachfolgende Einzeltherapie (bei derselben Therapeutin) ein.

175 Die Kombination Einzel- und Gruppentherapien …

Dort konnte er Themen wie Verlässlichkeit thematisieren. Ähnliches galt auch für Frau Z., deren Einzeltherapieprozess intensiver wurde, da das gemeinsame Gruppenerleben bei der Bearbeitung von Beziehungsproblemen als Beispiel herangezogen werden konnte.  Diese Beispiele eröffneten die Überlegung, ob es nicht grundsätzlich sinnvoll wäre, auch in der ambulanten Versorgung mit einer Gruppentherapie zu beginnen. Hierzu habe ich im Rahmen der Gruppenambulanz eines Ausbildungsinstitutes eine Wartegruppe eingeführt, um die Drop-out-Rate in den Gruppenbehandlungen zu reduzieren. Dies hatte neben dem Effekt, dass es weniger Abbrüche gab, den Vorteil, dass die Patienten einen Vorgeschmack auf die Gruppentherapie bekamen und damit eine genauere Indikation für die Gruppentherapie gestellt werden konnte. 2. In den Fallbeispielen konnten Kriterien für eine begleitende Einzelbehandlung herausgearbeitet werden: a) Bei unsicherem Bindungsverhalten (Beispiele: Frau Z. und Frau B.) scheint eine Einzelbehandlung sinnvoll zu sein, da der geschützte Raum die Möglichkeit eröffnet, einen Weg zur Regulierung der Emotionen zu finden. b) Im Fall von Frau B. hinderte die massive Diskrepanz zwischen Selbstund Fremdwahrnehmung die Patientin, in der Gruppe Beziehungen aufzunehmen. Deswegen war eine Einzelbehandlung indiziert. c) Bei suizidalen Krisen (Frau M.) ist eine zusätzliche Einzelbehandlung lege artis.

14

Die Erfahrung zeigt, dass es sinnvoller ist, auf eine differenzierte Indikation, die individuellen Probleme der Patienten sowie die oben genannten Faktoren zu achten als allein auf die Frage des Settings.

Literatur Bateman, A. W., & Fonagy, P. (2001). Treatment of borderline personality disorder with psychoanalytically oriented partial hospitalization: An 18-month followup. American Journal of Psychiatry, 158, 36–42. de Zulueta, F., & Mark, P. (2000). Attachment und contained splitting: A combined approach of group and individual therapy to the treatment of patients suffering from borderlline personality disorder. Group Analysis, 33, 486–500. Fuhriman, A., & Burlingame, G. M. (1994). Group psychotherapy: research and practice. In A. Fuhriman & G. M. Burlingame (Hrsg.), Handbook of group psychotherapy. An empirical and clinical synthesis (S. 3–40). Wiley: New York. Fiedler, P. (1996). Verhaltenstherapie in und mit Gruppen. Weinheim: Beltz. Fiedler, P. (2005). Verhaltenstherapie in Gruppen. Weinheim: Beltz. Fiedler, P., & Tschuschke, V. (Hrsg.). (2010). Verhaltenstherapie in Gruppen Teil I. Stuttgart: Thieme. Grawe, K. (1998). Psychologische Therapie. Göttingen: Hochgrefe. Hirsch, M. (Hrsg.). (2008). Die Gruppe als Container. Göttingen: Vanderhoeck & Ruprecht. Marmarosh, C. L., Markin, R. D., & Spiegel, E. B. (2013). Attachment in group psychotherapie. Washington: American Psychological Association. Marwitz, M. (2016). Verhaltenstherapeutische Gruppentherapie. Göttingen: Hochgrefe. Mattke, D., Reddemann, L., & Strauß, B. (2009). Keine Angst vor Gruppen. Stuttgart: Klett-Cotta. Sipos, V., & Schweiger, U. (2018). Gruppentherapie: Ein Handbuch für die ambulante und stationäre verhaltenstherapeutische Praxis (2. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Yalom, I. D., & Leszcz, M. (2007). Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Ein Lehrbuch (9. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.

177

Kinder- und Jugendlichenpsycho­ therapie in Gruppen Inhaltsverzeichnis Kapitel 15 Psychodynamische Gruppentherapie mit Kindern, Jugendlichen und ihren Bezugspersonen – 179 Ursula Wienberg Kapitel 16 Schematherapeutische Gruppentherapie mit Kindern/Jugendlichen – 191 Christian Ferreira de Vasconcellos

VI

179

Psychodynamische Gruppentherapie mit Kindern, Jugendlichen und ihren Bezugspersonen Ursula Wienberg

15.1 Historische Wurzeln und Entwicklungen der psychodynamischen Gruppentherapie mit Kindern und Jugendlichen – 180 15.2 Rolle, Funktion und Haltung des Gruppenleiters – 182 15.3 Setting, Rahmen, Praxis – 184 15.4 Auswahl der Gruppenmitglieder – 186 15.5 Ablauf der Gruppensitzung – 186 15.6 Entwicklung der Gruppenkultur, Gruppenprozesse, Entstehung von Empathie versus Ausgrenzungstendenzen – 187 15.7 Gruppenarbeit mit den Eltern/Bezugspersonen – 188 Literatur – 189

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_15

15

180

U. Wienberg

Literaturrecherchen zum Thema ergaben, dass bislang keine dezidiert ausgearbeiteten Konzepte für eine psychoanalytisch basierte therapeutische Gruppenarbeit mit Kindern und Jugendlichen vorliegen. Konzeptuelle Basis dieses Artikels ist zum einen das vom Arbeitskreis zur Förderung der Kinder- und Jugendlichengruppenanalyse erarbeitete und 2014 herausgegebene Curriculum für Kinder- und Jugendlichengruppenanalyse. Zum anderen die von Matthias Wenck und mir auf der Basis dieses Curriculums, der Foulkes´schen Gruppenanalyse, der Arbeiten und Erfahrungen von Emmi Pikler, Mortimer Schiffer, Donald W. Winnicott u. a., und aufgrund eigener und in Diskussionen mit Kollegen entstandenen Überlegungen, Erfahrungen und Vorstellungen zu Kindergruppen. Wegen der besseren Lesbarkeit beschränke ich mich bei der Benennung von z. B. Therapeuten, Gruppenleitern, Patienten auf die männliche Sprachform.

15.1  Historische Wurzeln und

Entwicklungen der psychodynamischen Gruppentherapie mit Kindern und Jugendlichen

15

Sigmund Freud beschreibt in Totem und Tabu (1966), dass die Neurose im Zusammenhang mit den das Individuum umgebenden gesellschaftlichen, kulturellen, familiären Bedingungen entsteht. Siegmund Heinrich Foulkes, ein Pionier der Gruppenanalyse, knüpft hier unmittelbar an, wenn er den individuellen neurotischen Konflikt als Symptom einer Störung des sozialen Beziehungsnetzwerks versteht. Für ihn gibt es keine Störung, die nicht in einem sozialen Netzwerk entstanden wäre. Wenn neurotische Störungen im ursprünglichen Netzwerk entstehen, so kann man im Grunde daraus folgern, dass sie sich dann auch in Gruppen am besten reinszenieren lassen und dadurch bearbeitet werden können.

Die entscheidende therapeutische Wirkung geht dabei nicht in erster Linie vom Therapeuten aus, sondern von der Gruppe und deren therapeutischer Potenz. Für die Kinderpsychotherapie galt früher und gilt weithin heute noch die Vorstellung, dass das krankmachende Geschehen zwischen Eltern und Kindern stattgefunden hatte und dass damit der entscheidende Raum der Reinszenierung zwischen dem Kind und dem die Eltern repräsentierenden Psychoanalytiker stattfinden würde. Dabei wurde aus der natürlichen Gruppe Familie oder der gelebten Gruppe von Kindern oder Jugendlichen das Kind oder der Jugendliche als Einzelner herausisoliert und dem Therapeuten als Einzelner gegenübergestellt. In einer derartigen Behandlungssituation halte ich eine Reinszenierung kindlicher Störungen nur eingeschränkt für möglich, denn es fehlen wesentliche Elemente der Genese der neurotischen Entwicklungen aus dem gesamten Beziehungsnetzwerk des Kindes bzw. des Jugendlichen. Ich hatte während und nach meiner psychoanalytischen Ausbildung, wie das üblich ist, einzelne Kinder in Therapie. Aufgrund meiner guten Erfahrung mit der Foulkesʼschen Gruppentherapie für Erwachsene überlegte ich mit anderen, ob diese Therapieform nicht auch für Kinder das Richtige wäre. Die analytisch basierte Gruppentherapie mit Kindern und Jugendlichen – entwickelt in den 1950er Jahren – war in den letzten Jahrzehnten ziemlich in den Hintergrund geraten. Erst seit Anfang der 2000er Jahre, auch initiiert durch den überregionalen Arbeitskreis zur Förderung der Kinder- und Jugendlichengruppenanalyse (inzwischen als Verein gegründet), ist der therapeutische Wert der Gruppenarbeit mit Kindern und Jugendlichen wieder entdeckt und weiterentwickelt worden. Dieser überregionale Arbeitskreis entstand auf der Basis des Interesses von Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten, aber auch von Kollegen aus nicht therapeutischen, z.  B. pädagogischen Berufen, mit dem Wunsch,

181 Psychodynamische Gruppentherapie mit Kindern …

Erfahrungen zusammenzutragen und Konzepte zur Gruppenarbeit mit Kindern, Jugendlichen und deren Bezugspersonen zu entwickeln. Wir treffen uns 2-mal  jährlich, einmal im Rahmen der seit 2005 jährlich im September stattfindenden kasuistischen Workshops für Kinder- und JugendlichenGruppenanalyse und ein zweites Mal jeweils im Frühjahr. Bei unseren langjährigen Literaturrecherchen bezüglich gruppentherapeutischer Konzepte für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen fanden wir heraus, dass, obwohl es eigentlich „altes Wissen“ ist, von frühester Kindheit an vielfältige Gruppenerfahrungen und Einflüsse von Gruppen die Identitätsentwicklung strukturieren und unser soziales Leben und Lernen prägen. Trotz dieses Wissens wird, wie bereits erwähnt, bei der Indikation von Psychotherapien (wie z. B. auch beim Umgang mit „Problemkindern“ in der Schule) in der Regel an Einzeltherapie und Einzelförderung gedacht. Für die analytische Arbeit mit Kindergruppen (und hier schließe ich die tiefenpsychologisch fundierte Therapie als ein auf der Psychoanalyse basierendes Verfahren ein) gab es bisher keine explizit ausgearbeiteten und veröffentlichten Konzepte, die eine psychoanalytische Wurzel haben. Bisherigen Kindergruppenkonzepten (Slavson, Ginnot, Schiffer), alle aus den 1950er Jahren, liegen eher sozial-pädagogische oder „psychodramatische“ Orientierungen zugrunde, dennoch gibt es hier „Wurzeln“ für unsere jetzige konzeptionelle Grundlage. Auch heute gibt es unter Kollegen noch Vorstellungen, dass man mit Kindern in der Gruppe nicht analytisch arbeiten könne. Wir Psychotherapeuten, die mit Kindern, Jugendlichen und ihren Bezugspersonen gruppentherapeutisch arbeiten, haben in der psychodynamischen Gruppenarbeit die sehr deutliche Erfahrung gemacht, dass es hier, auch – und gerade auch – für schwer gestörte Patienten ein therapeutisches Potenzial gibt, das für die Behandlung unserer Kinder und Jugendlichen bestens genutzt werden kann.

15

Die für nachhaltige Strukturveränderungen notwendigen neuen Objekterfahrungen sind gerade im Erlebnis-, Übertragungs- und Entwicklungsraum „Gruppe“ aufgrund der vielfältigen und vielschichtigen Erfahrungen mit den anderen Gruppenmitgliedern besonders wirkungsvoll. Diese Vorstellung vom therapeutischen Raum und der analytischen Haltung des Therapeuten erscheint mir ganz ähnlich, wie es Winnicott (1971b) bezüglich des Rahmens und der Haltung des Kindertherapeuten formulierte: Er sprach vom Wert der Bereitstellung einer „ermöglichenden Umgebung“ im therapeutischen Prozess und der Bereitschaft und Fähigkeit, sich als Objekt verwenden zu lassen. Die therapeutische Arbeit findet also im Wesentlichen in der Bereitstellung und im Schutz des Raumes und des Rahmens statt. Nicht selten wird spürbar, dass der geschützte Raum der Gruppe wie eine „gute Umgebungsmutter“ erlebt und genutzt werden kann. Für Foulkes ist die Gruppe keine bloße Ansammlung einzelner Individuen, sondern ein ganzheitliches lebendiges Wesen. Vielleicht kann man auch sagen, die Matrix einer Gruppe ist der lebendige Inbegriff der Gruppe, so ähnlich wie jedes einzelne Glied eines Körpers in den zentralen Organen des Körpers, dem Herz, der Lunge oder dem Magen, lebendig beteiligt ist und am Organgeschehen permanent mitwirkt und damit auch eine Funktion des Organs darstellt: Genau so ist das einzelne Gruppenindividuum im Gruppengeschehen gegenwärtig und die Gruppe in ihm. Somit ist die Äußerung eines Gruppenteilnehmers einerseits seine ganz individuelle Äußerung, die andererseits umfassend nur begriffen werden kann als gleichzeitige Äußerung der ganzen Gruppe. Foulkes (1974), der ja ausschließlich mit Erwachsenen gearbeitet hat, – sein gruppenanalytisches Konzept gründet darauf – hat mit seiner Vorstellung von der Matrix auch deutlich gemacht, dass alle Gruppenteilnehmer permanent an sämtlichen Entwicklungsphasen gleichzeitig beteiligt sind. Das gilt

182

15

U. Wienberg

auch für die Gruppenleiter, die sich in der Kindergruppentherapie immer eine „kindliche“ Spielfreude und Spielfähigkeit erhalten haben müssen, um ihrer Aufgabe gerecht werden zu können, zwischen „Gruppenmitglied-Sein“ und „Beobachter am Rande sein“ zu pendeln. Gerade bei besonders schweren Störungen und „verqueren“ Entwicklungen wird deutlich, dass es lineare und ein für allemal abgeschlossene/bewältigte Entwicklungsphasen nicht gibt, weder bei Kindern und Jugendlichen noch bei Erwachsenen. Wir kommen als Gruppenleiter gerade in Kindergruppen immer wieder mit schmerzhaften und unbewältigten eigenen Erfahrungen in Kontakt. Bei unseren Literaturrecherchen stießen wir auf Mortimer Schiffer, einen Slavson-Schüler, der in den 1950er Jahren im Child Guidance Hospital in New York erstmals Kindergruppentherapien durchführte. Hilfreich für die konzeptionelle Arbeit für die Gruppentherapie mit Kindern und Jugendlichen erschienen uns seine Ausführungen zur permissiven Haltung des Gruppentherapeuten: „Die grundlegende Absicht der permissiven Haltung ist, den Kindern den Ausdruck ihrer Gedanken und Gefühle ohne Angst zu ermöglichen. Die Kinder lernen, dass sie keinen Druck des Erwachsenen zu fürchten brauchen und gewinnen dadurch die Freiheit, ihre Einstellungen und Gefühle zu äußern, die vorher blockiert waren oder abwegig zum Ausdruck kamen“ (Schiffer 1969). Permissiv heißt nicht, dass alles geduldet wird, dass alles möglich ist, dass es keine Einschränkungen gibt. Es ist also keine Laissezfaire-Haltung, sondern eine gewährende, achtungs- und respektvolle, insbesondere den Rahmen der Gruppensitzung sichernde Haltung. Es gibt für das, was die Kinder in der Sitzung tun, keine Vorgaben, nur die Zeit, den Raum und eine Anfangs- und Schlussrunde, in der wir um einen runden Tisch sitzen. Es darf alles gesagt, aber nicht alles getan werden. Die Gruppe bietet also einen Raum, einen realen „Übergangsraum“ (Winnicott 1971a), in dem jedes Gruppenmitglied so sein kann,

wie es ist: einen Raum zur Darstellung und Reinszenierung von nicht gelungenen Entwicklungsschritten, defizitären Entwicklungen, aber auch von Fähigkeiten, die gezeigt und angewendet werden können, ebenso einen Raum für Regression und Progression in der Intensität, die für die eigene Entwicklung und Entfaltung notwendig und vom Gruppenteilnehmer selbst bestimmt ist. Eine weitere Säule unseres Konzepts der Kindergruppentherapie sind die Vorstellungen von Emmi Pikler (1988), einer ungarischen Kinderärztin, die in den 1940er Jahren ein Waisenhaus und Kinderheim in Budapest eröffnet hatte. Bei ihr und bei dem von ihr ausgebildeten Betreuungspersonal stand das Gemeinschaftserleben der Kinder mit anderen Kindern in der Gruppe ganz im Vordergrund, weil nämlich in allen Kindern der Wunsch zur Entwicklung eigener Fähigkeiten, der Wunsch nach sozialem Kontakt und Zugehörigkeit zur Gruppe lebt. Dafür muss es einen klar geschützten Raum zur Entfaltung geben. Die Einflussnahme der Bezugspersonen beschränkte sich bei Pikler auf die Situationen, in denen sie zur Versorgung der Kinder unabdingbar waren (bei Säuglingen Füttern, Wickeln und Baden) und auf Konfliktsituationen, die von den Kindern alleine nicht lösbar sind. Dabei wird in den Betreuungssituationen intensiv auf die Signale geachtet, die vom Kind kommen und die entsprechend adäquat aufgenommen und beantwortet werden sollen. In den Konfliktsituationen wird nicht getadelt oder bewertet, sondern es werden Vorschläge bzw. Kommentare zu einer möglichen Konfliktlösung gegeben. 15.2  Rolle, Funktion und Haltung

des Gruppenleiters

Wie sieht nun der potenzielle therapeutische/ analytische Raum zur Bearbeitung defizitär oder gestört verlaufener Entwicklungen aus? Und welche Aufgabe kommt – auf der Basis dieser Vorstellungen – dem Psychotherapeuten

183 Psychodynamische Gruppentherapie mit Kindern …

zu, der mit Kindern, Jugendlichen und deren Bezugspersonen in Gruppen arbeitet? Wie Foulkes formuliert, ist der Gruppenleiter eine Art „conductor“ („Zugbegleiter“) oder „servant“ („Diener“) der Gruppe und damit vor allem Wächter des Raumes und des Rahmens (1974). Er sorgt dafür, dass jedes einzelne Gruppenmitglied einen Platz findet. Dabei orientiert er sich am schwächsten Mitglied der Gruppe. Ein Beispiel Der 10-jährige Fabian setzte sich in der ersten Zeit seiner Teilnahme an der Gruppentherapie nicht wie die anderen zur Anfangs- und Schlussrunde mit an den runden Tisch, sondern saß auf der Holztreppe im Vorraum und nahm von dort aus – aus sicherer Entfernung – ohne körperlich mittendrin zu sitzen, am Gruppengeschehen teil, indem er von dort zwischen den Treppenstufen hindurch in den Raum schaute. Einige Gruppenmitglieder merkten dazu an, dass er keine „Extra-Wurscht“ bekommen und mit am Tisch sitzen soll. Ein sehr angepasstes, ängstliches Mädchen, die 11-jährige Corinna, äußerte den Wunsch, dass Fabian die Gruppe verlassen sollte, da er „wohl ohnehin mal ein Verbrecher“ würde, so wie er sich schon jetzt „aufführe“. Andere Gruppenmitglieder pflichteten ihr bei. Außer dass Fabian nicht an der Anfangsrunde am Tisch teilnahm, versuchte er auch wiederholt, an Gruppenregeln und -ritualen zu rütteln. Hier war es wichtig, der Gruppe klar zu machen, dass Fabian in der Gruppe ist, obwohl er draußen ist. Ich sagte dazu: „Fabian fällt es noch schwer, hier mit uns am Tisch zu sitzen, aber er gehört zur Gruppe!“ Dies wurde von der Gruppe hingenommen und von Fabian nicht dementiert.

Der Gruppenleiter nimmt Einfluss, wenn ein Gruppenmitglied dauerhaft zum Sündenbock oder Außenseiter der Gruppe zu werden droht. Er lässt auch aggressive und destruktive Prozesse zu, um durch Kommentierung und Interpretation deren Bedeutung für den

15

Gruppenprozess und die einzelnen Gruppenmitglieder bewusst zu machen. Ein Beispiel Corinna, die sich zeitlebens an alle Anforderungen gehalten und eine enorme Aggressionshemmung entwickelt hatte, hatte beim Umgang der Gruppenleitung mit Fabian eine wichtige Erkenntnis und erlebte damit einen Entwicklungsschritt. In einer Situation war dies bei ihr deutlich mimisch zu erkennen: „Ach so ist das hier: Man kann aggressiv sein, Regeln infrage stellen, die Gruppenleiter attackieren, und trotzdem wird man geliebt und gehalten! Und ich Kamel habe mein Leben lang brav alles getan, was man von mir wollte…!“ Corinna wurde durch dieses Erleben allmählich „frecher“ und selbstbewusster, was sich unter anderem in der Beziehung zu ihrer idealisierten Mutter zeigte und in der Entwicklung von Konzentration und Leistungsbereitschaft in der Schule.

Ein weiteres Beispiel Fabian hatte seine Störung aufgrund eines frühen Traumas entwickelt. Er war im Alter von fünf Monaten schreiend im Arm seiner toten Mutter aufgefunden worden. Bis zum Eintritt in die Gruppentherapie hatte er sämtliche Gruppen wegen Untragbarkeit verlassen müssen: den Kindergarten, die heilpädagogische Tagesstätte, die Regelschule und später auch eine private Schule für emotional gestörte Kinder. Sein aggressives Verhalten verstand ich so, dass er aus dem Wiederholungszwang heraus die unerträgliche Verlassenheitssituation immer wieder herstellte. Damit machte er unbewusst die jeweilige Gruppe und deren Leiter zur toten Mutter, eine Dynamik, die sich dann natürlich auch in der Kindergruppe entwickelte. Fabian hatte – nach anfänglicher Erstarrung – alsbald begonnen, andere Kinder und die Leiter mit permanenten Angriffen auf Personen, Rahmen und Setting zu provozieren und zu attackieren, um schließlich die Erfahrung

184

U. Wienberg

zu wiederholen, dass seine Identität darin besteht, nicht auszuhalten zu sein. Und dass er selbst derjenige ist, der tötet. Dies war für mich in der Übertragung auch sehr intensiv körperlich zu spüren. In einer Situation an der Tür wollte er einen eisernen Fußabstreifer auf mich werfen (mir wurde schwindelig). Ich sagte: „Du möchtest, dass ich dich nicht mag und dich wegschicke. Aber ich will dich nicht wegschicken, du gehörst zur Gruppe und ich will dich hier haben. Ich finde nicht dich doof, sondern das, was du machst, finde ich doof.“ Er legte daraufhin den Fußabstreifer weg.

15

Der Gruppenleiter versucht, in seinen Kommentaren nicht bewusst zu werten, zu beschämen und zu sanktionieren, er sorgt dafür, dass für die Inszenierungen eines jeden Gruppenmitgliedes Platz ist. Ziel ist, dass die Kinder in ihrem „So-Sein“ angenommen werden und Interesse für ihr „So-Sein“ erleben, statt dass sie sich daran orientieren, was von ihnen erwartet wird. Damit können sie eine Vorstellung entwickeln, die heißt: Ich bin so wie ich bin, ein angenommener und liebenswerter Mensch. Dieses Erleben eröffnet im wahrsten Sinne des Wortes „Freiräume“ für wichtige Entwicklungsschritte. Der Gruppenleiter soll laut Foulkes in der Gruppe eine „erträgliche Gleichgewichtsstörung“ anvisieren, wobei er das Verhältnis von konstruktiven und destruktiven Tendenzen, zwischen aufrüttelnden und stützenden Wirkungen dauernd aussteuern und im Blick haben sollte. Mit anderen Worten: Er muss im Prozess immer wieder entscheiden, wie viel, und, im Hinblick auf die erworbene Tragfähigkeit, auf welcher Ebene neue Entwicklungen angestoßen werden können. Das betrifft sowohl die einzelnen Gruppenmitglieder wie auch die Gruppe als Ganzes. Ein Beispiel Felix, 8 Jahre alt, noch nicht lange in der Gruppe, mit Zerstörungsdrang und dem Bedürfnis an den Regeln zu rütteln, beschäftigt sich gerne mit dem Arztkoffer, vor allem mit dem Stethoskop. Oft geht er

herum und versucht, den Herzschlag der anderen abzuhören, auch bei mir. Das Stethoskop wurde beschädigt, sodass ich ein neues kaufte. Als Felix es entdeckte, sagte ich zu ihm: „Felix, kannst du bitte drauf achten, dass es niemand kaputt macht?“ Und er versprach es. Ein anderes Gruppenmitglied sagte dazu: „Beziehungsweise, mach es selbst nicht kaputt!“ Und ein 14-jähriges, „altkluges“ Mädchen: „So reden eben Therapeuten!“ An einer anderen Stelle hatte dieses Mädchen einem neuen Gruppenmitglied, dessen Vorstellung es war, durch Reden und Erklären alle Probleme lösen zu können, gesagt: „Das ist hier ein Erlebnisraum und keine Quatschbude!“

Die beschriebene Haltung und die Art des Umgangs der Gruppenleitung mit Einzelnen und mit der Gruppe wirkt auf die Kinder anfangs oft verstörend und beunruhigend, und das erscheint nachvollziehbar, denn es gibt für Kinder kaum Gruppen, in denen nicht vorgegeben ist, was zu tun ist, in denen es keine „Ansage“ gibt. Kinder in institutionalisierten Gruppen haben Schulunterricht, machen Musik, Sport, Ballett, Karate, Fußball – (da weiß man, was man tun soll!), aber ohne inhaltliche Vorgaben, Zeit und Raum miteinander zu teilen. Das ist den Kindern in der Regel nicht vertraut. Dies äußerte sich in den ersten Monaten der Kindergruppe so, dass die Kinder in der Anfangs- und Schlussrunde unsicher waren, was hier nun zu tun sei. Dazu später mehr. 15.3  Setting, Rahmen, Praxis

Meine erste psychodynamische Kinder- und Jugendlichen-Gruppe, die ich zusammen mit einem Kollegen leite, begann 2007. Aktuell besteht diese Slow-open-Gruppe aus fünf Jungen und drei Mädchen im Alter von acht bis fünfzehn Jahren. Die Gruppe findet in meiner Praxis statt. Der Hauptraum (ca. 6  ×  4  m) hat einen Vorraum (Warteraum mit Tisch, Bank, einer Holztreppe nach oben, die mit Podest vor der Tür zu einem weiteren

185 Psychodynamische Gruppentherapie mit Kindern …

Zimmer, das aber nicht zum Gruppenraum gehört, endet). – Einige der Kinder, die in diese Gruppe kamen, waren vorher bei mir in Einzeltherapie gewesen. Ein Phänomen fiel mir alsbald auf: Für mich war erstaunlich, dass bei diesen Kindern in der Gruppe Themen ins Gespräch kamen, die bei mir in den Einzelsitzungen nie vorgekommen waren. Einige Kinder unterhielten sich z. B. über Selbstmordfantasien oder auch, dass sie von den Eltern geschlagen werden und wie mit ihnen zu Hause umgegangen wird. Für mich sieht das so aus, als ob die Gegenwart anderer Kinder es ermöglicht, dass Themen ins Gespräch kommen können, die alltäglich für die Kinder von Bedeutung sind, während in der Einzeltherapie elternproblematische Themen oder auch solche, die normal mit Eltern nicht besprochen werden, keinen selbstverständlichen Platz haben. Der Einzeltherapeut bleibt nach meiner Einschätzung und Beobachtung partiell immer auch eine Autoritätsperson, der gegenüber ähnliche Einschränkungen gelten wie gegenüber den Eltern, vor allem, dass er wie diese „geschont“ werden muss. Vielleicht liest sich das jetzt so, als wolle ich die Wirksamkeit der Einzeltherapie infrage stellen. Das ist keinesfalls meine Absicht. Ich selbst praktiziere nach wie vor mit Kindern und Jugendlichen Einzel- und Gruppentherapie, wobei ich allerdings sagen kann, dass ich die Gruppenarbeit wegen ihrer größeren Wirksamkeit inzwischen bevorzuge. Wenn „Fehlentwicklungen“ immer im psychosozialen Miteinander und Raum entstehen, dann ist ein Gruppen-Raum das ideale Feld, um Entwicklungen zur Gesundung anzustoßen. Schon im frühen Kindesalter ist für jeden zu sehen, wie auf- und anregend andere Kinder auf Kinder wirken. Später dann, ab dem Latenzalter hat die Peergroup eine herausragende Bedeutung und Funktion. Das Kind entfernt sich vom Elternhaus, lebt immer mehr in der Gruppe Gleichaltriger, in der Schule, in der Freizeit, in den sozialen Gruppen. Wir wissen, dass Kinder sich vor allem im Erlebnisraum des sozialen

15

Miteinanders entwickeln und lernen und nicht nur durch das, was ihnen gesagt wird. Wir wissen auch, dass Kinder ganz anders miteinander umgehen, wenn ein Erwachsener anwesend ist, oder wenn er mitspielt. In der Gruppe hat das Kind vielfältige Beziehungsangebote mit Gleichaltrigen, Jüngeren und Älteren, die schon eine größere Distanz zur elterlichen Autorität haben und seinen Selbstwert beeinflussen. Dies geschieht insbesondere dadurch, dass durch das Erlernen von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in der Gruppe geschätzt werden, soziale Anerkennung und damit ein Gefühl der Selbstachtung erworben werden können. Dabei macht das Kind aber unter Umständen auch die identitätsverunsichernde Erfahrung, dass das bisherige Bild, z. B. das vom eigenen Wert, nicht mehr gilt. Ein Beispiel Lorenz, 12 Jahre alt, war in der Gruppe lange Zeit abgelehnt worden, Es dauerte lange, bis er sich dann doch in die Gruppe integriert fühlte und von den anderen Gruppenmitgliedern akzeptiert war. Er schien darüber erleichtert, gleichzeitig aber auch irritiert zu sein, denn stets war er in Gruppen aufgrund seiner „Kaspereien“ nicht ernst genommen worden. Überraschenderweise wollte er nun die Gruppe verlassen, um sich zu Hause mehr um seinen Bruder kümmern zu können. Der sei doch sein „Fleisch und Blut!“ Nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, dass er zur Gruppe dazugehöre und dass es wichtig und erwünscht sei, dass er noch bleibe, fuhr er mich an: „Sie spinnen ja!“ Meine Worte passten nicht in sein Selbstbild und sein bisheriges Erleben. Dies musste er dann nicht umsetzen, die Beendigung der Therapie wäre zu dem Zeitpunkt seines zwar gewachsenen, aber noch zu schwachen Selbstbewusstseins zu früh gewesen.

Im Unterschied zur Erwachsenengruppe, wo nach Foulkes die Position des Gruppenleiters mehr am Rande ist, werden in der Kindergruppe die Leiter sehr viel mehr in

186

U. Wienberg

das Geschehen miteinbezogen und dienen mehr als aktiv genutzte Übertragungs-, Entwicklungs- und „reale (Interaktions-)Objekte“ (wie in Kindertherapien überhaupt). Ich halte es für sinnvoll, Kindergruppen zu zweit zu leiten. Hier ist die Ko-Leitung hilfreich: Wenn z. B. einer der Leiter involviert ist, kann der andere mehr die Position des Beobachters, Schützers, Wächters des Rahmens übernehmen. Unsere Erfahrungen als Leiterpaar zeigen auch, dass es für die Kinder, die in „EinEltern-Familien“ leben oder in deren Familien oft die Väter „unterrepräsentiert“ sind, wichtig ist, einen Leiter/Mann und eine Leiterin/ Frau in ihrer Unterschiedlichkeit und ihren Konfliktlösungs- und Beziehungsmustern zu erleben. 15.4  Auswahl der

Gruppenmitglieder

15

Für die Auswahl der Gruppenteilnehmer ist wichtig: Die Gruppe sollte heterogen sein, aber bei der Zusammensetzung der Gruppe sollte darauf geachtet werden, dass jedes Mitglied ein Gegenüber mit ähnlicher Problematik hat, eventuell auch mit konträrem Konfliktlösungsmuster. Dadurch soll so weit wie möglich dafür gesorgt werden, dass sich niemand in der Gruppe als „Exot“ und damit allein fühlen muss. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass es eigentlich kein „Störungsbild“ gibt, das hinderlich für die Aufnahme in eine Gruppe wäre. 15.5  Ablauf der Gruppensitzung

Was den Rahmen betrifft, arbeiten wir – wie auch in Erwachsenengruppen – mit der Vorgabe der zeitlichen und räumlichen Begrenzung. Jedes Gefühl und jeder Gedanke sind erlaubt und können geäußert werden, jedoch

darf mit Absicht nichts kaputt gemacht und niemand verletzt werden (= Sprechen statt Handeln). Wie schon erwähnt, reagierten Kinder auf diesen „Rahmen“ tendenziell irritiert. Sie konnten zunächst mit diesem „Freiraum“ nur schwer umgehen, sie provozierten, störten sich während der „Anfangs- und Schlussrunde“ gegenseitig, zappelten auf den Stühlen herum. Wir kommentierten dies mit Verständnis dafür, dass es sehr ungewohnt ist, kein „Programm“ zu haben. Nach einigen Sitzungen der Gruppe tauchte der Wunsch nach einem „Gruppenheft“ auf, geboren wohl aus der Erfahrung mehrerer Kinder aus der Einzeltherapie, wo ein solches Heft selbstverständlich ist. In der Einzeltherapie hat jedes Kind eine mit seinem Namen versehene Schublade, in der sich neben einem persönlichen Heft auch „Produkte“ aus den Therapiestunden, Zeichnungen usw. befinden. Am Ende der Therapie darf jedes Kind den Inhalt der Schublade mit nach Hause nehmen. Auch in der Gruppentherapie hat jedes Kind solch eine Schublade, die – erstaunlicherweise – fast immer und von allen geschützt und geachtet wird. In diesem Heft wurden engagiert unter Beteiligung aller Regeln formuliert und festgehalten, deren Einhaltung gelegentlich erinnert und angemahnt wird. Dabei scheint die Existenz dieser Regeln wichtiger zu sein als deren Einhaltung. Gruppenregeln 5 andere ausreden lassen 5 nicht auslachen 5 nicht ärgern 5 nicht mit Absicht weh tun 5 nicht hänseln 5 über Kummer reden (man muss nicht) 5 nicht erpressen Auch wenn das Aufstellen der Regeln nicht dazu führte, dass sie auch eingehalten wurden, so entwickelte sich doch im Laufe der Zeit eine andere Haltung bei den Kindern. Sie begannen, sich füreinander zu interessieren.

187 Psychodynamische Gruppentherapie mit Kindern …

15.6  Entwicklung der Gruppen-

kultur, Gruppenprozesse, Entstehung von Empathie versus Ausgrenzungstendenzen

Das zunehmende Interesse der Kinder aneinander führte zur Entwicklung und Entfaltung der einzelnen Gruppenmitglieder wie auch zur Entwicklung einer spezifischen Gruppenkultur. Gab es z. B. Fabian gegenüber noch starke Ausgrenzungstendenzen (s. o.), so wurde in einer späteren Phase der Gruppe deutlich, dass Interesse am Geschehen und Mitgefühl für das Schicksal der anderen entstanden waren. Beispiel Der 11-jährige Nuri, dessen Mutter sich vom Vater getrennt, die Familie ohne Ankündigung verlassen hatte und mit dem jüngeren Bruder weit weg gezogen war, kam verspätet in eine Sitzung, teilte spontan und erfreut mit, er habe soeben mit seiner Mutter über Skype gesprochen, aber nur kurz. Ob er sie mal sähe, wisse er nicht, sagte er auf Nachfragen eines Mädchens. Mit Tränen in den Augen erklärte er, das sei aber auch nicht so wichtig, er möge seine Mutter eh nicht mehr. Die Kinder reagierten teils liebevoll tröstend, teils stumm-erschrocken, teils ebenfalls verleugnend. Als Nuri etwas später in den Vorraum ging, nahm er einen Tacker und tackerte ohne Worte, aber mit zunehmender Erregung einer Puppe Klammern in die Augen, auf den Mund und zwischen die Beine. Zwei Buben stellten sich dazu. In den Hauptraum klang der Satz rüber: „Die kann jetzt keine Kinder mehr kriegen!“ Wenn Kinder in den Vorraum gehen, ist einer von uns dabei; in dieser Situation war es mein Kollege, der dabei saß. Mit großer innerer Beklemmung verfolgte er das Geschehen. In innerer Anspannung und sprachlos ob des Grauens, das sich in dem fast rauschhaften Tackern vermittelte, suchte er nach Worten, die dem Geschehen ein Ende setzen konnten. Im Hauptraum bekamen die

15

meisten mit, was da passierte, auch dadurch, dass einer der beiden Buben, die dabei waren, zwischendurch kurz reinkam und die Puppe zeigte, die hätte jetzt ein Piercing. Er rollte dann die Puppe in Pappe ein, die zugetackert wurde und „jetzt begraben wird“. Mein Kollege sagte nur, in etwa: „Das was jetzt geschieht, ist wohl sehr wichtig!“ Als die Kinder die Puppen später liegenließen und wieder in den Hauptraum kamen, entfernte mein Kollege ruhig alle Klammern. Er fühlte sich wie ein Chirurg, der Verletzungen versorgt und den Heilungsprozess anstößt. Der Puppenkopf aus weichem Gummi zeigte nur geringe Spuren, was Nuri und die anderen Kinder zu erleichtern schien. Einige wollten wissen, was mir die Puppe bedeute, die hätte ich doch sicher schon lange, und was, wenn sie kaputt gegangen wäre!? Auch ich konnte zunächst nur wenig sagen: „Ja, das tut weh … es wäre traurig gewesen, wenn sie zerstört worden wäre …“ Das Tackern der Puppe, diese agierte Aggression, schien einerseits die Mutter zu meinen, die ihn verlassen hatte, andererseits aber auch uns Gruppenleiter, die wir ihm nicht helfen konnten. Eindrucksvoll war, dass niemand Nuri beschuldigte oder Konsequenzen forderte; es war eher etwas wie Mitgefühl, Betroffenheit und Verbundenheit spürbar. Die Erlebnisse mit Fabian, das Durchleben und Transzendieren von zerstörerischen, unlösbar scheinenden Konflikten scheinen das Interesse für die Hintergründe von Konflikten geweckt und die Fähigkeit zu Symbolisierungen der Inszenierungen im Raum ermöglicht zu haben, sodass inzwischen eher Einfühlung und Verstehen-Wollen entstanden waren als der Wunsch, Unangenehmes auszugrenzen. In der Schlussrunde nach diesem Ereignis sprachen mehrere Kinder darüber, dass es so traurig ist, jemanden zu verlieren, den man gern hat, ein Kaninchen, die Oma oder eine Schwester. Andere sprachen mehr über das, was sie wütend macht. Lorenz sagte: „Ich war schon mal so wütend, dass ich meinen Bruder am liebsten die Treppe runtergeworfen hätte … oder was von ihm kaputtgemacht hätte.“

188

U. Wienberg

Ich sagte: „Manchmal geht es nicht, über schlimme Erlebnisse oder Gefühle zu sprechen, dann kann man nur zeigen, wie einem zumute ist. Etwas auszusprechen, was einen beunruhigt und ängstigt, ist auch deshalb nicht einfach, weil man meint, dann wird es noch schlimmer. Und man will sich ja auch schützen, wenn man kann.“ Darauf fiel Ramona ein, dass sie mir damals, in der Einzeltherapie, nie ihre schlimmen Träume erzählen wollte, was aber jetzt inzwischen ganz natürlich geworden war. Zu den darauffolgenden Sitzungen kam Nuri pünktlich, in einer Sitzung fragte er die Gruppenleiter gleich zu Beginn, ob für seinen Freund ein Platz in der Gruppe wäre, der brauche dringend Gruppentherapie. In einer anderen Sitzung fragte ich ihn, wie es mit seinen Überlegungen stehe, den Fortführungsantrag zu unterschreiben (er hatte diesbezüglich seit zwei Monaten gezögert). Als er darauf nicht reagierte, fragte ich, ob ich in einer falschen Sprache gesprochen hätte, worauf er spontan sagte: „Ja, bitte in Englisch!“ Auf die in Englisch wiederholte Frage antwortete er auf Deutsch mit Tränen in den Augen, dass er noch bleiben wolle, worauf mehrere Kinder klatschten.

15.7  Gruppenarbeit mit den

Eltern/Bezugspersonen

15

Zu dem von uns entwickelten Konzept gehört die Einrichtung einer Elterngruppe, das heißt, alle Eltern von Teilnehmern der Kindergruppe treffen sich einmal pro Monat zu einer Gruppensitzung. Diese von den meisten, trotz Ängsten, aufgegriffene Möglichkeit zum Austausch und Teilen von Erfahrungen hat sich nach großen Anlaufschwierigkeiten inzwischen als lebendiges und entlastendes Instrument zur Entwicklungsförderung der Kinder und Eltern etabliert. Die Teilnahme an der Elterngruppe ist für alle Eltern verpflichtend. Das heißt, wer im Verlaufe der probatorischen Sitzungen nicht deutlich macht, dass er an den Elterngruppen teilnimmt, dessen Kinder werden nicht in die Gruppe aufgenommen.

Die Angst der Eltern vor einer „falschen“ Entwicklung ihrer Kinder ist riesig und manchmal das gesamte Familienleben bestimmend und einengend. Manchmal zerstören diese Ängste die früher guten Beziehungen des Elternpaares und lassen aus ihnen einsame Menschen werden, deren frühere Hoffnungen und Wünsche zerstört sind. In der Konzentration auf die Kinder und deren „positive und erfolgreiche“ Entwicklung geschehen Einengung, Frustration, gegen die sich die Kinder wiederum mit allen Mitteln wehren. Wenn es in der Elterngruppe möglich ist, dass die Wünsche, Fantasien, Ängste und Befürchtungen ihren Platz bekommen und mit den anderen Gruppenmitgliedern geteilt werden können, dann können auch deren entwicklungsbehindernde und eventuell auch beziehungszerstörerische Potenzen erlebt und damit offensichtlich werden. Beispielhaft ist hier Leanders Mutter, die erstmals nach circa zwei Jahren in einer Elterngruppe über massive Eheprobleme sprechen konnte. Dabei wurde deutlich und spürbar, wie sie in ihrer Verzweiflung ihren Mann entwertete und verachtete. Aber niemand widersprach oder versuchte sie zu besänftigen. Es durften die Gefühle so sein, wie sie im Moment waren und dadurch entstand ein „potenzieller Raum“, in dem dann auch andere Gefühle auftauchten: Mitgefühl, Trauer, Erschrecken über die eigene abwehrende Härte. Das bisherige Bild vom „schrecklichen Ehemann“ war destruiert worden, ein neues Bild konnte entstehen.

Und ein weiteres Beispiel für einen solchen Prozess, in dem die Besorgnis destruiert und Vertrauen in die Fähigkeiten wachsen konnte: In eine Elterngruppensitzung kam ein Paar etwas verspätet und setzte sich auf zwei gegenüberliegende Plätze. Ich sagte gerade etwas, als die Frau ihren Mann intensiv anlächelte. Ich überlegte laut, ob das Lächeln mit dem zu tun haben könnte, was ich gerade gesagt hatte. „Ach nein“, antwortete die Frau weiterhin lächelnd, „das hat damit nichts zu

189 Psychodynamische Gruppentherapie mit Kindern …

tun, ich hab gar nicht zugehört. Ich hab nur grad meinen Mann so gern angeschaut!“ Dies war gegen Ende der vierjährigen Teilnahme ihrer Tochter an der Kindergruppe – deutlich erkennbar – Ausdruck des Entwicklungsprozesses eines überbesorgten Elternpaares, das sich als Liebespaar fast aus den Augen verloren hatte durch die Konzentration auf die Sorge um die Tochter und darauf, wer es mit ihr besser macht.

Die Prozesse bei den Eltern wirkten gerade für die Kinder entlastend, die unter entwicklungsbehindernder Fürsorge oder unter dem Bild, das ihre Eltern entworfen hatten, zu leiden hatten. Es war hilfreich, zu erkennen, in welch hohem Ausmaß manche Eltern mit Scham und Schuldgefühlen belastet waren. Obwohl die meisten sich gerne zur Teilnahme an der Elterngruppe entschlossen hatten, um endlich mit anderen „in einem Boot“ zu sein, wurde doch bald deutlich, dass sie von Ängsten geplagt waren, sie könnten als unzulängliche Eltern „entlarvt“ werden, schuldig daran, dass mit ihren Kindern etwas nicht stimmt. Durch das allmählich gewachsene Vertrauen und das Sich-aufgehoben-Fühlen in der Gruppe traten diese Ängste mehr und mehr in den Hintergrund. Die Eltern konnten allmählich zulassen, dass ihre Kinder anders sind als ihr Wunschbild von ihnen und dass sie so sein dürfen, ohne dass sie sich dafür schämen müssen. Fazit Wenn es gelingt, die Gruppe für Kinder und Eltern zu einem „Erlebnisraum“ zu machen, in dem neue Entwicklungen möglich werden und dadurch heilsame Entwicklungen in Gang kommen, so kann das für alle Beteiligten, auch für die Gruppenleiter, zu einem zwar oft langen und schwierigen, aber auch beglückenden Prozess werden.

15

Literatur Arbeitskreis zur Förderung der Kinder- und Jugendlichengruppenanalyse. (2014). Curriculum für Kinder-und Jugendlichengruppenanalyse. Darmstadt: Reyhani Druck und Verlag. Foulkes, S. H. (1974). Gruppenanalytische Psychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Freud, S. (1966). Totem und Tabu. Fischer Bücherei Freud, S., & Breuer, J. (1970). Studien über Hysterie. Frankfurt: Fischer. Ginott, H. G. (1973). Gruppenpsychotherapie mit Kindern. Sozialpädagogische Reihe, Bd. 2 (5. Aufl.). Weinheim: Beltz Verlag (ISBN 3 407 13102 X). Pikler, E. (1988). Laßt mir Zeit. München: Plaum Verlag. Schiffer, M. (1969). Die therapeutische Spielgruppe. Stuttgart: Hippokrates Verlag. Slavson, S. R., & Schiffer, M. (1976a). Gruppenpsychotherapie mit Kindern. Ein Arbeitsbuch. Verlag für Medizinische Psychologie. Slavson, S. R., & Schiffer, M. (1976b). Die therapeutische Spielgruppe. Vanderhoeck und Ruprecht: Göttingen. Spielrein, S. (1986). Die Destruktion als Ursache des Werdens. Tübingen: Edition Diskord. Wenck, M., & Wienberg, U. (2012). Zerstörung tut Not?! Das Zulassen von Destruktivität in der Kindergruppe ermöglicht unverzichtbare Entwicklungsräume. Eröffnungsvortrag beim 8. Kasuistischen Workshop für Kinder- und Jugendlichen-Gruppenanalyse in Heidelberg. Wenck, M., & Wienberg, U. (2014). Die Gruppe als potentieller Raum für die Entwicklungsaufgaben der so genannten Latenzzeit. Frankfurt: Brandes & Apsel. Wienberg, U. (2012). Kindergruppenanalyse. Eine intensive Form der analytischen Kindertherapie oder ein unmögliches Unterfangen? In J. Münch (Hrsg.), Nutzt Psychoanalyse?! Gießen: Psychosozial Verlag. Winnicott, D. W. (1971a). Übergangsobjekte und Übergangsphänomene. In D. W. Winnicott (Hrsg.), Vom Spiel zur Kreativität (S. 10–36). Stuttgart: KlettCotta. Winnicott, D. W. (1971b). Spielen – Eine theoretische Darstellung. In D. W. Winnicott (Hrsg.), Vom Spiel zur Kreativität (S. 10–36). Stuttgart: Klett-Cotta. Winnicott, D. W. (1971c). Spielen – Schöpferisches Handeln und die Suche nach dem Selbst. In D. W. Winnicott (Hrsg.), Vom Spiel zur Kreativität (S. 10–36). Stuttgart: Klett-Cotta.

191

Schematherapeutische Gruppentherapie mit Kindern/Jugendlichen Christian Ferreira de Vasconcellos 16.1 Einleitung – 192 16.1.1 Definition der Schematherapie – 192 16.1.2 Merkmale der Schematherapiegruppe – 193

16.2 Vorstellung der Gruppe – 193 16.2.1 Patienten – 193 16.2.2 Therapeut – 193 16.2.3 Formale Veränderungstheorie – 194 16.2.4 Prozess – 194

16.3 Module der Schematherapiegruppe – 194 16.3.1 Kennenlernen/Gruppenregeln – 194 16.3.2 Ressourcenaktivierung, ggf. Stabilisierungstechniken – 195 16.3.3 Psychoedukation: Schema- und Modusmodell – 195 16.3.4 Fallkonzeption: Moduslandkarte – 196 16.3.5 Modusbewusstsein: Herausarbeitung der einzelnen Modi – 196 16.3.6 Modusidentifikation/ -management/ -veränderung – 197 16.3.7 Therapieende/Rückfallprophylaxe – 199

16.4 Abschließende Betrachtung und Ausblick – 199 Literatur – 199

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_16

16

192

C. Ferreira de Vasconcellos

16.1  Einleitung

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der schematherapeutischen Gruppenpsychotherapie für Jugendliche mit ca. fünf Teilnehmern im Alter von 16 bis 18 Jahren. Die vorgestellte Gruppe findet 1-mal/Woche mit je 100  min im ambulanten Setting statt. Es handelt sich um ein geschlossenes Gruppenkonzept mit einem durchschnittlichen Stundenkontingent von 24 Sitzungen, was einer Kurzzeittherapie entspricht. Die Vorbereitung der Teilnehmer findet in 3–5 Einzelsitzungen (Probatorik) statt. 16.1.1  Definition der

Schematherapie

16

Die Schematherapie gehört zur sogenannten dritten Welle der Verhaltenstherapie und integriert u.  a. Annahmen/Interventionen der Transaktionsanalyse, der  Bindungstheorie, der  humanistischen erfahrungsorientierten Therapie, der  Psychodynamik und der ­Ego-state-Therapie. Der Begründer der Schematherapie ist der US-amerikanische Psychologe und Psychotherapeut Jeffrey E. Young. Die Basis der Schematherapie bilden unsere angeborenen Kern-/Grundbedürfnisse: Bindung, Autonomie, Selbstwert, Spiel/ Spaß/Lustgewinn und Unlustvermeidung sowie das übergeordnete Bedürfnis nach Konsistenz. Maladaptive Schemata entwickeln sich basierend auf Vulnerabilitäts-, Resilienz- und Temperamentfaktoren, wenn die genannten seelischen Grundbedürfnisse in Kindheit und Jugend nicht erfüllt werden (z.  B. bei Traumatisierung, Missbrauch, anhaltender Frustration/Deprivation der Grundbedürfnisse, Verwöhnung/Überbehütung, Überforderung des Kindes mit Erwachsenenthemen, Modelllernen etc.). Bei einem Schema handelt es sich um ein überdauerndes, dysfunktionales Konzept/ Muster von sich selbst, von anderen

Menschen und von der Welt, welches durch eine Mischung aus Erinnerungen, Kognitionen, Emotionen, interpersonelle Beziehungsmuster und Körperreaktionen gekennzeichnet ist. Es dient der Informationsverarbeitung und beeinflusst die Wahrnehmung und Interpretation der Welt und der eigenen Person, indem es zukünftige Erfahrungen durch Erwartungshaltung und selektive Verarbeitungsprozesse organisiert. Young beschreibt insgesamt 18 maladaptive Schemata. Neben diesen, auch oft als psychische Wunden bezeichneten, Schemata beinhaltet die Schematherapie das sogenannte Modusmodell. Schemamodi sind emotionale Zustände und Bewältigungsreaktionen – adaptive wie maladaptive, die wir alle erleben und die Augenblick für Augenblick auftreten. Oft werden unsere Schemamodi durch Lebenssituationen aktiviert, denen gegenüber wir stark sensibilisiert sind (unsere „emotionalen Knöpfe“; Young et al. 2008, S. 74). Diese vorübergehenden, komplexen Erlebenszustände (durch Schemaaktivierung/ en) steuern das Fühlen, das Denken, die Körperempfindungen und das Handeln eines Menschen in einer aktuellen ­Auslöse-/ Triggersituation und können rasch wechseln. Wir unterscheiden dabei vier Gruppen von Modi: Kindmodi (beinhalten die primäre emotionale Reaktion), Elternmodi (aktivierte dysfunktionale/toxische Bewertungen als Ergebnis der Internalisierung negativer Annahmen über sich selbst und die Umwelt), Bewältigungsmodi (in der Kindheit erlernte Verhaltensstrategien zur Abschwächung emotionaler Schmerzen; sowie sekundäre Emotionen) und funktionale gesunde Modi (glückliche, fröhliche Anteile sowie eine achtsame und selbstfürsorgliche innere Regulationsinstanz). Die Schematherapie erfreut sich als eklektischer Ansatz sowohl bei Verhaltenstherapeuten als auch bei Therapeuten anderer Ausrichtung großer Beliebtheit. Da sie sehr individuell auf die Bedürfnisse des Patienten eingeht und eine verständnis-

193 Schematherapeutische Gruppentherapie mit Kindern/Jugendlichen

16

gebende Ableitung eines Störungsmodells (Moduslandkarte) beinhaltet, wird sie gut von Patienten angenommen, was auch die geringen Dropout-Raten belegen (siehe Studien bzw. Artikel von Giesen-Bloo, J. et al. 2006; Nadort, M. et al. 2009; Bamelis, L. et al. 2014; Farrell, J. et al. 2009).

Mitteilung von Informationen, Katharsis, Spiel/Spontanität, Entwicklung sozialer Umgangsweisen, interpersonelles Lernen, stellvertretendes Lernen, existenzielle Faktoren etc. durch das schematherapeutische Gruppensetting realisiert (Farrell und Shaw 2013).

16.1.2  Merkmale der

16.2  Vorstellung der Gruppe

Schematherapiegruppe

Im Vergleich zu anderen Gruppenmodellen (z. B. interaktions-/prozessorientierte, personenorientierte, psychoedukative/ störungsspezifische Gruppe) kennzeichnet die Schematherapiegruppe (nach Farrell und Shaw 2013) folgende Aspekte: 5 „Durch Gruppendynamik wird Veränderung angestrebt; der Therapeut ist Teil der Gruppe und leitet und begleitet die Mitglieder aktiv. 5 Es wird an individuellen Zielen und Bedürfnissen gearbeitet, aber immer in Verbindung zu gemeinsamen Themen. 5 Mitglieder helfen in der Einzelarbeit und kommen mit dazu: der Fokus auf Gruppenprozesse ist wichtiger als die instrumentellen Bedingungen. 5 Mitglieder helfen sich gegenseitig. 5 Aufmerksamkeit ist weniger auf dem ‚durchschnittlichen‘ Patienten als auf Bedürfnissen und Zielen aller Patienten; eher erfahrungsbasiert statt fertigkeitenbasiert.“ (Farrell und Shaw 2013, S. 33 f.). Dabei werden therapeutische Aspekte, wie Zusammenhang/Zusammengehörigkeit, korrigierende Neuerfahrung der Herkunftsfamilie, korrektive emotionale Erfahrungen, Gemeinsamkeiten, Geben von Hoffnung, Leidenschaft, Selbstlosigkeit,

16.2.1  Patienten

In der vorgestellten Fallvignette bestand die Gruppe aus fünf Patienten im Alter von 16 bis 18 Jahren. Die Teilnehmer wiesen eine Diagnose aus dem depressiven Störungsspektrum (ICD-10: F32 oder F33) auf. Zudem erfüllten drei der Teilnehmer zusätzlich die Kriterien einer sozialen Phobie (ICD-10: F40.1), und eine Teilnehmerin litt zudem unter einer generalisierten Angststörung (ICD-10: F41.1). Es handelte sich um eine gemischtgeschlechtliche Gruppenkonstellation (drei männliche und zwei weibliche Teilnehmer). 16.2.2  Therapeut

Die Gruppe wurde durch einen psychologischen Psychotherapeuten mit verhaltenstherapeutischer Grundausbildung geleitet. Der Therapeut wies eine langjährige Erfahrung mit (Schematherapie-)Gruppen sowohl im Kinder- als auch im Erwachsenenbereich auf. Durch seine vielen Fortbildungen und Zertifizierungen als Gruppentherapeut und Advanced-Schematherapeut (für Kinder, Jugendliche und Erwachsene) hat er die Kompetenz erworben, das Schematherapiegruppenkonzept auf den Kinder- und Jugendbereich zu adaptieren.

194

C. Ferreira de Vasconcellos

16.2.3  Formale

Veränderungstheorie

Es handelte sich um ein kognitiv-behaviorales Gruppenkonzept, wobei neben verhaltenstherapeutischen und kognitiven Techniken auch emotionsaktivierende und erlebnisbasierte Techniken zum Einsatz kamen. 16.2.4  Prozess

16

Das vorgestellte Gruppenkonzept gliederte sich in 20 Doppelgruppensitzungen und vier Einzelsitzungen, wobei die Einzelsitzungen der Evaluation des Therapieprozesses dienten (u. a. durch Erhebung, Auswertung und Rückmeldung der Schema- und Modusfragebögen: Young Schema Questionnaire (YSQ, Young und Brown 1990, 2001) und Schema Mode Inventory (SMI, Lobbestael et al. 2005) und der Symptom-Checklist-90 (SCL-90, Franke). Die Gliederung der 20 Gruppensitzungen sah wie folgt aus: 1. Kennenlernen/Gruppenregeln (eine Sitzung) 2. Ressourcenaktivierung (zwei Sitzungen) 3. Psychoedukation: Schema- und Modusmodell (zwei Sitzungen) 4. Fallkonzeption: Moduslandkarte (zwei Sitzungen) 5. Modusbewusstsein: Herausarbeitung der einzelnen Modi (drei Sitzungen) 6. Modusidentifikation/-management/veränderung (neun Sitzungen) 7. Therapieende/Rückfallprophylaxe (eine Sitzung) 16.3  Module der

Schematherapiegruppe

Im Folgenden werden die einzelnen Module genauer vorgestellt und Ideen für Interventionen/Übungen bzw. den Einsatz von Methoden gegeben. Dabei wird die Gegenwartsform verwendet, da der Text ergänzende

Ideen zusätzlich zur durchgeführten Gruppe beinhaltet, d. h. je nach Gruppenzusammensetzung sind Variationen der Übungen bzw. Anpassungen durch die Übungswahl möglich. 16.3.1  Kennenlernen/

Gruppenregeln

Die Jugendlichen sollen sich ungezwungen und in möglichst entspannter Atmosphäre kennenlernen. Hierzu kann auf altbewährte Gruppenübungen zurückgegriffen werden, z.  B. das Interviewerspiel. Dabei interviewen sich immer zwei bis drei Jugendliche im ersten Schritt, um anschließend in der Großgruppe den Interviewpartner vorzustellen. Hier kann auch in der ersten Runde ganz unverfänglich auf Hobbys, Schule, Stärken, Freizeitaktivitäten fokussiert werden. Anschließend, im zweiten Durchlauf (mit neuer Kleingruppenaufteilung), können Probleme und Ziele für die Gruppentherapie evaluiert werden. Auch der Einsatz von Bildkarten ist möglich, da diese einen nonverbalen Zugang zu unterschiedlichsten Themen eröffnen, z. B. „Welches Bild zieht dich heute besonders an?“, „Welches Bild beschreibt deine aktuelle Stimmung/ deine Stärke?“ oder „Wähle jeweils ein Bild für deinen aktuellen Zustand und für den gewünschten Zustand am Ende der Gruppentherapie.“ Eine weitere Möglichkeit bieten Skalierungen im Raum, bei denen sowohl Bewegung, Spaß/Spiel und das Wir-Gefühl gefördert werden. Die Teilnehmer ordnen sich nach bestimmten Kriterien im Raum an, wie zum Beispiel: „Stellt euch in Reihe nach eurer Körper-/Schuhgröße, Haustieren, Anzahl der Geschwister, Wohnort, Lieblingsreiseziel (wobei der Gruppenraum die Weltkarte darstellt) geordnet auf.“ Anschließend werden die Gruppenregeln gemeinsam mit den Teilnehmern erarbeitet und an der Flipchart gesammelt. Abschließend unterschreiben alle auf dem Flipchart-Papier und verdeutlichen dadurch

195 Schematherapeutische Gruppentherapie mit Kindern/Jugendlichen

ihr Commitment. Die Teilnehmer bekommen via E-Mail ein Foto des Flipcharts zugesendet und sollen dieses in ihre Arbeitsmappen einheften. Die Arbeitsmappen sollen zu jeder Sitzung mitgebracht werden. 16.3.2  Ressourcenaktivierung, ggf.

Stabilisierungstechniken

Ziel der Ressourcenaktivierung ist es, dass die Jugendlichen sich ihrer Stärken und ­ Fähig-/Fertigkeiten bewusst  werden, um diese auch bei der späteren Problembehandlung gezielt abrufen und einsetzen zu können. Schematherapeutisch gesprochen wird der „Clevermodus“ im Sinne einer gesunden, selbstfürsorglichen Regulationsinstanz analysiert bzw. gekräftigt. Mögliche Interventionen können dabei das Schreiben einer Erfolgs-/Zielliste, das Erstellen einer/s Stärkenliste/baums/profils und das Führen eines Ressourcen- und Stärkentagebuchs (im Sinne einer täglichen Therapieaufgabe, auch gern über das erste Modul hinaus) sein. Bewährt hat sich des Weiteren der Einsatz von Ressourcenkarten, z. B. Ressourcen aktivieren in Psychotherapie und Beratung: 116 Karten zum lösungsorientierten Arbeiten (Beltz 2015), da es manchmal den Jugendlichen schwerfällt, ad hoc Ressourcen/ Stärken zu nennen. Hierbei können aktuelle bereits vorhandene als auch zukünftige noch zu erlernende Ressourcen/Fertigkeiten besprochen werden, wie zum Beispiel: „Welche Fertigkeit möchtest du noch erlernen, um deine Probleme noch besser lösen zu können?“ (lösungsfokussierte Sicht). Bei Gruppen, die gerne kreativ arbeiten, kann auch das gemeinsame Erstellen einer Erfolgsund/oder Zielcollage als bildhafte Darstellung sehr effektiv sein, da die Bilder zusätzlich eine emotionale Bearbeitung ermöglichen. Zudem kann es (je nach Gruppenzusammensetzung) hilfreich sein, bereits am Anfang der Gruppentherapie Stabilisierungstechniken zu etablieren, damit die Jugendlichen

16

sich während und außerhalb der Therapiesitzungen mit diesen beruhigen können, z. B. wenn sie in einer emotionalen Aktivierung oder in einer Grübelschleife stecken. Bei der Auswahl an Stabilisierungstechniken denkbar sind positive Imaginationen (innerer sicherer Ort, Seifenblase als Sicherheitsort, Krafttiere), Karten mit Übungen (z.  B. SOS Gefühlschaos: 100 Übungen zum Umgang mit starken Gefühlen. Kartenset für Jugendlichenpsychotherapie, Rossa und Rossa 2018), Entspannungstechniken, Gedankenkontrolltechniken als auch einfache Achtsamkeitsübungen zum aktiven Beobachten/Lauschen. 16.3.3  Psychoedukation: Schema-

und Modusmodell

Die Psychoedukation soll sowohl zum Schema- als auch zum Modusmodell erfolgen. Als Einführung in das Moduskonzept eignen sich viele Materialien, wie z. B. Filme (Alles steht Kopf, Disney/Pixar 2015, Regisseur: Pete Docter), Brettspiele (Das GefühlsMix-Spiel, Manfred Vogt Spieleverlag, 7. Auflage). Als Nächstes werden die vier Modusklassen (Kind-, Eltern-, Bewältigungsmodi, sowie der „Clevermodus“ und das „glückliche Kind“) erarbeitet. Hierbei kommen die Moduskarten, die es mittlerweile von unterschiedlichen Illustratoren/Verlagen in verschiedenen Ausführungen gibt, zum Einsatz. Auf die Frage „Welche Anteile/Modi kennst du davon auch bei dir?“ arbeiten die Jugendlichen in Zweiergruppen oder innerhalb der Großgruppe ihre eigenen Modi heraus. Dabei wird darauf geachtet, dass alle vier Modusklassen vertreten sind. Es folgt eine kurze Beschreibung der 14 wichtigsten Modi, die auch durch den SMI-Fragebogen im Vorfeld erhoben wurden. Eine Liste mit den Modibeschreibungen wird ausgeteilt. Auch eignen sich spielerische Übungen zur Bewusstmachung von Modi sehr, z. B. jeder stellt einen Modus vor und die anderen müssen erraten, um welchen Modus es sich handelt. Zudem bieten

196

16

C. Ferreira de Vasconcellos

sich Auszüge aus bekannten Filmen zur Modusillustration und zum Modusraten an. Bereits an dieser Stelle der Gruppentherapie kann das Moduswochenprotokoll als Therapieaufgabe zwischen den Sitzungen eingeführt werden. Somit können die Jugendlichen im Alltag beobachten, welche Modi wie stark in welchen Situationen auftauchen. Eine Spalte „positive Ereignisse“ lässt das Positivtagebuch nicht in Vergessenheit geraten. In der zweiten Sitzung wird das Schemamodell erarbeitet, wobei von den Grundbedürfnissen aus gestartet wird. Zusammen werden die fünf Grundbedürfnisse und ihre Wichtigkeit mithilfe der Bedürfniskarten entdeckt. Anschließend wird der Schemabegriff mittels einer Metapher (z. B. seelische Wunden, unterschiedliche Brillen) abgeleitet. Um den Zusammenhang zwischen Modusund Schemataebene zu verdeutlichen, können Alltagsbeispiele der Jugendlichen an der Flipchart im Modell der Verhaltenssteuerung (nach Roediger 2011) aufgeführt werden. Die 18 Schemata werden kurz mittels Schemakarten/-liste besprochen, um anschließend auf die individuellen Werte der Jugendlichen im YSQ-Fragebogen zu verweisen. Körperorientierte Übungen zu Modi/ Schemata (z. B. „Wie ist deine Körperhaltung/Gestik/Mimik, wenn du in diesem Modus bist oder wenn Schema X aktiviert ist?“) machen die unterschiedlichen Schemata und Modi erfahrbar. Ergänzend kann, im Sinne einer vertiefenden Psychoedukation zwischen den Sitzungen, auf das Buch Was ist eine Schematherapie? Eine Einführung in Grundlagen, Modell und Anwendung (Roediger 2018) hingewiesen werden. 16.3.4  Fallkonzeption:

Moduslandkarte

Innerhalb von Kleingruppenarbeit oder in der Großgruppe soll für jeden Jugendlichen eine individuelle Fallkonzeption erstellt

werden. Dabei zeichnen sie ihre Körperumrisse gegenseitig auf Papier ab. Anhand einer typischen Auslösesituation (situationsspezifisch) werden nun die aktivierten Modi eingezeichnet und individuell benannt, z. B. „Welche Modi tauchen bei dir in einer typischen schwierigen Situation alle auf?“  Dabei hat es sich als nützlich erwiesen, die Modi nach Klassen und in Anlehnung an die dimensionale/dynamische Moduslandkarte (ebd.) zu ordnen, um ein Verständnis für die Dynamik und die Funktion der einzelnen Modi zu vermitteln. Da die individuelle Moduslandkarte der Dreh- und Angelpunkt der weiteren Therapie darstellt, wird für die Ableitung ausreichend Zeit zur Verfügung gestellt, sodass am Ende dieser Phase jeder Gruppenteilnehmer ein Flipchartpapier mit seiner individuellen Moduslandkarte erhält. 16.3.5  Modusbewusstsein:

Herausarbeitung der einzelnen Modi

Um die Modi bewusst erfahrbarer zu machen, wird das Achtsamkeitskonzept kurz vorgestellt, und anschließend werden Achtsamkeitsübungen in der Gruppe durchgeführt. Hierbei sollte man sich auf die formelle Achtsamkeitspraxis (Atemmeditation), Bodyscan (nach Kabat-Zinn) beziehen, um die Achtsamkeit für Gefühle, Gedanken, Körpersignale und Verhaltensimpulse (Modisensationen) zu stärken. Im Weiteren soll die Achtsamkeitsfähigkeit für die bewusste Wahrnehmung der Modi im Alltag der Jugendlichen trainiert werden. Hierbei hat sich das weitere Führen von Modi-Wochenprotokollen als sehr hilfreich erwiesen. Im nächsten Schritt werden in Zweiergruppen den einzelnen Modi mittels unterschiedlichem Material Modirepräsentanten zugeordnet. Je nachdem, welches Material die Jugendlichen präferieren, können die

197 Schematherapeutische Gruppentherapie mit Kindern/Jugendlichen

16

bereits ausgewählten Moduskarten oder aber auch anderes Material (Schlümpfe, Tierfiguren, Masken, Künstlerpuppen etc.) verwendet werden, sodass die Modi nun greifbar gemacht werden. Folgende Fallvignette soll dies verdeutlichen:

auszuteilen, sodass sie sich daran orientieren können. Die wichtigsten Informationen und Erkenntnisse werden schriftlich im ­Modusinterview-Explorationsbogen festgehalten. Damit ist die Klärungsphase abgeschlossen.

Therapeut: „Ich hätte nun gerne, dass ihr in Zweiergruppen für jeden Modus von euch eine passende Figur wählt, dabei könnt ihr die Schlümpfe, Tierfiguren oder auch die euch bekannten Moduskarten verwenden.“

16.3.6  Modusidentifikation/

Gruppenteilnehmer-1: „Also soll ich da jetzt einfach was auswählen oder wie?“ Therapeut: „Ja, genau. Jeder nimmt sich gleich für jeden aufgezeichneten Modus in eurer Moduslandkarte einen Schlumpf oder anderes, der dann diesen Modus heute und in Zukunft repräsentiert.“ Gruppenteilnehmer-3: „Okay, z. B. für meinen wütenden Modus könnte ich den schwarzen Schlumpf, der ganz grimmig schaut und die Hände zu Fäusten ballt, nehmen?“ Therapeut: „Ja, super, ganz genau so meine ich es. Falls ihr Fragen habt, könnt ihr mich auch gerne ansprechen. Ich werde bei dieser Übung auch in die Kleingruppen reinkommen und euch helfen.“ Anschließend soll jeder Modus einmal „zu Wort“ kommen, indem das Modusinterview durch einen Patienten zunächst demonstriert wird (Fishbowl-Methode). Hierbei „geht“ der Jugendliche abwechselnd ganz in seine Modi, die dann befragt werden, z. B. nach deren Herkunft, Funktion, Erleben auf unterschiedlichen Ebenen etc. Nach der Demonstration in der Großgruppe wird das Modusinterview in den Kleingruppen selbstständig durchgeführt/ fortgesetzt. Dabei kann es von Vorteil sein, zuvor den Jugendlichen einen Fragenkatalog mit hilfreichen Fragen an die jeweiligen Modi

-management/ -veränderung

Das Modusmanagement nimmt den größten Teil des Gruppentrainings ein, ab hier folgt vor allem die Veränderungsphase/-arbeit. Dabei werden die einzelnen Modi weiterhin durch achtsames Beobachten in die bewusste Wahrnehmung gebracht, um sie im nächsten Schritt zu bearbeiten. Hierbei kommen sowohl kognitive, verhaltenstherapeutische als auch emotionsaktivierende/erlebnisbasierende Techniken und Interventionen zum Einsatz. Hier einige mögliche Beispiele v. a. für emotionsaktivierende Techniken: 5 “Clevermodus“ stärken: Modus-Rollenspiele (z. B. 3-Stuhldialog, in dem der intrapsychische Konflikt zwischen dem Elternmodus und dem Kindmodus zunächst dargestellt und emotional ge-/ erspürt wird, um ihn im zweiten Schritt durch den aktiven Clevermodus im Sinne der Versorgung des Kindmodus und Entmachtung des Elternmodus aufzulösen), Übung zur körperlichen Erdung (Körperarbeit: „Wie stehe ich fest und stabil, wenn ich den „Clevermodus“ aktivieren will?“), mein 30./40. Geburtstag, Verhaltensexperimente (innerhalb und außerhalb der Therapiegruppe als Therapieaufgabe), Rollenspiele mit Alltagsszenen und der neuen Clevermodus-Verhaltensweise (Probehandeln), Übergangsobjekte, Fantasiereise zum Clever-Modus, Imaginationen zu schwierigen zukünftigen Situationen. 5 „Fröhliches Kind“ fördern: Imaginationsübung zur Evokation des Modus „glückliches Kind“, kreative Spaßübungen

198

16

C. Ferreira de Vasconcellos

(Team-Aktivitäten), Gruppenmaskottchen basteln, Spaß mit Modi im Rahmen von kleinen Spielen, Imagination „Ausflug in den Spielzeugladen“ und „Traumhaus einrichten“, Schatzkiste basteln und mit freud-/genussvollen Dingen packen. 5 Modus „vulnerables Kind“ validieren und trösten: Imaginatives Überschreiben mit der ganzen Gruppe oder mit einem Patienten und der Unterstützung der Gruppe, Imagination „Das kleine Kind allein auf der Straße“, ein Gute-ElternSkript basteln und anschließend innerhalb einer kurzen Imagination vorlesen und erspüren lassen. 5 Modus „wütendes/impulsives Kind“ begrenzen und Ärger ventilieren: Wutübungen zur Ventilation von Wut (z. B. Tauziehen, Papierkugeln formen und werfen, Ballonspiele, mit dem Rücken wegschieben, das Gesicht des strafenden Elternteils, mit imaginären Eiern bewerfen, gemeinsam Ballons zerstampfen), Bild des wütenden Kindmodus anfertigen, Modus-Rollenspiele. 5 Modus „Eltern/Kritiker“ demaskieren und entmachten: Bestrafungs-Experiment (Lob versus Kritik und ihre Auswirkungen auf die Leistung/die Gefühle), Botschaften der dysfunktionalen Elternmodi auf eine Stofffigur bannen und anschließend ­Gute-Eltern-Botschaften erarbeiten (Tasse mit diesen Sprüchen gestalten), Übergangsobjekte (flauschiges Stoffstück) mitgeben, Stuhldialog (z. B. „Clevermodus“ entmachtet den „Kritiker“), 2-SpaltenTechnik (automatischer Gedanke des Elternmodus vs. Antwort des Clevermodus darauf), Elternsätze abstempeln lassen (Impact-Technik), Modus-Rollenspiele mit Stofffigur durchführen (damit es nicht zu einer Rollenfusion kommt, trägt der Jugendliche, der den Elternmodus im Rollenspiel spielt, die Stofffigur – anschließend kann die Stofffigur wortwörtlich verbrannt/zerknäult/weggeworfen

werden). Zudem bietet die Akzeptanzund Commitmenttherapie (ACT, nach Steven C. Hayes) die Möglichkeit, mittels Defusionstechniken Abstand von der Elternmodusstimme zu gewinnen. Die Jugendlichen üben diese aktiv innerhalb und außerhalb der Gruppe. 5 Dysfunktionale Bewältigungsmodi erkennen, reduzieren und adaptive Verhaltensadaptiven entwickeln: FocusingÜbung zur Bewusstmachung der Wirkungen und Konsequenzen, ModusRollenspiele (jeder Jugendliche spielt eine Modusrolle), Bild des sicheren Orts, Verhaltensexperimente mit dem neuen adaptiven Verhalten. z Hinweis zur Durchführung von Imaginationen und Stuhldialogen

Besonders hilfreich bei der Durchführung von Imaginationen und Stuhldialogen innerhalb der Gruppentherapie hat sich die Fishbowl-Technik erwiesen, das heißt der Therapeut führt die Intervention mit einem Jugendlichen durch, wobei die anderen Teilnehmer einen aktiven Part einnehmen, in dem sie dem Jugendlichen bei der Entmachtung des Elternmodus und bei der Versorgung des Kindmodus aktiv unterstützen, z. B. indem sie hilfreiche Sätze formulieren, sich im Raum neben dem Clevermodusstuhl positionieren, Ideen miteinbringen etc. z Hinweis zur Auswahl der Techniken

Es ist bei der Auswahl der Modi und der Techniken darauf zu achten, dass diejenigen Modi am intensivsten bearbeitet werden, die auch innerhalb der Gruppe bzw. bei den Teilnehmern am prominentesten und stärksten auftreten. Nichtsdestotrotz sollte darauf geachtet werden, dass mindestens ein Modus aus jeder Modusgruppe intensiv bearbeitet wird. Auch bei der Auswahl der konkreten Übungen kann man sich an den Vorlieben der Gruppe bzw. des Therapeuten orientieren.

199 Schematherapeutische Gruppentherapie mit Kindern/Jugendlichen

16.3.7  Therapieende/

Rückfallprophylaxe

In der abschließenden letzten Sitzung soll die Gruppentherapie reflektiert werden. Hierbei basteln sich die Jugendlichen eine/n Schatztruhe/Werkzeugkoffer, in der/den sie ihre wichtigsten und hilfreichsten Werkzeuge, Interventionen, Übungen und Erkenntnisse aus der Therapie packen. Zudem werden sie eingeladen, untereinander positive Sprüche (z. B. Mutsätze, beruhigende Gedanken) zu verteilen. Anschließend wird ein Notfallplan erstellt, in dem potenzielle zukünftige schwierige Situationen, die damit in Verbindung stehenden Schemata und Modi, und die in der Krise zur Verfügung stehenden Interventionen und Kontaktpersonen aufgeführt werden. Dieser wird in der Gruppe vorgestellt und ggf. ergänzt. Die Jugendlichen sollen genügend Zeit haben, um über ihre Sorgen bzgl. der Zukunft zu sprechen, der Austausch hilft, diese abzubauen oder  auch Lösungsmöglichkeiten im Sinne der Schema-/ Modibearbeitung zu entwickeln. 16.4  Abschließende

Betrachtung und Ausblick

Die Jugendlichen konnten sich sehr gut auf die Schematherapie oder auf das ­Schema-/ Modusmodell einlassen, und die Schematherapiegruppe zeigte eine hohe Akzeptanz (kaum Absagen oder Verspätungen, sehr gute Mitarbeit inner- und außerhalb der Gruppensitzungen, viele Selbstoffenbarungen, gegenseitige Unterstützung etc.). Die Werte in den drei Fragebögen (YSQ, SMI und SCL-90) sind deutlich im Verlauf der Gruppe (Anfang versus  Mitte versus Ende der Gruppe) gesunken, d. h. dass neben den Schemata und Modi auch

die Symptombelastung der Jugendlichen weniger geworden ist, sogar am Ende der Therapie im Normbereich lag (im Vergleich mit anderen Jugendlichen). Daher kann die Adaption des schematherapeutischen Gruppenansatzes für Erwachsene auf den Einsatz im Jugendalter als erfolgreich gesehen werden. Für die Zukunft ist es wichtig zu reflektieren, welche Adaptionen für den Einsatz im Kindesalter (z. B. Grundschule) wichtig sein könnten. Auch die Frage nach unterschiedlichen Effekten durch eine mögliche unterschiedliche Anzahl von Sitzungen (z. B. Kurzzeit- versus Langzeittherapie), unterschiedliche Störungsbilder, Altersgrenzen, Settings (ambulant versus stationär) ist interessant zu beantworten – Studien können dabei helfen, dies zu klären.

Literatur Bamelis, L. L., Evers, S. M., Spinhoven, P. & Arntz, A. (2014). Results of a multicenter randomized controlled trial of the clinical effectiveness of Schema Therapy for personality disorders. American Journal of Psychiatry, 170(12), 1503– 1508. Farrell, J., & Shaw, I. (2013). Schematherapie in Gruppen. Weinheim: Beltz. Farrell, J., Shaw, I. & Webber, M. (2009). A schema-focused ­ approach to group psychotherapy for outpatients with borderline personality disorder: A randomized controlled trial. Journal of Behavior Therapy and Experimental Psychiatry, 40, 317–328. Giesen-Bloo, J., van Dyck, R., Spinhoven, P., van Tilburg, W., Dirksen, C., van Asselt, T., Kremers, I., Nadort, M. & Arntz, A. (2006). Outpatient psychotherapy for borderline personality disorder: randomized trial of schemafocused therapy vs. transference-focused psychotherapy. Archives of General Psychiatry, 63, 649–658. Lobbestael, J., van Vreeswijk, M., Arntz, A., Spinhoven, P. & t´Hoen, T. (2005). The Schema Mode Inventory-revised. Maastricht: Maastricht University. Nadort, M., Arntz, A., Smit, J.H., Wensing, M., Giesen-Bloo, J., Eikelenboom, M. et al. (2009).

16

200

C. Ferreira de Vasconcellos

Implementation of outpatient schema therapy for borderline personality disorder with versus without crisis support by the therapist outside office hours: A randomized trial. Behaviour Research and Therapy, 47(11), 961–973. Pete Docter. (2016). „Alles steht Kopf“ Walt Disney. Roediger, E. (2011). Praxis der Schematherapie (2. Aufl.). Stuttgart: Schattauer. Roediger, E. (2018). Was ist Schematherapie? Eine Einführung in Grundlagen, Modell und Anwendung. Paderborn: Junfermann. Rossa, R., & Rossa, J. (2018). SOS Gefühlschaos: 100 Übungen zum Umgang mit starken Gefühlen. Kartenset für Jugendlichenpsychotherapie. Weinheim: Beltz. Young, J. E. & Brown, G. (1990). Young Schema Questionnaire. New York: Cognitive Therapy Center of New York. Young, J. E. & Brown, G. (2001). Young Schema Questionnaire: Special Edition. New York: Schema Therapy Institute. Young, J. E., Klosko, J. S., & Weishaar, M. E. (2008). Schematherapie. Paderborn: Junfermann.

16

Weiterführende Literatur Finkelmeier, B. (2013). Modus Karten. britta. [email protected]. Guyer, J.-L. (2015). Ressourcen aktivieren in Psychotherapie und Beratung. 116 Karten zum lösungsorientierten Arbeiten. Weinheim: Beltz. Graaf, P. (2016a). Schematherapie mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Kartenset mit 56 Bildkarten (2. Aufl.). Weinheim: Beltz. Graaf, P. (2016b). Schematherapie. Mit Bedürfnissen, Emotionen und Modi arbeiten. Weinheim: Beltz. Jacob, G., Hauer, A., & Böhm, C. (2017). Schematherapie: 75 Therapiekarten. Mit 28-seitigem Booklet. Weinheim: Beltz. Loose, C., & Graaf, P. (2014). Schematherapie mit Kindern. Video-Learning. Weinheim: Beltz. Loose, C., Graaf, P., & Zarbock, G. (Hrsg.). (2013). Schematherapie mit Kindern und Jugendlichen. Weinheim: Beltz. Loose, C., Graaf, P., & Zarbock, G. (Hrsg.). (2015). Störungsspezifische Schematherapie mit Kindern und Jugendlichen. Weinheim: Beltz. Roediger, E. (2018). Praxis der Schematherapie (3. Aufl.). Stuttgart: Schattauer.

201

Gruppenpsychotherapie in der ambulanten Rehabilitation/Nachsorge (Psy-Rena) Inhaltsverzeichnis Kapitel 17 Psy-Rena: Gruppentherapie als Nachsorgekonzept, praktisch betrachtet aus tiefenpsychologisch fundierter Sicht – 203 Monique Friedrich und Jessica Hepp Kapitel 18 Kontinuität von psychosomatischer Rehabilitation und psychotherapeutischer Nachsorge (PsyRENA) – 215 Thomas A. Langens Kapitel 19 Die PsyRena-Gruppe in der Anwendung einer halboffenen Gruppe – 225 Claudia Otto

VII

203

Psy-Rena: Gruppentherapie als Nachsorgekonzept, praktisch betrachtet aus tiefenpsychologisch fundierter Sicht Monique Friedrich und Jessica Hepp

17.1 Psy-Rena: ein Nachsorgekonzept – 204 17.2 Möglichkeiten der praktischen Umsetzung – 205 Literatur – 213

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_17

17

204

M. Friedrich und J. Hepp

17.1  Psy-Rena: ein

Nachsorgekonzept

17

Gruppentherapie ist neben der Einzeltherapie ein wichtiges Verfahren, um Menschen mit psychischen Problemen zu behandeln. Neben den unterschiedlichen Ausrichtungen von Gruppen innerhalb der Richtlinienpsychotherapie (VT, TP, PA) gibt es auch noch andere Formen von Gruppen, wie z. B. Selbsthilfegruppen oder Nachsorgegruppen im Rahmen der medizinischen Rehabilitation (Reha)  der Deutschen Rentenversicherung (DRV), um die es im Speziellen in diesem Artikel gehen soll. Bevor wir exemplarisch mögliche Gruppenelemente eines solchen Nachsorgeangebotes ausführen, möchten wir die Rahmenbedingungen einer Psy-Rena-Gruppe auch aus praktischer Sicht darstellen. Für eine ausführliche und vollständig theoretische Darstellung verweisen wir auf das Konzept der DRV, welches unter 7 www.reha-nachsorge-drv.de eingesehen werden kann. Das Psy-Rena-Gruppenkonzept ist von einer ambulanten Gruppentherapie nach Richtlinienverfahren zu unterscheiden, da es keine Therapie, sondern eine Rehabilitationsmaßnahme  ist, die sich als Anschlussbehandlung an eine stationäre psychosomatische Rehabilitationsbehandlung anschließt. Das Ziel der Nachsorgemaßnahme, das vom Rentenversicherer als Kostenträger vorgegeben wird, ist der Erhalt bzw. die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Dies kann durch verschiedenste therapeutische Elemente erreicht werden. Der Nachsorgetherapeut hat bei der Umsetzung der Maßnahme relativ große Gestaltungsfreiheit. Psy-Rena ist ein unimodales Konzept der DRV für die (berufsbegleitende) Nachsorge von Rehabilitanten, welche sich zuvor meist aufgrund einer F- Hauptdiagnose einer stationären oder teilstationären psychosomatischen Reha-Behandlung unterzogen haben. Es dient dazu, die in der Reha erreichten Therapieziele und Fortschritte zu stabilisieren und in den Alltag zu integrieren, als auch weiterführende

Maßnahmen (wie z.  B. eine Wiedereingliederung, eine berufliche Rehabilitation, die Aufnahme einer Richtlinienpsychotherapie etc.) zu initiieren und zu begleiten. Dabei soll die Nachsorge den drei Grundprinzipien „Individualisierung“, „berufliche Orientierung“ und „Übergang in Eigenaktivität“ (Fachkonzept „Psy-Rena“, S. 4) folgen. Die Nachsorge kann von approbierten ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten durchgeführt werden, die entweder Erfahrung im Bereich Reha-Behandlung haben oder sich in einem Seminar der DRV für die Durchführung qualifiziert haben (Informationen hierfür erhalten Sie auf der Homepage der DRV) und denen, rein praktisch gesehen, ein entsprechend großer Gruppenraum zur Verfügung steht. Die Durchführung des Nachsorgeangebotes bedarf der Zulassung durch die DRV. Anspruchsberechtigt sind Versicherte, die zuvor eine „Leistung zur medizinischen Rehabilitation“ abgeschlossen haben, denen eine „Nachsorgeleistung“ empfohlen wurde, „bei denen eine positive Erwerbsprognose vorliegt“ und die „bei Entlassung aus der Rehabilitationseinrichtung eine Leistungsfähigkeit von mindestens 3 h auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufweisen“ (Fachkonzept Psy-Rena S. 4). Ausgeschlossen sind dagegen Bezieher einer Alters- oder einer Berufs-/Erwerbsunfähigkeitsrente. Das bedeutet auch, dass die DRV mit sofortiger Wirkung die Kostenzusage zurückziehen kann, falls sich während der Maßnahme etwas an den Voraussetzungen, wie z. B. eine Belastbarkeit von unter 3 h, ändert. Die Rehabilitanten haben meist bereits in der Reha-Einrichtung mit den behandelnden Therapeuten und dem Sozialdienst die Teilnahme an der Nachsorgegruppe besprochen, sodass sie oftmals noch aus der Klinik heraus Kontakt mit einem Nachsorgetherapeuten aufnehmen. Darüber hinaus wird die Empfehlung für die Nachsorge, welche gleichzeitig als Kostenzusage vonseiten der Klink gilt, zeitnah an den Therapeuten geschickt. Falls sich die Teilnehmer nicht von alleine melden, können sie von dem

205 Psy-Rena: Gruppentherapie als Nachsorgekonzept …

Therapeuten auch angeschrieben werden. Die Nachsorge muss innerhalb von drei Monaten nach der  Entlassung angetreten und innerhalb von zwölf Monaten abgeschlossen werden. Eine Verlängerung ist nicht möglich, auch dann nicht, wenn der Teilnehmer während der Maßnahme den Nachsorgeort wechselt. > Psy-Rena ist ein freiwilliges

Nachsorgeangebot der DRV und wird in der Regel als Gruppenangebot durchgeführt. Ziel ist der Erhalt bzw. die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit.

Die Maßnahme beginnt mit einem Erstgespräch (ca. 50 min), welches im Einzelsetting durchgeführt wird. In diesem geht es unter anderem um ein erstes Kennenlernen, das Festlegen von Nachsorgezielen, die Einschätzung durch den Nachsorgetherapeuten, inwieweit der Teilnehmer geeignet ist, und das Mitteilen der Gruppenregeln. Hierzu gehört neben der Schweigepflicht z. B. auch die im Konzept der DRV festgelegte Abwesenheitsregelung. So ist eine längere Abwesenheit (sechs Wochen und mehr) von der Gruppe einem Abbruch gleichzusetzen. Darüber hinaus kann der Therapeut aber auch nach „3-maligem unentschuldigten Fehlen, bei mangelnder Teilnahmemotivation oder bei Fehlverhalten“ (Fachkonzept „PsyRena“,  S. 8) den Teilnehmer von der Maßnahme ausschließen. Eine Regelung für ein mögliches Ausfallhonorar, wie es oftmals in einer Richtlinientherapie bei kurzfristiger Absage vereinbart wird, gibt es für die Psy-Rena-Gruppen nicht. Anschließend folgt die Gruppenphase, welche aus 25 Sitzungen à 90 min bei 8–10 Teilnehmern besteht. Die Gruppen sind meist halboffene Gruppen, können aber auch als geschlossene Gruppen konzeptualisiert werden. Dabei ist aus praktischer Sicht zu beachten, dass sich gerade bei Rehabilitanten berufliche Veränderungen während der Nachsorge ergeben können, sodass es bei einer geschlossenen Gruppe zu einer hohen Drop-out-Rate kommen kann.

17

> Psy-Rena besteht aus 2 Einzelgesprächen

(Vorbereitung, Abschluss) und 25 Gruppensitzungen à 90 min mit 8–10 Teilnehmern.

Der mögliche Ablauf und Inhalt der Gruppenstunden werden weiter unten geschildert. Grundsätzlich sind die Inhalte von der DRV nicht konkret festgelegt, sodass auf die individuellen Bedürfnisse der Teilnehmer eingegangen werden kann. Es wird jedoch empfohlen, die Gruppensitzungen mit einem Blitzlicht beginnen zu lassen, in dem Themen für die Gesprächsrunde aufgenommen und zum Teil auch schon weiterverfolgt werden können. Der Fokus liegt in Abgrenzung zur Richtlinientherapie hauptsächlich auf dem Erwerbsleben. Mögliche Schwerpunkte sind „die Bewältigung von psychosozialen und beruflichen Konflikten“, „Probleme am Arbeitsplatz und in der Arbeitswelt“, „Förderung sozialer Kompetenz“, „Reflektion der Selbstwahrnehmung“ sowie „Beziehungsprobleme“ (Fachkonzept Psy-Rena, S. 4). In einem Abschlussgespräch (ca. 50 min) werden mit dem Nachsorgeteilnehmer der Erfolg der Maßnahme reflektiert und gegebenenfalls weiterführende Schritte und Maßnahmen zur erfolgreichen Teilhabe am Arbeitsleben besprochen. Der Nachsorgetherapeut dokumentiert nach der Gruppenphase die Teilnahme des Rehabilitanten im Hinblick auf erreichte Veränderungen und Stabilisierungen, insbesondere in Bezug auf seine „Möglichkeiten der Teilhabe am Erwerbsleben“ (Fachkonzept „Psy-Rena“, S. 11) und stellt seine erbrachten Leistungen der DRV nach Ende der Maßnahme in Rechnung. Sowohl für die Rechnungsstellung, als auch die Dokumentation stellt die DRV-Formulare zur Verfügung. 17.2  Möglichkeiten der

praktischen Umsetzung

Das beschriebene Fachkonzept Psy-Rena kann, wie oben bereits angedeutet, je nach fachlicher Ausrichtung des Nachsorgetherapeuten

206

17

M. Friedrich und J. Hepp

umgesetzt werden. Der im Folgenden vorgestellte Ansatz ist ein tiefenpsychologischer. Es liegt daher die Annahme zugrunde, dass der Mensch in seinem Wesen zu einem großen Anteil auch durch unbewusste Prozesse beeinflusst wird. Das bedeutet für die therapeutische Arbeit innerhalb des Psy-RenaKonzeptes, dass der Blickwinkel auch auf aktualisierten inneren unbewussten Konflikten mit neurotisch-dysfunktionalen Verarbeitungsmustern liegt und diese – zumindest begrenzt – bearbeitet werden. Um den Teilnehmern zu ermöglichen in Kontakt mit ihren unbewussten Modi zu kommen, werden einerseits Interventionen und Techniken, die unbewusste Anteile, Gefühle und Fantasien ansprechen, benötigt. Andererseits braucht es einen Raum, der emotionalen Halt gibt. Hierfür ist es wichtig, die Gruppenkohäsion, „die relationale Bindung der Gruppenmitglieder zueinander, zum Therapeuten sowie zur gesamten Gruppe“ im Auge zu haben und diese zu stärken, vor allem auch dann, wenn neue Teilnehmer aufgenommen werden. Sie wird „als Summe aller Kräfte beschrieben, welche die Gruppe zusammenhält“ (Bormann und Strauß 2018). Um diese zu stärken, bietet sich unter anderem Paar- oder Kleingruppenarbeit an. Förderlich sind auch gruppendynamische Übungen, z. B. „Ordnen Sie sich ihrem Alter nach in einer Reihe.“ Für interaktionelle Vorstellungsrunden gibt es sehr schöne Anregungen bei Stadler et al. (2016). Weitere Möglichkeiten des Therapeuten zur Förderung des emotionalen Halts in der Gruppe sind ein aktives, strukturiertes und transparentes Vorgehen, die Einnahme der therapeutischen Hilfs-IchFunktion sowie Interventionen, die emphatisches Spiegeln und Affektdifferenzierung ermöglichen. Um einen psychodynamischen Prozess anzustoßen, ist auch ein haltgebendes Setting  notwendig. Hier spielen verbindliche Gruppenregeln, wie Ausfall- und Abwesenheitsregelungen, eine Schweigepflichtsvereinbarung sowie allgemeine Kommunikationsregeln (siehe z.  B. weiter unten Cohn 1975) eine wichtige Rolle. Bei

einem halboffenen Setting ist es wichtig, die Gruppenregeln nochmals zusammentragen zu lassen, wenn neue Teilnehmer in die Runde aufgenommen werden („Was brauchen Sie, um hier gut miteinander arbeiten zu können?“). Auch die Frequenz der Sitzungen, eine feste oder spontane Sitzordnung, feste Anfangs- und Abschlusszeiten gehören zu den strukturierenden Maßnahmen, die ein Gruppenleiter im Blick haben sollte. Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: Häufig tauchen wichtige Themen am Ende einer Sitzung auf. Hier ist es wichtig, dass der Teilnehmer sich auf eine feste Zeitstruktur verlassen kann. So ist es für ihn möglich, sein Thema zwar zu platzieren, aber noch nicht tiefer einzusteigen. Auch der Stundenablauf der einzelnen Gruppensitzungen sollte eine klare Struktur aufweisen. Bewährt hat sich folgende Struktur: Anfangsrunde – Arbeitsphase – Endrunde. Empfohlen zum Auftakt der Sitzung wird ein kurzes Anfangsblitzlicht. Stattdessen kann der Therapeut die Sitzung auch mit der Frage: „Wer hat heute etwas mitgebracht?“ öffnen. Anschließend erfolgt die Einigung der Gruppe, welches Thema bearbeitet werden soll. Dabei gilt die Gruppenregel: „Störungen (also aktuelle, wichtige Themen und Krisen) haben Vorrang.“ Möglich ist auch eine kurze Achtsamkeitsübung zum Ankommen oder eine Aufwärmintervention zur Hinführung zu einem bestimmten Thema, welches dann in der Arbeitsphase vertieft wird. Zum Ende der Sitzung empfiehlt es sich, mit einer kurzen Runde hinsichtlich dessen, was jeder für sich aus der Sitzung mitgenommen hat bzw. was da bleiben muss, abzuschließen. Die Anfangs- und Endrunden erfordern vom Therapeuten viel Führung, damit sie nicht ausufern, sodass genügend Raum für die eigentliche Arbeitsphase bleibt. Optimal für eine gute Aufnahmefähigkeit während therapeutischer Maßnahmen ist eine mittlere Aktivierung zwischen 40 und 60 % des Klienten (Yerkes und Dodsen 1908).

207 Psy-Rena: Gruppentherapie als Nachsorgekonzept …

Dem stehen bei einer Psy-Rena-Maßnahme Faktoren entgegen, die eher dafür bekannt sind, die individuelle Anspannung zu erhöhen: Die Gruppengröße ist meist recht hoch, der Umfang der Maßnahme begrenzt und die Gruppenzusammensetzung hinsichtlich Diagnose, Alter und Schweregrad sehr heterogen. Zudem kommt es bei halboffenen Gruppen zu häufigen Wechseln der Teilnehmer. Daher ist es bei einer prozessorientierten, tiefenpsychologisch geführten Psy-RenaGruppe empfehlenswert, so transparent und strukturierend wie möglich zu arbeiten und Übertragungen und interaktionelle Prozesse innerhalb der Gruppe – und somit die Tiefe der Verarbeitung – zu begrenzen. Stattdessen sollte der Fokus vorrangig auf Ressourcenaktivierung und Stabilisierung liegen. Strukturierende Maßnahmen sind u.  a. Arbeit mit einem Flipchart, klare Ziel- bzw. Auftragsformulierungen für die Gruppenstunde, Kleingruppen- und Paararbeit, aktive Arbeitsweise des Gruppenleiters. > Bei einer prozessorientierten

tiefenpsychologisch geführten Psy-Rena-Gruppe ist ein strukturiertes und haltgebendes Setting empfehlenswert. Der Gruppenleiter sollte den emotionalen Halt in der Gruppe fördern. Interaktionelle und Übertragungsprozesse sowie die Tiefe der Bearbeitung sind eher zu begrenzen.

Auch die Vorbereitung der Teilnehmer auf den Gruppeneinstieg vor Beginn der Gruppenmaßnahme trägt entscheidend zur Anspannungsreduzierung und Förderung der Behandlungsmotivation bei. Menschen machen sich vor Beginn einer Gruppenmaßnahme häufig Sorgen darüber, von anderen Gruppenmitgliedern ausgegrenzt oder zurückgewiesen zu werden, sehr hart von anderen Mitgliedern beurteilt zu werden oder ihre Selbstbestimmung verlieren zu können und von der Gruppe zu etwas gebraucht zu werden, was sie eigentlich nicht wollen (vgl. Mattke et al. 2015, S. 42). Dies

17

kann schon im Vorfeld verunsichern. Der Grundgedanke der Gruppenvorbereitung in einem Vorgespräch ist: den Patienten vor Beginn der Behandlung, in einem eigens dafür vorgesehenen Erstgespräch, über Rahmenbedingungen, Arbeitsweise und Besonderheiten der Behandlung aufzuklären (vgl. Mattke et al. 2015, S. 32). So können Sorgen und Vorerfahrungen mit Gruppen vom Teilnehmer erfragt und relativiert werden. Es hat sich auch als günstig erwiesen, die Abgrenzung zur ambulanten Therapie mit dem Klienten zu besprechen und deutlich zu machen, dass es einerseits vorrangig um Ressourcenaktivierung und Stabilisierung geht und andererseits der Erhalt bzw. die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit im Fokus  steht. Es ist oft erleichternd für die Teilnehmer zu hören, dass tiefere Prozesse, die durch die Gruppe ausgelöst werden, begrenzt werden. Zur Vertiefung bestimmter Themen ist es für die Teilnehmer ratsam, parallel eine Einzeltherapie zu beginnen. Im Vorgespräch lässt sich zudem klären, warum der Klient eine stationäre Reha-Maßnahme in Anspruch genommen hat, was diese ihm gebracht hat und wo er im Moment steht. Zudem können schon hier gemeinsame Ziele für die Maßnahme festgelegt werden. Im Folgenden sollen nun Anregungen für die praktische Umsetzung des Psy-Rena-Konzeptes gegeben werden. Ein sehr hilfreiches Modell, was Anhaltspunkte für das Vorgehen beim Leiten einer Psy-Rena-Gruppe geben kann, ist die themenzentrierte Interaktion (TZI) von Ruth C. Cohn (1975). Es ist ein Arbeitskonzept für pädagogische und therapeutische Gruppen, das aus der Psychoanalyse und humanistischen Psychologie abgeleitet wurde. Das TZI beruht auf dem „Vier-Faktoren-Modell“, d. h. der Annahme, dass jede Gruppe von vier Faktoren bestimmt ist: 5 der einzelnen Person mit ihrem Anliegen und ihren Befindlichkeiten (Ich), 5 der Gruppendynamik (Wir), 5 dem Thema, um das es geht (ES),

208

M. Friedrich und J. Hepp

2. Postulat: Störungen haben Vorrang bzw. nehmen sich Vorrang. (Regel: Unterbrich das Gespräch, wenn du nicht wirklich teilnehmen kannst, weil dich Belastendes oder Faszinierendes ablenkt oder du aus irgendeinem Grund unkonzentriert bist).

Die Kommunikationsregeln sind als Hilfsregeln gedacht, die dem Teilnehmer helfen, ihn aber nicht einengen sollen:

. Abb. 17.1  Das TZI-Modell nach Cohn (1975). (Copyright: Klett Cotta; mit freundlicher Genehmigung)

5 dem Umfeld, dem ethischen Hintergrund und der methodische Handhabung (Globe). Eine wichtige Aufgabe des Gruppenleiters ist es, diese vier Faktoren immer wieder in eine „dynamische Balance“ während des Gruppenprozesses zu bringen. Das heißt, die Ansprüche und Bedürfnisse der drei Pole auszugleichen und den Bezug zum Umfeld nicht aus den Augen zu verlieren. Diese ganzheitliche Sichtweise wird durch das Dreieck in der Kugel symbolisiert (. Abb. 17.1). Weiterhin gibt es Postulate und Kommunikationsregeln im TZI als Orientierung bzw. Verhaltensregeln.

17

1. Postulat: Sei deine eigene Chairperson! Nimm jede Situation als Angebot für die eigene Entscheidung wahr. (Es fordert auf, im ständigen Wechselspiel nach innen und nach außen zu stehen, also sich selbst, andere und die Umwelt wahrzunehmen.)

1. Vertritt dich selbst in deinen Aussagen: Sprich per ich und nicht per wir oder man! 2. Wenn du eine Frage stellst, so sage, warum du fragst und was die Frage für dich bedeutet. 3. Sei authentisch! Mach dir bewusst, was du denkst und fühlst, und wähle aus, was du sagst und tust! 4. Seitengespräche als Signale aufnehmen. (Sie stören und sind meist wichtig. Sie würden nicht geschehen, wenn sie nicht wichtig wären.) 5. Nur einer zur gleichen Zeit, bitte! Wenn mehr als einer gleichzeitig sprechen will, verständigt euch. 6. Beachte Signale aus deinem Körper und achte auf solche Signale auch bei den anderen. 7. Sei zurückhaltend mit Verallgemeinerungen. 8. Halte dich mit Interpretationen von anderen zurück. Sprich stattdessen deine persönlichen Reaktionen aus. (Verwende den Dreischritt ich nehme wahr, dass… und das bedeutet für mich… und deshalb will ich tun…) 9. Wenn du etwas über eine andere Person sagst, sage auch, was es dir bedeutet, dass sie so ist, wie sie ist. (Cohn 1975, S. 124 ff.)

209 Psy-Rena: Gruppentherapie als Nachsorgekonzept …

Bei einer Arbeit nach dem TZI-Modell übernehmen auch die Teilnehmenden die Verantwortung für den Verlauf. Die Verantwortung des Gruppenleiters ist es, allen Themen zwar angemessen Raum zu geben, aber nicht den Fokus aus dem Auge zu verlieren. Obwohl es eine arbeitsfeldbezogene Gruppe ist und die Arbeitsfähigkeit im Fokus steht, ist die Gruppe inhaltlich nicht darauf begrenzt, da es natürlich so ist, dass Schwierigkeiten, die im Berufsleben auftreten, häufig auch in anderen Lebensbereichen zu finden sind. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn jemand Schwierigkeiten hat, die eigenen Belastungsgrenzen wahrzunehmen und gleichzeitig hoch engagiert ist, kommt es oft im Beruf wie im Privatleben zu Überforderungen, da er in beiden Lebensbereichen immer wieder über die eigenen Kräfte hinausgeht. Trotzdem drehen sich viele Themen rund um das Berufsleben sowie um Edukation und Informationsaustausch über die  Rente, Schwerbehinderung, berufliche Abfindung, Wiedereingliederung, Sozialdienste und -verbände (wie der VdK) und berufliche Rehabilitation (Berufsförderungswerke, Teilhabe am Arbeitsleben). Hier ist es Voraussetzung, als Therapeut einige Kenntnisse zu diesen Themen zu haben, die man sich in einem Vorbereitungskurs der DRV aneignen kann. Es gibt aber auch sehr viel Aufklärung unter den Teilnehmern, welche zum Teil beträchtliches Vorwissen haben. Zu den einzelnen Themen ist es auch möglich, Themenabende zu veranstalten, wo Fachleute der verschiedenen Bereiche eingeladen werden oder Teilnehmer, die spezifische Kenntnisse haben, berichten. So kann Kontakt zu einem Berufsförderungswerk oder zu einem Sozialverband aufgenommen werden. Obwohl die Teilnehmer aus stationären Reha-Aufenthalten kommen, wissen sie häufig erstaunlich wenig über ihr Beschwerdebild. Hier ist es durchaus sinnvoll, die Teilnehmer zu fragen, wo es Bedarf gibt, und weitere Informationen und Psychoedukation einfließen

17

zu lassen. Wichtig ist auch Aufklärung über Psychotherapieverfahren und Richtlinientherapie, alternative therapeutische Angebote sowie allgemeine Empfehlungen dazu, wie man einen Therapieplatz bekommt und worauf dabei geachtet werden sollte. Auch Informationen zu Medikamenten und Selbsthilfestrategien sollten immer wieder einfließen. > Der Fokus einer Psy-Rena-Gruppe

liegt auf dem Erhalt bzw. der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Inhaltliche Elemente sind daher die Bearbeitung aktueller Situationen, Edukation und der Austausch von Informationen unter den Teilnehmern.

Darüber hinaus liegt bei einem tiefenpsychologischen Setting der Schwerpunkt auf der unbewussten Dynamik und einer begrenzten und vorsichtigen, empathischen Bearbeitung dysfunktionaler neurotischer Muster. Durch eine ressourcenorientierte Sicht und entsprechende Interventionen, also eine an den eigenen Stärken und Potenzialen orientierte  Psychotherapie, werden Fähigkeiten entdeckt und entwickelt. Ziel ist dabei, mit den bestehenden Konflikten besser umzugehen, sodass die Symptome der Störung erheblich gebessert oder beseitigt werden können. Hierfür eignen sich unter anderem die Methoden der positiven Psychotherapie nach Nossrat Peseschkian (1992), die man auch gut im Gruppensetting einsetzen kann. Genannt sei hier sein „Balancemodell“ und dessen Betrachtung der vier Lebensbereiche (. Abb. 17.2): Körper/Sinne; soziale Kontakte; Arbeit/Leistung; Lebenssinn/Werte. Die Idee dabei ist, dass jeder Mensch einhundert Prozent verfügbare Energie hat und diese individuell je nach Situation verteilt. Ungleiche Verteilungen, z. B. übermäßig viel Energie im Bereich Arbeit/Leistung, kann zu einer hohen innerpsychischen Anspannung bis hin zur Entwicklung von psychischen Symptomen führen. Ist die Verteilung wiederum relativ gleichmäßig, befindet sich der Mensch in einem seelischen Gleichgewicht

210

M. Friedrich und J. Hepp

. Abb. 17.2  Balancemodel von Nossrat Peseschkian (1992)

und empfindet ein psychisches Wohlbefinden (Peseschkian 1992). Eine Aufgabe könnte beispielsweise sein, sich in der Paarsituation darüber auszutauschen, wie die eigene momentane Energieverteilung in den vier Bereichen ist. Auch ein Austausch über die individuellen Fähigkeiten (Ressourcen) in den einzelnen Bereichen ist interessant, da in Krisensituationen eigene Fähigkeiten (wie z. B. frühere Sportlichkeit oder künstlerisches Interesse) neu entdeckt werden können. > Die Bearbeitung dysfunktionaler

neurotischer Muster durch ein an den eigenen Stärken und Potentialen orientiertes Vorgehen dient der Stabilisierung der Teilnehmer im Rahmen der Maßnahme.

17

Die Gruppenmaßnahme soll dem Teilnehmer dabei helfen, ein Verständnis dafür zu entwickeln, welche Funktionen bzw. welchen Sinn seine biopsychosozialen Symptome übernehmen. Zudem soll sie ihm helfen, an hilfreicheren und gesünderen Strategien zu arbeiten (z. B. an einer besseren Abgrenzungsfähigkeit). Insbesondere kann durch eine Gruppe das Verständnis für eigene Rollen oder Verhaltens- und Beziehungsmuster verbessert werden. Indem innere Vorbilder, Werte und Glaubenssätze thematisiert und in den

Gruppenprozess eingebracht werden, wird bei den Teilnehmern die innere Auseinandersetzung mit individuellen Persönlichkeitsmustern, die durch biografische Erfahrungen erworben wurden, angeregt. Möglich ist auch das Spiegeln und vorsichtige Deuten von Analogien aus dem szenischen Verständnis heraus. „Sie sorgen sich in der Gruppe immer um die Bedürfnisse und Belange der anderen. Wie ist das in Ihrem Privatleben?“ „Sie berichten von Ihrer Arbeitskollegin, bei der Sie keine Grenze setzen können und deren emotionaler Mülleimer Sie sind. Kann es sein, dass Sie in der Gruppe ein ähnliches Gefühl haben?“ Über das szenische Verstehen (Will 2012) und dessen empathische Spiegelung wird der Grundkonflikt des Klienten angesprochen. Aus einer ressourcenorientierten Sicht heraus ist dabei der Blick immer auch gerichtet auf die individuellen Kompetenzen und Möglichkeiten, mit Konflikten und Störungen umzugehen. Darüber hinaus sind Informationen und Übungen zu einer zielführenden Kommunikation hilfreich (vgl. Christ und Mitterlehner 2017, S. 54–58). Um diese den Klienten näher zu bringen, eignen sich die Konzepte „Gewaltfreie Kommunikation“ (Rosenberg 2013), Transaktionsanalyse (Berne 1964) und das „Vier-Ohren-Modell“ (Schulz von Thun 2005). Rosenberg hat sich mit einer besseren Kommunikation zwischen Menschen

211 Psy-Rena: Gruppentherapie als Nachsorgekonzept …

beschäftigt. Er schlägt in seinem Modell vor, dem anderen, anstatt ihn anzuklagen, Ich-Botschaften  in vier Schritten mitzuteilen. Als Erstes soll dabei die eigene Beobachtung („Was habe ich wahrgenommen?“) geschildert werden; dann das eigene Gefühl („Wie geht es mir dabei?“) und das eigene Bedürfnis („Was brauche ich wirklich?“), und als Viertes soll ein Wunsch an den anderen („Was wünsche ich mir von dir?“) geäußert werden. Statt des Vorwurfs „Du hörst mir nicht zu!“ ist es demnach besser zu formulieren: „Du drehst dich weg, wenn ich mit dir spreche, das löst in mir Ärger aus. Ich fühle mich dann abgelehnt und wünsche mir mehr Aufmerksamkeit von dir.“ Im Vier-Ohren-Modell (Schulz von Thun 2005, S. 26 ff.) wird dargestellt, dass Kommunikation auf vier Ebenen stattfinden kann: auf der Sachebene, der Ebene der Selbstoffenbarung, der Beziehungsebene und der Appellebene. Die Bedeutung der Nachricht bestimmt immer der Empfänger selbst, auch wenn der Sender eine ganz andere Ebene angesprochen hat. So kann der Sender eine Nachricht auf der Sachebene kommunizieren und den Fakt beschreiben, etwa: „Die Fenster sind nicht geputzt“. Der Empfänger hört es aber auf der Beziehungsebene: „Ich habe die Fenster nicht geputzt“ und versteht es als Vorwurf. Das führt häufig zu Missverständnissen zwischen Kommunikationspartnern. Auch Grundkenntnisse der Transaktionsanalyse (Berne 1964) helfen den Klienten, ihre Interaktionen mit Kollegen oder Partnern besser zu verstehen und in einer erwachsenen Rolle zu bleiben. Berne unterscheidet drei Ich-Zustände, die bei einer Kommunikation beteiligt sind: 5 Eltern-Ich-Zustand: Hier denkt, fühlt und verhält man sich so, wie nahestehende Bezugspersonen in der Kindheit gedacht, gefühlt und sich verhalten haben (von früher und übernommen).

17

5 Erwachsener Ich-Zustand: Hier denkt, fühlt und verhält man sich der Situation angemessen: logisch, reflektiert und im Hier und Jetzt. In diesem Zustand hat man Zugang zu allen seinen Ressourcen. 5 Kind-Ich-Zustand: Hier denkt, fühlt und verhält man sich so, wie man es als Kind getan hat (von früher und selbst entwickelt).

Häufig interagieren Menschen aus dem Eltern- oder Kind-Ich-Zustand heraus. Ziel ist es, in einem Erwachsenen-Zustand zu bleiben und aus diesem heraus zu agieren. Zu wissen, in welchem Ich-Zustand man sich selbst und das Gegenüber sich gerade befinden, hilft es, angemessen auf das Gegenüber zu reagieren oder zu versuchen, selbst in einen anderen Zustand zu kommen. Ein Ansatz, der speziell innere Prozesse und Dialoge anschaulich beschreibt, stammt aus der Traumatherapie (z. B. Luise Reddemann 2016). Hier wird jeder Mensch als aus verschiedenen Persönlichkeitsanteilen bestehend  gesehen. Darunter befinden sich erwachsene und kompetente, aber auch kindliche und verletzte Anteile sowie strenge  innere Antreiber oder bewertende Richter. Ein schönes Bild ist das der „inneren Bühne“, bei dem in einer bestimmten Situation manche Anteile die Hauptrollen übernehmen und sich in den Vordergrund drängen und andere eher im Hintergrund stehen. Mit diesem Bild ist es zum Beispiel möglich, den Ist-Zustand und den angestrebten Soll-Zustand zu beschreiben. Eher ungünstig ist es, wenn verletzte, kindliche Anteile in einer Arbeitssituation (z.  B. ein Gespräch mit dem Chef) die Hauptrolle übernehmen. Anzustreben ist dann eher eine Stärkung der kompetenten Ich-Anteile, die einerseits die Führung übernehmen (die Souveräne, die Diplomatin) und andererseits die inneren Kindanteile im Hintergrund beruhigen und

212

M. Friedrich und J. Hepp

betreuen sollen (die Mütterliche, die Fürsorgliche). Oft ist die Bewusstwerdung dieser „inneren Dialoge“ für die Teilnehmer schon sehr hilfreich. Bereits hypothetische Überlegungen („Welche Anteile von Ihnen können diese Situation kompetent meistern?“) aktivieren Ressourcen und Stärken. In Form von Rollenspielen können diese theoretischen Konstrukte dann auch praktisch geübt und umgesetzt werden (z. B. ein anstehendes Gespräch mit dem Chef oder ein Konflikt mit einer Arbeitskollegin). > Die Arbeit in der Gruppe ermöglicht

es, mit den einzelnen Teilnehmern z. B. im Rollenspiel zu erarbeiten, in welchen Persönlichkeitszuständen sie in unterschiedlichen Situationen agieren, sodass (Arbeits-)Konflikte verstanden werden können.

17

Ein weiterer wichtiger Inhalt der Nachsorgemaßnahme ist – wie in der regulären Richtlinientherapie auch-der Zugang zu den eigenen Gefühlen und ihr angemessener Ausdruck. Die Teilnehmer werden so in die Lage versetzt, ihr Erleben und ihre Bedürfnisse im Kontakt mit Kollegen, aber auch in anderen Beziehungen angemessen zu vertreten und durchzusetzen. Hier kann der Gruppenleiter die Teilnehmer unterstützen, indem er ihnen spiegelt/ beschreibt, was er während ihrer Erzählungen bei ihnen wahrnimmt, wie z. B. eine zittrige Stimme oder ein nervöses Beinwippen: Das fördert ihre Bewusstheit darüber. Oftmals muss er auch im Sinne einer Hilfs-Ich-Funktion die wahrgenommenen Gefühle konkret benennen, wenn die Teilnehmer über eine nur unzureichend ausgebildete Symbolisierungsfähigkeit verfügen. Auch die anderen Gruppenteilnehmer können diese Aufgabe übernehmen, wenn sie ihre eigenen Wahrnehmungen während der Erzählungen der anderen mitteilen. Da sich viele Teilnehmer von nicht betroffenen Menschen unverstanden fühlen, ermöglicht das authentische Erleben von Gefühlen ohne Scham in einer Gruppe von „Gleichgesinnten“ – eine heilsame und hilfreiche Erfahrung.

Ergänzend kann auch die Auseinandersetzung mit verschiedenen Persönlichkeitsstilen und das Zusammentreffen verschiedener Persönlichkeitsstile in der Arbeitswelt eine bessere Einschätzung des eigenen Verhaltens und Fühlens ermöglichen. Vertiefend kann dies beispielsweise bei Riemann (2011) nachgelesen werden. Ein wichtiger Baustein der RehaMaßnahme sind natürlich auch offene Gesprächsrunden über aktuelle Anliegen der Teilnehmer. Nach Yalom (2005, S. 63) sind wichtige Wirkfaktoren von Gruppen u. a. Universalität des Leidens, Altruismus, Kohäsion und interpersonelles Lernen –  oder, wie eine Teilnehmerin es einmal schön ausdrückte: das, was ihr geholfen habe, wäre die „ehrliche, unbezahlte Meinung der anderen Gruppenteilnehmer“. Unserer Erfahrung nach profitieren die Teilnehmer auch sehr von den sozialen Kontakten, die innerhalb der Gruppe entstehen können. So unterstützen sich die Teilnehmer häufig auch außerhalb der Gruppe oder unternehmen etwas zusammen. Wenn tiefere Prozesse bei den Teilnehmern angestoßen werden, diese zu sehr in die Vergangenheit rutschen oder zu tief in traumatische Prozesse einsteigen, ist es wichtig, dies aktiv zu begrenzen. Der Gruppentherapeut kann dann den Fokus weniger auf biografische Details und eigene Anteile, sondern mehr auf aktuelle Bewältigungsmöglichkeiten richten. Oft ist es schon ausreichend, zu erklären, dass es das Setting nicht hergibt, traumatische Erlebnisse aufzuarbeiten. Zudem kann man die Tiefe der Verarbeitung durch Beispiele aus anderen Bezügen, die mit der Gruppe offensichtlich nichts zu tun haben, verringern. Auch wenn die Bearbeitung bestimmter Themen eingegrenzt und auf ergänzende Therapien verwiesen werden muss, ist es dennoch wichtig und entlastend für die Gruppe, die Themen benennen zu dürfen und ihnen Raum zu geben. Um dies an einem Fallbeispiel zu verdeutlichen:

213 Psy-Rena: Gruppentherapie als Nachsorgekonzept …

Beispiel Eine sehr offene und überaus zugewandte Patientin beschreibt in der Gruppe, dass die letzte Sitzung, in der das Thema Mobbing bearbeitet wurde, sie sehr mitgenommen und an eigene Erfahrungen erinnert habe. Es passiere ihr immer wieder, dass Menschen, die ihr nahe standen, sich auf einmal gegen sie wendeten. Dies sei ihr auch schon mehrfach mit Arbeitskollegen passiert. Sie habe dadurch massive Entwertungen erlebt. Durch Nachfragen von den Gruppenteilnehmern wurde deutlich, dass sie früh von ihrem Vater verlassen wurde und dieser dann auch nichts mehr von ihr wissen wollte. Vorher sei er ihre Hauptbezugsperson gewesen. Diese Erfahrung schien sich in ihrem Leben immer wieder zu wiederholen, was der Patientin auch vorsichtig von der Therapeutin gespiegelt wurde. Trotzdem war es wichtig, die Dynamik aktiv zu begrenzen und mehr zu den Gruppenthemen „Abgrenzungsfähigkeit“ und „Möglichkeiten der Grenzsetzung“ hinzuleiten.

In den meisten Fällen ist eine begleitende Therapie ratsam, wo individuelle Themen (wie beispielsweise im obigen Fallbeispiel) vertieft werden können. Bei vielen Teilnehmern ist der Beginn einer Einzel- oder Gruppentherapie auch Ziel der Maßnahme. Trotzdem ist es wichtig, auch in der Psy-Rena mit den Teilnehmern Selbsthilfetechniken einzuüben. Genannt seien hier stabilisierende, ressourcenaktivierende Imaginationen, wie der innere sichere Ort, die Tresorübung oder die Begegnung mit inneren Helfern. Anregungen für stabilisierende, ressourcenaktivierende Imaginationen und vieles mehr findet man bei Luise Reddemann (2016). Der Teilnehmer erlernt dadurch Selbstregulierung und -beruhigung.  Hierzu zählen auch Achtsamkeits-, Atem- und Körperwahrnehmungsübungen, die z. B. zu Beginn einer Sitzung oder auch zum Ende

17

angeleitet werden können. Ziel sollte dabei sein, den Teilnehmer anzuregen und zu befähigen, diese in seinen Alltag selbstständig zu integrieren oder an entsprechenden Kursen teilzunehmen. Zusammenfassend kann man sagen, dass es durch das Gruppenangebot PsyRena zu einer verbesserten Konflikt- und Abgrenzungsfähigkeit, Selbstfürsorge, sozialen Einbindung, Entspannungsfähigkeit und der Fähigkeit, sich selbst zu stabilisieren, kommt. Auch die Rückmeldungen der Teilnehmer im Abschlussgespräch bestätigen, dass sie trotz der verschiedenen Begrenzungen (Zeit, Themen) sehr von der Maßnahme profitiert haben.

Literatur Berne, E. (1964). Games People Play: The Psychology of Human Relationship. New York: Grove Press. Ins Deutsche übersetzt: Wagemuth, W. (1967). Spiele der Erwachsenen: Psychologie der menschlichen Beziehungen. Reinbek: Rowohlt. Bormann, B., & Strauß, B. (2018). Therapeutische Beziehungen in Gruppen. In B. Strauß & D. Mattke (Hrsg.), Gruppenpsychotherapie. Lehrbuch für die Praxis (2. Aufl.). Berlin: Springer. Christ, C., & Mitterlehner, F. (2017). Psychotherapieleitfaden. Stuttgart: Schattauer. Cohn, R. (1975). Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion. Stuttgart: Klett-Cotta. Fachkonzept „Psy-RENA“, Stand Dezember 2017, einzusehen 7 https://psyrena.de/assets/files/therapeut/pdf/Fachkonzept-Psy-RENA.pdf. Mattke, D., Streeck, U., & König, O. (2015). Praxis stationärer und teilstationärer Gruppen. Stuttgart: KlettCotta. Peseschkian, N. (1992). Psychosomatik und positive Psychotherapie. Transkultureller und interdisziplinärer Ansatz am Beispiel von 40 Krankheitsbildern. Berlin: Springer. Reddemann, L. (2016). Ressourcen und Mitgefühl in der Behandlung von Traumafolgen. Stuttgart: KlettCotta. Riemann, F. (2011). Grundformen der Angst (40. Aufl.). München: Ernst-Reinhart Verlag. Rosenberg, M. B. (2013). Das können wir klären! Wie man Konflikte friedlich und wirksam lösen kann.

214

M. Friedrich und J. Hepp

GFK: Die Ideen und ihre Anwendung. Paderborn: Junfermann. Schulz von Thun, F. (2005). Miteinander reden 1. Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation. Reinbek: Rowohlt. Stadler, C., Spitzer-Prochazka, S., Kern, E., & Kress, B. (2016). Act creative! Effektive Tools für Beratung, Coaching, Psychotherapie und Supervision. Stuttgart: Klett- Cotta.

17

Will, H. (2012). Die Suche nach Darstellbarkeit. Primärprozess-Denken in der analytischen Stunde. Psyche – Z psychoanal, 66, 289–309. Yalom, I. D. (2005). Im Hier und Jetzt. Richtlinien der Gruppenpsychotherapie (2. Aufl.). München: btb Verlag. Yerkes, R.M., & Dodson, J.D. (1908). The relation of strength of stimulus to rapidity of habit-formation. Journal of Comparative Neurology and Psychology, 18, 459–482. (Stangl, 2019).

215

Kontinuität von psychosomatischer Rehabilitation und psychotherapeutischer Nachsorge (PsyRENA) Thomas A. Langens

18.1 Das Konzept der Tagesklinik am Hansaring – 216 18.2 Vorgespräch – 217 18.3 Die ersten Sitzungen – 218 18.4 Von der Reha zur Nachsorge: Typische Verläufe – 220 18.5 Fazit – 224 Literatur – 224

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_18

18

216

T. A. Langens

Psychosomatische Rehabilitation und psychotherapeutische Nachsorge in einer Gruppentherapie können in der Regel nicht aus einer Hand geleistet werden: Die meisten Patient/ innen absolvieren eine Rehabilitation weit entfernt von ihrem Wohnort und treffen, zurückgekehrt in ihren Alltag, in der Nachsorge auf ein unbekanntes therapeutisches Umfeld. In unserer Tagesklinik bieten wir sowohl teilstationäre Rehabilitationsbehandlungen als auch Nachsorgegruppen an, die von der Mehrzahl unserer Reha-Patient/ innen in Anspruch genommen werden. Da Reha und Nachsorge von demselben therapeutischen Team geleistet werden, hoffen wir, unmittelbarer an die während der Rehabilitation begonnenen therapeutischen Prozesse anknüpfen zu können. Das vorliegende Kapitel beschreibt die Erfahrungen, die wir mit diesem Konzept gesammelt haben und geht insbesondere auf die Chancen und Herausforderungen ein, die sich aus der Behandlungskontinuität von Rehabilitation und Nachsorge ergeben.

18

PsyRENA bezeichnet ein gruppentherapeuti­ sches Nachsorgeprogramm im Anschluss an eine Rehabilitationsbehandlung aufgrund einer psychischen Störung oder Erkrankung (Kobelt et al. 2018). Als Kostenträger verbindet die Deutsche Rentenversicherung (DRV) das PsyRENA-Programm mit dem Anliegen, Patienten dabei zu unterstützen, die in einer psychosomatischen Rehabilitation erreichten Veränderungen im Lebensalltag zu verankern und auszuweiten. Dieses Anliegen ist berechtigt und sinnvoll: Obschon während der Rehabilitation oft bedeutsame therapeutische Prozesse angestoßen werden können, wünschen sich viele Rehabilitanden eine weitere therapeutische Begleitung, um die erzielten Fortschritte zu stabilisieren. Dabei stellt sich für Patienten wie Behandler die Herausforderung, die Nachsorge möglichst nahtlos an die Rehabilitation (Reha) anzubinden.

18.1  Das Konzept der Tagesklinik

am Hansaring

In unserer Tagesklinik werden im Auftrag aller großen Rentenversicherungsträger und privater wie gesetzlicher Krankenkassen Menschen mit psychischen, psychosomatischen und somatoformen Erkrankungen behandelt. Die Mehrzahl unserer Patient/innen ist bereits seit längerer Zeit (im Mittel mehrere Monate) aufgrund einer psychischen Störung arbeitsunfähig erkrankt. Von den Patient/ innen werden überwiegend Belastungen am Arbeitsplatz als Ursache oder Auslöser ihrer Beschwerden genannt:  Überforderung durch externe Faktoren (z. B. Personalabbau, Erhöhung der Arbeitsdichte), innere Strukturen (mangelnde Abgrenzungsfähigkeit, überhöhte innere Ansprüche) und interaktionelle Konflikte (Mobbing und/oder Bossing). Zu den häufigsten Krankheitsbildern zählen depressive Störungen, Angst und Schmerzen, seltener Traumafolge- und Essstörungen. Bei einer Mehrzahl der Patienten beobachten wir, dass die Beschwerden in dysfunktionale Muster der Beziehungsgestaltung (Persönlichkeitsstile und -störungen) eingebettet sind und durch diese verstärkt oder aufrechterhalten werden (zu weiteren Merkmalen unserer tagesklinischen Rehabilitationsbehandlung siehe Schonnebeck 2018). Wenngleich ein Großteil unserer Patienten von der teilstationären Behandlung profitiert und einen Rückgang der akuten Symptomatik berichtet (vgl. 7 Kap. 22), gelingt eine ausreichende Rückbildung der Beschwerden nur in Ausnahmen. Zur weiteren Stabilisierung und Fortführung des psychotherapeutischen Prozesses empfehlen wir daher der Mehrzahl (etwa 70 %) unserer Patient/innen die Teilnahme an PsyRENA-Gruppen, die in den Räumen unserer Klinik stattfinden und überwiegend von den in der Klinik arbeitenden Therapeut/innen geleitet werden. Auch wenn die Patient/innen in der Nachsorgegruppe nur

217 Kontinuität von psychosomatischer Rehabilitation …

in Ausnahmefällen auf Gruppentherapeut/ innen treffen, von denen sie auch während der teilstationären Behandlung begleitet wurden (das ist aus organisatorischen Gründen nicht anders möglich), sehen sie in der Regel eine Therapeutin, die sie während der teilstationären Behandlung in einem anderen Rahmen (z.  B. Stabilisierungsgruppe oder Psychoedukation) kennengelernt haben. In den PsyRENA-Gruppen treffen unsere ehemaligen Patient/innen, die nicht nur die Räumlichkeiten und die Therapeut/innen, sondern meist auch andere Gruppenmitglieder kennen, auch auf Teilnehmer/innen, die wohnortfern eine Rehabilitation absolviert haben. Alle therapeutischen Fragen, die im Zusammenhang mit dem PsyRENA-Programm auftreten – von den Vorgesprächen über die ersten Sitzungen bis hin zum Abschluss der Gruppe – werden in regelmäßig stattfindenden Intervisionen besprochen, an denen alle Leiter/innen der Nachsorgegruppen teilnehmen. Dies erscheint auch deshalb sinnvoll, weil Gruppentherapie im Rahmen des PsyRENA-Programms eine Reihe von Besonderheiten und Herausforderungen aufweist: Der Auftrag des Kostenträgers, die Nachsorge u. a. auf die Reintegration in das Berufsleben auszurichten, deckt sich mit dem Anliegen jener Teilnehmer/innen, die in das Arbeitsleben zurückkehren möchten, jedoch von chronischen beruflichen Belastungen berichten oder aufgrund einer psychischen Erkrankung seit Längerem arbeitsunfähig sind. Häufig ist die Haltung zur Berufstätigkeit jedoch zumindest ambivalent. In einigen Fällen haben sich die  Teilnehmer/innen entschieden, einen Rentenantrag zu stellen und aus dem Berufsleben auszuscheiden. Die Gruppenleiterin muss diesen zum Teil recht unterschiedlichen Bedürfnissen und Konstellationen gerecht werden und übernimmt dabei auch beratende Funktion, was ein Grundwissen über sozialmedizinische Sachverhalte erfordert. Auch wenn die Berufstätigkeit für die meisten Teilnehmer/innen ein salientes Thema ist und

18

entsprechend Raum erhält, ist das Spektrum der in den Sitzungen angesprochenen Themen deutlich weiter und deckt alle therapeutischen Anliegen und Ziele ab, die in Gruppentherapien relevant werden. Das PsyRENA-Programm ist ausdrücklich offen für schulenübergreifende Interventionen (Kobelt et al. 2018) und gibt damit Therapeut/innen große Freiräume in der Gestaltung des therapeutischen Prozesses: Tiefenpsychologisch-interaktionelle Interventionen haben ebenso ihren Platz wie verhaltensmodifikatorische, psychoedukative und ausdrücklich auch beratende Elemente (letztere insbesondere bei sozialmedizinischen Anliegen). Diese Diversität spiegelt sich in der Zusammensetzung unseres therapeutischen Teams, dem Kolleg/innen mit vielfältigen (sozialmedizinischen) Kompetenzen und (tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutischen und/oder systemischen) Ausbildungshintergründen angehören. Die Intervisionen bieten uns die Möglichkeit, an die während der teilstationären Behandlung angestoßenen therapeutischen Prozesse möglichst unmittelbar anzuknüpfen und die dort gemachten Erfahrungen der Einzel- und Gruppentherapeut/innen auf bestmögliche Weise zu nutzen. Die im Folgenden beschriebenen Erfahrungen, Prinzipien und Vorgehensweisen sind als Niederschlag der in den Intervisionen gesammelten Erfahrungen zu verstehen, aber nie als Vorgaben. Sie sollen die vielfältigen Herausforderungen von PsyRENA-Gruppen aufzeigen, die sich auf unterschiedliche Weise meistern lassen. 18.2  Vorgespräch

Wir laden alle Interessenten für eine PsyRENA-Gruppe zu einem Vorgespräch ein, in dem neben Indikation, Motivation und einer Entbindung von der Schweigepflicht auch relevante Randbedingungen (Anfahrtszeit, Vereinbarkeit mit einer bestehenden Berufstätigkeit) angesprochen werden. Von zentraler Bedeutung sind Fragen nach der

218

T. A. Langens

Motivation für die Teilnahme: „Wie haben Sie die Gruppentherapie in der Reha erlebt? Haben Sie sich mit eigenen Themen einbringen können? Was haben Sie als hilfreich erlebt? Welche Ziele haben Sie für die Nachsorgegruppe?“ Einige wenige Interessent/ innen berichten, dass ihnen PsyRENA von einem Reha-Therapeuten  empfohlen worden sei, sie selbst jedoch wenig Interesse hätten und nur aufgrund befürchteter Nachteile („Dann bekomme ich nie wieder eine Reha“) erschienen seien. Auch wenn Teilnehmer/ innen äußern, dass sie Gruppentherapien in der Reha als nicht hilfreich erlebt haben, sie diese aber allein deshalb „versuchen“ wollen, weil ihnen die Nachsorge zustünde, ist die Motivation weiter zu prüfen. Des Weiteren werden alle Interessent/innen darüber informiert, dass sich PsyRENA-Therapeut/innen in regelmäßigen Intervisionen über Gruppenprozesse austauschen und beraten. Die Frage nach Therapiezielen wird schon im Vorgespräch gestellt, weniger um bereits die endgültigen Ziele der Teilnehmer/innen zu erfassen (die können sich im Verlauf der Gruppe durchaus ändern), sondern vielmehr um von Anfang an das Bewusstsein zu stärken, dass die Verantwortung dafür, wie hilfreich die Gruppe sein wird, zu einem großen Teil bei jedem einzelnen Teilnehmer liegt und an dessen Bereitschaft, sich einzubringen und konkrete Veränderungsperspektiven zu entwickeln, geknüpft ist. 18.3  Die ersten Sitzungen

18

Die erste Sitzung dient dem Kennenlernen der Teilnehmer/innen, der Klärung von Erwartungen und Befürchtungen sowie der Formulierung von Zielen für die Therapie. Die Gruppenleiter/innen machen unmittelbar transparent, dass ein Teil der Gruppe ihre Rehabilitation in unserer Klinik durchgeführt hat und daher die Räume, die Leitung und womöglich andere Gruppenmitglieder bereits kennt. In einer Vorstellungsrunde können die Teilnehmer/innen dann selbst schildern, wo

sie in Reha waren und welche anderen Mitglieder sie von dort kennen. Neben Erwartungen und Zielen fragt die Gruppenleiterin auch nach Befürchtungen („Gibt es etwas, von dem Sie nicht möchten, dass es hier passiert?“) im Zusammenhang mit Gruppentherapie. Hier können Teilnehmer/innen, die von außerhalb kommen, gegebenenfalls Befürchtungen, nicht in die Gruppe integriert zu werden oder außen vor zu stehen, offen ansprechen und zur Diskussion zu stellen. Recht häufig benennen Teilnehmer/innen auch die Befürchtung, dass die Redezeit in der Gruppe dauerhaft ungleich verteilt sein könnte. Es ist hilfreich, wenn bereits früh ein Bewusstsein für dieses berechtigte Anliegen bei allen Teilnehmer/ innen geschaffen wird. Die Gruppenleiterin wird oft in späteren Sitzungen darauf zurückgreifen können, indem sie z. B. die Fragen wie „Haben Sie den Eindruck, ein Teil der Gruppe geworden zu sein?“ oder „Es war Ihr Wunsch, dass die Redezeit gerecht verteilt wird. Haben Sie den Eindruck, dass uns das als Gruppe gelingt?“ an die Gruppe richtet. Die Teilnehmer/innen von PsyRENA haben in der Reha in der Regel positive Erfahrungen mit Gruppentherapie gemacht. Das Vertrauen und die Verbundenheit, die sie aus der Reha kennen, muss sich in der neu zusammengesetzten Nachsorgegruppe jedoch erst entwickeln. Das erklärt auch die anfangs zumeist etwas abwartende Haltung, die von Teilnehmer/innen gerne so beschrieben wird: „Bevor ich mich in dieser Runde öffne, möchte ich erstmal ein Gefühl für die Menschen bekommen, mit denen ich hier zusammensitze.“ In unserem therapeutischen Team haben wir eine Reihe von Übungen erprobt, die dabei helfen sollen, das Eis zu brechen und den Teilnehmer/innen die Möglichkeit geben, sich auf eher spielerische Weise zu öffnen und miteinander bekannt zu machen: 5 Die folgende Übung ist dem Züricher Ressourcenmodell (ZRM) entlehnt: Der Leiter legt in einer Pause auf dem Boden des Gruppenraums eine Vielzahl von

219 Kontinuität von psychosomatischer Rehabilitation …

Bildern (Landschaften, Tiere, Menschen in unterschiedlichen Situationen) aus, bittet die Teilnehmer/innen, diese Bilder auf sich wirken zu lassen und schließlich eines auszuwählen, das sie emotional anspricht – wobei sie ganz ausdrücklich auf ihr „Bauchgefühl“ vertrauen sollen. Wenn alle Teilnehmer/innen ein Bild gefunden haben, können einzelne Teilnehmer/innen ihr Bild vorstellen, indem sie spontane Gedanken und Assoziationen zu dem Bild äußern. Anschließend können andere Teilnehmer/innen im Sinne eines „Ideenkorbs“ ihre Gedanken und Ideen zu dem Bild anbieten, wobei das ursprüngliche Gruppenmitglied prüfen kann, welche zu ihrem eigenen Empfinden passen. Im besten Fall gewinnt so ein Bedürfnis oder ein Ziel Gestalt, das tief in der Person (die sich das Bild ausgesucht hat) verankert ist und dessen Erfüllung als bereichernd angesehen wird. Nachdem eine Teilnehmerin begonnen hat, möchten meist auch andere ihr Bild vorstellen. 5 Die einzelnen Teilnehmer/innen werden gebeten, sich den anderen Gruppenmitgliedern vorzustellen und dabei (mehr ressourcen- als defizitorientiert) von ihren Interessen, Hobbys, Reisen oder anderen prägenden positiven Erfahrungen zu erzählen: „Wenn die anderen Teilnehmer ein Bild von Ihnen bekommen möchten: Was würden Sie denen gerne erzählen, was müssten sie wissen?“ Nachdem sich alle (die das möchten) geäußert haben, können Interaktionen zwischen Teilnehmer/innen angeregt werden, z. B. durch die Frage: „Haben Sie, als Sie zugehört haben, sich einem anderen Gruppenmitglied an einer bestimmten Stelle nahe gefühlt? Hat Sie etwas auf eine besondere Weise berührt? Falls ja, können Sie dies der betreffenden Person jetzt gerne mitteilen.“ Die daraus entstehenden Interaktionen zwischen Gruppenmitgliedern haben zumeist eine sehr zugewandte, warme Qualität. Häufig

18

nehmen die Teilnehmer/innen auch zu späteren Sitzungen noch Bezug auf das, was andere Gruppenmitglieder am Anfang in dieser Runde berichtet haben. Falls die Therapeutin den Eindruck gewonnen hat, dass die Teilnehmer/innen bei diesen Übungen auf eine offene, verständnisvolle oder unterstützende Weise miteinander umgegangen sind, dann kann es sehr hilfreich sein, diesen Eindruck an die Gruppe zurückzugeben. Falls eine Gruppe erkennbar arbeiten will und bereits mehrere Teilnehmer/ innen das Bedürfnis geäußert haben, ein eigenes Thema zu bearbeiten, dann sollte dem Vorrang eingeräumt werden. Die Struktur der weiteren Sitzungen wird bereits in der ersten Sitzung etabliert und gibt den therapeutischen Rahmen vor: Blitzlicht – Arbeit an von der Gruppe ausgewählten Themen – Abschlussrunde. Die Empfehlung unserer Therapeuten geht meist dahin, das Blitzlicht kurz zu halten, um möglichst viel Zeit für die themenbezogene Arbeit zu haben. In PsyRENA-Gruppen kommt vonseiten der Teilnehmer/innen jedoch oft der Wunsch auf, im Blitzlicht neuere berufliche oder private Entwicklungen schildern zu können, die das Vertrauen und die Verbundenheit durchaus stärken können. Auch wenn die Gruppenmitglieder das Konzept des „Themas“ aus der Reha kennen, kann es hilfreich sein, noch einmal darauf einzugehen und zu umreißen, was typische Themen für die Gruppe sein könnten. Nach dem Blitzlicht sollte die Gruppe entscheiden, welche Themen bearbeitet werden. Die Abschlussrunde soll den Teilnehmer/innen die Gelegenheit geben, das Gruppengeschehen für sich zu reflektieren („Was war heute für mich wichtig? Gibt es Gedanken oder Erkenntnisse, die ich mir bewahren möchte? Möchten Sie sich für die kommende Zeit etwas vornehmen?“) und soll jedem einzelnen Mitglied noch einmal die Gelegenheit geben, auch Dinge ansprechen zu können, die irritierend waren oder gar Ärger hervorgerufen haben.

220

T. A. Langens

18.4  Von der Reha zur Nachsorge:

Typische Verläufe

Unsere Erfahrungen legen nahe, dass es vielen PsyRENA-Teilnehmer/innen gelingt, an den in der Rehabilitation begonnenen therapeutischen Prozess anzuknüpfen und diesen weiterzuführen. Recht häufig haben wir den Eindruck, dass Patient/innen, die während der Reha in Gruppentherapien zurückhaltend waren und sich kaum einbringen konnten, die nachstationäre Gruppentherapie umso besser für sich nutzen. In wenigen Fällen sehen wir aber auch, dass es Patient/innen gerade nicht gelingt, die Nachsorge für eine weitere Stabilisierung zu nutzen, indem sie sich zurückziehen oder die Nachsorge vorzeitig abbrechen. Im Folgenden werden diese unterschiedlichen Verläufe anhand von Fallbeispielen illustriert, die in Intervisionen besprochen wurden. Das Anknüpfen an therapeutische Prozesse gelingt (wenig überraschend) am leichtesten, wenn Gruppentherapeut/innen in der Nachsorge auf Mitglieder treffen, die sie aus der Reha kennen. Nicht nur kennen die Therapeut/innen die zentralen Themen und den Stand des therapeutischen Prozesses des Patienten, sie haben oft auch ausreichend Vertrauen und Beziehungskredit, um direkt die zentralen Punkte ansprechen zu können. Fallbeispiel

18

Während der Reha hatte sich Frau A. in den Gruppentherapien eher zurückgehalten. Zwar verfolgte sie die Beiträge anderer Patient(innen aufmerksam und gab hilfreiche Rückmeldungen, scheute jedoch davor zurück, eigene Themen einzubringen, da sie glaubte, dass es den anderen Patient/innen schlechter ginge als ihr und sie die Befürchtung hatte, diesen Raum zu nehmen, denn „meine Probleme sind nicht so wichtig“. Das Zurückstellen eigener Bedürfnisse und die Schwierigkeit, diese anderen gegenüber anzusprechen, konnten als ein wesentlicher Grund für ihre Unzufriedenheit und ihren depressiven Rückzug verstanden werden. Ermutigt durch

diese Erkenntnis konnte sie ihre Anliegen erst zögerlich und dann mit zunehmendem Selbstvertrauen in der Gruppe ansprechen. In ihrem sozialen Umfeld gelang ihr das allerdings nicht. In der Nachsorgegruppe traf sie auf ihre ehemalige Gruppentherapeutin, die zunächst eine ganz ähnliche Zurückhaltung bei Frau A. beobachtete, die sich jedoch – gestärkt durch die bereits etablierte therapeutische Beziehung – ansprechen ließ. Zugleich stellte die Therapeutin die Idee in den Raum, dass es hilfreich sein könnte, sich nun auch in ihrem familiären Umfeld der Herausforderung zu stellen, „sich selbst wichtig zu nehmen“ und für eigene Bedürfnisse einzutreten. Frau A. schilderte daraufhin eine aktuelle Situation, in der ihr das in der Beziehung zu ihrem Ehemann nicht gelang, und erhielt von der Gruppe wertvolle Anregungen (u.  a. von einem Teilnehmer, der beschrieb, dass er ein solches Verhalten bei seiner Ehefrau vermisse und sich ausdrücklich wünsche), die es ihr ermöglichten, deutliche Fortschritte zu erzählen – was sie der Gruppe in den folgenden Sitzungen mit spürbarer Präsenz berichtete.

Wenn es von der Reha zur Nachsorge zu einem Wechsel der Gruppenleitung kommt (was eher die Regel als eine Ausnahme ist), dann kann der kollegiale Austausch in der Intervision äußerst hilfreich sein, um Patient/ innen dabei zu helfen, in der neuen Gruppenkonstellation nicht erneut in bereits überwundene (reflektierte und bearbeitete) Interaktionsmuster zurückzufallen. Fallbeispiel Zu Beginn ihrer Rehabilitation machte Frau B. in der Gruppentherapie eine Reihe von Äußerungen, die ihre Mitpatient/innen stark beunruhigten: Sie sprach von aggressiven Impulsen („andere Menschen an die Wand klatschen“) und lebensmüden Gedanken („manchmal suche ich nach einem Baum, gegen den ich fahren kann“), distanzierte sich jedoch sofort davon, wenn die Gruppentherapeutin sie ernst nahm und daraus zwingend folgende Konsequenzen in den Raum

221 Kontinuität von psychosomatischer Rehabilitation …

stellte. Im weiteren Prozess wurde deutlich, dass Frau B. überzeugt war, nur dann in ihrer Not gesehen und wirklich gehört zu werden, wenn sie möglichst drastische Botschaften an andere richtete. Tatsächlich schienen ihre Äußerungen langfristig eher das Gegenteil hervorzurufen: Einige Teilnehmer/innen waren erschreckt und gingen auf Distanz, anderen fiel es schwer, ihre Äußerungen gerade wegen der drastischen Darstellung ernstzunehmen. Während der Reha gelang es Frau B., die interaktionellen Kosten dieser Strategie wahrzunehmen und eigene Gefühle und Bedürfnisse mit sich selbst und in anderen in Kontakt zu bringen, ohne auf schockierende Äußerungen zurückzugreifen. Noch bevor sie ihre Teilnahme in der PsyRENA-Gruppe begann, machte ihre alte Gruppentherapeutin dem Leiter der Nachsorgegruppe eine Übergabe, in der sie auch ihre Erwartung äußerte, dass sich Frau B. womöglich in den ersten Sitzungen in ähnlicher Weise verhalten könnte – was dann auch (weniger drastisch, aber weiterhin auffällig) geschah. Vorbereitet durch die Intervision konnte der Gruppenleiter das Verhalten von Frau B. einordnen und direkt auf die zugrunde liegenden Bedürfnisse eingehen,  wobei er auch die Frage aufwarf, welche neuen Strategien der Beziehungsgestaltung Frau B. in der teilstationären Behandlung kennengelernt habe. Dies erlaubte es Frau B., an ihre Fortschritte unmittelbar anzuknüpfen, ohne dauerhaft in die alte Strategie zurückzufallen.

Immer wieder sehen wir in der Reha Patient/ innen, die zum ersten Mal an einer Gruppentherapie teilnehmen und diese – aus ganz unterschiedlichen Gründen – nur eingeschränkt für sich nutzen können. Trotz Ermunterung von ihren Bezugstherapeut/ innen, sich mit ihren Themen in die Gruppe einzubringen, halten sie sich mit eigenen Beiträgen zurück, weil sie Furcht vor Abwertung oder Kritik haben, kein ausreichendes Vertrauen aufbauen können oder nicht den Mut finden, sich in einer sehr aktiven Gruppe

18

Gehör zu verschaffen. Gerade solche Patient/ innen nutzen bisweilen die Nachsorgegruppe umso aktiver für die Umsetzung ihrer therapeutischen Ziele, fast so, als hätten sie sich gesagt: „Die erste Chance habe ich verstreichen lassen, die zweite lasse ich mir nicht so leicht entgehen.“ In diesen Fällen ist es oft hilfreich, dass die Therapeut/innen die Patient/innen kennen und ihre Interventionen auf deren Bedürfnisse und Bedenken abstimmen. Fallbeispiel Während der teilstationären Behandlung fiel es Herrn C. schwer, sich in Gruppentherapien zu öffnen. Er hatte mehrere nahestehende Menschen verloren und dabei bemerkt, dass es ihm in den Monaten und Jahren zuvor nicht gelungen war, mit diesen Menschen im Hier und Jetzt in Kontakt zu treten – stattdessen hatte er organisiert und geplant. In seinem intellektuellen, emotional distanzierten und strengen Elternhaus konnte er Nähe vorwiegend in politischen und wissenschaftlichen Diskussionen finden, die jedoch immer auch durch Konkurrenz und Bewertung geprägt waren. Verbundenheit zu Mitpatient/innen konnte er vorwiegend über Kritik herstellen: Entweder, indem er andere konfrontierte oder indem er sich „ehrliches, kritisches Feedback“ wünschte. Unterstützenden, zugewandten Rückmeldungen schien er zu misstrauen. Erst in der letzten Woche der etwa zweimonatigen Behandlung sprach er zögerlich von prägenden Erfahrungen in Kindheit und Schulzeit, ohne dass es ihm dabei möglich war, mit anderen Gruppenmitgliedern Blickkontakt aufzunehmen. Obschon die Gruppentherapie zwiespältige Eindrücke hinterließ, nahm er das Angebot, am Nachsorgeprogramm teilzunehmen, an. Sein Therapeut, den er aus der teilstationären Behandlung kannte, hatte den Eindruck, dass er von Beginn an deutlich aktiver und präsenter war. Während er sich zuvor von Gruppenmitgliedern eher abgegrenzt hatte, suchte er nun Wege, sich zu verbinden. In den ersten Sitzungen der

222

T. A. Langens

Nachsorgegruppe gelang ihm das, indem er in anderen Gruppenmitgliedern ein Erleben fand, das er bei sich selbst erkannte und kritisch betrachtete: Als ein Teilnehmer etwa über sein lebenslanges Ringen um Anerkennung sprach und über sein Bedürfnis, Autoritäten in Fantasien abzuwerten und zu demütigen, konnte er eigene ähnliche Erfahrungen teilen. Im Verlauf der Sitzungen sprach er zunehmend offener über sein unerfülltes Bedürfnis nach Nähe und Verbundenheit, das eher distanzierte Elternhaus und das Erleben von Isolation und Einsamkeit. Seinem ursprünglichen Wunsch, mit anderen Menschen im Hier und Jetzt in einem verbundenen, vertrauensvollen Kontakt zu stehen, konnte er in der Nachsorgegruppe spürbar näherkommen. Der Therapeut hatte den Eindruck, dass es gerade der Beginn einer neuen Gruppe und die Pause zwischen Reha und Nachsorge waren, die es Herrn C. ermöglichten, einen neuen Zugang zu Gruppentherapie zu finden.

Mitunter sind es äußere Faktoren (im nächsten Beispiel der nahende Beginn einer beruflichen Reha), die es Patient/innen in der Nachsorge ermöglichen, die Gruppentherapie erstmals aktiv für die eigene Entwicklung und Problembewältigung zu nutzen. Fallbeispiel

18

Frau D. schien während der 7-wöchigen Rehabilitation in der Gruppentherapie nicht aus einer Beobachterrolle heraustreten zu können, was nur zum Teil an den anhaltenden Konflikten zwischen anderen Gruppenteilnehmer/innen lag. In den Einzelgesprächen konnte sie offen über ihre Befürchtungen, von anderen Menschen abgewertet zu werden, sprechen und Zusammenhänge mit dem abwertenden Verhalten ihrer Mutter sehen. Ihre Therapeutin wies mehrfach darauf hin, dass es hilfreich sein könnte, darüber in der Gruppe zu sprechen und dabei die Befürchtung, von anderen bewertet zu werden, an der Realität zu prüfen. Und auch wenn sie sich dies bisweilen vornahm, konnte Frau

D. diese Absicht nicht umsetzen. In der PsyRENA-Gruppe, die einige Wochen nach dem Ende der Reha startete, verfiel sie zunächst in eine ganz ähnliche Haltung: Sie vermied es, eigene Themen einzubringen und verwies dagegen gerne auf das schöne Wetter, das sie aufgrund der Gruppe nicht nutzen könne. Im Verlauf der Nachsorge rückte eine berufliche Rehabilitationsmaßnahme, die ihr bewilligt wurde, immer näher. Und wie sie später offenlegte, wuchsen mit der Vorstellung, bald wieder unter und mit anderen Menschen zu lernen und zu arbeiten, ihre Furcht vor Kritik und Ablehnung. Nachdem bereits mehr als zwei Drittel der Sitzungen verstrichen waren, sprach Frau D. ihre Befürchtungen an, zunächst eher vage, ohne die konkrete Absicht zu vertiefen. Der Therapeut, der die Hintergründe kannte und eine Chance für Frau D. sah, die Gruppe für sich zu nutzen, ermunterte sie, mehr darüber zu sprechen. In dieser und mehreren folgenden Sitzungen benannte Frau D. die Befürchtungen, die sich auf die Menschen in der Maßnahme, aber auch auf die Mitglieder der Gruppe bezogen, und machte die entlastende Erfahrung, dass mit ihrer Angst gut umgegangen wurde und viele Befürchtungen nicht der Realität entsprachen.

Der Wechsel von der teilstationären Behandlung in eine ambulante Gruppe kann Patient/innen mit der Herausforderung konfrontieren, Vertrauen zu einer neuen Gruppenleitung und unbekannten Mitpatient/innen zu fassen. Insbesondere Patient/ innen, die starke interaktionelle Furcht haben, beispielsweise vor Kritik, Abwertung, Beschämung, können den Wechsel so erleben, als müssten sie „wieder von vorne anfangen“. Positive Gruppenerfahrungen während der teilstationären Behandlung können dabei sehr hilfreich sein. Sie können sich aber auch als zusätzliche Hürde herausstellen, da in der Nachsorgegruppe die therapeutische Allianz zur Gruppenleitung und die Verbundenheit innerhalb der Gruppe anfangs fehlen. Um diesen Prozess zu unterstützen, ist der Austausch

223 Kontinuität von psychosomatischer Rehabilitation …

zwischen dem Therapeuten der Nachsorgegruppe und der Gruppentherapeutin während der teilstationären Behandlung hilfreich: Wie hat sich der Patient während der teilstationären Behandlung in der Gruppe verhalten, wie ist er mit der Leitung und den Mitpatient/innen in Kontakt getreten, welche Strategien der Beziehungsgestaltung wurden erkennbar? In vielen Fällen kann es sehr hilfreich sein, solche Patient/innen in der Nachsorgegruppe danach zu fragen, welche Erfahrungen es ihnen in der Gruppentherapie ermöglicht haben, sich zu öffnen und welche Art von Zusammenarbeit sie sich wünschen – was voraussetzt, dass Patient/innen in der Lage sind, diese Bedürfnisse zu artikulieren. Fallbeispiel In der teilstationären Behandlung war Herr E. zunächst äußerst zurückhaltend und vermied es, über sich zu sprechen. Wenn überhaupt, dann konnte er in eher vagen Aussagen über seine Befürchtung sprechen, dass alles, was er preisgibt, gegen ihn verwendet werden könnte. Aufgrund der vertrauensvollen Beziehung zu seiner Gruppenleiterin, die zugleich seine Einzeltherapeutin war, gelang es ihm während des siebenwöchigen Aufenthaltes jedoch schließlich, die Hintergründe seiner Ängste zu schildern, die er auf sein emotional kaltes, äußerst regelbestimmtes und auf Bestrafung beruhendes Elternhaus zurückführte. Seine Therapeutin hatte den Eindruck, dass es ihr ständiges Bemühen um den Patienten, ihre wiederholten Ermutigungen und Aufforderungen waren, die ihm dabei ­halfen. Als sie ihm die Teilnahme an einer Nachsorgegruppe empfahl, begrüßte er dies und wünschte sich eine Gruppe, die von ihr geleitet würde. Als er erfuhr, dass dies aus organisatorischen Gründen nicht möglich war, zögerte er zunächst, entschied sich jedoch schließlich, dennoch teilzunehmen. In der Nachsorgegruppe – in einer fremden Gruppe und einem ihm wenig bekannten Therapeuten – beteiligte sich Herr E. aktiv, aber nicht, indem er eigene Themen

18

einbrachte (das schloss er in den Blitzlichtrunden ausdrücklich aus), sondern indem er anderen Gruppenmitgliedern nahezu durchgängig konfrontative Rückmeldungen gab: „Was du da sagst, interessiert mich eigentlich gar nicht“, „Wenn ich dir zuhöre, dann höre ich dich nur jammern“. Der Gruppenleiter gewann – unterstützt durch Intervisionen mit der ehemaligen Bezugstherapeutin – den Eindruck, dass Herr E. letztlich versuchte, von ihm das unterstützende, nachfragende, sich bemühende Verhalten zu erhalten, das er von seiner ehemaligen Therapeutin erfahren hatte – ohne dass es ihm möglich war, dieses Bedürfnis direkt zu äußern. Tatsächlich gelang es Herrn E., in einer sich anschließenden Sitzung sein „Erstaunen“ zu beschreiben, dass ihn der Therapeut zuvor nicht auf seine „Provokationen“ angesprochen hatte. Der Therapeut griff dies auf und fragte konkret nach, was Herr E. sich denn genau von ihm und der Gruppe wünschte und ermunterte ihn, dabei auch Vergleiche zur Gruppentherapie während der teilstationären Behandlung anzustellen. Der Wunsch, dass der Therapeut „nachfragen“ möge, konnte dann als das Bedürfnis nach Unterstützung angesichts der vielfachen Befürchtungen und den Erfahrungen von Vernachlässigung und Ablehnung in seinem Elternhaus verstanden werden. Zugleich konnte Herr E. verstehen, dass seine indirekten Versuche, dieses Bedürfnis in Kontakt zu bringen (durch Konfrontation und Kritik), die Gefahr bargen, unverstanden zu bleiben und Mitmenschen auf Distanz zu halten.

Wenngleich PsyRENA insgesamt von Patient/ innen geschätzt und angenommen wird, brechen in nahezu allen Gruppen einige Gruppenmitglieder die Teilnahme vorzeitig ab. Die Gründe dafür sind vielfältig: Einige erleben eine deutliche Verschlechterung ihres Befindens und begeben sich erneut in stationäre Behandlung. Andere kehren in das Berufsleben zurück oder beginnen eine berufliche Reha und können die Gruppentermine nicht mehr mit anderen Anforderungen in

224

18

T. A. Langens

ihrem Leben vereinbaren. Es kommt nach unserer Erfahrung jedoch auch (und gar nicht so selten) vor, dass Teilnehmer/innen in der Nachsorgegruppe die Verbundenheit und Unterstützung vermissen, die sie in der Gruppentherapie während der Reha als wertvoll und stützend erlebt haben. Die positiven Erfahrungen während der Rehabilitation rufen die Hoffnung hervor, dass die Nachsorgegruppe genau das wieder bieten wird – und diese Erwartung wird fast notwendig enttäuscht werden: Die Patienten finden sich in einer Gruppe mit Unbekannten wieder, zu denen Vertrauen erst einmal aufgebaut werden muss. Im Gegensatz zur Reha, in der sie täglich mit Mitpatienten in Kontakt standen, sehen sie die Teilnehmer/innen der Nachsorgegruppe nur einmal pro Woche. Natürlich liegt darin auch eine therapeutische Chance: Wenn sie es schaffen, ihre Wünsche und Bedenken in der Gruppe zu thematisieren, kann daraus ein äußerst positiver Prozess entstehen. Denn oft geht es den anderen Teilnehmern ja ähnlich, sie wünschen sich ebenso Verbundenheit und Vertrauen und fragen sich, wie es gelingen kann, diese in der Gruppe aufzubauen. Leider kommt es aber vor, dass Teilnehmer nicht die Kraft aufbringen, sich diesem Prozess zu stellen und nach wenigen Sitzungen telefonisch ihre Teilnahme beenden. In den Intervisionen haben wir häufig die Vermutung diskutiert, dass es gerade unsere ehemaligen Rehabilitand/innen sind (und nicht die von außerhalb kommenden), die Gefahr laufen, ihre positiven Erwartungen enttäuscht zu sehen. Da die Nachsorge in denselben Räumen stattfindet, in denen sie auch während der Reha Gruppentherapien durchgeführt haben, sind ihre positiven Erfahrungen womöglich präsenter, spürbarer und damit stärker im Kontrast zu der Notwendigkeit, all das erneut aufzubauen, was in der Reha so selbstverständlich entstehen konnte. Die Erwartungen der externen Teilnehmer/innen sind dagegen neutraler und können weniger rasch enttäuscht werden. Daher kann es in den Vorgesprächen sehr

hilfreich sein, bei Internen diesen Punkt vorab anzusprechen: „Sie werden in eine neue Gruppe mit vielen unbekannten Menschen kommen, in der natürlich nicht von Anfang an das Vertrauen herrschen wird, das sie vielleicht aus der Tagesklinik kennen. Was meinen Sie: Könnte das schwer für Sie werden?“ 18.5  Fazit

Zusammengenommen bietet die Behand­ lungskontinuität von Rehabilitation und Nachsorge in unseren Augen eine Reihe von Vorteilen: Die Leiter/innen der Nachsorgegruppe gewinnen nicht nur wertvolle Informationen über den Stand des psychotherapeutischen Prozesses unserer ehemaligen Patient/innen, sondern auch Sicherheit und Rückhalt durch die fachliche Expertise und die menschliche Unterstützung der Kolleg/innen. Wir haben den Eindruck, dass dies unseren Patient/innen zugutekommt, die entweder direkt an in der Rehabilitation begonnene Veränderungsprozesse anknüpfen können oder die Gruppennachsorge mit größerer Initiative für sich nutzen. Voraussetzung für beides sind die regelmäßigen Intervisionen, in der ehemalige Bezugs- und Gruppentherapeut/ innen und gegenwärtige Gruppenleiter/ innen ihre Erfahrungen austauschen können. Die unumgänglichen Veränderungen des therapeutischen Umfelds – ein Wechsel der Gruppenleitung und der Zusammensetzung der Gruppe – werden von einigen Patient/innen als Bruch gesehen, den es zu überwinden gilt, von der Mehrheit jedoch als Chance für die Erprobung neuer selbstregulatorischer und interaktioneller Strategien.

Literatur Kobelt, A., Worringen, C., Widera, T., & Muschella, B. (2018). Psychosomatische Nachsorge nach stationärer psychosomatischer Rehabilitation (PsyRENA). Ärztliche Psychotherapie, 13, 30–34. Schonnebeck, M. (2018). Hier und Jetzt. Spezifika einer psychosomatischen Reha im Tagesklinik-Modus. Ärztliche Psychotherapie, 13, 17–22.

225

Die PsyRena-Gruppe in der Anwendung einer halboffenen Gruppe Claudia Otto 19.1 Einleitung – 226 19.2 Vorstellung der Gruppe und Zielsetzung – 226 19.3 Gruppenkohäsion – 227 19.3.1 Einleitung – 227 19.3.2 Soziometrische Erfassung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden – 227 19.3.3 Vorstellungsrunde durch Doppeln – 228 19.3.4 Sharing – 229 19.3.5 Feedback geben – 230

19.4 Ressourcenarbeit – 231 19.4.1 Einleitung – 231 19.4.2 Soziale Unterstützung – 231 19.4.3 Genussfähigkeit – 232 19.4.4 Stressverschärfende Gedanken reflektieren – 233

19.5 Ausblick – 233 Literatur – 234

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_19

19

226

C. Otto

19.1  Einleitung

19

Seit Mai 2016 leite ich eine PsyRena-Gruppe nach §15 SGB IV, die eine unimodale wohnortnahe Nachsorge nach medizinischer Rehabilitation ist. Die Rahmenbedingungen sind klar vom DRV-Bund vorgegeben. Die Teilnahme ist zeitlich begrenzt auf 25 Gruppenstunden à 90 min sowie zwei Einzelgesprächen à 50 min (Aufnahme- und Abschlussgespräch). Die berufliche Wiedereingliederung und die Umsetzung der Ergebnisse der Leistung zur Teilhabe sollen durch die Teilnahme an der PsyRena-Gruppe unterstützt und gefestigt werden. Eine gute Überblicksliteratur zum Arbeitsfeld PsyRena ist Worringen et  al. (2017). Im Aufnahmegespräch führe ich eine Kurzanamnese durch, kläre mündlich und schriftlich über die Gruppenregeln auf und lege individuelle Ziele mit den Teilnehmern fest. In seltenen Fällen sind die angemeldeten Personen aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur, fehlender Ziele für die Behandlung oder Änderungen in der Lebenssituation nicht geeignet für die PsyRena-Gruppe. In diesem Fall kläre ich über alternative Behandlungsmöglichkeiten, wie ambulante Einzelpsychotherapie, Beratungsstellen, Selbsterfahrungsgruppen, Tagesklinik oder stationäre Psychotherapie auf. Die psychosomatische Nachsorge ist kein Ersatz für eine Richtlinientherapie nach SGB V. Circa 50 % der Teilnehmer*innen sind bereits in ambulanter Einzelpsychotherapie bzw. es besteht eine Indikation für eine begleitende Behandlung. Im Abschlussgespräch überprüfen wir die Zielerreichung der Nachsorge, nehmen uns Zeit fürs Feedback und besprechen weiterführende Behandlungen, falls erforderlich. Seit 2000 arbeite ich im stationären und ambulanten Setting mit therapeutischen und Selbsterfahrungsgruppen. Ich bin Tiefenpsychologin und Psychodrama-Therapeutin. In der hier beschriebenen halboffenen PsyRena-Gruppe beziehe ich mich v. a. auf emergente Prozesse der Gruppenphysiologie

(Strauß und Mattke 2012). Die Ressourcenarbeit, die Förderung sozialer Kompetenzen und die Gruppenkohäsion erfolgt u. a. durch Anwendung handlungsorientierter Methoden aus dem Psychodrama und der Soziometrie sowie der Erarbeitung von Stressbewältigungsmöglichkeiten aus dem Manual von Kaluza (2015). Im folgenden Artikel möchte ich einige Techniken, die ich in der PsyRena-Gruppe anwende, beschreiben. 19.2  Vorstellung der Gruppe und

Zielsetzung

In meiner halboffenen PsyRena-Gruppe sind max. 10 Teilnehmer, im Durchschnitt sind 20 % davon männlich. Diagnosehauptgruppe sind affektive Störungen, gefolgt von somatoformen Störungen und Angststörungen. In selteneren Fällen liegt eine Persönlichkeitsstörung vor. Die Mehrheit ist zwischen 45 und 63 Jahren alt. Die meisten Teilnehmer*innen äußern den Wunsch, an dem Erreichten aus der stationären Rehabilitation anknüpfen zu wollen und Änderungen im Verhalten, der Einstellung und in der Interaktion mit anderen zu stabilisieren. Dabei geht es überwiegend um die Verbesserung der Abgrenzungsfähigkeit und Stressbewältigung sowie um die Förderung der Genuss- und Entspannungsfähigkeit. Hauptziel der PsyRenaGruppe ist die Stabilisierung bzw. die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit. Mir ist es wichtig, v. a. die folgenden Wirkfaktoren der Gruppe (nach Yalom 1985) zu fördern – Selbstöffnung, Feedback, Universalität des Leidens und Kohäsion – sowie Korrektur durch konsensuelle Validierung in der PsyRena-Gruppe wirksam werden zu lassen. Als antwortendes Gegenüber beantworte ich Fragen zur Rehabilitation und zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und informiere über entsprechend kompetente Beratungsmöglichkeiten.

227 Die PsyRena-Gruppe in der Anwendung einer halboffenen Gruppe

19.3  Gruppenkohäsion 19.3.1  Einleitung

Der Begriff „Gruppendynamik“ wurde von J. L. Moreno und K. Lewin geprägt. Gruppen unterliegen Gesetzmäßigkeiten, Entwicklungen und Veränderungen (Strauß und Mattke 2012). Gruppenkohäsion ist laut Yalom (1985) einer der Wirkfaktoren von Gruppen und Voraussetzung für eine effektive Therapie (Strauß und Mattke 2012). Die Gruppenkohäsivität gibt uns laut Yalom Information, in welchem Maß sich die Mitglieder einer Gruppe von der Gruppe insgesamt und von einzelnen Mitgliedern angezogen fühlen (Janssen und Sachs 2018). McCallum et al. (2002) definieren Gruppenkohäsion als Repräsentation der relationalen Bindung der Gruppenmitglieder zueinander, zum Therapeuten sowie zur gesamten Gruppe, und wird als Summe aller Kräfte beschrieben, welche die Gruppe zusammenhalten (Strauß und Mattke 2012). Burlingame et al. (2011) unterscheiden eine auf Struktur bezogene Dimension und eine inhaltliche Dimension der Kohäsion. Erstere wird in eine vertikale und horizontale Kohäsion unterteilt, um die Beziehung der Mitglieder zur Leiterin (vertikal) und die Beziehung zu den anderen Gruppenmitgliedern sowie der Gruppe als Ganzes (horizontal) zu erfassen. Letztere beinhaltet die Zielorientierung sowie Arbeit mit emotionaler Kohäsion. Im Gegensatz zu Gruppen nach der Richtlinientherapie ist die Bildung von Subgruppen, Freundschaften bzw. sozialen Kontakten über die ­PsyRena-Gruppe hinaus erwünscht. 19.3.2  Soziometrische Erfassung

von Gemeinsamkeiten und Unterschieden

Soziometrie ist laut Moreno (1959) „die Wissenschaft der Messung zwischenmenschlicher Beziehungen.“ In der klassischen Soziometrie nach Moreno wurden vor allem

19

die Anziehung und Abstoßung (Sympathie und Antipathie) in einer Gruppe von Menschen, die sich bereits kannten, erfasst (Stadler et al. 2013). Die Ergebnisse wurden zur gezielten Umstrukturierung (zum Beispiel Sitzplätze zwischen Gruppenmitgliedern) genutzt. In der PsyRena-Gruppe erfasse ich Themen, Anliegen bzw. Ziele u. a. soziometrisch. Es entsteht ein Gefühl der Gemeinsamkeit. Neue Teilnehmer fühlen sich bereits nach der ersten Stunde zugehörig, da der Gruppenwirkfaktor Universalität des Leidens durch diese Arbeit offensichtlich wird. Die Soziometrie ist im Sinne der therapeutischen Faktoren supportiv (Strauß und Mattke 2012). Gleichzeitig erleichtert die Soziometrie die Selbstoffenbarung, da jedes Gruppenmitglied sich äußert und Neugier geweckt wird, Gemeinsamkeiten zu finden. Die Analyse der soziometrischen Struktur einer Gruppe und deren Umgestaltung im Prozess bewirkt eine Steigerung der Gruppenkohäsion, verändert soziometrische Positionen der Teilnehmer*innen in sozialen Beziehungen und ermöglicht Begegnung. Im Folgenden beschreibe ich eine Variante, wie ich soziometrische Strukturen in der PsyRena-Gruppe erfasse und dadurch neue Teilnehmer integriere. Sehr gern wird die Aktionssoziometrie (v. Ameln et al. 2004) im Psychodrama angewendet, um erste diagnostische Hinweise zu bekommen und ein Kennenlernen zu ermöglichen. Da mein Gruppenraum zu klein dafür ist, habe ich mir folgende Variante überlegt: In die Mitte des Stuhlkreises lege ich ein langes Seil, welches einen „Innenkreis“ bildet. Ich teile der Gruppe mit, dass sie und ich verschiedene Fragen stellen können, mithilfe derer sie die anderen kennenlernen können, Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdecken werden. Aufgabe ist, dass jeder, der die gestellte Frage bejaht oder für den das Thema zutreffend ist, das Seil anfasst. Es bildet sich somit eine „Seilschaft“ ab, anhand derer sehr schnell deutlich wird,

228

19

C. Otto

welche Teilnehmer*innen Gemeinsamkeiten haben. Die ersten Themen bringe ich als Leiterin ein, um die Hemmschwelle zu senken. Meistens beginne ich mit der Frage: „Wer sind denn die alten Hasen hier in der Gruppe?“, gefolgt von der Frage: „Und wer sind die Neuen?“ Anschließend erfrage ich, welche Teilnehmer aus München sind. Ich bitte dann die Einzelnen, die das Seil in der Hand halten, ihren Namen und ein paar Worte zu ihrer Person, bezogen auf die jeweilige Frage, zu sagen. Die Teilnehmer*innen, die nicht das Seil berühren, kommen anschließend zu Wort. Zum Teil gibt es Bewunderung, welche Fahrstrecke jemand auf sich nimmt, um an der Gruppe teilzunehmen. Häufig frage ich danach, wer aktuell arbeitsfähig ist. Die Einzelnen geben Auskunft über ihre Berufe sowie über den Umfang der Tätigkeit. Eine weitere Frage, die ich einbringe, richtet sich an aktuelle Jahreszeiten und soll als Stimmungsaufheller wirken bzw. Ressourcen einbringen, zum Beispiel: „Wer ist heute schon lustvoll durch den knirschenden Schnee gelaufen?“ oder „Wer würde jetzt lieber ein Eis essen gehen, um sich abzukühlen?“ Danach öffne ich die Runde, und die Teilnehmer können eigene Fragen einbringen. Häufig werden die familiäre Lebenssituation, die Anzahl der Kinder, die Hobbys, aber auch Themen, die man im Verlauf der PsyRena-Gruppe gern ansprechen möchte, erfragt. So entstehen die verschiedensten Abbilder von Gemeinsamkeiten bzw. Unterschieden, und Subgruppen werden deutlich. Zum Beispiel fiel in einer Gruppenkonstellation auf: „Wir Frauen sind alle Singles und die Männer sind verheiratet.“ Ganz bewusst lasse ich Fragen zur Genese wie Herkunftsfamilie, Geschwisterkonstellation, Geburtsort etc. aus. Diese gehören in eine Gruppe, die nach Richtlinientherapie geführt wird oder der Selbsterfahrung dient. Falls Teilnehmer*innen diese Themen einbringen, achte ich darauf, dass der Rahmen und Fokus der PsyRenaGruppe gehalten werden.

19.3.3  Vorstellungsrunde durch

Doppeln

Doppeln ist eine Psychodrama-Technik, die das Selbstempfinden und die eigene Wahrnehmung im Konflikt aktiviert (intrapsychisch verbalisierendes Doppeln) und dadurch emotional stützend ist. Der Therapeut oder ein Gruppenmitglied nimmt beim Doppeln die beim Teilnehmer fixierte kreative Selbststeuerung in seine eigene innere kreative Selbststeuerung auf. Stellvertretend für die Person werden die Wege und Blockaden von dessen Selbststeuerung eruiert (Krüger 2004). Eine Selbstexploration wird angeregt. Beim Doppeln stellt man sich (schräg) hinter den Protagonisten und spricht in der 1. Person, als wäre man der Protagonist. Das Doppeln entspricht der frühkindlichen Rollenentwicklung, wenn das Kind noch nicht von der Umwelt bzw. Mutter getrennt ist (Leutz 1974). Es ist eine Möglichkeit, Abwehr durch Spaltung und Introjektion aufzuheben (Krüger 1997). Die Stimmigkeit des Doppelns wird durch Nachfrage überprüft und Zurückweisungen werden zugelassen. Für Menschen, die in der frühen Entwicklungsphase Traumatisierung erlebt haben, kann das Doppeln als bedrohlich empfunden werden (wie eine symbiotisch-manipulative Mutter) und wird ­ vermutlich abgelehnt. V. Ameln et al. (2004) bezeichnen die Therapeutin beim Doppeln als Hebamme, die dem Protagonisten hilft, zu Erkenntnissen zu kommen. Es gibt verschiedene Arten des Doppelns, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte (vgl. v. Ameln et al. 2004, S. 71 ff.). Stattdessen möchte ich beschreiben, in welcher Form ich das Doppeln in der PsyRena-Gruppe anwende. Ich nutze das Doppeln in Gruppenphasen, wenn neue Teilnehmer dazu kommen, wenn wir eine größere Pause aufgrund von Urlaub bzw. Feiertagen in der Gruppe hatten oder wenn für den Gruppenprozess eine gegenseitige Einfühlung förderlich ist. Wir bilden spontan Zweiergruppen durch Blickkontakt. Dabei sollen sich zwei Personen wählen, die

229 Die PsyRena-Gruppe in der Anwendung einer halboffenen Gruppe

noch nicht so vertraut miteinander sind. Die Paare verteilen sich auf die Räume in der Praxis, um ins Gespräch zu kommen. Nun hat jede Person für ca. 7 min die Möglichkeit, von ihrem aktuellen Befinden zu berichten bzw. was sie in den letzten Wochen bewegt hat und in der Gruppe mitteilen möchte. Die andere Person hört aktiv zu, fühlt sich ein und stellt bei Bedarf kurze Nachfragen. Anschließend wird zwischen beiden gewechselt. Ich gehe zu den einzelnen Paarungen und unterstütze, wenn nötig. Anschließend kommen alle wieder im Stuhlkreis zusammen. Nun bitte ich, dass sich jeweils eine Person hinter den Stuhl der Partnerin stellt und sich in diese einfühlt, sich an das erinnert, was sie beim aktiven Zuhören wahrgenommen und gehört hat. Ich empfehle, die Hände auf die Schultern zu legen (natürlich mit Erlaubnis der sitzenden Partnerin), um durch den Körperkontakt die Atmung zu spüren und die Einfühlung zu verbessern. Aus der ­Ich-Perspektive soll nun das Berichtete mitgeteilt werden. Die Sitzende hört vom Doppel (Partner aus der Zweierübung, der jetzt hinter ihrem Stuhl steht) die Schilderungen ihrer eigenen Situation mit deren Worten. Es geht nicht um Vollständigkeit, sondern wesentliche Stimmungen bzw. Kernpunkte zu benennen. Zunächst empfinden die Teilnehmer*innen dieses Vorgehen als ungewöhnlich und als eine Herausforderung. Bisher konnten sich fast alle darauf einlassen. Das Doppeln wird z. B. als einfühlend und stützend erlebt, weil die Personen in ihren eigenen Gedanken und Gefühlen wahrgenommen und verstanden werden. Häufiger Kommentar ist „Das hätte ich nicht besser sagen können.“ Feine Nuancen oder Erweiterungen werden vom Doppel mitgeteilt. „Du hast den positiven Aspekt benannt, der mir in der ganzen Situation noch nicht aufgefallen war“, oder „Du hast ganz richtig gespürt, dass an der Oberfläche alles gut ist, dass es mich jedoch auch sehr belastet“, sind Rückmeldungen, die folgen. Die Selbstexploration wird durch diese Arbeit

19

angeregt. Teilnehmer, die bisher zurückhaltender in der Gruppe waren, bekommen durch diese Partnerarbeit Zugang zur Gruppe und sind im Anschluss besser integriert. Nachdem das Doppel seine Schilderungen beendet hat, können die anderen Gruppenmitglieder oder ich als Leiterin noch Fragen stellen, die das Doppel improvisierend beantwortet. Im Anschluss kann die sitzende Person, falls erforderlich, Korrekturen bzw. Ergänzungen benennen. Danach ist eine andere Paarung dran, bis wir alle Befindlichkeiten über das Doppeln erfahren haben. 19.3.4  Sharing

Das Sharing (engl. „to share“  = teilhaben an/mit) ist im Psychodrama ein Element der Integrationsphase. Es wurde erstmals in den 50er Jahren als Psychodrama-Technik benannt (Krüger 1997). Subgruppenbildung kann dadurch aufgeweicht werden, und die Teilnehmer*innen werden dazu ermuntert, Gemeinsamkeiten wahrzunehmen. Der therapeutische Faktor der Selbstoffenbarung kommt auch beim Sharing zum Tragen; sowohl bei dem Protagonisten, der seine Situation ausführlich schildert, als auch bei den übrigen Teilnehmer*innen, die sich im Sharing öffnen, ähnliche Gefühle mit dem Protagonisten teilen und diese verbalisieren. In der PsyRena-Gruppe nutze ich Sharing z. B. in folgenden Situationen: a) Eine Gruppensitzung mit neuen Teilnehmern:



Wir beginnen mit einer Vorstellungsrunde, in der die Teilnehmer*innen uns etwas über ihre aktuelle Lebenssituation mitteilen. Dabei bitte ich sie, sich genau zu überlegen, was sie für heute bereit sind, von sich mitzuteilen. Nachdem jedes Gruppenmitglied etwas zur eigenen Person gesagt hat, bitte ich jeden, sich an das Gehörte zu erinnern und die Einzelnen wahrzunehmen. Die Aufgabe ist, dem Gegenüber mitzuteilen, welche

230

C. Otto

Gefühle, Lebenssituation, Gedanken etc. man mit anderen Teilnehmer*innen teilt (Sharing). Ich nehme ein Wollknäuel zur Hand, behalte das Ende in einer Hand und werfe das Knäuel einer Teilnehmerin zu und sage: „Frau X., ich teile mit Ihnen, dass ich mich in der Natur gut vom Alltag erholen kann.“ Dabei wähle ich ein Beispiel aus, bei dem ich mit meinem Sharing keine Verletzlichkeiten meinerseits einbringe und das meine Autorität als Leiterin nicht infrage stellen könnte (v. Ameln et al. 2004). Die Teilnehmerin fängt das Wollknäuel und sucht nun ihrerseits jemanden aus der Gruppe, dem sie ein Sharing mitteilen kann. Den Faden behält Frau X. in der Hand und wirft das Wollknäuel zur nächsten Teilnehmerin und sagt z. B.: „Annette, ich teile mit dir, am Arbeitsplatz gemobbt worden zu sein.“ Die Teilnehmerin, die ich hier Annette nenne, gibt ein Sharing an eine weitere Person. Es entsteht mit der Zeit ein Verbindungsnetz in der Gruppe mit den unterschiedlichsten Verflechtungen. Die Gruppe hört, sieht und spürt durch den Faden die einzelnen Verbindungen untereinander. Gleichzeitig entsteht Begegnung. Die Gruppe erlebt Selbstoffenbarung, Universalität des Leidens und erfährt mögliche Gruppenthemen zur späteren Bearbeitung.

b) Teilnehmerin spricht über ein Thema in der Gruppe:



19

Wie oben bereits beschrieben, fühlen sich viele Teilnehmer exponiert, verunsichert oder haben Schamgefühle, wenn sie ein eigenes Thema in der Gruppe ausführlich ansprechen. Deshalb lade ich die übrigen Teilnehmer*innen anschließend ein, ein Sharing zu geben. Die betroffene Person erfährt, wer ähnliche Erlebnisse, Situationen, Gefühle und Gedanken kennt, und fühlt sich wieder integriert in die Gruppe.

19.3.5  Feedback geben

Beziehungsvielfalt besteht innerhalb von Gruppen, sodass jede Teilnehmerin Hilfesuchende als auch Helfende sein kann (reziproke Funktion in Strauß und Mattke 2012). Das Feedback ist in das interpersonelle Umfeld der Gruppe eingebettet (Strauß und Mattke 2012). Feedback-Botschaften sind am effektivsten, wenn sie an bestimmtem und beobachtbarem Verhalten festgemacht werden (Strauß und Mattke 2012). Regelmäßig nutze ich die Übung „Du bist für mich“ in etwas abgewandelter Form als in Stadler, Spitzer-Prochazka, Kern und Kress (2016) beschrieben. Wenn mehrere Teilnehmer Abschied nehmen oder wenn mir im Prozess eine wertschätzende Mitteilung passend erscheint, leite ich diese Übung an. Auf einem Flipchart notiere ich Beispiele. Die Teilnehmer*innen bekommen ausreichend Karten, um für jede Person ein Feedback aufzuschreiben. Die Aufgabe ist, in einer nichtwertenden Weise nach obigen Beispielen persönlich und positiv zu formulieren. Häufig sind die Gruppenmitglieder im ersten Moment nicht begeistert bzw. glauben nicht, dass sie für jede Person, v. a. wenn sie sich kaum kennen, ein Feedback finden können. Nachdem sich alle Gedanken gemacht haben, bekommt jeweils ein Teilnehmer Feedback von allen und hat die Aufgabe, ruhig zuzuhören. Am Ende hat jeder einen „Strauß“ von Feedback-Botschaften, wie z. B. „Du bist für mich wie eine Muschel: verschlossen und geheimnisvoll“, „Du bist für mich wie ein Buch, das ich gerade erst beginne zu lesen und das mich neugierig macht“, „Du bist für mich wie ein Bach: mitreißend. Manchmal schwillst du auch zu einem Fluss an“ oder „Du bist für mich wie ein warmer Sommerregen: wohltuend und gut.“ Wie in Janssen und Sachs (2018) beschrieben, erhält jeder durch die Feedbacks Informationen und kann selbst entscheiden, ob es zur Veränderungsmotivation führt.

231 Die PsyRena-Gruppe in der Anwendung einer halboffenen Gruppe

Nachdem alle Feedbacks ausgetauscht sind, bitte ich jede Person, ihren „Strauß“ an Feedback still für sich durchzulesen. Anschließend erfrage ich, wie es den Teilnehmer*innen mit dem Feedback geht: „Haben Sie etwas Neues über sich oder die Beziehung zur Feedback-gebenden Person erfahren? Können die Teilnehmer die Feedbacks annehmen?“ Anschließend eruieren wir, wie es den Einzelnen dabei ergangen ist, das Feedback zu formulieren und es dem Gegenüber mitzuteilen. 19.4  Ressourcenarbeit 19.4.1  Einleitung

Gesundheitliche Schutzfaktoren sind durch Aaron Antonovsky in den 70er Jahren mit seinem Konzept der Salutogenese in den Fokus gerückt und heute wesentlicher Inhalt in der Psychotherapie sowie in der psychosomatischen Rehabilitation. In der PsyRena-Gruppe eruieren wir protektive ­ Faktoren, wie soziale Unterstützung, Genussfähigkeiten, stressverschärfende Gedanken und Stressbewältigungsmöglichkeiten, um die Teilnehmer in der Auseinandersetzung mit Belastungen bzw. Beschwerden langfristig zu unterstützen bzw. zu stärken. Die „Baumimagination“ nach Reddemann (2001) leite ich in der PsyRena-Gruppe an, wenn ich eine Stabilisierung der Teilnehmer*innen sowie aktuelle Bedürfnisse eruieren möchte. Die Teilnehmer berichten von positiven Landschaftsbildern, die sie überwiegend aus der Realität als Ressource erleben. Sie können Bedürfnisse nennen, von denen sie sich durch ihren imaginierten Baum „nähren“ lassen. Diese Übung ist auch für die Gruppenkohäsion förderlich, da die Teilnehmer*innen anhand der individuellen Landschaften Gemeinsamkeiten und Vorlieben entdecken und schätzen lernen.

19

19.4.2  Soziale Unterstützung

Für die Salutogenese sind qualitativ positiv erlebte soziale Kontakte förderlich, die wir mithilfe eines sozialen Atoms eruieren. J. L. Moreno benannte das soziale Atom im Rahmen seiner Theorie zu sozialen Netzwerken. Für ihn ist es die kleinste Analyseeinheit der Psychologie und Soziologie (v. Ameln et al. 2004). Es repräsentiert die Gesamtheit der für den Zeitpunkt der Durchführung relevanten Beziehungen, z. B. zu Familienangehörigen, Freunden und Kollegen. Es ist eine Momentaufnahme einer bestimmten Lebensphase bzw. Situation, sodass eine Wiederholung der Technik zu einem späteren Zeitpunkt der Selbsterfahrung bzw. Therapie aufschlussreich ist und Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigt. Das soziale Atom bildet positive Telebeziehungen der Anziehung, negative Beziehungen der Abstoßung als auch neutrale Beziehungen ab (v. Ameln et al. 2004). Beziehungen zu bereits verstorbenen Personen, die weiterhin wichtig sind, können ebenfalls abgebildet werden. Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass Moreno von einer sozialen Regeneration ausgeht (v. Ameln et al. 2004). Das heißt, wenn eine Person das soziale Atom, z. B. durch Tod, Wegzug, Kontaktabbruch, „verlässt“, tritt im Verlauf der Zeit ein anderes Individuum an dessen Stelle und nimmt eine ähnliche Rolle ein. In der PsyRena-Gruppe biete ich den Teilnehmern verschiedene Materialien, wie Papier und Stifte, Knöpfe, Steine, Schleichtiere, Holzfiguren an, um ihr persönliches soziales Atom aufzubauen. Jede arbeitet zunächst für sich. Bezugspunkt ist dabei die Person selbst. Je nachdem, wie nah bzw. intensiv eine Beziehung wahrgenommen wird, zeichnet/ stellt der Teilnehmer die Personen zum Bezugspunkt auf. Es entsteht ein gezeichnetes oder ein soziales Netz mithilfe von Intermediärobjekten (­Kunz-Mehlstaub und Stadler 2018). Wir nehmen uns Zeit und schauen uns

232

C. Otto

jedes soziale Atom gemeinsam an. Ich lade die Gruppenmitglieder ein, wie durch eine Ausstellung zu gehen und die verschiedenen Objekte auf sich wirken zu lassen. Jede stellt ihr soziales Atom vor, und es werden Nachfragen gestellt. Die Arbeit mit dem sozialen Atom ermöglicht es, pathologische Beziehungen aufzudecken, um sich diesen gegenüber in Zukunft abzugrenzen und positiv stärkende Beziehungen zu intensivieren. Deshalb erfrage ich Änderungswünsche im Sinne eines Wunschbildes an das soziale Atom, die der Protagonist als Entlastung erleben würde. Wer mit Intermediärobjekt arbeitet, kann diese Änderungen konkret vornehmen und auf sich wirken lassen. Das ist ein Vorteil gegenüber der Arbeit mit Papier und Stift. In der PsyRena-Gruppe geht es um den Erkenntnisgewinn aus dem sozialen Atom. Wir sehen die Quantität der Bezugspersonen, Nähe und Distanz zur Protagonistin und erfahren etwas über die Qualität der Beziehungen. In einer Selbsterfahrungs- bzw. Therapiegruppe würden wir uns intensiver mit dem Letztgenannten beschäftigen, Rollenwechsel nutzen, um den Erkenntnisgewinn zu erweitern bzw. reziproke Beziehungen der betreffenden Person zu den Bezugspersonen zu eruieren. Das soziale Atom ist in einer Selbsterfahrungsbzw. Therapiegruppe häufig die Erwärmung für eine intensive Auseinandersetzung mit einer Beziehung (aus dem sozialen Atom) oder für ein anderes Thema im Protagonistenspiel. Diese vertiefende Arbeit nutze ich nicht in der PsyRena-Gruppe. Alternativ könnte mit den Teilnehmern ein Ressourcen-Atom (v. Ameln et al. 2004) erstellt werden. Dann würde es darum gehen, vorhandene Ressourcen in Beziehung zur Person zu bringen und mögliche bzw. notwendige Veränderungen zu erarbeiten.

19

19.4.3  Genussfähigkeit

Viele Gruppenteilnehmer*innen kennen Burnout und hohe Arbeitsbelastungen, können sich wenig abgrenzen und haben

Selbstüberforderung erlebt bzw. sind wieder kurz davor. In der Rehabilitationsklinik haben die Teilnehmer den Zugang zu regenerativen Stresskompetenzen erfahren. In der PsyRena-Gruppe wollen wir daran anknüpfen, um einen langfristigen Ausgleich in der ­ Beanspruchungs-Erholungsbilanz (Kaluza 2015) zu erreichen und die Arbeitsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Der im Trainingsmanual zur Stressbewältigung von Kaluza (2015) befindliche Baustein zum Genusstraining erscheint mir hilfreich für die PsyRena-Gruppe. Die Teilnehmer*innen reflektieren ihre persönliche ­Beanspruchungs-Erholungsbilanz. Sie werden einerseits ermutigt, frühere Kontakte und Tätigkeiten wieder aufzunehmen, die sie aufgrund der hohen beruflichen Belastungen vernachlässigt bis beendet hatten. Andererseits werden sie darin unterstützt, neue Bereiche für sich zu finden und diese in den Alltag zu integrieren. Es wird weiterhin geprüft, wer aufgrund von Übertragung des Leistungsgedankens aus der Arbeitswelt auf die Freizeit und/oder hohem Perfektionismus keine tatsächliche Erholung erlebt und stattdessen unter „Freizeitstress“ leidet. Wie Kaluza (2015) im Manual betont, vermittle ich in der Gruppe, dass erholsame Freizeitaktivitäten prozess- und nicht ergebnisorientiert sind. Die Teilnehmer erhalten von mir das Formular „8 Gebote des Genießens“ (Kaluza 2015), das diese in einer Sitzung durchlesen und wir anschließend diskutieren. Viele Teilnehmer*innen finden sich in den Beschreibungen wieder, kommen ins Nachdenken und tauschen sich über Ihre Erfahrungen aus. Inzwischen wird in vielen psychosomatischen Rehabilitationskliniken das von Jon Kabat-Zinn in den 70er Jahren entwickelte Achtsamkeitstraining („mindfulness based stress reduction“) (2013) angeboten, worüber Einzelne an dieser Stelle gern berichten. Viele haben dadurch wieder mehr Genuss im Alltag integrieren können und möchten weiter daran anknüpfen. Wenn in einer Gruppenkonstellation wenig bis keine Erfahrung mit Achtsamkeitstraining

233 Die PsyRena-Gruppe in der Anwendung einer halboffenen Gruppe

besteht, integriere ich eine praktische Achtsamkeitsübung bzw. Genusstraining (u. a. Kaluza 2015). Jeder Teilnehmer füllt die „Liste angenehmer Erlebnisse“ (Kaluza 2015) aus, und wir besprechen die zwei folgenden Fragen „Welche Aktivitäten mögen Sie nicht, aber machen Sie sehr häufig?“ und „Welche Aktivitäten mögen Sie sehr und machen Sie selten?“. In der anschließenden Diskussion entsteht ein deutlicher Erkenntnisgewinn und Wünsche nach Verhaltensänderungen werden formuliert. Diese halten wir in der Gruppe fest und kommen in einer späteren Sitzung mit der Frage zurück, wie die Umsetzung erfolgt ist. Zusätzlich motiviere ich alle, den „Positiven Tagesrückblick“ im Sinne eines Tagebuches auszufüllen und die dadurch erhaltenen Erkenntnisse wieder in die Gruppe einzubringen. 19.4.4  Stressverschärfende

Gedanken reflektieren

Im Stressmodell von Lazarus, R. S. (1999), Lazarus, R. S. und Folkman, S. (1984) ist die primäre und sekundäre Bewertung einer Stresssituation ausschlaggebend, in welchem Ausmaß wir Stress erleben und wie wir uns in der Stresssituation verhalten. In einem weiteren Trainingsmodul von Kaluza (2015), welches ich in der PsyRena-Gruppe nutze, werden stressverschärfende Denkmuster und Einstellungen wahrgenommen und reflektiert, um stressvermindernde und förderliche mentale Prozesse zu erarbeiten. Mithilfe der „Checkliste: stressverschärfende Gedanken“ (Kaluza 2015), die jeder in einer Gruppensitzung ausfüllt, ermitteln wir auf fünf möglichen Skalen ein „Persönliches Stressverstärkerprofil“. Diese fünf von Kaluza (2015) erarbeiteten Stressverstärker sind: „Halte durch!“, „Behalte Kontrolle!“, „Sei unabhängig!“, „Sei beliebt!“ und „Sei perfekt!“. Ich bitte die Teilnehmer*innen, sich in der Gruppe auszutauschen, sodass wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede

19

bzgl. der Stressverstärker feststellen und besprechen. Zum Manual gehören zwei Seiten mit Erläuterungen zu jedem Stressverstärker, die sich die Teilnehmer durchlesen. Anschließend füllen sie ein weiteres Formular aus, um positive und negative Aspekte ihres persönlichen Stressverstärkers zu hinterfragen, einen extremen Gegenpol dazu zu finden und den Stressverstärker in eine förderliche, entlastende Einstellung bzw. Gedanken umzuformulieren. Viele sind erstaunt, wenn sie sich Gedanken zu dem positiven Aspekt ihres Stressverstärkers machen. Sie bekommen Verständnis dafür, warum dieser Gedanke so zentral für sie ist und erkennen z. T. genetische Zusammenhänge (Entstehungsgeschichte des Stressverstärkers). Für die förderlichen Einstellungen gibt es im Manual Vorschläge, die die Gruppenmitglieder nutzen können. Sehr häufig finden sie ganz individuell eigene Formulierungen. Auch diesen Teil des Manuals besprechen wir und erreichen mit dieser Gruppensitzung, dass die Teilnehmer stressauslösende Gedanken im Alltag achtsamer wahrnehmen und stattdessen beginnen die erarbeiteten förderlichen bzw. entlastenden Einstellungen zu nutzen. Kaluza (2015) betont, dass der erste Schritt zur Änderung die Erkenntnis ist, dass es sich um einen Gedanken und nicht um die Realität handelt. Deshalb können die Teilnehmer*innen mit der Zeit Distanz zum Gedanken bekommen und alternativ die förderlichen Gedanken nutzen. Im Verlauf der PsyRena-Gruppe nehmen wir Bezug zu den Erkenntnissen. Die Gruppenmitglieder erinnern sich gegenseitig (oder ich als Leitung) wenn jemand wieder in das stressverstärkende Denkmuster verfällt. 19.5  Ausblick

Ich hoffe, dass ich mit meinem Artikel einen Einblick in meine Arbeitsweise in der PsyRenaGruppe geben konnte und Neugier bzw.

234

C. Otto

Interesse an Gruppenarbeit geweckt habe. Die intensive Konfrontation mit der Selbstund Fremdwahrnehmung in einer Gruppe ermöglichen den Teilnehmern Begegnung, Reflektion, Mentalisierung, Erkenntnisgewinn und Verhaltensänderungen. Bei Interesse am Erlernen des Psychodramas oder Vertiefung von ­ Psychodrama-Techniken wenden Sie sich bitte an eines der AusbildungsInstitute oder an den Dachverband DFP e. V. 7 https://www.psychodrama-deutschland.de/.

Literatur Burlingame, G. M., McClendon, D. T., & Alonso, J. (2011). Cohesion in Group therapy. Psychotherapy, 48(1), 34–42. Janssen, P. L., & Sachs, G. (2018). Psychodynamische Gruppenpsychotherapie – Theorie, Setting und Praxis. Stuttgart: Schattauer. Jon Kabat-Zinn. (2013). Achtsamkeit für Anfänger. Arbor Verlag. Kaluza, G. (2015). Stressbewältigung. Trainingsmanual zur psychologischen Gesundheitsförderung. Heidelberg: Springer. Krüger, R. T. (1997). Kreative Interaktion. Tiefenpsychologische Theorie und Methoden des klassischen Psychodramas. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Krüger, R. T. (2004). Wirkfaktor Kreativität. Theorie und Praxis der zentralen Psychodramatechniken. (Unveröffentlichtes Manuskript) Kunz-Mehlstaub, S., & Stadler, C. (2018). Psychodrama – Therapie. Stuttgart: Kohlhammer.

19

Lazarus, R. S. (1999). Stress and emotion: A new synthesis. New York: Springer. Lazarus, R. S., & Folkman, S. (1984). Stress, appraisal and Coping. New York: Springer. Leutz, G. (1974). Psychodrama: Theorie und Praxis. Berlin: Springer. McCallum, M., Piper, W. E., Ogrodniczuk, J. S., & Joyce, A. S. (2002). Early process and dropping out from short-term therapy for complicated grief. Group Dynamics: Theory, Research and Practice, 6, 243–254. Moreno, J. L. (1959). Gruppenpsychotherapie und Psychodrama. Einleitung in die Theorie und Praxis. Stuttgart: Thieme. Reddemann, L. (2001). Imagination als heilsame Kraft. Stuttgart: Klett-Cotta. Stadler, C. (2013). Soziometrie – Messung, Darstellung, Analyse und Intervention in sozialen Beziehungen. Wiesbaden: Springer Fachmedien. Stadler, C., Spitzer-Prochaska, S., Kern, E., & Kress, B. (2016). Act creative! Effektive Tools für Beratung, Coaching, Psychotherapie und Supervision. Stuttgart: Klett-Cotta. Strauß, B., & Mattke, D. (2012). GruppenpsychotherapieLehrbuch für die Praxis. Berlin: Springer. v. Ameln, F., Gerstmann, R., & Kramer, J. (2004). Psychodrama. Berlin: Springer. Worringen, U., Muschalla, B., Widera, T., & Kobelt, A. (2017). Psy-Rena – Ein neues Arbeitsfeld für Psychotherapeutinnen. P ­sychotherapeuten-Journal, 16(4), 339–345. Yalom, I. D. (1970; 1985: 3rd Hrsg.). The theory and practice of group psychotherapy. New York: Basic Books (Dtsch. Übersetzung 1974: Gruppenpsychotherapie. Grundlagen und Methoden. Ein Handbuch. München, Kindler. 1985: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. München: Pfeiffer).

235

Organisation von Gruppenpsychotherapie Inhaltsverzeichnis Kapitel 20 Organisation und Abrechnung von Gruppen – 237 Brigitte Alt

VIII

237

Organisation und Abrechnung von Gruppen Brigitte Alt

20.1 Das Ersttelefonat – 239 20.2 Das Erstinterview – 239 20.2.1 Indikation von Gruppentherapie – 240 20.2.2 Mögliche Einwände von Patienten gegen Gruppentherapie – 241

20.3 Weitere probatorische Sitzungen – 243 20.3.1 Gruppentherapie kommt nicht infrage – 243 20.3.2 Patient und Therapeut einigen sich auf Gruppentherapie – 243 20.3.3 Erledigung von Formalitäten – 247 20.3.4 Noch einmal: Indikationsüberlegungen – 247 20.3.5 Antragsstellung bei der Krankenkasse – 248

20.4 Die erste Gruppensitzung – 248 20.5 Nach der 7. Gruppensitzung – 248 20.6 Nach 10–12 Sitzungen – 248 20.7 „Stromschnellen“ im Gruppentherapieprozess – 249 20.8 Dokumentation – 250 20.9 Antrag für Langzeittherapie – 250 20.10 Die wichtigsten Änderungen durch die Psychotherapierichtlinie 2017 – 250 20.11 Differenzierte Honorierung nach Gruppengröße – 251 Literatur – 251 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_20

20

238

B. Alt

Hat man sich auf Gruppentherapie spezialisiert, steht und fällt diese mit der unbedingten Priorität von Therapie in Gruppenform, die bereits im ersten Telefonat als Schwerpunkt erwähnt werden sollte. Diese Priorisierung hat mehrere Begründungen und Vorteile: Der enorme Bedarf an Psychotherapie und die flächendeckende Versorgung können besser abgedeckt werden, der Therapieerfolg ist in der Regel gleich gut oder sogar besser als bei Einzeltherapie (siehe auch 7 Abschn. 20.1) und es ist durch die seit Juli 2017 höhere Honorierung auch noch lukrativ, „es rechnet sich“. Dieser Artikel zielt darauf ab, Kollegen dazu zu ermutigen, mehrere Gruppen pro Woche anzubieten.

Ein bis zwei Gruppen pro Tag können bei optimaler Organisation durchaus ins Leben gerufen werden. Ich selbst habe elf Gruppen wöchentlich mit neun Patienten je Gruppe, insgesamt also 99 Gruppen-Patienten. Jeden Abend außer freitags habe ich zwei Gruppen, an zwei Tagen jeweils morgens eine Gruppe und eine am Nachmittag. Damit bleibt am Tag genügend Zeit für Schreibarbeit, vor allem für Antragsberichte und die übrigen Büroarbeiten. Die folgenden Ausführungen werden belegen, dass und wie ein solcher Umfang an Gruppen möglich und durchführbar ist. Die hier beschriebene verfahrensmäßige Ausrichtung ist tiefenpsychologisch-analytisch. Da strukturelle Störungen sehr weit verbreitet sind, arbeite ich modifiziert analytisch mit starker Berücksichtigung der strukturorientierten Psychotherapie, z. B. nach Gerd Rudolph (2013). Ich selbst arbeite im Rahmen von Intervision hauptsächlich mit Kollegen zusammen, die früher im Rahmen stationärer Therapie tätig waren und jetzt niedergelassen sind. Deshalb spreche ich im Folgenden von „psychodynamischer Therapie“. > Wenn man sich entschlossen hat,

20

mehrere Gruppen im ambulanten vertragsärztlichen System anzubieten, ist sorgsam durchdachte und effiziente Organisation ein wichtiges Instrument bei der Planung einer Gruppe.

Und es geht nicht ohne Transparenz und Werbung für die eigene Arbeit. Werbung beginnt immer und funktioniert nur mit der eigenen Überzeugtheit und entsprechenden Begeisterung für Gruppen! Für Psychotherapeuten einschließlich Gruppenanalytiker stellt Öffentlichkeitsarbeit oft eine Schwierigkeit dar. Viele Gruppenanalytiker, so wird es bei Liesel Hearst und Harold Behr beschrieben, arbeiteten in ihrer Therapeutenrolle exzellent, hätten aber Schwierigkeiten, in einem weiteren Netzwerk für sich Werbung zu machen: „Diese Fähigkeit wurde früher für unbescheiden gehalten und von Psychotherapeuten als unvereinbar mit ihrem beruflichen Status, bestenfalls eine unnötige Tätigkeit, schlechtestenfalls ein Trick, der nach Scharlatanerie aussah. Heute ist es eher ein Indikator guter Praxis, da es das Profil des Berufsstandes verbessert und zu einer Transparenz beiträgt, die nun durch die Öffentlichkeit von einer Profession gefordert wird, die einst geheimnisumwoben im Dunkeln lag.“ (Hearst und Behr 2009, S. 252) Im Folgenden wird der Organisationsverlauf beschrieben, der mit inhaltlichen Aspekten angereichert ist, sonst wäre die Darstellung dürr und blutleer. Meine Ausführungen in diesem Kapitel zum Thema Organisation und Abrechnung beginnen mit dem ersten Telefonat und enden mit der Entscheidung für einen eventuell erforderlichen Erst- oder Umwandlungsantrag. Um den Anforderungen umfassend gerecht zu werden, die eine Organisation von Gruppen stellt, werden die einzelnen Phasen unterschiedlich ausführlich beschrieben. Ich lege Wert z. B. auf Regeln und Rahmen sowie die Art und Weise, wie diese dem Patienten erklärt werden, ebenso auf die Frage der Indikation. Die Aspekte, die in 7 Abschn. 20.2 vorgestellt werden, spielen in allen vier probatorischen Sitzungen eine Rolle, wenn sie denn ausgeschöpft werden. Der besseren Lesbarkeit wegen ist von mir das generische Maskulinum gewählt: Also: „der Patient“ und nicht „der Patient/die Patientin“.

239 Organisation und Abrechnung von Gruppen

20.1  Das Ersttelefonat

Die Suche nach einem geeigneten Therapieplatz wird von vielen Patienten als sehr belastend empfunden. Häufig werden sie von ihren Hausärzten schon vorgewarnt: „Es wird schwer, etwas zu finden.“ Diese Mitteilung und die daraus resultierende ängstliche Erwartung bestimmen mehr oder weniger im ersten Telefonat von Anfang an das Klima. Nachdem die Frage nach einem Termin an mich gerichtet worden ist, frage ich den Anrufer zunächst, warum er behandelt werden möchte. Entsprechende Fragen könnten folgendermaßen lauten: „Was denken Sie, warum Ihr Hausarzt Ihnen empfohlen hat, eine psychotherapeutische Praxis aufzusuchen?“ (bei Empfehlung durch den Hausarzt). Oder schlicht: „Worum geht es bei Ihnen?“ Leitidee dabei ist, einen ersten diagnostischen Eindruck vom Patienten zu bekommen. Was ist das für ein Mensch am anderen Ende der Leitung? Manche lesen Diagnosen vor, die auf der Überweisung des Hausarztes stehen, andere schildern kurz ängstlich geprägte oder depressive Symptome, wieder andere erzählen gleich Narrative, die man mitunter unterbrechen muss, um zum weiteren Punkt zu kommen. Da bei mir der Schwerpunkt der Praxis auf Gruppentherapie liegt, benenne ich dies an der Stelle und begründe das kurz: Es bestünden mit diesem Verfahren sehr positive Behandlungserfahrungen, es sei inzwischen gut belegt, dass Gruppenpsychotherapien für fast alle Krankheitsbilder im Vergleich zu Einzeltherapien gleich gute oder sogar bessere Ergebnisse zeigen (Barkowski et al. 2016; Burlingame et al. 2013; Strauß 2016). „Könnten Sie sich dies u. U. für sich vorstellen?“ Es gibt Patienten, die gleich Ja sagen, andere wissen nichts darüber, wieder andere äußern sich abwartend bis ablehnend, eine vierte Gruppe sucht gezielt nach einer Gruppentherapie, weil die Hausärzte bereits viele Patienten gesehen haben, die gut von Gruppentherapie profitieren konnten. Die erste Gruppe hat meistens einen stationären oder teilstationären Klinikaufenthalt

20

hinter sich und bereits positive Erfahrungen mit Gruppentherapie sammeln können. Denjenigen, die sich nichts darunter vorstellen können, könnte die Frage gestellt werden, ob es für sie denkbar ist, sich in einem Erstgespräch näher darüber zu informieren. An der Stelle erwähne ich, dass im Erstgespräch zunächst zu betrachten ist, wo der Patient zum augenblicklichen Zeitpunkt seines Lebens steht, wir sodann verstehen wollen, wie es dazu gekommen ist, und dann, was getan werden könnte, dass es ihm bald wieder besser geht. Wenn Gruppentherapie grundsätzlich infrage kommt, sollten sich sowohl der Patient als auch der Therapeut das vorstellen können. Wenn nicht, käme ein anderes Verfahren infrage, das dann im Erstgespräch herausgefunden werden sollte. Für diesen Fall müsste der Patient weitere Erstgespräche bei anderen geeigneten Kollegen aufsuchen. Eine solche Erklärung beugt Erwartungen vor, mit einem Termin für ein Erstinterview automatisch einen Therapieplatz gefunden zu haben. Sollte sich nämlich bereits im Erstinterview herausstellen, dass für den Patienten Gruppentherapie nicht die richtige Indikation ist, er von mir nicht behandelt werden kann und ich ihn auf die Listen verweise, durch die er sich weiter „durchtelefonieren“ muss, setzt die genannte Erklärung, an die man ihn dann erinnern kann, seiner Enttäuschung eine realistische Grenze. 20.2  Das Erstinterview

Nach Notierung der Personalien (Name, Adresse, Geburtsdatum, Krankenkasse, Festnetz- und Mobilnummer) sollte im ersten Telefonat noch darum gebeten werden, den Termin so bald als möglich abzusagen, wenn etwas dazwischenkommt. Umgekehrt könnte beim Therapeuten auch einmal etwas sein, was eine Verschiebung des Termins erforderlich macht. Weiter bitte ich den Patienten, seine Versichertenkarte mitzubringen und den Patienten-Parkplatz vor dem Haus zu benutzen.

240

20

B. Alt

Das Öffnen der Tür ist ein spannender Moment: Stimmen das Äußere des Patienten und szenische Aspekte mit dem Bild überein, das während des Telefonats in mir entstanden ist? Wir begrüßen uns, ich bitte ihn, Platz zu nehmen, lese die Versichertenkarte ein und lasse das Datenschutzformular ausfüllen. Dann ergänze ich die Personalien (Beruf, Familienstand, Hausarzt). Im Anschluss frage ich nach seinem Leidensdruck. „Was steht im Mittelpunkt Ihrer Beschwerden?“ Die ersten Sätze des Patienten, mit denen er seine Symptome schildert, schreibe ich, so gut es geht, wörtlich mit, weil sie viel über sein Krankheitsverständnis aussagen. Die sprachlichen Bilder, die Patienten für ihre Erschöpfungszustände finden, sagen meistens sehr viel aus über zentrale Aspekte ihres eigenen Bildes von sich selbst. Zum Beispiel ist eine häufige Metapher „der Akku ist leer“, doch wenn die Patienten schildern, sich „wie ein einsamer Wolf“ zu fühlen, verweist das schon sehr auf ein „Gesicht“ ihrer Depression, nämlich den sozialen Rückzug. Für die Erhebung der ersten Diagnostik benötige ich meistens zwei Drittel des Erstinterviews. Dann erinnere ich an die Begrenztheit der Zeit und lade ein, kurz über das für den Patienten geeignete psychotherapeutische Verfahren zu sprechen, ausführlicher könne dies in weiteren Terminen besprochen werden. Es kommt oft genauso häufig vor, dass Patienten sich eine Gruppentherapie vorstellen können, ich aber nicht für sie sowie umgekehrt. Im ersteren Fall deswegen, weil sie auf Probedeutungen nicht eingehen könnten, zu sehr zum Agieren neigen, ich mir nicht vorstellen könnte, dass sie einer Gruppe zuhören können bzw. es zulassen können, dass eine Gruppe ihnen zuhört, oder weil mir ihre Lebensumstände nicht gefestigt genug erscheinen (vgl. 7 Abschn. 20.3.1.). Es hat sich als sicherer Prädiktor erwiesen, wenn im Verlauf der probatorischen Sitzungen mit dem Patienten besprochen wird, welche Konflikte für ihn wahrscheinlich in der Gruppe auftreten werden. Neigt er zum Beispiel zur Weitschweifigkeit und Redundanz, sollte ihm

erklärt werden, dass er manchmal dazu neigt, über seine Gefühle hinwegzureden statt sie wahrzunehmen, und die Gruppe dies sicherlich vielfältig spiegeln wird. Im Folgenden werden erste wesentliche Aspekte der Indikation und häufige kritische Fragen von Patienten geschildert. Diese spielen auch in den weiteren probatorischen Sitzungen eine wichtige Rolle. 20.2.1  Indikation von

Gruppentherapie

Über diese Frage ist viel geschrieben worden. Die wichtigsten Quellen, in denen dieser Frage nachgegangen werden kann, ist das Lehrbuch von Strauß und Mattke (2018), die Ausführungen von Hearst und Behr (2009) und das Lehrbuch von Irvin Yalom (2015). Mattke und Strauß nennen zehn Kriterien für die Eignung zu Gruppentherapie. Die ersten fünf werden hier kurz genannt: Geeignete Kandidaten für eine Gruppentherapie haben 1) Probleme in den Beziehungen zu Eltern, Freunden und/oder Partnerin, haben 2) eine Vorstellung davon, dass die momentanen Beziehungen durch die Dynamik der Ursprungsfamilie beeinflusst sind, können 3) ihre Gefühle in gewissem Maß ansprechen und haben bereits Einsichten bzw. Vorerfahrungen mit Behandlungen, scheinen 4) wenigstens eine gesunde Beziehung zu haben sowie eine basale Kommunikationsfähigkeit ohne interferierende psychotische Symptome und können 5) durchaus in einer schweren Krise sein oder Suizidgedanken haben, sollten aber in der Lage sein, mit anderen in Kontakt zu treten, ihre Gefühle zu besprechen und bereit sein, mit der Gruppe und dem Leiter einen Vertrag zu schließen. Yalom betont, dass die meisten Kliniker die Patienten für eine Gruppentherapie nicht auswählen, sondern ihre Auswahl treffen durch den Ausschluss ungeeigneter Kandidaten. Patienten eigneten sich für eine heterogene ambulante Therapiegruppe schlecht, wenn sie hirnverletzt, paranoid, hypochondrisch, drogen- oder alkoholsüchtig, akut psychotisch

241 Organisation und Abrechnung von Gruppen

oder soziopathisch sind: Für diese eignen sich eher homogene spezifische Gruppen. Nach Yalom seien „alle trockenen Listen von geringem Wert“ und es gelte der Leitsatz: „Klienten scheitern in einer Gruppentherapie, wenn sie nicht in der Lage sind, sich an der primären Aufgabe zu beteiligen, ganz gleich, ob sie aus logistischen, intellektuellen, psychologischen oder interpersonellen Gründen nicht können.“ (Yalom 2015, S. 266) Ein sehr strukturiertes und übersichtliches Erklärungsmodell findet man bei Liesel Hearst, einer der Pionierinnen der Gruppentherapie nach Foulkes’schem Ansatz. Es werden 1) Patienten-, 2) Gruppen- und 3) Therapeutenaspekte beschrieben (Hearst und Behr 2009). Zu 1) Hearst verweist auf Yalom, der „Fähigkeit zur aktiven Teilnahme, Neugier am anderen, Wunsch nach positiven Beziehungserfahrungen, Sensibilität für andere, Fähigkeit zur Selbstdarstellung und Selbsterforschung“ postuliert. Zu 2), zum Kriterium „Gruppe“, wird ein Aspekt sehr hervorgehoben: dass die „Gruppenfähigkeit“ des einzelnen Patienten nicht isoliert von der real infrage kommenden Gruppe zu beurteilen ist. Zusammensetzung und Zeitpunkt des Eintritts spielen eine wichtige Rolle. Beim 3. Kriterium „Therapeut“ steht im Mittelpunkt der Überlegungen, ob der Therapeut den Patienten grundsätzlich akzeptiert, ob es positive Beziehungsmomente mit ihm gibt. Wichtig ist jedoch auch eine sorgfältige Analyse im Hinblick darauf, warum ihm dieser Patient gerade nicht „liegt“ und welche Ängste und Abwehrhaltungen er in ihm auslöst. Ich widme diesem wichtigen Thema „Indikation“ noch ein weiteres Kapitel. 20.2.2  Mögliche Einwände

von Patienten gegen Gruppentherapie

a) „Ich würde bestimmt Probleme anderer mit nach Hause nehmen.“ Einwände, die die Patienten vorbringen, wie z. B. dass sie dazu neigen, „die

20

Probleme anderer mit nach Hause zu nehmen“, bringe ich mit ihrem Störungsbild in Verbindung. „Genau deswegen ist Gruppentherapie geeignet, weil es Ihnen schwerfällt, Ihre eigenen Schwierigkeiten als bedeutsam zu erkennen, wenn es anderen auch schlechtgeht. Sie werden Ihre Wahrnehmung von sich selbst und die Wahrnehmung Ihrer Mitpatienten unterscheiden lernen und gleichwertig nebeneinander stehen lassen.“ Ich verweise auch auf die immer wieder geäußerte Erfahrung von Patienten, wie tröstlich es sei, „dass es anderen genauso geht.“ Diese Universalität des Leidens wird allerdings nur erfahrbar, wenn man „unter“ die Störungsbilder blickt. Man könnte sagen, hier, an dieser Stelle, seien alle Menschen sehr ähnlich, die Symptome seien unterschiedlich, doch die zugrunde liegenden Strukturen ähnelten sich – Beziehungserfahrungen, die uns verletzt haben, Zumutbarkeits- und Belastungsgrenzen, die wir nicht wahrhaben wollen („Nein-Sagen“), Gefühle und Bedürfnisse, die nicht ausgedrückt werden, unser Selbstwertgefühl, das uns nicht ausreichend erscheint usw. b) „Ich könnte zu kurz kommen und in der Gruppe untergehen.“ Eine solche Befürchtung wird häufig von Patienten geäußert, die in einer großen Familie aufgewachsen sind und früh Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister übernehmen mussten. Dieser lebensgeschichtliche Zusammenhang, der sich in der Gruppe wiederholen könnte, sollte vom Therapeuten kurz skizziert und dann in einfachen Worten herausgearbeitet werden, dass sich diese Konstellation eben nicht dauerhaft wiederholt, wenn man sie als Therapeut bzw. die (bereits reifere) Gruppe sorgfältig im Fokus behält bzw. sie im Fall von Wiederholung ergiebig besprechen kann. Ein schönes Bild, das dies verdeutlicht, schilderte Meinhard Korte, Theoriereferent der Institution

242

20

B. Alt

GRAS, in der ich meine Weiterbildung zur Gruppentherapeutin gemacht habe. Seine „Kuchenstück-Theorie“ besagt, es sei die Fantasie von Patienten, dass man in der Einzeltherapie den ganzen Kuchen bekommt und in der Gruppe nur ein Neuntel. Das trifft natürlich so nicht zu! Einem solcherart besorgten Patienten sollten in einfachen Worten die Synergieeffekte erklärt werden, durch die sich die Gruppenwirkungen multiplizieren. c) „Eventuell könnte ich jemanden kennen.“ Andere Bedenken beziehen sich darauf, in der Gruppe Freunde und Bekannte zu treffen. An der Stelle könnte erwähnt werden, dass der Therapeut aus Schweigepflichtgründen natürlich nicht fragen könne, ob der Patient den oder jenen aus der Gruppe, die er für ihn als geeignet halte, kennt. Wenn der Patient zum ersten Mal in die Gruppe kommt und feststellt, dass er einen Teilnehmer tangential, d. h. vom Sehen kennt, könnte ihm der Therapeut versichern, dass das nicht schlimm sei. Auch eine Großstadt könne wie ein Dorf sein. Doch treffe er jemanden an, mit dem er in einem bestimmten hierarchischen oder freundschaftlichen Zusammenhang sei, also seinen Chef, seinen Vermieter, seinen Finanzberater, jemanden aus dem Kirchenchor, seiner Clique etc., sei die Gruppe kontraindiziert. Für diesen Fall versichere ich ihm, für ihn so rasch wie möglich einen Platz in einer anderen Gruppe zu finden. Grundsätzlich, so füge ich hinzu, sei zwar das Risiko, dass der Patient nach einigen Minuten in der neuen Gruppe diese wieder verlassen müsse, gegeben, dies sei jedoch ein normales, d. h. ein nicht vermeidbares, das man kompetent handhaben müsse. d) „Es könnte etwas weitererzählt werden.“ Wenn diese Befürchtung geäußert wird, ist auf den Rahmen und die Regeln zu verweisen, ohne die die Leitungsfunktion nicht ausgeübt werden kann. An der obersten Stelle stünde die Schweigepflicht,

auch über das spätere Ende der Therapie hinaus. Gegen diese verstoße auch niemand, habe doch jeder ein tiefes Interesse an Verschwiegenheit. Immer gelte: „Offenheit nach innen, Verschwiegenheit nach außen.“ Bei der Gelegenheit sollte auch die zweitwichtigste Regel der Anwesenheit in Verbindung mit dem Ausfallshonorar erwähnt werden. Diesem wird wegen der therapeutischen Wichtigkeit ein eigenes Kapitel gewidmet. Auch dafür gibt es einen Merksatz, der bei passender Gelegenheit öfters wiederholt werden sollte: „Jeder ist für jeden wichtig – nur wenn Sie lernen, dass Therapie vorgeht, lernen Sie, dass Ihr Leben vorgeht.“ e) „Ich habe Schichtarbeit.“ Dies ist ein durchaus kniffeliger Punkt, weil es für den Patienten kritisch sein kann, wegen der Gefahr von Stigmatisierung und beruflicher Ausgrenzung den Grund für sein Fernbleiben von der Arbeit zu nennen. Der Patient sollte jedoch dazu ermutigt werden, dem Vorgesetzten gegenüber zu vertreten, dass – und nicht warum – man einmal pro Woche am Abend im Zeitraum von zwei bis zweieinhalb Stunden wegen eines wichtigen Termins nicht zur Verfügung stehen kann. Vier Tage in der Woche ginge das, und es könnte ja möglich sein, nachzuarbeiten oder die Schicht zu tauschen. Manchen Patienten fällt es schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, den Grund für das Fernbleiben an eben diesem Abend nicht zu nennen, doch die Erfahrung zeigt, dass es eine erste gute Übung für die konflikthafte Selbstbehauptung ist. Je beherzter es vorgetragen wird und je mehr Wertschätzung für die eigene Arbeitsleistung ausgedrückt wird, umso glaubhafter kommt der Patient „rüber“. Selbstverständlich gibt es Fälle, in denen vom Arbeitgeber dennoch eine rigide Einhaltung der Zweischichtsystem- oder Dreischicht-Arbeit gefordert wird, und

243 Organisation und Abrechnung von Gruppen



demzufolge der Patient nicht an einer Gruppentherapie teilnehmen kann. Am Ende des Erstgesprächs frage ich den Patienten, „Wenn Sie das alles noch einmal Revue passieren lassen, worüber wir heute gesprochen haben, wie stehen Sie jetzt gleich auf? Wie fühlt es sich an, was Sie mir von sich erzählt haben und was ich Ihnen gesagt habe?“

20.3  Weitere probatorische

Sitzungen

Die unter 7 Abschn. 20.2. genannten Bedenken und Einwände spielen in allen probatorischen Sitzungen eine Rolle. Formaler Aspekt: Ich biete meistens ein Sprechstundengespräch (das Erstinterview) und zwei weitere probatorische Sitzungen an. Ab dem 01.04.2018 müssen bei der Beantragung einer Kurzzeittherapie (KZT) eine Sprechstunde und eine probatorische Sitzung stattgefunden haben, eine weitere Probatorik muss bei Beantragung bereits terminiert worden sein. Inhaltlicher Aspekt: In der zweiten Sitzung frage ich als Erstes, was von dem, worüber im Erstgespräch gesprochen worden ist, nachklingt. „Was dachten Sie nach dem letzten Mal noch,… was ging Ihnen durch den Kopf, … wie ging es Ihnen damit, … mit welcher Stimmungslage haben Sie sich heute auf den Weg hierher gemacht? …“ Ein wenig Redundanz im therapeutischen Fragen finde ich an der Stelle hilfreich. 20.3.1  Gruppentherapie kommt

nicht infrage

Gibt der Patient eine für Gruppentherapie negative Replik oder hat der Therapeut den diagnostischen Eindruck, dass der Patient für eine Gruppe nicht infrage kommt, sollte geprüft werden, ob therapeutische Einzelgespräche die bessere Option sind oder evtl.

20

ein stationärer oder teilstationärer Aufenthalt. Läuft es auf eine Einzeltherapie hinaus, verweise ich auf die Telefonlisten von Krankenkassen, Hausärzten und die Terminservicestelle der Krankenversicherung. Habe ich den Eindruck, dass der Patient aufgrund seines Persönlichkeitsbildes (tendenziell „unsympathisch“, weil zu laut, zu wortkarg, in unangenehmer Weise anspruchsvoll, Tendenz zum Agieren etc.) nicht so einfach einen Therapieplatz finden dürfte, verweise ich ihn an eine Beratungsstelle, bei der ich seit zehn Jahren im Vorstand mitarbeite. Ich erwähne, dass man nach einem kostenlosen Vorgespräch von 30 min innerhalb von ein bis zwei Wochen einen ersten Termin, auch zu berufsfreundlichen Zeiten, erhält, die Beratungsstelle jedoch nicht ans vertragsärztliche System angeschlossen ist, d. h. man müsse einen Beitrag aus eigener Tasche bezahlen; momentan seien das 45 € pro Stunde. Meine Erfahrung hat gezeigt, dass von Therapieplatzsuchenden Sitzungen dort gerne übergangsweise in Anspruch genommen werden, bis sie einen Vertragstherapieplatz gefunden haben. Ich ermutige dazu, sich dort während der Wartezeit auf einen Vertragstherapieplatz wenigstens zweimal im Monat einen Termin zu holen, dann seien es unter 100 € monatlich, die aufzubringen sind. ALG-II-Berechtigte erhalten nach Vorlage eines Berechtigungsscheins vom Jobcenter kostenfrei 19 Sitzungen. Patienten, die den Eindruck vermitteln, sie seien vom Intellekt her einer Psychotherapie nicht gewachsen, gebe ich die Empfehlung für Ergotherapie. Die Empfehlungen werden auf Formblatt PTV 11 dokumentiert. 20.3.2  Patient und Therapeut

einigen sich auf Gruppentherapie

Können sich sowohl der Patient für sich als auch der Therapeut für ihn die Teilnahme an einer Gruppe vorstellen, sollte gemeinsam

244

20

B. Alt

darüber nachgedacht werden, welchen Beitrag die Teilnahme an einer Gruppe für die Besserung seiner Symptome leisten kann. An dieser Stelle erzähle ich dem Patienten ausführlich darüber, wie ich den therapeutischen Nutzen einer Gruppe sehe und welche Behandlungerfahrungen ich in den dreizehn Jahren meiner Gruppentherapie-Erfahrung gemacht habe. Ich gebe in dieser Sitzung mein Infoblatt heraus: Was ist eine tiefenpsychologisch fundierte Gruppentherapie (Probebehandlung)? Hier wird über „Basics“ der ersten 2-mal 12 Sitzungen informiert (das Infoblatt ist als Download-PDF verfügbar; siehe Anmerkung am Schluss). Als zentral sehe ich die Ausführungen darüber, warum Therapie in einer Gruppe einen solch hohen Wert hat. In der gleichen Sitzung informiere ich auch über „Regeln und Rahmen“ und gebe das entsprechende Infoblatt heraus (s. o.). Aufgrund meiner alleinigen therapeutischen Verantwortung und der Tatsache, dass ich als im vertragsärztlichen System Niedergelassene keine Klinik hinter mir habe, die meine Arbeit trägt, sind feste Regeln und ein stabiler Rahmen bedeutsam und unentbehrlich. Weiterhin gebe ich dem Patienten den Anamnesefragebogen (s. Anm.) und füge an, dass dieser nach vier Wochen zurückzugeben ist. Die Erhebung der Lebensgeschichte wird selbstverständlich auch unabhängig vom Fragebogen durchgeführt. Der Fragebogen sollte nach der Rückgabe noch einmal mit dem Patienten durchgegangen werden. Zum Thema „Einzelsitzungen“ teile ich Folgendes mit: Wenn der Patient den sicheren Eindruck hat, dass er ein Thema nicht in der Gruppe ansprechen kann, ist eine Einzelsitzung ausnahmsweise möglich. Von den Richtlinien her kann auf zehn Gruppensitzungen eine Einzelsitzung kommen. Das Thema der Einzelsitzung sollte jedoch in der darauffolgenden Gruppensitzung wieder in die Gruppe gebracht werden, wie ausführlich, entscheidet der Patient. Der Grund für das Zurückbringen in die Gruppe ist, dass die Gruppe nicht das Gefühl bekommen darf, ihr

werde Kraft entzogen. Damit habe ich sehr gute Erfahrungen gemacht. Seit der Psychotherapie-Reform sind Kombinationstherapien möglich, die ich nicht anbiete, weil ich den Eindruck habe, dass sich in den Einzelstunden schambesetzte Themen sammeln. Erweist sich ein Patient für den Gruppenprozess als nicht stabil genug, denken wir über einen Klinikaufenthalt in einer psychosomatischen Klinik nach. Es empfiehlt sich die Zusammenarbeit mit einer Klinik des eigenen Vertrauens. Patienten, die sich schon länger in der Krankschreibung befinden, werden von ihrer Krankenkasse i. d. R. dazu aufgefordert, über den Rentenversicherungsträger eine Reha zu beantragen. Hier empfehle ich mit Nachdruck, nach § 9 SGB von dem Wunsch- und Wahlrecht Gebrauch zu machen und beim Rentenversicherungsträger eine Klinik zu beantragen, die psychodynamisch arbeitet. Verschiedene Materialien und Vordrucke habe ich auf meiner Website zum Download bereit gestellt. Der dort vorgestellte Vertrag zu Regeln in der ambulanten Gruppentherapie (s. Anm.) wird wie folgt kommentiert: a) Ausfalls- oder Bereitstellungshonorar Der Information über das Ausfallhonorar sollte die Mitteilung darüber vorangestellt werden, wie wesentlich, zentral und unabdingbar die regelmäßige Anwesenheit ist. Nur bei möglichst lückenloser Anwesenheit können sich Therapieergebnisse entwickeln. „Jeder ist für jeden wichtig“ sowie: „Therapie geht vor. Nur wenn Sie lernen, dass Therapie vorgeht, lernen Sie, dass Ihr Leben vorgeht.“ Dies schließt ein, dass nicht nur mit außertherapeutischem Material gearbeitet wird, sondern mit den NichtÜbereinstimmungen und Konflikten, die sich in den Gruppenbeziehungen ergeben. „Stellen Sie sich vor, Sie freuen sich, in einer Sitzung mithilfe der Gruppe und mir einen Konflikt zu lösen, der schon längere Zeit zwischen einem Gruppenmitglied und Ihnen schwelt, und

245 Organisation und Abrechnung von Gruppen

dann ist derjenige nicht da?! Dann sind Sie wahrscheinlich enttäuscht. Wenn einmal neun, einmal nur fünf und einmal sieben Leute da sind, kann man unmöglich kontinuierlich und verlässlich therapeutisch arbeiten.“ Das Nichterscheinen passiere leicht, wenn Patienten in Therapiephasen kommen, die in unangenehme Bereiche gehen, wo es u. U. auch mal wehtut. Früher oder später müsste jeder seine vertrauten Komfortzonen verlassen, sonst bringe die Therapie keinen Fortschritt. Dabei „kneife“ man mitunter, dies selten bewusst, jedoch unbewusst sei man „feige“ und nehme eine Befindlichkeitsstörung oder ein anderes Ereignis gerne zum Anlass, nicht in der Gruppe zu erscheinen. Wenn es allerdings Geld kostet, überlegt man sich das, und es ist ein Ansporn, zu kommen. Um Diskussionen zu vermeiden, was ein Grund ist, nicht zur Gruppe zu kommen, und was nicht, fällt bei allem – Krankheit (ohne und mit „gelbem Schein“), Urlaub, witterungs- und verkehrsbedingten Hindernissen, Arbeitsterminen, Elternabenden in Kita und Schule, familiären Ereignissen wie runde Geburtstage, Hochzeiten und Beerdigungen usw. ein Ausfallshonorar von 30,00 Euro an. Die rechtliche Grundlage ist § 615 Abs. 1 BGB. Die einzige Ausnahme sind stationäre (Krankenhaus, Rehabilitation) und teilstationäre Aufenthalte. Diese Regel wird von meinen Intervisionskollegen unterschiedlich angewandt. Ein Kollege berechnet grundsätzlich jedem 20 €, egal welches Einkommen und welche sozialmedizinische Situation. Eine andere Kollegin berechnet genau 32,60 €, dies ist der Betrag, der bei Abstaffelung der Honorare je nach Teilnehmerzahl dem Therapeuten für jeden vakanten Platz verlorengeht. Ich habe mich dazu entschieden, 30 € in Rechnung zu stellen. Für Patienten, die sich im Krankengeld befinden oder für diejenigen, die arbeitslos sind, halbiert sich dieser Betrag auf

20

15 €. Für Studenten, Schüler und Azubis reduziert er sich noch einmal um die Hälfte, also auf 7,50 €. Diese soziale Abstaffelung bewährt sich, gerade in einer strukturell eher schwachen Gegend. Es sollte betont werden, dass das Ausfallshonorar nicht diskutierbar ist. „Diese Regel müssen Sie nicht gut finden, aber akzeptieren. Regeln sind Regeln, und insofern nicht verhandelbar.“ Um die geäußerte oder nicht geäußerte Befürchtung von Patienten, die Kosten könnten aus dem Ruder laufen, abzufedern, erzähle ich, ich hätte einmal eine kleine Statistik erstellt, wie oft unvermeidbare Ausfälle vorkämen. Ich sei auf 2- bis 3-mal im Jahr gekommen. „Das sind 90 €, auf den Monat umgerechnet nicht mal 8 €.“ Das Ausfallshonorar wird nach der Sitzung, die der vakanten Sitzung folgt, via E-Mail in Rechnung gestellt und muss innerhalb von 14 Tagen überwiesen werden. Die Rechnungsstellung erledige ich nach Eingabe der Daten. Barzahlung wird nicht empfohlen, da es bei einer Steuerprüfung zu Schwierigkeiten kommen könnte. Die Barkasse unterliegt steuerlich strengen Bestimmungen. Das Risiko, dass höhere Einnahmen geschätzt werden, ist nach Ansicht meines Steuerberaters zu groß. Wichtig in diesem Rahmen ist auch die Regel „Bezahlen entbindet nicht von Klärung“. Sollte eine Sitzung nicht wahrgenommen werden können, sollte dies so frühzeitig wie möglich in der Gruppe besprochen werden. b) Verhalten bei Therapieabbruch Hat sich der Patient entschlossen, die Gruppe aus irgendeinem Grund vorzeitig abzubrechen, sollte er noch zwei Sitzungen kommen, um seinen Entschluss mit der Gruppe zu besprechen und in Ruhe zu überdenken. Manche Patienten fragen in den Vorgesprächen, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie feststellen, dass ihnen ein Gruppenmitglied „nicht

246

20

B. Alt

liegt“. Bei solchen Einwänden betone ich immer, dass es eine ungemeine Chance ist, gegen jemanden Vorbehalte zu verspüren und ihn nicht zu mögen, weil man das in der Gruppe klären kann. „Man sieht bei anderen Verhaltensweisen und Haltungen, die man bei sich selbst nicht wahrhaben will.“ Woanders würde man sich einfach abwenden, in der Gruppe hingegen bestünde die Möglichkeit, Externalisierungen bzw. Projektionen zurückzunehmen, dadurch wachse das Selbstbewusstsein enorm. Geht das u. U. alles nicht, kann die Gruppe unter der oben genannten Voraussetzung verlassen werden. c) Kein Essen und Trinken Mitunter können die Patienten nicht nachvollziehen, warum sie während der Sitzung nicht ihr mitgebrachtes Wasser trinken dürfen. Hier genügt der einfache Hinweis auf die häufige Erfahrung, dass Patienten oft dann zu ihrer Wasserflasche greifen, wenn sie eigentlich etwas sagen möchten, es dann aber buchstäblich „herunterschlucken.“ Es sei zumutbar, seinen Flüssigkeitsbedarf vor oder nach der Sitzung zu decken. Bei Kratzen im Hals kann ein Bonbon gelutscht werden. d) Keine Kontakte außerhalb der Gruppe Keine Probleme macht gewöhnlich die Empfehlung, keine Kontakte außerhalb der Gruppe zu haben. Es wird als wichtig angesehen, diese nicht ausdrücklich zu verbieten, weil es außerhalb der Gruppe mehr oder weniger ungewollt zu Kontakt kommen kann. Darüber sollte dann in der Gruppe gesprochen werden. Mit dieser Handhabung kommt es bei dieser Regel nicht zu Schwierigkeiten. e) Pünktliche Abgabe der Fragebögen Die Aufforderung, dass der 10-seitige Anamnesefragebogen vier Wochen nach Erhalt abzugeben ist, halte ich für sehr wichtig. Immer, wenn ein reduzierter Antrieb eine Rolle spielt, und

dies ist oft der Fall, zögern Patienten die Bearbeitung hinaus, wodurch es beim Gruppenleiter zu einem Stau bei der Antragsstellung kommen kann. Um sich vor Überlastung zu schützen – damit Sie nicht an einem Wochenende nur einen Antrag bearbeiten können, und an einem anderen Wochenende gleich vier schreiben müssen – sollten Sie eine „deadline“ für die Abgabe einführen. Natürlich eignet sich das Hinauszögern der Abgabe gut für Klärungen: „Ich sehe, dass Sie bei der Bearbeitung des Bogens offenbar Schwierigkeiten haben, dies aber nicht offen thematisieren, sondern erst bei Nachfrage klagen, dass es so viel sei und Sie deshalb stocken. Gehen Sie sonst auch so mit Ihren Verpflichtungen um?“ Anzumerken ist, dass Sie mit dem Patienten natürlich immer eine „freie“ Anamnese durchführen sollten. Doch der systematisiert aufgebaute und strukturierte Anamnesefragebogen (s. Anm.) ist diagnostisch hilfreich und erleichtert Ihnen das Antragsschreiben, weil Sie genau wissen, wo Sie etwas nachlesen und auch teilweise abschreiben können: Gliederungspunkte 2 (Symptomatik), 3 (somatische Anamnese), 4 (Familien-Anamnese), 6 (Krankheitsverständnis des Pat., Behandlungsziele). Zu Punkt 7, Verlauf der Probebehandlung, ist der Therapiebericht sehr hilfreich. Hier sollte dem Patienten gegenüber betont werden, wie bedeutsam eine ausführliche Beantwortung der Fragen ist. Besonders sollte auf Beispiele und Situationen eingegangen werden, die dem Patienten wichtig waren. f) Organisation des Parkens Auch dieser Punkt ist von Bedeutung für ungestörtes Arbeiten in der gruppentherapeutischen Praxis. Egal, ob Sie am Abend ein oder zwei Gruppen haben, es sind alle Parkplätze rings um Ihre Praxis belegt. Dies führt zwangsläufig zu Ärger

247 Organisation und Abrechnung von Gruppen

mit den Nachbarn, der nachvollziehbar ist, weil diese ihre sämtlichen Parkplätze stets belegt vorfinden, wenn sie abends von der Arbeit kommen. Aus diesem Grund empfehle ich nicht nur, sondern mache es zur verpflichtenden Regel, 4 bis 5 Straßenzüge weiter zu parken und zur Praxis einen Fußweg von 5 min in Kauf zu nehmen. (Zur nochmaligen Erinnerung kopiere ich einen Teil des Stadtplans und markiere mit einem roten Leuchtstift die Straßenzüge, die zum Parken zu meiden sind und diejenigen grün, die benutzt werden dürfen.) 20.3.3  Erledigung von

Formalitäten

Wenn die Regeln besprochen sind, sollten die Antragsmodalitäten abgewickelt werden. Von psychologischen Psychotherapeuten ist zunächst der Konsiliarbericht auszuhändigen, zusammen mit der Überweisung an den Hausarzt. Zur Vereinfachung der Administration bitte ich die Patienten, dem Hausarzt den Grund für die Aufnahme der Gruppentherapie und den Arbeitsauftrag an ihn selbst zu schildern. Für die ersten zwölf Sitzungen braucht das Formular nur unterschrieben und abgestempelt zu werden, zumal die Krankenkasse nur das geschwärzte Formular erhält. Für den Umwandlungsantrag sind dann schon ein paar Sätze erforderlich, doch dazu später. Sodann sollte der Anamnesefragebogen herausgegeben werden und dies mit dem Hinweis, ihn nach vier Wochen bearbeitet zu haben und mir ungefragt abzugeben. Am Ende der probatorischen Phase erhält der Patient Verbindliche Regeln in der ambulanten Gruppentherapie (s. Anm.) und das Infoblatt Allgemeine Hinweise (s. Anm.). Eine erweiterte Version des Datenschutzformulars (s. Anm.) wird ausgehändigt. Hier ist auch das Einverständnis zu den Rahmen und Regeln vermerkt und zu unterschreiben.

20

20.3.4  Noch einmal:

Indikationsüberlegungen

Schließlich muss der für die Gruppe infrage kommende Wochentag besprochen werden. Auf regelmäßige, am Abend stattfindende Vereins- und Freizeittermine sollte Rücksicht genommen werden. Auch im Hinblick darauf ist es empfehlenswert, mehrere Gruppen anzubieten. Schließlich rückt hier der Hauptaspekt in den Vordergrund: In welcher Gruppe ist der Patient am besten aufgehoben? Die referierten Indikationsüberlegungen sind hier weiterführend. Mich als Gruppentherapeutin leitet oft das „diagnostische Gefühl“: Wer passt zu wem? Ein Kriterium, das sich als hilfreich erwiesen hat, ist die Unterscheidung in mehr ländliche und mehr städtische Menschentypen. Menschen vom Land – eine Patientin sprach einmal von „uns Landeiern“ – sind bodenständige Menschen, mit sportlich-legerem Freizeitlook, mehr praktisch als modisch. „Städter“ haben oft höheren Bildungsabschluss, legen mehr Wert auf ihr Äußeres, im Beruf sowieso, aber auch in ihrer Freizeit. Beide Menschengruppen unterscheiden sich in ihrer Eloquenz. Es sind jedoch nicht die Unterschiede, die hier bedeutsam sind, sondern die unterschwelligen gegenseitigen Bewertungen, mit denen Städter diejenigen vom Land konnotieren und umgekehrt. Dies kann die Interaktionsprozesse stören, u. U. aber auch bereichern. Am interessantesten sind „Mischungen“ aus unterschiedlichen Altersstufen und sozialen Schichten. Sie müssen jedoch sorgsam zusammengestellt werden. Wer „kann“ mit welchem Typ Mensch, mit dem er im Alltag sicherlich nie was zu tun haben würde? Auch homogene (alters- wie geschlechtshomogene) Gruppen sind möglich. So habe ich zwei Gruppen mit Frauen zwischen 50 und 60 – das Klientel, was sich am häufigsten bei mir meldet. Die Themen dieser Frauen sind meist auf das Ende der Berufstätigkeit (Frührente), Konflikte mit ihren erwachsenen Kindern und Pflege ihrer alten Eltern ausgerichtet.

248

B. Alt

Dann habe ich zwei Gruppen mit jungen Erwachsenen von 20 bis 35 – auch sehr interessant, hier spielt der adlerianische Wunsch nach einem festen „Platz im Leben“ eine Hauptrolle. Wie und wohin muss sich der Patient entwickeln, um partnerschaftlich und beruflich etwas „achieved“ zu haben? 20.3.5  Antragsstellung bei der

Krankenkasse

Zunächst werden zwölf Sitzungen beantragt. PTV 1, PTV 2 sowie der Konsiliarbericht werden frühestens nach Terminierung der zweiten probatorischen Sitzung an die Krankenkasse abgeschickt. Es gilt eine Bewilligungsfiktion, wenn die Krankenkasse nicht nach drei Wochen das Mitteilungsblatt an den Patienten übersandt hat. 20.4  Die erste Gruppensitzung

Wird die Gruppe neu gegründet, stellen sich alle Gruppenmitglieder nacheinander vor. Bei Slow-Open-Gruppen, bei denen für einen freigewordenen Platz ein neuer Teilnehmer nachrückt, wird das neue Gruppenmitglied zunächst begrüßt und dann mit einer Vorstellungsrunde begonnen. Der „Neue“ kann sich zunächst in Ruhe zurücklehnen und hört zu. Anschließend stellt er sich vor (Name, Alter, Beruf, Familienstand, Grund des Hierseins (allgemein „alles, was Sie glauben, dass die anderen von Ihnen wissen sollten, um ein erstes Bild von Ihnen zu haben“). Anschließend rege ich das Gespräch an: „Was möchten Sie von Herrn X noch genauer wissen?“ Und an den Neuen gerichtet: „Welche Fragen und Gedanken knüpfen sich für Sie an die Selbstschilderungen Ihrer Mitpatienten an?“ Nach dem darauffolgenden regen Austausch ermutige ich am Ende der Sitzung, nach Ablauf von KZT 1, spätestens

20

nach der 2. Sitzung von KZT 2, selbstständig zu prüfen, wie der bisherige Verlauf war, ob die Gruppe dem neuen Gruppenmitglied hilft und ob man sich eine Umwandlung in Langzeittherapie vorstellen kann. Dafür gebe ich dann noch einmal einen zweiseitigen Fragebogen heraus (Therapiebericht; s. Anm.). Die erforderliche Dokumentation findet bei mir während der Gruppensitzungen statt. Das geeignete Mobiliar dafür ist ein im Stuhl integriertes Schreibpult. 20.5  Nach der 7. Gruppensitzung

An der Stelle sollte die Beantragung von KZT 2 erfolgen (Gruppensitzungen 13–24) 20.6  Nach 10–12 Sitzungen

Der Patient thematisiert wie verabredet: „Mein Stand in der Gruppe.“ Beginnt der Patient nicht von sich aus damit, erinnere ich an die Verabredung. Die Bilanz des Patienten sollte ins Gruppenfeedback eingebunden werden. Rückkopplungs- und Spiegelungsprozesse spielen auch hier eine ungemein wichtige Rolle. Wie sieht die Gruppe den Gewinn ihres neuen Mitpatienten? Hat er sich entwickelt, und wenn ja, wie? Sind Veränderungen erkennbar, und wenn ja, welche? Wie sind seine Chancen, auch weiter zu profitieren? Wie fühlt man sich selbst durch ihn angeregt, welche Prozesse stößt er bei den anderen an? Der Therapiebericht (s. Anm.) wird dem Patienten ausgehändigt. In der darauffolgenden Sitzung oder spätestens eine Sitzung später muss der Patient diesen Eigenbericht abgeben, dabei könnte zu der Frage Stellung genommen werden, wie es war, alles noch einmal aufzuschreiben. Das Infoblatt Was kann man sich unter einer psychodynamischen Langzeittherapie vorstellen? (s. Anm.) wird ausgehändigt.

249 Organisation und Abrechnung von Gruppen

20.7  „Stromschnellen“ im

Gruppentherapieprozess

Von „Stromschnellen“ spreche ich deswegen, weil es in Gruppen einige immer wiederkehrende kritische Punkte gibt, für die man als Gruppenleiter feste Vorstellungen bzgl. eines geeigneten Prozederes haben sollte. 1. Agieren hinsichtlich des Ausfallhonorars Man sollte darauf eingestellt sein, dass sich plötzlich spontaner Widerstand gegen das Ausfallshonorar regt, wie zum Beispiel „Mein Mann sieht nicht ein, dass ich für unseren Urlaub zahlen soll“… „Ich musste zum MRT, habe keinen anderen Termin bekommen“ … „Ich hätte jemand anstecken können“ … „Ich bin vom Arzt krankgeschrieben worden“ … „Darf man nicht in den Urlaub fahren?“ Dass diese Einwände für die finanzielle Verantwortung für den vakanten Platz keine Rolle spielen, muss manchmal neu verstanden werden. Dabei gilt, dass die Regel an und für sich nicht diskutierbar ist, gleichwohl kann und sollte darüber gesprochen werden, warum diese einen solchen Unmut auslöst, wenn der Ausfall zum ersten Mal eintritt. Da ist z. B. das Gefühl, „bestraft“ zu werden. Dies ist eine Wiederholung einer lebensgeschichtlichen Erfahrung, wo man für etwas zur Rechenschaft gezogen wurde, bildlich „zur Kasse gebeten wurde“ und „bezahlen“ musste, was man nicht verschuldet hat. Als Gruppenleiter muss man fest bleiben und die Ausfallregelung als Teil der notwendigen Vertrauensbeziehung und damit des Behandlungsbündnisses beschreiben. Für den Patienten ist die Erfahrung, dass der Gruppenleiter fest bleibt und ihn gleichzeitig gut versteht, meistens eine neue Beziehungserfahrung, die er bislang noch nicht kennt. Als Kind hat er an der Stelle Liebesentzug und Kontaktabbruch erfahren. Wenn dies evident und bewusst wird, tritt meistens eine Entspannung und eine spürbare Stärkung der Vertrauensbeziehung ein.

20

2. Besprechung von Organisatorischem und allem, was außerhalb der Gruppe stattgefunden hat, immer zuerst! Wenn etwas außerhalb der Gruppe stattgefunden hat, was Rahmen und Regeln betrifft wie auch Organisatorisches, z. B. eine Einzelstunde, eine MDK-Anfrage, ein Telefonat mit einem Hausarzt, eine Urlaubsankündigung des Therapeuten, eine Regelübertretung bzgl. Kontaktabstinenz usw., bespreche ich das immer vorweg und wähle dabei immer die gleiche Formulierung: „Gemäß der Regel, dass alles, was außerhalb der Gruppe stattgefunden hat, vorgezogen wird, spreche ich an, dass …“ Dieses Prozedere hat sich sehr gut bewährt. Vor allem gibt es der Gruppenleitung die Freiheit, wichtige Rahmenthemen sofort anzusprechen und nicht darauf warten zu müssen, dass sich im Gruppengespräch eine passende Möglichkeit bietet. Die darauffolgenden Gruppenreaktionen können dann therapeutisch genutzt werden. 3. Regeln des Sharings in der Gruppe Sehr intellektuell geprägte Gruppen neigen manchmal zu einer Mutation des Sharings in einen Diskurs. Zum Beispiel, wenn Patienten von einem Vorfall in der Familie oder am Arbeitsplatz erzählen und die Gruppenmitglieder nach und nach ihre Resonanz mitteilen, dann neigen die „Protagonisten“ oft dazu, auf jede Mitpatienten-Äußerung zu reagieren und sie zu kommentieren. Hier sollte man als Gruppenleiter frühzeitig eingreifen und an die Regel erinnern, das Sharing der Gruppe erst mal auf sich wirken zu lassen, statt die Ebene des Dafür- und Dagegenhaltens zu beschreiten und damit von der emotionalen Ebene weg zu gehen. „Sie möchten ja schließlich in der Gruppe eine neue Erfahrung machen.“ 4. Horizontale Bearbeitung in Flashback-Zuständen, starker Angst und Verzweiflung Immer wieder kommen traumatische Zustände im Sinne eines hohen Arousals

250

B. Alt

ins Gruppengespräch. Um dies abzusenken und die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen, verweise ich in einem kurzen psychoedukativen Exkurs darauf, dass die gruppentherapeutische Arbeit darauf ausgerichtet ist, Wiederholungen nach und nach zu verringern. „Wir haben erarbeitet, dass als Kind Ihre Zumutbarkeitsgrenzen permanent missachtet und überschritten wurden, jetzt achten wir gemeinsam darauf, dass Sie das nicht mit sich selbst machen. Bleiben Sie doch mal bei dem einen Thema …“ Ich ermutige zum Innehalten und biete Halt an. Wenn die Gruppe reifer ist, übernimmt sie das.

20

zu wollen. ‚Mir ging’s ja mal genauso … woll’n dir nur helfen.‘ Gruppe thematisiert seine Wut. Worauf eigentlich? Beispiele für c) „Bei dem Dialog zwischen Sonja und Angela herrscht in der Gruppe Schweigen. Offenbar wird das Thema ‚Konkurrenz‘ vermieden.“ Das Dokumentationsblatt kommt in einen Aktenordner, in einen anderen für jeden Patienten einen Oesenhefter zur Abheftung der jeweiligen Dokumente, Korrespondenzen mit Sozialversicherungsträgern, Mitschriften der probatorischen Sitzungen, Fragebögen und Verträge. Für 11 Gruppen habe ich also 22 Aktenordner, in denen sofort alles auffindbar ist.

20.8  Dokumentation

20.9  Antrag für Langzeittherapie

Die Dokumentation ist verpflichtend und wird von den meisten Kollegen in Form eines Gedächtnisprotokolls nach der Sitzung durchgeführt. Ich habe gute Erfahrungen damit, während der Sitzung mitzuschreiben. Zu diesem Zweck hat mein Stuhl ein integriertes Schreibpult. Ergiebig ist es meiner Einsicht nach, a) die Kerne von Narrativen oder b) prägnante Szenen aufzuschreiben, die Modellszenencharakter haben. Jedoch sollte auch c) unbewusste Gruppendynamik dokumentiert werden. Beispiele für a) „Sabrinas jugendliche Tochter ritzt sich wieder, außerdem beim Stehlen erwischt worden, Polizei, Kiffen, insgesamt Eindruck, dass sie in die Drogenszene abgleitet. ‚Sie lässt nichts aus.‘ Sabrina teilt ihre Verzweiflung der Gruppe mit, die ihr Containing anbietet.“ Beispiele für b) „Michel: Keine Lust auf feste Arbeitsstelle, fühlt sich nur in seiner Ausbildung zum Erzieher wohl, Gruppe will wissen, warum, versucht ihn zu verstehen, gibt Sharing, konfrontiert ihn auch. Dann Konflikt mit Kevin, gerade aus der Klinik gekommen und gut aufgestellt, als er lächelt. Michel zu Kevin: ‚Grins’ nicht so blöd.‘ Kevin stellt klar, Michel nicht angreifen

Sollte vonseiten des Kostenträgers für die Umwandlung in LZT ein Antragsbericht verlangt werden, ist dieser spätestens zur 8. Sitzung der KZT2 zu stellen. Bei durchgehender. Zählung von KZT1 und 2 ist dies die 20. Sitzung. Sofern die Indikation für Langzeittheraoie von vornherein eindeutig ist, kann auch von Anfang an eine Langzeittherapie beantragt werden. Hat man mehrere wöchentliche Gruppen, empfiehlt sich ein weiteres Zeitfenster. Ich bevorzuge die 15. Sitzung, um einen Zeitpuffer wegen der von den Hausärzten oft schleppend bearbeiteten Konsiliarberichte zu haben. 20.10  Die wichtigsten Ände-

rungen durch die Psychotherapierichtlinie 2017

5 Gutachtenpflicht für KZT entfällt 5 Telefonische Erreichbarkeit verbindlich; kann aber delegiert werden

251 Organisation und Abrechnung von Gruppen

20

5 Sprechstunden dto. verbindlich geregelt und obligatorisch vor Probatorik 5 KZT 1 und 2: 2 Blöcke à 12 h 5 LZT-Bewilligung jetzt 60 Std. 5 Gutachten bei Verlängerung für die Krankenkassen optional 5 Kleingruppen ab drei Teilnehmern möglich 5 Kombination von GT und ET möglich, auch mit 2 verschiedenen Therapeuten

meiner Website 7 http://www.psych-praxis-alt. de/service als PDF-Dateien zum Download an: 1) Anamnesefragebogen, 2) Verbindliche Regeln der ambulanten Gruppentherapie, 3) Allgemeine Hinweise, 4) Therapiebericht/ Evaluationsfragebogen, 5/6) (Erweitertete) Einverständniserklärung zur Datenweitergabe, 7) Infoblatt zur Gruppen-Kurzzeittherapie, 8) Infoblatt zur Gruppenlangzeittherapie

20.11  Differenzierte Honorierung

Literatur

nach Gruppengröße

5 Telefonsprechstunde wird nicht zusätzlich vergütet, Sprechstunde und Akutbehandlung werden nun um 3,6 % geringer bewertet 5 Je nach Anzahl der Gruppenteilnehmer gibt es unterschiedliche Punktbewertungen und Vergütungen: Von 51,67 € je Patient bei einer Gruppe mit 9 Patienten … bis zu 89,07 € je Patient bei einer Gruppe mit 3 Patienten 5 Fazit: leichterer Start für neue Gruppen und kein so hohes Ausfallshonorar mehr erforderlich z Anmerkung

Alle Infoblätter und Fragebögen, auf die ich im Text verweise und die sich in meiner therapeutischen Arbeit bewährt haben, biete ich auf

Barkowski, S., Schwartze, D., Burlingame, G., Strauß, B., & Rosendahl, J. (2016). Wie wirksam ist Gruppenpsychotherapie im Vergleich zur Einzelpsychotherapie? Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 52, 142–155. Burlingame, G. M., Strauß, B., & Joyce, A. (2013). Change mechanism and effectiveness of small group treatments. In M. J. Lambert (Hrsg.), Bergin and Garfield’s Handbook of psychotherapy and behaviour change (S. 640–689). New York: Wiley. Hearst, L., & Behr, H. (2009). Gruppenanalytische Psychotherapie. Frankfurt a. M.: Verlag Dietmar. Rudolph, G. (2013). Strukturbezogene Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer. Strauß, B. (2016). Zum Stand der empirischen Forschung in der psychodynamischen Gruppenpsychotherapie. Gruppenpsychotherapie und Psychodynamik, 52, 11–127. Strauß, B., & Mattke, D (2018). Gruppenpsychotherapie – Lehrbuch für die Praxis. Heidelberg: Springer. Yalom, I. D. (2015). Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie, Ein Lehrbuch (S. 266). Stuttgart: Klett Cotta.

253

Typische Gruppenverläufe Inhaltsverzeichnis Kapitel 21

Beispiele für typische Gruppenverläufe – 255 Brigitte Alt

IX

255

Beispiele für typische Gruppenverläufe Brigitte Alt

21.1 Harmonie … oder Hingehen, wo es weh tut!? – 256 21.2 Der Trinker – 258 21.3 Ein Rahmenkonflikt als Eisbrecher. Stellvertreterkonflikt … und was dahinter steckt – 260 21.4 Parallelen in völlig verschiedenen Lebensgeschichten – 261 21.5 Therapieende: Wann ist es „genug“? – 262

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_21

21

256

21

B. Alt

In diesem Kapitel werden keine (ideal-) typischen oder repräsentativen Verläufe dargestellt, sondern vielmehr besondere, zunächst sehr problematisch erscheinende Situationen, die sich dann aber als äußerst fruchtbar für den Gruppenprozess erweisen. Den Verlaufsbeschreibungen werden die Gruppenmitglieder mit Namen, Beruf und Alter vorangestellt (alle Angaben sind geändert). In den Kasuistiken selbst werden zunächst Protagonisten vorgestellt und die Einbettung ins Gruppengeschehen skizziert. Dabei wird die (Bedeutung der) Beziehungsmatrix für das Gruppengeschehen deutlich.

Der erste Verlauf dreht sich um Bastian, der sich als potenziell gewalttätiger Mann vorgestellt hat, mit einer von Gewalt und Alkoholismus geprägten Kindheit. Die Prozessentwicklung zeigt ein anderes Bild von ihm, als es seinem anfänglichen Selbstbild entsprach. Es kamen durch ihn wichtige Triangulierungsprozesse in Gang. In der zweiten Kasuistik steht Jens im Mittelpunkt, der sein Alkoholproblem in der Anamnese geschickt verharmlost hat, was dann erst mithilfe der gutachterlichen Stellungnahme für den Umwandlungsantrag aufgedeckt und konfrontiert werden konnte. Die Abwehrkämpfe des Patienten im Kontext des Ringens der Gruppe um den Anti-Suchtvertrag werden dargestellt, ohne dass Jens sein Gesicht verliert (Vermeidung von Beschämung). Der dritte Fall zeigt, wie die narzisstische Kränkung und daraus resultierende Wut eines Patienten, Tom, via projektive Identifikation die Leiterin so erfassen kann, dass sie vorübergehend in ihrer Leitungsfunktion beschädigt wird, was durchaus einmal unruhige Nächte nach sich gezogen hat. Intervision, der wohlwollende und kompetente Blick eines Dritten, hatte überaus große Wirkung und führte zu einer tief greifenden Wende im Prozess des Patienten. Dadurch gestärkt ist er zu einem späteren Zeitpunkt in der Lage, in einem für kurze Zeit anwesenden Mitpatienten seinem Vater zu begegnen.

Der vierte Verlauf ist von mehreren Protagonisten bestimmt. Zwei völlig unterschiedlich sozialisierte Patientinnen, Irmtraut und Alexandra, entdecken strukturelle

Parallelen und kommen sich dadurch nahe.

Eine weitere Patientin, Anke, nimmt erstmals Anteil und kommt aus einem monatelangen stockdepressiven Zustand dauerhaft heraus. Im fünften Fall hätte sich fast die Lebensgeschichte von Svenja (ostsozialisiertes Krippenkind) wiederholt, wenn das von ihr angekündigte Ende nicht von mir (die Gruppe konnte es zu dem Zeitpunkt noch nicht) in Zweifel gezogen und ich der Gruppe die Frage nach möglichen Versäumnissen in der Beziehung zur Patientin zugemutet hätte. Dies hat sowohl die Gruppe als auch Svenja sehr gefordert. Ihr leuchtete erstmals ein, dass sie nicht immer nur bei sich selbst nach eigenen Anteilen schauen muss, sondern etwas für sich einfordern kann, bzgl. dessen ihre Bezugspersonen versagt haben und versagen. Die Gruppe lernte temporäres Versagen und Insuffizienz im Sinne von zwischenzeitlich auftretender Unzulänglichkeit zu akzeptieren. 21.1  Harmonie … oder Hingehen,

wo es weh tut!?

Bastian, 35, Dipl.-Ing.; Carina, 38, Altenbetreuerin; Christin, Gärtnerin; Jürgen, 52, Schweißer; Tanja, 40, Immobilienkauffrau; Linda, 33, Managementtrainerin; Veronika, 43, Biologin; Sven, 37, Groß- und Außenhandelskaufmann. Im Urlaub – ich hatte vergessen, eine Abwesenheitsnotiz einzustellen – erhielt ich erstmals eine Mail von Bastian: „Guten Abend, mein Name ist Bastian M., ich bin 35 Jahre alt und wohne in B. Ich bin über die Krankenkasse auf Sie aufmerksam geworden. Ich habe akute Probleme mit mir und meiner Umwelt. Können Sie mir kurzfristig einen Termin zur Analyse dieser Situation geben?

257 Beispiele für typische Gruppenverläufe

Hintergrund sind Wut- und Gewaltausbrüche gegenüber meiner Frau, Depression und ein Gefühl der Überforderung.“ Ich war gespannt auf diesen Patienten, es hörte sich erst mal schwerwiegend an und ich überlegte, ob ich ihm das „Männerbüro“ der nächstgelegenen Großstadt empfehle, um mit einem der Sozialarbeiter eine Beratungssequenz gewaltfreie Kommunikation zu vereinbaren. Ich war neugierig, wer mir im Erstgespräch entgegenkommen würde. Es war ein großer, breitschultriger Mann, gepflegter Vollbart, dunkle Stimme, sympathisches Äußeres, angenehmer Umgangsstil. Im Gespräch wird deutlich, dass er sich vorkommt wie ein „Monster“. Meine Wahrnehmung war eine ganz andere. Mit seiner sehr temperamentvollen Ehefrau gerate er dermaßen in Rage, dass beide die Kontrolle über ein halbwegs geordnetes Konfliktverhalten verlieren und physisch aufeinander losgehen. Es wird deutlich, dass er selbst jedoch seine nach außen gerichteten destruktiven Tendenzen weitaus gravierender einschätzt, als sie sich nach sorgsamer Recherche erweisen: Sein Selbstbild war offensichtlich stark überformt durch die suggestiven Spiegelungen der alkoholkranken und aggressiven Mutter. In der Gruppe stellt sich ein hohes Mitteilungsbedürfnis ein; immer wieder betont er, wie dankbar er sei, „frei reden“ zu können, ohne Sanktionen befürchten zu müssen, wie in der Kindheit von seiner alkoholkranken und hochaggressiven Mutter. Ich hatte Reinszenierungen mit hysterisch strukturieren Patientinnen aus der Gruppe befürchtet, was jedoch nicht eintrat, jedenfalls vorläufig nicht. Ganz im Gegenteil: Er fühlte sich in der ersten Therapiephase nach einer vorübergehenden Verschlechterung in der Beziehung zu seiner Ehefrau so gestärkt, dass er einen Konflikt zwischen zwei sehr temperamentvollen Patientinnen, wie sie von der Struktur her seiner Mutter und seiner Ehefrau entsprachen, triangulieren konnte. Veronika stellte Tanjas Ankündigung, ihre Gruppenteilnahme nach Ablauf des ersten

21

Verlängerungskontingents zu beenden, infrage. Sie, Tanja, sei ihrer Ansicht nach über den letzten Konflikt mit ihrer Arbeitskollegin nur oberflächlich stabil geworden. Wegen der schweren Beziehungskonflikte mit ihren Partnerinnen, die sie über die Jahre hatte, glaube sie nicht, dass sie mit der Gruppe bereits aufhören könne. Linda schritt ein und meinte, zu Veronika gewandt, Tanja brauchte sich doch nicht zu rechtfertigen. Sie schaute düster vor sich hin, und ihre Körpersprache verriet unschwer, dass sie sehr angespannt war. Die Gruppe versuchte die Situation zu klären, doch vergebens, die Spannung stieg noch einmal an. Schließlich platzte Linda heraus: „Das Gruppenklima hat sich verändert.“ Darauf angesprochen, nennt sie „die neue Zusammensetzung“ der Gruppe: Durch „die Neuen“ – das waren Bastian, Veronika und Sven – gehe es härter zu als früher. Da sei, so fand die Gruppe, wirklich etwas dran, seitdem Gustav, 26-jähriger Metaller, gegangen sei. Er war im letzten Therapiedrittel mit der Fähigkeit ausgestattet, mit bemerkenswert wenig Aggressionsabwehr etwas überaus Integrierendes in die Gruppe zu bringen, in das sich der eine oder andere, oft auch die ganze Gruppe, buchstäblich hineingelehnt hatte. Gustavs Name fiel, und dass die nachfolgenden Patienten „viel streitbarer“ seien. Nun arbeitete die Gruppe heraus, was Linda speziell fehlte. Christin, die auch schon länger da war, meldete sich zu Wort und versuchte es aus ihrer Sicht zu benennen; es folgten zwei andere Beiträge, ohne, dass sich in Linda etwas bewegte. Ich spürte eine starke Übertragung von Lindas dominanter Mutter, unter der sie bis heute leidet, auf Veronikas temperamentvollen Kontaktstil in der Gruppe. Da dies noch nicht deutungsreif war, machte ich eine grobgestrickte vorläufige Probedeutung, um zu sehen, wie die Gruppe reagiert: „Mitunter erinnert uns die Art eines Gruppenmitglieds an unangenehme Züge von Vater und Mutter, meistens ist das nicht bewusst; das könnte mit ein Grund sein, warum Sie, Linda, sich ab und zu etwas

258

21

B. Alt

schwer tun mit Veronika und sich nach der integrierenden Art ihres Vorgängers, Gustav, zurücksehnen …“ Veronika war zunächst betroffen, und es tat ihr leid, Linda an so unangenehme Punkte zu bringen. Doch ich erinnerte sie an ihre Gewohnheit, sich für jedwede spontane Äußerungen, die etwas Konflikthaftes beinhalteten, gleich zu rechtfertigen und nichts wirklich Unangenehmes zuzumuten. „Auch bei Ihnen wiederholt sich etwas aus Ihrer Lebensgeschichte?“ Ja, die Mutter, die man im Rosenkrieg mit dem Vater ständig schützen, und bei der man jedes Wort auf die Goldwaage legen musste. „Jetzt müssen Sie ertragen, dass Linda, ausgelöst durch Sie, etwas aushalten muss, was Sie Ihrer Mutter nicht hätten zumuten können.“ Diese Äußerung nahm die Gruppe zum Anlass, um über die Verwebung der Gegenwart mit der Vergangenheit zu sprechen, und Bastian legte sich mächtig ins Zeug: „Immer, wenn ich mit meiner Frau so aneinandergeraten bin, dachte ich, das, was uns so umtreibt, hat so viele Ähnlichkeiten mit meiner Mutter, da hab ich sie vor mir bzw. erkenn mich wieder, wie ich mit ihr gekämpft habe.“ Linda kam in diesem Gruppengespräch etwas in Bewegung und äußerte, dass sie es störe, dass die jetzige Gruppe in ihre Schilderungen viel häufiger hineingrätsche als früher. „Da wird einem gesagt, was man dann und dann zu tun hat.“ Christin erinnerte sie an ihren Hang zum Monologisieren und daran, dass sie früher in der Gruppe oft so lange erzählt habe, ohne dass sie das entlastet habe, oft war dass Gegenteil der Fall. „Und jetzt hält dich die Gruppe an, versucht zu verstehen, stellt Fragen und bietet dir was an.“ Bastian wirft ein, er kenne Linda ja erst ein halbes Jahr, und er könne sich vorstellen, dass für sie der direktere Kontakt zur Gruppe, den Christin ansprach, erstmal ungewohnt sei, doch er selbst habe die Erfahrung gemacht, wie wichtig es sei, an unangenehmen Punkten dran zu bleiben. „Zum Kaffeetrinken sind wir nicht hier.“ Er selbst habe das Gefühl, dass Lindas Eindruck, die Gruppe grätsche ihr hinein,

eine ähnliche Wiederholung sei, wie für ihn der ständige destruktive Streit mit seiner Mutter, der in den Streitigkeiten mit seiner Frau wiederkehrt. „Das, was uns von unseren Müttern so verletzt hat, macht uns hochsensibel auch in der Gruppe.“ Jürgen, der während der Therapie bereits schon länger das Sprechen gelernt hat und große Fortschritte in seinem familiären Klima gemacht hat, das lange von der Schulphobie der Tochter bestimmt war, pflichtete ihm bei: „Ich kann heute sehen, wie ich mit meinem Verhalten dazu beigetragen habe, dass sich die Atmosphäre bei uns dermaßen verhärtet hat. Bei mir war das nicht die Mutter, sondern der Vater: So wie er, bin auch ich lange zu hart rangegangen … Seit einiger Zeit reden wir (er mit seiner Frau und seien Kindern) ganz anders miteinander.“ Die Gruppe war an der Stelle zu Ende. Linda war nicht entspannt, machte aber einen etwas schwingungsfähigeren Eindruck. In den beiden nächsten Sitzungen war Veronika nicht da, Linda war offensichtlich unzufrieden. Sie machte ihren Geliebtenstatus, den sie bis vor Kurzem mit ihrem Freund hatte, zum Thema, und äußerte den Eindruck, nicht so anerkannt wie die anderen fünf (von neun Patienten) zu sein, die in einer Familie lebten. Es wurde über bislang unterschwellige Moral- und Wertvorstellungen gesprochen. Linda: „Ich fühle mich manchmal indirekt getadelt.“ Carina, die zweimal nicht da war, lässt sich den Verlauf erzählen, dabei überprüft die Gruppe ihre eigenen Wert- und Moralvorstellungen. Bastian trianguliert wieder: „Ich kann einesteils dich (Linda) verstehen, andererseits auch wieder Veronika. Vielleicht ist sie manchmal ein bisschen spitzig.“ Die Gruppe ist gespannt auf Veronikas Wiederkommen. 21.2  Der Trinker

Jens, 45, Postbeamter; Manfred, 57, Bandarbeiter; Caren, 24, Ergotherapeutin; Dorit, 22, Angestellte im öffentlichen Dienst; Michaela, 46,

259 Beispiele für typische Gruppenverläufe

Restaurantfachangestellte; Anja, 44, Logopädin; Pia, 39, Verkäuferin; Sven, 29, Angestellter bei einem Paketdienst; Amelie, 35, Wissenschaftlerin. Die Konflikt-Geschichte mit Jens begann nach Antragstellung in der 12. Sitzung mit einem Anruf des Gutachters, ich möchte bitte eine detaillierte Trinkeranamnese mit dem Patienten durchführen und einen Antialkoholvertrag mit ihm schließen, optional Besuch einer Selbsthilfegruppe, dann könnte er das beantragte Gesamtkontingent bewilligen, vorerst nur 10 h. Offenbar hatte ich die Suchtanamnese nicht sorgfältig genug angelegt. Daraufhin bat ich Jens, einen Termin zu vereinbaren zwecks psychiatrischer Mitbehandlung, bei der Hausärztin die Leberwerte testen zu lassen und mit mir einen Anti-Suchtvertrag zu schließen, der nach dem psychiatrischen Termin in Kraft tritt. Bis dahin dauerte es allerdings noch drei Wochen, und in dieser Zeit dekompensierte der Patient, der in einem heftigen Trennungskonflikt stand, in einer Sitzung in einer merkwürdigen Weise. Er redete zeitweilig ohne Punkt und Komma, ließ sich nicht unterbrechen, war teilweise inadäquat usw., was bei mir ein Gefühl von Irritation auslöste. Waren das schon amnestische Störungen, war er hypomanisch, oder war schon etwas am „Überkochen“? Ich entschloss mich, die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen, indem ich ihn dazu aufforderte, den Anti-Suchtvertrag schon vor dem psychiatrischen Termin, ab dem derzeitigen Termin, also zweieinhalb Wochen früher, zu starten und erklärte ihm dies, indem ich teilweise meine Gegenübertragung mitteilte. Da hatte ich in ein Wespennest gestochen! Er regte sich heftig auf und entgegnete mir, dass er sich das nicht gefallen ließe, „einmal heißt es so, einmal so“, ich würde „mit dem Gutachter unter einer Decke stecken“, das ließe er sich nicht gefallen. Ich entgegnete nur, dass ich meine therapeutischen Entscheidungen revidieren können müsste, wenn es mir notwendig erschiene.

21

Es nützte nichts, Jens empfand sich als vorgeführt! Die Gruppe war sehr betroffen und versuchte zuerst zu vermitteln, dann wurden die Triangulierungsversuche differenzierter, und sie erzählten von eigenen Erfahrungen mit Nichtübereinstimmung und Konflikt. Dennoch, Jens blieb hart: wenn, dann, ein Jahr Abstinenz und nicht bis zum Ende der Behandlung. Dies behielt er sozusagen als „Faustpfand“, und wir beschlossen, ihm dies zuzugestehen, um dann nach einem Jahr neu zu verhandeln und den Vertrag zu verlängern. In der Sitzung darauf konnte er die Grenzwertigkeit seines Alkoholkonsums einräumen und von seiner Angst sprechen, sich „in die Kiste zu saufen“ wie einst sein 15 Jahre älterer Lieblingsonkel nach einer schmutzigen Scheidung. Der Streit der vorangegangenen Sitzung hatte ihn deutlich präsenter, wacher gemacht, und schließlich hatte er schon eine Woche Abstinenz hinter sich. Die Gruppe war erleichtert, schilderte ausführlich, wie anstrengend der Konflikt zwischen Jens und mir in der Sitzung vorher für sie war. Ich musste es aushalten, ihm nicht schon vorher die richtigen Ultimaten gesetzt zu haben, doch vielleicht, so dachte ich, war es eine Verwicklung, weil ich zuviel Mitgefühl mit ihm hatte und die Realität so früh nicht genügend gewichtet hatte. In den Wochen und Monaten darauf nahm seine Verbalisierungsfähigkeit immer mehr zu, er verlor sich nicht in seinen Narrativen und war ein wenig stolz darauf. Ein gewisses Konkurrieren mit mir blieb. Als Sven an der letzten Sitzung das erste Mal da war, fragte Jens am Ende der Sitzung, als ich schon geschlossen hatte, „Sie haben eine Frage noch nicht gestellt … (kurzes Schweigen), die Sie immer stellen, wenn ein Neuer da ist.“ Ich war kurz überrascht, dann sagte ich zu ihm: „Stellen Sie sie heute?!“ worauf er Sven fragte, wie es ihm jetzt nach der ersten Sitzung ginge. Die Gruppe lachte laut und herzlich. Jens schmunzelte hochzufrieden.

260

21

B. Alt

21.3  Ein Rahmenkonflikt als

Eisbrecher. Stellvertreterkonflikt … und was dahinter steckt

Tom, Kriminalkommissar, 40; Tobias, Gasund Wasserinstallateur, 52; Klaus, Elektromeister, 62; Lars, Dipl.-Soz.- Päd, 36; Sonja, Kita-Leiterin, 44; Nicole, kaufmännische Angestellte, 37; Katharina, Versicherungskauffrau, 39; Johannes, Sporttrainer 54; Manuela, 41, Angestellte bei einem Sicherheitsdienst. Tom kam vor 1½ Jahren in die Gruppe, ich hatte für ihn zunächst bei der Beihilfe nur einen Antrag für 25 Sitzungen Probebehandlung gestellt, um sicherzugehen, dass er wirklich ambulant behandelt werden kann. Er litt unter einem langsam ichdystoner werdenden und kaum noch erträglichen Gefühl der Selbstentfremdung und des Funktionieren-Müssens in einer unwirtlichen beruflichen und privaten Welt, dem Gefühl, sein Leben eigentlich nicht leben zu können. Die Abwehr war narzisstisch-zwanghaft konfiguriert, er ließ niemanden wirklich an sich heran, flüchtete sich in kontraphobischen Hochmut und Rationalisierungen, wobei er oft nicht erklärte, sondern oft nur feststellte: „Ich bleibe in der Ehe der Kinder zuliebe, und das ziehe ich so durch.“ Das Leid mit der völlig überforderten psychisch kranken Ehefrau teilte sich den Gruppenmitgliedern via projektive Identifikation mit, wirklich erreichen ließ sich Tom nicht. Dennoch hat er sich nach seinen Möglichkeiten eingelassen, sodass wir uns entschieden, umzuwandeln. Im Herbst 2017 war er zum zweiten Mal mit seiner Familie 14 Tage im Urlaub, nach der ersten Sitzung nach seiner Rückkehr schrieb ich ihm absprachegemäß die E-Mail mit der Ausfallhonorar-Rechnung. Er schrieb eine Mail zurück: gemäß den Rahmenvereinbarungen sei doch Familienurlaub frei. Ob sich etwa daran etwas geändert habe? Ich widerstand der Versuchung, eine ErklärungsMail zu schreiben und wartete auf sein Wiederkommen nach seiner Fortbildung. In der Sitzung fünf Wochen später thematisierte

ich diesen Rahmenkonflikt ausnahmsweise am Ende der Sitzung. Tom betonte mit Nachdruck: „Das haben wir so abgesprochen.“ Ich konfrontierte ihn mit meinem Rahmen, „Man muss die Regeln nicht mögen, aber man muss sie akzeptieren“, worauf sich die Diktion zuspitzte und ich wegen der Kürze der Zeit auf die gemeinsame Grundlage verwies, die offenbar nicht (mehr) stimmte. Die nächste Sitzung sagte er in einer knappen Kurzmitteilung kurzfristig ab, die Gruppe zeigte sich äußerst betroffen von der Heftigkeit unseres Konflikts und machte sich in dieser Sitzung Luft. Ich selbst war in ungewöhnlicher Weise von Ärger überflutet und musste diesen buchstäblich „wegatmen.“ Zwei Intervisionsgespräche in der darauffolgenden Ferienpause brachten mich wieder in eine gute Arbeitshaltung. Frage sei doch, so der Kollege: „Worum geht es hier eigentlich? Was steckt hinter diesem Rahmenkonflikt? Wofür steht dieser stellvertretend, vor allem in Anbetracht seiner Heftigkeit?“ Das klärten wir nach den Ferien in der Gruppe. Ich schaute mich um und fragte: „Gibt es etwas aus der letzten Stunde, was noch nachklingt und Raum braucht?“ Nach ein paar Minuten des Schweigens fasste Katharina die letzte Sitzung zusammen. Tom sagte daraufhin: „Das ist für mich schon erledigt“, worauf ihm die Gruppe spiegelte, dass für sie dies durchaus ein noch ungeklärtes Thema sei, dass er mit mir so aneinander geraten sei. Es entstand ein lebhafter Dialog, in dem die Spannung nach und nach weniger wurde. Es war eine erste Etappe, als er sagen konnte: „Da gibt es viel missbrauchtes Vertrauen“. Meine Angespanntheit in der Gegenübertragung begann langsam zu weichen, es entstand eine lebendiger werdende Begegnung zwischen uns. Ich recherchierte noch einmal, dass ich ihm im Sommer 2016 den Urlaub in den ersten vier Wochen seiner Gruppenteilnahme ohne Ausfallhonorar zugestanden habe, wie ich das immer tue, um nicht gleich mit einer Rechnung beginnen zu müssen. Nein, das war es nicht, er beharrte darauf, Familienurlaub sei „grundsätzlich frei“.

261 Beispiele für typische Gruppenverläufe

Erst, als ich sagen konnte, dass ich mein Vertrauen i. S. meines Entgegenkommens von ihm nicht gut behandelt fühle und ich deswegen sehr ärgerlich sei, klärte sich der Konflikt weiter, wobei die Gruppe sorgfältige Fragen hinsichtlich ungeklärter Aspekte stellte („Das ging mir jetzt zu schnell … da ist noch was drunter.“) Eine Patientin, Nicole, die wegen eines Globusgefühls in die Gruppe kam, reagierte verängstigt auf den Konflikt, konnte das aber verbalisieren. Johannes ließ nicht locker und forschte in sequenziellen Fragen nach Toms Gefühlen. Die Gruppe nahm die Klärung auch zum Anlass, um ihrerseits „offene Rechnungen“ mit ihm zu besprechen. Sonja äußerte ihre Irritation darüber, dass Tom immer so harsch reagierte, wenn die Gruppe versuche, seinen partnerschaftlichen Druck zu verstehen und er „Tatsachen“ konstatiere. „Da fühle ich mich von dir abgebügelt.“ Schließlich konnte Tom zum Ausdruck bringen, wie er in seinem Vertrauen im Leben fortwährend enttäuscht worden sei, v. a. von seinem autoritären Vater, eher sich aufaddierend, denn als singuläres Ereignis. Die Gruppe half ihm, aus einem mehr „atmosphärischen Gefühl“ bzgl. seiner Kindheit die richtigen Erinnerungen zu konstruieren. Lars schilderte eigene Parallelen aus seiner Geschichte, die Tom wichtige genetische Aspekte verstehen halfen. In der Sitzung darauf kam Andreas als Neuer für Klaus, der nach dem Erreichen des Höchstkontingents ausgeschieden war. Als die Redundanz seiner Schilderungen von der Gruppe trianguliert werden musste, hat Tom in sehr berührenden Worten deutlich gemacht, worum es eigentlich in der Therapie geht: nicht, das Fremdbestimmtsein und auch nicht, sein Leben nicht erfüllend zu leben, sondern mithilfe der Gruppe in der Tiefe seines Wesens eine Verbundenheit zu spüren, die einem auf schwer erklärbare Weise Zuversicht gibt und mit mehr innerem Frieden leben lässt. „Das Bestimmende, Dominante, das ich auch so von der Arbeit kenne, ich weiß nicht, vielleicht ist das ja nur dazu da, dass ich mit allem besser klarkomme …“

21

Andreas, der „Neue“ in der Gruppe, ist Manager, durch und durch affektisoliert. Es bahnten sich über einige Sitzungen heftige Spannungen an, weil er sich nur erklärte. Hier waren alle hilfreich, nicht nur Tom. Er erwies sich in seinen Beiträgen darüber „wie Gruppe funktioniert“, deutlich konstruktiver, als ich das 1½ Jahre für möglich gehalten hätte. Er selbst erwähnt diesen Konflikt mit mir immer wieder als einen entscheidenden Wendepunkt in seinem Prozess. 21.4  Parallelen in 

völlig verschiedenen Lebensgeschichten

Irmtraut, 80, Rentnerin; Alexandra, 45, Krankenschwester auf einer Wachkomastation; Jürgen, 57, KFZ-Mechaniker; Uwe, 59, angestellt bei einer Tankstelle; Anke, 49, Verkäuferin; Doris, 42, Pharmazeutisch-technische Assistentin; Angelika, 55, Verwaltungsangestellte; Thorsten, 51, berentet nach Arbeitsunfall; Birgit, 56, Verwaltungsangestellte. Alexandra ist neu in der Gruppe. Es ist Vorstellungsrunde, alle stellen sich vor, bevor sie von sich erzählt. Die Gruppe ist beeindruckt von ihrer schweren Tätigkeit auf der Wachkoma-Station. Alexandra schildert, wie es ihr nachhaltig zu denken gegeben habe, dass in den Vorgesprächen herausgekommen sei, dass sie die schwierigen Beziehungen zu ihrer Ursprungsfamilie und Verwandtschaft in Polen viel mehr belasteten, als ihr bewusst war. Irmtraut erzählt von dem konflikthaften Verhältnis zu einer ihrer zwei Töchter, die ihr ständig Vorwürfe machen würde, sie hätte sich vom inzwischen verstorbenen, alkoholkranken Vater eher trennen sollen. Die Gruppe beschäftigt sich damit, wie weit Kritik von Kindern an Eltern gehen kann. Thorsten murmelt vor sich hin „Das geht gar nicht“ und erzählt von dem 16-jährigen Stiefsohn, der seine Mutter und ihn ständig aufs Übelste verbal angreife. „Wegen ihm bin ich ins Gartenhaus gezogen.“ Mit seiner eigenen gleichalten Tochter aus erster Ehe wäre der Umgang

262

21

B. Alt

anders, aber seine eigenen Eltern hätten auch „herumgeschrieen, was das Zeug hält.“ Doris wendet ein, sie hätte in ihrer Ursprungsfamilie ein lautes Wort als entlastend empfunden: „Es herrschte totale Kontrolle, nach dem Motto ‚ein Blick genügt‘“. Angelika wendet sich an Irmtraut: „Das hat mich beschäftigt, dass deine Tochter so mit dir umgeht. Hast du Schuldgefühle, weil etwas in der Erziehung nicht so gut gelaufen ist?“ Irmtraut schildert, wie sie sich anstrengen musste, die Kinder durchzubringen, und wie mühsam es oft war. Alles habe sie ihren Kindern ermöglicht und dafür noch nachts genäht. Es sollte ihnen nicht so gehen wie ihr und ihren fünf Geschwistern, die den ganzen Tag draußen sich selbst überlassen waren: „Wir waren von früh bis spät in Wald, Feld und Wiesen. Ob wir genug Trinken und Essen dabei hatten, hat meine Mutter nicht interessiert, dafür waren ja die älteren Geschwister da.“ Alexandra daraufhin: „Das wäre schön gewesen, wenn wir mal rausgekonnt hätten. Ich war mit meinen drei jüngeren Brüdern den ganzen Tag in der Wohnstube eingeschlossen, während meine Eltern arbeiten waren; es stand Essen und Trinken da und ein Nachttopf. „War keine Oma da?“ fragte Birgit entsetzt. Nein, es habe zwar mindestens eine Oma gegeben, doch die war immer mit irgendetwas auf dem Anwesen beschäftigt und hatte keine Zeit für die Kinder. Es war das letzte Drittel der Stunde angebrochen, und ich nahm wahr, dass sich Anke, die eine stationär lange therapierte bipolare Depression hat, – wie sonst auch? – noch nicht geäußert hatte. Zwei Stunden vorher hatten sie die beiden erfahrenen Gruppenmitglieder angesprochen, die mit der letzten Sitzung ausgeschieden waren, nun überlegte ich eine Intervention im Kopf (Anke, wenn ich noch einmal Revue passieren lasse, was Irmtraut und Alexandra über ihre Erfahrung des Alleingelassenseins in der Kindheit erzählt haben, stelle ich mir gerade vor, wie Sie das berührt …). Doch sie begann von sich aus das Wort zu ergreifen. „Erzähl ein bisschen mehr von deinen Brüdern, Alexandra.

Ich bin ja ohne Geschwister aufgewachsen, hab mich immer nach einem Bruder oder einer Schwester gesehnt, aber war mit diesem schrecklichen tyrannischen Vater alleine.“ Alexandra erzählt von ihren Brüdern, mit denen sie sich gut verstanden habe, doch sie als Älteste und einziges Mädchen sei halt für alles zuständig gewesen, musste für halbwegs gute Stimmung sorgen und für die Brüder auch alles erledigen, vom Verrichten der Notdurft bis zum Schlaflied. „So ähnlich wie mit deinen Patienten auf der Wachkoma-Station“, bemerkt Birgit, die von der Gruppenzugehörigkeit her Älteste, mit einem klugen Einwand. Sie kannte es bereits, dass wir immer Querverbindungen von der Gegenwart in die Vergangenheit ziehen und umgekehrt. Anke fühlte sich in einer für sie ungewöhnlichen Weise zum Reden angeregt und resümierte: „So kann man sich alleine fühlen, ob man zu Hause raus durfte oder eingesperrt war, ob man mit Geschwistern aufgewachsen ist oder nicht.“ Uwe, frisch aus der Reha zurückgekehrt, schaltete sich ein und berichtete über das gemeinschaftliche Erlebnis im Klinikkontext: „Oh, das war so eine bombastische Erfahrung, mit so vielen Leuten, denen es genauso geht, zusammen zu sein, und vor allem, dass es hier jetzt weitergehen kann, Woche für Woche.“ Eine Sitzung ging zu Ende, bei der alle etwas sagten, und sogar Anke von sich aus sprach. 21.5  Therapieende: Wann

ist es „genug“?

Markus, 53, IT-Fachmann; Bettina, 38, Chemisch-technische Assistentin; Rolf, 59, kaufmännischer Angestellter, EU; Svenja, 41, Industriekauffrau; Hans-Peter, 62, Steuerberater; Matthias, 53, Zimmermann; Hinrich, 63, Landmaschinenmechaniker; Heike, 44, Zahnarzthelferin; Gudrun, 62, Grundschullehrerin. Normalerweise wird das Therapieende vom Patienten vereinbarungsgemäß in der 10.–15. Sitzung vor Ablauf des Kontingents

263 Beispiele für typische Gruppenverläufe

von sich aus thematisiert. Tut er dies nicht, so hat dies bei längeren Kontingenten nicht unbedingt Abwehrcharakter und dann spreche ich ihn darauf an. Es kommt auch vor, dass sowohl der Patient als auch ich das zu Ende gehende Kontingent aus dem Auge verlieren, was häufig damit zusammenhängt, dass der Prozess sehr intensiv ist und die Verlängerung ohnehin keine Frage, quasi „selbstverständlich“ ist. Dieser Fall schien mir bei Svenja vorzuliegen. Ich sprach sie nach Beendigung einer Sitzung auf das zu Ende gehende Umwandlungskontingent an und bat sie, sich zu überlegen, ob sie verlängern möchte. „Ich denke, dass ich es so lasse, ich habe ja viel profitiert“, sagte sie spontan. Ich war überrascht, hatte nicht mit dieser Antwort gerechnet und schlug ihr vor, in der Sitzung darauf noch mal mit der Gruppe darüber zu sprechen. Im Verlauf der Woche dachte ich noch häufiger an Svenja und stellte mir vor, wie die Sitzung, in der sie der Gruppe mitteilt, dass sie beendet, wohl ablaufen würde. Ich begann die nächste Sitzung wie gewohnt: „Gemäß der Regel, dass alles, was außerhalb der Sitzung stattfindet, zuerst zur Sprache kommt, erwähne ich, dass Svenja ihre Gruppenteilnahme in 10 Sitzungen beenden wird.“ Erstaunte Gesichter in der Gruppe. „Sagen Sie selbst etwas dazu, Svenja!“ Sie reagierte zögerlich, wie sie immer ist, eben „still.“ Sie sei ja nun bereits 1½ Jahre hier, habe schon viel gelernt und dächte, dass „es jetzt gut ist.“ „Wirklich?“, entfuhr es Gudrun, und es stand ihr ein Fragezeichen im Gesicht, wie allen anderen. Bettina: „Ich habe eigentlich nicht das Gefühl, dass du schon genug mitgenommen hast.“ „Schon“, antwortete Svenja mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme, „was ist schon genug?“ Ich griff ein und regte eine „Gewinnesammlung“ an, wie ich das immer etwas salopp nenne. Svenja zählte das eine und andere auf, das mit einer Zunahme von Konflikt- und Problembewusstsein und einer hin und wieder gelungenen konflikthaften Selbstbehauptung gegenüber ihrer Chefin zusammenhängt.

21

Ich hatte ihre Anamnese im Kopf: Sie ist eines von zwei Kindern einer alleinerziehenden Mutter, ein Bruder – 2 Jahre sozialisiert in der ehemaligen DDR, Krippenerziehung ab der 6. Lebenswoche, parentifiziert durch die völlig überforderte Mutter, Mutterersatz für den jüngeren Bruder, jetzt verheiratet, eine 13-jährige Tochter. Dekompensiert nach einer depressiven Reaktion auf eine Herzmuskelentzündung nach verschlepptem Infekt; Angst und Panik bei dem Gedanken, „was hätte alles passieren können“. Szenisch ist sie sehr zurückgehalten in ihrer Affektlage, geht kaum aus sich heraus. Sie ist diejenige, die sich von allen am wenigsten spontan in der Gruppe äußert. Mit diesen anamnestischen und szenischen Überlegungen im Kopf gebe ich folgende Intervention:

» „Wenn ein Gruppenmitglied aufhören

möchte, weil es seiner Ansicht nach ausreichend profitiert hat und die Gruppe und die Gruppenleiterin das nicht so sieht, dann ist an dieser Wahrnehmung immer etwas dran. Wie ich oft sage, wenn es die Gruppe verstanden hat, dann beginnt der/ die Einzelne, um die es geht, also Svenja, das auch zu verstehen. Und noch etwas: Wenn Svenja nicht genügend profitiert hat, so hat das nicht nur mit ihr zu tun, sondern auch mit der Gruppe. Sie geht damit auf ihre Art um und zieht sich zurück, wie schon immer in ihrem Leben, weil sie schon früh die Erfahrung gemacht hat, dass andere mit sich beschäftigt sind, es nicht um sie geht und sie deshalb nichts einfordert.“

„Heißt das, dass es an uns liegt, dass sie hier nicht mehr lernen konnte und jetzt gehen will?“, fragte Markus erschrocken. „Da sind sie wieder, deine Schuldgefühle“, sagte Heike und erinnerte an ihr Ankommen im Herbst 2016 zusammen mit Markus und einem anderen Patienten, der sich in der dritten Sitzung von Markus so angegriffen fühlte, dass er aus Kränkung einen verbalen Feldzug gegen die Gruppe zu führen versuchte, der nur mit

264

21

B. Alt

seinem Ausscheiden gestoppt werden konnte; keine Einvernehmlichkeit, keine dritte Position war mehr möglich gewesen. Dass Markus mit seiner gutgemeinten Äußerung diesen Mann so gekränkt hat, dass der sich in der Gruppe davon nicht wieder erholen konnte, hatte Markus lange beschäftigt und viele lebensgeschichtliche Erinnerungen wachgerufen, wo er der „Prellbock“ war und häufig „Klassenkeile“ einstecken musste. Markus reagierte auf Heike schmunzelnd und etwas beruhigt. Ich sage: „Markus’ Reaktion zeigt, dass es für die Gruppe nicht ganz leicht ist, anzuerkennen, dass evtl. Svenja gegenüber etwas versäumt wurde. Doch das ist doch normal, es geht im Zwischenmenschlichen doch immer mal das eine oder andere verloren. Nichtsdestotrotz hätte Svenja mehr einbezogen werden können, weil es nicht nur ihre Aufgabe ist, sondern auch die der Gruppe.“ Erst fragendes, dann zustimmendes Schweigen in der Gruppe. Daraufhin sagt Hans-Peter, der gerade aus der Klinik gekommen war, Schuldgefühle würden ja immer schnell aufkommen, doch vielleicht

ginge es hier nicht um Schuldgefühle, sondern um „Realschuld“. „Interessante Begrifflichkeiten, die Sie hier einführen“, erwiderte ich und fügte an, dass wir darum nicht herumkommen. „In den Gruppen wiederholen sich immer Dinge, auch unliebsame, die wir längst kennen und eigentlich nicht haben wollen.“ Durch diese psychoedukative Intervention fühlte sich Svenja deutlich entlastet – das verriet ihr Gesicht, weil ihr offensichtlich unwohl war, dass die Gruppenmitglieder wegen ihr „ein schlechtes Gewissen haben mussten.“ Sie bestätigte das, als ich sie daraufhin ansprach, wie es für sie sei, dass der Gruppe durch sie etwas zugemutet würde. Hans-Peter knüpft den genetischen Zusammenhang: Vermutlich habe Svenja ihrer Mutter nie etwas zumuten dürfen, am wenigsten sich selbst. Er kenne das. Svenja weint erst leise, dann heftiger. Sie fühlt sich ganz offenbar das erste Mal in der Gruppe auf eine tiefe Art angenommen. Einige Gruppenmitglieder spiegeln ihr paralleles Erleben, da und da sei es ihnen mit ihrer Mutter genauso oder ähnlich gegangen. Zum Schluss der Stunde gab es keinen Zweifel mehr, dass Svenja weiter in der Gruppe bleibt.

265

Forschung zu Gruppenpsychotherapie Inhaltsverzeichnis Kapitel 22 Ausgewählte Aspekte der nationalen und internationalen Gruppenpsychotherapieforschung – 267 Rainer Weber

X

267

Ausgewählte Aspekte der nationalen und internationalen Gruppenpsychotherapieforschung Rainer Weber

22.1 Allgemeine Vorüberlegungen – 269 22.2 Zum Begriffsspektrum Gruppenpsychotherapie – 269 22.3 Allgemeine Ergebnisse der internationalen Forschung zur Gruppenpsychotherapie – 270 22.4 Forschung zur ambulanten Gruppenpsychotherapie in Deutschland – 271 22.5 Ambulante Gruppenpsychotherapieforschung im universitären Kontext – 274 22.6 Köln-Düsseldorfer-Studie – 274 22.7 SophoNet-Studie (soziale Phobie) – 274 22.8 PISO ­(Psychodynamischinterpersonelle Therapie) – 275 22.9 Gruppenpsychotherapie in der ambulanten Rehabilitation – 275 22.10 Fazit und Ausblick zur Gruppenpsychotherapieforschung in Deutschland – 276

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg.), Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8_22

22

22.11 Forschungsperspektiven – 277 22.12 Lizenzfreie Messinstrumente für Gruppenpsychotherapeuten – 278 22.13 Schlussfolgerung – 278 Literatur – 278

269 Ausgewählte Aspekte der nationalen und internationalen …

Als ich von einem der Herausgeber gefragt wurde, ob ich Lust und Zeit dazu hätte, ein Kapitel zum Thema ambulante Gruppenpsychotherapieforschung zu schreiben, habe ich sofort zugesagt. Wenn es nur um die Ergebnisse der deutschen Gruppentherapieforschung im ambulanten Versorgungssektor gehen sollte, dann wäre das Kapitel aber auch sehr kurz ausgefallen. Forschung zur ambulanten Gruppenpsychotherapie in Deutschland ist eher etwas Exotisches. Warum sollte auch etwas beforscht werden, das in der Routineversorgung kaum zur Anwendung kommt; ja vielleicht sogar nur von ein paar Exoten (Therapeuten) angeboten wird? Diese Aussage mag irritierend sein, aber solange nicht klar ist, inwieweit die Veränderungen der Psychotherapierichtlinien zu einem höheren Angebot an Gruppentherapien führen, die dann auch noch von den Patienten in Anspruch genommen werden, hat diese Aussage Bestand. Nach allgemeinen Vorüberlegungen, insbesondere zu definitorischen Unschärfen im Bedeutungsfeld Gruppentherapie bzw. -forschung, werde ich einen kursorischen Überblick über die Ergebnisse der internationalen und nationalen Gruppentherapieforschung im ambulanten Bereich geben. Mit einem Ausblick und einigen Hinweisen zu lizenzfreien Messinstrumenten wird das Kapitel abgeschlossen.

22.1  Allgemeine

Vorüberlegungen

Es klingt paradox, aber Wissenschaft ist häufig sehr nachlässig in ihrem Tun und Berichten. „Gruppenpsychotherapie ist wirksam ...“, so oder mit ähnlichen Worten beginnen wohl die meisten Fachartikel, in denen es um Forschung zum Thema Gruppenpsychotherapie geht. Der Satz stimmt sicher auch irgendwie, wenn er nur nicht so schrecklich unpräzise wäre. Er stimmt eben immer nur irgendwie. Je nach Thema der Arbeit findet sich dann häufig ein weiterer Standardsatz: „Gruppenpsychotherapie

22

ist ökonomischer als Einzeltherapie.“ Auch hier gilt: der Satz ist nicht grundsätzlich falsch. Bereits vor einigen Jahren konnten Heinzel et al. (Heinzel et al. 1998) den ökonomischen Nutzen von Gruppenpsychotherapie nachweisen. Die Aussage wird auch durch einen Beitrag im Wall Street Journal (sic!) gestützt, einem Journal, in dem man üblicherweise keinen Beitrag zur Psychotherapie oder Gruppenpsychotherapie erwarten würde (Helliker 2009). Aber es geht ja schließlich um Ökonomie! In dem Beitrag ist auch die Rede von Gruppen, die im ambulanten Setting durchgeführt werden. Gilt das ökonomische Argument für Gruppenpsychotherapie, aber auch für Gruppen, die im stationären oder teilstationären Setting durchgeführt werden? Man könnte ja im Übrigen generell schlussfolgern, dass man nur noch Gruppenpsychotherapien anbietet. Natürlich haben beide Aussagen, die Wirksamkeit und die Ökonomie von Gruppenpsychotherapien betreffend, das Potenzial, dass man sich als praktizierender Gruppenpsychotherapeut genüsslich zurücklehnen kann. Es sei ja offensichtlich schon alles Relevante beforscht und gesagt in der Hinsicht. Ist das wirklich so? Bernhard Strauß, einer der national und international führenden Gruppenpsychotherapieforscher hat hierzu formuliert: „… wobei sich generell die Frage stellt, ob die in der Praxis unseres Gesundheitssystems bedeutsamen gruppenpsychotherapeutischen Ansätze eine Existenzgrundlage aufweisen“ (Strauß 2016). Dieser Satz hat sicher das Potenzial, bei dem einen oder anderen praktizierenden Gruppentherapeuten eine so genannte „Schnappatmung“ auszulösen. Steht es wirklich so schlimm um die empirische Evidenz der ambulanten Gruppenpsychotherapie in Deutschland? 22.2  Zum Begriffsspektrum

Gruppenpsychotherapie

In der Tat lässt sich der Begriff Gruppenpsychotherapie weltweit nicht einheitlich darstellen. Der Begriff ist eher so etwas wie

270

22

R. Weber

ein „umbrella term“ (eine Art Oberbegriff) unter dem sich verschiedene Richtungen, Theorien, Anwendungsformen und eben auch Forschungstraditionen verbergen. Allenfalls, wenn es um die Frage geht, ob die Teilnehmer im Kreis sitzen, lässt sich mit sehr großer Sicherheit sagen, dass diese Sitzordnung in allen Ländern der Welt gleich sein dürfte. Darüber hinaus gestaltet sich all das, was mit dem Begriff Gruppentherapie in Verbindung gebracht werden kann (theoretische Orientierung, Ausbildung der Therapeuten, Stellenwert in der Krankenversorgung, Finanzierung, Forschung etc.) im internationalen Vergleich sehr vielfältig. In den USA und Kanada ist beispielsweise der interpersonelle Gruppentherapieansatz nach I. Yalom sehr weit verbreitet, in anderen Ländern eher weniger. Der gruppenanalytische Ansatz nach S. Foulkes, der eine sehr große Verbreitung in Europa (Großbritannien, Skandinavien, Deutschland) und Israel hat, ist hingegen in den USA, Kanada und Lateinamerika so gut wie unbekannt bzw. wird dort nicht praktiziert. Der Psychodrama-Ansatz hat neben der analytischen Gruppentherapie hingegen eine sehr große Verbreitung in den lateinamerikanischen Ländern und z. B. in Österreich (Weber und Weinberg 2015). Kann man sagen, dass diese vielen Ansätze alle gleich wirksam sind? Die Ergebnisse der internationalen Gruppenpsychotherapieforschung sind zwar insgesamt ermutigend, jedoch ist es keineswegs so, dass die Gruppenpsychotherapie (als „umbrella term“) für jeden Patienten zu jeder Zeit seiner Erkrankung bei jedem Gruppentherapeuten zu einem gleich guten Ergebnis führt. Im internationalen Vergleich ist es dagegen so, dass die Ergebnisse der Gruppentherapieforschung eher uneinheitlich sind. Es stellt sich so dar, dass die kognitiv-behaviorale Gruppentherapie als die am besten untersuchte Anwendungsform beschrieben werden kann und dies im Verhältnis 5:1 gegenüber allen anderen theoretischen Grundorientierungen. Die interpersonelle Gruppentherapie, die, wie bereits angedeutet, vorzugsweise in den USA und Kanada praktiziert wird, ist im Vergleich zu

k­ognitiv-behavioral orientierten Behandlungsprogrammen kaum in kontrollierten Studien empirisch untersucht worden (Burlingame et al. 2012). Wenn man jedoch berücksichtigt, dass die internationale Gruppenforschungsliteratur von der nordamerikanischen Tradition dominiert ist, wird deutlich, dass ein eklatantes Missverhältnis zwischen der in der realen Praxis stattfindenden Versorgung und der empirischen Absicherung besteht. Deutlich wird dieses Missverhältnis vor allem daran, wenn man sich fragt, in welchem Setting Gruppentherapie in diesen Ländern angeboten wird. In Deutschland findet Gruppentherapie mehrheitlich im stationären Versorgungssystem statt, die ambulante Gruppentherapie wird im Verhältnis dazu leider kaum durchgeführt. Die gruppentherapeutische Versorgung in den USA und in Kanada findet jedoch hauptsächlich im ambulanten und teilstationären Kontext statt. Somit erscheint es sehr fraglich, ob die im nordamerikanischen Kontext gewonnenen Erkenntnisse sich ohne Weiteres auf das bundesdeutsche und auch viele andere Versorgungssysteme, wie Finnland, Schweden, Australien übertragen lassen. Das ist sicher sehr problematisch. Denn Gleiches gilt für die Übertragbarkeit von Forschungsergebnissen, die in Deutschland im stationären Kontext generiert werden. Die finden in den USA und in Kanada, Länder, in denen die ambulante und tagesklinische Versorgung dominiert, entsprechend wenig Beachtung, wobei Deutschland sicher mit zu den führenden Forschungsnationen im Bereich von Psychotherapie gehört. Dies gilt insbesondere für die Psychotherapie im Einzel-, aber auch im stationären Gruppensetting. 22.3  Allgemeine Ergebnisse der

internationalen Forschung zur Gruppenpsychotherapie

Bergin und Garfields Handbook of Psychotherapy and Behaviour Change (mittlerweile in der 6. Auflage) gilt zu Recht als die Bibel der Psychotherapieforschung.

271 Ausgewählte Aspekte der nationalen und internationalen …

Der Unterschied zur klerikalen Bibel besteht darin, dass es regelmäßige Revisionen und Neuauflagen gibt, in denen neue Forschungsergebnisse mit einbezogen und mit den bisherigen kontrastiert werden. In jeder Ausgabe findet sich (erfreulicherweise) ein immer umfangreicheres Kapitel zum Thema Gruppenpsychotherapieforschung (Burlingame et al. 2012). Eine sehr gute in deutscher Sprache zugängliche Darstellung der internationalen Befundlage zur Gruppenpsychotherapieforschung findet sich bei Strauss und Mattke (2017). Befunde zur psychodynamischen Gruppenpsychotherapieforschung finden sich bei Strauss (2016). Ohne nun jede einzelne Studie zu benennen, lassen sich folgende Ergebnisse darstellen (Strauss 2016). Wenn man nach der Evidenz von Gruppenpsychotherapie als alleinigem Behandlungsansatz fragt, dann kann bei den sozialen Phobien, der Panikstörung, der Zwangsstörung, der Bulimie und der Binge-Eating-Störung von einer sehr guten bis exzellenten Evidenz gesprochen werden. Eine vielversprechende Evidenz liegt vor bei affektiven Störungen. Unzureichende bzw. gemischte Befunde liegen bei Studien mit älteren Menschen vor. Fragt man nach der Evidenz von Gruppenpsychotherapie im Rahmen eines komplexeren Behandlungssettings, so liegt eine sehr gute bis exzellente Evidenz bei Substanzabhängigkeit, schweren psychiatrischen Störungen (Schizophrenie), Persönlichkeitsstörungen, Traumafolgestörungen und bei Krebserkrankungen vor. Eine gute bis vielversprechende Evidenz lässt sich bei HIV-Patienten, allgemein bei stationären Gruppen, sowie bei Schmerz und somatoformen Störungen berichten. Gemischte bzw. unzureichende Befunde liegen bei gruppalen Behandlungsgansätzen für Opfer und auch Täter von häuslicher Gewalt vor. In einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt (Titel: Systematic Reviews and MetaAnalysis of Small Group Treatment for Mental Disorders, SMARAGD) wurden eine Reihe von Meta-Analysen und Reviews zu verschiedenen

22

Störungsbildern durchgeführt (Strauss et al. 2016). Eingeschlossen wurden nur qualitativ hochwertige, ­randomisiert-kontrollierte Studien. Eine im Rahmen der Psychotherapieforschung immer wieder kontrovers geführte Diskussion beschäftigt sich mit der Frage, welche Anwendungsform effektiver sei. Die vergleichende Betrachtung von Gruppenpsychotherapie und Einzelpsychotherapie bzw. Pharmakotherapie erbrachte folgendes Ergebnis: Über alle Störungsbilder hinweg konnten keine signifikanten Unterschiede gefunden werden! Diese Ergebnisse erwiesen sich auch als sehr robust über einen Zeitraum von bis zu 12 Monaten nach Therapieende (Katamnese). Ein weiteres interessantes Ergebnis besteht darin, dass die Drop-outRaten sich in den untersuchten Behandlungsoptionen über alle Störungsbilder hinweg nicht signifikant voneinander unterscheiden. Betrachtet man die zugrunde liegenden formalen Veränderungstheorien der in SMARAGD untersuchten Studien (CBT, psychodynamisch etc.), dann zeigt sich, dass der Anteil der psychodynamischen Studien lediglich etwa 4 % betrug, wohingegen der überwiegende Teil der Studien (64 %) dem kognitiv-behavioralen Theorielager zuzu­ ordnen sind. Studien zur Wirksamkeit von interpersoneller Gruppenpsychotherapie lagen zu 2 % vor. Strauss und Kollegen weisen daraufhin (Strauss et al. 2016), dass die Ergebnisse insgesamt vorsichtig zu interpretieren seien, da für einzelne Vergleiche nur wenige Studien zur Verfügung stünden und die Studien zu einem Großteil eine signifikante Heterogenität aufwiesen. 22.4  Forschung zur ambulanten

Gruppenpsychotherapie in Deutschland

National viel Beachtung hat die von Tschuschke und Anbeh durchgeführte und vom Deutschen Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik (DAGG), speziell von den Sektionen Analytische Gruppenpsychotherapie

272

22

R. Weber

(AG), der Sektion Klinik und Praxis (KUP) und der Sektion Psychodrama (PD) geförderte PAGE-Studie (Praxisstudie Ambulante ­Gruppenpsychotherapie-Evaluation) gefunden (Tschuschke und Anbeh 2008). Im Zeitraum von 1997 bis 2002 wurden 736 Patienten in die Studie einbezogen, die entweder in Psychodrama oder tiefenpsychologisch/analytischen Gruppenpsychotherapien von insgesamt 40 Therapeuten (Psychodrama N = 12; tiefenpsychologisch/analytisch N = 28) behandelt wurden. Insgesamt wurden drei Messzeitpunkte etabliert: zu Beginn der Gruppenbehandlung (T1), nach ca. 3 Monaten der laufenden Gruppe (T2) und am Ende der Behandlung (T3). Die Symptomatik wurde aus der Perspektive der Patienten und der Einschätzung des Therapeuten erfasst. In die Auswertung gingen von den tiefenpsychologisch/ analytischen Gruppen 244 Patienten (N = 451 zu T1) ein (komplette Datensätze T1–T3). Im Psychodrama-Arm der Studie lagen komplette Datensätze (T1–T3) von 91 Patienten vor (N = 169 zu T1). Die Therapiedosis (durchschnittliche Anzahl der Sitzungen) lag bei den tiefenpsychologisch/analytischen Gruppen bei 81 Sitzungen innerhalb von 24 Monaten, bei den Psychodrama-Gruppen lag die durchschnittliche Sitzungsanzahl bei 51 Sitzungen über einen Zeitraum von 15 Monaten. Die Autoren berichten hohe Effektstärken und werteten die Ergebnisse als Beleg für die Wirksamkeit der untersuchten Therapieverfahren. Neben der Würdigung einer Studie, die im naturalistischen Setting durchgeführt wurde, mahnen die erheblichen methodischen Einschränkungen jedoch zu einer vorsichtigen Einschätzung und Interpretation der Ergebnisse. Naturalistische Studien ohne Kontrollbedingungen lassen keine Aussage über die Wirksamkeit der untersuchten Verfahren zu! Ein weiteres Problem besteht in der fehlenden Adhärenz-Überprüfung. Es bleibt völlig unklar, ob die teilnehmenden Therapeuten wirklich „schulenkonform“ behandelt haben. Weiterhin besteht keine Sicherheit über die gestellten ICD-10-Diagnosen. Leider gibt es auch keine

Angaben über die Anzahl der durchgeführten Gruppen. Neben der erheblichen Rate von Dropout bzw. Missing Data (45,9 % bei den tiefenpsychologisch/analytischen Gruppen; 46,2 %) ist auch die statistische Abhängigkeit der Gruppendaten voneinander nicht berücksichtigt worden. Fazit: die PAGE-Studie war eine wichtige Studie, jedoch ein Kind seiner Zeit. Es schreit förmlich (um im Bilde zu bleiben) nach einer Folgestudie. Aber dazu müsste es auch genügend Gruppenpsychotherapeuten geben, die dann auch noch bereit wären, an einer solchen Studie teilzunehmen. Aber dazu später mehr. Neben der PAGE-Studie ist im deutschsprachigen Raum noch die so genannte „GRAS-Studie“ zu erwähnen, die im gruppenpsychotherapeutischen Ausbildungskontext zwischen 1998 und 2013 durchgeführt wurde (Strauß und Kirchmann 2004). 278 Patienten verteilten sich in 20 Gruppen, die von 13 Gruppenpsychotherapeuten geleitet wurden. Auch die GRAS-Studie litt unter einer nennenswerten Drop-out bzw. MissingData-Rate: vollständige Datensätze (prä/ post) lagen von N = 153 Patienten vor (53 %). Die behandelten Patienten mussten aufgrund der Eingangswerte zu T1 (Gruppenbeginn) als lediglich „mäßig“ beeinträchtigt eingestuft werden. Entsprechend gering fielen auch die Effektstärken aus. Strauß berichtet 2007 von einem interessanten Nebenbefund der Studie (Strauß 2007). Es stellte sich als außerordentlich schwierig dar, genügend Therapeuten für die Studie zu rekrutieren. Die Mehrzahl der Teilnehmer von GRAS, einem der wichtigsten deutschsprachigen psychodynamischen Gruppeninstitute hierzulande, führte gar keine Gruppenpsychotherapien durch. Ein verwunderliches Ergebnis! Warum macht jemand nach einer sicher nicht unaufwendigen Ausbildung zum Psychoanalytiker noch zusätzlich eine nicht wenig aufwendige Weiterbildung zum Gruppenpsychotherapeuten und bietet dann keine Gruppenpsychotherapie an? Nach Strauß vermittelte sich der Eindruck, dass die Motivation

273 Ausgewählte Aspekte der nationalen und internationalen …

eher im Bereich der die Weiterbildung begleitenden Selbsterfahrung lag, die als eine Erweiterung der zuvor stattgefundenen Lehranalyse gesehen wurde (Strauß 2007). Analog zum Fazit über die PAGE-Studie lässt sich auch die GRAS-Studie als Kind ihrer Zeit beschreiben. Es schreit auch hier förmlich nach einer Folgestudie. Studien sind nicht nur Kinder ihrer Zeit, manchmal brauchen Ideen und Studiendesigns auch ihre Zeit, bis sie dann letztlich umgesetzt werden. Und das liegt nicht zuletzt an der Frage der Finanzierung. Gefördert durch den Gemeinsamen Bundesausschuss wird aktuell vom Bundesverband Approbierter Gruppenpsychotherapeuten (BAG) der Frage nachgegangen, warum Gruppen in Deutschland vergleichsweise wenig angeboten werden (Gruppenpsychotherapeuten BdA 2018). Die Frage, warum Therapeuten, die eine Abrechnungsgenehmigung für Gruppenpsychotherapie besitzen, diese aber nicht anbieten, ist eine alte Frage. Hinter dem Akronym BARGRU (Barrieren bei GruppenpsychotherapeutInnen gegenüber der ambulanten GrPT für die GKV) verbirgt sich letztlich das Studiendesign, das so bereits vor etwa 10 Jahren von mir (RW) mit Kollegen aus dem Zetrum für Versorgungsforschung (Universität Köln) und dem damaligen Vorstand des BAG diskutiert wurde. Die Finanzierungsmöglichkeiten für Versorgungsforschung im Bereich der Gruppentherapie waren zur damaligen Zeit jedoch nicht vorhanden, sodass eine Realisierung der Studienidee nicht erreicht werden konnte. Die Zeiten haben sich zum Glück geändert, wobei das Design der Studie nahezu unverändert geblieben ist. Über Fokusgruppen (insgesamt waren vier an der Zahl geplant) mit KollegInnen, die über eine Abrechnungsgenehmigung für Gruppenpsychotherapie verfügen, diese jedoch nicht anbieten, sollten die Hindernisse oder Barrieren erfragt werden, Gruppenpsychotherapie anzubieten. Aus den Ergebnissen dieser Fokusgruppen sollte dann ein Fragebogen generiert werden, der dann

22

bundesweit unter KollegInnen, welche die Abrechnungsgenehmigung für Gruppenpsychotherapie besitzen, eingesetzt werden. Über Filterfragen sollten die KollegInnen erreicht werden, die eben keine Gruppenpsychotherapien durchführen. Im Rahmen einer „Werbeveranstaltung für die Durchführung von Gruppentherapien“ wurde in Kooperation mit der KV-Nordrhein in einer zweiteiligen Pilot-Veranstaltung (über einen Tag) zunächst eine Fokusgruppe zu den wahrgenommenen Barrieren Gruppentherapien anzubieten, durchgeführt. Diese Fokusgruppe wurde seinerzeit von Christian Schreiber-Willnow (ein Autor in diesem Buch) und mir (RW) durchgeführt. Neben den erwartbar benannten Barrieren (aufwendiges Antragswesen, zu lange Wartezeiten, eine Gruppe zusammen zu bekommen, dem Fehlen geeigneter Räumlichkeiten etc.) wurden aber im weiteren Verlauf der Diskussion auch persönliche Ängste benannt, mit Gruppen im ambulanten Setting zu arbeiten. Diese Ängste betrafen auch die Frage, ob man denn auch gut genug ausgebildet sei. Im zweiten Teil der Veranstaltung hatten die KollegInnen (es waren nicht nur Berufsneulinge anwesend!) die Möglichkeit, sich Tipps und Tricks aus der Praxis eines „alten Hasen“ (C. S. W.) zu holen. Dass Therapeuten mit Tipps und Tricks arbeiten, mag zunächst vielleicht merkwürdig klingen. Auch Herz- und Thoraxchirurgen arbeiten so (Schmid 2005). Meines Wissens gibt es keine offiziellen Angaben über die Anzahl der in Weiterbildung zur Gruppenpsychotherapie befindlichen Kollegen. In der Einzelpsychotherapie stellt die Ausbildungsforschung mittlerweile einen kleinen, jedoch wichtigen Teil der Psychotherapieforschung dar (Fincke et al. 2015; Taubner 2018). Im Bereich der Gruppenpsychotherapie gibt es dazu noch keine Daten. Es gibt lediglich eine Studie von Strauß et al. (2012), die einen erheblichen Weiterbildungsbedarf in Sachen Gruppenpsychotherapie bei stationär arbeitenden Therapeuten beschreiben konnte.

274

22

R. Weber

22.5  Ambulante Gruppenpsycho-

Zeitungsannoncen und Kontakte zu niedergelassenen Arztpraxen rekrutiert.

Neben der Forschung im naturalistischen Setting (PAGE-Studie, GRAS-Studie) finden immer wieder Forschungsprojekte zur Gruppenpsychotherapie statt, in denen verschiedene Behandlungsansätze erprobt werden. Entsprechend der allgemeinen Richtung innerhalb der Psychotherapieforschung handelt es sich dabei i. d. R. um störungsspezifische Gruppenansätze. Für Patienten mit somatoformen Störungen lassen sich gleich zwei Projekte nennen.

22.7  SophoNet-Studie (soziale

therapieforschung im universitären Kontext

22.6  Köln-Düsseldorfer-Studie

Im Rahmen einer 20 Sitzungen umfassenden psychodynamisch orientierten ambulanten Kurzgruppenpsychotherapie wurden 54 Patienten in 6 Gruppen behandelt (Weber 2004). Es konnten hohe Effektstärken in den Bereichen symptomatische Belastung, interpersonelle Problematik und Verbesserung des allgemeinen Funktionsniveaus erreicht werden, die durch eine Katamnese 12 Monate nach Therapieabschluss bestätigt wurden. Zu Beginn der Behandlungsmaßnahme wurden die Patienten mit zwei vorbereitenden Gruppensitzungen auf das folgende Behandlungsprogramm vorbereitet. Um den Gruppenprozess dieser im geschlossenen Format stattfindenden Behandlungsmaßnahme abbilden zu können, wurden die einzelnen Gruppensitzungen durch eine Einwegscheibe beobachtet, dokumentiert (Sitzordnung, Anwesenheit, Gruppenthema etc.) und gleichzeitig videografiert. Es ist völlig klar, dass dieser methodische Aufwand nicht in der Routineversorgung betrieben werden kann. Es bleibt jedoch eindrücklich festzuhalten, dass Patienten mit somatoformen Störungen von einer ambulanten Kurzgruppenpsychotherapie auch nachhaltig profitieren können. Die Patienten für diese Studie wurden über

Phobie)

Eine ähnliche Art der Rekrutierung erfolgte in einer psychodynamischen Kurzgruppentherapie (20 Sitzungen) für Patienten, die an einer sozialen Phobie litten. Im Rahmen einer Pilot-Studie mit acht Patienten wurde eine manualisierte Gruppenintervention durchgeführt, die auf Basis der supportiv-expressiven ­ Therapie nach Luborsky entwickelt wurde (Luborsky 1984). Die Grundidee dieses Therapieansatzes, der im Übrigen zu den am besten untersuchten psychodynamischen Therapieansätzen gehört, basiert auf der Annahme, dass den psychischen Störungen ein sogenannter zentraler Beziehungskonflikt zugrunde liegt (ZBKT), der in den Sitzungen im Hier und Jetzt (aktuelle Situation) und dem Dort und Damals (Vergangenheit) und auch in der aktuellen Beziehung zum Therapeuten durchgearbeitet wird (Luborsky et al. 1994). Die Erfassung des zentralen Beziehungskonflikts eines Patienten erfolgte über ein sogenanntes Beziehungsepisodeninterview, das im Rahmen von insgesamt drei einzeltherapeutischen Sitzungen vor dem Start des Gruppenprogramms durchgeführt wurde. Diese drei Sitzungen, die auch zur Erfassung der allgemeinen biografischen Anamnese dienen, haben weiterhin den Charakter einer individuellen Vorbereitung des Patienten auf die Gruppe (Vermittlung von Informationen, Klärung organisatorischer Fragen, Gruppenregeln etc.). Der Vorteil von gruppenvorbereitenden Sitzungen, die zum Beispiel in den nordamerikanischen Ländern breite Akzeptanz und Anwendung bei Gruppentherapeuten finden, liegt darin begründet, dass Patienten besser darüber aufgeklärt sind, was in den Gruppensitzungen auf sie zukommt. Insbesondere bei offenen Gruppen (dies gilt jedoch auch im gewissen

275 Ausgewählte Aspekte der nationalen und internationalen …

Sinne für geschlossene Gruppen) können sich neue Patienten besser auf den laufenden Prozess einstellen, wenn sie beispielsweise über die Regularien Bescheid wissen (Mattke 2015). Burlingame et  al. (2006) fassten die Erkenntnisse über den Wert von gruppenvorbereitenden Sitzungen wie folgt zusammen: Patienten nehmen regelmäßiger an den Sitzungen teil, die zuvor vereinbarten Therapieziele und die Aufgaben der Gruppe werden besser fokussiert. Weiterhin ist das Angebot einer Gruppenvorbereitung mit einer schnelleren Entwicklung der Gruppenkohäsion assoziiert. Zurück zur Studie. Die Ergebnisse dieser Pilot-Studie sind sehr vielversprechend. Es konnten signifikante positive Effekte (prä/ post) hinsichtlich der sozial-phobischen Symptomatik nachgewiesen werden. 22.8  PISO

­(Psychodynamischinterpersonelle Therapie)

Eingebettet in ein großes Forschungsprogramm zur Versorgung von Patienten mit somatoformen Störungen wurde eine manualisierte, störungs- und ressourcenorientierte Kurzgruppenintervention entwickelt. Die ­ psychodynamisch-interpersonelle Therapie (PISO) lässt sich als eine schulenübergreifende Interventionsform verstehen, in der psychoedukative Elemente, die Fokussierung auf den Zusammenhang von Affektregulation und Somatisierung und insbesondere die Klärung interpersoneller Prozesse bei der Symptomentstehung und -aufrechterhaltung als allgemeine Therapieprinzipien beschrieben werden (AP 2012). Erprobt wurde diese Interventionsform in verschiedenen SettingVarianten. Die so genannte PISO-klassischVersion umfasst eine 12 Sitzungen umfassende Intervention im ambulanten Einzelsetting. Schäfert et al. (2011) entwickelten eine auf PISO aufbauende Gruppenbehandlung im ambulanten Setting. Die „spezifische ­A LLgemeinmedizinisch-psychosomatische

22

Kurzgruppenintervention“ (speziALL) stellt ein Kooperationsprogramm von Hausarzt und Psychosomatiker/Psychotherapeut dar. Das Programm umfasst zehn wöchentlich stattfindende Sitzungen (90 min) plus zwei Nachtreffen. In einer cluster-randomisierten, kontrollierten Studie konnte gezeigt werden, dass Patienten, die an der interdisziplinären Gruppenintervention teilgenommen haben, im Vergleich zu Patienten, die bei Ärzten in Behandlung waren, die an einer Hausarztschulung teilgenommen haben, eine verbesserte psychische Lebensqualität, eine Reduktion der Gesundheitsangst und insgesamt weniger funktionelle Beeinträchtigungen erlebten (Schäfert et al. 2011). 22.9  Gruppenpsychotherapie

in der ambulanten Rehabilitation

Intensivierte Reha-Nachsorge-Programme (IRENA) wurden eingeführt, um die während der Rehabilitation erreichten Behandlungsergebnisse zu sichern und einen nachhaltigen und überprüfbaren Transfer des Gelernten in den Alltag zu unterstützen (zur inhaltlichen Orientierung verweise ich auf die Kapitel in diesem Buch). Trotz der weiten Verbreitung dieser wohnortnahen Nachsorgemaßnahme ist das gesicherte Wissen über das Zustandekommen der erzielten Effekte vergleichsweise gering. Weber et al. berichten über die Ergebnisse einer naturalistischen Studie, in der insgesamt 288 Patienten in 23 geschlossenen ambulanten ­ IRENA-Gruppen rekrutiert werden konnten (Weber, Langens und Schonnebeck 2017). Neben der symptomatischen Belastung und dem Ausmaß interpersoneller Probleme wurde die Bindungsorganisation des Patienten erfasst. Der Gesamtbelastungswert stellt sich zum Ende des Nachsorgeprogramms signifikant reduziert dar, bei einer mittleren Effektstärke (ES = 0,42). Im Korrelationsmodell kann ein signifikanter Zusammenhang zwischen der symptomatischen Belastung zu Beginn der

276

22

R. Weber

Maßnahme (KPD-38; Percevic et  al. 2005) und der Bindungsorganisation des Patienten, erfasst über die Skalen des Bielefelder Fragebogens für Klientenerwartungen (BFKE; Höger 1999), gezeigt werden (Akzeptanzprobleme, Öffnungsbereitschaft, Zuwendungsbedürfnis). Vergleichbare Korrelationen zeigten sich sowohl im Verlauf (10. Sitzung) als auch zum Ende des Nachsorgeprogramms (25. Sitzung). Hinsichtlich des Gruppenerlebens (erfasst mit dem Gruppenfragebogen; GQ-D; Bormann et al. 2011), und hier insbesondere der Erfassung von Beziehungsfaktoren, zeigte sich in Multilevel-Regressionsmodellen, dass das Ausmaß zur Selbstöffnung mit einem höheren Wahrnehmungslevel von Kohäsion und Engagement („positive bonding relationship“ – Verbundenheit) einhergeht. Gleichermaßen ist die Bereitschaft zur Selbstöffnung mit dem Erleben einer positiven Arbeitsatmosphäre („positiv working relationship“) assoziiert. Die Bindungsorganisation eines Individuums scheint im Rahmen der rehabilitativen Nachsorgegruppen eine ebenso wichtige Bedeutung zu haben wie in der Einzel- und Gruppenpsychotherapie. In aktuellen Analysen beschäftigen wir uns mit der Frage, welche Kombination von Bindungsstilen von Gruppenteilnehmern im Rahmen einer Gruppe einen eher günstigen oder ungünstigen Gruppenprozess und auch das Ergebnis der Gruppenintervention voraussagen können. Durch das geschlossene Format der Gruppen sind Prozessmessungen entsprechend „einfacher“ durchzuführen als mit Gruppen, in denen die Teilnehmer regelhaft wechseln, wie z. B. im stationären Kontext. 22.10  Fazit und Ausblick zur

Gruppenpsychotherapieforschung in Deutschland

Welche Schlüsse lassen sich aus der Beschreibung gruppenpsychotherapiebezogener Forschung für die Zukunft der Gruppenpsychotherapie in Deutschland ziehen? Die Antwort

ist nicht ganz einfach. Wir wissen, dass es für die in unserem ambulanten Versorgungssystem praktizierte Form der Gruppenpsychotherapie wenig empirische Evidenz gibt. Das betrifft insbesondere die psychodynamischen Verfahren. Wir wissen auch, dass es aktuell wenige praktizierende Gruppenpsychotherapeuten gibt. Vielfach wurde berichtet, dass die Zeit der Gruppen vorbei sei (König 2011), die Menschen sich eher wenig in Gruppen bewegen wollten. Dem widerspricht eine relativ aktuelle und bevölkerungsrepräsentative Befragung, die in Deutschland durchgeführt wurde, aber bislang jedoch leider nur in englischer Sprache publiziert wurde (Strauss et  al. 2015). 2512 Bundesbürger wurden nach ihren Einstellungen und Erwartungen zu Gruppen und auch zur Gruppentherapie befragt. Insgesamt zeichnet sich ein vergleichsweise positives Bild über Gruppen ab, das sich über eine hohe Bereitschaft, sich in entsprechenden Situationen in einer Gruppenpsychotherapie behandeln zu lassen oder auch betroffenen Freunden und Angehörigen die Aufnahme einer Gruppenpsychotherapie zu empfehlen, auszeichnete. Wir wissen auch, dass sich die Bedingungen für die Ausübung von Gruppenpsychotherapie durch die Novellierung der Psychotherapierichtlinien verbessert haben. Man kann sogar sagen, dass das Anbieten von Gruppenpsychotherapie attraktiver gemacht werden soll. Für 2018 hat die Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz (KV RLP) ein Gesamtfördervolumen von 250.000 EUR bereitgestellt. Bis zu einer Summe von 2500 EUR pro Person konnten die Fort- und Weiterbildungskosten von bereits niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten für die Durchführung von Gruppenpsychotherapien gefördert werden (Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz 2018). Ob sich die Akzeptanz bzw. die Bereitschaft, vermehrt Gruppenpsychotherapien anzubieten, dadurch erhöhen wird, muss sich erst noch zeigen. Mit gleicher Prüfbrille müssen die Veränderungen der Psychotherapierichtlinien (flexiblere Kontingente, vereinfachtes

277 Ausgewählte Aspekte der nationalen und internationalen …

Antragswesen, attraktive Vergütung etc.) betrachtet werden (Bundesausschuss 2017). Ein hohes Maß an Innovationsbereitschaft hat der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) mit der Entscheidung unter Beweis gestellt, die Kombinationsmöglichkeit von Einzelund Gruppenpsychotherapie im ambulanten Sektor zu ermöglichen. Statt innovativ könnte man diese Entscheidung auch durchaus mutig nennen, zumal es für diese Kombination allenfalls eine klinische Evidenz, jedoch keine empirische Evidenz aus gut kontrollierten Studien gibt (Strauß 2016). Bilanzierend kann man sagen, dass sich die strukturellen Rahmenbedingungen (Richtlinien) und die Akzeptanz von Gruppen zumindest in der Bevölkerung (also den potenziellen Patienten) verbessert haben. Inwieweit das mit einer höheren Akzeptanz bei Therapeuten einhergehen wird, Gruppentherapien anzubieten, bleibt abzuwarten. Weiterhin ist noch die Frage offen, wie man die Forschung zur Gruppenpsychotherapie in Deutschland, d. h. orientiert an den hiesigen Rahmenbedingungen des Versorgungssystems (insbesondere an den Vorgaben zu den zur Verfügung stehenden Stundenkontingenten), voranbringen kann. Das gilt im Übrigen auch für den Bereich der stationären und teilstationären Versorgung, in der die Gruppenpsychotherapie ein, wenn nicht das zentrale Behandlungsverfahren, darstellt (Strauss und Mattke 2017). Die staatlichen Fördermöglichkeiten hierfür sind leider sehr begrenzt. 22.11  Forschungsperspektiven

Forschung kostet Geld. Forschung, wie sie im universitären Kontext und internationalen Wettstreit für die besten Forschungsergebnisse durchgeführt wird, damit die Ergebnisse in Fachzeitschriften publiziert werden, die einen hohen Impact-Factor aufweisen, kostet besonders viel Geld. Diese methodisch hoch anspruchsvollen Studien werden bedauerlicherweise aber von den meisten Klinikern wiederum gar nicht zur Kenntnis genommen

22

(Weber et al. 2013). ­Randomisiert-kontrollierte Studien gelten immer noch als der Goldstandard in der Psychotherapieforschung, wobei die Stimmen, die vermehrt für den Einsatz naturalistischer Studien, d. h. Studien, die unter realen Versorgungsbedingungen durchgeführt werden, zu Recht immer lauter werden. Wie könnten solche Studien konzipiert werden? Man muss sie zunächst einmal wollen! Ein wichtiger, wenn nicht sogar notwendiger Weg dorthin könnte sein, dass bereits im Rahmen der psychotherapeutischen Weiterbildung (Einzel und Gruppe) der Bereich der Psychotherapieforschung im Curriculum fest verankert ist. Zeitökonomisch auswertbare und validierte Fragebögen sollten bereits im Ausbildungskontext Anwendung finden. Unter dem Gesichtspunkt der Dokumentation und Qualitätssicherung sollte der Einsatz von Fragebögen routinehaft stattfinden (nicht nur im Ausbildungskontext). Es wurde bereits beschrieben, dass die Angst vor Gruppen insbesondere bei Anfängern eine große Barriere darstellen kann, mit Gruppen zu arbeiten. Eine Möglichkeit wäre es, die Kollegen nach Abschluss der Weiterbildung weiter zu begleiten. Diese Aufgabe könnte von den Instituten oder durchaus von den entsprechenden Stellen der Kassenärztlichen Vereinigung geleistet werden. Im Gegenzug könnten die KollegInnen ihre Gruppen beforschen lassen. Über die Finanzierung müsste sicher kreativ nachgedacht werden. Ein möglicher Grund dafür, dass die Gruppenpsychotherapieforschung insgesamt hinter der Einzelpsychotherapieforschung hinterherhinkt, liegt sicher auch in der Komplexität von Gruppen begründet (Strauss 2016). Um aussagekräftige Studien durchzuführen, sind je nach Fragestellung hohe Fallzahlen notwendig, wobei sich der Begriff der Fallzahl an der Anzahl der Gruppen orientieren sollte und nicht an der Anzahl der Gruppenteilnehmer. Die Zusammenstellung von Gruppen ist nicht nur hinsichtlich der Frage, welcher Patient im Rahmen einer Gruppe mit welchen anderen Patienten (Krankheitsbild, Persönlichkeitsvariablen etc.) davon profitieren kann,

278

22

R. Weber

eine Herausforderung. Die Zusammenstellung einer störungsspezifischen Gruppe, für die es ja, wie oben beschrieben, schon manualisierte Behandlungsprogramme gibt (somatoforme Störungen, soziale Phobie), ist für niedergelassene Kollegen sicher nicht einfach und für Patienten, die mit der Behandlung beginnen wollen, hinsichtlich der zu erwartenden Wartezeit, sicher auch nur zeitlich begrenzt zumutbar. Hierzu wären Netzwerke von niedergelassenen Therapeuten mit somatischen Behandlern, Kliniken etc. von Vorteil. 22.12  Lizenzfreie Mess-

instrumente für Gruppenpsychotherapeuten

Im nordamerikanischen Sprachraum wurde von der American Group Psychotherapy Association (AGPA) eine sogenannte CORE-Battery zusammengestellt, in der ­ im Schwerpunkt gruppenspezifische Messinstrumente benannt sind, die nicht nur im Forschungskontext bedeutsam sind (Burlingame et al. 2006. Vergleiche hierzu auch die ausführliche Beschreibung der CORE-Battery bei Strauss und Mattke (Leszcz und Kobos 2017). Vom Group Selection Questionnaire (GSQ), einem Instrument, das die Fähigkeit eines Patienten zur Teilnahme an einer Gruppenpsychotherapie vor Aufnahme der Maßnahmen erfassen kann, liegt eine deutschsprachige Version vor (Löffler et al. 2007). Eine gut validierte Version des amerikanischen Group Questionnaires (GQ) liegt ebenfalls in deutscher Sprache vor. Der GQ-D (Bormann et al. 2011) erfasst auf verschiedenen Ebenen (Gruppenleiter, einzelne Gruppenmitglieder, gesamte Gruppe) therapeutische Beziehungsfaktoren (Verbundenheit, Arbeitsbeziehung, negative Beziehung) und bildet damit als Prozessinstrument einen zentralen Wirkfaktor der Gruppenpsychotherapie ab. Eine gute Übersicht über deutschsprachige Messinstrumente, die nicht lizensiert sind und sich mit allgemeinen

Themenfeldern von Psychotherapie beschäftigen (symptomatische Belastung, Aspekte der therapeutischen Allianz, dem allgemeinen Funktionsniveau etc.), findet sich bei Schäfer (2010). 22.13  Schlussfolgerung

Die internationale Befundlage zur empirischen Evidenz von Gruppenpsychotherapie ist vielversprechend. Die Ergebnisse zahlreicher Meta-Analysen (siehe oben) lassen den Schluss zu, dass Gruppenpsychotherapien sehr effektiv sind und den Ergebnissen der Einzelpsychotherapie nicht nachstehen. Einschränkend ist jedoch festzuhalten, dass es eine sehr geringe Evidenz für psychodynamische Gruppenansätze gibt und sich die Ergebnisse i. d. R. auf Forschungen mit störungsspezifischen Gruppen beziehen. Forschung zu Gruppen mit gemischten Diagnosen ist vergleichsweise wenig vorhanden (Burlingame et  al. 2013). Weiterhin fehlen aussagekräftige Studien, die eine Relevanz für das bundesdeutsche und insbesondere das ambulante gruppenpsychotherapeutische Versorgungssystem haben. Die Zeit zum Zurücklehnen ist noch lange nicht gekommen!

Literatur AP (Hrsg.). (2012). Psychodynamisch-Interpersonelle Therapie bei somatoformen Störungen (PISO). Eine manualisierte Kurzzeitintervention. Göttingen: Hogrefe. Bormann, B., Burlingame, G. M., & Strauß, B. (2011). Der Gruppenfragebogen: Die deutsche Version des Group Questionnaire (GQ-D) – Ein Instrument zur Messung von therapeutischen Beziehungen in der Gruppenpsychotherapie. Psychotherapeut, 56, 297–309. Bundesausschuss, G. (2017). Richtlinie des Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie. Burlingame, G. M., Strauss, B., Joyce, A. S., Mac-NairSemands, R., McKenzie, K. R., Ogrodniczuk, J. S., & Taylor, S. M. (2006). CORE-Battery – revised:

279 Ausgewählte Aspekte der nationalen und internationalen …

An assessment tool kit for promoting optimal group selection, process and outcome. New York: American Group Psychotherapy Association. Burlingame, G., Strauss, B., & Joyce, A. (2012). Small group treatment: Evidence for effectiveness and mechanisms of change. In M. L. Lambert (Hrsg.), Bergin & Garfield’s handbook of psychotherapy and behavior change. New York: Wiley. Burlingame, G. M., Joyce, A., & Strauss, B. (2013). Small group treatment: Evidence for effectiveness and mechanisms of change. In M. L. Lambert (Hrsg.), Bergin & Garfield’s Handbook of psychotherapy and behavior change (6. Aufl., S. 640–689). New York: Wiley. Fincke, J. I., Moller, H., & Taubner, S. (2015). Does interpersonal behavior of psychotherapy trainees differ in private and professional relationships? Front Psychology, 6, 765. Gruppenpsychotherapeuten BdA. (2018). BARGRU-Studie: Welche Barrieren sehen GruppenpsychotherapeutInnen gegenüber der Ambulanten Gruppenpsychotherapie? Heinzel, R., Breyer, F., & Klein, T. (1998). Ambulante analytische Einzel- und Gruppentherapie in einer bundesweiten katamnestischen Evaluationsstudie. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 34, 135–152. Helliker, K. (2009, March 24). No joke: Group therapy offers savings in numbers. The Wall Street Journal. Höger, D. (1999). Der Bielefelder Fragebogen zu Klientenerwartungen (BFKE). Ein Verfahren von Bindungsstilen bei Psychotherapie-Patienten. Psychotherapeutic, 44, 159–166. Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz. (2018). Richtlinie zur Förderung ärztlicher und psychotherapeutischer Fort- und Weiterbildung innerhalb der KV RLP. König, O. (2011). Vom allmählichen Verschwinden der Gruppenverfahren. Psychotherapeutic, 56, 287–296. Leszcz, M., & Kobos, J. C. (2017). Wie wissenschaftliche Evidenz praktisch genutzt werden kann: Gruppenpsychotherapie und die „Leitlinien für die klinische Praxis“ der American Group Psychotherapy Association (AGPA). In B. Strauss & D. Mattke (Hrsg.), Gruppenpsychotherapie – Ein Lehrbuch für die Praxis. Berlin: Springer. Löffler, J., Bormann, B., Burlingame, G., & Strauß, B. (2007). Auswahl von Patienten für eine Gruppenpsychotherapie. Validierung der deutschen Version des Group Selection Questionnaires (GCQ). Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 55, 75–86. Luborsky, L. (1984). Principles of Psychoanalytic Psychotherapy. A manual for supportive-expressive treatment. New York: Basic Books.

22

Luborsky, L., Popp, C., & Luborsky, E. (1994). The core conflict relationship theme. Psychotherapy Research, 4, 172–183. Mattke, D. (2015). Vorbereitung auf die stationäre/ teilstationäre Gruppentherapie – ein Manual. In D. Mattke, U. Streeck, & O. König (Hrsg.), Praxis stationärer und teilstationärer Gruppen (S. 32–48). Stuttgart: Klett-Cotta. Percevic, R., Gallas, C., Wolf, M., Haug, S., Hünerfauth, T., Schwarz, M., & Kordy, H. (2005). Das KlinischPsychologische Diagnosesystem 38 (KPD-38). Entwicklung, Normierung und Validierung eines Selbstbeurteilungsbogens für den Einsatz in Qualitätssicherung und Ergebnismonitoring in der Psychotherapie und psychosomatischen Medizin. Diagnostica, 51, 133–144. Schäfer, S. (2010). Immer eine gute Wahl: Lizenzfreie Testverfahren. Psychotherapie Aktuell, 3, 12–17. Schäfert, R., Kaufmann, C., & Schellberg, D. (2011). Verbessert eine spezifische ­ALLgemein­medizinisch-psychosomatische Kurzgruppenintervention in der Hausarztpraxis die Lebensqualität von Patienten mit somatoformen Syndromen? – 12-Monats-Evaluation der speziALL-Studie. Psychotherapie Psychosomatik Medizinische, 61, A071. Schmid, C. (2005). Tipps und Tricks für den Herz- und Thoraxchirurgen: Problemlösungen von A–Z. Berlin: Thieme. Strauß, B. (2007). Spannungsfelder um die klinische Gruppenpsychotherapie – Zwischen Spezialisierung und Integration. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 43, 201–217. Strauß, B. (2016a). Die Kombination von Einzel- und Gruppenpsychotherapie aus Sicht der Psychotherapieforschung. Psychodynamische Psychotherapie, 15, 116–171. Strauss, B. (2016b). Zum Stand der empirischen Forschung in der psychodynamischen Gruppenpsychotherapie. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 52, 111–127. Strauß, B., & Kirchmann, H. (2004). Eine naturalistische Studie zu Veränderungen und therapeutischen Faktoren in der Gruppenanalyse – Ergebnisse der „GRAS-Studie“. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 40, 395–416. Strauss, B., & Mattke, D. (2017). Gruppenpsychotherapie – Lehrbuch für die Praxis (2. Aufl.). Berlin: Springer. Strauß, B., Schreiber-Willnow, K., Kruse, J., Schattenburg, L., Seidler, K. P., Fischer, T., Papenhausen, R., Möller, E., Dobersch, D., Wünsch-Leiteritz, A., Huber, Th, Kriebel, R., Liebler, A., Mattke, D., Weber, R., & Bormann, B. (2012). Ausbildungshintergrund, Alltagspraxis und Weiterbildungsbedarf von Gruppenpsychotherapeuten in der stationären Psychotherapie – Ergebnisse einer Umfrage. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 58, 394–408.

280

22

R. Weber

Strauss, B., Spangenberg, L., & Brähler, E. (2015). Attitudes towards (psychotherapy) groups: Results of a survey in a representative sample. International Journal of Group Psychotherapy, 65, 410–430. Strauss, B., Barkowski, S., Schwartze, D., & Rosendahl, J. (2016). Aktueller Stand der Gruppenpsychotherapieforschung. Befunde der Ergebnis- und Prozessforschung. Psychotherapeut, 61, 364–375. Talia, A., Muzi, L., Lingiardi, V., & Taubner, S. (2018). How to be a secure base: Therapists’ attachment representations and their link to attunement in psychotherapy. Attachment Human Development, 18, 1–18. Tschuschke, V., & Anbeh, T. (2008). Ambulante Gruppenpsychotherapie. Stuttgart: Schattauer. Weber, R. (2004). Die Behandlung somatoformer Störungen in der zeitbegrenzten, psychodynamisch orientierten Gruppenpsychotherapie. Psychodynamische Psychotherapie, 3, 31–38.

Weber, R., & Weinberg, H. (2015). Group therapy around the world. International Journal of Group Psychotherapy, 65, 483–489. Weber, R., Ogrodniczuk, J. S., Schultz-Venrath, U., & Strauß, B. (2013). Zum Verhältnis von Forschung und klinischer Praxis – Ergebnisse der Mitgliederbefragung der Deutschen Gesellschaft für Gruppenanalyse und Gruppenpsychotherapie (D3G) zur Wahrnehmung von Psychotherapieforschung. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 49, 37–52. Weber, R., Langens, T., & Schonnebeck, M. (2017). Einfluss von Bindungsmerkmalen auf das Erleben von Gruppensitzungen im Rahmen der Intensiven Rehabilitativen Nachsorge (IRENA). 26 Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium Deutscher Kongress für Rehabilitationsforschung, DRV-Schriften Bd. 111. München.

281

Serviceteil

Stichwortverzeichnis – 283

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Mattke, M. Pröstler (Hrsg Formen ambulanter Gruppentherapie, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59092-8

283

A–F

Stichwortverzeichnis

A

B

D

Abbruchquote  135 Abschiedsritual  140 Abschlussrunde  219 Achtsamkeit  24, 26 Achtsamkeitskonzept  25 Achtsamkeitsübung  196 Affekt  53, 99, 100 Affektregulation  97 Affekttoleranz  141 Aggression  76 Aktionssoziometrie  227 Akzeptanz  199 Akzeptanz- und Commitmenttherapie  198 Alexithymiekonzept  25 Allianz, therapeutische  222 Allianzruptur  151 Als-ob-Modus  101 Altersspektrum  48 Anamnesefragebogen  244 Anatomie und Physiologie von Gruppen  4 Anfangsphase  76 Angst  53, 54 Angstreduktion  149 Anna-Freud-Center  134 Ansatz, tiefenpsychologisch fundierter  63 Antigruppe  100 Antrag für Langzeittherapie  250 Antragstellung  54, 248 Approbation als Psychotherapeut  3 Äquivalenzmodus  100 Arbeit, psychologische  8 Arche-Noah-Prinzip  136 Archetyp  60, 61 Asen, Eia  134 Assoziation  75 Atmosphäre  53 Atom, soziales  231 Attunement  86 Aufklärung  49 Aufmerksamkeitsebene  85 Aufnahmeritual  139 Ausbildungsforschung  273 Ausfallhonorar  244, 249

Balancemodell  209 Bedeutung  74, 78 Bedürfnis nach Unterstützung  223 Behandlung – kurze  56 – lange  56 – parallele  156 Behandlungsergebnis  55 Behandlungsmotivation  207 Behandlungszeit  55 Belastung am Arbeitsplatz  216 Belastungsstörung, posttraumatische  137 Beobachterrolle  222 Bereitstellungsgebühr  138 Berichte an die Gutachter  45 Bewusstsein, träumendes  65 Beziehung, therapeutische  110 Beziehungsgestaltung  221 Beziehungsprozess  111 Beziehungsquaternio  86 Beziehungswissen, implizites  146 Bindung, sichere  147 Bindungsbedürfnis  110 Bindungserfahrung  134 Bindungsstörung  146 Bindungstheorie  25, 26 Bion, Winfried  43 Blitzlicht  18, 141, 219 Borderline-Persönlichkeitsstörung  96 Brille, biographisch getönte  152

Defizit, strukturelles  149 Demenz  50 Denken  28 Depressionsbewältigungsgruppe  125, 126 Deutung  104 Diskrepanzerfahrung  148 Dokumentation  250 Doppeln  228 Drüsen, endokrine  26 Dysregulation  99

C Clevermodus  198 Combined therapy  146 Computeranalogie  51 Concurrent therapy  146 Conjoint therapy  146 Consecutive therapy  146 Containing  159 Co-Therapeuten  138

E Eignung zu Gruppentherapie  240 Einbindung, kognitive  26 Einzel-Kurzzeittherapie  134 Einzelsitzung  244 Einzeltherapie  243 Element, psychoedukatives  24 Elternmodus  198 Entlastung, emotionale  27 Epistemic trust  97, 134 Erfahrungsbericht  135 Erstgespräch  205 Erstinterview  239 Ersttelefonat  239 Essstörung  157 Evidenz von Gruppenpsychotherapie  271

F Fähigkeit zur Selbstberuhigung  26 Faktor, supportiver  8 Fallkonzeption  196 Fallvignette  170 Farrell, J.  193 Feedback  68, 230 Fertigkeiten und Bewältigungsstrategien  120 Fokusgruppe  273 Fonagy, Peter  134 Forschung, neurobiologische  25 Forschungsgutachten  17

284

Stichwortverzeichnis

Fortsetzungsverhandlung  52 Foulkes, Sigmund Heinrich  42 Foulkesʼsche Gruppentherapie  180 Frauengruppe  136 Frequenzstatistik  14 Freude  18 Frühstörung  24 Furcht – vor Ablehnung  222 – vor Kritik  222

G Gefühl  212 Gegenübertragung  156, 158, 159, 161, 162 Gegenwartsmoment  111 Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA)  2 Genussfähigkeit  231 Geschenk  11 GRAS-Studie  272 Grundbedürfnis  192 Gruppe – beziehungsorientierte  12 – einzelfallorientierte  12 – interaktionsorientierte  12 – konfliktorientierte  12 – konkrete  18 – methodenorientierte  12 – nach Einzeltherapie (E&G)  56 – problemspezifische verhaltenstherapeutische  120 – störungsorientierte  12 Gruppenanalyse  74 Gruppenangst  147 Gruppenfähigkeit  241 Gruppenkohäsion  226, 275 Gruppenkomplex  88 Gruppenleiter  79 Gruppenleitung  6 Gruppennorm  102 Gruppenpsychotherapie  44, 82 – analytische  74 Gruppenregel  194 Gruppentherapie, interpersonelle  270 Gruppentherapieforschung  269 Gruppentherapiemodell, tiefenpsycholgisch-interaktionelles  25 Gruppenübung  18 Gruppenvorbereitung  6, 40, 274

H Haltung, permissive  182 Hausaufgabe, therapeutische  125 Herausforderungen, geschlechtsspezifische  136 Hilfs-Ich-Funktion  212 Hirnwellen  60 Hoffnung auf Veränderung  9 Holding  159 Honorierung  251

I ICD-10  17 Identifikation, projektive  256 Identitätsangst  147 Identitätskonflikt  32 Imagination  67, 213 Imaginationsübung  197 Indikation von Gruppentherapie  240 Indikationsstellung  120–122, 124 Indikationsüberlegung  247 Individuationsprozess  61, 68 Informationsgabe  26 Integration  157, 158, 162 Intentionalität  96 Interaktion – setting-spezifisch gruppendynamische  13 – themenzentrierte (TZI)  207 – Modell  209 Interpretation und Einsicht  9 Intersubjektivität  96 Intervention, schulenübergreifende  217 Interviewerspiel  194 Intervision  217

J Jugendlichengruppe  193

K Katharsis  8 Kernbedürfnis  192 Kindergruppe  193 Kindergruppenkonzepte  181 Kindergruppentherapie  182 Klärung

– von Befürchtungen  218 – von Erwartungen  218 Kleingruppe  4 Kohäsion  77, 138, 206 Kohäsionsbildung  10 Kombination  146 – mögliche, von zieloffener Gruppen- und begleitender Einzeltherapie  166 – von Einzel- und Gruppentherapie  166, 169, 174 Kombinationsbehandlung  158 Kombinationstherapie  244 Kommentar für die Richtlinien  13 Kommunikation, gewaltfreie  210 Kommunikationsregel  208 Kompetenz, soziale  64 Komplex  82 Komplexgeschehen  82 Komplexinfektion  89 Komplexreaktion  83 Komplextheorie  82 Komplikation  55 Kompromissbildung, interpersonelle  25 Konfrontation  223 Konkretismus  101 Konsiliarbericht  247 Kontraindikation  50 Körper-Modus  100 Ko-Therapeut  102 Krankenversicherung, gesetzliche (GKV)  3 Krankheits- und Behandlungslehre  17 Krankheitsbegriff  17 Krankheitskonzept, biopsychosoziales  24–26 Kränkung, narzisstische  256 Krisenfall  134, 138

L Langeweile  101 Lebensphase  48 Leiterverhalten, aktiv-strukturierendes  125 Lernen – am Modell  11 – interaktionelles  24 – interpersonelles  8, 10 Limbisches System  26

285 Stichwortverzeichnis

M

O

Q

Malen  67 Märchen  60 Märchenarbeit  67, 68 Matrix  43, 74, 181 Medikamentenphobie  33 Medizin, evidenzbasierte  15 Mentalisieren  96 Mentalisierung  24, 26 Mentalisierungsdefizit  96 Mentalisierungsfähigkeit  26, 136 Mentalisierungsschwäche  24 Mentalisierungstheorie  25 Merkblatt  138 Methode, interaktionelle  157 Methodenwechsel  49 Minderwertigkeitskomplex  82 Modell – der Verhaltenssteuerung  196 – interpersonales  16 Modus  192 Modus, teleologischer  100 Modusbewusstsein  196 Modusfragebogen  194 Modusidentifikation  197 Modusinterview  197 Modusklasse  195 Moduslandkarte  193 Modusmanagement  197 Modusmodell  192 Modusveränderung  197 Motivation  218 Muster, dysfunktionales neurotisches  209 Mutter, alleinerziehende  50 Mutterbeziehung  136 Mutterkomplex  82 Mütterlichkeit, primäre  86

Objektbeziehungstheorie  9 Objekt-Repräsentanz  100 Ödipuskomplex  82 Öffentlichkeitsarbeit  238 Ökonomie von Gruppenpsychotherapien  269 OPD  25

Qualitätszirkel  54

N Nachsorge  216 Nachsorgegruppe  204, 216 Neidkomplex  82 Nervensystem, vegetatives  26 Netzwerk  180 Neurose  180 Nocebo-Effekt  33 Norm, gesellschaftliche  54 Notfallplan  199

P PAGE-Studie  56, 272 Persönlichkeitsstil  212, 216 Persönlichkeitsstörung  97, 216 Perspektive – der Gruppenleitung  168 – inhaltliche  169 – quantitative  167 – sequenzielle  167 Phasenmodell der Gruppenentwicklung  7 Plastizität, neuronale  26 Plazebo-Effekt  33 prämentalistische Modi  99 Praxis-Organisation  135, 238 Priming  51 Programmierung  51 Prüfung an der Realität  222 Pseudomentalisieren  101 Psychodrama  226 – Technik  228 Psychodynamik  181 Psychoedukation (PE)  24, 25, 53, 98, 128 – in der Gruppe  27 Psychoedukation, Kasuistik  28 Psychologie, analytische  82 Psychopharmakaeinnahme  33 Psychose  50 Psychotherapeuten-Gesetz (PTG)  16 Psychotherapie – kombinierte  158–160 – positive  209 Psychotherapie, mentalisierungsbasierte  96 Psychotherapieforschung  271 Psychotherapierichtlinie  51 – 2017  250 Psy-Rena  204, 216 Psy-RENA – Gruppe  226

F–S

R Rahmen  184, 244 Reaktion, komplexhafte  82 Redestab  64 Regel  67, 244 Regulationsinstanz  195 Rehabilitation  216 – berufliche  222 Rehabilitationsmaßnahme  204 Reha-Nachsorge-Programm, intensiviertes (IRENA)  275 Reinszenierung  180 Resonanz  51 Resonanzphänomen  96 Ressource  231 Ressourcenaktivierung  195, 207 Ressourcen-Atom  232 Ressourcenmodell, Züricher  218 Ressourcenorientierung  219 Reverie  86 Richtlinienverfahren Gruppentherapien  2 Rollenspiel  11, 142, 198, 212 Rückfallprophylaxe  199 Rückkoppelungsprozess  100 Rückmeldung  140

S Saal voller Spiegel  11 Salutogenese  231 Scham  97 Schema  192 Schemafragebogen  194 Schematherapie  192 Schematherapiegruppe  193 Schichtarbeiter  50 Schlafen  28 Schmerz, chronischer  28 Schnittstelle, neurobiologische  26 Selbstexploration  229 Selbsthilfetechnik  213 Selbstöffnung  8 Selbstsicherheitstraining  120–123, 126, 128 Selbstwertkonflikt  32

286

Stichwortverzeichnis

Selbstwertregulierung  141 Setting  184 – paralleles  156 Sharing  229 Shaw, I.  193 Sitzung, probatorische  48, 49, 243 Sitzungsende  52 Sitzungseröffnung  51 Slow-Open-Gruppe  139, 248 SMARAGD (Systematic Reviews and Meta-Analysis of Small Group Treatment for Mental Disorders)  271 SMI-Fragebogen  195 SophoNet-Studie  274 Soziometrie  227 Spaltung  156–158, 160, 161 Spaltungsübertragung  152, 158 Spiegelungsphänomen  96 Stabilisierung  207 Stabilisierungstechnik  195 Status, sozialökonomischer  135 Stellvertreterkonflikt  260 Stoppregel  53 Störung – Ich-strukturelle  24 – interaktionelle  25 – somatoforme  24 – strukturelle  24, 25 Stressbewältigungsprogramm von Kaluza  226 Stressverstärker, persönlicher  233 Struktur  158, 162 – emergente  6 – und Prozesse von Gruppen  4 Stuhldialog  197 Suizidalität  55 Symbol  62 Symbolisierungsfähigkeit  212 Symptomerläuterung  26 Synergieeffekte nützen  169 Systemlogik von Fachpolitik und Berufspolitik  15

T Technik – emotionsaktivierende  194, 197 – erlebnisbasierte  194

Terminservicestelle (TSS)  14 Thalamus  26 Theorie, interpersonale, der Psychiatrie  13 Therapie – parallele  156 – psychodynamisch-interpersonelle (PISO)  275 – supportiv-expressive  274 Therapieabbruch  223, 245 Therapiebericht  248 Therapieende  52, 262 Therapiekonzept, manualisiertes  120 Therapieziel  218 Transaktionsanalyse  210 Transformation  79 Trauma  28 Traumatherapie  211 Traumatisierung  50 Träume der Menschheit  61 Träumen  28 Triangulierungsprozess  256

U Übergangsraum  182 Übertragung  136, 156, 158–162 Übertragungskomponente  161 Übertragungspotenzial  136 Übertragungsspaltung  156, 158 Umgang mit gestressten und genervten Ärzten  33 Umwandlungsantrag  135 Unbewusstes, kollektives  65 Unterstützung  54

V Validieren  100 Vaterkomplex  82 Verabschiedungsritual  139 Veränderungsprozess  110 Veränderungstheorie, formale  4 Verarbeitung, somatoforme  25 Verarbeitungsmuster, dysfunktionales  206 Verbundenheit  218

Vereinbarung zur Gruppenpsychotherapie  49 Verfahren, psychodynamisches  8 Verhaltenstherapie  8, 110 Versorgung, ambulante psychotherapeutische  2 Vertrauen, epistemisches  134 Vertraulichkeit  138 Vier-Ohren-Modell  210 Vorbehandlung  134 Vorbereitung der Teilnehmer  124 Vorgespräch  207, 217

W Wachbewusstsein  65 Wahlfreiheit, individuelle  15 Wartezeit  14 Wirkfaktor – der Gruppe  212, 226 – gruppentherapeutischer  120, 126 – therapeutischer  7 Wirklichkeit, geteilte  148 Wirtschaftlichkeitsgebot  49 Workshop, kasuistischer  181

Y Yalom’scher Wirkfaktor  8 Young, Jeffrey E.  192

Z ZBKT (zentraler Beziehungskonflikt)  274 Zeitstruktur  206 Zurückstellen eigener Bedürfnisse  220 Zusammenstellung der Gruppe  123 Zuschauerrolle  139 Zustand, traumatischer  249