Formen kulturellen Wandels [1. Aufl.] 9783839418703

Menschliche Kulturen befinden sich in einem Prozess beständiger Umgestaltung und unterliegen mitunter radikalen Veränder

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Formen kulturellen Wandels [1. Aufl.]
 9783839418703

Table of contents :
Inhalt
Formen kulturellen Wandels — eine Einleitung
Triebkräfte soziokultureller Dynamik. Ein Vier-Ebenen-Modell des sozialen Wandels
Möglichkeit und Intentionalität. Über die grundlegenden Bedingungen von historischen Veränderungen
Kultur zwischen Bewahrung und Veränderung. Eine hermeneutische Perspektive
Wieviel Herkunft braucht die Zukunft? Zur Struktur reformistischer und revolutionärer kultureller Transformationen
Fortschritt als Merkmal wissenschaftlichen Wandels
Kultureller Wandel und transkulturelle Erinnerung
Wandel durch Prekarisierung. Zur kulturellen Dimension der Prekarisierung von Arbeit und Leben
In-der-Mitte-Sein. Zur Struktur gelingenden Handelns
Wandel in der Kunst. Überlegungen zum Verhältnis der Künste
The Man Who Shot Liberty Valance oder. Von der Undurchsichtigkeit normativen Wandels
Zur Antizipation zukünftigen Wandels
Die Autorinnen und Autoren

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Stefan Deines, Daniel Martin Feige, Martin Seel (Hg.) Formen kulturellen Wandels

Edition Moderne Postmoderne

Stefan Deines, Daniel Martin Feige, Martin Seel (Hg.)

Formen kulturellen Wandels

Publiziert mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Stefan Deines, Daniel Martin Feige, Martin Seel Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1870-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Formen kulturellen Wandels — eine Einleitung Stefan Deines, Daniel Martin Feige und Martin Seel | 7

Triebkräfte soziokultureller Dynamik Ein Vier-Ebenen-Modell des sozialen Wandels Hartmut Rosa | 23

Möglichkeit und Intentionalität Über die grundlegenden Bedingungen von historischen Veränderungen Doris Gerber | 69

Kultur zwischen Bewahrung und Veränderung Eine hermeneutische Perspektive Emil Angehrn | 87

Wieviel Herkunft braucht die Zukunft? Zur Struktur reformistischer und revolutionärer kultureller Transformationen Stefan Deines | 103

Fortschritt als Merkmal wissenschaftlichen Wandels Cornelis Menke | 125

Kultureller Wandel und transkulturelle Erinnerung Astrid Erll | 141

Wandel durch Prekarisierung Zur kulturellen Dimension der Prekarisierung von Arbeit und Leben Oliver Marchart | 159

In-der-Mitte-Sein Zur Struktur gelingenden Handelns Mario Wenning | 173

Wandel in der Kunst Überlegungen zum Verhältnis der Künste Daniel Martin Feige | 197

The Man Who Shot Liberty Valance oder Von der Undurchsichtigkeit normativen Wandels Martin Seel | 221

Zur Antizipation zukünftigen Wandels Johannes Rohbeck | 247

Die Autorinnen und Autoren | 271

Formen kulturellen Wandels — eine Einleitung Stefan Deines, Daniel Martin Feige und Martin Seel

I. L EITFR AGEN EINER THEORIE KULTURELLEN W ANDELS Es ist ein Merkmal menschlicher Kulturen, dass sie sich in einem Prozess stetiger Veränderung befinden und Gegenstand mitunter radikaler Umgestaltungen sein können. Blickt man zurück auf die menschliche Geschichte, wird offensichtlich, in welch starker Weise sich die kulturelle Welt in den vergangenen Jahrhunderten und selbst Jahrzehnten transformiert hat. Die Dynamik der Veränderung ist dabei umfassend und betrifft politische Systeme und technische Innovationen genauso wie den Wandel von wissenschaftlichen Theorien und künstlerischen Strömungen, von Ideen, Werten und Praktiken; und diese Dynamik scheint stetig und unaufhaltsam zu sein. Kultureller Wandel muss sich natürlich nicht immer binnen kurzer Zeit und radikal vollziehen. Zudem sind menschliche Kulturen immer auch durch bestimmte Formen von Bewahrung, Tradierung und Institutionalisierung, das heißt durch unterschiedliche Weisen der Stabilisierung geprägt, vor deren Hintergrund sich Wandel überhaupt erst vollziehen kann. Aber trotz solch stabilisierender Tendenzen bleibt Kultur stets offen für Veränderung. Selbst die Praktiken der Bewahrung, Tradierung und Institutionalisierung führen nicht zu einer Stillstellung von Dynamiken und zur Etablierung eines unveränderlichen Status quo, sondern sind als lebendige Praktiken immer auch durch eine Pluralität von Auslegungen des Tradierten sowie durch verschiedene Formen seiner Reaktualisierung geprägt. Sie erweisen sich damit selbst als dynamisch. Der vorliegende Sammelband möchte das Verständnis des komplexen Phänomens des kulturellen Wandels befördern. Dabei sollen verschiedene Aspekte herausgearbeitet werden, die für kulturelle Transformations-

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prozesse kennzeichnend sind. Sie verbinden sich mit folgenden Fragen: Was sind Bedingungen, konkrete Anlässe und Triebkräfte des kulturellen Wandels? In welchem Maß kann er geplant und reglementiert werden? Welches sind die Agenten des Wandels? Wie lassen sich die Mechanismen, Praktiken und Geschwindigkeiten des Wandels beschreiben? Gibt es verschiedene Formen und Logiken von Prozessen des kulturellen Wandels? Wo liegen die Grenzen des Wandels? In welchem Maße lässt sich zukünftiger Wandel antizipieren? Im Folgenden sollen diese Fragen systematisch aus vier Perspektiven genauer konturiert werden, die wichtige Eckpunkte einer Theorie kulturellen Wandels erörtern und auf die in unterschiedlicher Weise im Rahmen der einzelnen Beiträge des Bandes geantwortet wird. Dabei handelt es sich um vier Fragekomplexe, die die Grundformen kulturellen Wandels, die Ausdifferenziertheit des Wandels, die Kräfte des Wandels und schließlich die Antizipierbarkeit des Wandels thematisieren.

a.) Grundformen des Wandels Fragen nach spezifischen Logiken des Verlaufs von Geschichte sind seit Beginn des Nachdenkens über die Mechanismen historischen Wandels ein zentrales Thema der Geschichtsphilosophie.1 Antworten auf diese Fragen haben insofern direkte Konsequenzen für eine Theorie des kulturellen Wandels, als dieser aus verschiedenen theoretischen Perspektiven jeweils anders konturiert wird. Als grundlegende Alternative ist dabei vor allem diskutiert worden, ob Prozesse kultureller Transformation eher als kontinuierliche Entwicklungen oder eher als diskontinuierliche Umbrüche zu fassen sind – ob diese Prozesse also eher in Begriffen der Reform oder Evolution oder aber in Begriffen der Revolution oder des Umbruchs beschrieben werden sollten. Schematisch lässt sich hier einerseits eine geschichtsphilosophische Traditionslinie nachzeichnen, die historische Pro1 | Vgl. einführend zur Geschichtsphilosophie etwa Emil Angehrn: Geschichtsphilosophie. Stuttgart: Kohlhammer 1991. Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. Johannes Rohbeck: Geschichtsphilosophie zur Einführung. Hamburg: Junius 2004. Herta Nagl-Docekal und Johannes Rohbeck (Hg.): Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003. Thomas Zwenger: Einführung in die Geschichtsphilosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005.

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zesse als von Kontinuität bestimmt sieht: hierzu zählen etwa Rousseau, Kant, Condorcet und Gadamer. Andererseits lässt sich eine Traditionslinie markieren, die die Diskontinuitäten und Brüche in der Geschichte herauszustellen versucht: von Herder über den späten Heidegger bis hin zu Fleck, Kuhn und Foucault. Dabei ist zu beachten, dass mit der Frage nach derartigen Logiken des Wandels noch nicht notwendig etwas über Richtungen des Wandels gesagt ist. So finden sich sowohl Niedergangs- als auch Fortschrittsgeschichten sowohl in der kontinuierlichen als auch in der diskontinuierlichen Traditionslinie. Es ist die Aufgabe einer Theorie kulturellen Wandels, zu erörtern, wie diese Alternative zu verstehen ist und inwieweit es sich hier überhaupt um eine Alternative handelt. So ließe sich diesbezüglich bereits mit Blick auf Hegel fragen, ob eine solche Dichotomie hier nicht unterlaufen wird, wenn retroaktiv von teleologischen Entwicklungsprozessen ausgegangen wird, die sich aber mitunter auch durch radikale Umbrüche entfalten.2 Um diese Frage zu klären, müssen einerseits Kriterien dafür formuliert werden, wann es sich um kontinuierliche und wann es sich um diskontinuierliche Formen der Transformation handelt. Andererseits muss präzisiert werden, was genau der Gegenstand des Wandels ist, der analysiert werden soll: Handelt es sich hier um Überzeugungen einer kulturellen Gemeinschaft, ihre grundlegenden Selbstverständnisse, um den Zusammenhang und die Form ihrer Praktiken, um ihre normativen Orientierungen oder ihre Institutionen? Die sich damit aufdrängende Frage nach der internen Struktur von Lebensformen und nach der Ausdifferenziertheit und Unterschiedlichkeit verschiedener Bereiche einer Kultur – von Kunst über Politik bis hin zu Wissenschaft und Religion – führt zu einem zweiten eigenständigen Komplex von Fragen.

2 | Bei der Teleologie der hegelianischen Geschichtsphilosophie handelt es sich insofern um eine retroaktive Teleologie, als Hegel der Meinung ist, dass sich die Gerichtetheit des Gangs der Geschichte allein im Rückblick erschließen lässt. Mit anderen Worten: Geschichte kann als ein Ganzes nur vom Endpunkt her erzählt werden, da jede historisch spätere Epoche qualitative Veränderungen mit sich bringt, die die historisch früheren Epochen in einem neuen Licht erscheinen lassen.

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b.) Ausdifferenziertheit des Wandels In vielen geschichtsphilosophischen Ansätzen sind die Prozesse der Veränderung als globale Prozesse verstanden worden, das heißt die Gesellschaft oder die Kultur als Ganze betreffend.3 Mit Blick auf Überlegungen zu einer Theorie des kulturellen Wandels scheint es uns aber ergiebiger zu sein, nicht eine einzige und einheitliche Form des Wandels zu postulieren, die für eine Kultur als Ganze gelten würde. Vielmehr scheint die Annahme produktiv, dass es unterschiedliche Arten des Wandels in verschiedenen Bereichen einer Kultur gibt – oder sogar die Annahme, dass es selbst innerhalb eines Bereichs einer Kultur unterschiedliche Arten des Wandels geben könnte. Denn die Prozesse der Veränderung, wie wir sie etwa in der Politik, in den Naturwissenschaften, in den Künsten, in der Mode, in unserer Sprache oder in den verschiedenen Formen öffentlichen und privaten Lebens finden, sind sehr unterschiedlicher Natur. Diese Bereiche der Kultur scheinen einerseits selbst in unterschiedlichem Maße von Veränderung geprägt zu sein. So ist etwa der Bereich der Mode stets auf Veränderung ausgerichtet, während in den Institutionen und Praktiken der Religion eher Überlieferung, Bewahrung und rituelle Wiederholung im Mittelpunkt stehen. Die Differenz liegt dabei nicht allein darin, dass sich der eine kulturelle Bereich schneller, stärker oder häufiger wandelt als der andere, sondern auch darin, dass dem Phänomen der Veränderung in den einzelnen kulturellen Bereichen eine unterschiedliche Bedeutung zukommt. Denn kulturelle Bereiche beziehen sich selbst in unterschiedlicher Weise auf Wandel und bewerten ihn jeweils anders. Die verschiedenen Bereiche der Kultur unterliegen also nicht nur in unterschiedlichen Graden Dynamiken des Wandels, sondern diese Grade sind selbst in jeweils unterschiedlicher Weise von expliziten oder impliziten Thematisierungen von und Reflexionen auf derartige Dynamiken abhängig. Das lässt sich deutlich daran ablesen, in welchem Maß in den einzel3 | Man kann hier paradigmatisch an Hegels Verständnis der antiken Lebensform denken, an Heideggers Analyse des Seinsverständnisses, das der modernen Wissenschaft zugrunde liegt, aber auch an Foucaults diskursanalytisches Konzept der Episteme. Vgl. Georg W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986; Martin Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, in: Ders.: Holzwege. Frankfurt a.M.: Klostermann 2003, S. 75-113; Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009.

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nen Bereichen versucht wird, die Prozesse des Wandels zu reglementieren und zu bestimmen, auf welche Art, in welchem Maß und in welche Richtung sich Wandlung vollziehen kann und soll. So verfügt beispielsweise die Politik über eine große Zahl expliziter Regeln und Gesetze, die die Form und den Verlauf der Transformationsprozesse betreffen, während die Transformationsprozesse im Bereich der Kunst nicht explizit und verbindlich geregelt und gesteuert werden. Darüber hinaus unterscheiden sich die einzelnen Situationen, in denen Veränderung geschieht, beziehungsweise die konkreten Akte, durch die sie bewirkt wird. Während etwa in der Kunst seit der Moderne ein hohes Maß an Innovation, Originalität und Kreativität gefordert ist, scheint sich die Transformation in anderen Bereichen wie der Politik häufig in kleineren und kontinuierlichen Schritten der Veränderung zu vollziehen. Das Maß an Abweichung, Neuheit und Unableitbarkeit aus den bestehenden Konstellationen variiert demnach in unterschiedlichen Formen der Transformation. Diese Differenzen resultieren in unterschiedlichen Formen, Graden und Geschwindigkeiten des Wandels und haben Einfluss darauf, ob wir die Prozesse der Veränderung eher als gerichtet oder als ungerichtet einschätzen.4 So wäre man für den Bereich der Wissenschaft beispielsweise eher geneigt, von einem ›Fortschritt‹ zu sprechen, als für den Bereich der Mode. Trotz dieser relativ eigengesetzlichen Logiken des Wandels in verschiedenen kulturellen Sphären wäre es aber unserer Meinung nach ein Fehler, davon auszugehen, dass diese völlig unabhängig voneinander und gegeneinander abgeschottet wären. So wichtig es einerseits ist, auf die Besonderheiten einzelner Formen der Veränderung zu achten, so wichtig ist es andererseits, die Wechselwirkungen und Einflüsse zwischen den verschiedenen kulturellen Bereich zu berücksichtigen. Die Aufgabe einer Theorie kulturellen Wandels ist es daher, in den komplexen Konstellationen kultureller Kräfteverhältnisse, spezifische Formen kultureller Veränderung herauszuarbeiten und diese in Bezug zu den verschiedenen kulturellen Bedingungen und Einflussfaktoren zu beschreiben und zu analysieren.5 Mit 4 | Vgl. zur Frage nach der Geschwindigkeit des Wandels insbesondere Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. 5 | Als ein markanter Versuch einer solchen Ausarbeitung des Verhältnisses unterschiedlicher kultureller Bereiche und Praxisformen zueinander vor dem Hinter-

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einer Diskussion verschiedener Logiken kulturellen Wandels ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, welche Arten von Handlungen derartigen Wandel anstoßen und wie die Träger solcher Handlungen genauer zu spezifizieren sind. Das führt uns zu einem dritten Komplex von Fragen.

c.) Kräfte des Wandels Mit der Unterschiedlichkeit der verschiedenen kulturellen Bereiche, in denen sich unterschiedliche Arten des Wandels vollziehen, geht eine Unterschiedlichkeit der Praxisformen einher, die für derartige Transformationsprozesse von Bedeutung sind. Denn die Handlungen, die so verstanden werden können, dass sie zumindest einen Anteil an der Hervorbringung von Prozessen kulturellen Wandels haben, sind sehr verschieden. Im Bereich der Kunst kann sich Wandel beispielsweise ausgehend von dem Malen eines Bildes entzünden, in der Religion ausgehend von einer Revolution der Schriftexegese, in der Wissenschaft durch die Durchführung eines Experiments, in der Politik schließlich durch die Teilnahme an einer Demonstration. Überlegungen zu einer Theorie kulturellen Wandels sehen sich somit mit der Aufgabe konfrontiert, diese Praxisformen unter handlungstheoretischer Perspektive auf ihr transformatives Potential hin zu befragen und zugleich ihre Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen zu explizieren. Es ist keine geringe Frage, wie groß der Spielraum für Wandel im Hinblick auf die Handlungen von Subjekten generell einzuschätzen ist, das heißt wie weit sie in ihrem Handeln von bestehenden kulturellen Verhältnissen determiniert sind, und inwieweit es ihnen möglich ist, qualitativ Neues hervorzubringen oder anzustoßen. Dabei kann die Bindung an das Bestehende und die Einschränkung von Innovation einerseits normativer Natur sein: Veränderung kann schlicht durch bestimmte herrschende Konventionen oder Gesetze limitiert sein. Damit soll nicht suggeriert werden, dass Konventionen und Gesetze immer und notwendig als Einschränkungen des Wandels begriffen werden sollten. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass die Erzeugung des Neuen und der Anstoß für Wandel allein vor einem Hintergrund etablierter Traditionen, Normen und Institutionen möglich sind. Andererseits gibt es aber auch Grenzen der Veränderung, die aus der Beschränktheit der Kompetenzen und Vermögen der handelngrund ihrer relativen Autonomie kann Hegels Philosophie gelten. Vgl. etwa Georg W.F. Hegel.: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986.

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den Subjekte resultieren. Denn Innovation und Wandel sind nicht zuletzt auch von der Phantasie, Kreativität und Imaginationsfähigkeit der einzelnen Akteure abhängig.6 Unter handlungstheoretischer Perspektive ist zu erörtern, inwieweit Prozesse der Transformation insgesamt oder teilweise planbar und kontrollierbar sind: Kann kulturelle Veränderung durch gezielte Handlungen beeinflusst und gesteuert werden oder bleibt sie aus der Perspektive der einzelnen Akteure letztlich ein unverfügbares Geschehen? In Rückbindung an die unter b.) diskutierten Fragen ist es dabei naheliegend, von unterschiedlichen Konstellationen der Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit in verschiedenen kulturellen Bereichen auszugehen.7 Akzeptiert man die These zumindest partieller und bereichsspezifischer Unverfügbarkeit, so gründet diese in unterschiedlichen Faktoren: Es scheint offenkundig, dass solche Praxisformen, die weniger regelgeleitet sind und mehr auf Spontaneität und Kreativität basieren, auch weniger plan- und steuerbar sind, so dass mit einem Moment der Kontingenz zu rechnen ist.8 Ein erhebliches Moment der Unverfügbarkeit ist zudem mit Blick auf die Kontrollierbarkeit kulturellen Wandels allein schon deshalb gegeben, weil die Situationen, in denen sich Handelnde vorfinden, und die Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichen kulturellen Bereichen häufig unüberschaubar komplex sind. Zu welchen Konsequenzen und Resultaten einzelne Handlungen führen, und ob diese Veränderungen schließlich im Sinne der Intentionen der Akteure ausfallen, ist dabei häufig nur schwer absehbar. Zudem stellt sich grundsätzlich die Frage, wer angesichts dieser Diagnosen überhaupt der Akteur ist, von dessen Handlungen kultureller Wandel ausgeht. Naheliegend ist es hier, bereichsspezifisch unterschiedliche 6 | Vgl. zu dieser Thematik etwa Simone Mahrenholz: Kreativität. Eine philosophische Analyse. Berlin: Akademie 2011. 7 | Vgl. hierzu etwa Heinz-Dieter Kittsteiner: Out of Control. Zur Unverfügbarkeit des historischen Prozesses. Berlin: Philo 2004, sowie Stefan Deines, Stephan Jäger und Ansgar Nünning (Hg.): Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte. Berlin: de Gruyter 2003. 8 | Darauf, dass ein solches Element von Kreativität und Zufall nicht nur für die Praxisformen der Kunst kennzeichnend ist, sondern auch die Theoriebildung in den Wissenschaften betrifft, hat beispielsweise Paul Feyerabend wiederholt hingewiesen. Vgl. etwa Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984.

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Typen von Akteuren anzunehmen – die in einigen Bereichen durchaus auch an institutionelle Orte und Rollen gebunden sind. Derartige Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen Typen von Akteuren müssen vor allem zwischen individuellen und kollektiven Agenten differenzieren.9 In vielen Fällen nämlich sind Kollektive oder auch verschiedene Arten von Institutionen – wie etwa politische Parteien, Regierungen, wissenschaftliche Schulen, Wirtschafts-Konzerne etc. – die Akteure kulturellen Wandels. Spricht man von kollektiven Agenten, stellt sich hier erneut die Frage nach der Unverfügbarkeit im Handeln, da es zu Spannungen zwischen kollektiven und individuellen Handlungsmotiven kommen kann: So können komplexe Entscheidungsstrukturen oder institutionalisierte Eigendynamiken entstehen, die zu einer weiteren Einschränkung der Kontrollierbarkeit von Transformationsprozessen beitragen. Das Motiv der Unverfügbarkeit im Handeln mit Blick auf Prozesse kulturellen Wandels artikuliert sich darüber hinaus in einem letzten Problemkomplex, der die Antizipierbarkeit von Wandel betrifft.

d.) Antizipierbarkeit des Wandels Geht man von Momenten der konstitutiven Unverfügbarkeit im Hinblick auf kulturellen Wandel aus, so verpflichtet man sich auf die These der eingeschränkten Prognostizierbarkeit des zukünftigen Wandels. Gerade die Antizipierbarkeit kulturellen Wandels ist gleichwohl von hoher praktischer Relevanz.10 So werden in der Politik häufig Entscheidungen getroffen, die auch zukünftige – erwünschte oder befürchtete – kulturelle Verhältnisse und Entwicklungen betreffen. Der ›Zukunftshorizont‹ mancher politischer Entscheidungen scheint in diesem Sinne deutlich größer zu sein als derjenige unserer alltäglichen Handlungen. Manche umwelt9 | Vgl. dazu auch die Diskussionen zu kollektiver Intentionalität siehe hierzu: David P. Schweikard und Hans B. Schmid (Hg.): Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. 10 | Man kann mit Blick auf die Frage nach der Prognostizierbarkeit des Wandels zunächst an theoretische Diskussionen in der Geschichtsphilosophie denken. Vgl. etwa Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft. Frankfurt a.M.: Fischer 1999. Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Vor allem ist aber an moralphilosophische Debatten etwa zur Generationengerechtigkeit zu denken.

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politische Entscheidungen gehen etwa mit Konsequenzen einher, die alle folgenden Generationen betreffen.11 Wie auch immer man im Einzelnen die Konsequenzen der Handlungen von Individuen oder Kollektiven einschätzt – Überlegungen zu einer Theorie kulturellen Wandels betreffen auf die eine oder andere Weise nicht allein retrospektive Beschreibungen aus einer rein historischen Warte, sondern haben auch den Aspekt der Zukünftigkeit des Wandels zu thematisieren. In diesem Zusammenhang stellen sich unter anderem Fragen danach, wie zukünftiger Wandel in der Gegenwart jeweils initiiert und vorangetrieben wird und wie die epistemischen Bedingungen und Grenzen der Vorhersagbarkeit von Wandel genauer zu konturieren sind. Die Beiträge dieses Sammelbandes nehmen unterschiedliche Perspektiven auf das Thema des kulturellen Wandels ein und loten dabei im Rahmen eines interdisziplinären Austauschs einen gemeinsamen Raum aus – eine Auslotung, die jeweils an spezifischen der oben genannten Problemkomplexe orientiert ist. In diesem Sinn sind im vorliegenden Band zum einen Beiträge aus verschiedenen Teilbereichen der Philosophie versammelt, die für die mit dem kulturellen Wandel verbundenen Fragen von besonderer Relevanz sind. Neben der Geschichtsphilosophie sind hier insbesondere die Sozialontologie, die Kulturphilosophie und die Handlungstheorie zu nennen. Diese Überlegungen wären aber einseitig, wenn sie nicht mit Überlegungen aus anderen Disziplinen in einen Dialog treten würden. Daher finden sich auch Beiträge, die den kulturellen Wandel aus Perspektive der Soziologie, Wissenschaftsgeschichte und der Kulturwissenschaften diskutieren.

II. F ORMEN KULTURELLEN W ANDELS : D IE B EITR ÄGE DES B ANDES IM E INZELNEN Aus der Perspektive der interpretativen Sozialwissenschaften unterbreitet Hartmut Rosa in seinem Beitrag »Triebkräfte soziokultureller Dynamik. Ein Vier-Ebenen-Modell des sozialen Wandels« den Vorschlag, die Kräfte 11 | Vgl. zu der Problematik von Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit etwa den Band: Dieter Birnbacher und Gerd Brudermüller (Hg.): Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität. Würzburg: Königshausen und Neumann 2001.

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und Anlässe kulturellen Wandels ausgehend von einer vierstelligen Matrix zu deuten. Unter Rückgriff auf Motive der Überlegungen v.a. Charles Taylors und Michael Walzers schlägt er vor, den Ausgangspunkt von sozialen Veränderungen in möglichen Spannungen zwischen vier verschiedenen Dimensionen gesellschaftlicher Selbstinterpretation zu sehen, die er folgendermaßen bestimmt: Kollektive Selbstdeutungen; soziale Institutionen und Praktiken; reflexives Selbstbild und präreflexives Selbstgefühl beziehungsweise Habitus. In einem weiteren Schritt versucht Rosa, dieses Grundmodell mit Blick auf die Ausdifferenziertheit von Gesellschaften im Sinne unterschiedlicher Bereiche wie Politik und Religion anzureichern. Sein Beitrag gibt daher auch weiterführende Antworten zur Frage der Ausdifferenziertheit kultureller Wandelungsprozesse. In ihrem Beitrag »Möglichkeit und Intentionalität. Über die grundlegenden Bedingungen von historischen Veränderungen« entwickelt Doris Gerber eine Antwort auf die geschichtsphilosophische Frage, wie sich historische Geschehnisse identifizieren und individuieren lassen. Dazu schlägt sie vor, historische Ereignisse als Handlungsereignisse zu begreifen und Geschichte zugleich derart zu verstehen, dass sie notwendigerweise Intentionalität sowie alternative Möglichkeiten impliziert. Insgesamt leistet der Beitrag so eine begriffliche Klärung in grundlegenden Fragen des historischen Wandels und vertritt dabei explizit eine realistische Auffassung von Geschichte im Kontrast zu etablierten narrativistischen Geschichtstheorien, die behaupten, dass historische Ereignisse als solche erst im Rahmen historischer Erzählungen konstituiert werden. Emil Angehrn expliziert in seinem Beitrag »Kultur zwischen Bewahrung und Veränderung. Eine hermeneutische Perspektive« die Logiken von Formen des kulturellen Wandels ausgehend von einer grundlegenden Bestimmung des Begriffs der Kultur. Der hermeneutisch-anthropologischen Deutung Angehrns zufolge ist Kultur eine für die menschliche Existenz unentbehrliche Sphäre von Weltdeutungen, Selbstverständnissen und Praktiken, kurz: ein Raum des Sinns. Als ein solcher ist Kultur als ein Sinngeschehen zu begreifen und damit stets im Wandel: Denn Sinn kann sich Angehrn zufolge nur in den Veränderung implizierenden Praktiken des deutenden Rezipierens, des negierenden Kritisierens und des kreativen Neuschöpfens von Verständnissen konstituieren. Obwohl Kultur demnach immer notwendig im Wandel ist, ist sie stets auch ein Ort der Tradierung und Bewahrung, da auch die Akte der Verneinung, Revolution und Neuschöpfung nur als Formen der Anknüpfung an Bestehendes verständlich werden.

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In seinem Beitrag »Wieviel Herkunft braucht die Zukunft? Zur Struktur reformistischer und revolutionärer kultureller Transformationen« beleuchtet Stefan Deines unter dem Stichwort des ›strukturellen Konservativismus‹ die Bedingungen und Grenzen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse; es wird erörtert, inwieweit transformative und innovative Praktiken notwendig an jeweils gegebene Verständnisse, Normen und Konventionen anknüpfen müssen. Dabei stellt sich heraus, dass auch radikale und diskontinuierliche ›revolutionäre Transformationen‹, wie sie im Anschluss an den späten Heidegger, Kuhn und Rorty konzeptionalisiert werden, in bestimmten Hinsichten an die bestehenden Verhältnisse zurückgebunden bleiben, und dass dies nicht nur für moderate und kleinschrittige ›reformistische Transformationen‹ gilt, wie sie sich mit der Theorie Gadamers beschreiben lassen. Eine konkrete Einschätzung der Bedingungen und Grenzen des Wandels lasse sich allerdings nicht in einer abstrakten Weise vornehmen, sondern nur in einer bereichspezifischen Analyse konkreter kultureller Konstellationen. Im Rahmen seines Beitrags »Fortschritt als Merkmal wissenschaftlichen Wandels« untersucht Cornelius Menke den Bereich der Kultur, dessen Transformationsprozesse traditionell in Begriffen des Fortschritts erläutert worden sind: die (Natur-)Wissenschaften. Dabei wurde meist nicht nur davon ausgegangen, dass wissenschaftliche Entwicklungen als Fortschritte gedeutet werden können, sondern darüber hinaus, dass Fortschritt ausschließlich in den Wissenschaften, nicht aber in anderen Bereichen der Kultur zu finden ist. Menke erörtert, wie sich ein sinnvoller Begriff des wissenschaftlichen Fortschritts explizieren lässt, nachdem Thomas Kuhn mit dem Verweis auf Paradigmenwechsel und Revolutionen in den Wissenschaften eine naive Vorstellung von Fortschritt als einem kontinuierlichen Zuwachs von Wissen kritisiert hat. Es wird diskutiert, wie sich Fortschritt auch über revolutionäre Brüche hinweg vollziehen kann, obwohl diese oft auch mit einem partiellen Verlust an Wissen und Erklärungskraft einhergehen. Aus der Perspektive der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung geht Astrid Erll in ihrem Beitrag »Kultureller Wandel und transkulturelle Erinnerung« der Frage nach, inwieweit Theorien des kulturellen Gedächtnisses zum Verständnis der Dynamiken kulturellen Wandels beitragen können. Es zeigt sich, dass bereits frühere Konzeptionen kulturellen Gedächtnisses, etwa diejenigen von Jan und Aleida Assmann, wichtige Impulse für eine Theorie kulturellen Wandels liefern, indem sie auf den ›Zu-

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kunftsaspekt‹ des Gedächtnisses verweisen: Erinnerung dient demnach als Archiv für alternative Ideen und ungenutzte Möglichkeiten und stellt damit stets eine Quelle für Erneuerung dar. Es sind Erll zufolge aber insbesondere jüngere Theoriemodelle, die das Konzept des kulturellen Gedächtnisses um die Dimension der Transkulturalität erweitern, wie das Konzept des ›multidirektionalen Erinnerns‹ von Michael Rothberg und des ›prothetischen Erinnerns‹ von Alison Landsberg, die zum Verständnis von Wandel beitragen. Sie verdeutlichen, wie Kulturen durch den Austausch mit anderen Kulturen und die Teilhabe an deren Geschichte Impulse für Veränderung erfahren. Oliver Marchart analysiert in seinem Beitrag »Wandel durch Prekarisierung. Zur kulturellen Dimension der Prekarisierung von Arbeit und Leben« mit der zunehmenden Prekarisierung in den modernen westlichen Gesellschaften ein konkretes Phänomen gegenwärtigen sozialen Wandels. Die leitende These ist, dass eine bloß ökonomische Beschreibung der Tragweite dieser Transformation nicht gerecht werden kann; denn bei Prekarisierung handele es sich nicht um eine Entwicklung, die nur bestimmte Arbeitsverhältnisse oder Schichten betrifft, sondern um einen umfassenden Prozess, der zu einer tiefgreifenden Veränderung des gesellschaftlichen Lebens insgesamt führt und beispielsweise auch das Verhältnis von Arbeit und Leben oder die psychische Disposition von Subjekten betrifft. Unter Rückgriff auf die Hegemonietheorie Antonio Gramscis stellt Marchart dar, wie dieser Transformationsprozess das gesamte Feld der Kultur – der ›Subjektivierungsweisen, Vorstellungswelten und Lebensformen‹ – umfasst, und auf welche Weise ihm kritisch zu begegnen wäre. Anhand des Leitbegriffs des mühelosen Handelns fragt Mario Wenning in seinem Beitrag »In-der-Mitte-Sein. Zur Struktur gelingenden Handelns« nach den Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen kulturellen Wandels aus einer handlungstheoretischen Perspektive. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen dem Handeln des Subjekts in der Zeit und der Verobjektivierung dieses Handelns in der retrospektiven Narration unterzieht er die Grundunterscheidungen der Handlungstheorie einer Kritik, indem er die Aspekte der Vergegenständlichung und der PräsenzNegation als ihre impliziten Voraussetzungen ausweist. Unter Rekurs auf Motive der asiatischen Philosophie schlägt er anhand des Konzepts des mühelosen Handelns einen Begriff des Handelns vor, der demgegenüber die Eigenlogik und Gegenwärtigkeit des Handelns aus der Perspektive des handelnden Subjekts ins Zentrum stellt.

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Daniel Martin Feige geht in seinem Beitrag »Wandel in der Kunst. Überlegungen zum Verhältnis der einzelnen Künste« der Frage nach, wie kultureller Wandel im Bereich der Kunst erläutert werden kann. Gegen essentialistische Theorien der Künste, die behaupten, dass die Gestaltungswie Ausdrucksmöglichkeiten von Künsten in Begriffen überhistorischer Möglichkeitsräume erläutert werden müssen, wendet er zweierlei ein. Zum einen ist ein derartiges Verständnis der Künste letztlich einem objektivistischen Begriff künstlerischer Materialien und Medien verpflichtet. Zum anderen kann ein solches Verständnis der Künste die vielfältigen Relationen und Austauschprozesse zwischen ihnen nicht mehr angemessen in den Blick nehmen. Ausgehend von einem historisch-kulturalistischen Blick ist seine leitende These demgegenüber, dass die Künste als dynamisch verstanden werden müssen, wie sie gleichwohl in jeder historischen Situation spezifische Konturen gewinnen. Martin Seel widmet sich in seinem Beitrag »The Man Who Shot Liberty Valance oder Von der Undurchsichtigkeit des normativen Wandels« dem berühmten Western von John Ford aus dem Jahr 1962 und lotet damit auch die Möglichkeiten der Kunst insgesamt aus, Prozesse kulturellen Wandels zu thematisieren, zu legitimieren oder zu destabilisieren. Im Zuge einer detaillierten Interpretation zeigt er, wie der Film die Entwicklung im amerikanischen Westen von einem mehr oder weniger rechtlosen Zustand zu einer gesellschaftlichen Ordnung, in der Recht und Gesetz gelten, darstellt. Der Reiz des Films besteht darin, dass er diesen normativen Wandel in sehr differenzierter Weise beleuchtet: Zum einen wird der Wandel nicht auf eine singuläre Ursache zurückgeführt, sondern mit den Faktoren des technischen Fortschritts, politischer und ökonomischer Interessen einzelner Gruppen sowie auch persönlicher und emotionaler Motivationen wird hier auf die komplexe und undurchsichtige Gemengelage verschiedener Triebkräfte verwiesen, durch die kulturelle Veränderung entsteht. Zum anderen wird hier die Gegenrechnung zu Entwicklungen aufgemacht, die im kollektiven Bewusstsein als Erfolgsgeschichten präsent sind, indem vor Augen geführt wird, dass sie nicht ohne Kosten und Opfer zu haben sind. Der Band schließt mit dem Beitrag »Zur Antizipation zukünftigen Wandels« von Johannes Rohbeck, der dezidiert die Frage nach der Zukunftsbezogenheit sowie ihrer Rolle für die Bewertung von Prozessen kulturellen Wandels auch in der Vergangenheit und Gegenwart stellt. In Auseinandersetzung mit posthistorischen Theorien aus Geschichtsphilosophie und Kulturwissenschaft sowie dem Projekt der Zukunftsforschung

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erörtert Rohbeck, wie das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in modernen Gesellschaften systematisch zu fassen sei. Insbesondere setzt er sich mit der ethischen Dimension der Zukunftsbezogenheit auseinander, die aus den Konsequenzen gegenwärtigen Handelns für zukünftige Generationen resultiert. Rohbeck plädiert dafür, dass sich ein ethisch verantwortliches Handeln am Konzept einer ›bedingten Offenheit‹ orientieren muss: die Zukunft sollte danach einerseits offen genug gehalten werden, um den folgenden Generationen die freie Wahl ihrer Lebensform und ihrer Werte zu ermöglichen; dennoch sollte sie andererseits auch begrenzt werden, um Szenarien zu unterbinden, in denen zum Beispiel die ökologischen Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Selbstbestimmung gar nicht mehr gegeben wären.

D ANKSAGUNG Dieser Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die vom 20.-22. Januar 2011 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. stattgefunden hat. Wir danken der Fritz Thyssen-Stiftung sowie den Freunden und Förderern der Goethe-Universität für die freundliche Unterstützung dieser Veranstaltung. Für die Hilfe bei der Durchsicht des Manuskripts danken wir Eva Backhaus, David Blumenthal, Andrea Deines, Helena Esther Grass, Frederike Popp und Shirin Weigelt.

L ITER ATUR Emil Angehrn: Geschichtsphilosophie. Stuttgart: Kohlhammer 1991. Dieter Brinbacher und Gerd Brudermüller (Hg.): Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität. Würzburg: Königshausen und Neumann 2001. Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. Stefan Deines, Stephan Jäger und Ansgar Nünning (Hg.): Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte. Berlin: de Gruyter 2003. Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009.

F ORMEN KULTURELLEN W ANDELS — EINE E INLEITUNG

Martin Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, in: Ders.: Holzwege. Frankfurt a.M.: Klostermann 2003, S. 75-113. Georg W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Georg W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft. Frankfurt a.M.: Fischer 1999. Heinz-Dieter Kittsteiner: Out of Control. Zur Unverfügbarkeit des historischen Prozesses. Berlin: Philo 2004. Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Simone Mahrenholz: Kreativität. Eine philosophische Analyse. Berlin: Akademie 2011. Herta Nagl-Docekal und Johannes Rohbeck (Hg.): Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003. Johannes Rohbeck: Geschichtsphilosophie zur Einführung. Hamburg: Junius 2004. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. David P. Schweikard und Hans B. Schmid (Hg.): Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Thomas Zwenger: Einführung in die Geschichtsphilosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005.

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Triebkräfte soziokultureller Dynamik Ein Vier-Ebenen-Modell des sozialen Wandels 1 Hartmut Rosa

I NTERPRE TATIVE S OZIALWISSENSCHAF T Nach den ›linguistischen‹ und ›interpretativen Wenden‹ der Sozialwissenschaften2 besteht in der sozialen und politischen Theorie kaum mehr Zweifel daran, dass die komplexe Wirklichkeit, die wir als ›Gesellschaft‹ beschreiben, sich über rein szientistische Methoden, die sie als eine Aggregation ›nackter Fakten‹ oder Tatsachen begreifen, welche sich im Sinne der Naturwissenschaften objektivieren lassen, nicht adäquat verstehen lässt.3 Stattdessen haben einflussreiche Autoren wie Anthony Giddens, Jürgen Habermas oder auch Michael Walzer überzeugend dargelegt, dass sich die Aufgabe der Sozialwissenschaften – und der Sozialphilosophie – mit 1 | Der folgende Text ist zuerst erschienen in: Hartmut Rosa: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 104-147. Dem Suhrkamp-Verlag sei für die Erlaubnis des Wiederabdrucks gedankt. 2 | Siehe Terence Ball: Transforming Political Discourse. Political Theory and Critical Conceptual History. Oxford: Blackwell 1988, S. 4f; Richard Bernstein: The Restructuring of Social and Political Theory. New York: Harcourt Brace Jovanovic 1976, S. 112f; David Hiley, James Boham und Richard Shusterman (Hg.): The Interpretive Turn. Philosophy, Science, Culture. Ithaca: Cornell University Press 1991; Richard Rorty (Hg.): The Linguistic Turn: Recent Essays in Philosophical Method. Chicago: University of Chicago Press 1967. 3 | Siehe Alan Cribb: Values and Comparative Politics. An Introduction to the Philosophy of Political Science. Aldershot/Brookfield: Avebury 1991; Mary Hesse: Revolutions and Reconstructions in the Philosophy of Science. Bloomington/ Indiana: University Press 1980.

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dem Begriff einer ›Doppel-Hermeneutik‹ beschreiben lässt.4 Dies besagt, dass Sozialwissenschaftler eine Wirklichkeit interpretieren, die ihrerseits bereits eine Interpretation ist. Bei dieser letzteren Interpretation handelt es sich um eine gesellschaftliche Selbstdeutung, die ihrerseits konstitutiv ist für soziale Institutionen und Praktiken. In diesem Sinne argumentiert etwa Charles Taylor, wenn er feststellt, das, was die Sozialwissenschaften interpretierten, sei »itself an interpretation; a self-interpretation which is embedded in a stream of action«.5 Wenn im Folgenden von sozialkonstitutiven Selbstinterpretationen die Rede ist, so ist damit eine je historisch und kulturell bestimmte Auffassung des Menschen und seiner Beziehung zur Gesellschaft und zur Welt gemeint, die in den sozialen Institutionen und Praktiken verankert ist und deren Sinn und Bedeutung bestimmt. Erst und nur im Lichte solcher Selbstinterpretationen werden Handlungen und Institutionen verstehbar. Dies ist der Grund dafür, warum es nach Auffassung der interpretativen Sozialwissenschaften keine soziale Wirklichkeit und keine Form des individuellen oder kollektiven Handelns gibt, die unabhängig von jenen Selbstdeutungen existieren, welche ihren Sinn, ihre Bedeutung und ihren Charakter definieren. Das schließt nicht aus, dass auch zunächst nicht-interpretierte, materielle Faktoren die Gesellschaft beeinflussen, etwa ein Erdbeben, Klimaveränderungen, neue Technologien oder von außen aufgezwungene Kriege. Indessen werden Art und Ausmaß dieses Einflusses erst in und durch die Selbstdeutung festgelegt. Handlungen, Institutionen und Strukturen, aber auch individuelle und kollektive Identitäten werden durch solche Ereignisse über Modifikationen in den konstitutiven Selbstinterpretationen verändert; es gibt keinen sozialen Wandel unabhängig von einer Veränderung der Selbstinterpretation. Während nun aber viel Forschungsaufwand und wissenschaftlich-philosophische Diskussion betrieben wurden, um die erste Form der Interpretation, das heißt die Aufgabe, Methodologie und Meta-Theorie der Sozialwissenschaften zu bestimmen, blieben Natur, Status und Charakter der sozial4 | Siehe Anthony Giddens: Studies in Social and Political Theory. New York: Basic Books 1977, S. 12; Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 159; Michael Walzer: Interpretation and Social Criticism. Cambridge/MA.: Harvard University Press 1987. 5 | Siehe Charles Taylor: »Interpretation and the Sciences of Man«, in: Ders.: Philosophical Papers, Volume 2. Cambridge: Cambridge University Press 1985, S. 15-57, hier: S. 26.

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konstitutiven Selbstinterpretation weitgehend im Dunkeln. Was und wo ist die Selbstinterpretation einer Gesellschaft? Wie kann sie identifiziert werden? Lässt sich ein Anspruch auf die ›richtige‹ Form der Selbstinterpretation (die ja immer auch eine Weltinterpretation ist) erheben – und wenn ja: von wem? Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, dass unterschiedliche soziale und politische Gruppen unterschiedliche Selbstdeutungen artikulieren, und dass in den verschiedenen Sphären der Gesellschaft (in der Wirtschaft, der Politik, der Kunst, der Wissenschaft, der Religion usw.) unterschiedliche Sprachen und Bedeutungssysteme vorherrschen, die alle um die richtige Selbstinterpretation der Gesellschaft konkurrieren. Diese Fragen sind von großer Relevanz vor allem für die Möglichkeiten einer legitimierbaren zeitgenössischen Gesellschaftskritik. Weil die universalistischen Ansätze in der normativ orientierten politischen Philosophie – vom aristotelischen Essentialismus über den Utilitarismus bis zum prozeduralistischen ethischen Liberalismus – im Verlauf des 20. Jahrhunderts mehr oder minder alle gleichermaßen fragwürdig und kontrovers geworden sind, haben sich viele Verfechter der Idee einer rechtfertigbaren Gesellschaftskritik kommunitaristischen oder kontextualistischen Ansätzen zugewandt.6 Diese vertreten die Auffassung, dass es just die konstitutive Selbstinterpretation oder die Selbstdeutung einer Gesellschaft ist, welche die Sozialkritik mit den Normen, Werten und Maßstäben versorgt, die sie zur Ausübung ihres Amtes, also zur Kritik der Institutionen, Praktiken und Diskurse dieser Gesellschaft, benötigt. Obwohl nun etwa Michael Walzer eine solche hermeneutische Konzeption der Sozialphilosophie und der Gesellschaftskritik ebenso umfassend wie überzeugend begründet hat, bleibt es in seinen Schriften ebenso unklar 6 | Siehe Alasdair MacIntyre: »Politics, Philosophy and the Common Good«, in: Kelvin Knight (Hg.): The MacIntyre Reader. Notre Dame: University Press 1998, S. 235-252; Charles Taylor: »Die Motive einer Verfahrensethik«, in: Wolfgang Kuhlmann (Hg.): Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 101-135; Michael Walzer: Spheres of Justice. New York: Basic Books 1983; Michael Walzer: Interpretation and Social Criticism. Cambridge/MA: Harvard University Press 1987; Michael Walzer: The Company of Critics. New York: Basic Books 1988; Michael Walzer: Thick and Thin. Notre Dame: University Press 1994; Richard Wolin: The Terms of Cultural Criticism. The Frankfurt School, Existentialism, Poststructuralism. New York: Columbia University Press 1992.

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wie bei anderen Autoren dieser Richtung, wie die Selbstinterpretation einer Gesellschaft identifiziert oder rekonstruiert werden kann und welche gesellschaftlichen Sphären oder Gruppen die richtigen Maßstäbe für die Gesellschaftskritik bereithalten. Daher fragt Judith Shklar in ihrer Kritik an Walzers Ansatz zu Recht: »What are those ›shared understandings‹ on which everything is based?«7 In der Tat stellt sich eher Verwirrung ein, wenn man etwa das »Criticism Today« betitelte Schlusskapitel von Walzers The Company of Critics (1988) liest. Es sei die Aufgabe des Kritikers, argumentiert Walzer dort, der Gesellschaft einen Spiegel (wie Hamlets Glas) vorzuhalten »that shows us to ourselves as we really are, all pretense shattered, stripped of our moral makeup, naked«. Diesem Bild sei dann ein idealer Entwurf unserer selbst entgegenzusetzen, »an account or interpretation of what, in our very souls, we would like to be: all our high hopes and ideal images of self and society«.8 Es bleibt indessen völlig unklar, wie diese beiden kontrastierenden Bilder gewonnen werden können. Wohin gilt es den Blick zu richten, um herauszufinden, wie ›wir‹ (als Gesellschaft) wirklich sind, und wo finden wir ›das‹ oder ›unser‹ gesellschaftliches Idealbild, wenn es keine Gruppe oder Klasse oder privilegierte Gesellschaftssphäre gibt, die a priori als Avantgarde der Geschichte schlechthin gelten kann? »There are as many mirrors as there are social critics, and as many mirror images as there are people willing to look into the glass«, stellt denn auch Walzer zu Recht fest. »For this reason, the critic is bound to imagine other people peering into other mirrors, even though he cannot see what they see; he must acknowledge the endless reiteration of his own critical activity.«9 Infolgedessen wird der Gesellschaftskritiker für seine Aufgabe, die angemessene Selbstinterpretation und die relevanten Wertmaßstäbe der Gesellschaft zu identifizieren, die er zu kritisieren versucht und der er selbst angehört, ebenso willkürlich wie inkonsistent einmal auf die (nationale) Geschichte, an die Kunst, die Politik oder auch die Kultur verwiesen;10 dann wieder an die Gefühle und 7 | Siehe Judith N. Shklar: »The Work of Michael Walzer«, in: Stanley Hoffman (Hg.): Political Thought and Political Thinkers. Chicago: University of Chicago Press 1998, S. 376-386, hier: S. 384f. 8 | Siehe Walzer: The Company of Critics, S. 231. 9 | Ebd., S. 232. 10 | »The ideal critic […] sees […] people and their troubles and the possible solution to their troubles within the framework of national history and culture. Nation, not class is the relevant unit […].« Walzer, The Company of Critics, S. 234; vgl.

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Überzeugungen der Mitbürger;11 und schließlich an sein eigenes moralisches Empfinden und seine Wertüberzeugungen (die dabei denjenigen der ›irregeleiteten‹ Massen entgegengesetzt werden)12 oder an die Werte und Normen, die von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen verteidigt, von anderen dagegen unterlaufen werden.13 Darüber hinaus beruft sich Walzer gelegentlich auch auf die ›konstanten Werte‹ der Gesellschaft (wie immer sie zu identifizieren sein mögen), oder auf die geteilten sozialen Praktiken als Basis der Kritik.14 Ebenso unklar bleibt in dieser Konzeption sodann der Gegenstand beziehungsweise das Ziel der Gesellschaftskritik. Walzers Kritiker adressiert ohne erkennbare Ordnung oder Hierarche je bestimmte Traditionen, Autoritäten, Praktiken, Institutionen, Werte oder gesellschaftliche Akteure oder Gruppen. Diese Unsicherheit darüber, wo sich die maßgebende Selbstinterpretation einer Gesellschaft lokalisieren lässt, resultiert nicht zuletzt daraus, dass Gesellschaften weder als statisch noch als monolithisch verstanden ebd., S. 235: »The form of his attack will vary with the character of his culture, but he is likely to pay close attention to national history, finding in his people’s past (its literature and art as well as its politics) a warrant for criticism in the present.« 11 | »Ordinary men and women continue to hope for a better life […], and political leaders continue to justify themselves in ideal terms […] The critic elaborates the hopes, interprets the ideals, holds both against his mirror image of social reality.« Ebd., S. 233. 12 | »Sometimes, of course, the critic must stand alone – as Silone did when he broke with his comrades in the party or as Orwell did when he struggled to sustain leftist politics against standard apologies for Stalinism or as de Beauvoir did when she condemned the participation of women in their own subjection.« Ebd., S. 234; vgl. ebd., S. 238: »He stands among the people […] But he takes stands different from theirs, for they are often guided by the ideologists of the state or the party, and he is not. His independence distances him from ordinary men and women as well as from bureaucrats and officials. He inches away from the people-nation, in order to criticise what the majority of his fellows find worthy of praise.« 13 | »He is a critic of the regime, not of the people; or of some of the people, not others; or of the people in one sense, not in another.« Ebd., S. 238. 14 | Siehe ebd., S. 234; vgl. ebd., S. 236: »The case is the same with exile: the critic does not give up his country […] At the very moment he leaves, he accuses the men and women he leaves behind of desertion: they, not he, have abandoned the constant values of their society.«

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werden können; sie befinden sich vielmehr in einem unausgesetzten Prozess der dynamischen Veränderung. Normen und Werte, aber auch Institutionen und Praktiken verändern und entwickeln sich unablässig; zeitweise scheinen sie zu konvergieren, dann wieder treten Spannungen und Divergenzen zwischen ihnen auf. Darüber hinaus verändert sich auch der relative Einfluss und die Macht unterschiedlicher sozialer Gruppen ebenso immer wieder aufs Neue wie das relative Gewicht und die Bedeutung der einzelnen Gesellschaftssphären, also etwa der Kunst, des Rechts, der Politik, der Religion oder auch der Wirtschaft.15 Nach der Verabschiedung von Geschichtsphilosophien, wie sie etwa der historische Materialismus entworfen hat, die behaupteten, der soziale Wandel habe eine Richtung, Logik und Struktur und eindeutig identifizierbare Trägergruppen, steht die Gesellschaftskritik daher vor der Schwierigkeit, eine nicht-willkürliche Basis für die Identifikation von notwendigen Veränderungen und für deren Unterscheidung von schädlichen oder sogar pathologischen Entwicklungen definieren zu müssen. Sie bedarf dazu aber, so das hier zu entwickelnde Argument, eines präzise definierten Konzepts der gesellschaftlichen Selbstinterpretation, welches eine systematische Analyse des sozialen Wandels erlaubt und dadurch und darüber Gesellschaftskritik zu legitimieren vermag. Versucht man die von Walzer in Anschlag gebrachten Quellen der Selbstinterpretation zu kategorisieren, so stellt man fest, dass sie sich als die potentiellen Träger relevanter Normen, Werte und Bedeutungen mindestens drei verschiedenen Phänomenbereichen zuordnen lassen. Dabei handelt es sich zum Ersten (a) um explizit gemachte, artikulierte Deutungen, wie sie sich etwa in den Texten des Rechts, der Literatur, der Theologie oder der Wissenschaften finden lassen, zum Zweiten (b) um die wirkmächtigen sozialen Institutionen und Praktiken als ›verkörperten‹ Selbstdeutungen, und zum Dritten (c) um die von den Menschen selbst vertretenen Auffassungen und Überzeugungen. Durchaus in Übereinstimmung mit Walzer möchte ich deshalb hier die Auffassung vertreten, dass (sozialkonstitutive) Selbstinterpretation als ein sehr weit gefasster Begriff verstanden werden sollte, wie ihn etwa Hegel entwickelt hat und wie er heute von Autoren wie Charles Taylor oder auch Hubert Dreyfus 15 | Vgl. John G. A. Pocock: »The History of Political Thought: A Methodological Enquiry«, in: Peter Laslett und W.G. Runciman (Hg.): Philosophy, Politics and Society, Second Series. Oxford: Blackwell 1962, S. 183-202.

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weiter verfolgt wird; als ein Begriff also, der sich nicht nur auf bewusste und selbst-reflexive Prozesse bezieht, sondern auch Wahrnehmungs- und Geschmacksurteile, Körperpraktiken (etwa im Sinne der bourdieuschen hexis) und Emotionen wie Scham oder Schuld einschließt. Selbstinterpretationen in diesem Sinne liegen an der Wurzel unserer Institutionen und Praktiken, aber auch unserer individuellen und verkörperten Habitus, und als solche gehen sie unseren expliziten sprachlichen Artikulationen und Theorien, die sie dann zum Ausdruck zu bringen versuchen, immer schon voraus. Selbstinterpretation umfasst daher einen bestimmten Sinn dafür, wer wir als menschliche Wesen sind, was die Gesellschaft ist, auf welche Weise wir als Individuen in die Gesellschaft gestellt sind, aber auch einen je spezifischen Begriff von Wahrheit, Zeit und Ewigkeit und eine (und sei sie auch noch so vage) Konzeption des gelingenden Lebens. Auf diese Weise sind menschliche Wesen, wie Taylor und Dreyfus es ausdrücken, ›interpretation all the way down‹, was impliziert, dass soziale Wirklichkeit und Intepretation geradezu gleichbedeutend oder ko-extensiv werden. »Man by his existence gives an answer to a question which thereby is posed and can never be finally answered.«16 Selbstinterpretationen sind also das, was unseren Handlungen und Praktiken, aber auch unserem individuellen und kollektiven Leben einen Sinn verleiht, insbesondere weil sie die Bedeutung (›the point‹) von Handlungen und Insitutionen bestimmen. Nichtsdestotrotz ist es offensichtlich, dass es keine monolithisch geschlossene, kohärente Selbstdeutung der Gesellschaft gibt, sondern stattdessen ein komplexes, vielschichtiges, teilweise selbstwidersprüchliches Gewebe von miteinander verknüpften Selbstinterpretationen. Deshalb möchte ich im Folgenden ein Modell für die Identifikation, Rekonstruktion und Analyse sozialkonstitutiver Selbstinterpretationen entwerfen, das die drei oben identifizierten Kategorien zum Ausgangspunkt nimmt und sie um eine vierte (d) Quelle der Selbstinterpretation ergänzt, nämlich um die Körperpraktiken und Habitus der Subjekte. Eine zentrale Aufgabe wird es dabei sein, diese vier Ebenen oder Quellen der Selbstinterpretation miteinander in eine angemessene Beziehung zu setzen. Auf der Grundlage dieses Modells – das in wesentlichen Punkten an Einsichten anknüpft, die der kanadische Sozialphi-

16 | Charles Taylor: »Self-Interpreting Animals«, in: Ders.: Philosophical Papers, Volume 1. Cambridge: Cambridge University Press 1985, S. 45-76, hier: S. 75.

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losoph Charles Taylor in seinen Arbeiten formuliert hat17 – lassen sich soziale Spannungen, Konflikte und mögliche Pathologien identifizieren und (sinnverstehend) rekonstruieren – und damit angemessen kritisieren. Darüber hinaus soll es das Modell erlauben, die Position des Gesellschaftskritikers und die Dynamik des sozialen Wandels analytisch exakt zu bestimmen.

D AS G RUNDMODELL Zunächst möchte ich eine Unterscheidung einführen zwischen expliziten Selbstinterpretationen, die in der Semantik unserer Sprache zum Ausdruck kommen und in Form von Theorien, Diskursen und Dogmen gefasst sind und damit das Reich der (artikulierten) Ideen bilden, und impliziten Selbstdeutungen, welche die sozialen Institutionen als eine Form objektivierter oder sogar sedimentierter Selbstinterpretation konstituieren. Institutionen und Praktiken bilden daher stets eine Verkörperung, Materialisation oder Expression von Selbstinterpretationen, welche ihren Zweck und ihre Bedeutung und auch ihre jeweiligen ›standards of excellence‹ spezifizieren – mithin also das, worauf es jeweils ankommt.18 Unter dieser Perspektive er17 | Zu meiner Taylor-Interpretation vgl. Hartmut Rosa: Identität und kulturelle Praxis. Frankfurt a.M.: Campus 1998. 18 | Im Anschluss an Hegel schlägt Taylor vor, dass diese Form der Selbstinterpretation als ›objektiver Geist‹ einer Gesellschaft verstanden werden kann: »A certain view of man and his relation to society is embedded in some of the practices and institutions of a society, so that we can think of these as expressing certain ideas. And indeed, they may be the only, or the most adequate, expression of these ideas, if the society has not developed a re latively articulate and accurate theory about itself. The ideas which underlie a certain practice and make it what it is, e.g., those which make the marking of papers [in the act of voting, H.R.] the taking of a social decision, may not be spelled out adequately in propositions about man, will, society, and so on […] In this sense we can think of the institutions and practices of a society as a kind of language in which its fundamental ideas are expressed. But what is ›said‹ in this language is not ideas which could be in the minds of certain individuals only, they are rather common to a society, because embedded in its collective life, in practices and institutions which are of the society indivisibly. In these the spirit of the society is in a sense objectified. They are,

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scheint es nun als offensichtlich, dass die expliziten, in Ideen artikulierten Selbstdeutungen und die nur implizit in die Institutionen eingelassenen Selbstinterpretationen in einem komplexen Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit und partieller Autonomie stehen. Mit Quine gesprochen bedeutet dies, dass diese beiden Seiten der gesellschaftlichen Selbstinterpretation wechselseitig unterdeterminiert sind. Denn auf der einen Seite sind recht unterschiedliche Theorien und Diskursformationen mit einem bestimmten Arrangement von Institutionen vereinbar, während auf der anderen Seite Theorien oder Ideen auch auf recht verschiedene Weisen in die Praxis umgesetzt beziehungsweise ›institutionalisiert‹ werden können. Nichtsdestotrotz können die Institutionen und Theorien einer Gesellschaft, oder ihre impliziten und ihre expliziten Selbstdeutungen, leicht in einen Konflikt oder ein Spannungsverhältnis geraten, das dann einen Anpassungsdruck nach der einen oder anderen Seite, oder auch auf beide Seiten, erzeugt. Diese Charakterisierung des Verhältnisses zwischen den oben definierten Kategorien (a) und (b) trifft nun überraschenderweise auch auf die Beziehung zwischen den beiden übrigen Kategorien der Selbstinterpretation, (c) und (d), zu, also zwischen den reflexiven Selbstbildern und Überzeugungen der Individuen einerseits und deren Körperpraktiken oder Habitus andererseits. Subjekte werden konstitutiert und gewinnen eine Identität mithilfe eines expliziten Selbstverständnisses, das in ihrer Sprache, ihren Ideen, Theorien und Überzeugungen zum Ausdruck kommt. In einem nicht unerheblichen Maße ist daher ein Subjekt das, was er oder sie denkt zu sein. Zugleich aber werden Subjekte noch durch etwas anderes definiert, ja konstitutiert, nämlich durch das Spektrum ihrer Gefühle und ihrer Leib- und Körperpraktiken, durch ihren Habitus im Sinne Bourdieus, der prä-reflexiv und dem Körper eingeschrieben ist, aber nichtsdestotrotz als Träger sozialer Bedeutung und mithin als eine Form impliziter und zugleich expressiver Selbstdeutung verstanden werden muss.19 Denn nur to use Hegel’s term, ›objective spirit‹.« Charles Taylor: »Hegel’s Sittlichkeit and the Crisis of Representative Institutions«, in: Yirmiahu Yovel (Hg.): Philosophy of History and Action. Dordrecht/Boston: D. Reidel 1978, S. 133-154, hier: S. 139f. 19 | »This puts the role of the body in a new light. Our body is not just the executant of the goals we frame, nor just the locus of causal factors shaping our representations. Our understanding itself is embodied. That is, our bodily know-how, and the way we act and move, can encode components of our understanding of

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und erst in Form von Interpretationen sind uns körperliche Bedürfnisse, Gefühle usw. zugänglich, und erst als interpretierte werden sie handlungsrelevant (wenn man Handlungen als reflektiertes Verhalten von nicht-intendiertem, unwillkürlichem Verhalten unterscheidet). Das aber bedeutet, dass selbst in der Art und Weise, wie jemand sich bewegt, wie er spricht, tanzt, schläft, lacht oder isst, also in seinen Gesten und seinem expressiven Verhalten, ein bestimmtes Selbstverständnis zum Ausdruck kommt. In ihrem einflussreichen Aufsatz »Throwing Like a Girl« hat Iris Marion Young (1990) im Anschluss an Merleau-Ponty dieses Argument auf eine höchst instruktive Weise entfaltet.20 Die Art und Weise, wie ein Mädchen (oder ein Junge) einen Ball wirft (oder sitzt, geht, tanzt, ja ein Buch trägt, eine Dose öffnet oder über einen Graben springt), so zeigt Young, ist intrinsisch verknüpft mit einer bestimmten Form des ›In-der-Welt-Seins‹, sie offenbart ein bestimmtes Selbstgefühl und einen je spezifischen Sinn dafür, wie man in die Welt eingebettet ist und ihr zugleich gegenüber steht. Bewegungen und Beweglichkeiten bringen auf diese Weise Bedeutungen und Selbstinterpretationen zum Ausdruck, die sich dem Bewusstsein des Subjektes weitestgehend entziehen. Kein fünfjähriges Mädchen, so lässt sich vermuten, hat einen artikulierbaren Begriff, oder auch nur ein self and world«, bemerkt Taylor im Anschluss an französische Denker wie Foucault, Bourdieu oder auch Merleau-Ponty. Dabei ist er sogar bereit, dieser impliziten Form der Selbstinterpretation Vorrang vor der expliziten Seite einzuräumen: »This understanding is more fundamental in two ways: (1) it is always there, whereas we sometimes frame representations and sometimes do not, and (2) the representations we do make are only com prehensible against the background provided by this inarticulate understanding. Rather than re presentations being the primary locus of understanding, they are only islands in the sea of our un formulated practical grasp on the world.« Charles Taylor: »To follow a Rule«, in: Ders.: Philosophical Arguments. Cambridge/MA: Harvard University Press 1995, S. 165-180, hier: S. 170. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass einige Sozialwissenschaftler selbst Phänomene wie die Dickleibigkeit oder die Magersucht nicht in erster Linie für ein physisch-biologisches Merkmal, sondern für eine expressive, bedeutungstragende beziehungsweise ein bestimmtes (konfliktreiches) Selbstverständnis zum Ausdruck bringende Eigenschaft halten. Vgl.: Susan Bordo: Unbearable Weight. Feminism, Western Culture, and the Body. Berkeley: University of California Press 1993. 20 | Iris Marion Young: Throwing Like a Girl and Other Essays in Feminist Philosophy and Social Theory. Bloomington: Indiana University Press 1990.

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Bewusstsein, von den Unterschieden im Wurfverhalten von Mädchen und Jungen, und doch reproduzieren sich diese Unterschiede bei Kindern in einem gleich bleibend hohen Maße. Interessant ist dabei nicht nur, dass auf diese Weise Körperbewegungen und Gesten unterschiedliche Selbstund Weltverständnisse reflektieren oder zum Ausdruck bringen, sondern mehr noch, dass das Umgekehrte ebenfalls zu gelten scheint: Indem wir in der Interaktion mit anderen lernen, wie man (als Mädchen oder Junge, aber auch als Rocker oder Künstler, Arbeiter oder Akademiker) angemessen geht, sitzt, tanzt und Bälle wirft oder über Gräben springt, wird ein entsprechendes Selbst- (und Welt-)Gefühl erzeugt und entwickelt. Die Vorstellung, dass es ein vorreflexives, verkörpertes Selbstgefühl gibt, ist daher keineswegs unvereinbar mit anti-essentialistischen und anti-biologistischen Theorien einer ›performativen‹ Identitätskonstruktion, wie sie etwa Judith Butler oder Erving Goffman vertreten.21 Die expliziten und reflektierten Selbstinterpretationen der Subjekte verhalten sich mithin zu den in ihren Gefühlen und Praktiken nur implizierten und habitualisierten Selbstverständnissen just ebenso interdependent und teil-autonom, wie wir dies bereits für das Verhältnis von sozialen Theorien und Institutionen gesehen haben: The paradox of human emotions is that although only an articulated emotional life is properly hu man, all our articulations are open to challenge from our inarticulate sense of what is important, that is, we recognise that they ought to be faithful articulations of something of which we have as yet only fragmentary intimations. If one focuses only on the first point, one can believe that human beings are formed arbitrarily by the language they have accepted. If one focuses only on the second, one can think that we ought to be able to isolate scientifically the pure, uninterpreted basis of human emotion that all these languages are about. But neither of these is true. There is no human emotion which is not embodied in an interpretive language; and yet all interpretations can be judged as more or less adequate, more or less distortive […] This is what is involved in seeing man as a self-interpre21 | Eine instruktive Diskussion dieses Zusammenhangs findet sich bei Bordo; siehe Bordo: Unbearable Weight, S. 289f. Zur Interpretation von Körpern als Quellen und Trägern von Bedeutung vgl. David McNally: Bodies of Meaning. Studies on Language, Labor, and Liberation. Albany: State University of New York Press 2001; José Luis Bermudez, Anthony Marcel und Naomi Eilan (Hg.): The Body and the Self. Cambridge/MA: MIT-Press 1995.

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ting animal. It means that he cannot be understood simply as an object among objects, for his life in corporates an interpretation, an expression of what cannot exist unexpressed, because the self that is to be interpreted is essentially that of a being who self-interprets. 22

Versucht man also, die Selbstinterpretation(en) einer Gesellschaft umfassend zu rekonstruieren, so gilt es dabei die beiden Ebenen der kollektiven oder gesellschaftlichen Selbstdeutung ebenso in den Blick zu nehmen wie diejenigen der individuellen Selbstinterpretation (vgl. Abb. 1). ›Individuell‹ bedeutet dabei allerdings nicht, dass die betroffenen Überzeugungen, Gefühle oder Habitus nicht gesellschaftlich erzeugt beziehungsweise nicht sozialer Natur wären. Ganz im Gegenteil, in den Worten Taylors: »A self exists only within what I call webs of interlocution«, und das gilt für beide Ebenen (die implizite wie die explizite) der individuellen Selbstinterpretation.23 Auf eine ähnliche Weise bedeutet ›kollektive Selbstinterpretation‹ natürlich nicht, dass sich hier ein Super-Subjekt selbst interpretiert; vielmehr handelt es sich um sozialkonstitutive Vorstellungen und Begriffe von Akteuren, Gesellschaft und Welt in dem oben ausgeführten Sinne. Die gesellschaftliche Selbstinterpretation wird also auf allen vier Ebenen von sozialen Bedeutungen gebildet, aber diese Bedeutungsgewebe (›webs of interlocution‹) können dort, wo sie Subjekte konstituieren, deutlich abweichen von jenen Interpretationen, welche in den sozialen Institutionen oder ihren legitimierenden Doktrinen zum Ausdruck kommen. Die dargelegte Beziehung wechselseitiger Interdependenz und partieller Autonomie besteht nun interessanterweise aber auch zwischen den beiden Ebenen der individuellen Selbstinterpretation auf der einen und denen der kollektiven Selbstdeutung auf der anderen Seite. Die reflexiven Selbstverständnisse und die Gewohnheiten und Gefühle der Subjekte werden von den herrschenden gesellschaftlichen Doktrinen und Überzeugungen ebenso geprägt wie von den dominanten Institutionen und Praktiken – und umgekehrt. Wenn wir also nach den sozialkonstitutiven Selbstinterpretationen suchen wollen, welche der Dynamik des sozialen Wandels zugrunde liegen, so müssen wir alle vier dieser wechselseitig verknüpften und doch teilautonomen Ebenen untersuchen. Der Ausdruck ›Ebenen der 22 | Taylor: Self-Interpreting Animals, S. 75. 23 | Charles Taylor: Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. Cambridge/MA.: Harvard University Press 1989, S. 36.

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Selbstinterpretation‹ mag dabei insofern etwas irreführend sein, als es sich bei meinem Entwurf nicht um ein hierarchisches Konzept von vier aufeinander aufbauenden Ebenen handelt, sondern um ein Modell, das entlang zweier Achsen unterteilt ist, deren erste die individuelle von der kollektiven Seite scheidet, während die zweite implizite und explizite Selbstinterpretationen einander gegenüberstellt (vgl. Abb. 1). Abbildung 1

Je nach der theoretischen Position, die man vertritt, können soziale Veränderungen nach diesem Modell in alle vier Richtungen verlaufen: Sie können sich von rechts nach links vollziehen (das heißt sie nehmen ihren Ausgang bei den Individuen und ziehen dann gesellschaftlichen Wandel nach sich),

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was dem Standpunkt des methodologischen und/oder ontologischen Individualismus entspricht, oder aber von links nach rechts, was bedeutet, dass (makrostrukturelle) gesellschaftliche Veränderungen einen nachfolgenden Wandel der Individuen bewirken (methodologischer/ontologischer Holismus). Ebenso können sie aber auch von oben nach unten erfolgen – wenn (neue) Theorien und Leitbilder einen transformierenden Einfluss auf Institutionen und Praktiken haben (Idealismus) – oder von unten nach oben – wenn Mutationen in den Institutionen und Praktiken Anpassungen auf der Ebene der Ideen, Theorien und Dogmen erzwingen (Materialismus). Nach meiner Auffassung ist es nun aber entgegen der Postulate der Puristen dieser vier Ansätze offensichtlich (und – wenigstens prinzipiell – historisch nachweisbar), dass soziale Veränderungen und Anpassungen de facto in alle vier Richtungen verlaufen können.24 So scheint es im historischen Blick auf die Dichotomie zwischen Materialismus und Idealismus nahezu unbezweifelbar, dass es Fälle oder historische Lagen gibt, in denen soziale Institutionen deshalb umgestürzt werden, weil sich neue Ideen ausbreiten – die Französische Revolution von 1789 mag, entgegen der marxistisch inspirierten Interpretationen, dafür ein Beispiel sein25 –, dass aber zu anderen Zeiten oder in anderen Lagen legitimierende Theorien und Doktri24 | Vgl. etwa Taylor sowie meine Interpretation des Taylorschen Ansatzes: Taylor: Sources of the Self, S. 199ff; Rosa: Identität und kulturelle Praxis, S. 271ff. Die vielfältigen Verflechtungen zwischen diesen Ebenen in Prozessen sozialen Wandels sind auch ein zentrales Thema für die Gruppe von Ideengeschichtlern um Quentin Skinner und J.G.A. Pocock, die manchmal als Cambridge School of Historiographists bezeichnet werden; vgl. dazu Quentin Skinner: Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics. Cambridge/UK: Polity Press 1988; John G. A. Pocock: »Political Ideas as Historical Events: Political Philosophers as Historical Actors«, in: Melvin Richter (Hg.): Political Theory and Political Education. Princeton/NJ: Princeton University Press 1980, S. 139-158; Pocock: Politics, Language and Time; Melvin Richter: »Reconstructing the History of Political Languages: Pocock, Skinner and the Geschichtliche Grundbegriffe«, in: History and Theory 25 (1990), S. 38-70; Hartmut Rosa: »Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie: Der Beitrag der ›Cambridge School‹ zur Metatheorie«, in: Politische Vierteljahresschrift 35 (1994), S. 197-223. 25 | Für ›idealistische‹ Interpretationen der Französischen Revolution und ihre Diskussion siehe zum Beispiel Timothy C. W. Blanning: The Rise and Fall of the French Revolution. Chicago: University of Chicago Press 1996.

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nen preisgegeben und durch neue ersetzt werden, weil sie nicht länger mit neu sich entwickelnden Institutionen und Praktiken in Einklang zu bringen sind.26 In der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle sozialen Wandels wird jedoch der Anpassungsdruck und folglich auch die Anpassungsleistung in beide Richtungen verlaufen. In ganz ähnlicher Weise werden – auf der rechten Seite des Modells – Subjekte manchmal ihre Verhaltensweisen und in der Folge dann auch ihren Habitus deutlich oder sogar radikal verändern, weil sie nicht ihrer reflexiven Selbstdeutung, ihrem expliziten Selbstbild, entsprechen, manchmal werden sie aber auch umgekehrt ihre Ansichten und Überzeugungen ändern, weil sie in anhaltendem Widerspruch zu ihren Gefühlen, Praktiken und Gewohnheiten stehen. Infolgedessen bin ich der Auffassung, dass individuelle ebenso wie gesellschaftliche ›Entwicklungsgeschichten‹ sich auf der Basis dieses fortwährenden, dynamischen Wechselspiels zwischen impliziten und expliziten Selbstdeutungen vollziehen und erst über eine Analyse dieses Wechselspiels adäquat erklärt werden können.27 Weil Theorien und Doktrinen 26 | So können etwa die neu entstehenden soziologischen Theorien und gesellschafstheoretischen Deutungen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts formuliert werden, als Antworten und Reaktionen auf die neu gebildeten Institutionen und Praktiken des Industriezeitalters verstanden werden. Vgl. Hartmut Rosa, David Strecker und Andrea Kottmann: Soziologische Theorien. Stuttgart: UTB 2007. Folgt man Pococks Interpretation der (Wieder-)Aufnahme des bürgerhumanistischen Diskurses als Reaktion auf die soziopolitischen Veränderungen während der 1640er Jahre in England, so handelt es sich dabei um ein weiteres Beispiel für diese Veränderungsrichtung. John G. A. Pocock: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton/NJ.: University of Princeton Press 1975. 27 | Charles Taylor legt diese Auffassung in seiner Deutung des Menschen als ›selbstinterpretierendes Tier‹ wiederholt nahe, wenngleich er sie nirgendwo systematisch ausführt. Vgl. etwa die folgenden beiden Argumente: »This kind of interpretation [die explizite Artikulation des impliziten Selbstverständnisses, H.R.] is not an optional extra, but is an essential part of our existence. For our feelings always incorporate certain articulations; while just because they do so they open us on to a domain of imports which call for further articulation. The attempt to articulate further is potentially a life-time process. At each stage, what we feel is a function of what we have already articulated and evokes the puzzlement and perplexities which further understanding may unravel. But whether we want to take

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unsere Praktiken beziehungsweise unser vorreflexives, verkörpertes Selbstgefühl niemals vollständig zu artikulieren vermögen, und weil diese beiden Ebenen der Selbstinterpretation ihrer je eigenen Dynamik folgen und sich in verschiedene Richtungen entwickeln können, werden unvermeidlich immer wieder – und immer wieder neue – Spannungen und Divergenzen zwischen ihnen entstehen, die dann adaptive und häufig ko-evolutionäre Veränderungen von Theorien und Praktiken zur Folge haben. Im Blick auf die rechts/links-Achse des Modells zeigt sich ein ähnliches Bild. In der Geschichte finden sich Evidenzen für Veränderungen, die sich von links nach rechts vollziehen – also für einen allmählichen Wandel der Überzeugungen, Mentalitäten und Praktiken der Individuen infolge einer Veränderung der institutionellen und ideologischen Gesellschaftsordnung –, aber auch für den umgekehrten Fall: Die iranische Revolution von 1979 scheint ein gutes Beispiel für eine Umwälzung von rechts nach links zu sein, insofern es sich um eine radikale Preisgabe von legitimierenden Leitbildern und entsprechenden Institutionen handelte, die durch die Ausbreitung und Verstärkung eines anderen Selbstverständnisses in der Bevölkerung verursacht wurde.28 Auf der anderen Seite mögen die Ostdeutschen nach 1989 ein interessanter Testfall für eine umgekehrte Transformation darstellen: Die nach der Wende praktisch über Nacht eingeführten und durchgesetzten neuen (das heißt westdeutschen) Institutionenordnungen und Leitbilder treten unvermeidbar in eine spürbare Spannung zu den gewachsenen und vorherrschenden Habitus und Selbstverständnissen ost-

the challenge or not, whether we seek the truth or take refuge in illusion, our self(mis)understandings shape what we feel. This is the sense in which man is a selfinterpreting ani mal.« Taylor: Self-interpreting Animals, S. 65. »The short answer to why complete articulacy is a chimera is that any articulation itself needs the background to succeed. Each fresh articulation draws its intelligibility in turn from a background sense, abstracted from which it would fail of meaning. Each new articulation helps to redefine us, and hence can open us up new avenues of potential further articulation. The process is by its very nature uncompletable.« Charles Taylor: »Engaged Agency and Background in Heidegger«, in: Charles B. Guignon (Hg.): The Cambridge Companion to Heidegger. Cambridge/UK: Cambridge University Press 1998, S. 202-221, hier: S. 328. 28 | Vgl. Mehran Kamvara: The Political History of Modern Iran. Westport Connecticut: Praeger 1992, hier: S. 154f.

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deutscher Bürgerinnen und Bürger, die auf den Modellebenen C) und D) zumindest für eine gewisse Zeit weiter wirksam sind.29 Somit scheint es zumindest prima facie plausibel anzunehmen, dass alle vier Ebenen der Selbstinterpretation auf die beschriebene Weise in einer von Interdependenz ebenso wie von Teilautonomie geprägten Wechselbeziehung zueinander stehen. Diese Beziehung toleriert durchaus eine beträchtliche Elastizität, das heißt eine Divergenz oder Abweichung zwischen den Normen, Werten, Bedeutungen und Selbstbildern, die auf den verschiedenen Ebenen vorherrschen, aber es gibt auch jeweils Grenzen, jenseits derer die Spannungen so stark werden, dass inkompatible Handlungsimpulse dysfunktionale oder sogar pathologische Folgen zeitigen, welche adaptive Veränderungen auf der einen oder anderen – oder auf beiden – Seiten nahe legen beziehungsweise erforderlich machen. Solche Veränderungen vollziehen sich häufig in einem evolutionären Prozess inkrementaler und oft wechselseitiger Anpassung, aber sie können auch in plötzlichen revolutionären Umschwüngen und Brüchen erfolgen. Eben hier liegt nun aber der Ort und die Herausforderung für eine hermeneutische (und kritische) Sozialwissenschaft, deren Aufgabe es sein kann (oder sein sollte), Spannungen, Konflikte und potentielle Pathologien zu diagnostizieren, die sich aus unversöhnlichen, nicht mehr überbrückbaren Diskrepanzen ergeben. Dies soll allerdings nicht bedeuten, dass Spannungen oder Unvereinbarkeiten per se als pathologisch anzusehen wären – ganz im Gegenteil sind sie nach meiner Überzeugung nicht nur unvermeidbar, sondern sie fungieren sogar als die kreative und innovative Kraft der (individuellen wie kollektiven) Geschichte. Pathologien (die per definitionem mit einer Form des menschlichen Leidens verknüpft sein müssen)30 entstehen erst, wenn die Diskrepanzen so stark geworden sind, 29 | Die Arbeit des SFB 580 (Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition, Strukturbildung) an den Universitäten Jena und Halle-Wittenberg widmet sich seit einem Jahrzehnt der Untersuchung ebendieser Fragestellung. Dem von mir geleiteten zugehörigen Theorieprojekt liegt dabei das hier entwickelte Modell zugrunde; vgl. dazu die Beiträge in: Dorothe De Nève, Marion Reiser und Kai-Uwe Schnapp (Hg.): Herausforderung – Akteur – Reaktion. Diskontinuierlicher sozialer Wandel aus theoretischer und empirischer Perspektive. Baden-Baden: Nomos 2007. 30 | Eine zeitgenössische philosophische Definition sozialer Pathologien liefert Axel Honneth. Siehe Axel Honneth: »Pathologien des Sozialen. Tradition und Ak-

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dass keine Möglichkeit zur Re-Integration auf dem Wege wechselseitiger kreativer Anpassung und keine Hoffnung auf eine wenigstens punktuelle und partielle Versöhnung der Widersprüche in lokalen Kompromissen mehr besteht, und wenn sie zugleich zu persistent widersprüchlichen Impulsen auf der Handlungsebene führen. Von einem pathologischen Zustand lässt sich daher erst dann reden, wenn in einem spezifischen Handlungskontext das wirkmächtige Selbstbild einer Ebene der Selbstinterpretation und die mit ihm verknüpften Wertvorstellungen zugunsten einer anderen Konzeption massiv verletzt oder unterdrückt werden müssen. Dies impliziert aber auch, dass Inkonsistenzen und Widersprüche zwischen verschiedenen sozial wirkmächtigen Selbstdeutungen in einer Gesellschaft auch über längere Zeiträume hinweg unproblematisch und sogar unbemerkt bleiben können, solange die mit ihnen verbundenen Diskurs- und Handlungsfelder miteinander nicht in dauerhafte Berührung kommen, so dass die Akteure nicht gezwungen sind, sich zwischen unvereinbaren Normen, Deutungen oder Handlungspfaden zu entscheiden. Ich möchte diese Idee nun im Folgenden anhand einer Spezifizierung meines Modells weiter entwickeln, welche die möglichen Spannungsbeziehungen zwischen den vier Selbstinterpretationsebenen identifiziert (vgl. Abb. 2). Das spezifizierte Modell macht dabei zugleich deutlich, auf welche Weise der hier vorgeschlagene Ansatz als ein Paradigma für eine interpretative Sozialwissenschaft dienen könnte, indem es ein ganzes Bündel an Forschungsfragen für die einbezogenen Disziplinen eröffnet und definiert. Pfeil 1 bringt zum Ausdruck, dass soziale Institutionen und die sie legitimierenden Theorien und Diskurse in einem (elastischen) wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Wie ich bereits dargelegt habe, werden daher manchmal Institutionen im Lichte neuer Theorien oder innovativer Leitbilder reformiert, während zu anderen Zeiten die Doktrinen und Lehrmeinungen reformuliert werden, um sie veränderten institutionellen oder praktischen Verhältnissen anzupassen. Zumeist erfolgt der Wandel dabei auf eine ko-evolutionäre Weise, so dass Veränderungen in den Praktiken und den korrespondierenden legitimatorischen Überzeugungen sich schrittweise und fast zeitgleich vollziehen.

tualität der Sozialphilosophie«, in: Ders.: Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie. Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 9-69.

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Abbildung 2

Denn während diese Ideologie auf der einen Seite jene Praktiken legitimierte und rechtfertigte, gewann sie auf der anderen Seite an Plausibilität und Attraktivität erst im Lichte der Alltagserfahrungen, welche jene Praxis ermöglichten. Auf diese Weise verstärken und stabilisieren sich theoretische Deutungen und praktische Erfahrungen bei der Herausbildung neuer sozialkonstitutiver Selbstinterpretationen wechselseitig.31 Über31 | Auch hier folge ich weitgehend Taylors Konzeption des Verhältnisses von Ideen und Praktiken: »It is clear that change can come about in both directions,

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schreitet indessen die Diskrepanz zwischen diesen beiden Ebenen die Elastizitätsgrenze und damit die Möglichkeit kreativer Anpassung, dann wird es früher oder später zu einer revolutionären Veränderung kommen, entweder in Form einer genuinen soziopolitischen Revolution, bei der die institutionelle Ordnung umgestürzt wird, oder in Gestalt einer ideologischen Umwälzung, welche die legitimierenden Doktrinen, Leitbilder und Lehrmeinungen durch eine neue Ideologie ersetzt. Beide Formen des Umbruchs können als Reaktion auf einen zuvor eingetretenen pathologischen Zustand gedeutet werden, in dem die beiden Ebenen A) und B) sich unwiderruflich und unversöhnbar auseinanderentwickelt und so eine institutionelle oder eine ideologische Krise verursacht haben. Die erstere tritt ein, wo die herrschende Ideologie plausibel, die Institutionen aber als degeneriert erscheinen, während die letztere dort entsteht, wo Praktiken und Institutionen weitgehend unhinterfragt bleiben, die überkommene Ideen- und Werteordnung dagegen fragwürdig geworden ist. Diese Divergenz bildet meines Erachtens ein zentrales (und traditionelles) Forschungsfeld für die Soziologie.32 as it were: through mutations and developments in the ideas, including new visions and insights, bringing about alterations, ruptures, reforms, revolutions in practices; and also through drift, constrictions or flourishing of practices, bringing about the alteration, flourishing, or decline of ideas. But even this is too abstract. It is better to say that in any concrete development in history, change is occurring both ways. The real skein of events is interwoven with threads running in both directions. A new revolutionary interpretation may arise partly because a practice is under threat, perhaps for reasons quite extraneous to the ideas. Or a given interpretation of things will gain force because the practice is flourishing, again for idea-extraneous reasons. But the resulting changes in outlook will have important consequences of their own. The skein of causes is inextricable.« Taylor: Sources of the Self, S. 205f. 32 | Ob eine politisch-institutionelle oder eine ideologische Revolution wahrscheinlicher ist, hängt nicht zuletzt von der inhaltlichen Substanz der jeweiligen Selbstinterpretationen ab. So wird eine Gesellschaft, die davon überzeugt ist, dass ihre Selbststeuerungsmöglichkeiten sehr gering sind, (also beispielsweise eine Gesellschaft, die Niklas Luhmanns Systemtheorie oder eine Version des orientalischen Fatalismus verinnerlicht hat) vergleichsweise rasch bereit sein, die Konsequenzen einer sich verselbständigenden Institutionenordnung und ihrer ›Sachzwänge‹ zu akzeptieren. Das gleiche gilt für eine Gesellschaft, in der das

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Der zweite Pfeil macht deutlich, dass auch die sozialen Leitbilder und die reflexiven Überzeugungen der individuellen Akteure interdependent sind. Kollektive Selbstdeutungen, Lehrmeinungen und Leitbilder verändern sich, wenn die Subjekte neue Selbstbeschreibungen übernehmen, also etwa infolge einer religiösen Konversion. Umgekehrt verändern die Bürger auch ihr Selbstverständnis, wenn sie neue soziale Theorien oder Doktrinen – etwa emanzipatorische Ideen – übernehmen.33 In dieser Beziehung führen problematische Spannungen potentiell in eine Legitimationskrise, deren Kennzeichen es ist, dass die legitimierenden Doktrinen in den Augen der Bürger nicht länger tragfähig sind. Die Beziehung zwischen A) und C) ist daher von zentraler Bedeutung für die Disziplin der Politikwissenschaft beziehungsweise die politische Theorie. Wie ich bereits ausgeführt habe, können, was die Individuen angeht, auch personale Identitäten so verstanden werden, dass sie aus zwei Ebenen der Selbstinterpretation gebildet werden (Pfeil 3): Aus ihren expliziten und reflexiven Selbstentwürfen, Werten, Überzeugungen und Lebensplänen auf der einen Seite und aus einem prä-reflexiven, verkörperten, habitualisierten Selbstgefühl, das expressiv in Gefühlen, Körperpraktiken, Gesten usw. zum Ausdruck kommt. Auch diese beiden Ebenen sind wiederum durch Teilautonomie ebenso wie Interdependenz geprägt. Unsere expliziten Vorstellungen und Interpretationen beeinflussen unsere Emotionen und unseren Habitus ebensosehr, wie die letzteren eine stetige Modifikation und Reformulierung der ersteren nahelegen oder sogar erzwingen. Als Sprachwesen werden Menschen stets dazu getrieben, das, was sie ›wirklich‹ fühlen und was die ›wirkliche‹ Bedeutung ihrer Emotiodominante Bild eines sozialen Akteurs das eines unpolitisch, individualistisch Handelnden (etwa des homo oeconomicus) ist. Demgegenüber wird eine Gesellschaft, die sich im Sinne eines gemeinsamen politischen Projekts definiert (die also etwa einer republikanischen politischen Selbstdeutung folgt oder dem griechischen Polis-Ideal anhängt) und in der das herrschende Bild des sozialen Akteurs an der Idee des politischen Handelns orientiert ist, eher an ihren politischen oder ideologischen Überzeugungen festhalten wollen und dafür eine institutionelle Revolte in Kauf nehmen. 33 | Als Beispiele hierfür mögen etwa die Black is beautfiul- oder auch die Gay Pride-Bewegungen dienen. Vgl. Taylor: Self-Interpreting Animals, S. 68ff. Aber auch marxistische Theorien und Doktrinen haben es zweifellos vermocht, die Selbstverständnisse von Individuen nachhaltig zu verändern.

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nen, Wünsche und ihres Lebens ist, zu artikulieren und zu interpretieren, ohne dass diese Artikulationen oder Interpretationen jemals abgeschlossen oder vollständig sein könnten. Wenn diese beiden Ebenen (C) und D)) sich soweit auseinanderentwickeln, dass sie als nicht mehr integrierbar und wenigstens teilweise oder zeitweise versöhnbar erscheinen, kommt es zu Identitätskrisen oder sogar klassischen Psychopathologien. So ist etwa höchst wahrscheinlich, dass ein Mann, der in seinem reflexiven Selbstentwurf ein konservativer, traditionsbewusster, heterosexueller Familienvater sein möchte, zugleich aber auf der Ebene der Emotionen und Körperpraktiken fortwährend mit homosexuellen Impulsen und Reaktionen konfrontiert wird, einen beträchtlichen Leidensdruck erfährt.34 Auch hier können Anpassungsbewegungen dann in beide Richtungen versucht werden: In manchen Fällen werden die Subjekte das Problem überwinden, indem sie neue Selbstinterpretationen übernehmen und Lebenspläne entwickeln, die ihrem prä-reflexiven Selbstgefühl entsprechen, in anderen dagegen werden sie versuchen, ihre Empfindungen so lange neu zu deuten und dabei allmählich zu verändern, und ihre Körperpraktiken so zu beeinflussen, bis sie schließlich mit ihrem expliziten Selbstentwurf und ihren Wertvorstellungen kompatibel werden (wenngleich Zweifel daran bestehen mögen, ob das in dem gewählten Beispielfall gelingen kann). Dies ist zweifellos das Feld, mit dem sich die Psychologie beschäftigt. Der vierte Pfeil zeigt an, dass die Partizipation an sozialen Institutionen und Praktiken unvermeidlich unsere individuellen Empfindungen, Körperpraktiken und Habitus formt und beeinflusst. Diesen Zusammenhang haben etwa die Arbeiten Michel Foucaults und seiner Nachfolger im Blick auf die Disziplinierungspraktiken und die entsprechenden Institutionen 34 | In vergleichbarer Weise mag jemand sich auf der reflexiven Ebene des Redens und Fühlens ›wie ein ganzer Mann‹ verstehen, aber auf der Ebene des Habitus nichtsdestotrotz ›wie ein Mädchen‹ werfen oder gehen (um noch einmal Youngs Beispiel zu zitieren). In diesem Fall müssen zunächst keine problematischen oder handlungsrelevanten Reibungen zwischen C) und D) entstehen, solange daraus keine konfligierenden Handlungsimpulse erwachsen. Indessen wird ein solcher spannungsvoll-dichotomer Selbstentwurf höchst wahrscheinlich früher oder später mit den dominanten gesellschaftlichen Bildern und Performanzerwartungen bezüglich Männlichkeit und Weiblichkeit in Konflikt geraten und dadurch dann zu Reibungen zwischen C) und/oder D) auf der einen Seite und A) und/oder B) auf der anderen führen.

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der modernen Gesellschaft deutlich werden lassen.35 Umgekehrt werden jedoch soziale Institutionen und Praktiken in und durch unsere Habitus und Körperpraktiken auch ihrerseits beeinflusst und re-interpretiert. Wo diese beiden Ebenen signifikant auseinanderfallen, wo also die Normen und Selbstbilder, welche den Institutionen und Praktiken zugrunde liegen, unvereinbar sind (oder werden) mit den Werten, Deutungen und Selbstverständnissen, die unseren Körpern eingeschrieben sind, sind einmal mehr pathologische Reaktionen zu erwarten. Diese nehmen dann die Form devianten Verhaltens oder somatischer Erkrankungen an, welche wiederum Gegenstand der Sozialpsychologie oder der Medizinsoziologie sind.36 Insofern die betroffenen Subjekte unter diesen Umständen tatsächlich und buchstäblich krank werden können, stellt dies den offensichtlichsten Fall einer genuinen Pathologie dar. Der Pfeil Nummer 5 zeigt an, dass auch die Ebenen B) und C) interdependent sind. Das bedeutet, dass die reflexiven Selbstverständnisse der Akteure nicht nur von den kollektiv wirkmächtigen Doktrinen und Leitbildern (Ebene A)), sondern auch in den sozialen Institutionen und Praktiken geprägt werden. Denn diese letzteren setzen stets schon ein bestimmtes Verständnis des sozialen Handelns und eine bestimmte Konzeption menschlicher Interaktion voraus, deren implizite Werte, Normen und Deutungen die sozialen Akteure wenigstens teilweise internalisieren müssen, um handlungsfähig zu sein. Umgekehrt werden die so institutionalisierten Selbstverständnisse in der Partizipation an den entsprechenden Praktiken wiederum auch bestätigt und legitimiert. In der Partizipation an sozialen Institutionen werden die Individuen daher stets mit impliziten, erfahrungsgesättigten Selbst- und Weltverständnissen konfrontiert, die mit ihren eigenen Selbstentwürfen im Einklang stehen können oder auch nicht. Allerdings interpretieren und beeinflussen die Selbst- und Weltverständnisse der Akteure auch ihrerseits die sozialen Institutionen und Praktiken, indem sie deren Natur, Charakter und Bedeutung (neu) 35 | Michel Foucault: Madness and Civilization. New York: Pantheon Books 1965; Michel Foucault: Discipline and Punish: The Birth oft the Prison. New York: Pantheon Books 1977. 36 | Die ausgeprägtesten Beispiele für diese Art der Divergenz finden sich in ethnologischen Studien, die der Frage nachgehen, warum die Mitglieder mancher indigener Völker, etwa der australischen Aborigines, äußerste (und sogar körperliche) Schwierigkeiten haben, sich ›westlichen‹ Institutionen anzupassen.

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bestimmen und darüber auch die Interpretation und Ausfüllung der vorgesehenen Rollenmuster definieren.37 Ein markantes Auseinanderfallen zwischen den wirkmächtigen Normen, Selbstbildern und Interpretationen dieser beiden Ebenen kann langfristig entweder zu einem Institutionenzerfall führen – wenn die sozialen Akteure die institutionell verankerten und vorausgesetzten Normen, Werte und Rollenverständnisse nicht mehr ernstnehmen38 – oder aber ausgeprägte Entfremdungserfahrungen verursachen. Wie Charles Taylor im Anschluss an Hegel überzeugend dargelegt hat, entsteht Entfremdung nämlich überall dort, wo die Akteure sich in den Institutionen und Praktiken, an denen sie teilhaben, nicht mehr wiedererkennen können. Soziale Verhältnisse dieser Art bilden einen traditionellen Gegenstand der klassischen und der marxistischen Sozialphilosophie. The happiest, unalienated life for man… is where the norms and ends expressed in the public life of a society are the most important ones by which its members define their identity as human beings. For then the institutional matrix in which they cannot help living is not felt to be foreign. Rather it is the essence, the ›substance‹ of the self […] But alienation arises when the norms, goals or ends which define the common practices or institutions begin to seem irrelevant or even monstrous. 39

Wenn dagegen überhaupt ein direkter Einfluss zwischen den kollektiven sozialen Leitbildern und Legitimationsdoktrinen A) und dem individuellen Habitus D) besteht, der weder über die reflexiven Selbstverständnisse der Akteure noch durch die sozialen Institutionen vermittelt wird, wie es 37 | Vgl. dazu Taylor: »Institutions are defined by certain norms and constituted by certain normative conceptions of man. It is these conceptions that they sustain. But the relationship of support also works the other way. It is these normative conceptions that give the institutions their legitimacy.« Charles Taylor: »Alternative Futures: Legitimacy, Identity, and Alienation in Late-Twentieth-Century Canada«, in: Ders.: Reconciling the Solitudes. Essays on Canadian Federalism and Nationalism. Montreal: McGill-Queen’s University Press 1993, S. 59-119, hier: S. 68; Siehe auch Philip Selznick: The Moral Commonwealth. Social Theory and the Promise of Community. Berkeley: University of California Press 1992, S. 229ff. 38 | Ebd. 39 | Charles Taylor: Hegel and Modern Society. Cambridge/NY: Cambridge University Press 1979, hier: S. 90f., vgl. auch S. 118.

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der sechste Pfeil nahe legt, dann ist er vermutlich eher schwach ausgeprägt. In jedem Falle sind politische Doktrinen, die den tief verwurzelten oder möglicherweise sogar anthropologisch verankerten Momenten unseres verkörperten Selbstgefühls entgegenstehen (vielleicht liefert Pol Pots Regime in Kambodscha dafür ein historisches Beispiel), auf lange Sicht höchstwahrscheinlich zum Scheitern verurteilt. Sie lassen sich nur unter Einsatz von (körperlicher) Gewalt aufrechterhalten, was notwendigerweise kulturelle Pathologien und vermutlich politischen Terror (von Seiten des Staatsapparates und/oder als Reaktion entfremdeter Subjekte) erzeugt. Auf diese Weise ist es nicht unwahrscheinlich, dass unsere verkörperten Normen und Selbstbilder dem politischen und kulturellen Spielraum für mögliche und legitimierbare Selbstbilder Grenzen setzen. Als sicher gelten kann zumindest, dass die auf der Ebene D) verkörperten Selbstbilder – so sehr sie auch ihrerseits sozialem und kulturellem Wandel unterliegen und durch die Ebenen B) und C) geprägt werden – sich nur inkrementell und darüber hinaus sehr langsam verändern.40 Wenn es tatsächlich anthropologisch festgelegte Elemente unseres verkörperten Selbstverständnisses (D)) geben sollte, dann setzen diese der Varianz kulturell langfristig möglicher und erfolgreicher Selbstinterpretationen der Ebenen A) – C) ultimative substanzielle Grenzen. Dies wiederum könnte einen Ausgangspunkt dafür liefern, die Selbstinterpretationen auch radikal unterschiedlicher kultureller Formationen (A) – D)) wechselseitig kommensurabel zu machen.

40 | Als verblüffendes Beispiel für einen relativ raschen Wandel mag allerdings die Tatsache dienen, dass Reisende im frühen 19. Jahrhundert nach der Einführung der Dampfeisenbahn in recht kurzer Zeit lernten, ihre physischen Barrieren gegen schnelle Fortbewegung – immerhin waren die Reisekrankheiten so ausgeprägt, dass Medizin und Wissenschaft glaubten, unwiderlegbare Beweise dafür zu haben, dass menschliche Körper Geschwindigkeiten jenseits von etwa 25-30 km/h nicht unbeschadet auszuhalten vermögen – durch habituelle Neu-Einübungen (insbesondere durch das kulturelle Erlernens eines ›panoramatischen Blicks‹ aus dem Waggonfenster) zu überwinden. Heute fühlen viele Eisenbahnreisende bei Geschwindigkeiten um die 30 km/h Übelkeit, weil es ihnen viel zu langsam vorangeht: Ein schlagender Beweis für die kulturelle Überformung des Habitus. Vgl. Wolfgang Schivelbusch: The railway journey: the industrialization of time and space in the 19th century. Berkeley/CA.: University of California Press 1986.

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D IE M ODELLIERUNG NORMATIVER P OSITIONEN Interessanterweise lassen sich nun die Unterschiede zwischen den derzeit wichtigsten normativen Positionen in der Sozialphilosophie durch ihre Verortung in dem hier vorgeschlagenen Modell der sozialkonstitutiven Selbstinterpretation rekonstruieren. Bevor ich die theoretischen Implikationen dieses Modells weiter expliziere, möchte ich daher in einem kurzen und sehr holzschnittartigen Exkurs darlegen, wie eine solche Rekonstruktion normativer Optionen aussehen könnte. Die zeitgenössische Sozialphilosophie wird derzeit weitgehend bestimmt von vier normativen Ansätzen, die als Essentialismus, Liberalismus, Kommunitarismus und Poststrukturalismus bezeichnet werden können. Versucht man nun diese Ansätze und ihre jeweiligen Zeitdiagnosen in dem Vier-Ebenen-Modell der Selbstinterpretation zu verorten, so zeigt sich, dass sie schlicht unterschiedliche Ausgangspunkte darin wählen und infolgedessen unterschiedliche Divergenzphänomene in den Blick nehmen (vgl. Abb. 2 oben). Essentialisten wie etwa Martha Nussbaum nehmen beispielsweise an, dass einige hoch relevante Elemente unseres verkörperten Selbstgefühls (Ebene D)) auf anthropologische Konstanten zurückgehen. Infolgedessen können Widersprüche zwischen diesen Elementen und den Selbstinterpretationen, die sich auf den anderen drei Ebenen herausgebildet haben, als tendenziell pathologisch kritisiert werden, wobei es aus dieser normativen Perspektive offensichtlich ist, dass die letzteren so verändert werden müssen, dass sie mit jenen anthropologischen Momenten wieder vereinbar sind. Liberale wie John Rawls und Jürgen Habermas gehen dagegen nicht von anthropologischen Essenzen aus, sondern wählen die reflexiven Selbstverständnisse, Überzeugungen und Lebenspläne der sozialen Akteure zu ihrem Ausgangspunkt und fragen danach, wie sie in einer pluralistischen Gesellschaft nebeneinander bestehen können. Für sie hat daher die Ebene C) der Selbstinterpretation einen normativen Vorrang. Rawls schlägt dann in seiner bahnbrechenden Theorie der Gerechtigkeit eine aus dem modernen westlichen Selbstverständnis hervorgegangene, spezifisch liberale Selbstinterpretation für die Ebenen A) und B) als gerecht vor, weil sie den Individuen auf der Ebene C) maximale Freiheit gewährt. Habermas und die Vertreter der Diskurstheorie befassen sich dagegen nicht oder kaum mit der Substanz individueller oder kollektiver Selbstinterpretatio-

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nen, sondern richten ihre Aufmerksamkeit vielmehr auf die Prozesse der Anpassung, Aushandlung und Vermittlung zwischen individuellen und kollektiven Selbstinterpretationen und darauf, wie sich diese Selbstinterpretationen dann in den Institutionen ›materialisieren‹. Die Diskursethik kann daher als ein Ansatz verstanden werden, dem es darum geht, den reflexiven individuellen Selbstdeutungen größtmögliche Freiheit einzuräumen und die Möglichkeit zu eröffnen, auf dem Wege der Kommunikation und der Verständigung diese mit den übrigen drei Ebenen der Selbstinterpretation in Übereinstimmung zu bringen. Sie geht davon aus, dass die Spannungen und die Anpassungsprozesse transparent gemacht und kommunikativ gesteuert werden können. Daher identifiziert sie Pathologien vor allem dort, wo diese Prozesse gestört sind oder Anpassungen einseitig erzwungen werden (insbesondere im Blick auf die durch die Pfeile 1 und 2 symbolisierten Beziehungen). Damit ist es aber offensichtlich, dass diese liberalen Ansätze den reflexiven beziehungsweise expliziten Ebenen der Selbstinterpretation (das heißt der oberen Hälfte des Modells) methodische und normative Priorität einräumen – die untere Hälfte gerät ihnen oft aus dem Blick. Auf ähnliche Weise gehen auch präferenzorientierte Utilitaristen von den aggregierten expliziten Selbstinterpretationen der Ebene C) aus und ›messen‹ die normative Qualität der Ebenen A) und B) an ihrer Übereinstimmung damit, während sie für die Möglichkeit einer Divergenz von C) und D) gar kein Sensorium zu haben scheinen. Kommunitaristen dagegen glauben, dass sich soziale Pathologien nicht einfach dadurch ausräumen lassen, dass die reflexiven individuellen Selbstentwürfe absolute normative Priorität erhalten, denn diese können dennoch (oder gerade deshalb) in Widerspruch zu den kollektiven Leitbildern und Selbstverständnissen und vor allem zu den in den Institutionen und Praktiken verankerten Normen und Akteursbildern geraten, wodurch Legitimations- und/oder Entfremdungskrisen von durchaus beängstigenden Ausmaßen (wie Taylor und Barber uns versichern) hervorgerufen werden können.41 Aus ihrer Perspektive vernachlässigen Liberale und Utilitaristen gleichermaßen und zu Unrecht die Abhängigkeit der individuellen Selbstentwürfe C) vom Zustand des Gemeinwesens, das heißt von den kollekti41 | Vgl. Benjamin Barber: Strong Democracy. Participatory Politics for a New Age. Berkeley: University of California Press 1984; Taylor: Interpretation and the Sciences of Man, S. 50.

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ven Ebenen A) und B): Individuelle Selbstinterpretationen gehen den gesellschaftlichen Diskursen und den sozialen Institutionen nicht voraus, sondern eher aus ihnen hervor, indem sie sich auf der Basis der Normen, Werte und Selbstbilder, die im sozialen Leben verkörpert sind, herausbilden. Ein pathologiefreier Zustand ist daher nach kommunitaristischer Auffassung erst und nur dann möglich, wenn zwischen den vier Ebenen (A)D)) eine substanzielle Übereinstimmung herrscht; keinesfalls reicht es aus, einfach maximale Freiheit für die Ebene C) zu fordern. Der erfolgversprechendste Weg, eine solche Übereinstimmung zu erreichen, liegt aus kommunitaristischer Perspektive darin, von der kulturhistorisch gewachsenen Substanz der Ebene A) auszugehen und diese als eine Art ›regulativer Idee‹ für den Blick auf B) und C) einzusetzen. Deshalb neigen Kommunitaristen wie Walzer oder Taylor dazu, zunächst die historische und kulturelle Selbstinterpretation einer Gesellschaft zu rekonstruieren und mögliche Pathologien dann auf der Basis dieser Rekonstruktion zu identifizieren. Noch einmal anders setzen dagegen Poststrukturalisten wie Michel Foucault an, die von den Deutungen und Normen ausgehen, die implizit und oft nahezu ›unsichtbar‹ hinter den Institutionen und Praktiken der Gesellschaft verborgen sind (Ebene B)). Sie erheben diese allerdings nicht zu einem gültigen normativen Maßstab, sondern versuchen aufzudecken, wie sehr unsere reflexiven Selbstentwürfe und sogar unser Habitus durch sie geprägt und geformt werden, auch wenn wir dies meist nicht wahrnehmen. Poststrukturalisten räumen der Ebene B) also keine normative Priorität ein, es geht ihnen vielmehr darum, ein Bewusstsein für die Abhängigkeit unserer expliziten individuellen wie kollektiven Selbstinterpretationen von den institutionalisierten und performativ reifizierten ›Power/ Knowledge‹-Systemen zu schaffen. Deshalb sind sie auch weniger mit der Identifikation von Pathologien beschäftigt; ihr Interesse gilt eher der Entlarvung von ›Ideologien‹, welche in der einen oder anderen Form die Unabhängigkeit oder Autonomie unserer reflexiven Selbstverständigung postulieren. Nichtsdestotrotz scheinen insbesondere Foucaults Schriften oft eine implizite Kritik an dem verborgenen Druck auf unser prä-reflexives Selbst, auf unsere Körper und Körperpraktiken zu üben, so als handele es sich bei dieser Prägung um eine Art ungerechtfertigter struktureller Gewalt. Dies legt nahe, dass auch die Poststrukturalisten – in überraschender Übereinstimmung mit den Essentialisten – im Grunde der Ebene D) einen gewissen normativen Vorrang einräumen, obwohl die beiden Ansätze im Blick auf die Frage des Kulturrelativismus maximal auseinanderliegen.

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Dieses Relativismusproblem, dessen Kern in der Frage besteht, ob bestimmte Formen oder Formationen der Selbstinterpretation gegenüber anderen als besser, angemessener oder ›richtiger‹ identifiziert werden können, kann jedoch, wie ich meine, auf der Basis des hier vorgeschlagenen Modells vielleicht sogar prinzipiell gelöst werden. Zunächst ist es offensichtlich, dass beispielsweise eine Selbstinterpretation auf der Ebene C) nicht einfach genauso gut oder schlecht ist wie jede andere reflexive individuelle Selbstdeutung, denn ihre Qualität kann an der Vereinbarkeit mit der auf den Ebenen A), B) und D) manifestierten sozialen Wirklichkeit objektiv ›gemessen‹ werden. Ein individuelles Selbstbild, das im Widerspruch steht zu den vorherrschenden gesellschaftlichen Diskursen und Überzeugungen, zu den Institutionen und Praktiken, an denen das Subjekt partizipiert, und schließlich auch zum verkörperten, vorreflexiven Selbstgefühl, ist insofern tendenziell pathologisch, als es unvermeidlicherweise einen Leidensdruck erzeugt, und dasselbe gilt für jede andere Selbstinterpretation auf jeder anderen Ebene: Sie kann stets beurteilt und gemessen werden an ihrer Vereinbarkeit mit den anderen drei Ebenen der sozialkonstitutiven Selbstinterpretation. Allerdings erlaubt und erfordert es das Modell auch, zwischen individuellen und kollektiven (oder zwischen mikro- und makro-sozialen) Spannungen zu unterscheiden. So wird es gewiss häufig der Fall sein, dass eine Divergenz der Selbstinterpretationen auf den Ebenen C) und D) ausschließlich oder überwiegend individual-biographische Ursachen hat, und auch eine problematische Diskrepanz zwischen der linken und der rechten Seite – also zwischen einer individuellen und der vorherrschenden kollektiven Selbstinterpretation – kann Ursachen haben, die sich nicht als Krise der gesellschaftlichen (kollektiven) Selbstinterpretation deuten lassen. Sie kann beispielsweise infolge der Migration in einen anderen Kulturkreis auftreten, in dem die vorherrschenden diskursiven und institutionalisierten Selbstinterpretationen A) und B) signifikant von den tradierten und habitualisierten Selbstverständnissen des Migranten (C) und D)) abweichen. Dies wird einen beträchtlichen Problemdruck für die betroffenen Individuen erzeugen, muss aber nicht notwendig eine generelle gesellschaftliche Krise signalisieren. Allerdings berühren solche rechts/ links-Divergenzen jenen Problemkontext, der unter dem Stichwort des ›Multikulturalismus‹ verhandelt wird und auf dieser Ebene durchaus gesamtgesellschaftliche Relevanz besitzt. Nichtsdestotrotz legt das hier vorgeschlagene Modell der sozialkons-

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titutiven Selbstinterpretation drei bedeutsame Zugeständnisse gegenüber der Position des Kulturrelativismus nahe: 1) Weil nach dem hier entwickelten Verständnis jede der vier Ebenen der Selbstinterpretation bei aller Interdependenz stets auch eine Eigendynamik und eine Teilautonomie, das heißt gewisse unabhängige Bewegungsspielräume besitzt, wird keine Ebene durch die anderen drei einfach ›determiniert‹; stets sind unterschiedliche, ja sogar widersprüchliche Selbstdeutungen auf einer Ebene mit einem gegebenen Zustand der anderen drei Ebenen vereinbar. Das Modell erlaubt es dabei nicht, normative Urteile über das Verhältnis zwischen diesen zu fällen; Selbstinterpretationen bleiben daher im Zusammenspiel stets ›unterdeterminiert‹. 2) Natürlich sind darüber hinaus die Selbstinterpretationen aller Ebenen auch veränderbar. Daher kann beispielsweise eine neue Selbstinterpretation der Ebene A) (eine neue gesellschaftliche Theorie oder Doktrin), die zunächst im Widerspruch steht zu den realisierten Selbstdeutungen der Ebenen B) bis D), allmählich die Institutionen und Praktiken (Ebene B)) transformieren und dabei und dadurch auch die reflexiven Selbstbilder und schließlich den Habitus der Akteure verändern. Selbstinterpretationen können also im historischen Prozess adäquat (gemacht) werden, selbst wenn sie zunächst ›pathologisch‹ inadäquat erscheinen. Weil allerdings die expliziten oder reflexiven Selbstinterpretationen die ›verborgenen‹ und in Praktiken, Emotionen und Habitus verankerten Bedeutungselemente der impliziten Ebenen niemals vollständig zu erfassen und zu artikulieren vermögen, und weil darüber hinaus die aus Spannungen und Interaktionen zwischen den Ebenen entstehenden ›Bedeutungs-Mutationen‹ niemals kontrollier- und prognostizierbar sind, lässt sich eine solche Transformation der gesellschaftlichen Gesamtformation (A)-D)) kaum intentional oder planmäßig herbeiführen. Es ist daher in der Tat eine der großen Herausforderungen für eine interpretative Sozialwissenschaft und Sozialphilosophie, die hier zur Geltung kommenden Adaptations- und Transformationsgesetze zu identifizieren und zu analysieren.42 42 | Vgl. Ulrich Oevermann: »Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung des Neuen«, in: Stefan MüllerDohm (Hg.): Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 267-336.

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3) Schließlich – und dies ist vielleicht der gewichtigste Punkt – kann die durch die Ebenen A) bis D) bestimmte gesellschaftliche Gesamtformation in unterschiedlichen historischen oder kulturellen Kontexten natürlich substanziell – oder wenn man so will: essenziell – unterschiedliche Formen annehmen. Das präsentierte Modell enthält keine ›externen‹ Kriterien dafür, zwischen solchen kulturell unterschiedlichen ›Selbstinterpretationssystemen‹ Werturteile zu fällen. Interkulturelle Urteile sind allenfalls mit Blick auf den Grad des Auftretens oder Nicht-Auftretens von pathologischen Divergenzen zwischen den Selbstinterpretationsebenen (zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt) möglich. Diese Form des Kulturrelativismus (die nicht mit einem normativen Subjektivismus verwechselt werden darf) scheint daher unvermeidlich zu sein, jedenfalls dann, wenn man keine starken anthropologischen Limitationen für den Spielraum der möglichen Selbstinterpretationen auf der körperlichen Ebene (D)) annimmt.43 Allerdings wäre es falsch zu glauben, dass der hier vertretene Ansatz deshalb im Namen der Kohärenz einfach den jeweiligen soziokulturellen Status quo rechtfertigt oder begünstigt. Denn wo immer Unterdrückung oder Ungerechtigkeit empfunden wird, haben wir es bereits mit einer Manifestation der Inkohärenz beziehungsweise der Divergenz zu tun, die etwa darin bestehen kann, dass bestimmte soziale Gruppen daran gehindert werden, ihren konstitutiven Selbstdeutungen (C)/D)) gemäß zu leben oder das ihnen gemäß der ›offiziellen Doktrinen‹ (A)) Zustehende zu erhalten. Kohärenz kann daher nicht einfach politisch oder gar mit Gewalt erzwungen werden; vielmehr mag ein revolutionärer Umsturz des (institutionellen und/oder ideologischen) Status quo oftmals die einzige Möglichkeit sein, ein Equilibrium wieder herzustellen. 43 | Das schließt allerdings die Möglichkeit eines interkulturellen Dialogs und des wechselseitigen Lernens nicht aus. Ich habe andernorts versucht, die Potentiale und Grenzen eines solchen Dialogs mithilfe des Konzepts einer ›dimensionalen Kommensurabilität‹ zu explizieren. Darüber hinaus können selbst jene, welche an der Idee und Relevanz ›externer‹, universalistischer Kriterien festhalten wollen, das hier vorgeschlagene Modell (beziehungsweise die präsentierte Heuristik) dazu benutzen, um kulturinterne Widersprüche und Hindernisse für die Verwirklichung der (vermeintlich) universal gültigen Werte zu identifizieren. Der Ansatz erweist sich daher nicht so sehr als anti-universalistisch denn vielmehr als ›neutral‹ in der Universalismusfrage.

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Im Ergebnis bedeutet dies allerdings, dass der zentrale normative Maßstab dieses integrativen Ansatzes in der Idee der Kohärenz beziehungsweise des Equilibriums liegt.44 Dies gilt unbeschadet des Umstandes, dass – wie ich bereits dargelegt habe – bestimmte Formen und Grade der Inkohärenz und Divergenz zu jedem Zeitpunkt vorkommen und nicht nur unvermeidlich sind, sondern sich sogar als eine kreative, produktive und oft befreiende Kraft individueller und kollektiver Entwicklungsgeschichten erweisen. Aufgabe der Gesellschaftskritik ist es daher, solche Divergenzen zu identifizieren und zu lokalisieren, die über längere Zeiträume hinweg persistent zu inkompatiblen Handlungsimpulsen führen und dabei destruktive und lähmende Folgen für die Akteure zeitigen, indem sie die dauerhafte Repression oder Verleugnung eines bestimmten Spektrums von Selbstdeutungen und Wertvorstellungen erzwingen, anstatt eine progressive wechselseitige Anpassung und eine wenigstens temporäre Re-Integration oder Versöhnung zu ermöglichen. Obwohl ich hier einige Vorschläge dafür zu machen versucht habe, wie sich der Punkt bestimmen lässt, an dem Inkohärenz sozial kritisch oder sogar pathologisch wird, kann kein Zweifel daran bestehen, dass dieses Forschungsfeld noch weitgehend unbearbeitet ist.

E RWEITERUNGEN DES M ODELLS Versucht man nun, das dargelegte heuristische Grundmodell tatsächlich für die empirische Analyse einer gegebenen gesellschaftlichen Wirklichkeit einzusetzen, so stellt man rasch fest, dass es sich bei ihm um eine sträflich grobe Vereinfachung handelt. Denn weder gibt es eine kohärente, singuläre, eindeutig bestimmbare gesellschaftliche Selbstinterpretation auf der Ebene der explizit-reflexiven Selbstbeschreibungen oder Leitbilder (A)), noch gibt es ›das‹ gesellschaftliche Selbstverständnis auf der Ebene der Institutionen und Praktiken (B)). Stattdessen findet man ganz heterogene institutionelle Kontexte oder Praxis-Felder wie Wirtschaft, Religion, Recht, Politik, Kunst oder Wissenschaft, die je spezifische Selbstverständnisse und Wertvorstellungen implizieren (das heißt auch: voraussetzen und befördern), und ebenso findet man korrespondierende Theorien, Diskurse oder Selbstbeschreibungen, die sich gravierend voneinander unterscheiden und nicht selten sogar partiell inkompatibel sind. 44 | Vgl. Alessandro Ferrara: Reflective Authenticity. London/New York: Routledge 1998.

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Abbildung 3

Obwohl ich hier nur einen sehr vorläufigen, tentativen Vorschlag dafür unterbreiten kann, wie dieses Problem theoretisch (und empirisch) gelöst werden könnte, scheint mir die Vermutung naheliegend zu sein, dass sich die identifizierbaren Diskurse und ebenso die Praktiken zueinander verhalten wie die Ebenen des Grundmodells, das heißt, dass sie in einer von Elastizität, Interdependenz und Teilautonomie geprägten Wechselbeziehung stehen (vgl. unten Abb. 3). Wie im Grundmodell sind in dem erweiterten Modell für die Ebenen A) und B) Widersprüche, Spannungen und Anpassungs-

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bewegungen, aber auch gelegentliche Revolutionierungen weit eher die Regel als die Ausnahme. Ich werde mich im Folgenden auf die Präzisierung der linken, das heißt der kollektiven Seite des Grundmodells beschränken, obwohl für den konkreten empirisch-methodischen Einsatz der Heuristik natürlich eine ähnliche Erweiterung auch für die rechte, individuelle Seite erforderlich wäre. Das relative Gewicht, die Ausdehnung und der Einfluss eines sozialen Feldes verändern sich im historischen Prozess immer wieder. So mag zu einer bestimmten Zeit etwa ein wirtschaftliches Selbstverständnis wie das des homo oeconomicus auch die politische, rechtliche und vielleicht sogar die religiöse Sphäre beherrschen (oder ›kolonialisieren‹), während zu anderen Zeiten vielleicht ein staatsbürgerlich-politisches Selbstbild oder das Selbstverständnis eines Gläubigen sich in andere Felder ausdehnen, wo sie dann möglicherweise Spannungen mit den dort zuvor vorherrschenden, tradierten Selbstinterpretationen hervorrufen.45 Solche ›Migrationsbewegungen‹ von Selbstinterpretationen können ihren Ausgang sowohl von der Ebene A) nehmen – wenn beispielsweise politische Prozesse plötzlich in der Sprache und der Diskurslogik der Ökonomie konzeptualisiert werden und einflussreiche ›ökonomische‹ Theorien der Politik formuliert werden, die dann auch einen transformativen Einfluss auf die politischen Institutionen und Praktiken gewinnen46 – als auch von der Ebene B). Letzteres 45 | Daniel Bells Diagnose der kulturellen Widersprüche des Kapitalismus mag ein interessantes Beispiel für Spannungen dieser Art sein. Daniel Bell: The Cultural Contradictions of Capitalism. New York: Basic Books 1976, hier: S. 65ff, S. 80ff. Diese bestehen nach Bell in der vermuteten Unvereinbarkeit zwischen dem hedonistischen Selbstkonzept, das in der modernen Konsumsphäre vorherrscht, und dem eher asketisch ausgerichteten, ›protestantischen‹ Arbeitsethos, das in der kapitalistischen Produktionssphäre benötigt wird. Ein weiteres, ebenso aufschlussreiches Beispiel stellen die von Charles Percy Snow identifizierten, unvereinbaren ›zwei Kulturen‹ der modernen Gesellschaft dar. Charles P. Snow: The Two Cultures. Cambridge: Cambridge University Press 1993. 46 | Solche Wanderungsbewegungen von Sprachen beziehungsweise ›Paradigmen‹ aus einer sozialen Sphäre in eine (oder mehrere) andere sind ein zentrales Thema in J.G.A. Pococks Analysen der Entwicklung politischer Sprachen in der Frühmoderne, und ebenso in seinen metatheoretischen Überlegungen. »It is part of the plural character of political society that its communication networks can never be entirely closed, that language appropriate to one level of abstraction can

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ist beispielsweise der Fall, wenn Marktpraktiken und entsprechende Handlungslogiken beginnen, sich nachhaltig auf dem Feld der Politik auszubreiten, was dann auch die politisch-theoretischen Selbstbeschreibungen nach und nach zwingt, auf die Veränderungen der politisch-institutionellen Wirklichkeit zu reagieren.47 Wenn allerdings nach solchen feldspezifischen ›Mutationen‹ die entsprechenden theoretischen und/oder praktischen Anpassungsbewegungen ausbleiben oder blockiert sind und die Elastizitätsgrenzen überschritten werden, kommt es zu institutionellen und/oder ideologischen Krisen in dem im Grundmodell beschriebenen Sinne. Weil darüber hinaus soziale Gruppen in ganz unterschiedlichem Maße mit den jeweiligen sozialen Feldern oder Praxissphären verknüpft sind, always be heard and responded to upon another, that paradigms migrate from contexts in which they have been specialized to discharge certain functions to others in which they are expected to perform differently«, schreibt Pocock (Pocock: Politics, Language and Time, S. 21) und fügt hinzu, dass die Sprachen, in denen die Sphäre des Politischen theoretisch und praktisch konzeptualisiert wird, und daher die entsprechenden Akteurs- und Selbstbilder, zwischen den Kulturen erheblich divergieren: »Western political thought has been conducted largely in the vocabulary of law, Confucian Chinese in that of ritual. Others originate in the vocabulary of some social process which has become relevant to politics: theology […], land tenure […], technology.« Pocock: The History of Political Thought, S. 195. 47 | Hierbei darf nicht übersehen werden, dass auch Praktiken und Institutionen stets schon ein bestimmtes Vokabular und eine je spezifische Sprache benötigen, ja dass es ohne diese Sprache gar nicht möglich ist, an ihnen zu partizipieren beziehungsweise in ihnen zu handeln. »The situation we have here is one in which the vocabulary of a given social dimension is grounded in the shape of social practice in the dimension; that is, the vocabulary would not make sense, could not be applied sensibly, where this range of practices did not prevail. And yet this range of practices could not exist without the prevalence of this or some related vocabulary. There is no simple one-way dependence here.« Taylor: Interpretation and the Sciences of Man, S. 33f. Sprache ist also nicht nur ein Element der Ebene A), sondern stets auch ein konstitutives Moment der Ebene B). Wenn jedoch das relative Gewicht und die Reichweite der Sprache (oder des Vokabulars) eines bestimmten sozialen Feldes wachsen, steigt auch die Tendenz, abstraktere oder theoretischere Beschreibungssprachen für diesen Bereich zu entwickeln, die dann eine zunehmende Bedeutung auf der Ebene der Doktrinen und expliziten Selbstbeobachtungen (Ebene A)) gewinnen. Vgl. Pocock: The History of Political Thought.

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unterscheiden auch sie sich in der jeweiligen Art ihrer Selbstinterpretation. Deshalb ist soziale Mobilität – gleichgültig, ob sie freiwillig oder erzwungenermaßen erfolgt – eine weitere Ursache für die Migration paradigmatischer Selbstinterpretationen und für die damit einhergehenden Reibungen. Solche Mobilität lässt sich beispielsweise beobachten, wenn plötzlich eine große Gruppe von Juristen die strategischen Schlüsselpositionen der Politik erobert (oder umgekehrt), oder wenn Künstler und Wissenschaftler ihre Positionen tauschen. Im Blick auf die individuelle Seite der Selbstinterpretation (Ebenen C) und D)) müsste ein erweitertes Modell (das ich hier nicht ausführen kann) der Tatsache Rechnung tragen, dass auch individuelle Identitäten nicht einfach durch kohärente, geschlossene reflexive und prä-reflexive Selbstverständnisse gebildet werden, sondern ebenfalls aus einer Vielzahl an durchaus unterschiedlichen, kontextabhängigen und in den jeweiligen Praktiken geformten Selbstbildern bestehen, die der Vielfalt an Kontexten entsprechen, welche in Abbildung 3 repräsentiert sind.48 Indessen ist für konkrete soziologische oder politische Feldanalysen selbst dieses erweiterte Modell der sozialen Mesostruktur noch nicht präzise genug. Denn unbezweifelbar sind selbst die kontext- oder feldspezifischen Praktiken und Selbstbeschreibungen in ihrer Bedeutung häufig noch ambivalent und umstritten. So gibt es weder ›die‹ politische (oder religiöse oder ökonomische) Selbstbeschreibung der Gesellschaft, noch sind soziale Rollen und Praktiken eindeutig definiert. Stattdessen finden sich stets ›mikrostrukturelle‹ Variationen in den dominanten Selbstverständnissen und Leitbildern zwischen den verschiedenen politischen (beziehungsweise religiösen oder ökonomischen) Institutionen und ebenso zwischen den entsprechenden Bereichstheorien, und darüber hinaus interpretieren unterschiedliche soziale Akteure oder Gruppen selbst die gleichen Institutionen oder Doktrinen auch jeweils unterschiedlich, so dass soziale Praktiken ebenso wie soziale Selbstbeschreibungen, auch wenn sie kontextbezogen sind, auf der mikrostrukturellen Ebene stets umkämpft (›contested‹) sind (vgl. unten Abb. 4). Wie im Modell der Mesostruktur (Abb. 3) ist auch hier davon auszugehen, dass das relative Gewicht und die 48 | Natürlich müsste eine erweiterte Modellierung der Ebenen C) und D) darüber hinaus der Tatsache Rechnung tragen, dass zwischen den reflexiven ebenso wie zwischen den impliziten Selbstkonzepten unterschiedlicher sozialer Gruppen oder Schichten erhebliche Differenzen bestehen.

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Bedeutung einer (in diesem Fall:) politischen Subsphäre und ihrer Selbstbeschreibung sich im Laufe der Zeit verändert. Versucht man daher die politische Selbstinterpretation einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt zu rekonstruieren, so muss man die Dynamik der je aktuellen Diskurse, institutionellen Entwicklungen und praktischen Kämpfe im politischen Leben dieser Gesellschaft genau untersuchen. Abbildung 4

Wie eine solche Rekonstruktion aussehen könnte, versucht Abbildung 4 zu verdeutlichen. Bei den drei politischen Selbstbeschreibungen könnte es sich beispielsweise um parlamentarische, verfassungsrechtliche und öffentliche politische Selbstbeschreibungen (oder Theorien) handeln, denen

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die parlamentarische, die verfassungsgerichtliche und die demokratische Praxis (Ebene B)) gegenüberstehen. Aber ebenso lassen sich im Blick auf die Ebene A) etwa konservative, liberale und sozialdemokratische Selbstbeschreibungen identifizieren und kontrastieren, deren relatives Gewicht sich im historischen Verlauf ebenfalls verändert. In diesem Fall lassen sich keine korrespondierenden Institutionen oder Praxisfelder zuordnen, stattdessen handelt es sich um drei unterschiedliche Interpretationen derselben Institutionen und Praktiken. Für das Verständnis der gegenwärtigen Situation westlicher Gesellschaften ist es dabei aufschlussreich zu beobachten, wie die einst signifikanten Kontraste zwischen diesen drei politischen Positionen in jüngster Zeit geradezu zu kollabieren scheinen, was meines Erachtens ein deutlicher Hinweis auf die andauernde progressive ›Immunisierung‹ bestimmter Institutionenordnungen (Ebene B)) ist, wie ich im Schlussabschnitt dieses Beitrags zeigen möchte. Um nun das Ergebnis dieser ausführlichen Untersuchung zusammenzufassen, lässt sich festhalten, dass es sich bei der sozialkonstitutiven Selbstinterpretation einer Gesellschaft um ein komplexes, vielschichtiges System handelt, das aus einer Vielzahl an interdependenten und eng miteinander verzahnten Selbstdeutungen besteht, die in einem andauernden Prozess wechselseitiger Reibung, Anpassung und Transformation begriffen sind. Unglücklicherweise ähnelt der Versuch, eine vollständige Rekonstruktion dieser Selbstinterpretation (etwa einer modernen westlichen Gesellschaft) zu liefern, der gewaltigen Aufgabe der Entschlüsselung des Humangenoms (einer Aufgabe immerhin, die trotz ihrer Komplexität in interdisziplinärer Zusammenarbeit vieler Wissenschaftler gelöst wurde). Doch erfreulicherweise bedarf die konkrete interpretative Sozialanalyse gar nicht der vollständigen Rekonstruktion der Makro-, Meso- und Mikrostrukturen der Selbstinterpretationsformation. Wie extensiv und tiefenscharf eine konkrete empirische Analyse sein muss, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. So bedarf etwa die Beantwortung der Frage, ob eine bestimmte politische Doktrin mit einer konkreten politischen Praxis oder Institution übereinstimmt, normalerweise keiner Rekonstruktion der religiösen oder ästhetischen Meso- oder Mikrostrukturen, und auch nicht einer genauen Analyse der Ebenen C) und D). Umgekehrt ist es für die Analyse eines möglicherweise problematischen Verhältnisses zwischen dem verkörperten Habitus (Ebene D)) sozialer Akteure und den institutionellen oder disziplinaren Praktiken etwa des Militärs, des Schulunterrichts oder der Industriearbeit (Ebene B)) nicht notwendig, eine komplexe

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Analyse der kollektiven gesellschaftlichen Leitbilder (Ebene A)) vorzunehmen. Allerdings ist es bei jeder solchen sozialhermeneutischen Analyse hilfreich und wichtig, den Umstand im Blick zu behalten, dass zwischen allen Ebenen, Schichten und Sphären der Selbstinterpretation komplexe Wechselwirkungen bestehen, die im fortwährenden dynamischen Transformations- und Anpassungsgeschehen an vielen Stellen ganz unerwartete Konsequenzen zeitigen können.

A USBLICK : K ONSEQUENZEN FÜR G ESELLSCHAF TSANALYSE UND Z EITDIAGNOSE Wie ich bereits angedeutet habe, vertrete ich die Auffassung, dass sozialer Wandel als eine Folge der unvermeidlichen Spannungen und Diskrepanzen zwischen den vier Ebenen der Selbstinterpretation entsteht. Er kann seinen Ausgang von jeder Ebene nehmen und dann zu Veränderungen in Form von Anpassungsbewegungen entlang aller Einflussrichtungen führen (vgl. die Pfeile 1-6 im Grundmodell, Abb. 2). Der hier vorgeschlagene Ansatz enthält deshalb keine generalisierte Theorie des sozialen Wandels jener Form, welche die Antriebsquelle der sozialen Evolution auf nur einer Ebene verortet (wie das idealistische, materialistische, holistische oder individualistische Ansätze tun, vgl. oben, Abb. 1). Das bedeutet indessen nicht, dass es sich hier um einen ausschließlich meta-theoretischen Entwurf ohne eigenständige normative oder explanatorische Kraft handelte. Zunächst einmal kann das vorgeschlagene Modell als eine heuristische Matrix für die Gesellschaftskritik dienen, um die Identifikation von sozialen Störungen und potentiellen Pathologien zu erleichtern und Lösungsmöglichkeiten für deren Überwindung zu entdecken. Angewendet auf konkrete historische Problemlagen, ermöglicht es die Analyse bestehender Spannungsverhältnisse, der beobachtbaren und möglichen Anpassungsprozesse, und schließlich der resultierenden problematischen (oder sogar pathologischen) Folgen des Transformationsgeschehens. So lässt sich mithilfe des Modells beispielsweise eine überzeugende Erklärung für den Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten am Ende des 20. Jahrhunderts finden: Ohne dies hier im Detail ausführen zu können, scheint es mir doch offensichtlich zu sein, dass sich in der Endphase des Realsozialismus die offiziellen, kollektiven Leitbilder des marxistisch-leni-

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nistischen Gesellschaftsverständnisses und die Selbstverständnisse und Wirklichkeitsvorstellungen der Bürger spürbar auseinanderentwickelten (Legitimationskrise), während darüber hinaus auch die Diskrepanzen zwischen den offiziellen Doktrinen und Selbstbeschreibungen auf der einen und den tatsächlichen Performanzen in den politischen, ökonomischen und sozialen Institutionen auf der anderen Seite signifikant anwuchsen (institutionelle beziehungsweise ideologische Krise). Gewiss spielte die ökonomische Leistungsfähigkeit dabei eine zentrale Rolle, aber sie erlangte diese nur über die Divergenzen in der Selbstinterpretation, insbesondere zwischen der ökonomischen Praxis und den Wohlstandserwartungen der Bürger. Infolgedessen stieg, ganz wie es das Modell nahe legt, in den betroffenen Gesellschaften die innere Unruhe oder Transformationsenergie, was zur Suche nach einer adaptiven Überwindung der Spannungszustände führte. Der dann gefundene Weg bestand interessanterweise in einer verknüpften Revolutionierung der institutionellen (B)) ebenso wie der ideologischen Ebene (A)), mithin also in einer ideologisch-institutionellen Doppelrevolution.49 Festzuhalten bleibt, dass es zwei ganz verschiedene Wege gibt, auf denen soziale Formationen oder kulturelle Wirklichkeiten pathologisch werden können: Zum Ersten können die konkreten Inhalte oder ›Substanzen‹ der Selbstdeutungen auf den vier Ebenen sozialer Wirklichkeit so zueinander in Widerspruch geraten, dass die jeweiligen Normen, Selbstbilder und Wertvorstellungen sich unversöhnlich gegenüberstehen und dauerhaft konfligierende Handlungsimpulse erzeugen, die massiven Leidensdruck hervorrufen. Hier sollte es der methodisch kontrollierten Gesellschaftskritik nicht darum gehen, die inhaltliche Substanz der einen oder anderen Selbstinterpretation per se zu kritisieren, sondern nur darum, die handlungsrelevanten Unvereinbarkeiten in der Selbstinterpretationsformation, welche die soziale Wirklichkeit konstituiert, herauszuarbeiten. Welche Anpassungs- und Korrekturbewegungen dann vollzogen werden sollten, lässt sich nicht theoretisch entscheiden. Gangbare und 49 | Siehe dazu ausführlich Hartmut Rosa und Steffen Schmidt: »Which Challenge, Whose Response? Ein Vier-Felder-Modell der Challenge-Response-Analyse sozialen Wandels«, in: Dorothe De Néve, Marion Reiser und Kai-Uwe Schnapp (Hg.): Herausforderung – Akteur – Reaktion. Diskontinuierlicher sozialer Wandel aus theoretischer und empirischer Perspektive. Baden-Baden: Nomos 2007, S. 53-72.

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akzeptable Re-Interpretationen zu finden ist eine kollektive Herausforderung für die betroffene Gesellschaft. Indessen scheint es offensichtlich zu sein, dass sich Institutionen schneller, zuverlässiger und schmerzloser verändern lassen als individuelle Selbstverständnisse und Selbstverhältnisse, wenngleich sich die letzteren im Deliberationsprozess durchaus ebenfalls wandeln mögen. Die zweite Form pathologischer Störung betrifft den Prozess der wechselseitigen Anpassung zwischen den Ebenen. Wie ich dargelegt habe, gewinnen die Selbstinterpretationen auf allen vier Ebenen stets eine gewisse Eigendynamik, sie entwickeln sich nach ihren je eigenen Antriebslogiken, Pfadabhängigkeiten und Herausforderungen in verschiedene Richtungen. Nun kann aber der Prozess der fortwährenden wechselseitigen Adaptation auf verschiedene Weisen gestört oder sogar blockiert sein, beispielsweise dadurch, dass sich die vier Ebenen desynchronisieren und zugleich in ihrer Eigendynamik so beschleunigen, dass sie nicht mehr re-integriert werden können, oder aber durch die Immunisierung einer Ebene gegenüber den Veränderungen der anderen Ebenen, wodurch entweder ganz einseitige Anpassungsbewegungen erzwungen werden oder aber schwerwiegende Pathologien entstehen. Beide dieser Störungen lassen sich nach meiner Auffassung an gegenwärtigen westlichen Gesellschaften beobachten.50 So scheint es, dass einige soziale Institutionen, insbesondere im Bereich der (kapitalistischen) Ökonomie und der Technik, als objektivierte und sedimentierte Selbstinterpretationen der Ebene B) eine so starke Eigendynamik entwickelt und sich darüber so sehr verselbständigt haben, dass sie sich gegenüber den expliziten individuellen und kollektiven Selbstdeutungen fast vollständig immunisiert haben. Diese Verselbständigung nimmt dann die Form ökonomischer oder technischer ›Sachzwänge‹ an, die uns scheinbar keine andere Wahl lassen als die, uns in erster Linie als Konsumenten und als Produzenten zu verstehen. Die Individuen ebenso wie die reflexiven gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen sind dann gezwungen, diese Verselbständigung zu akzeptieren und sich den Entwicklungen auf der Ebene D) anzupassen, oder die Gefahr von Entfremdungs-, Devianz- und ideo50 | Vgl. Hartmut Rosa: »Social Acceleration. Ethical and Political Consequences of a De-Synchronized High-Speed Society« (mit Entgegnungen von William Scheuerman, Barbara Adam und Carmen Leccardi), in: Constellations. An International Journal of Critical and Democratic Theory 1 (2003), S. 3-52.

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logischen Krisen einzugehen, die dann früher oder später auch Legitimationskrisen hervorbringen können.51 Nun scheint es aber offensichtlich zu sein, dass diese Immunisierung und Verselbständigung unvereinbar ist mit der Selbstbeschreibung westlicher Gesellschaften als ›demokratische Gesellschaften‹ (Ebene A)), die im Modus reflexiver politischer Selbsteinwirkung ihr Schicksal und ihre kollektive Lebensform selbst gestalten. Das stellt diese Gesellschaften meines Erachtens vor die schwierige Wahl, entweder die gegenwärtigen ökonomisch-institutionellen Rahmenbedingungen zu revolutionieren oder aber das Selbstbild der Gesellschaft als eines demokratischen, auf Autonomie zielenden Projekts, in dem das Versprechen von Aufklärung und Moderne begründet liegt, preiszugeben. Tatsächlich sind in jüngster Zeit ja eine ganze Reihe neuer gesellschaftlicher Selbstbeobachtungen wie Luhmanns Systemtheorie oder poststrukturalistische Ansätze entstanden, welche die letztere Option nahe legen, indem sie behaupten, dass die Vorstellung einer politisch verstehbaren und demokratisch gestaltbaren Gesellschaft, also der Anspruch auf politische Selbstbestimmung, schon immer illusorisch und unrealistisch gewesen sei.52 Nichtsdestotrotz bin ich davon überzeugt, dass die damit verknüpften ›postmodernen‹ Konzeptionen des Selbst, welche dieses als fragmentarisch-offen und inkohärent oder als ›psychisches System‹ verstehen, nicht zu der für die Ebene C) maßgebenden, das reflexive Selbstverständnis der 51 | Weil die herrschende soziopolitische Selbstauslegung westlicher Gesellschaften auf der Annahme basiert, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beziehungsweise die Kerninstitutionen der Gesellschaft durch den politischen Willen der Bürger kontrolliert werden und diesem gegenüber verantworlich sind, und weil diese Annahme dadurch unterlaufen wird, dass die Kerninstitutionen und Rahmenbedingungen sich gegenüber der demokratischen Kontrolle bis an den Rand der ›Unregierbarkeit‹ immunisiert haben, scheint eine Legitimationskrise nahezu unvermeidlich; sie deutet sich vielleicht in der verbreiteten ›Politikverdrossenheit‹ der Bürger schon an. Tatsächlich ist es wahrscheinlich, dass nach und nach Spannungen und Diskrepanzen zwischen allen vier Ebenen entstehen, wenn eine von ihnen den Prozess wechselseitiger Anpassung blockiert. 52 | In dieser Entwicklung ist vielleicht auch ein Hinweis darauf zu sehen, dass sich die dominante Selbstinterpretation westlicher Gesellschaften derzeit verändert, indem das Leitbild eines aktiv-politischen (›staatsbürgerlichen‹) sozialen Akteurs durch eine eher passiv-zynische oder ironisch-spielerische Konzeption ersetzt wird.

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Akteure bestimmenden Selbstinterpretation avancieren können. Denn Individuen, die sich tatsächlich als (autopoietische) ›psychische Systeme‹ im Sinne Luhmanns oder als passive Schnittpunkte im Sprach- oder Diskursnetz verständen, wären nicht in der Lage, eine feste Orientierung der Welt gegenüber zu gewinnen und verlässliche Handlungsorientierungen auszubilden. Deshalb scheinen mir zumindest Legitimations-, aber auch Entfremdungskrisen unter spätmodernen Lebensbedingungen unausweichlich – damit ist aber auch das Aufgabenfeld für die zeitgenössische Sozialphilosophie abgesteckt.

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Möglichkeit und Intentionalität Über die grundlegenden Bedingungen von historischen Veränderungen Doris Gerber

I. E INLEITUNG In seinem monumentalen Werk Krieg und Frieden hat Lew Tolstoi ein Bild von der Geschichte gezeichnet, das sehr wenig Raum für Optimismus lässt. Im Rahmen seiner Überlegungen zu den Ursachen von Napoleons Russlandfeldzug betont er, dass die Historiker uns zwar mit naiver Überzeugung weismachen wollten, dass dieses Ereignis zum Beispiel durch Übertretungen des Kontinentalsystems, durch die Herrschsucht Napoleons, durch die Unbeugsamkeit des russischen Zaren Alexander I. und durch Fehler der Diplomaten hervorgerufen worden sei; aber wenn man die Dinge nüchtern und ohne vom Forschertrieb eines Historikers hingerissen zu sein betrachte, dann, so Tolstoi, komme man nicht umhin in der überwältigenden Anzahl von Umständen und Bedingungen, die diesem Ereignis vorausgingen, einen Fatalismus am Werke zu sehen, der jeden Versuch einer rationalen Erklärung zum Scheitern verurteilt: »Die Handlungen eines Napoleon und Alexander, von deren Befehlen es abzuhängen schien, ob das Ereignis zur Tatsache werden solle oder nicht, waren ebensowenig ihrem eigenen Willen unterworfen wie die eines jeden Soldaten, der, durch das Los oder die Aushebung dazu bestimmt, mit ins Feld zog.«

Nicht nur der einfache, der willkürlichen Herrschaft der Kaiser und Zaren unterworfene Soldat, auch und gerade diese Herrscher selbst sind nach Tolstoi

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»Sklaven der Geschichte. Die Geschichte, das heißt, das unbewusste, allgemeine Massenleben der Menschheit, nutzt jeden Augenblick im Leben eines Herrschers für sich aus als Werkzeug zur Erfüllung ihrer Ziele […] Bei historischen Ereignissen sind die sogenannten großen Persönlichkeiten nur Etiketten, die dem Ereignis den Namen geben, haben aber, ganz wie Etiketten, in Wirklichkeit am allerwenigsten mit den Ereignissen zu tun. Jede ihrer Handlungen, die ihnen aus eigenem Wunsch und nur um ihrer selbst Willen ausgeführt zu sein scheint, ist im historischen Sinn nicht freiwillig, sondern mit dem ganzen Gang der Geschichte verknüpft und von Ewigkeit her vorausbestimmt.« 53

Vor diesem Hintergrund eines schicksalhaft ablaufenden und von Anbeginn determinierten Geschehens, das als Geschehen Ziele verfolgt und Menschen als Werkzeuge benutzt, ist das Bemühen der tatsächlich handelnden Subjekte, selber Absichten und Pläne zu verfolgen und zu verwirklichen, einfach nur ein ziemlich lächerliches Unterfangen. Und so beschreibt Tolstoi seine Figuren ja auch: Als eigentlich vernünftig und in einem idealisierenden Licht werden gerade die Personen dargestellt, die sich in ihr Schicksal ergeben. Tolstois Bild von der Geschichte ließe es durchaus zu, von einer Entwicklung, einer Veränderung oder einem Wandel zu sprechen; denn schließlich geschieht ja etwas, Kriege werden geführt, Herrschaftsverhältnisse ändern sich, politische Ordnungen werden umgestürzt. Neben all dem Auf und Ab in den adligen Familien, das Tolstoi beschreibt, sind dies ja genau die typischen Geschehnisse mit denen sich die Geschichtsschreibung gemeinhin, jedenfalls traditionellerweise, beschäftigt. Aber lässt Tolstois Geschichtsbild es wirklich zu, von einem historischen Wandel, einer historischen Entwicklung oder Veränderung zu sprechen? Kann es vor dem Hintergrund solch einer fatalistischen Idee von Geschichte überhaupt so etwas wie einen geschichtlichen Wandel geben? Mit dem Ausdruck »historische Veränderung« meine ich hier zunächst nicht eine Entwicklung im Rahmen einer Ereignisfolge, die irgendwie bedeutsam, ja vielleicht sogar einmalig ist oder zumindest einmalig zu sein scheint. Dieses umgangssprachliche Verständnis von historischem Wandel setzt ein viel grundlegenderes Verständnis des Begriffs einer historischen Entwicklung allererst voraus. Dieses grundlegendere Verständnis 53 | Leo N. Tolstoi: Krieg und Frieden. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 827-829.

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von historischer Entwicklung fragt danach, was erstens irgendein Geschehen überhaupt im kategorialen Sinne zu einem geschichtlichen Geschehen macht und was zweitens dieses Geschehen im individuierenden Sinn zu genau dieser einen distinkten Geschichte macht, die es ist. Erst wenn wir über Kriterien darüber verfügen, was ein zeitlich und kausal strukturiertes Geschehen zu einer Geschichte macht und wie dieses Geschehen individuiert werden kann, können wir von einer historischen Entwicklung überhaupt sprechen. Denn nur wenn wir wissen, was eine Geschichte zu einer Geschichte macht, und nur relativ zu einer bestimmten Geschichte kann die Frage, ob ein bestimmtes Ereignis bedeutsam ist oder nicht, entschieden werden. Dass der Familienhund der Obamas genau an dem Tag seinen ersten Geburtstag feiern konnte, an dem Barack Obama den Friedensnobelpreis erhalten hat, ist in der Familiengeschichte der Obamas vielleicht ein durchaus bedeutsames Ereignis gewesen, aber in der Geschichte von Obamas Präsidentschaft, die noch nicht zu Ende ist, oder in der Geschichte der Verleihung des Friedensnobelpreises, die der Reihe von Preisträgern inzwischen einen weiteren Namen hinzugefügt hat, wird der Geburtstag des Familienhundes wohl kaum der Erwähnung wert sein – es sei denn als nette Anekdote in einer Fußnote. Ich möchte mich in meinem Artikel mit diesem grundlegenderen Verständnis einer historischen Entwicklung oder Veränderung beschäftigen, das heißt also, mit der Frage nach der kategorialen Bestimmung des Begriffs der Geschichte. Ich werde dabei zunächst ein Argument vorstellen, dessen Schlussfolgerung darin besteht, dass historische Ereignisse, also Ereignisse, die eine Geschichte konstituieren, immer Handlungsereignisse sind. Dieses Argument betont den Zusammenhang von Intentionalität und Historizität und geht von der entscheidenden Prämisse aus, dass Geschichten notwendigerweise Möglichkeiten implizieren. Bei der Erläuterung der einzelnen Schritte des Arguments werde ich dann, in der gebotenen Kürze, auf den Begriff der Intentionalität und der Handlung eingehen: Ich teile die grundlegende Annahme einer intentionalistischen Theorie des Geistes und gehe davon aus, dass Intentionalität ein wesentliches Merkmal von mentalen Zuständen ist. Auch Handlungen sind im Rahmen solch einer intentionalistischen Theorie zu verstehen, denn auch die motivierenden Gründe einer Handlung, das heißt, Handlungsintentionen, sind als intentionale Zustände aufzufassen. Im zweiten Teil des Textes werde ich versuchen, für die genannte Prämisse, dass Geschichten notwendigerweise Möglichkeiten implizieren, zu argumentieren. Eine

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wichtige Rolle in dieser Argumentation spielt die These, dass es einen Unterschied gibt zwischen Möglichkeiten und Zufällen, also zwischen Möglichkeit und Kontingenz. Im dritten und abschließenden Teil werde ich mich anhand eines kleinen Beispiels der jüngeren Geschichte mit einem Einwand auseinandersetzen, der gegen die Konsequenzen des Arguments vorgebracht werden könnte und der darauf insistiert, dass historische Entwicklungen zufälligerweise geschehen können.

II. I NTENTIONALITÄT UND H ISTORIZITÄT Was macht irgendeine Ereignisfolge oder irgendein Geschehen zu einer Geschichte oder zu einem Teil einer Geschichte? Was sind die besonderen Eigenschaften eines Zusammenhangs von Ereignissen, die es erlauben, von einer Geschichte zu sprechen? Diese metaphysische Frage nach der Natur von Geschichten überhaupt für sinnvoll zu halten, impliziert mindestens zweierlei: Erstens impliziert es, dass es auch Ereignisfolgen gibt, die nicht Teil einer Geschichte sind, dass es also mehr oder weniger komplexe Ereigniszusammenhänge gibt, die zwar ein Geschehen, aber keine Geschichte darstellen. Denn wenn alles, was überhaupt geschieht, einfach deshalb, weil es geschieht, eine Geschichte oder ein Teil einer Geschichte wäre, dann hätte der Begriff der Geschichte überhaupt keine bestimmte Bedeutung. Wir könnten dann diesen Begriff der Geschichte reduzieren auf das, was ein Geschehen ausmacht, nämlich eine Folge von zeitlichen und kausalen Veränderungen. Von Geschichten zu sprechen wäre dann bestenfalls redundant, der Ausdruck »Geschichte« eine komische Metapher, die irgendwie alles und nichts bezeichnet. Und die Frage nach der Natur von Geschichten für sinnvoll zu halten impliziert zweitens davon auszugehen, dass Geschichten als Geschichten reale Eigenschaften haben und nicht bloße gedankliche Konstrukte sind. Diese realistische Auffassung steht im Widerspruch zumindest zu einigen narrativistischen Geschichtstheorien, die behaupten, dass das, was wir Geschichte oder eine Geschichte nennen, durch die historische Erzählung allererst konstituiert wird und als reales Geschehen noch keinen eigentlich geschichtlichen Zusammenhang aufweist. Diese antirealistische These kann man zum Beispiel Hans Michael Baumgartner, Jörn Rüsen, Hayden White und Frank Ankersmit zuschreiben, wenn auch aus teilweise sehr

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unterschiedlichen Gründen. Während Baumgartner und Rüsen die praktische Orientierung der Geschichtsschreibung betont haben, haben White und Ankersmit die Wende hin zur Text- und Metapherntheorie vollzogen und das Augenmerk von der Interpretation des realen Geschehens beziehungsweise der Quellen, die es bezeugen, auf den Text der historischen Darstellung selbst gelenkt. Die gemeinsame Konsequenz dieser unterschiedlichen Theorien besteht jedoch in der Auffassung, dass das reale Geschehen keine eigentlich historische Dimension aufweist. Ich halte diese Auffassung für falsch und bin der Meinung, dass Geschichten eine unabhängig von unserem Erkenntnisvermögen determinierte Struktur haben. Die Tatsache, dass wir uns im Prozess der historischen Erkenntnis ein bestimmtes Bild von der Geschichte und ihren Geschichten machen, das sich darüber hinaus beständig wandelt, kann nicht bedeuten, dass die Geschichte jeweils nichts anderes ist als dieses Bild. Die Frage, welche spezifischen Merkmale ein Geschehen auszeichnet, das eine Geschichte ist, kann auf zwei unterschiedliche Arten angegangen werden: Man kann zum einen versuchen, die Besonderheit der Ereignisfolgen in der relationalen Struktur der Ereignisse aufzuweisen; und man kann zum anderen dafür argumentieren, dass die Ereignisse selbst notwendigerweise besondere Merkmale besitzen müssen, wenn sie historische Ereignisse sind. Es ist offensichtlich, dass die zuerst genannte Strategie der Begründung nicht erfolgreich sein kann. Denn wenn man davon ausgeht, dass die allgemeinste Struktur, die zwischen Ereignissen beliebiger Arten bestehen kann, immer eine zeitliche und kausale Struktur ist, dann müsste man in der Lage sein zu zeigen, dass die zeitliche und kausale Relation zwischen historischen Ereignissen von einer grundlegend anderen Art ist, als die zeitlichen und kausalen Relationen, die zwischen Ereignissen bestehen, die keinen geschichtlichen Zusammenhang bilden. Aber wie immer man das Phänomen der Zeit oder der Kausalität theoretisch auffassen möchte, es scheint klar zu sein, dass es weder eine spezifisch historische Zeitrelation als reale Struktur geben kann, noch eine eigentümliche Art von Kausalität, die die Veränderungen im Laufe einer Geschichte bestimmt. Wenn Geschichten eine besondere Natur haben, dann muss dies also darin begründet sein, dass historische Ereignisse spezifische Merkmale besitzen, das heißt bestimmte Arten von Ereignissen sind. Das Argument für meine These, dass historische Ereignisse immer Handlungsereignisse sind, hat folgende Struktur:

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(i) Eine Geschichte impliziert notwendigerweise Möglichkeiten, das heißt, eine Geschichte zu haben, bedeutet, Möglichkeiten zu haben. (ii) Möglichkeiten zu haben impliziert mindestens zweierlei: die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen; und die Fähigkeit, in das kausale Geschehen einzugreifen. (ii) Das Vermögen, Entscheidungen zu treffen, setzt intentionale, das heißt, repräsentierende Fähigkeiten voraus. (iii) Das Vermögen, in das kausale Geschehen einzugreifen, setzt eine kausale Wirksamkeit voraus, die nicht unbeabsichtigt ist, das heißt, eine kausale Wirksamkeit, die in einem kausalen Zusammenhang mit den intentionalen Fähigkeiten steht. (iv) Also sind historische Ereignisse zum einen wesentlich mit intentionalen Fähigkeiten verbunden und besitzen zum anderen das Merkmal einer kausalen Wirksamkeit, die nicht unbeabsichtigt ist. (v) Historische Ereignisse sind Handlungsereignisse, denn nur Handlungsereignisse können diese beiden Bedingungen erfüllen. Die wichtigste Prämisse im Argument ist die erste. Aus ihr folgen die anderen, genauer: (ii) folgt aus (i) sofern man ein bestimmtes Verständnis von Möglichkeiten voraussetzt, das mit der ersten Prämisse behauptet werden soll. (iii) und (iv) folgen dann aus (ii), (v) folgt aus (ii) bis (iv) und (vi) folgt aus (v). Diese erste Prämisse unterstellt eine Abhängigkeit des Begriffs der Geschichte vom Begriff der Möglichkeit. Was immer Geschichten sonst noch für Eigenschaften haben, sie haben auf jeden Fall Möglichkeiten. Oder besser gesagt: Die Ereignisse, die eine Geschichte bilden, haben die Eigenschaft, Möglichkeiten zu haben. Präsident Obama hätte die letzten Präsidentschaftswahlen auch verlieren können; der Erste Weltkrieg hätte früher beendet werden können; die Leipziger Montagsdemonstrationen hätten auch ein blutiges Ende finden können; der Völkermord in Ruanda hätte von den Vereinten Nationen gestoppt werden können; das Attentat von Sarajevo hätte misslingen können usw. Geschichten sind wesentlich dadurch geprägt, dass sie auch anders hätten verlaufen können, eine Geschichte ist etwas, das immer auch eine andere Geschichte hätte sein können. Dabei sollen Möglichkeiten als reale Eigenschaften von Geschichten beziehungsweise ihren Ereignissen aufgefasst werden, Möglichkeiten existieren tatsächlich und können nicht auf bloße Vorstellbarkeiten reduziert werden. Denn ob es möglich gewesen wäre, zum Beispiel den Völkermord in Ruan-

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da zu verhindern, hängt nicht davon ab und wird nicht dadurch bestimmt, ob wir uns das vorstellen können, sondern ob es faktisch möglich war. Aber, so könnte man hier einwenden, bringt diese erste Prämisse eigentlich mehr zum Ausdruck als eine zwar plausible, aber zunächst durch kein Argument gestützte Intuition? Unser intuitiver Begriff einer Geschichte, so könnte man sagen, mag implizieren, dass Geschichten so oder anders verlaufen könnten und dass dies eine wesentliche Eigenschaft von Geschichten ist. Aber wie immer man den epistemischen Status von Intuitionen einschätzen will, sie sind für sich genommen jedenfalls keine Argumente. Kann man, von dem Apell auf nachvollziehbare Beispiele abgesehen, für die erste Prämisse auch argumentieren? Bevor ich versuchen werde, diese Prämisse argumentativ zu begründen, möchte ich sehr kurz auf die drei zentralen Begrifflichkeiten eingehen, die in den weiteren Prämissen wichtig sind, nämlich intentionale Fähigkeiten, kausale Wirksamkeit und Handlungsereignisse. Intentionalität ist im Rahmen einer intentionalistischen Theorie des Geistes als das wesentliche Merkmal geistiger Zustände bestimmt. Franz Brentano, der die moderne Theorie der Intentionalität inspiriert hat, hatte dieses Merkmal als eine entscheidende Eigenschaft angesehen, in der sich psychische von physischen Vorgängen unterscheiden. Ganz anders als physische Ereignisse haben psychische Zustände die Eigenart, dass sie auf etwas außerhalb ihrer selbst gerichtet sind, das heißt, dass sie von etwas anderem als sich selbst handeln. Brentano hatte bereits die vier zentralen Fragen, mit denen sich jede intentionalistische Theorie des Geistes auseinandersetzen muss, und die von unterschiedlichen Theorien teilweise unterschiedlich beantwortet werden, aufgeworfen: Wie ist der Gehalt eines intentionalen Zustandes bestimmt? Welchen ontologischen Status hat der intentionale Gegenstand, auf den der geistige Zustand sich richtet? Besteht zwischen dem Zustand und seinem Gegenstand eine Relation im eigentlichen Sinne? Und können geistige Zustände ganz unterschiedlicher Art denselben Gehalt haben? Die Schlüssigkeit des Arguments hängt nicht davon ab, wie diese Fragen beantwortet werden, aber um meinen Begriff einer Handlung, der in eine intentionalistische Theorie des Geistes eingebunden ist, konkretisieren zu können, werde ich kurz andeuten, welche Antworten meines Erachtens die richtigen sind. Der Gehalt eines intentionalen Zustandes besteht in einer begrifflichen oder in einer nicht-begrifflichen Repräsentation des intentionalen Gegen-

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standes; der Zustand richtet sich auf den Gegenstand, indem er ihn repräsentiert. Diese Repräsentationsrelation ist eine Relation im eigentlichen Sinne, sodass der Gehalt des intentionalen Zustandes zumindest zum Teil durch den intentionalen Gegenstand bestimmt ist. Intentionale Gegenstände sind entweder konkrete oder abstrakte oder fiktive Gegenstände beziehungsweise gegenwärtige, vergangene oder zukünftige Sachverhalte oder Ereignisse, die unabhängig vom intentionalen Zustand existieren. (Dass auch abstrakte und fiktive Gegenstände existieren können, meint nichts anderes als: Es gibt für den repräsentationalen Gehalt des intentionalen Zustandes Korrektheitsbedingungen, die vom Zustand selbst unabhängig sind). Und schließlich: Man kann unterscheiden zwischen dem Modus und dem Gehalt des Zustandes. Überzeugungen oder Wünsche oder Befürchtungen bezeichnen verschiedene Modi von intentionalen Zuständen, die denselben intentionalen Gegenstand und damit denselben intentionalen Gehalt haben können. Wie passen nun Handlungsintentionen in dieses grob skizzierte intentionalistische Schema? Intentionen sind, ebenso wie zum Beispiel Überzeugungen, Wünsche oder Befürchtungen, intentionale Zustände, die einen intentionalen Gehalt und einen intentionalen Gegenstand haben. Der intentionale Gegenstand der Intention ist die zukünftige Handlung, also ein zukünftiges Ereignis, und der intentionale Gehalt der Intention ist eine begriffliche Repräsentation dieser zukünftigen Handlung. Handlungen sind wesentlich intentional, das heißt, jeder Handlung geht eine Intention voraus, wobei die Handlung von der Intention, und zwar aufgrund des Modus’ dieses intentionalen Zustandes, verursacht wird. Weil der Zustand eine Intention ist, verursacht er die Handlung, die er begrifflich repräsentiert. Im Unterschied zu Überzeugungen oder Befürchtungen oder anderen Zuständen ist es jedoch bei Handlungsintentionen nicht besonders sinnvoll von Korrektheitsbedingungen des Zustandes zu sprechen. Intentionen haben eher Erfolgsbedingungen und wenn eine Handlung anders ausgeführt wird, als sie intendiert, das heißt repräsentiert war, dann sind die Erfolgsbedingungen der Intention nicht erfüllt. Nicht nur das Handeln einzelner Individuen, auch kollektives Handeln kann als intentionales Handeln konzeptualisiert und erklärt werden. Aber kollektive Intentionen unterscheiden sich in ihrem Gehalt sowie in ihren Ermöglichungs- und Erfolgsbedingungen von individuellen Intentionen. Zwar sind die ontologischen Träger einer kollektiven Intention die Individuen, die an einer kollektiven Handlung beteiligt sind, aber kollektive In-

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tentionen repräsentieren in ihrem Gehalt neben der kollektiven Handlung ein bestimmtes Kollektiv als das »Wir« der kollektiven Handlung und sie implizieren eine durchgängige Bereitschaft zur Kooperation. Außerdem verursachen kollektive Intentionen nicht direkt eine Handlung, sondern sie sind die Ursache für die individuellen Teilhandlungen der Individuen, die eine kollektive Handlung allererst konstituieren.54 Welcher Begriff von Kausalität wird nun bei der These, dass Intentionen Handlungen (oder andere Intentionen) verursachen, und im Argument, das von kausalem Geschehen und kausaler Wirksamkeit spricht, vorausgesetzt? Die Auffassung von Kausalität, die ich dabei unterstelle, ist eine kontrafaktische Auffassung, wie sie insbesondere von David Lewis entwickelt wurde. Demnach wird die kausale Abhängigkeit zwischen Ereignissen auf die kontrafaktische Abhängigkeit zwischen Aussagen reduziert und die Bedingungen dafür, ob ein Ereignis A eine Ursache eines Ereignisses B ist, lauten ganz allgemein: (i) A ist geschehen und B ist geschehen. (ii) Wenn A nicht geschehen wäre, dann wäre auch B nicht geschehen. 55

Die kontrafaktische Auffassung von Kausalität hat meines Erachtens zwei wichtige Konsequenzen: Erstens wird hierbei, anders als bei der auf Hume 54 | Vgl. zu dieser Konzeption von intentionalem kollektivem Handeln: Doris Gerber: »Kollektives Handeln und Soziale Strukturen«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 96 (2010), S. 182-198. 55 | Diese kurze Analyse gibt natürlich nur die Idee der kontrafaktischen Auffassung von Kausalität wieder. In Anwendung auf konkrete Ereignisse kann diese Analyse komplizierter sein und im Hinblick auf ihre Anwendung auf historische Ereignisse muss sie meiner Meinung nach durch zwei Bedingungen ergänzt werden: Erstens muss berücksichtigt werden, zu welchem Zeitpunkt die Ereignisse geschehen sind; und zweitens kann ein Ereignis auch unter folgender Bedingung eine Ursache eines anderen Ereignisses sein: das später eingetretene Ereignis hätte eine bestimmte wesentliche Eigenschaft nicht gehabt, wenn das frühere Ereignis nicht geschehen wäre. Diese komplexere Analyse ist dem Umstand geschuldet, dass historische Ereignisse ihre historische Bedeutung im Laufe der Zeit ändern können. Vgl. dazu: Doris Gerber: »Intentionalität, Geschichte und historischer Sinn, oder: warum Geschichte keine Konstruktion ist«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 61 (2007), S. 176-200.

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zurückgehenden Regularitätstheorie, nicht unterstellt, dass kausale Relationen nomologische Relationen sind. Dass kausale Regularitäten vorliegen können, wird zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht vorausgesetzt. Und zweitens wird mit der kontrafaktischen Auffassung auch keine Art von materiellem Mechanismus, der bei kausalen Relationen angeblich vorliegen soll, unterstellt – auch wenn wiederum gilt, dass dieser nicht ausgeschlossen wird. Denn ein Ereignis A ist genau dann eine Ursache eines Ereignisses B, wenn gilt, dass das entsprechende kontrafaktische Konditional: »Wenn A nicht geschehen wäre, dann wäre auch B nicht geschehen« wahr ist. Das bedeutet, dass das Kriterium für das Vorliegen einer kausalen Relation ein semantisches Kriterium ist und dieses semantische Kriterium setzt nicht die Annahme eines kausalen Mechanismus voraus. Ich hoffe, dass diese kurzen Bemerkungen etwas verdeutlichen können, was mit den Prämissen des Arguments behauptet wird. Erläuterungsbedürftig ist vielleicht noch die Formulierung in (iv), wo von einer kausalen Wirksamkeit gesprochen wird, die nicht unbeabsichtigt ist. Damit soll ein Unterschied betont werden zwischen so genannten kausalen Zufällen auf der einen Seite und eben einer kausalen Wirksamkeit, die nicht zufällig ist, auf der anderen Seite. Denn die Fähigkeit, in das kausale Geschehen einzugreifen, die in (ii) gefordert wird, meint mehr als bloß zufälliger Teil des kausalen Geschehens zu sein, es meint die Fähigkeit, dieses kausale Geschehen in einer bestimmten Weise beeinflussen zu können. Und diese Fähigkeit setzt eine Form von Wirksamkeit voraus, die in einem kausalen Zusammenhang mit den intentionalen Fähigkeiten steht. Wenn ich die Katze, die unterm Auto lag und die ich nicht sehen konnte, überfahre, dann habe ich den Tod der Katze verursacht; aber dieser kausale Zufall repräsentiert nicht die in (ii) geforderte Fähigkeit, in das kausale Geschehen einzugreifen.

III. M ÖGLICHKEIT UND Z UFALL Ich habe behauptet, dass die erste Prämisse die entscheidende ist und die anderen aus ihr folgen. Dies ist aber nur dann in einer nicht-zirkulären Weise der Fall, wenn man dafür argumentieren kann, dass der verwendete Begriff der Möglichkeit in einer bestimmten Weise verstanden wird. Nämlich in einer Weise, die eine begriffliche Differenz von Möglichkeit und Zufälligkeit betont. Möglichkeiten, dafür möchte ich im Folgenden argumentieren,

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sind etwas anderes als Zufälle, denn während Möglichkeit eine spezifische modale Kategorie ist, beschreibt der Begriff der Kontingenz nur das unspezifische Gegenteil von Determiniertheit. Das heißt, es gibt zwei unterschiedliche Arten wie ein Geschehen nicht-determiniert oder nicht-notwendig sein kann: entweder weil Möglichkeiten bestehen oder weil Zufälle eintreten. Es ist zwar richtig, dass die moderne Modallogik nur zwei Operatoren kennt – notwendigerweise und möglicherweise – und diese darüber hinaus für wechselseitig definierbar hält: Wenn a notwendigerweise der Fall ist, dann ist dies äquivalent damit, dass es nicht möglich ist, dass a nicht der Fall ist; und wenn a möglicherweise der Fall ist, dann ist dies äquivalent damit, dass es nicht notwendigerweise der Fall ist, dass a nicht der Fall ist. Die formale Logik unterscheidet also nicht zwischen Möglichkeit und Kontingenz und fasst Kontingenz als eine Möglichkeit auf. Aber diese logische Indifferenz ist nur der Tatsache geschuldet, dass die Logik nicht nach Gründen fragt. Das heißt, sie fragt nicht, warum oder in welcher Weise etwas nicht-notwendig ist und nennt es eben möglich. Diese formallogische Indifferenz kann aber kein Argument gegen eine begriffliche Differenz sein. Die Ausdrücke »notwendigerweise« und »möglicherweise« können ja als logische Operatoren eine distinkte Bedeutung haben, während sie als normalsprachliche Ausdrücke mehrere Konnotationen haben können. Eine logische Differenz zwischen Möglichkeit und Kontingenz hat offenbar noch Aristoteles in seiner modalen Syllogistik gemacht – wobei die Forschung unterschiedlicher Auffassung darüber ist, welchen Sinn und welchen Zweck diese Unterscheidung in seiner Syllogistik genau hatte. Es lohnt sich dennoch auf Aristoteles’ Bemerkungen dazu kurz einzugehen. Im dritten Kapitel des Ersten Buches seiner Ersten Analytik betont er explizit, dass man bei den Sätzen, die eine Möglichkeit aussprechen, unterscheiden müsse zwischen dem »Möglichen« und dem »nicht Notwendigen« und im dreizehnten Kapitel bestimmt er diese Unterscheidung näher in folgender Weise: Zum einen ist etwas möglich, insofern von ihm gilt, dass es meistens geschieht, ohne notwendig zu sein; und zum anderen bezieht sich das Mögliche als Ausdruck auf ein Unbestimmtes, von dem gilt, dass es gleichmäßig so und nicht so sein kann. Die erste Bestimmung wird als diejenige interpretiert, die mit unserem logischen Begriff der Möglichkeit übereinstimmt, während die zweite Formulierung auf das verweist, was man aus heutiger Sicht besser mit dem Ausdruck Kontingenz bezeichnet und das formalisiert wird als »es ist möglicherweise der Fall und möglicherweise nicht der Fall« – eben, wie Aristoteles sagt, das Unbestimmte, das gleichmäßig so und nicht so sein

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kann. Wenn man sich nun aber die Beispiele anschaut, die Aristoteles zu seinen Bestimmungen gibt, dann hat man den Eindruck, dass er lediglich zwischen verschiedenen Graden von Möglichkeit unterscheidet. Was meistens geschieht ohne notwendig zu sein (also das Mögliche), geschieht zum Beispiel dann, wenn ein Mensch grau wird oder wenn er zunimmt oder abnimmt; für die zweite Bestimmung, also gleichmäßig so oder nicht so sein zu können, gibt Aristoteles folgende Beispiele: »[…] wie zum Beispiel ein Mensch oder ein Tier geht oder, während es geht, ein Erdbeben eintritt, oder überhaupt etwas zufällig geschieht. Denn es ist hier um nichts mehr von der Natur, wenn es so, als wenn es umgekehrt geschieht.« 56

Die eine Möglichkeit bezeichnet also etwas, das gewöhnlich geschieht, aber doch nicht notwendig ist, während die andere Möglichkeit etwas meint, das geschehen kann, aber genauso gut auch nicht geschehen kann. Dies wäre aber tatsächlich nur ein gradueller Unterschied. Dass ein Mensch abnimmt oder zunimmt ist sicherlich sehr viel wahrscheinlicher als die durchaus bestehende Möglichkeit, dass ein Erdbeben eintritt, während er irgendwo die Straße entlanggeht. Bei Letzterem würden wir von einem wirklich dummen Zufall sprechen, während Ersteres eine ziemlich alltägliche Möglichkeit ist. Aber die Beispiele unterscheiden sich noch in einem anderen Sinn, der im Hinblick auf die begriffliche Differenz, für die ich argumentieren möchte, durchaus relevant und interessant ist. Denn im ersten Fall besteht eine Vielfalt von Möglichkeiten, die im zweiten Fall nicht besteht: Ein Mensch kann abnehmen, er könnte aber auch zunehmen und er könnte darüber hinaus einfach genau so bleiben, wie er ist. Diese Vielfalt von Möglichkeiten besteht im zweiten Fall nicht: Das Erdbeben tritt entweder ein oder es tritt nicht ein. Wenn es eintritt, dann würden wir es als eine sehr unerwartete Abweichung von einem als normal angesehenen Verlauf auffassen, und wenn es nicht eintritt, dann ist eben einfach alles wie immer: Jemand geht die Straße entlang und nichts Besonderes geschieht – jedenfalls kein Erdbeben. Das heißt, im ersten Fall bestehen relativ zu dem, was als möglich beschrieben wird, noch andere Möglichkeiten, während im zweiten Fall eine einzige bestimmte Möglichkeit, nämlich das Erdbeben, entweder eintritt oder nicht eintritt. 56 | Aristoteles: Philosophische Schriften 1. Lehre vom Schluss oder Erste Analytik. Hamburg: Meiner 1995, S. 27.

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Dies wird vielleicht noch deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, was geschehen könnte, sofern das Ereignis nicht eintritt: Wenn ein Mensch nicht abnimmt, dann nimmt er entweder zu oder er verändert sein Gewicht nicht. Es gibt also relativ zur Entwicklung des Körpergewichts einer bestimmten Person drei Möglichkeiten. Wenn hingegen das Erdbeben nicht eintritt, dann bleibt die Erde eben ruhig, was nur eine andere Beschreibung dafür ist, dass das Erdbeben nicht eintritt. Man könnte hier einwenden, dass es neben dem Nicht-Eintreten des Erdbebens sehr wohl auch noch andere Möglichkeiten gäbe, zum Beispiel, dass eine Überschwemmung stattfindet oder eine Bombe abgeworfen wird oder dass sonst irgendein Unglück geschieht. Aber dieser Einwand greift nicht, denn dass das Spektrum von Möglichkeiten einfach dadurch erweiterbar ist, dass man den Skopus des betrachteten Geschehens erweitert, ist trivial, aber im Hinblick auf die Frage, welche Möglichkeiten relativ zu einem bestimmten Ereignis bestehen, irrelevant. Das relevante Geschehen kann man im ersten Beispiel mit »Entwicklung des Körpergewichts von Person X« umschreiben und im zweiten Beispiel mit »Bewegungen der Erdplatten im Gebiet Y«. Ich möchte vorschlagen, den ersten Fall als das im eigentlichen Sinne Mögliche aufzufassen und im zweiten Fall gar nicht von einer Möglichkeit, sondern von Kontingenz zu sprechen. Beide Fälle beschreiben unterschiedliche Arten von Nicht-Notwendigkeit. Das Mögliche eröffnet einen Raum von Möglichkeiten, die alle gleichermaßen nicht-notwendig sind; und das Kontingente weicht an einer bestimmten Stelle und nur in einer bestimmten Weise von einem erwarteten oder notwendigen Verlauf ab. Das Mögliche impliziert also mehrere Möglichkeiten und ist deshalb inkompatibel mit dem Notwendigen, während das Kontingente sich lediglich die Frechheit herausnimmt, die Notwendigkeit zu manipulieren. Wenn man sich die Notwendigkeit als eine gerade Linie denkt, dann könnte man die Differenz zwischen Möglichkeit und Kontingenz so illustrieren: An dem Punkt, an dem sich Möglichkeiten eröffnen, geht die gerade Linie in eine mehr oder weniger große Zahl von strahlenförmig abweichenden Linien über, während die Kontingenz durch eine Abweichung dargestellt werden könnte, die dann in der Folge auf einer anderen Ebene die gerade Linie weiterführt. Betrachten und vergleichen wir zwei andere Beispiele: den Ausbruch eines Vulkans und den Verlauf einer politischen Revolution. Revolutionen werden zwar von den Zeitgenossen oder von Historikern bisweilen die eruptive Gewalt eines Vulkans zugesprochen, aber eine Revolution ist

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kein Naturereignis. Beide Ereigniszusammenhänge sind komplex und ihr konkreter Verlauf hängt von sehr vielen Bedingungen ab. Für beide Ereignisse gilt, dass man sie nicht genau vorhersehen kann. Und diese Unvorhersehbarkeit hängt, auch im Falle des Vulkans, nicht nur an unseren beschränkten Erkenntnismitteln. Sie besteht auch darin, dass beide Ereignisse dadurch geprägt sind, dass das, was geschieht, nicht oder nicht immer notwendigerweise geschieht. Aber beiden komplexen Ereignisse ist eine grundlegend andere Art von Nicht-Determiniertheit eigen: Während der Verlauf des Ausbruchs eines Vulkans von Zufällen abhängen kann, zum Beispiel von klimatischen Veränderungen, die nicht im Vulkan selbst oder in seiner unmittelbaren Umgebung kausal entstanden sind, besteht im Falle von Revolutionen eine geradezu irrsinnige Vielfalt von Möglichkeiten, die immer die Struktur haben, dass an einem bestimmten Punkt des Verlaufs der Revolution mehrere verschiedene Entwicklungen möglich sind. Die großen politischen Unruhen in verschiedenen Städten am dritten Tag in Folge zum Beispiel könnten dazu führen, dass die Regierung diese Unruhen militärisch unterdrückt oder dass vor der nächtlichen Ausgangssperre keine entscheidende Wende eingetreten ist oder dass, wie gerade in Tunesien geschehen, ziemlich unerwartet der verhasste Diktator ins Ausland flieht. Einem ausbrechenden Vulkan hingegen ergeht es nicht besser als einem kleinen, vom Baum fallenden Blatt, das zufälligerweise von einem Windstoß weggetrieben wird und dann hierhin fällt anstatt dorthin zu fallen. Das Fallen des Blattes impliziert keine Möglichkeiten im eigentlichen Sinne, sondern es fällt kontingenterweise entweder hier hin oder dort hin. Wenn diese Unterscheidungen und das auf der ersten Prämisse aufbauende Argument richtig sind, dann muss man sagen, dass Vulkane oder fallende Blätter, im Unterschied zu Revolutionen, keine Geschichte haben. Sie haben keine Geschichte, weil sie keine Geschichte hervorbringen können. Und sie können keine Geschichte hervorbringen, weil die Nicht-Notwendigkeit, die der Ereignisfolge zugeschrieben werden kann, keine Möglichkeiten, sondern nur Zufälle kennt. Möglichkeiten bedeuten eine Offenheit, die sich nicht darin erschöpft, entweder stattzufinden oder nicht stattzufinden, sondern die mehrere verschiedene Wege eröffnet. Die erste Prämisse des Arguments behauptet aber nicht nur, dass Geschichten solche Möglichkeiten implizieren, sondern dass sie dies notwendigerweise tun. Notwendigerweise tun sie es deshalb, weil Möglichkeit als logische Eigenschaft einer bestimmten Art von Gegenstand nicht manchmal zu-

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kommen kann und manchmal nicht. Es gibt zwar zeitlich und kausal strukturierte Ereignisfolgen, die keine Geschichten sind, aber es kann nicht sein, dass manche Geschichten Möglichkeiten implizieren und manche nicht. Wenn das Argument richtig ist, dann ist Lew Tolstois Schilderung von Napoleons Russlandfeldzug nicht die Darstellung einer Geschichte. Natürlich erzählt Tolstoi etwas, aber was er erzählt, ist keine Geschichte. Denn Tolstoi beschreibt ein von Anbeginn determiniertes Geschehen, in dem die handelnden Personen nicht mehr Möglichkeit haben dieses Geschehen zu beeinflussen, als fallende Blätter den Wind beeinflussen können oder ausbrechende Vulkane weit entfernte klimatische Verhältnisse – also überhaupt keine. Wie Blätter oder Vulkane sind Tolstois historische Persönlichkeiten Spielbälle der unüberschaubar komplexen Bedingungen. Die Voraussetzung hingegen, dass Geschichten Möglichkeiten implizieren, und die daraus folgende These, dass historische Ereignisse wesentlich verbunden sind mit intentionalen Fähigkeiten und dem Vermögen, in das kausale Geschehen einzugreifen, führt zu einem Begriff von Geschichte, der das historische Geschehen nicht als ein verwirrendes Zusammenspiel von notwendigen oder kontingenten Bedingungen beschreibt, sondern als ein intentional hervorgebrachtes Geschehen. Historische Ereignisse sind Handlungsereignisse und Handlungen sind als individuelle, soziale und kollektive Handlungen wesentlich intentional.

IV. Z UFALL ODER G ESCHICHTE ? Dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Verlauf eines Vulkanausbruchs und der Geschichte einer Revolution gibt, ist sicher keine besonders spektakuläre Auffassung. Die These allerdings, dass eine Geschichte ein intentional verursachter Zusammenhang von Ereignissen ist, ist nicht unumstritten. Die Vorstellung, dass die einzelnen Individuen dem Lauf der Geschichte ohnmächtig ausgeliefert sind, ist nicht nur ein in Romanen oder im Feuilleton gerne verwendetes Bild, auch die Geschichtstheorie hat immer wieder darauf hingewiesen, dass man eine geschichtliche Entwicklung schon deshalb nicht als intendiert betrachten könnte, weil die historischen Subjekte auf der Grundlage von strukturellen Bedingungen handeln, die sie selbst gar nicht durchschauen können. Jürgen Habermas zum Beispiel hat in seinen Schriften zur Logik der Sozialwis-

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senschaft betont, dass die Geschichte und der historische Zusammenhang nicht in dem aufgingen »was die Menschen wechselseitig intendieren«57 – eine Bemerkung, die in fast jeder Publikation der Siebziger und Achtziger Jahre zur Debatte um die Historische Sozialwissenschaft zitiert wird. Aber diese Bemerkung ist entweder trivial oder falsch, je nachdem wie man sie versteht. Wenn damit gemeint ist, dass nicht alles, was in der Geschichte geschieht, einfach und geradewegs auf die Intentionen einer oder mehrerer Personen zurückgeführt werden kann, dass also zum Beispiel so ein komplexes Geschehen wie der Erste Weltkrieg nicht genau so, wie er geschehen ist, von irgendjemandem intendiert war, dann ist die Bemerkung trivialerweise richtig. Wenn aber damit gemeint ist, dass sich historische Ereignisse von den intentionalen Zuständen der handelnden Personen lösen können, sodass zumindest manches historische Geschehen als Zufall betrachtet werden muss, dann ist diese Bemerkung falsch. Denn auch die unleugbare Tatsache, dass Handlungen bisweilen nicht-intendierte Konsequenzen haben, kann nicht in dieser Weise gedeutet werden. Auch nichtintendierte Konsequenzen sind die Folgen von intentionalem Handeln und welche Konsequenzen nicht-intendiert waren, erschließt sich ja erst relativ zu dem, was tatsächlich intendiert war. Nur wenn man unterstellen könnte, dass diese nicht-intendierten Konsequenzen ein systematisches Eigenleben entwickeln, das sich strukturell von intentionalem Handeln löst – sei es individuelles oder kollektives Handeln – könnte man davon sprechen, dass manches geschichtliche Geschehen ein Zufall ist. Aber diese Unterstellung ist einfach falsch. Denn insofern nicht-intendierte Konsequenzen eine Geschichte tatsächlich beeinflussen, prägen oder in eine bestimmte Richtung führen, tun sie es nur, weil intentional Handelnde auf diese Konsequenzen intentional reagieren. Ich möchte versuchen, dies an einem Beispiel der jüngeren deutschen Geschichte zu verdeutlichen. Im Zusammenhang mit der Erinnerung an den Fall der Berliner Mauer, hat die Zeitung mit den großen Buchstaben die Öffnung der Grenze in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 als den schönsten Zufall der Geschichte bezeichnet. Denn als Günter Schabowski während der berühmten Pressekonferenz am Abend des 9. November von einem Journalisten gefragt wurde, wann denn die neue Reiseregelung, die faktisch die Öffnung der Grenze bedeutete, in Kraft treten 57 | Jürgen Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 116.

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sollte, wusste er nicht, dass diese Grenzöffnung vom Politbüro der SED eigentlich erst für den nächsten Tag beschlossen war. Da in seinen Notizen zum genauen Zeitpunkt der Öffnung nichts vermerkt war, sagte er, etwas ratlos und unentschlossen, dass die Regelungen wohl ab sofort in Kraft treten sollten. Kann man nun nicht tatsächlich sagen, dass die Öffnung der Mauer insofern ein Zufall war, als sie zumindest für diesen Zeitpunkt von niemandem intendiert war? Ich glaube, dass diese Interpretation völlig falsch wäre. Man könnte hier viele Punkte anführen, ich möchte nur drei Dinge betonen: Erstens war es natürlich alles andere als ein Zufall, dass das Politbüro im Herbst 1989 überhaupt derartig unter Druck geraten ist, dass es sich zur Öffnung der Grenze entschließen musste. Zweitens kann man Schabowskis Beantwortung der Frage des Journalisten durchaus so interpretieren, dass er die sofortige Öffnung der Grenze gewissermaßen eigenmächtig beschlossen hat. Denn Schabowski hätte auch andere Möglichkeiten gehabt. Er hätte einfach zugeben können, dass er das nicht wüsste und die Frage damit unbeantwortet lassen können. Oder er hätte die Pressekonferenz kurz unterbrechen können, um telefonisch nachzufragen und mit der Antwort zurückzukehren, dass die Regelungen erst am nächsten Tag in Kraft treten sollten. Oder er hätte von selbst auf die Idee kommen können, dass solche bedeutenden Maßnahmen wohl kaum in einer Nacht-und-Nebel-Aktion durchgeführt werden sollten und die Frage unbestimmt mit »in den nächsten Tagen« beantworten können. Und schließlich der dritte Punkt: Die vielen Menschen, die sich unmittelbar nach der Pressekonferenz vor den Grenzübergängen versammelt hatten und die Öffnung der Grenze forderten, haben dies alle mit bestimmten individuellen und kollektiven Absichten getan. Der Fall der Berliner Mauer hätte sicherlich auch auf andere Weise oder zu einem anderen Zeitpunkt geschehen können. Denn wie alle Geschichten hatte auch diese Geschichte verschiedene Möglichkeiten. Ein Zufall war es deshalb nicht. Ich bin der Meinung, dass jede Art von Wandel oder Veränderung, der als Teil einer bestimmten Geschichte, das heißt als historischer Wandel angesehen wird, Möglichkeiten impliziert und durch intentionale Handlungen hervorgebracht und vorangetrieben wird. Das Argument, das ich oben zur Begründung dieser These vorgestellt habe, führt das Bestehen von Möglichkeiten nicht einfach auf das Vorhandensein von intentionalen Fähigkeiten zurück, sondern umgekehrt: Es wird vorausgesetzt, dass es einen kategorialen Unterschied gibt zwischen zeitlich-kausalen Zusammenhängen, die Geschichten sind, und solchen zeitlich-kausalen Zusammenhängen, die es

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nicht sind. Diese Unterscheidung folgt einfach aus der Annahme, dass der Ausdruck »Geschichte« überhaupt eine distinkte Bedeutung hat. Und die Argumentation für diese kategoriale Unterscheidung besteht in der begrifflichen Differenz zwischen Möglichkeit und Kontingenz: Geschichten sind dadurch qualifiziert, dass sie notwendigerweise Möglichkeiten implizieren. Diese sehr allgemeine These sagt aber noch nichts darüber aus, welche konkreten und spezifischen Bedingungen solch einer Entwicklung zugrunde liegen. Und sie sagt noch nichts darüber, welche geschichtlichen Veränderungen besonders bedeutsame Entwicklungen darstellen. Woran bemisst sich die historische Bedeutung von historischen Ereignissen? Ich habe eingangs schon bemerkt, dass die historische Bedeutung eines Ereignisses nur relativ zu einer bestimmten Geschichte bewertet werden kann. Und relativ zu einer distinkten Geschichte lässt sich diese Bedeutung an der kausalen Wirksamkeit des Ereignisses ablesen. Als besonders wichtig oder relevant wären demnach solche Ereignisse anzusehen, die in einer kausalen Relation zu vielen anderen Ereignissen stehen oder die in der Lage sind, zeitlich weit entfernte Ereignisse kausal zu beeinflussen. Auf Günter Schabowskis seltsames Verhalten während der Pressekonferenz am 9. November trifft dies sicher zu. Dass diese Pressekonferenz auch anders hätte verlaufen können, ändert nichts daran, dass ihm seine entscheidende Antwort nicht einfach widerfahren ist wie ein dummer Zufall.

L ITER ATUR Aristoteles: Philosophische Schriften 1. Lehre vom Schluss oder Erste Analytik. Hamburg: Meiner 1995. Doris Gerber: »Intentionalität, Geschichte und historischer Sinn, oder: warum Geschichte keine Konstruktion ist«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 61 (2007), S. 176-200. Doris Gerber: »Kollektives Handeln und Soziale Strukturen«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 96 (2010), S. 182-198. Jürgen Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. Leo N. Tolstoi: Krieg und Frieden. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989.

Kultur zwischen Bewahrung und Veränderung Eine hermeneutische Perspektive Emil Angehrn Kulturen sind Instanzen der Bewahrung und Ferment der Veränderung. Im Medium der Kultur werden Gesellschaften sowohl gerechtfertigt wie kritisiert, über Kultur gewinnen sie Stabilität und werden zugleich in Frage gestellt. Diese Doppelseitigkeit gilt es aufzuklären. Dabei kann sich die Explikation nicht darauf beschränken, einen im Übrigen klaren Sachverhalt Kultur in der zweifachen Tendenz des Festhaltens und Veränderns herauszustellen. Vielmehr führt sie zurück zur grundsätzlichen Frage, worin die Dynamik und Funktionalität der Kultur besteht, ja, was Kultur überhaupt ist.

1. W ANDEL DER K ULTUREN UND KULTURELLER W ANDEL : E BENEN UND K ONSTELL ATIONEN Vorweg ist zu verdeutlichen, in welchem Sinne und auf welcher Ebene die Frage nach dem kulturellen Wandel gestellt wird. Es fällt auf, dass in den Diskussionen zum kulturellen Wandel, zu seinen Ursachen und Verlaufsformen Unterschiedliches thematisiert wird. Zwei Doppelungen der Fragerichtung seien genannt. Zum einen werden unter der genannten Themenstellung sowohl kulturelle Faktoren der gesellschaftlichen Veränderung wie der Wandel des kulturellen Systems beziehungsweise der Kulturen selbst verhandelt: Das eine Mal steht Kultur in ihrer Funktion für die Gesamtgesellschaft, das andere Mal in ihrer eigenen Veränderung zur Diskussion. Hier geht es darum zu verdeutlichen, wie beide Seiten aufeinander verweisen und in-

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einander verschränkt sind. Wie Gesellschaften überhaupt wesentlich über ihre kulturelle Verfassung konstituiert sind, so hängt ihre Veränderung – neben anderen Faktoren – maßgeblich mit ihrer kulturellen Verfasstheit sowie mit Veränderungen, die sich im kulturellen Bereich ereignen, zusammen. Dieses Wechselspiel aufzuhellen gehört zum Kern der Frage nach dem kulturellen Wandel. Die andere Offenheit betrifft die Ebene beziehungsweise Größenordnung der ins Auge gefassten Veränderung. Diskutiert werden einerseits die großen Epochenschwellen der kulturellen Evolution, andererseits die partikularen Veränderungen, inhaltlichen Verschiebungen und Neugestaltungen, die sich auf einer bestimmten Entwicklungsstufe oder innerhalb einer gegebenen Gesellschaftsformation ergeben. Die erste Frage folgt einer evolutionstheoretischen, teils geschichtsphilosophischen Perspektive und interessiert sich für die Entwicklungslogik des Prozesses, in welchem Kulturen sich herausbilden, sich ablösen und gegebenenfalls die Richtung einer übergreifenden Gesamtentwicklung bestimmen. Die zweite interessiert sich nicht für Evolution, sondern für Geschichte: nicht für die in ihrer Gesetzmäßigkeit rekonstruierbare Abfolge grundlegender Kompetenzen oder Lebensformen, sondern für die vielfältigen Änderungen des kollektiven Selbstverständnisses und der kulturellen Praktiken einer Gesellschaft. Im ersten Fall geht es um die großen Paradigmenwechsel der kollektiven Lebensform, exemplarisch etwa den Übergang von Sammler- und Jägergesellschaften über sesshafte Ackerbaukulturen zu Hochkulturen mit entwickeltem politischem und ökonomischem System oder um die entsprechenden Sinnsysteme, Religionsformen, Moraltypen und Weltdeutungen. Was hier interessiert, sind die Stufenfolge und die Logik des Übergangs, die determinierenden Faktoren und die teleologische Gerichtetheit des Entwicklungsprozesses. Solche Überlegungen werden in klassischen geschichtsphilosophischen Konzepten formuliert, in Hegels Figur des Übergangs vom Ansichseienden zum Fürsichseienden oder in Marx’ Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, und sie werden in kulturmorphologischen und -vergleichenden Theorien (Spengler, Toynbee) mit Bezug auf Entwicklungsstadien der einzelnen Kulturen (Entstehung, Wachstum, Niedergang, Zerfall) und die Abfolge zwischen ihnen skizziert. In neueren Ansätzen sind evolutionstheoretische Universalien namentlich in Anlehnung an empirische Lerntheorien (Piaget, Kohlberg) entwickelt worden, als Schritte der Ausbildung kognitiver, moralischer oder kommunikativer Kompetenzen, anhand deren sich der langfristige

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soziale Wandel etwa in der Entstehung der europäischen Hochkulturen nachvollziehen lässt.1 Dieser Nachvollzug besitzt dank der empirisch erhärteten und rational rekonstruierbaren Entwicklungslogik eine privilegierte Erschließungskraft für die Diagnose des kulturellen Wandels. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass es sich dabei um eine ganz bestimmte Ebene des Wandels handelt. Im Vordergrund steht die Genese allgemeiner, im Prinzip universalisierbarer Strukturen und Kompetenzen, die in einem einheitlichen, irreversiblen Verlauf herausgebildet werden und eine stufenweise progredierende Entwicklung artikulieren. Ihr Fluchtpunkt ist etwa die formelle Rationalität, die autonome Moral oder die liberale Gesellschaftsordnung. Es kann naheliegend scheinen, die entwicklungstheoretische Fundierung als die basalste Erklärung des sozialen Wandels anzusehen, der gegenüber etwa die religions-, rationalitäts- und zivilisationstheoretischen Ansätze von Max Weber und Norbert Elias weniger grundlegende und stringente Erklärungsmuster darstellen. Dennoch scheint die Verteilung dieser Ansätze auf ›Basis‹ und ›Oberfläche‹ – verbunden mit dem Postulat, Ideen und Religionen auf kognitive Strukturen zurückzuführen beziehungsweise aus ihnen emergieren zu lassen2 – eine wenig überzeugende Fokussierung des Problems des kulturellen Wandels. Auch wenn dieser Terminus verbreitet zur Bezeichnung der langfristigen Entstehungsgeschichte der modernen Lebensform verwendet wird, ist das mit ihm angesprochene Problem nicht darauf zu beschränken. In diesem interessiert ebenso sehr die Art und Weise, wie soziales Leben in seinen leitenden Vorstellungen, dominanten Lebensformen und geteilten Werten sich im Medium des Kulturellen konstituiert, reproduziert und verändert. Die großen Entwicklungsschritte sind gegenüber den vielfältigen inhaltlichen Veränderungen nicht einfach das Grundlegendere, dem ipso 1 | Vgl. Jürgen Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976; Klaus Eder: »Kulturelle Evolution und Epochenschwellen – Richtungsbestimmungen und Periodisierungen kultureller Entwicklungen«, in: Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart und Weimar: Metzler 2004, S. 417-430; Georg W. Oesterdiekhoff: »Kulturelle Faktoren sozialen Wandels«, in: Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart und Weimar: Metzler 2004, S. 303-317. 2 | Oesterdiekhoff: Kulturelle Faktoren sozialen Wandels, S. 315.

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facto eine weiterreichende Erklärungskraft mit Bezug auf die Lebenswirklichkeit zukäme, sondern auch wie eine Form gegenüber dem Inhalt (der nicht auf jene rückführbar und aus ihr zu erklären ist). Vor allem ist es ein anderes Interesse, das beiden Betrachtungsebenen zukommt. Wenn im Folgenden das Augenmerk primär der materialen, inhaltlichen Dimension des Kulturellen gilt, in welcher sich die partikularen Änderungen der Lebens- und Denkformen vollziehen, so interessiert die Frage, wie sich der kulturelle Konstitutions- und Neuerungsprozess im Medium inhaltlicher Hervorbringungen und Optionen, in der Arbeit an konkreten Selbst- und Weltbeschreibungen, in Deutungen, Entwürfen und kritischen Auseinandersetzungen realisiert. In diesem Sinne steht nicht die kulturelle Evolution, sondern der kulturelle Wandel zur Diskussion. Dabei ist anzumerken, dass die Unterscheidung beider Ebenen insofern eine Abstraktion darstellt, als der erste Prozess sich nicht unabhängig vom zweiten verwirklicht. Auch die übergreifenden evolutionären Schritte sind über die Gestalten und Bewegungen des konkreten kulturellen Lebens vermittelt. Um diese Konstellation genauer zu erfassen, ist nun ein Schritt zurückzutreten und danach zu fragen, was die Bestimmung der Kultur als solcher ausmacht und worin ihre konstitutive Prozessualität besteht.

2. W AS IST K ULTUR ? 2.1 Natur und Kultur Eine erste Bestimmung der Kultur liegt in der extensionalen Bereichsdefinition, die über eine Negation operiert: Zur Kultur gehört, was nicht von Natur ist. Kultur ist die vom Menschen geschaffene Welt. Sie umfasst die Gesamtheit der ›künstlichen‹, vom Menschen hervorgebrachten Gegenstände, die dinglicher, sozialer oder geistiger Natur sein können: Werkzeuge, Kunstwerke, Gebäude, Kulturlandschaften, Institutionen, Sprachen, Traditionen. Die ontologische Differenz zwischen dem Natürlichen und dem Artefakt geht mit markanten Strukturdifferenzen einher. Das von Natur Seiende ist seit Aristoteles als das in sich und aus sich heraus Bestimmte, durch sich Bewegte gefasst, während das Künstliche erst durch den Menschen hervorgebracht und in seinem Sosein bestimmt wird. Dem organischen Werden steht das Schöpferische des menschlichen Produzierens gegenüber, das bis ins Ontologische reicht: Das technische Handeln

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schafft neue Essenzen jenseits des eidetischen Reichtums der Natur (etwa den Kochlöffel, dem kein Urbild außerhalb unseres Geistes entspricht).3 Das Hinausgehen über die Natur ist sowohl affirmatives Transzendieren wie Verlust des sicheren Fundaments; Kultur ist die Antinatur, die von Anfang an zwischen höherer Seinsform und Fragilität oszilliert. Moderne Konzepte stellen nicht so sehr die Differenz und den Hiatus als die Kontinuität und Fundierung in den Vordergrund. Nach Dilthey sind die Gestalten und Prozesse der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt, welche den Gegenstand der Geisteswissenschaften bilden, als Objektivationen des Lebens zu verstehen. Es sind die Formen, in denen menschliches Leben sich gegenständliche Realität gibt und sich zum Ausdruck bringt. Dieser Grundgedanke liegt der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts zugrunde, welche die anthropologische Differenz, welche den Menschen von den Tieren scheidet, über die Kulturbedürftigkeit des Lebens definiert: Menschliches Leben realisiert sich in Vermittlung über das Andere des Natürlichen, die Kultur, die zugleich eine eigene Äußerung und Reflexionsform des Lebens ist. Kultur ist darin an das Leben zurückgebunden und als seine innere Differenz markiert. Diltheys Figur ist erkenntlich in Anlehnung an Hegels Modell des objektiven Geistes gefasst, wobei Dilthey insofern über Hegel hinausgeht, als er dessen Unterscheidung zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist, das heißt zwischen der weltlichen Verwirklichung des Geistes in Gesellschaft, Staat und Geschichte einerseits, den Formen der Darstellung und reflexiven Vergegenwärtigung des Geistes in Kunst, Religion und Philosophie andererseits, unterläuft und beide Sphären gleichermaßen als ›Objektivationen‹ des Lebens begreift. Es ist eine Ausweitung, die sich von beiden Seiten her plausibilisieren lässt, sofern einerseits auch Gestalten des ›objektiven‹ Geistes wie Recht und Wirtschaft gleichzeitig als Instanzen der Interpretation und Verständigung über das menschliche Leben beschrieben werden können, andererseits auch die Äußerungen des ›absoluten‹ Geistes in Kunst und Religion zugleich Teil der historisch-weltlichen Realität der Menschen sind. Dennoch werfen diese Überlegungen die Frage auf, wieweit die genannten Umschreibungen die Sphäre des Kulturellen zulänglich be3 | Nikolaus von Cues: Die Kunst der Vermutung. Auswahl aus den Schriften. Hg. von Hans Blumenberg. Bremen: Schünemann 1957, S. 272: »Coclear extra mentis nostrae ideam non habet exemplar«.

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stimmen. Es ist die Frage, ob die generelle Bestimmung der Kultur als Gesamtheit der vom Menschen hervorgebrachten gesellschaftlichen und geschichtlichen Gebilde sachlich adäquat ist beziehungsweise ob alles, was unter diese Bestimmung fällt, zur Kultur zu rechnen ist. Ein Blick auf die alltagssprachliche wie wissenschaftliche Begriffsverwendung macht deutlich, dass diese in Wahrheit mit unterschiedlichen Grenzziehungen operiert. Infrage steht die Distinktion zwischen einem weiten und einem engen Kulturbegriff. In gewisser Analogie zu der im Deutschen gebräuchlichen Gegenüberstellung von Zivilisation und Kultur unterscheidet sie ›höhere‹ künstlerische oder geistige Tätigkeiten – wie Kunst, Wissenschaft – von anderen Sphären des sozialen Lebens wie Politik, Technik und Ökonomie. Die gängige Rede vom Kulturbetrieb, von Kulturschaffenden oder von Kulturpolitik unterstellt die enge Verwendung, während das etablierte Verständnis der Kulturwissenschaften mit dem weiten Begriff operiert. Diese unterstellen eine holistische Sichtweise, die zur Kultur alles zählt, was als gesellschaftliches Gebilde auftritt, von der Opernarie über die Sauberkeitskultur bis zur Börse und zum Autobahnbau. Die Frage aber ist, anhand welcher Kriterien hier eine Unterscheidung zu spezifizieren ist.

2.2 Kultur als Ausdruck und Reflexion Ersichtlich fällt es schwer, die Differenz zwischen einem weiteren und einem engeren Kulturbegriff an materialen Elementen oder objektiv registrierbaren Qualitäten einer Lebensform festzumachen. Weder die Trennlinie von Körper und Geist noch die von ›niedrigen‹ und ›höheren‹ Tätigkeits- und Erlebensformen sind dafür entscheidend. Zur Kunst gehören sinnlich-leibliche Erfahrungen und materielle Gegenstände wie umgekehrt das rationale Kalkül zum Funktionieren der Wirtschaft. Vielmehr ist die Differenz anhand des Status und der Funktion der fraglichen Lebensbereiche zu bestimmen. Wenn wir von Diltheys Formel der menschlichen Welt als Ausdruck oder Objektivation des Lebens ausgehen, so können wir in dieser Objektivation zweierlei auseinanderhalten. Das eine ist die vergegenständlichende Äußerung und differenzierende Gestaltung des Lebens im Medium der unterschiedlichen Kultursphären: Sport, künstlerische oder handwerkliche Praxis, Berufstätigkeit, Religion, Wissenschaft und Wirtschaftsleben sind Dimensionen, in denen das menschliche Leben sich konkret verwirklicht, sich eine bestimmte Gestalt

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gibt, Bedürfnisse ausdrückt und Zwecke realisiert. Nach Dilthey sind diese Gestaltungen zugleich Formen des Ausdrucks, in denen das Leben sich mitteilt und zu verstehen gibt; die Triade Leben-Ausdruck-Verstehen bildet den Kern des menschlichen Lebens und seiner sinnhaft-hermeneutischen Verfassung. Vom bloßen Ausdruck, in welchem eine Lebensform sich auch unabhängig von ihrer Intention – und gegebenenfalls gegen sie – zu erkennen gibt, lässt sich auf der anderen Seite die intentionale Darstellung und reflexive Verständigung unterscheiden, die der Mensch im Medium seiner Äußerung vollzieht. Kultur ist für den Menschen das Medium, in welchem er sich über das, was er ist und was er sein will, verständigt und sein Bild von sich und der Welt artikuliert. Wenn menschliches Leben nach Auffassung der Hermeneutik dadurch spezifiziert ist, dass der Mensch sich je schon in einem Verständnis der Dinge und des eigenen Seins bewegt, ein Bild seiner selbst und der Welt entwirft, so findet solche Verständigung wesentlich im Medium kultureller Produktion und Rezeption statt. Namentlich Paul Ricœur hat diesen Gedanken unter dem Titel des ›hermeneutischen Umwegs‹ mit Nachdruck betont: Im Gegensatz zur Ursprünglichkeit des existentiellen Verstehens, das er bei Heidegger in der Wesensverfassung des Daseins angelegt sieht, unterstreicht er die Notwendigkeit für den Menschen, aus sich herauszugehen und in den Medien der geschichtlichkulturellen Objektivierung – in Texten, Symbolen, Werken – ein Verständnis seiner selbst und der Welt zu erarbeiten, zu konkretisieren, zu kritisieren und zu verändern. Kultur ist hier nicht bloßer Ausdruck, sondern auslegende Artikulation und reflexiver Bezug des Lebens auf sich selbst. Beide Stufen der Äußerung, realisierende Gestaltung und darstellende Reflexion, gehören in den Horizont der Hermeneutik, sofern sie als Ausdruck auf den in ihnen kristallisierten Sinn, auf das in ihnen sich artikulierende Verständnis des Menschen und der Welt hin lesbar sind. Doch ist gleichzeitig ihre Stufendifferenz von Belang. Sie geht typischerweise mit der Diversifizierung von Kultursphären einher, wie sie in der Unterscheidung des weiteren und engeren Kulturbegriffs, der höheren und niedrigeren Kulturformen anklang. Das Wirtschaftssystem ist Ausdruck des Selbstverständnisses einer Gesellschaft – ihrer Werte, ihres Menschenbildes, ihrer Vorstellungen von Gemeinschaft und Freiheit –, doch nicht als Ausdruck gemeint, sondern als Verkehrsform zur Regulierung des Arbeitsmarkts und Gütertauschs eingerichtet. Demgegenüber sind eine philosophische Theorie, eine künstlerische Aufführung oder ein religiö-

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ses Ritual Formen der Darstellung und Auslegung, in denen Menschen ihr Verständnis der Wirklichkeit für sich und andere erarbeiten und zur Diskussion stellen. Sie sind als Ausdruck beziehungsweise als Akt der Repräsentation und Reflexion gemeint, auch wenn sie gleichzeitig objektive (ökonomische, sozialintegrative) Funktionen im Leben der Gesellschaft erfüllen können. Bestimmte kulturelle Praktiken – Sport, Mode – können an beidem teilhaben und je nach Situation und Hinsicht zwischen beiden oszillieren. In einem gewissen Maß gehört die Doppeldimensionalität zum Normalfall kultureller Lebensformen, die immer, mit variierender Gewichtung, sowohl Gestaltungsform wie Ausdruck und Reflexion des sozialen Lebens sind. In diesem Sinne hat Erich Rothacker vorgeschlagen, Kulturen als »Lebensstile« zu beschreiben, wobei der Begriff das Ensemble des gestalteten Lebens in all seinen Dimensionen vom körperlichen Erleben und Verhalten über Sitten und Praxisformen bis zu Ideen und Weltanschauungen umfassen soll.4 Dem holistischen Charakter der Kultur entspricht die Prägnanz der Form, die den gleichsam physiognomischen Stil einer Lebensform im Ganzen ausmacht, in welcher sich äußere Lebensführung (einschließlich Bekleidung, Wohnstil, Arbeitsweise, Begräbnisformen etc.) und reflexive Interpretationen und Weltdeutungen miteinander verbinden. Das Erschließen einer Kultur muss das Ganze dieser Gestalt und den in ihr verkörperten Ausdruck des Lebens erfassen. Doch bleibt ungeachtet der im Leben stattfindenden Verschränkung die analytische Distinktion der Funktionen für ein Verständnis dessen, was Kultur ist und welchen Stellenwert sie im Leben der Menschen besitzt, unverzichtbar. Im Ganzen zeigt sich darin die wesentlich hermeneutische Bestimmung der kulturellen Welt. Als das »noch nicht festgestellte Tier« (Nietzsche), das sein Wesen erst finden muss, bringt der Mensch eine kulturelle Welt hervor, in welcher er sich darüber verständigt, wer er ist und wie er leben soll. Zur anthropologischen Bestimmung des Menschen gehört das Bedürfnis nach Ausdruck und Symbolisierung, das Bedürfnis danach, die Erfahrung der Welt und des eigenen Lebens sinnhaft zu durchdringen, sie interpretierend zu entfalten und reflexiv anzueignen. Wenn man eine ursprüngliche Aufgabe der Kultur darin gesehen hat, die Welt für den

4 | Erich Rothacker: Geschichtsphilosophie. München und Berlin: Oldenburg 1934, S. 37-83 (»Kulturen als Lebensstile«).

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Menschen bewohnbar zu machen5, so gilt Analoges für das Verhältnis zum eigenen Sein. Auch mit sich selbst wird der Mensch nicht nur im Insich-Hineingehen, sondern ebenso im Hinausgehen in die Welt der Zeichen und Werke, in der Entzifferung der Geschichte, der Aneignung der menschlichen Welt vertraut. Kultur ist der originäre Ort des Sinns – der Raum, in welchem der Mensch Verstehbares schafft und Verstehbarem begegnet, Sinn stiftet und Sinn aufnimmt. Die hermeneutische Arbeit, die sich den vielfältigen Manifestationen des menschlichen Leben in Symbolen, Praktiken und Institutionen zuwendet, hat immer auch damit zu tun, wie der Mensch in diesen Gegenständen das Verständnis seiner selbst und der Welt zum Ausdruck bringt. Im Verstehen der Welt hat der Mensch mit dem Verständnis seiner selbst zu tun. Kultur ist der ›Umweg‹ des Menschen zum Verstehen und zum Sichverstehen.

3. D YNAMIK DER K ULTUR – Ü BERLIEFERUNG , K RITIK , N EUERUNG Die hermeneutische Verfassung der Kultur liegt ihrer Dynamik zugrunde. Sie begründet ihre Bewegtheit, nicht zuletzt ihr spezifisches Ausgespanntsein zwischen Bewahrung und Neuerung. Sinn ist nicht als fester Bestand, sondern wesentlich als Prozess, als Sinngeschehen in der menschlichen Lebensrealität präsent. Menschen haben an der Sinnhaftigkeit der Welt teil, indem sie an diesem Geschehen partizipieren. Die konstitutive Prozessualität des Sinns lässt sich nach drei Stoßrichtungen spezifizieren, in deren Antagonismus und Zusammenspiel sich die Sinnhaftigkeit der Welt konstelliert. Die drei Bewegungen sind die der Hervorbringung, der Rezeption und der Auflösung von Sinn. Sinnverhältnisse werden erstens geschaffen, zweitens aufgenommen und verstanden, drittens kritisch analysiert, revidiert oder aufgelöst. Zwischen den drei wie in einem Dreieck angeordneten Polen ergeben sich drei verschiedene Oppositionen: zwischen Produktion und Destruktion, zwischen Hervorbringen und Aufnehmen, zwischen Rezeption und Kritik. Es sind drei prägnante Ausrichtungen des 5 | Vgl. Burkhard Liebsch: »Kultur im Zeichen des Anderen oder Die Gastlichkeit menschlicher Lebensformen«, in: Burkhard Liebsch und Friedrich Jaeger (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart und Weimar: Metzler 2004, S. 1-24, S. 2.

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Umgangs mit Sinn, aus deren Wechselspiel signifikante Spannungsverhältnisse resultieren. Sie lassen sich im Umgang mit Sinngebilden verschiedenster Art herausstellen, vom Gespräch über geteilte Lebensformen bis zum Umgang mit Ideologien und Kunstwerken. Im Folgenden soll versucht werden, an ihrem Leitfaden die Seins- und Funktionsweise von Kultur zu charakterisieren.

3.1 Sinnrezeption und kulturelle Tradierung Kultur ist die Sinnwelt, in die wir hineinwachsen, deren wir immer schon teilhaftig, aber auch bedürftig sind. Wenn die Kulturbedürftigkeit als distinktives anthropologisches Merkmal zunächst negativ konnotiert ist, als Kompensation einer grundlegenden Unvollständigkeit des ›Mängelwesens‹ Mensch, so ist sie zugleich Kehrseite einer fundamentalen positiven Auszeichnung, die von der Hermeneutik herausgearbeitet wird. Danach ist der Mensch das grundlegend verstehende Lebewesen, dessen Existenz sich wesentlich im Medium des Sinns, des Verstehens der Welt und der Verständigung über sich selbst vollzieht. Solches Verstehen ist ursprünglich rezeptiv, Aufnahme von etwas, das uns gegeben ist, Vernehmen eines Sinns, der uns entgegenkommt. Hermeneutik betont diese ursprüngliche Passivität und Offenheit für das Andere: Nach Gadamer hat unser Verstehen seine Tiefe darin, mir vom Anderen etwas »sagen zu lassen«, in der Begegnung »etwas gegen mich gelten zu lassen« und mich für den »Wahrheitsanspruch«, der mir im Anderen begegnet, offen zu halten.6 Der Rezeptivität korrespondiert die Vorgängigkeit des Anderen, die Gadamer exemplarisch als die Fundamentalität der Überlieferung, der wir immer schon zugehören und aus der heraus wir je existieren, expliziert. Was in jedem Verstehensakt als Moment enthalten ist – das Sichansprechenlassen, Offensein und Aufnehmen – scheint im Umgang mit Kultur die nächstliegende, in gewisser Weise umfassende Haltung. Sie ist dies zumal für das Individuum, welches in die Kultur hineinwächst und durch sie geprägt, aber auch zum eigenen Tun und Hervorbringen befähigt wird. Kultur ist der vorgegebene, überlieferte Rahmen, der Fundus an Sinnelementen und Sinnkonstellationen, der dem Einzelnen vorausliegt und gleichzeitig im Leben der Gesellschaft fortentwickelt und über die 6 | Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck 1986, S. 367.

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Generationen weitergegeben wird. Die Funktion der Kultur unter hermeneutischem Gesichtspunkt ist darin die eines Mediums der Verständigung und Selbstinterpretation, der Identitätsbildung wie der Identitätssicherung. Kultur erlaubt dem Menschen, die Welt sinnhaft auszulegen und anzueignen, in ihr heimisch zu werden; über Kultur vergewissert sich der Mensch dessen, was er ist und wie er sich verstehen will. Gleichzeitig ist Kultur, sofern sie auch das Gefäß und Organ des historischen Gedächtnisses ist, ein Faktor der Stabilität und Sicherheit. Gesellschaften erwerben ihre Konstanz über institutionelle Regelwerke, aber auch über Normen, Deutungen und Geschichten, die von weiter her kommen und über das Jetzt hinausgreifen. Kultur ist, gerade sofern sie mit der rezeptiv-reproduktiven Seite des Sinngeschehens paktiert, eine bewahrende Macht. Sie gründet darin, dass Geltungen erhalten bleiben, und trägt zu ihrer Erhaltung bei. Die von Gadamer durchgeführte Rehabilitierung des Vorurteils stellt ein konstitutives Merkmal des Verstehens heraus, das zugleich ein Wesensmerkmal der Geschichtlichkeit von Kultur benennt. Sinnprozesse vollziehen sich wesentlich im Modus des Anschließens und Weiterführens. Kontinuität ist ihnen immanent. Mit ihr verbindet sich der vergangenheitsbezogene, konservative und stabilisierende Grundzug von Kultur, der dieser von ihrem Ursprung her innewohnt und zugleich eine vielfach problematisierte Tendenz an ihr benennt. Zu dieser Tendenz stellen die beiden anderen Bewegungsrichtungen ein unmittelbares Kontrast- und Komplementärmoment dar.

3.2 Sinnauflösung und Kritik In direktem Antagonismus zur Bewahrung steht die auflösende Kritik. Ist das rezeptive Vernehmen seinem Grundzug nach affirmierend, so ist die Kritik negierend. Sie weist den Sinnanspruch zurück, mit dem ein Gegenstand auftritt. Kritische Hermeneutik liest den Text gegen den Wortlaut und bestreitet die von ihm postulierte Wahrheit. Als ›Hermeneutik des Verdachts‹, wie sie Ricœur am Beispiel von Nietzsche, Freud und Marx expliziert, operiert Kritik als Destruktion und Korrektur falschen Sinns: als Distanzierung von der falschen Sinnprätention beziehungsweise der Selbstmissdeutung, mit welcher Äußerungen und Kulturgegenstände uns begegnen, und als Bemühen, über die Rekonstruktion der Genese und Funktion der Sinnverzerrung dem darin Verhüllten zum Ausdruck zu verhelfen. Als Dekonstruktion löst Kritik verfestigte Lesarten und Sinngestalten in ihre Elemente auf und unterläuft die Vorstellung eines in seinem

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Meinen sich transparenten Subjekts ebenso wie die eines mit sich identischen Signifikats. Als kritische Historie löst sie verfestigte Deutungsschemen und geschichtliche Sedimentierungen auf, um hinter den monumentalischen oder idealisierenden Konstrukten das Vielfältige, Abweichende und Unterdrückte sichtbar zu machen. In vielfältigen Versionen wendet sich kritische Hermeneutik gegen falsche Sinnansprüche und interpretatorische Vereinnahmungen. Verstehen vollzieht sich in vielfältiger Antithese zum herrschenden Verständnis. Was in alledem als eine Grundhaltung im Umgang mit Sinn umrissen wird, korrespondiert einer eminenten Funktion der Kultur. Kultur ist nicht nur Medium der Bewahrung und Stabilisierung, sondern ebenso der Infragestellung und Kritik. Dies verbindet sich unmittelbar mit ihrer basalen Funktion der Auslegung und Selbstverständigung: Sich darüber Klarheit zu verschaffen, wer ich bin und wie ich mich definiere, ist eine Reflexion im Raum der Entscheidung zwischen Zielvorstellungen, der kritischen Beurteilung und der Wahrnehmung des Auseinanderklaffens von Anspruch und Realität. Wie als verschleiernde Legitimationsinstanz ist Kultur als subversive Macht wahrgenommen – hochgehalten wie angefeindet – worden. Nach Jacob Burckhardt ist sie das Ferment der Veränderung, das zersetzend auf die beiden »stabilen Lebenseinrichtungen« Staat und Religion einwirkt, »die Uhr, welche die Stunde verrät, da in jenen Form und Sache sich nicht mehr decken«.7 Kultur ist ebenso originär Potenz der Auflösung wie der Integration, der Delegitimierung wie der Legitimation, der Aushöhlung von Tradition wie ihrer Bewahrung. Kultur und Kulturkritik gehen Hand in Hand, als kritische Auseinandersetzung mit der herrschenden Kultur wie als kulturelle Subversion der bestehenden Verhältnisse.

3.3 Sinnstiftung und kulturelle Innovation Gegenläufig zur bewahrenden wie zur zersetzenden Tendenz artikuliert sich das kreative Gestalten und Hervorbringen von Neuem. Der Verstehensprozess enthält diese Stoßrichtung als notwendiges Moment. Verstehen geht nicht auf im Rezipieren. Verstehen heißt ebenso eigene Muster der Strukturierung in Anschlag bringen, Lesarten entwerfen, Beschreibungen der Welt und unserer selbst hervorbringen. Wirklichkeit hat nicht an ihr 7 | Jakob Burckhardt: Über das Studium der Geschichte. Der Text der »Weltgeschichtlichen Betrachtungen«. Hg. von Peter Ganz. München: Beck 1982, S. 57.

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selbst die sinnhafte Bestimmtheit, unter der sie uns erschließbar wird; von elementaren Schematisierungen bis zu umfassenden Weltbildkonstruktionen ist unser Selbst- und Weltverhältnis auch Resultat subjektiver Formierung. Verstehen ist solcher Konstruktion gegenüber kein nachträglicher Akt, sondern vollzieht sich im Modus des Hervorbringens und der Sinnstiftung. In radikalen Versionen ist dieser Gedanke etwa unter dem Stichwort des Interpretationismus beziehungsweise der Interpretationskonstrukte formuliert worden.8 Gleiches Gewicht erhält das Moment des Hervorbringens wie des Erneuerns. Sich selbst und die Welt immer wieder neu zu beschreiben, hat Richard Rorty als die wichtigste Aufgabe für die Menschen bezeichnet. Kultur ist das Medium historischer Schöpfung, in welchem Menschen neue Gestalten des Lebens, der Verständigung und des Ausdrucks hervorbringen. Wenn Hermeneutik generell die unhintergehbare Sinndimension der Lebenswelt herausstellt, so akzentuiert die historische Perspektive zusätzlich sowohl die prinzipielle Unableitbarkeit sozialer Sinngebilde wie das innovatorische Potential im Hervorbringen von Anderem und Neuem.9 Geschichte, die sich jenseits des Ereignisverlaufs im Medium kultureller Selbstvergegenwärtigung realisiert, enthält ebenso sehr das Anschließen wie die Kreation und den neuen Anfang. Kulturelles Leben geht nicht auf im Befolgen etablierter Regeln und im Vollziehen erlernter Praktiken. Es ist, wie Leben überhaupt, wesensmäßig produktiv, Entwerfen und Erproben, Ändern und Erneuern. Wie Verstehen überhaupt nach Gadamer ein »anders Verstehen«10 ist, in welchem gegebene Sinnraster aufgesprengt und neu konstelliert werden, so ist kulturelle Arbeit Sinnproduktion und Stiftung von Neuem. Eine Sprache lernen heißt nicht nur fähig werden, überlieferte Texte zu lesen und der Geschichte teilhaftig zu werden, sondern auch Neues, noch nicht Gesagtes zu sagen (und zu verstehen). In unterschiedlichen Figuren hat Geschichtsreflexion die Kraft der Neuerung zur Geltung gebracht, exemplarisch etwa in der bei Hegel oder 8 | Günter Abel: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983; Hans Lenk: Interpretationskonstrukte. Zur Kritik der interpretatorischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. 9 | Vgl. Cornelius Castoriadis: L’institution imaginaire de la société. Paris: Seuil 1975. 10 | Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 302.

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Burckhardt beschriebenen Figur der großen Individuen, in deren Schaffen die Weltgeschichte ›einen Ruck macht‹. Wenn hier nach gängigem Verständnis die Reichweite der großen Tat, der faktischen Veränderung in den weltlichen Verhältnissen im Vordergrund steht, so ist die Wirksamkeit der Erneuerung von Sinnverhältnissen von nicht geringerem Gewicht. Neue Beschreibungen und Interpretationen, neue Bilder und Ideen sind es, in deren Medium das Leben selbst, nicht nur seine äußere Gestalt und Bedingung, sich transformiert.

3.4 Die Dialektik des Sinnprozesses So haben wir nicht nur im Sinnprozess, sondern in den genuinen Manifestationen kultureller Praxis drei distinkte, sich antagonistisch zueinander verhaltende Ausrichtungen. Zwischen ihnen bestehen unterschiedliche Spannungsverhältnisse, in denen die drei Potenzen in je anderer Perspektive in den Blick kommen – als vergangenheitsbezogene Traditionsbindung und Stabilisierung des Bestehenden, als Kritik und Auflösung, als konstruktive Gestaltung und zukunftsgerichtete Neuerung. Die Gegensätze zwischen diesen Kräften machen in ihrem Wechselspiel die Dynamik der Kultur aus. Zu dieser Dynamik gehört die Unablösbarkeit der verschiedenen Stoßrichtungen voneinander, eine Verflechtung, die ihrerseits im Wesen des Kulturellen begründet ist. Sie ist darin insofern begründet – so die These dieser Ausführungen –, als Kultur eine Weise des Umgehens mit Sinn ist. Kultur ist die Sinndimension des sozialen Lebens: die Dimension und Gesamtheit der Formen, in denen die konstitutive Sinnbedürftigkeit des menschlichen Lebens sich realisiert. Menschliches Leben ist auf Sinn angewiesen und verwirklicht sich über Weisen des Schaffens, Rezipierens und Auslegens von Sinn, des Beschreibens und Verstehens der Welt; in dieser Angewiesenheit auf Sinn besteht letztlich die Kulturbedürftigkeit, die menschliches Leben als solches auszeichnet. Sinn aber ist im Sinngeschehen als der sich ausdifferenzierenden, in sich gegenstrebigen Bewegung des Sinns. Kultur ist der Ort und das Medium dieses Geschehens. Wenn wir dies auf die Frage des sozialen Wandels zurückbeziehen, so bleibt zwar festzuhalten, dass die Kulturalität im vielschichtigen historischen Prozess nur eine Ebene oder einen Bereich neben anderen darstellt. Es ist eine offene, empirische Frage, welche Rolle die im engen Sinn verstandenen kulturellen Faktoren im umfassenderen Zusammenhang der institutionellen, ökonomischen, technischen oder umweltbedingten Ent-

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wicklungen spielen, und ebenso, in welchem Ausmaß der kulturell-soziale Wandel prozessanalytisch oder handlungstheoretisch, in Rückführung auf objektive System- und Entwicklungsmerkmale oder auf subjektive Absichten und Handlungsvollzüge zu explizieren ist. Je nach Ausprägung, Kontext und Epoche werden sich hier unterschiedliche Gewichtungen und Konstellationen ergeben. Unabhängig davon aber bleibt die konstitutive Sinnhaftigkeit als Wesensmerkmal des Kulturellen im weiten Sinne festzuhalten. Konstitutiv ist sie sowohl für das Sein und die bestimmte Identität wie für die Entstehung und Veränderung einer Kultur. Auch wenn Kultur nicht im Sinngeschehen aufgeht, ist sie nicht in Absehung von der Art und Weise, wie Menschen mit Sinn konstruierend und rezipierend umgehen, zu erfassen. Im Besonderen wirkt sich die konstitutive Sinnhaftigkeit des Kulturellen in dessen Bewegungsform aus. Zu betonen ist dies etwa im Blick auf die Alternative von Reform und Revolution, Kontinuität und Diskontinuität. Wenn kulturelle Änderungen oft mit einem radikalen Wechsel, einem Bruch oder Neuanfang einhergehen, so sind sie zugleich durch eine Gemeinsamkeit überspannt, die auch das Neue, das Andere zu begreifen erlaubt. Als innovatorische Sinnbildung sind Änderungen Teil eines Prozesses, dessen Basis das Anschließen ist, welches in unterschiedlichsten Modalitäten stattfindet, die als Moment einer Sinngeschichte immer Bezug auf Früheres nehmen. Das Neue gibt eine Antwort auf ein überkommenes Problem, entwirft eine alternative Deutung, verwirft eine herrschende Lesart, stellt sich dem Früheren als Abweichung und Differenz entgegen. Als Operation im Medium des Sinns ist die Neuerung zwar nicht je schon einem teleologischen Ganzen eingefügt, wohl aber unhintergehbar auf ein Vorausgehendes bezogen, und sei es im Modus der Negation. Auch das Neinsagen ist eine Weise des Anschließens. Sinnbrüche sind von sich aus Antworten und Weiterführungen. Allgemein äußert sich die Sinnhaftigkeit im Spannungsverhältnis gegenläufiger Tendenzen im kulturellen Wandel. Es bringt eine Dynamik zum Tragen, die dem Sinnakt als solchem innewohnt und auf die Kultur durchschlägt. Wie Sinnverhältnisse von sich aus Anschlussbezüge enthalten, so verkörpern sie je innovatorische Setzungen. Etwas sagen heißt etwas anderes, Neues sagen. Die bloße Wiederholung tendiert zur Aushöhlung des Sprechens. Wie zum Sinn, so gehört zum kulturellen Leben die Dynamik von Bewahrung und Wandel. Wenn Kultur Teil des menschlichen Lebens ist, so ist sie selbst nur als lebendige im Dasein der Menschen real. Als Leben des Sinns aber partizipiert sie an der unhin-

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tergehbaren Dialektik des Weiterführens und Erneuerns, Anschließens und Transzendierens. Nur als zugleich bewahrende und verändernde ist Kultur Teil des menschlichen Lebens, ist sie überhaupt als Kultur gegenwärtig.

L ITER ATUR Günter Abel: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Jakob Burckhardt: Über das Studium der Geschichte. Der Text der »Weltgeschichtlichen Betrachtungen«. Hg. von Peter Ganz. München: Beck 1982. Cornelius Castoriadis: L’institution imaginaire de la société. Paris: Seuil 1975. Nikolaus von Cues: Die Kunst der Vermutung. Auswahl aus den Schriften. Hg. von Hans Blumenberg. Bremen: Schünemann 1957. Klaus Eder: »Kulturelle Evolution und Epochenschwellen – Richtungsbestimmungen und Periodisierungen kultureller Entwicklungen«, in: Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart und Weimar: Metzler 2004, S. 417-430. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck 1986. Jürgen Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. Hans Lenk: Interpretationskonstrukte. Zur Kritik der interpretatorischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984. Burkhard Liebsch: »Kultur im Zeichen des Anderen oder Die Gastlichkeit menschlicher Lebensformen«, in: Burkhard Liebsch und Friedrich Jaeger (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart und Weimar: Metzler 2004, S. 1-24. Georg W. Oesterdiekhoff: »Kulturelle Faktoren sozialen Wandels«, in: Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart und Weimar: Metzler 2004, S. 303-317. Erich Rothacker: Geschichtsphilosophie. München und Berlin: Oldenburg 1934.

Wieviel Herkunft braucht die Zukunft? Zur Struktur reformistischer und revolutionärer kultureller Transformationen Stefan Deines

1. S TRUK TURELLER K ONSERVATIVISMUS »Zukunft braucht Herkunft« – so lautet ein von Odo Marquard geprägter Slogan. In dem gleichnamigen Aufsatz setzt er sich mit der für die Moderne charakteristischen Dynamik einer Wandlungsbeschleunigung auseinander, die sich durch alle Bereiche der kulturellen Welt zieht. Die Bereiche der Naturwissenschaft, der Wirtschaft, der Technik und der Medien bringen in immer schnellerer Folge Neues hervor und entfernen sich damit zunehmend von den bestehenden Traditionen und Konventionen. Moderne Gesellschaften sind demnach – so hat es vor kurzem auch Hartmut Rosa diagnostiziert – durch vielfältige Prozesse der Beschleunigung geprägt.1 Mit dem Slogan ›Zukunft braucht Herkunft‹ wird nun aber auf eine Grenze dieser Dynamisierung verwiesen. Eine vollständige Entkopplung der Prozesse der Erneuerung und Veränderung von den tradierten und bestehenden Verhältnissen ist danach, so scheint es, nicht möglich, da die Prozesse der Transformation immer vom Bestehenden und Überlieferten abhängig bleiben. In diesem Sinne lautet Marquards Antwort auf die selbstgestellte Frage »Wie ist Neues überhaupt menschenmöglich« dann auch: »Nicht ohne das Alte«.2 1 | Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. 2 | Odo Marquard: »Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Betrachtungen über Modernität und Menschlichkeit«, in: Ders.: Philosophie des Stattdessen.

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In den folgenden Überlegungen soll das marquardsche Diktum etwas genauer unter die Lupe genommen werden, um auf diesem Wege etwas über die Prozesse, die Möglichkeiten und die Grenzen kulturellen Wandels im Allgemeinen in Erfahrung zu bringen. Es soll dabei zum einen genauer untersucht werden, warum es überhaupt der Fall sein sollte, dass Zukunft Herkunft braucht, also, aus welchen Gründen und in welcher Hinsicht das Neue vom Alten abhängig ist, und zum anderen soll geklärt werden, in welchem Maße dies der Fall ist, sozusagen wieviel Herkunft für die Zukunft notwendig ist. Marquard selbst kommt bei diesem Unterfangen über die Nebenrolle eines Stichwortgebers allerdings nicht hinaus, denn in seinen Ausführungen finden sich zwar hilfreiche Ansatzpunkte, aber keine hinreichend ausgearbeitete Theorie der Wandlungsprozesse, mit deren Hilfe sich die genannten systematischen Fragen beantworten ließen. So wird in dem erwähnten Aufsatz beispielsweise nicht klar entschieden, ob das ›brauchen‹ in der Formulierung ›Zukunft braucht Herkunft‹ in einem eher konstitutionstheoretischen oder einem eher normativen Sinn zu verstehen ist: ob hier also eine strukturelle Grenze der Innovation konstatiert wird oder ob nur gleichsam empfohlen wird, das im Prinzip durchaus mögliche radikal Neue durch ein gewisses Maß an Tradition abzufedern, um den wandlungsträge veranlagten Menschen das Unbehagen an einem allzu großen »Vertrautheitsdefizit« zu ersparen.3 Dies sind aber zwei Positionen, die man strikt differenzieren sollte und die man als ›normativen Konservativismus‹ einerseits und ›strukturellen Konservativismus‹ andererseits bezeichnen kann. Während es sich bei der einen Position um eine wertende Einstellung handelt, die aus bestimmten Gründen das Alte gegenüber dem Neuen favorisiert und so für das Bestehende gegenüber der Alternative des Neuen eintritt, so handelt es sich bei der Stuttgart: Reclam 2000, S. 66-78, hier S. 66. Marquard äußert sich zu der hier behandelten Thematik insbesondere auch in dem ›Über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten‹ überschriebenen Abschnitt des Aufsatzes »Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen«, in: Ders.: Apologie des Zufälligen. Stuttgart: Reclam 1986, S. 117-139, insb. S. 122ff. 3 | Vgl. Marquard: Zukunft braucht Herkunft, S. 72. Diese Ambivalenz kommt auch in Marquards Frage zum Ausdruck, wieviel Innovation die Menschen »vertragen«: damit kann entweder gemeint sein, dass ein gewisses Maß an Veränderung dem Menschen nicht gut tut, oder aber, dass ein bestimmter Grad an Innovation aufgrund der menschlichen Konstitution schlechterdings nicht möglich ist.

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anderen Position um die rein deskriptive Diagnose einer konstitutiven und damit alternativlosen Funktion des Überlieferten und Bestehenden für das jeweils Neue. In den folgenden Ausführungen wird der strukturelle Konservativismus und damit die Frage nach der konstitutiven Bedeutung der Herkunft für die Zukunft im Zentrum stehen. Zur Klärung der systematischen Fragestellung werde ich in drei Schritten vorgehen: Zunächst soll untersucht werden, wie Hans-Georg Gadamer das Verhältnis von Innovation und Tradition konzipiert. Bei ihm finden sich ausführlichere Überlegungen dazu, warum und in welchem Maße die Vergangenheit auch für die Prozesse der Veränderung prägend ist, als bei Marquard. Dabei zeigt sich, dass Gadamer mit seinem Modell sehr gut solche Prozesse des Wandels erläutern kann, die ich als ›reformistische kulturelle Transformationen‹ bezeichnen möchte, da es sich bei ihnen um in bestimmten Hinsichten moderate und kontinuierliche Veränderungen handelt. Dieses Modell soll dann dem Konzept ›revolutionärer kultureller Transformationen‹ gegenübergestellt werden, wie es sich beispielsweise in den Theorien von Martin Heidegger, Thomas Kuhn und Richard Rorty findet. Dabei zeigt sich, dass diese Form des Wandels nach einer gänzlich anderen Logik funktioniert und anderen Bedingungen unterliegt als die reformistischen Prozesse, die Gadamer beschreibt.4 In einem dritten Schritt wird dann erörtert, inwieweit auch für die ›revolutionären kulturellen Transformationen‹ die Herkunft, also die jeweils herrschenden gesellschaftlichen Umstände prägend sind beziehungsweise limitierend wirken. Dabei soll die Intuition überprüft werden, dass die revolutionären Neuerungen es vermögen, eine größere Distanz zum Bestehenden herzustellen, als es die reformistischen Prozesse des Wandels können; die Intuition also, dass revolutionäre Transformationen weniger oder in anderer Weise oder auch gar nicht mehr von Herkunft abhängig sind.

4 | Um Missverständnissen vorzubeugen, sei erwähnt, dass sich der Begriff der revolutionären Transformation hier weniger auf politische Umbrüche im engeren Sinn bezieht, sondern vielmehr auf die Umgestaltungen von Weltbildern, Selbstverständnissen und Praxisformen, wie sie auch für die drei genannten Autoren maßgeblich sind.

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2. Z UR S TRUK TUR REFORMISTISCHER TR ANSFORMATIONEN : G ADAMER Für Gadamer spielen bekanntlich die Konzepte der Tradition und der Überlieferung eine zentrale Rolle.5 Er betont, dass Menschen insofern geschichtliche Wesen sind, als sie ihre Weltverständnisse, ihre Selbstbilder und ihre normativen Orientierungen aus der Tradition gewinnen – Menschen partizipieren wesentlich an einer Überlieferungsgeschichte. Die Überlieferung, in der wir stehen, bildet nun den Ausgangspunkt und den Spielraum für unser veränderndes Verhalten – und dieser Spielraum ist Gadamer zufolge begrenzt. Denn die Praktiken der Transformation und der Innovation können sich nicht beliebig weit von den herrschenden Verhältnissen absetzen, sondern finden immer in Auseinandersetzung mit der Überlieferung statt. Aus diesem Grund, so konstatiert Gadamer in Wahrheit und Methode, »bewahrt sich selbst im vermeintlich sturmgleichen Wandel aller Dinge weit mehr vom Alten, als irgendeiner weiß«.6 Zwar können Menschen sich aktiv und überlegt zu ihren geschichtlichen Bedingungen verhalten – sie können sich dafür entscheiden, die Tradition zu pflegen und zu bewahren, sie auf neue Weise auszulegen oder auch an einer Überwindung der Tradition zu arbeiten – aber all diese Verhaltungen und Praktiken operieren mit einem Bestand an Werten und Verständnissen, die im Rahmen dieser Aktivitäten in Anspruch genommen werden müssen. Alles aktive evaluierende oder transformierende Verhalten zu tradierten Bedingungen basiert gleichzeitig auf einer passiven Inanspruchnahme tradierter Bedingungen. Trotz dieses strukturellen Konservativismus ist aber Gadamer zufolge unsere kulturelle Welt keineswegs statisch, sondern in seiner Theorie sind Transformationsprozesse durchaus vorgesehen und sogar unvermeidlich. Wie sich der kulturelle Wandel nach Gadamer konkret vollzieht, lässt sich an zwei Aspekten aufzeigen: einerseits an der Notwendigkeit der Anwen-

5 | Vgl. zu den folgenden Überlegungen auch Stefan Deines: »Tradition im Wandel. Gadamer und die Kritische Theorie«, in: Made leine Kasten, Herman Paul und Rico Sneller (Hg.): Hermeneutics and the Humanities: Dialogues with Hans-Georg Gadamer. Leiden University Press 2012, S. 110-132. 6 | Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck 1990, S. 286.

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dung beziehungsweise »Applikation« in den Vollzügen des Verstehens und andererseits an der Struktur des »Dialogs«. Die Veränderung durch Applikation lässt sich mit Rücksicht auf das aristotelische Konzept der phronesis erläutern, das einen der zentralen Bezugspunkte von Wahrheit und Methode bildet.7 In dem Konzept des ›sittlichen Wissens‹ findet Gadamer eine spezifische Form von Wissen exemplarisch formuliert, die er der Struktur nach auch in den ›humanistischen Leitbegriffen‹ wie ›Urteilskraft‹ und ›Geschmack‹ wiedererkennt: Es ist eine spezifische »Erkenntnisweise«, die er gegen das Paradigma des naturwissenschaftlich-methodischen Wissens in Stellung bringt.8 Dieses Wissen lässt sich als ein spezifisches Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem fassen; das, was hier gewusst wird, kann sozusagen nicht als Allgemeines gewusst werden, es kann nicht in Form allgemeiner Sätze und Regeln gelernt und transportiert werden, wie es bei den aristotelischen Wissensformen der episteme oder der techne der Fall ist. Es handelt sich dagegen um ein Wissen, das erst in den Situationen der konkreten Anwendung seine eigentliche Realisierung gewinnt. Die Applikation in der konkreten Situation besteht hier nicht in einer einfachen Subsumierung des Einzelfalls unter allgemein geltende Regeln: Was beispielsweise in einer bestimmten Situation eine mutige Handlung wäre, lässt sich nicht aus einer Regel ableiten, so wie sich die Reaktion zweier Stoffe aus einem chemischen Gesetz ableiten lässt. Der Handelnde ist zwar durch Erziehung im Allgemeinen mit den geltenden Tugenden einer Gesellschaft vertraut, diese lassen sich aber Aristoteles zufolge abstrakt lediglich ›im Umriss‹ wissen;9 was in der konkreten Situation tatsächlich als mutige Handlung zählt, muss sich im Akt der Applikation durch den jeweils Handelnden erweisen. Dieses Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem im sittlichen Wissen ist nun bedeutsam für das Verhältnis von Überlieferung und Veränderung. Zwar ist es richtig, dass wir immer schon durch Werte und Verständnisse der Tradition geprägt worden sind – aber diese werden bei Gadamer vollständig nach dem Modell der phronesis gedacht und das heißt, 7 | Vgl. zum Begriff der phronesis auch Georgia Warnke: »Hermeneutics, Ethics, and Politics«,in: Robert Dostal (Hg.): The Cambridge Companion to Gadamer. Cambridge: Cambridge UP 2002, S. 79-101, insb. S. 82ff. 8 | Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 41. 9 | Vgl. ebd., S. 318.

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es handelt sich dabei nicht um ein Wissen, das unser Denken und Handeln determiniert wie fixe Regeln oder Naturgesetze, sondern vielmehr um ein Wissen, das uns wie die aristotelischen Tugenden lediglich ›im Umriss‹ überantwortet und daher konstitutiv auf konkrete Applikation in der gegenwärtigen Praxis angewiesen ist. Die Verständnisse der Überlieferung gewinnen nur Realität, werden überhaupt nur wirksam in einer ›Wirkungsgeschichte‹, indem wir im Rahmen unserer Praktiken überlegen, auf welche Weise sie in den konkreten Situationen angemessen auszudeuten und anzuwenden sind. Damit gewinnt das Verhältnis von Tradition und Veränderung eine Struktur gegenseitiger Abhängigkeit: Die Tradition wirkt zwar bestimmend auf die handelnden Subjekte, aber die Tradition ist umgekehrt auf Akte konkreter und immer wieder neuer und unterschiedlicher Anwendung in der Praxis angewiesen. Dabei können die einzelnen Applikationen in substantieller Weise auf den Gehalt des Allgemeinen zurückwirken. Der Gehalt der Normen und Verständnisse der Überlieferung wird im Licht der gegenwärtigen Praxis immer neu gedeutet und verhandelt – und ist damit stets offen für Veränderung. Es ist die Deutlichkeit, in der dieses Verhältnis von der Konkretisierung des Allgemeinen im Licht der Einzelfälle zum Tragen kommt, die der »juristischen Hermeneutik« für Gadamer ihre »exemplarische Bedeutung« verleiht.10 So wäre es Gadamer zufolge sinnlos, von den Paragraphen eines Gesetzestextes zu sagen, man hätte sie in abstrakter Weise vollständig verstanden. Es liegt vielmehr in der Natur von Gesetzen, dass sie nur verstehbar sind, wenn sie im Licht der Einzelfälle ausgelegt werden. Zu verstehen, was das Gesetz besagt, heißt überhaupt nur zu sehen, wie es in diesem oder jenem Fall konkret zur Anwendung gebracht werden muss; es besitzt keinen Gehalt, der unabhängig wäre von möglichen Anwendungsfällen. Und es ist die Aufgabe des Richters, die Bedeutung des Gesetzes in der auslegenden Anwendung auf die konkreten Fälle zur Entfaltung zu bringen, wobei das einzelne Rechtsurteil (etwa bei Präzedenzfällen) den Gehalt des Gesetzes in einer Weise bestimmen und ändern kann, die für seine weitere juristische Anwendungspraxis maßgeblich ist. So betrachtet gehört es zum Wesen des Rechts, dass es in irreduzibler Weise deutungsbedürftig und damit ›zukunftsoffen‹ ist. Es kann kein abschließendes Verständnis eines Gesetzestextes geben, sondern es gibt nur eine offene Reihe unterschiedlich gelagerter konkreter Fälle, die eine eige10 | Vgl. das gleichnamige Kapitel in Wahrheit und Methode, ebd. S. 330ff.

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ne Deutung verlangen, in welcher das Gesetz auf eine bestimmte Weise konkretisiert wird, die sich auch kritisch gegen ältere Auslegungen wenden kann. In diesem Zusammenhang ist die berühmte Sentenz Gadamers zu lesen, »daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht«:11 Man kann ein Gesetz nicht zweimal in identischer Weise zur konkreten Anwendung bringen. Und dieses ›Andersverstehen‹ hat Gadamer zufolge Gültigkeit für die gesamte Überlieferung. Diese ist uns in einer strukturell ›veränderungs- und zukunftsoffenen‹ Form überantwortet, in einer Form, die konstitutiv auf deutende und transformierende Konkretionen angewiesen ist. Damit ist bei Gadamer also eine Dynamik der Veränderung gleichsam in die Prozesse der Tradierung selbst eingebaut und so auf Dauer gestellt. Trotz dieser Dimension kontinuierlichen Wandels ist das Bild, das Gadamer zeichnet, bis hierhin aber noch in einer sehr starken Weise konservativ. Denn die Verständnisse und Werte der Überlieferung sind zwar einem Prozess ständiger Ausdeutung und Anpassung unterworfen, sie bleiben dabei aber stets unangefochten in Geltung. Dies ist eine Konsequenz aus der starken Orientierung an der juristischen Hermeneutik: Ein Richter hat zwar die Freiheit, ein Gesetz auf verschiedene Weise anzuwenden; es steht aber normalerweise nicht in seiner Macht, die in Geltung befindlichen Gesetze in Frage zu stellen oder zu suspendieren.12 Diesem Modell zufolge droht der Horizont der Überlieferung zu einer Art Gefängnis zu werden, in dem die prägenden Verständnisse und Werte nicht kritisiert oder verworfen werden können. Trotz der variierenden Interpretationen in den konkreten Anwendungssituationen wäre die Struktur der kulturellen Welt an der Basis statisch. Aber für Gadamers Hermeneutik ist bekanntlich nicht nur die juristische Applikation, sondern auch das sachorientierte Gespräch von paradigmatischer Bedeutung. Und das Gespräch stellt den Schauplatz dar, an dem die tradierten Verständnisse und Werte auch in ihrer Geltung geprüft und gegebenenfalls verworfen und ersetzt werden können. In der Praxis des argumentativen Austauschs setzen wir Gadamer zufolge unsere Vorurteile und normativen Orientierungen aufs Spiel und können im Lichte 11 | Ebd., S. 302. 12 | Vgl. hierzu Albrecht Wellmer: »Hermeneutische Reflexion im Licht der Dekonstruktion«, in: Ders.: Wie Worte Sinn machen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 155-179, S. 169.

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der anderen Meinung prüfen, ob sie sich bewähren, oder ob sie als falsch und unzureichend fallengelassen werden müssen. Der Horizont der Überlieferung bildet dem Modell des Gesprächs zufolge dann doch keinen fest umgrenzten Bereich, in dem unser Denken gefangen wäre, sondern er ermöglicht uns die Teilhabe an einer Welt, in der wir uns im Dialog mit anderen Perspektiven über die richtigen Verständnisse und Werte auseinandersetzen können. Durch die Möglichkeit, einzelne Elemente der Überlieferung fallenzulassen und durch andere zu ersetzen, erweist sich der kulturelle Horizont als beweglich. Dieser Prozess der Suspendierung und Ersetzung von Werten und Verständnissen ermöglicht also deutlich mehr kulturellen Wandel als der Prozess der Applikation allein – aber auch in dieser Form unterliegt die Reichweite und die Geschwindigkeit der Veränderung strukturellen Einschränkungen. Denn die kritische Prüfung und Suspendierung von Verständnissen kann immer nur punktuell und lokal erfolgen. Einzelne Verständnisse werden im Lichte der jeweils anderen Verständnisse und Werte, die wir besitzen, als falsch oder unzureichend beurteilt. Damit bildet der größte Teil der Überlieferung den unthematisierten und perpetuierten Hintergrund, vor dem dann einzelne Aspekte und Elemente in ihrer Geltung in Frage gestellt werden können. Der Umbau des Horizonts der Überlieferung ist damit ein langsamer und kleinschrittiger Prozess, der sich gut mit dem Bild von Neuraths Schiff illustrieren lässt. »Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.«13 Der Horizont der Überlieferung, heißt das, lässt sich nie als ganzer (oder auch nur zum größeren Teil) in Frage stellen, suspendieren oder ersetzen. Damit ist in groben Zügen skizziert, in welchen Hinsichten bei Gadamer Zukunft Herkunft braucht: Die verändernden Praktiken der Applikation sind abhängig von den in Geltung befindlichen Werten und Verständnissen als den Gegenständen der deutenden Auslegung und die kritischen Praktiken der Suspension und Ersetzung sind abhängig von den Werten und Verständnissen, die für eine Prüfung, Reflexion und Bewertung der jeweils in Frage stehenden lokalen Elemente in Anspruch genommen werden müssen. Daraus resultiert bei Gadamer das folgende Bild kultureller Veränderung: Kultur unterliegt einem permanenten Wandel. Dieser Wan13 | Otto Neurath: »Protokollsätze«, in: Erkenntnis 3 (1932), S. 204-214, hier: S. 206.

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del kann zwar zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich stark sein, ist aber stets moderat, das heißt mehr oder weniger langsam und kleinschrittig; der Wandel ist darüber hinaus kontinuierlich, er ist vom Standpunkt der jeweiligen Gegenwart aus als rational und legitim anzusehen, da er aus vernünftigen Praktiken des Überlegens, Argumentierens und Prüfens resultiert, es handelt sich also stets um im Kontext der aktuellen Situation begründete Veränderungen. Für eine Beschreibung von radikalen und revolutionären kulturellen Transformationen scheint dieses Modell nun aber nicht anwendbar zu sein. Gadamer würde hier womöglich widersprechen und – im Sinne des oben genannten Zitats, dass die ›sturmgleichen Wandlungen‹ thematisiert – zu zeigen versuchen, dass es zwar Zeiten gibt, in denen sich der oberflächlichen Anschauung nach alles spektakulär und abrupt zu wandeln scheint, dass aber eine genauere Analyse der Tiefenstruktur der Veränderungsprozesse erweisen würde, dass sich auch in diesen Zeiten alles nach dem hier skizzierten Modell vollzieht. Dagegen ist aber vielfach dafür argumentiert worden, dass es Prozesse der Veränderung gibt, die nach einer anderen, einer spezifisch revolutionären Logik funktionieren.14

3. Z UR S TRUK TUR RE VOLUTIONÄRER TR ANSFORMATIONEN : H EIDEGGER , K UHN , R ORT Y Mit Heidegger findet sich ein Vertreter solch einer revolutionären Theorie der Veränderung bereits in der Tradition der Hermeneutik selbst:15 In 14 | Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, dass der Begriff der Revolution im 17. Jahrhundert noch mit Konzepten der Unwandelbarkeit und Restauration assoziiert war und erst im Zuge und in der Folge der Französischen Revolution seine spezifisch moderne Bedeutung bekam, die den Aspekt des ›absolut Neuen‹ und die Fähigkeit des Menschen, etwas gänzlich Neues zu beginnen, impliziert. Vgl. Hannah Arendt: On Revolution. New York: Penguin 2006, S. 24 und 32f. Vgl. hierzu auch Oliver Marcharts Buch: Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung. Wien: Turia + Kant 2005. 15 | Die folgende Rekonstruktion bezieht sich auf Aspekte der heideggerschen Spätphilosophie, nicht aber auf die Überlegungen aus dem Umkreis von Sein und Zeit. Dort finden sich dagegen Passagen, die kleinschrittige und kontinuierliche Formen der Transformation skizzieren und die Gadamer sicherlich bei seinen Aus-

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dem Text »Die Zeit des Weltbildes« von 1938 beispielsweise entwirft er eine Sicht historischer Entwicklung, die in fast jeder Hinsicht dem gadamerschen Bild des Wandels entgegengesetzt ist. Ich möchte kurz die wichtigsten Merkmale dieser Konzeption historischer Veränderung festhalten: Heidegger geht von einem diskontinuierlichen Verlauf der Geschichte aus, die durch radikale und die gesamte Kultur betreffende Umbrüche zwischen den drei Epochen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit gekennzeichnet ist. Nach den Umbrüchen zeigt sich Heidegger zufolge eine jeweils radikal andere Gestalt des Seins, die durch eine andere sogenannte »metaphysische Grundstellung« geprägt ist.16 Eine solche Grundstellung ist jeweils durch eine spezifische Konzeption des Seienden sowie durch einen bestimmten Wahrheitsbegriff gekennzeichnet.17 Die geschichtlichen Umbrüche sind nun Heidegger zufolge nicht durch historische oder ideengeschichtliche Forschung zu erklären oder nachzuvollziehen: Vielmehr ist es so, dass eine solche Form historischer Forschung und Erklärung selbst eine Gestalt der spezifisch neuzeitlichen metaphysischen Grundstellung ist, die in den Zeitaltern der Antike und des Mittelalters in dieser Form nicht denkbar gewesen wäre. Die einzelnen Zeitalter werden als gegeneinander inkommensurabel gedacht und der Versuch, sie zu vergleichen oder sie mit einem einheitlichen Prinzip oder einer übergreifenden Methode zu erklären, hieße demnach, Perspektiven und Modelle, die sich nur im Rahmen eines der Zeitalter einnehmen beziehungsweise konzipieren lassen, in ungerechtfertigter Weise auf die anderen Zeitalter zu übertragen.18 führungen vor Augen standen. So heißt es etwa über die tradierten Verständnisse des ›man‹: »Dieser alltäglichen Ausgelegtheit, in die das Dasein zunächst hineinwächst, vermag es sich nie zu entziehen. In ihr und aus ihr und gegen sie vollzieht sich alles echte Verstehen, Auslegen und Mitteilen, Wiederentdecken und neu Zueignen.« Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 2006, S. 169. 16 | In seinem Kunstwerkaufsatz formuliert Heidegger diesen Sachverhalt folgendermaßen: »Jedesmal brach eine neue und wesentliche Welt auf.« Martin Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: Ders.: Holzwege. Frankfurt a.M.: Klostermann 1994, S. 1-74, hier S. 65. 17 | Martin Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, in: Ders.: Holzwege. Frankfurt a.M.: Klostermann 1994, S. 75-114, insb.: S. 75, S. 104. 18 | Es wirkt geradezu wie eine Vorwegnahme mancher Aspekte der Theorie Thomas Kuhns wenn Heidegger diese Inkommensurabilität der Epochen an der Unmöglichkeit der Vergleichbarkeit der verschiedenen naturwissenschaftlichen

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Werden so die Phasen des Umbruchs auf der einen Seite also als deutlich radikaler und tiefgreifender gedacht als im kontinuierlichen Modell Gadamers, so sind auf der anderen Seite die Phasen zwischen diesen Umbrüchen, also die einzelnen Zeitalter selbst, wiederum durch ein deutlich geringeres Maß an Veränderung gekennzeichnet. Denn die jeweilige »Grundstellung« bleibt in einem Zeitalter Heidegger zufolge, teilweise über Jahrhunderte hinweg, stabil und unverändert. All die nichtrevolutionären Geschehnisse und Entwicklungen im Rahmen einer Epoche sind daher im Prinzip lediglich als Oberflächenphänomene zu verstehen, die Ausdruck und Resultat einer im Grunde statischen Tiefenstruktur sind. Es werden in diesem Modell also zwei grundsätzlich verschiedene Formen kultureller Dynamik postuliert: Die reformistischen Wandlungen sind lediglich oberflächlich, weil sie, so könnte man sagen, innerhalb eines gleichbleibenden Rahmens stattfinden, der die möglichen Züge der Praxis festlegt und reglementiert. Demgegenüber gibt es den revolutionären Wandel, der sich dadurch auszeichnet, dass er diesen Rahmen selbst transformiert und damit neue und andere Sichtweisen, Praktiken und Züge ermöglicht. Der revolutionäre Wandel ist nun im Gegensatz zum gadamerschen Bild radikal, diskontinuierlich und – und dies ist der entscheidende Punkt – nicht im Rahmen der bestehenden Rechtfertigungspraxis begründet und legitimiert. Denn alle rationalen und legitimierten Handlungen und Veränderungen sind genau durch diese Eigenschaften bereits als reformistisch charakterisiert – ihre Begründetheit beziehungsweise Begründbarkeit zeigt, dass es sich um Züge handelt, die im bestehenden Rahmen als gültige Züge angelegt sind, und damit nicht um solche Züge, Modelle illustriert: »[Es hat] überhaupt keinen Sinn zu meinen, die neuzeitliche Wissenschaft sei exakter als die des Altertums. So kann man auch nicht sagen, die Galileische Lehre vom freien Fall der Körper sei wahr und die des Aristoteles, der lehrt, die leichten Körper strebten nach oben, sei falsch; denn die griechische Auffassung vom Wesen des Körpers […] ruht auf einer anderen Auslegung des Seienden und bedingt daher eine entsprechend verschiedene Art des Sehens und Befragens der Naturvorgänge.« Ebd. S. 77. Es war übrigens auch der Vergleich zwischen aristotelischer und moderner Physik, der Thomas Kuhn den Anstoß zu seiner Konzeption der Inkommensurabilität verschiedener naturwissenschaftlicher Theorien gab. Vgl. Thomas S. Kuhn: »Vorwort«, in: Ders.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 31-45, insb. S. 32-34.

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die diesen Rahmen überschreiten. Revolutionärer Wandel ist umgekehrt dadurch charakterisiert, dass er im Rahmen der bestehenden Verhältnisse nicht begründet oder begründbar ist – ihm haften daher stets Aspekte der Irrationalität und der Illegitimität an. Angesichts dieser Charakterisierung liegt die Frage nahe, wie solche revolutionären Transformationen in der Praxis realisiert werden – wie sind sie motiviert und durch welche Art von Handlung können sie angestoßen werden? Wie lässt sich die nicht rational begründete Praxis eines radikalen Neu-Beginnens denken? Für Heidegger ergibt sich bezüglich dieser Fragen nun gar nicht wirklich ein Problem; dies liegt daran, dass er den revolutionären Wandel nicht als Resultat von bestimmten menschlichen Praktiken ansieht. Menschliche Subjekte und ihre Handlungen haben ihm zufolge nicht (oder zumindest nicht allein) das Potential, solch eine umfassende Form der Veränderung hervorzubringen, »denn«, so Heidegger, »wie soll jemals die Folge den Grund angehen können, auf dem sie steht?«19 Subjekte und ihre Handlungen, soll das heißen, können als Produkte der konstitutiven Rahmenbedingungen diese Rahmenbedingungen nicht aus eigener Kraft überwinden. Revolutionärer Wandel wird von Heidegger daher als etwas konzipiert, was nicht durch die internen kulturellen Praktiken umgesetzt wird, sondern als etwas, was gleichsam von außen – und das heißt beim späten Heidegger durch das Sein selbst – angestoßen wird, als ein unverfügbares ›Ereignis‹, das den Menschen geschieht beziehungsweise zustößt. Zur Illustration dieser Konzeption kann eine Passage aus dem Brief über den Humanismus dienen: »Ob [das Seiende] und wie es erscheint, ob und wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur in die Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im Geschick des Seins.«20 19 | Heidegger: Die Zeit des Weltbildes, 100. 20 | Martin Heidegger: »Brief über den Humanismus«, in: Ders.: Wegmarken. Frankfurt a.M.: Klostermann 2004, S. 313-364, hier S. 330. Michel Foucault hat in Die Ordnung der Dinge ein ganz ähnliches Bild der Geschichte skizziert, in dem er drei Epochen als drei epistemologische Felder analysiert, die gegeneinander inkommensurabel sind. Auch hier stellt sich die Frage, wie die diskontinuierlichen Brüche in der Geschichte erklärt werden können. Vgl. hierzu Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, zum Beispiel S. 12f. und S. 82f.

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Der Verweis auf ein gänzlich unverfügbares Geschehen ist natürlich keine befriedigende Antwort auf die Frage nach den Prozessen der kulturellen Transformation. Interessant an den Theorien Thomas Kuhns und Richard Rortys ist in diesem Zusammenhang, dass sie zwar einige der grundsätzlichen Charakterisierungen revolutionären Wandels mit Heidegger teilen, aber anders als er versuchen, auch diese Form des Wandels als ein Phänomen zu beschreiben, dass durch menschliche Praktiken herbeigeführt oder doch zumindest beeinflusst werden kann.21 Die transformierende Aktivität, die sie beschreiben, besteht dabei im Kern in der Erfindung neuer wissenschaftlicher Theorien beziehungsweise neuer Vokabulare und damit in der Etablierung neuer Rechtfertigungszusammenhänge. Was Kuhns und Rortys Ansätze darüber hinaus von dem heideggerschen Modell unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie die revolutionären Transformationen nicht in globaler Weise für eine kulturelle Welt als ganze postulieren, sondern davon ausgehen, dass sie sich in lokal abgegrenzten Bereichen der Kultur vollziehen können. Der kulturelle Bereich, dem Kuhn seine Aufmerksamkeit widmet, ist bekanntlich der Bereich naturwissenschaftlicher Forschung: In Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen zeigt er zum Zweck der Kritik an dem verbreiteten Bild der Naturwissenschaften als einem kontinuierlich fortschreitenden Prozess der zunehmenden Annäherung an die Realität, dass sich in der Geschichte der einzelnen Wissenschaften regelmäßig auf Krisen reagierende Phasen der Veränderung finden lassen, die nicht lediglich als Weiterentwicklungen oder als Reformen verstanden werden können, sondern die als revolutionäre Umbrüche beschrieben werden müssen. Diese Veränderungen sind so umfassend, dass in ihrem Verlauf eine Vielzahl der Elemente, die eine bestimmte wissenschaftliche Disziplin zu einem gegebenen Zeitpunkt charakterisieren, transformiert wird. Dies betrifft grundlegende Überzeugungen, Begriffe und theoretische Modelle genauso wie paradigmatische Musterbeispiele der Praxis und wissenschaftliche

21 | Es soll hier nicht die These vertreten werden, dass sich kultureller Wandel immer vollständig als das Ergebnis verändernder menschlicher Praktiken erläutert lässt. Es gibt zweifelsohne unverfügbare (zum Beispiel natürliche) Ereignisse und Rahmenbedingungen, die die Prozesse des Wandels anstoßen oder beeinflussen. Dennoch wird hier davon ausgegangen, dass Wandel vorrangig durch menschliches Handeln erwirkt wird.

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Instrumente und – aufgrund der Theoriegeladenheit der Beobachtung – in den meisten Fällen sogar die empirischen Phänomene und Daten. Kuhn verweist wiederholt auf die grundlegende Bedeutung des holistischen Charakters dieser revolutionären Transformationen, durch den sie sich von den bloß reformistischen Veränderungen während der Phasen ›normaler Wissenschaft‹ unterscheiden. ›Holismus‹ bedeutet hier, dass man die neuen Elemente nicht nach und nach, punktuell und isoliert in die bestehende Theorie beziehungsweise das bestehende Bild der Welt integrieren kann, sondern dass man gleichsam ein neues Sprachspiel als ganzes lernen muss, um den Sinn dieser Elemente verstehen zu können.22 Das Neue tritt hier nicht als eine Ergänzung, sondern als eine Alternative zum Etablierten auf. Wenn man die neuen Begriffe und Praktiken in ihrem sich gegenseitig Bedeutung verleihenden Zusammenhang gelernt hat, gewinnt man eine neue Perspektive auf die Welt, die sich von der vorhergehenden Perspektive so stark unterscheiden kann, dass Kuhn in überschwänglichen Momenten sogar davon spricht, dass die Forscher vor und nach einer wissenschaftlichen Revolution in verschiedenen Welten leben, die von verschiedenen Gegenständen bevölkert sind und von verschiedenen Gesetzen regiert werden.23 Die Bedeutung des holistischen Charakters wird auch in Rortys Begriff des Vokabulars betont: Verschiedene Vokabulare lassen sich als abgegrenzte Mengen von Begriffen auffassen, die in einer bestimmten Weise zusammenhängen, dadurch nämlich, dass die Sätze oder Überzeugungen, in denen sie vorkommen, argumentativ verknüpft werden können. Die Sätze eines Vokabulars stehen in einem gemeinsamen Rechtfertigungszusammenhang. Alles, was als Rechtfertigung eines Satzes vorgebracht werden kann und alles, was mit diesem Satz gerechtfertigt werden kann, gehört zum selben Vokabular. Sätze aus verschiedenen Vokabularen können damit per definitionem nicht auf diese Weise verbunden werden, sie sind im Lichte des jeweils anderen Vokabulars weder wahr noch falsch, sondern schlicht sinnlos. Ein Vokabular ist durch spezifische Praktiken, Begrifflichkeiten und Konventionen gekennzeichnet, die festlegen, was als rational oder als irrational, als wahr oder als falsch, als interessant oder 22 | Vgl. hierzu Thomas S. Kuhn »What are Scientific Revolutions«, in: Ders.: The Road since Structure. Chicago: University of Chicago Press 2002, S. 13-32, S. 30. 23 | Vgl. hierzu insbesondere das Kapitel ›Revolutionen als Wandlungen des Weltbilds‹ aus Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.

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als uninteressant betrachtet wird. Vokabulare sind dadurch begrenzt, dass das, was nicht nach ihren spezifischen Kriterien ausgesagt, begründet oder beurteilt werden kann, aus ihnen ausgeschlossen ist.24 Es gibt bei Rorty wie bei Kuhn keine Rechtfertigungspraxis und keine Kriterien, die über die Grenzen der jeweiligen Vokabulare hinweg Gültigkeit besitzen würden, also kein Super- oder Metavokabular, das zum Vergleich verschiedener Vokabulare dienen könnte, sondern nur eine Vielzahl nebeneinander bestehender und inkommensurabler Vokabulare, Sprachspiele und Perspektiven auf die Welt, die nicht als Ganze bewertet werden können.25 Dies ist der Grund, warum Kuhn darauf insistiert, dass die Wahl zwischen dem jeweils alten und dem neuen wissenschaftlichen Ansatz nicht als vollständig rational begriffen werden kann, da rationale Begründungen und Beurteilungen immer nur innerhalb eines Vokabulars, nicht aber vokabularübergreifend erfolgen können. Mit der Differenzierung von »normalem Diskurs« und »revolutionärem Diskurs« knüpft Rorty in seiner Theorie kultureller Veränderung an die kuhnsche Unterscheidung von »normaler Wissenschaft« und »revolutionärer Wissenschaft« an,26 nimmt aber mehrere weitreichende Veränderungen am kuhnschen Modell vor, von denen hier vier kurz genannt seien: Zum einen weitet Rorty den Anwendungsbereich des Modells enorm aus, so dass es auf praktisch alle Bereiche der Kultur zutrifft; Rortys Theorie revolutionärer Wandlung gilt nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern auch für alle anderen Bereiche der Wissenschaft, also auch für die Geisteswissenschaften und die Philosophie, für unsere politischen und ethisch-moralischen Vokabulare sowie für die privaten Vokabulare unserer Selbstbeschreibung. Rortys Theorie revolutionären Wandels ist zweitens nicht deskriptiv, sondern normativ. Während Kuhn als Wissenschaftshistoriker lediglich beschreibend aufzeigen will, welche Dynamiken des Wandels sich in den Naturwissenschaften finden lassen, um so zu einer angemesseneren theoretischen Beschreibung der wissenschaftlichen Entwicklung beizutragen, zeichnet Rorty revolutionären Wandel gegenüber 24 | Zu Rortys Begriff des Vokabulars vgl. Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 24ff. 25 | Weil eben Bewertung und Rechtfertigung Praktiken sind, die nur innerhalb von Vokabularen erfolgen können. 26 | Vgl. Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 348.

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kulturellem Stillstand normativ aus. Er sieht es sogar als die Aufgabe seiner philosophischen Bemühungen an, »die Gefahr abzuwenden, daß irgendein Vokabular […] die Menschen zu der Täuschung veranlassen könnte, von nun an sollten und könnten alle Diskurse normale Diskurse sein. Das resultierende Einfrieren der Kultur käme […] der Entmenschlichung des Menschen gleich.«27 Damit ist drittens der Unterschied verbunden, dass Rortys Theorie nicht wie die Kuhns retrospektiv, sondern prospektiv ausgerichtet ist. Weniger als für die faktisch bereits vollzogene Geschichte kulturellen Wandels interessiert er sich für die Zukunft des Menschen und die Möglichkeiten des Seins, die für ihn aufgrund imaginativer und innovativer Neuerfindungen von Selbst- und Weltbeschreibungen noch erreichbar sind. Der vierte Unterschied ist nun eine Folge der erwähnten Ausweitung des Gegenstandsbereichs. Mit dieser Ausweitung geht, so könnte man sagen, die ganze Struktur wissenschaftlicher Revolutionen über Bord, wie Kuhn sie beschreibt. Denn für diese Struktur ist es eine notwendige Voraussetzung, dass es so etwas wie ›normale Wissenschaft‹ gibt, das heißt, eine ›reife‹ Wissenschaft, die es zu einem Paradigma, einem verbindlichen Forschungsprogramm und festen Regeln und Verfahren gebracht hat. Denn nur solche hochspezialisierten, konventionalisierten und effektiven Diskurse wie die modernen Naturwissenschaften können Kuhn zufolge überhaupt die Anomalien entdecken, die dann zu einer epistemologischen Krise und im Endeffekt zur wissenschaftlichen Revolution führen.28 Und erst dieser Verlauf von der normalen Wissenschaft über die Krise zur Revolution ist das, was Kuhn als Struktur herausarbeitet. Bei Rorty erscheint die Transformation dagegen als von den Vorbedingungen von Anomalien und Krisen befreit – zwar beschreibt auch er ausgezeichnete krisen- und konflikthafte Situationen, in denen das Erfinden neuer Vokabulare aussichts- und segensreich scheint; im Prinzip sind innovative

27 | Ebd., S. 408f. Rortys normative Einstellung gegenüber dem Wandel lässt sich auch an der Art und Weise ablesen, in der er sich auf die berühmte elfte Feuerbachthese von Marx beruft: »Philosophers have long wanted to understand concepts, but the point is to change them […].« Richard Rorty: »Universality and Truth«, in: Robert Brandom (Hg.): Rorty and his Critics. Malden: Blackwell 2000, S. 1-30, hier S. 25. 28 | »Eine Anomalie stellt sich nur vor dem durch das Paradigma gelieferten Hintergrund ein.« Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 77.

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Neubeschreibungen Rorty zufolge aber auch ohne besondere Motivationen zu jeder Zeit möglich. Die Struktur revolutionärer kultureller Transformationen ist den hier skizzierten Modellen zufolge durch drei charakteristische Merkmale bestimmt: 1. Das erste Merkmal ist der holistische Charakter des Wandels: Revolutionäre Wandlung kann nur stattfinden, wenn sich nicht nur punktuell einzelne Elemente einer bestehenden Struktur verändern, sondern wenn eine Gesamtheit von Elementen – von Begriffen, Normen und Praktiken – im Zusammenhang etabliert wird; 2. ein weiteres Merkmal besteht in der Inkommensurabilität der Zustände vor und nach der Wandlung und der damit verbundenen Aspekte der Irrationalität und Illegitimität der Veränderung: Die Prozesse der revolutionären Veränderung sind nicht im Rahmen der gegebenen Situation begründet oder begründbar, die Wahl zwischen alternativen Vokabularen ist daher nicht vollständig rational zu entscheiden; 3. das dritte Merkmal besteht darin, dass sich mit einer revolutionären Transformation nicht nur die Zustände innerhalb eines reglementierenden Handlungsrahmens ändern, sondern dieser Rahmen selbst: Revolutionärer Wandel ermöglicht neue und andere Denk- und Handlungsweisen. Ich möchte mich an dieser Stelle gegen ein Vorurteil wenden, dass unter den Theoretikern des revolutionären Wandels selbst weit verbreitet ist. Dieses Vorurteil besteht in der Annahme, dass es sich bei allen drei genannten Eigenschaften um Differenzkriterien zu den Prozessen reformistischen kulturellen Wandels handelt. Diese Annahme ist aber meiner Meinung nach in Bezug auf die dritte Eigenschaft nicht zutreffend. Heidegger und Kuhn zeichnen die Rahmenbedingungen der ›metaphysischen Grundstellung‹ beziehungsweise der ›normalen Wissenschaft‹ so rigide, dass eine Transformation dieses Rahmens auf reformistischem Weg tatsächlich kaum denkbar erscheint – die innerhalb des Rahmens ermöglichten Praktiken reichen an den Rahmen selbst sozusagen gar nicht heran. Nun gibt es aber eine Vielzahl kultureller Konfigurationen, in denen die Lage sich anders darstellt: Denn in den meisten wissenschaftlichen und politischen Diskursen gibt es eine ganze Reihe von begründbaren und legitimen Zügen, die die Umgestaltung des normativen Rahmens betreffen. Der ›Raum des Möglichen‹ lässt sich oft auch auf eine Weise transformieren, die nach Maßgabe der jeweils herrschenden Konventionen rational nachvollziehbar und legitim ist. Es lässt sich damit festhalten, dass die Umgestaltung der Rahmenbedingungen der Praxis zwar eine konstitutive

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Eigenschaft revolutionärer Transformationen ist, aber eben keine exklusive, weil die Rahmenbedingungen auch auf reformistischem Weg transformiert werden können. Damit ist aber wiederum noch nicht gesagt, dass dies auch immer möglich ist, denn es kann kulturelle Bereiche geben, in denen sich die Rahmenbedingungen doch nur auf eine revolutionäre Weise wandeln können. Unterschiedliche kulturelle Konfigurationen sind in Bezug auf die Möglichkeit der Veränderung der konstitutiven Bedingungen unterschiedlich rigide oder konservativ. So scheinen etwa manche religiösen Diskurse dadurch geprägt zu sein, dass viele ihrer grundlegenden Elemente der freien Verhandlung und dem reformistischen Wandel entzogen sind.29 Der unterschiedliche Grad der Reformierbarkeit ist in dieser Hinsicht ein relevanter Unterschied verschiedener kultureller Konfigurationen.

4. G RENZEN RE VOLUTIONÄREN W ANDELS Wie lässt sich nun im Lichte der oben genannten Strukturmerkmale das Verhältnis von Zukunft und Herkunft in Bezug auf die revolutionären kulturellen Transformationen bestimmen: Handelt es sich bei ihnen um eine Form des Wandels, die ohne eine konstitutive Rückbezogenheit auf die jeweils bestehenden Verhältnisse zu denken ist? Dies ist klarerweise nicht der Fall; zumindest dann nicht, wenn man revolutionäre Transformationen nicht als ›Seinsgeschick‹ begreift, sondern als ein Resultat spezifischer menschlicher Praktiken. Diese Praktiken sind in Bezug auf den Grad an Innovationsfähigkeit bestimmten strukturellen Einschränkungen unterworfen – allerdings anderen und auch in gewissem Sinn geringeren Einschränkungen als die reformistischen Praktiken. Ich möchte unter den Stichworten ›Grenze der Imaginationsfähigkeit‹ und ›Grenze der Akzeptierbarkeit‹ kurz auf zwei strukturelle Restriktionen verweisen: Zur Grenze der Imaginationsfähigkeit: Revolutionäre Transformationen finden auf dem Weg der Erfindung neuer Vokabulare und alternativer Beschreibungsweisen statt. Wissenschaftler beispielsweise erfinden neue Theorien, postulieren möglicherweise andere Entitäten und prägen 29 | Eine solche Struktur muss nicht ›dogmatisch‹ in einem negativen Sinn sein: Auch unser politisches System kennt Elemente, deren Änderung verfassungswidrig ist und die damit einem reformistischen Wandel entzogen sind.

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neue Forschungsmethoden; Philosophen etablieren neue Begrifflichkeiten und überwinden traditionelle Sichtweisen auf die Welt und auf uns selbst. Auch diese innovativen Leistungen müssen jeweils von den herrschenden Verständnissen, Kenntnissen und begrifflichen Mitteln ihren Ausgang nehmen und können sich nur soweit davon entfernen, wie es die Kreativität und Imaginationsfähigkeit der Subjekte zulässt. Die Reichweite der revolutionären kulturellen Transformationen ist damit an die Reichweite der menschlichen Vorstellungskraft gebunden. Zur Grenze der Akzeptierbarkeit: Eine kulturelle Transformation hat nicht bereits dann stattgefunden, wenn sich ein Subjekt ein paar neue Begrifflichkeiten oder eine neue Redeweise ausgedacht hat – dies tun, wie Rorty bemerkt, hin und wieder auch Verrückte.30 Damit sich der kulturelle Wandel tatsächlich vollzieht, ist es notwendig, dass ein Vokabular auch Sprecher findet, dass es also akzeptiert wird und sich möglicherweise gegen andere Diskursalternativen durchsetzt. Dazu müssen einige Vorbedingungen erfüllt sein: Der Erfinder des Vokabulars muss als rationaler Sprecher anerkannt werden, der als kompetent und berechtigt gilt, ein alternatives Vokabular überhaupt vorzuschlagen. Und auch das Vokabular muss Bedingungen erfüllen – es muss sich als für andere akzeptabel präsentieren. Wenn in dem entsprechenden Bereich der Kultur eine epistemische oder normative Krise vorhergegangen ist, muss deutlich werden, wie die bestehenden Schwierigkeiten überwunden werden können; wenn keine Krise vorausgeht, muss sich zeigen, warum eine neue Art des Diskurses Vorteile bieten würde. Revolutionärer Wandel ist also insofern durch die jeweils herrschenden Bedingungen limitiert, als dass Innovationen sich in einem gegebenen Umfeld von Erwartungen, Problemstellungen und Konventionen durchsetzen müssen. Die Wahl eines alternativen Vokabulars ist in dieser Hinsicht also durchaus in einem gewissen Sinn begründet, allerdings nicht in Bezug auf die internen Kriterien des traditionellen Vokabulars – wie es bei den reformistischen Transformationen der Fall ist –, 30 | Vgl. hierzu Richard Rorty: »Erwiderung auf Dieter Thomä«, in: Thomas Schäfer et al. (Hg.): Hinter den Spiegeln. Beiträge zur Philosophie Richard Rortys. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 319-324, insb. S. 321f. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Spannungsverhältnis von Individualität und Anerkennung, wie es Dieter Thomä in dem Aufsatz beschreibt, auf den Rorty hier repliziert: Dieter Thomä: »Zur Kritik der Selbsterfindung. Ein Beitrag zur Theorie der Individualität«, in: Ebd., S. 292-318, insb. S. 298-303.

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sondern in Bezug auf die Ansprüche, Problemstellungen und Erfordernisse der in Frage stehenden kulturellen Situation, denen die Vokabulare gerecht werden müssen.31 Auch diese Hürde der Akzeptierbarkeit ist nun in unterschiedlichen kulturellen Bereichen unterschiedlich hoch anzusetzen. Um wieder den religiösen Diskurs als Beispiel zu nehmen: Die Anforderungen an die Personen, die sie dazu qualifiziert, ein alternatives religiöses Vokabular ins Spiel zu bringen, als auch die Kriterien, die dieses Vokabular erfüllen müsste, um akzeptiert zu werden, scheinen extrem hoch zu sein. Dagegen gehört es geradezu zur Jobbeschreibung eines Philosophen, neue Entwürfe und Perspektiven zur Kenntnis zu nehmen, und zu prüfen, ob es sich dabei nicht möglicherweise um eine aussichtsreiche Alternative handelt. Ein wichtiger Unterschied ist in dieser Hinsicht sicherlich auch, ob ein kultureller Bereich jeweils nur Platz für ein exklusives Vokabular lässt – wie es nach Kuhn in den modernen Naturwissenschaften der Fall ist, die sich jeweils immer an einem Paradigma orientieren, oder wie es notwendigerweise für die politische Verfassung eines einzelnen Staates gilt – oder ob ein kultureller Bereich Platz für alternative Vokabulare lässt, die jeweils von einer kleineren Anhängerschaft gestützt werden, wie es wiederum in der Philosophie der Fall ist. Abschließend lässt sich folgendes festhalten: Dem Slogan ›Zukunft braucht Herkunft‹ kann in Bezug auf die Prozesse kultureller Veränderung aufgrund der hier angestellten Überlegungen prinzipiell zugestimmt werden. Die leitenden Fragen, in welcher Hinsicht und in welchem Grad Veränderungen von Tradition abhängen, können aber nicht in einer allgemeinen und einheitlichen Weise beantwortet werden. Denn zum einen liegen mit den ›reformistischen‹ und den ›revolutionären kulturellen Transformationen‹ zwei Formen des Wandels vor, die ihrer Struktur nach in unterschiedlicher Weise und zu einem unterschiedlichen Grad von den bestehenden Verhältnissen abhängig sind. Und zum anderen bilden die verschiedenen konkreten kulturellen Bereiche und Konstellationen spezifische Ausgangslagen, die für die beiden Wandlungstypen unterschiedli31 | Vgl. zu der These, dass auch revolutionäre Veränderungen in bestimmten Hinsichten an das Bestehende anknüpfen, Abschnitt 3.4. von Emil Angehrns Text in diesem Band. Vgl. zu dieser Thematik auch Alasdair MacIntyre: »Epistemological Crises, Dramatic Narrative and the Philosophy of Science«, in: The Monist 60 (1977), S. 453-472.

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che Ansatzpunkte und Spielräume der Veränderung bieten. Unsere Kultur als Ganze bildet daher ein disparates Feld unterschiedlicher Dynamiken, in denen verschiedene Formen des Wandels aufgrund von unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Limitierungen zu verschiedenen Graden und Geschwindigkeiten kultureller Veränderung führen.

L ITER ATUR Hannah Arendt: On Revolution. New York: Penguin 2006. Stefan Deines: »Der Spielraum reflexiver Praxis. Gadamer und die Kritische Theorie«, in: Madeleine Kasten, Herman Paul und Rico Sneller (Hg.): Hermeneutics and the Humanities: Dialogues with Hans-Georg Gadamer. Leiden University Press, S. 110-132. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck 1990. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 2006. Martin Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: Ders.: Holzwege. Frankfurt a.M.: Klostermann 1994, S. 1-74. Martin Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, in: Ders.: Holzwege. Frankfurt a.M.: Klostermann 1994, S. 75-114. Martin Heidegger: »Brief über den Humanismus«, in: Ders.: Wegmarken. Frankfurt a.M.: Klostermann 2004, S. 313-364. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976. Thomas S. Kuhn: »Vorwort«, in: Ders.: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 31-45. Thomas S. Kuhn: »What are Scientific Revolutions?«, in: Ders.: The Road since Structure. Chicago: University of Chicago Press 2002, S. 13-32. Oliver Marchart: Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung. Wien: Turia + Kant 2005. Odo Marquard: »Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Betrachtungen über Modernität und Menschlichkeit«, in: Ders.: Philosophie des Stattdessen. Stuttgart: Reclam 2000, S. 66-78.

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Odo Marquard: »Apologie des Zufälligen. Philosophische Überlegungen zum Menschen«, in: Ders.: Apologie des Zufälligen. Stuttgart: Reclam 1986, S. 117-139. Alasdair MacIntyre: »Epistemological Crises, Dramatic Narrative and the Philosophy of Science«, in: The Monist 60 (1977), S. 453-472. Otto Neurath: »Protokollsätze«, in: Erkenntnis 3 (1932), S. 204-214. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. Richard Rorty: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Richard Rorty: »Universality and Truth«, in: Robert Brandom (Hg.): Rorty and his Critics. Malden: Blackwell 2000, S. 1-30. Richard Rorty: »Erwiderung auf Dieter Thomä«, in: Thomas Schäfer et al. (Hg.): Hinter den Spiegeln. Beiträge zur Philosophie Richard Rortys. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 319-324. Dieter Thomä: »Zur Kritik der Selbsterfindung. Ein Beitrag zur Theorie der Individualität«, in: Thomas Schäfer et al. (Hg.): Hinter den Spiegeln. Beiträge zur Philosophie Richard Rortys. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 292-318 Georgia Warnke: »Hermeneutics, Ethics, and Politics«, in: Robert Dostal (Hg.): The Cambridge Companion to Gadamer. Cambridge: Cambridge UP 2002, S. 79-101. Albrecht Wellmer: »Hermeneutische Reflexion im Licht der Dekonstruktion«, in: Ders.: Wie Worte Sinn machen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 155-179.

Fortschritt als Merkmal wissenschaftlichen Wandels Cornelis Menke

1. Der Physiker Henri Poincaré beginnt eine Betrachtung über die Theorien der modernen Physik (ursprünglich ein im Jahr 1900 auf dem Congrés Internationale de Physique gehaltener Vortrag) mit folgender Feststellung: Die Laien sind darüber betroffen, wieviele wissenschaftliche Theorien vergänglich sind. Nach einigen Jahren des Gedeihens sehen sie dieselben nacheinander aufgegeben, sie sehen, wie sich Trümmer auf Trümmer häufen; sie sehen voraus, daß die Theorien, die heutzutage Mode sind, in kurzer Zeit vergessen werden, und sie schlußfolgern daraus, daß diese Theorien absolut eitel sind. Sie nennen das: das Falissement der Wissenschaft.1

Poincaré hält diese Schlussfolgerung für verfehlt. Die Differentialgleichungen der Fresnel’schen Theorie des Lichtes etwa, die durch diejenige Maxwells abgelöst wurde, seien nach wie vor richtig, auch wenn Fresnels Annahme eines Lichtäthers verworfen worden sei; die Gleichungen eigneten sich nach wie vor dazu, die optischen Erscheinungen vorauszusagen, und dies (und nur dies) sei das Ziel der Fresnel’schen Theorie gewesen. Die physikalischen Theorien seien nur scheinbar ephemer; der eigentliche Gehalt erfolgreicher Theorien, der sich in den Gleichungen ausdrücke, sei keinem Wandel unterworfen, sondern bleibe erhalten.

1 | Henri Poincaré: Wissenschaft und Hypothese. Leipzig: B. G. Teubner 1904, S. 161; Hervorhebung im Original.

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Den in dem wiedergegebenen Zitat Poincarés ausgedrückten Gedanken und ebenso Poincarés Entgegnung könnte man für erklärungsbedürftig halten. Mit Selbstverständlichkeit – ohne es auszuführen oder zu begründen – wird in dem historischen Befund, dass wissenschaftliche Theorien verworfen und durch andere Theorien ersetzt werden, eine Bankrotterklärung der Wissenschaft gesehen. In diesem Urteil drückt sich eine Annahme darüber aus, wie wissenschaftlicher Wandel aussehen sollte: Die Wissenschaft solle Fortschritte, wenigstens aber keine Rückschritte machen. Dass Wissenschaft und Fortschritt miteinander verbunden sind, kann zweierlei meinen: Einerseits kann damit gesagt sein, dass der wissenschaftliche Wandel sich als Fortschrittsgeschichte darstelle: Wenn etwas eine Wissenschaft ist, dann sollte sie Fortschritte zeigen. Andererseits kann gemeint sein, dass der Fortschritt ein Alleinstellungsmerkmal der Wissenschaften sei: Einzig die Wissenschaften zeigten demnach Fortschritt. Beide Gedanken sind unter Wissenschaftstheoretikern, Wissenschaftshistorikern und auch unter Wissenschaftlern selbst weit verbreitet. Der Physiker Max Born wählt in seinen Erinnerungen gerade den Fortschritt als Vergleichspunkt, um Naturwissenschaft und Philosophie zu kontrastieren: »I have tried to read philosophers of all ages and have found many illuminating ideas but no steady progress toward deeper knowledge and understanding. Science, however, gives me the feeling of steady progress.«2 Karl Popper bemerkt lapidar: »The history of science is, by and large, a history of progress. (Science seems to be the only field of human endeavour of which this can be said.)«3 Der Wissenschaftshistoriker George Sarton schließlich macht die Fortschrittlichkeit zu einem Definitionsmerkmal der Wissenschaft: Definition. Science is systematized positive knowledge, or what has been taken as such at different ages and in different places. Theorem. The acquisition and systematization of positive knowledge are the only human activities which are truly cumulative and progressive.

2 | Max Born: »Recollections of Max Born. III: Reflections«, in: Bulletin of the Atomic Scientists 21 (1965), S. 3-6, hier S. 3f. 3 | Karl R. Popper: »The Rationality of Scientific Revolutions«, in: Ron Harré (Hg.): Problems of Scientific Revolutions. Progress and Obstacles to Progress in the Sciences. Oxford: Clarendon Press 1975, S. 72-101, hier S. 83.

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Corollary. The history of science is the only history which can illustrate the progress of mankind. In fact, progress has no definite and unquestionable meaning in other fields than the field of science. 4

Diese Sicht hat auch Eingang in Lexika gefunden. Robert Solomon hält die Fortschrittlichkeit der Wissenschaft für offenkundig; in dem Lemma »Progress« im Oxford Companion to Philosophy schreibt er, man müsse unterscheiden zwischen »progress in the realm of science and technology, where improvements in medical cures, modes of transport, and various scientific theories are easily established, and moral and spiritual progress, which raises profound philosophical problems«.5 Im gleichen Sinn formuliert Simon Blackburn: »The progressive nature of scientific inquiry is probably the most impressive example of progress that we have«, und fügt hinzu: »even this is doubted by philosophies of a sceptical and relativistic bent, that see in science only a history of revolutions.«6 Angesichts der Offenkundigkeit des wissenschaftlichen Wandels, den Poincaré anspricht, kann verblüffen, mit welcher Selbstverständlichkeit Wissenschaft und Fortschritt verbunden oder sogar gleichgesetzt werden. Man sollte meinen, ob die Wissenschaft Fortschritte zeige, sei eine empirische Frage, die sich nicht ohne Untersuchungen klären ließe.7 Wie wir zu dem Urteil gelangen, Fortschritt sei ein Kennzeichen wissenschaftlichen Wandels (und nur von diesem): diese Frage hat wenig Aufmerksamkeit gefunden. Gerade dieser Frage ist das letzte Kapitel von Thomas Kuhns vor genau einem halben Jahrhundert erschienenem Werk The Structure of Scientific Revolutions gewidmet.8 Kuhn kommt damit zu einem Thema zurück, das 4 | George Sarton: The Study of the History of Science. New York: Dover 1936, S. 5. 5 | Robert Solomon: »Progress«, in: Ted Hondrich (Hg.): The Oxford Companion to Philosophy. Oxford und New York: Oxford University Press 1995, S. 722. 6 | Simon Blackburn: Oxford Dictionary of Philosophy. Oxford: Oxford University Press 1994, S. 305; meine Hervorhebung. 7 | Vgl. Ilkka Niiniluoto: »Is There Progress in Science?«, in: Herbert Stachowiak (Hg.): Pragmatik. Handbuch des pragmatischen Denkens. Band V: Pragmatische Tendenzen in der Wissenschaftstheorie. Hamburg: Meiner 1995, S. 30-58, bes. S. 32ff. 8 | Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago: University of Chicago Press 1996.

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am Anfang seiner Untersuchung stand. Den Ausgangspunkt bildete der Befund, dass die überkommene Wissenschaftsgeschichte mit unlösbaren Problemen zu kämpfen habe. Diese Art der Wissenschaftsgeschichte sieht Kuhn durch drei Annahmen gekennzeichnet: (1) der Inhalt der Wissenschaft bestehe v.a. aus Beobachtungen, Gesetzen und Theorien, sowie aus den Methoden, die sich in den Lehrbüchern finden; (2) der Fortschritt der Wissenschaft bestehe in einem Zuwachs an Inhalt, also in neuen Gesetzen und Theorien, die entdeckt würden; (3) die Aufgabe der Wissenschaftsgeschichte bestehe darin, die Geschichte dieser Erfolge zu schreiben und zugleich die der Irrtümer und Forschungshindernisse. Die auf diesen drei Annahmen fußende Wissenschaftsgeschichte sei gescheitert: Die Erfolge der Wissenschaft hätten sich weder datieren noch von den Irrtümern scharf unterscheiden lassen, und dieselben Methoden, die zu den Erfolgen geführt hätten, seien auch für die Irrtümer verantwortlich.9 Das Bild der Wissenschaft und ihrer Entwicklung, das Kuhn an die Stelle des alten setzt, ist weithin bekannt, und es soll hier genügen, die wichtigsten Elemente kurz in Erinnerung zu rufen. Nicht Gesetze und Theorien, sondern Paradigmen prägen die Wissenschaft: herausragende wissenschaftliche Leistungen, die einer Gemeinschaft von Forschern als Beispiel für ihre Arbeit dienen, in Lehrbüchern tradiert und in der Regel nicht in Frage gestellt werden. Paradigmen prägen die »normalwissenschaftliche« Phase der Forschung; hier dienen sie als Vorbild, sie ermöglichen, lösbare von unlösbaren Problemen zu unterscheiden, und stellen Kriterien bereit, an Hand derer sich Problemlösungen beurteilen lassen. Erst, wenn sich viele Probleme dauerhaft einer Lösung widersetzen, gerät ein Paradigma in eine Krise und wird schlussendlich durch ein neues ersetzt. Dies ist die »wissenschaftliche Revolution«, die Kuhns Betrachtung den Namen gibt.

2. Das letzte Kapitel von The Structure of Scientific Revolutions ist mit »Progress through Revolutions« überschrieben – der Fortschritt bei wissenschaftlichen Revolutionen ist jedoch nur ein Teil dessen, was betrachtet wird. Die Aufgabe, die Kuhn sich stellt, ist, die enge Verbindung von Wis9 | Ebd., S. 1ff.

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senschaft und Fortschritt zu klären: »Why should the enterprise sketched above move steadily ahead in ways that, say, art, political theory, or philosophy does not? Why is progress a perquisite reserved almost exclusively for the activities we call science?«10 Kuhn unterteilt dieses Problem in zwei Fragen: erstens, warum besonders oder sogar nur der Wandel der Wissenschaft als fortschrittlich gelte; zweitens, warum der Fortschritt der Wissenschaft als hervorhebenswertes Merkmal gelte (mit anderen Worten, warum der Wandel der Wissenschaft sich als Fortschritt darstelle). Die Antwort auf die erste Frage sei semantischer Natur: »To a very great extent the term ,science‹ is reserved for fields that do progress in obvious ways.«11 Streitigkeiten darüber, ob eine bestimmte Disziplin eine Wissenschaft sei, seien besser verständlich als Streite darüber, warum diese Disziplin sich nicht in einer etwa der Physik vergleichbaren Weise entwickele – es fehle den Forschern an einer übereinstimmenden Beurteilung der vergangenen und gegenwärtigen Leistungen, so dass sie ihr Gebiet nicht als fortschrittlich und also auch nicht als (strenge) Wissenschaft begriffen.12 Die zweite Frage – warum Fortschritt ein so hervorstechendes Merkmal der Wissenschaften sei – behandelt Kuhn separat für den Fall der Normalwissenschaft und den Fall von wissenschaftlichen Revolutionen. Seine Erklärung hat jeweils zwei Teile: der Fortschritt der Wissenschaften sei zum einen das Resultat der kollektiven Wahrnehmung der Entwicklung in einem Forschungsfeld durch die Gemeinschaft der Forscher, zum anderen das Ergebnis davon, dass diese Forschergemeinschaften so beschaffen seien, dass ihre Arbeit beispiellos effizient sei und ihr Gebiet daher tatsächlich Fortschritte mache, die sich außerhalb der Wissenschaft so nicht fänden. Die Normalwissenschaft ist nach Kuhn dadurch geprägt, dass die Forscher in einem Gebiet ein gemeinsames Paradigma teilen – nur in Ausnahmefällen gebe es verschiedene Gruppen, die dieselben Probleme untersuchten. Für die Mitglieder einer solchen Gruppe, die gemeinsame 10 | Ebd., S. 160. 11 | Ebd. 12 | Dieses Kriterium findet sich häufig; so führt etwa der Historiker Richard Evans in einer Untersuchung über die Grundlagen historischer Erkenntnis gerade diesen Punkt an: »Man hat vielfach behauptet, Geschichte sei deshalb keine strenge Wissenschaft, weil das von ihr produzierte Wissen sich nicht, wie in den Naturwissenschaften, in wachsendem Maße akkumuliert.« Richard J. Evans: Fakten und Fiktionen. Frankfurt a.M.: Campus 1998, S. 52.

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Ziele und Standards teilten, stellten erfolgreiche Arbeiten immer auch Fortschritte des Forschungsfeldes dar; konkurrierende Gruppen, die dies bezweifeln könnten, gebe es nicht. Fortschritt verweise auf das Fehlen alternativer Gesichtspunkte; wer etwa von der Philosophie sage, dass sie keine Fortschritte mache, meine vielleicht, dass es immer noch Aristoteliker gebe, nicht aber, dass der Aristotelismus keine Fortschritte gemacht habe.13 Dies erkläre, warum die Normalwissenschaft fortschrittlich scheine; hinzu trete aber, dass die Abgeschlossenheit wissenschaftlicher Gemeinschaften und die wissenschaftliche Ausbildung den tatsächlichen Erfolg und die Effizienz bei der Lösung von Problemen steigerten. Wie keine andere Gruppe sei eine Forschergemeinschaft nach außen abgeschirmt – die Arbeit richte sich ausschließlich an Kollegen, mit denen den Forscher gemeinsame Werte und Überzeugungen verbänden. Um Kritik von Außen müsse er sich nicht kümmern, und könne seine Arbeit auf Problemstellungen konzentrieren, von denen er annehmen kann, dass sie für ihn lösbar sein werden; die Wahl eines Problems werde in der Naturwissenschaft so gut wie nie mit dessen sozialer Bedeutung gerechtfertigt.14 Die wissenschaftliche Ausbildung in den Naturwissenschaften verstärke diesen Effekt. Anders als in den Geisteswissenschaften würden Studenten in den ersten Jahren nahezu ausschließlich mit Lehrbüchern konfrontiert, nicht aber mit originalen Forschungsbeiträgen; die Vielzahl unterschiedlicher Probleme und miteinander konkurrierender Lösungsvorschläge, mit denen Geisteswissenschaftler sich konfrontiert sähen, lernten sie nie kennen. Für die normalwissenschaftliche Forschung, das Lösen von Problemen in der von den 13 | Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, S. 163. 14 | Ebd., S. 164f. Der Gedanke, dass die Wahl der Gegenstände der Forschung nach dem Gesichtspunkt ihrer Lösbarkeit wesentlich zur Effizienz der Forschung beitrage, findet sich (wenngleich in einem ganz anderen Kontext) ebenfalls bei Michael Polanyi in dessen im selben Jahr erschienenen Aufsatz The Republic of Science. Polanyis Begründung weicht von derjenigen Kuhns allerdings im Detail ab: Während Kuhn betont, dass die Mitglieder einer wissenschaftlichen Gemeinschaft ihre Probleme danach wählen könnten, ob diese gegeben vor dem Hintergrund des geteilten Paradigmas als lösbar erscheinen, betont Polanyi, dass die Lösbarkeit wesentlich von den jeweiligen Fähigkeiten und Erfahrungen einzelner Wissenschaftler abhänge. Nur der Einzelne könne entscheiden, ob die Beschäftigung mit einer Frage für ihn erfolgsversprechend sei. Michael Polanyi: »The Republic of Science«, in: Minerva 1 (1962), S. 54-73, bes. S. 54ff.

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Lehrbüchern vorgegebenen Tradition, seien sie damit hervorragend vorbereitet. Die Effizienz einer solchen wissenschaftlichen Gemeinschaft bei der Lösung von Problemen müsse zu Fortschritten führen. Kuhns Erklärung dafür, dass auch nach einem Paradigmenwechsel die Übernahme des neuen Paradigmas als Fortschritt beurteilt werde, ist der Erklärung des normalwissenschaftlichen Fortschritts analog: Dieses Urteil ist zu einem Teil das Resultat der Wahrnehmung, zum anderen Teil das Resultat der Autonomie wissenschaftlicher Gemeinschaften bei der Wahl des neuen Paradigmas. Resultat der Wahrnehmung ist der Fortschritt insofern, als dass ein Paradigmenwechsel nichts anderes sei als ein Sieg eines Paradigmas über ein anderes. Mit dem alten Paradigma würden auch dessen Lehrbücher und Artikel aussortiert, mit dem Ergebnis, dass es wiederum keine alternative Sichtweise gebe, die die Beurteilung des Wandels als Fortschritt in Frage stellen könne.15 Daneben stelle ein Paradigmenwechsel auch einen tatsächlichen Fortschritt dar. Der Ausgangspunkt von Kuhns Erklärung ist wiederum die Abgeschlossenheit wissenschaftlicher Gemeinschaften: Wissenschaftliche Arbeiten richteten sich allein an die Mitglieder der Gemeinschaft, und diese seien die einzigen kompetenten Richter über deren Wert: »One of the strongest, if still unwritten, rules of scientific life is the prohibition of appeals to heads of state or to the populace at large in matters scientific.«16 Dieser Bezug auf die in normalwissenschaftlichen Phasen gebildeten Gemeinschaften bleibe auch bei einer Krise erhalten und bei der Wahl des Paradigmas. 15 | Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, S. 167; vgl. auch S. 136ff. 16 | Ebd., S. 168. In welchem Sinne Kuhn hier sagt, diese Regel sei nicht niedergeschrieben, kann ich nicht erklären; die libertas philosophandi beziehungsweise die Unabhängigkeit der Wissenschaft kann dann eigentlich nicht gemeint sein. Dass Forscher nur Kollegen als sachkundige Richter ihrer Arbeit akzeptieren, findet sich etwa auch bei Robert Merton diskutiert: Teil von dessen ethos of science ist die disinterestedness, die durch die »ultimate accountability of scientists to their compeers« gestützt werde; die Wissenschaft unterscheide sich von allen anderen Professionen darin, dass sie keine Klienten habe. Robert K. Merton; »A Note on Science and Democracy«, in: Journal of Legal and Political Sociology 1 (1942), S. 115-126; zitiert nach: Robert K. Merton, »The Normative Structure of Science«, in: Norman Storer (Hg.): Robert K. Merton. The Sociology of Science. Chicago: University of Chicago Press 1973, S. 267-278, hier: S. 276.

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Wissenschaftler seien nicht willens, bestehende Lösungen von Problemen leichtfertig aufzugeben – gelöste Probleme seien die Einheit, in der wissenschaftliche Leistungen gemessen würden. Damit sie bereit seien, ein altes Paradigma zugunsten eines neuen aufzugeben, müssten zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens müsse das neue Paradigma wenigstens ein bislang offenes Problem lösen, dessen Bedeutung weithin anerkannt sei; zweitens müsse das neue Paradigma einen großen Teil der vorhandenen Problemlösungen bewahren. Ein neues Paradigma erhalte also die meisten erfolgreichen Lösungen und gestatte neue Lösungen: Die Autonomie der Gemeinschaft bei der Wahl des Paradigmas gewährleiste, dass die Zahl der gelösten Probleme stetig wachse.17

3. Kuhns Feststellung, neue Theorien müssten und würden nicht alle Erfolge ihrer Vorgänger bewahren, steht in direktem Gegensatz zu der Anforderung, von Fortschritt lasse sich nur dann sprechen, wenn es keinerlei Verluste gebe. Karl Popper etwa hat dieses Desiderat für unabdingbar gehalten: »A new theory, however revolutionary, must always be able to explain fully the success of its predecessor. In all those cases in which its predecessor was successful, it must yield results at least as good.«18 Dass diese Anforderung nicht einfach ein Desiderat guter Theorien unter vielen, sondern eine notwendige Bedingung für (kumulativen) Fortschritt ist, hat Robin Collingwood pointiert formuliert: If thought in its first phase, after solving the initial problems of that phase, is then through solving these, brought up against others which defeat it; and if the second solves these further problems without loosing its hold of the solution of the first, so that there is gain without any corresponding loss, then there is progress. And

17 | Ebd., S. 170. 18 | Popper: The Rationality of Scientific Revolutions, S. 83. Weitere Belege für die Verbreitung dieses Desiderats in der Methodologie finden sich bei Larry Laudan: Progress and its Problems. Towards a Theory of Scientific Growth. London: Routledge & Kegan Paul 1977, S. 147ff.

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there can be progress in no other terms. If there is any loss, the problem of setting loss against gain is insoluble.19

Larry Laudan hat dieser Sicht entgegengehalten, dass das Bewahren sämtlicher Erfolge von Vorgängertheorien keineswegs eine Vorbedingung dafür sei, von einer fortschrittlichen Entwicklung zu sprechen. Laudans Modell wissenschaftlichen Wandels, das er in Progress and its Problems20 entwirft, stimmt mit dem kuhnschen hierbei in vielen Aspekten überein. Ebenso wie Kuhn sieht auch Laudan in den gelösten Problemen den eigentlichen Gegenstand wissenschaftlicher Theorien – um die Verdienste von Theorien zu beurteilen, müsse man vor allem fragen, welche signifikanten Probleme diese lösten.21 Sind aber die von einer Theorie gelösten Probleme der entscheidende Maßstab der Güte einer Theorie (und nicht etwa deren Grad der Bestätigung), so lassen sich Theorien auch dann vergleichen, wenn die von einer Theorie gelösten Probleme nicht eine Teilmenge der von der anderen Theorie gelösten sind: die Zahl erfolgreicher Lösungen und die Bedeutung der gelösten Probleme ermöglichen ebenfalls einen Vergleich. Bestünde zwischen den von zwei konkurrierenden Theorien gelösten Problemen immer eine Teilmengenbeziehung, so wäre eine Betrachtung der Anzahl der Lösungen und der Bedeutung einzelner Probleme ohne Nutzen. Zahl und Bedeutung von Problemen haben, so Laudan, oft eine entscheidende Rolle gespielt. Von den Problemen, für die Geologen vor 1830 eine Lösung gesucht hätten – wie Steine aus Ablagerungen entstehen, wie die Erde entstanden sei, was der Ursprung von Vulkanen und heißen Quellen sei, pp. – hätten nach dem Aufkommen der Stratigraphie nur noch wenige größere Beachtung gefunden. Dafür seien zahlreiche andere Probleme erfolgreich gelöst worden, so dass man, wenn man den Stand der Forschung Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem des späten 18. vergleiche, wohl nicht anders als von einem Fortschritt sprechen könne.22 19 | Robin G. Collingwood: The Idea of History. Oxford: Clarendon Press 1956, S. 332. Zitiert nach Laudan: Progress and its Problems, S. 147; meine Hervorhebung. 20 | Laudan: Progress and its Problems. 21 | Ebd., S. 14. 22 | Ebd. S. 148f. Vgl. Larry Laudan: »A Problem-Solving Approach to Scientific Progress«, in: Ian Hacking (Hg.): Scientific Revolutions. Oxford: Oxford University Press 1981, S. 144-155, bes. S. 149.

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Der Verlust bestimmter erfolgreicher Erklärungen ist für die Frage des Fortschritts in der Tat nicht so entscheidend, wie die Diskussion um den »Kuhn loss«23 nahelegt. Es stimmt zwar, dass es auf der Ebene der gelösten Probleme nicht möglich ist zu entscheiden, ob eine neue Theorie einen Fortschritt darstellt, wenn diese eine zuvor offene Frage klärt, dafür aber eine alte Lösung nicht zu bewahren vermag. Es kann dennoch vernünftig und wohlbegründet sein, der neuen Lösung ein größeres Gewicht beizumessen und die neue Theorie zu bevorzugen: Denn die von der neuen Theorie gelösten Probleme sind häufig gerade solche Probleme, die man mit der alten Theorie oft über lange Zeit ohne Erfolg zu lösen versucht hatte: sei es, dass man einfach keine Lösung gefunden hat, sei es, dass eine mögliche Lösung eines bestimmten Problems zu neuen Problemen an anderer Stelle führte oder aber Lösungen infrage stellte.24 Die Lösung eines solchen widerspenstigen Problems kann wertvoller sein als die eines anderen, zumal noch gar nicht ausgemacht ist, dass die neue Theorie dieses nicht später auch noch lösen kann: Die tatsächliche Leistungsfähigkeit einer neuen Theorie zu bestimmen braucht Zeit. Über die Fortschrittlichkeit einer Entwicklung auf der Grundlage der Anzahl und des Gewichts erfolgreicher Lösungen zu urteilen, ermöglicht es zwar einerseits, von Fortschritt zu sprechen, ohne dafür eine Kumulation erfolgreicher Problemlösungen voraussetzen zu müssen; andererseits ist damit aber das Problem des Fortschritts nur auf eine andere Ebene verschoben. Verluste einzelner Erfolge der Wissenschaft sind mit wissenschaftlichem Fortschritt verträglich, solange sie an anderer Stelle durch mehr oder gewichtigere Problemlösungen kompensiert werden; für die (gewichtete) Summe der gelösten Probleme aber gilt nun, was Popper und Collingwood für die einzelnen Problemlösungen forderten: dass nämlich Verluste mit Fortschritt unvereinbar sind. Auch diese Forderung ist, wie ich zeigen möchte, zu streng. Ein weiteres tritt hinzu: Um Probleme beziehungsweise deren Lösungen individuieren und gewichten zu können, braucht man Maßstäbe, anhand deren sich entscheiden lässt, ob zwei Probleme identisch oder ver23 | Der Ausdruck findet sich m.W. erstmalig bei Heinz Post. Heinz Post: »Correspondence, Invariance and Heuristics«, in: Studies in History and Philosophy of Science 2 (1971), S. 213-255. 24 | Dieses Phänomen ist eines der Kriterien bei Kuhn für eine ernsthafte Krise; vgl. Kuhn: Structure of Scientific Revolutions, S. 74ff.

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schieden sind, wie bedeutend ein bestimmtes Problem ist und wie gut eine Lösung. Die Kriterien, die Laudan für die Beurteilung dieser Probleme anbietet, stimmen – wie sollte es auch anders sein? – im Wesentlichen mit den klassischen methodologischen Kriterien der Theoriebewertung überein: »The function of a theory is to resolve ambiguity, to reduce irregularity to uniformity, to show that what happens is somehow intelligible and predictable.«25 So kann man sich fragen, ob die gelösten Probleme zur Einheit der Bewertung von Theorien zu machen, tatsächlich zu einem von dem klassischen grundlegend abweichenden Bild führt, demzufolge Theorien nicht Probleme lösen, sondern Phänomene erklären.26 Damit nun die Bewertung von Theoriewandel als fortschrittlich oder nicht möglich ist, müssen diese Kriterien feststehen, so dass mit einem festen Maßstab gemessen werden kann.

4. Kuhn führt wie gesagt zwei Bedingungen dafür an, dass Wissenschaftler ein altes Paradigma durch ein neues ersetzen: Das neue Paradigma muss erstens ein im alten Paradigma scheinbar unlösbares Problem lösen, und es muss zweitens den größten Teil der gelösten Probleme bewahren.27 Damit diese Bedingungen erfüllt sein können, muss das neue Paradigma schon weitgehend ausgearbeitet (»artikuliert«) sein – es muss für möglichst viele Probleme schon Lösungen bereithalten, die an die Stelle der alten treten können. 25 | Ebd., S. 13. Man vergleiche etwa die Aufzählung begrifflicher Probleme Laudans (Laudan: A Problem-Solving Approach to Scientific Progress, S. 146.) mit Kuhns Aufzählung allgemeinwissenschaftlicher Werte. Thomas S. Kuhn: »Objectivity, Value Judgment, and Theory Choice«, in: Ders.: The Essential Tension: Selected Studies in Scientific Tradition and Change. Chicago: University of Chicago Press 1977, S. 320-339, bes. S. 320ff. 26 | Ebd., S. 11f. 27 | Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, S. 169: »First, the new candidate must seem to resolve some outstanding and generally recognized problem that can be met in no other way. Second, the new paradigm must promise to preserve a relatively large part of the concrete problem-solving ability that has accrued to science through its predecessors.«

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Die Frage, welche Gründe Forscher bewegten, sich einem neuen Paradigma zuzuwenden, bevor dieses so weit artikuliert ist, dass es die beiden genannten Bedingungen erfüllt, hat Kuhn immer wieder behandelt.28 Die Bedeutung dieser Frage ergibt sich daraus, dass sich diese Entscheidung nicht mit Bezug auf die erwiesenen Erfolge der neuen Theorie begründen lässt – diese hat meist erst wenige Probleme gelöst, und diese Lösungen sind oft noch nicht ausgereift: »In short, if a new candidate for paradigm had to be judged from the start by hard-headed people who examined only relative problem-solving ability, the sciences would experience very few major revolutions.«29 In The Structure of Scientific Revolutions führt Kuhn zwei Arten von Gründen an, die bei der Hinwendung zu einer neuen Theorie oft eine Rolle gespielt hätten. Die erste Art betrifft besondere Formen der erwiesenen Problemlösungsfähigkeit. Das stärkste Argument zugunsten einer neuen Theorie sei, dass diese gerade die Probleme lösen könne, die die alte Theorie in eine Krise geführt hätten, also Probleme, die sich einer Lösung hartnäckig und für lange Zeit widersetzt hätten, doch dies lasse sich nur selten zu Recht behaupten. Andernfalls müssten Belege für die neue Theorie aus anderen Teilen des Forschungsgebiets kommen, und besonders überzeugend seien erfolgreiche Vorhersagen von Phänomenen, die aufgrund der alten Theorie nicht erwartet worden wären, wie etwa bei der Voraussage der Venusphasen durch die kopernikanische Theorie. Zu diesen Formen erwiesener Problemlösungsfähigkeit trete aber noch eine weitere Art von Erwägungen, nämlich ein individueller Sinn für Angemessenheit und Ästhetik: die neue Theorie gelte Einzelnen als »einfacher« oder »schöner« als die alte. Allein persönliche und wenig entwickelte Erwägungen dieser Art könnten die Entscheidungen von Forschern in diesem Stadium erklären, denn die Wahl zwischen Paradigmen sei eine Wahl, die mit Blick auf die zukünftige, nicht die vergangene Problemlösungsfähigkeit getroffen werde. Ästhetische Erwägungen allein könnten einem Paradigma nicht zum Erfolg verhelfen, aber sie gewährleisteten, 28 | Ebd., S. 144ff; Thomas S. Kuhn: Postscript – 1969, in: Ders.: The Structure of Scientific Revolutions, S. 174-210, bes. S. 186ff.; Thomas S. Kuhn: »Reflections on my Critics«, in: Imre Lakatos und Alan Musgrave (Hg.): Criticism and the Growth of Knowledge. Cambridge: Cambridge University Press 1974, S. 231-278; Kuhn: Objectivity, Value Judgment, and Theory Choice, S. 329ff. 29 | Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, S. 157.

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dass einige Forscher dieses so weit artikulieren, dass es seine Leistungsfähigkeit zeigen könne.30 In Objectivity, Value Judgment, and Theory Choice (1977) schlägt Kuhn eine weiterentwickelte Lösung dieses Problems vor. Entscheidungen zwischen Theorien seien durch objektive und subjektive Kriterien bestimmt; beide Arten von Kriterien seien wichtig. Zu den objektiven Kriterien gehören, so Kuhn, die Charakteristika guter Theorien: Genauigkeit der Vorhersagen, Erklärungskraft, Konsistenz, Vereinbarkeit mit anderen akzeptierten Theorien, Einfachheit und Fruchtbarkeit. Diese Kriterien seien unpräzise und stünden einander oft entgegen: Das ptolemäische System ist mit der akzeptierten Physik der Zeit verträglich gewesen, anders als das kopernikanische System; dieses zeigt aber eine größere Einfachheit, insofern es die Bewegung der Planeten mit nur einer Kreisbewegung beschreiben kann. Hinzu komme, dass einzelne Forscher die verschiedenen Kriterien durchaus verschieden gewichten könnten. Dies alles führe dazu, dass zwei Forscher auch dann zu unterschiedlichen Entscheidungen gelangen könnten, wenn sie sich über die Kriterien einig seien. Die Kriterien beeinflussten daher zwar die Entscheidungen, ohne diese aber zu bestimmen, und glichen insofern Normen oder Werten, die sich ebenfalls oft widersprechen, ohne deshalb überflüssig zu sein. Die Unbestimmtheit der Entscheidung und der Spielraum, den die Kriterien zulassen, sei aber kein Nachteil des Modells, sondern im Gegenteil ein Vorzug: Bevor eine Theorie ihre Erklärungskraft und die Genauigkeit ihrer Vorhersagen zeigen könne, sei viel Arbeit zu tun, und dies setze einen Entscheidungsprozess voraus, bei dem rationale Forscher uneinig sein könnten.

5. Beide Erklärungen – warum die Entwicklung der Wissenschaft fortschrittlich zu sein scheint, und was Forscher motiviert, ganz neue Wege zu beschreiten – sind nicht leicht in Einklang zu bringen. Ein wesentliches Element von Kuhns Erklärung des Fortschritts der Wissenschaft ist der Verweis darauf, dass eine Gemeinschaft von Forschern ein neues Paradigma erst akzeptiere, wenn dieses die Erfolge seines Vorgängers weitge30 | Ebd., S. 155-159.

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hend bewahre. Diese vollständig zu bewahren, ist nicht zwingend nötig; von einem Fortschritt zu sprechen, setzt aber gemeinsame und feste Maßstäbe voraus, die es ermöglichen, die Leistungen verschiedener Theorien oder Paradigmen zu vergleichen. Die Erklärung dafür, warum Forscher sich neuen Theorien zuwenden, weist (in beiden diskutierten Varianten Kuhns) in eine andere Richtung: Wesentlich für diese Entscheidung ist nicht die erwiesene vergangene, sondern die vermutete zukünftige Fähigkeit, Probleme zu lösen. Dem Urteil darüber liegen beim frühen Kuhn individuelle, besonders ästhetische Werturteile zugrunde, beim späten eine individuelle Gewichtung gemeinsamer Werte. In beiden Fällen aber kann eine wissenschaftliche Gemeinschaft einen neuen Ansatz nur dann so weit ausarbeiten, dass er mit der überkommenen Theorie gleichwertig wird, wenn die Entscheidungen der einzelnen Forscher differieren. Beide Erklärungen machen verschiedene und nicht leicht miteinander zu versöhnende Annahmen über die Art der Werte, die Wissenschaftler leiten, über die Funktion akademischer Gemeinschaften und das Wesen wissenschaftlicher Rationalität, kurz: über die Natur der Entwicklung der Wissenschaft. Im einen Fall bestimmen wissenschaftliche Werte, welche Arten von Problemen es in der Wissenschaft gibt, welche Bedeutung einzelne Probleme haben und wie gut deren Lösung ist. All dies bezieht sich zunächst auf die erwiesenen Erfolge einer Theorie. Dass über diese Werte Einigkeit herrscht, ist wesentlich für die Effektivität und Effizienz einer Gruppe von Wissenschaftlern, die so zielgerichtet forschen kann. Rational ist das Handeln von Forschern dann, wenn es sich im Einklang mit diesen Werten befindet: dies stellt sicher, dass die Ergebnisse der Forschung nur dann akzeptiert werden, wenn sie – gegeben diese Werte – einen wissenschaftlichen Fortschritt darstellen; Rückschritte der Forschung kann (und darf) es nicht geben. Im anderen Fall rechtfertigen die Werte eine, zumeist individuelle, Hoffnung darauf, dass eine Theorie zukünftig neue Lösungen ermöglichen werde. Ob diese Hoffnung sich erfüllt, lässt sich im Vorhinein nur vermuten. Wesentlich ist hier gerade, dass das Urteil eines Einzelnen von dem der Gruppe abweichen kann; ein einzelnes Urteil und eine einzelne Handlung kann man daher nicht rational nennen – die Rationalität der wissenschaftlichen Handlungen liegt stattdessen auf der Ebene der gesamten Gruppe: Gerade dass die Entscheidungen der Mitglieder darüber, welche Forschungsansätze langfristig erfolgreich sein könnten, nicht diesel-

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ben sind, macht es wahrscheinlicher, dass nicht nur erfolgversprechend, sondern auch erfolgreiche Wege darunter sind. Dass alle diese Wege zunächst (gemessen an den gemeinschaftlich geteilten Werten) Rückschritte darstellen, ist der Preis, der für die Möglichkeit zukünftiger Fortschritte gezahlt werden muss. Beide Ansätze nebeneinander existieren zu lassen, löst die Spannung nicht auf, solange nicht bestimmt ist, unter welchen Bedingungen welches der beiden Modelle vorzuziehen ist. In der Wissenschaftstheorie hat man meist das erste Modell verfolgt und versucht, Kriterien der Theoriebewertung zu explizieren, die es erlauben, den Fortschritt der Wissenschaft direkt zu erklären. Doch aus der Sicht von Wissenschaftlern ist es das zweite Modell, das die Fragen beantwortet, die sich in der Forschung stellen – nicht, welche Theorie gegenwärtig die meisten Erfolge vorzuweisen hat, sondern, welche das größte Potential zukünftiger Erfolge bietet – und es wäre den Versuch wert, diesen Weg auch zu verfolgen.31

L ITER ATUR Simon Blackburn: Oxford Dictionary of Philosophy. Oxford: Oxford University Press 1994. Max Born: »Recollections of Max Born. III: Reflections«, in: Bulletin of the Atomic Scientists 21 (1965), S. 3-6. Robin G. Collingwood: The Idea of History. Oxford: Clarendon Press 1956. Richard J. Evans: Fakten und Fiktionen. Frankfurt a.M.: Campus 1998. Philip Kitcher: »The Division of Cognitive Labor«, in: The Journal of Philosophy 87 (1990), S. 5-22. Thomas S. Kuhn: »Objectivity, Value Judgment, and Theory Choice«, in: Ders.: The Essential Tension: Selected Studies in Scientific Tradition and Change. Chicago: University of Chicago Press 1977, S. 320-339. Thomas S. Kuhn: Postscript – 1969, in: Ders.: The Structure of Scientific Revolutions, S. 174-210.

31 | Ansätze hierzu finden sich beispielsweise bei Philip Kitcher (Philip Kitcher: »The Division of Cognitive Labor«, in: The Journal of Philosophy 87 (1990), S. 5-22.) – Diese Arbeit wurde durch ein Dilthey-Fellowships der VolkswagenStiftung ermöglicht.

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C ORNELIS M ENKE

Thomas S. Kuhn: »Reflections on my Critics«, in: Imre Lakatos und Alan Musgrave (Hg.): Criticism and the Growth of Knowledge. Cambridge: Cambridge University Press 1974, S. 231-278. Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago: University of Chicago Press 1996. Larry Laudan: »A Problem-Solving Approach to Scientific Progress«, in: Ian Hacking (Hg.): Scientific Revolutions. Oxford: Oxford University Press 1981, S. 144-155. Larry Laudan: Progress and its Problems. Towards a Theory of Scientific Growth. London: Routledge & Kegan Paul 1977. Robert K. Merton; »A Note on Science and Democracy«, in: Journal of Legal and Political Sociology 1 (1942), S. 115-126. Robert K. Merton, »The Normative Structure of Science«, in: Norman Storer (Hg.): Robert K. Merton. The Sociology of Science. Chicago: University of Chicago Press 1973, S. 267-278. Ilkka Niiniluoto: »Is There Progress in Science?«, in: Herbert Stachowiak (Hg.): Pragmatik. Handbuch des pragmatischen Denkens. Band V: Pragmatische Tendenzen in der Wissenschaftstheorie. Hamburg: Meiner 1995, S. 30-58. Henri Poincaré: Wissenschaft und Hypothese. Leipzig: B. G. Teubner 1904. Michael Polanyi: »The Republic of Science«, in: Minerva 1 (1962), S. 54-73. Karl R. Popper: »The Rationality of Scientific Revolutions«, in: Ron Harré (Hg.): Problems of Scientific Revolutions. Progress and Obstacles to Progress in the Sciences. Oxford: Clarendon Press 1975, S. 72-101. Heinz Post: »Correspondence, Invariance and Heuristics«, in: Studies in History and Philosophy of Science 2 (1971), S. 213-255. George Sarton: The Study of the History of Science. New York: Dover 1936. Robert Solomon: »Progress«, in: Ted Hondrich (Hg.): The Oxford Companion to Philosophy. Oxford und New York: Oxford University Press 1995, S. 722.

Kultureller Wandel und transkulturelle Erinnerung Astrid Erll

In diesem Beitrag geht es um den Zusammenhang von Gedächtnis und kulturellem Wandel. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Frage, wie die in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung zunehmend Beachtung findende Praxis eines ›transkulturellen Erinnerns‹ kulturellen Wandel reflektieren, ermöglichen oder herbeiführen kann. In einem ersten Schritt wird erläutert, wie das Phänomen des kulturellen Wandels in der Gedächtnisforschung vor der ›transkulturellen Wende‹ beschrieben wurde. Zweitens geht es um die Frage, was unter transkultureller Erinnerung zu verstehen ist und wann sie für kulturellen Wandel relevant wird. Drittens werden neuere Publikationen der amerikanischen memory studies vorgestellt, die verschiedene Konzepte transkulturellen Erinnerns entwerfen (multidirectional memory und prosthetic memory). Gefragt wird nach deren Erkenntniswert für die Beschreibung von kulturellem Wandel im 20. und 21. Jahrhundert.

1. K ULTURELLER W ANDEL IN DER THEORIE DES KULTURELLEN G EDÄCHTNISSES Warum Gedächtnis? Warum sollte sich mit dem kulturellen Gedächtnis beschäftigen, wer sich für Wandel interessiert? Steht Gedächtnis nicht für das Statische, das Unwandelbare, für die abgeschlossene Vergangenheit? Haben wir es also nicht geradezu mit dem Gegenteil jener dynamischen, zukunftsgerichteten Prozesse zu tun, um die es in diesem Band geht? Könnte man nicht sagen: Wer Wandel will, muss das Gedächtnis ignorieren, muss vergessen können?

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Dazu ist zu bemerken, dass das Gedächtnis in der – heute gar nicht mehr so neuen – interdisziplinären, kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, also seit den späten 1980er Jahren, als ein dynamischer Apparat konzipiert wird, der Erinnerung und die Aktualisierung des immer Gleichen ebenso umfasst wie das Vergessen und die tiefgreifende Umgestaltung von Tradition und kulturellem Wissen.1 Die memory studies (diese Bezeichnung hat sich in der angloamerikanischen Forschung eingebürgert)2 beschreiben mit dem Begriff ›Gedächtnis‹ einen Prozess, bei dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zueinander in Relation gesetzt werden – beim Individuum ebenso wie in soziokulturellen Formationen. Es ist insbesondere der Zukunftsaspekt des Gedächtnisses – die Tatsache also, dass die Zukunft, auch eine radikal andere Zukunft, oft erst imaginierbar wird über den Rückgriff auf Vergangenheit, auf bereits Geschehenes, auf gemachte Erfahrungen –, der das Thema dieses Bandes mit dem Bereich der Gedächtnisforschung verbindet. Ob als (erst philosophische, dann politische Formel) ›Zukunft braucht Herkunft‹ oder mit Reinhart Koselleck als Spannungsverhältnis von ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹3 – Wandel speist sich aus Gedächtnis; Gedächtnis birgt das Potential zum Wandel. Aleida und Jan Assmann haben in ihrer Theorie des kulturellen Gedächtnisses Schlüsselkonzepte entwickelt, mit denen sich das Verhältnis von Gedächtnis und Wandel beschreiben lässt. Besonders relevant erscheinen in diesem Zusammenhang die Praxis der ›kontrapräsentischen Erinnerung‹ sowie die Unterscheidung zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis. Den Begriff der kontrapräsentischen Erinnerung verwendet Jan Assmann in Das kulturelle Gedächtnis (1992) in Anlehnung an den Theologen Gerd Theißen. Anders als die ›fundierende Erinnerung‹, die die Gegenwart legitimiert und dafür sorgen soll, dass auch morgen alles 1 | Vgl. dazu Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart: Metzler 2011; Astrid Erll und Ansgar Nünning (Hg.): A Companion to Cultural Memory Studies. Berlin und New York: de Gruyter 2010; Jeffrey K. Olick, Vered Vinitzky-Seroussi und Daniel Levy (Hg.): The Collective Memory Reader. Oxford: Oxford UP 2010. 2 | Vgl. dazu etwa die bei SAGE erscheinende Zeitschrift Memory Studies, die von Andrew Hoskins seit 2009 herausgegeben wird. 3 | Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschicht licher Zeiten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979.

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genauso bleibt wie es heute ist und gestern bereits war, bedeutet kontrapräsentisches Erinnern, eine Alternative zur Gegenwart in der Vergangenheit zu suchen. Erinnerungen an das ›Goldene Zeitalter‹, an die vergangene Größe einer Nation, an ein weniger despotisches Herrschergeschlecht – all das sind kontrapräsentische Erinnerungen, die sich gegen die »DefizienzErfahrungen der Gegenwart«4 richten und (das ist der wichtige Punkt für die Frage nach der Dynamik kulturellen Wandels) zum Motor für Veränderungen in der Zukunft werden können. Die Unterscheidung zwischen Funktions- und Speichergedächtnis ist ein weiteres zentrales Konzept, mit dem sich kultureller Wandel im Rahmen der Gedächtnistheorie denken lässt. Für Aleida und Jan Assmann besteht das kulturelle Gedächtnis sowohl im »Modus der Aktualität«als auch im »Modus der Potentialität als Archiv, als Totalhorizont«.5 Während das Funktionsgedächtnis Wissensbestände aktuell hält, die gesellschaftliche Verhältnisse legitimieren und die kulturelle Ordnung stabilisieren, ruht im Speichergedächtnis das nicht-Gebrauchte, das im Moment nicht Passende, nicht Sinnhafte. Aleida Assmann zufolge bildet das Speichergedächtnis, das auch als das ›Archiv‹ einer Kultur bezeichnet werden kann (und das im ganz konkreten medienhistorischen Sinn all jene Dokumente aufbewahrt, die nicht zum kulturellen Erinnerungskanon gehören), »das Repertoire verpasster Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen«.6 Es ist »die Ressource der Erneuerung kulturellen Wissens und eine Bedingung der Möglichkeit kulturellen Wandels«.7 Vorstellungen von Wandel und von Dynamik sind der Theorie des kulturellen Gedächtnisses also von Anfang an eingeschrieben. Die frühen Fallstudien von Aleida und Jan Assmann zeigen allerdings, dass damit Prozesse innerhalb relativ klar abgegrenzter kultureller Formationen beschrieben werden, seien dies nun die frühe Hochkultur Ägyptens, das alte Israel oder Großbritannien im 19. Jahrhundert. Das assmannsche kultu4 | Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992, S. 79. 5 | Vgl. dazu Jan Assmann: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Jan Assmann und Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9-19, hier: S. 13. 6 | Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999, S. 137. 7 | Ebd., S. 140.

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relle Gedächtnis, so wie es in den 1980er und 1990er Jahren konzipiert wurde, ist – trotz seiner Dynamik, Wandelbarkeit und dem beständigen Auf- und Abtauchen von Elementen – ein ›Container-Gedächtnis‹, das heißt ein Konzept, das auf der unausgesprochenen Annahme einer Isomorphie zwischen ethnisch-sozialen Gruppen, Territorien, Medienkultur und Wissenskultur beruht. Solche Vorstellungen von ›Container-Kulturen‹ sind im Rahmen der transcultural studies in den vergangenen Jahren zunehmend kritisch hinterfragt worden.8 Denn was ist ›das kulturelle Gedächtnis‹ im Zeitalter von Migration, Diaspora, Transmigration und globalen Medienkulturen? Könnte es sein, dass in Zeiten der Globalisierung eine transkulturelle Erinnerungspraxis, die sich über (wie auch immer definierte) ›Kulturgrenzen‹ hinweg bewegt, ein mindestens ebenso bedeutsames Phänomen ist wie ein sich aus sich selbst speisendes, meist national gedachtes Kulturgedächtnis?9 Das Kulturkonzept, mit dem weite Teile der Kulturwissenschaften – darunter auch die Gedächtnisforschung – seit etwa drei Jahrzehnten arbeiten, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine als analytische Kategorie daherkommende Handlungskategorie. Ganz im Sinne einer Handlungsoder Akteurskategorie wiederholt es die meist auf Homogenisierung und Grenzziehungen hin angelegten Selbstbeschreibungen von sozialen 8 | Vgl. dazu Wolfgang Welsch: »Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen«, in: Irmela Schneider und Christian W. Thomson (Hg.): Hybridkultur. Medien, Netze, Künste. Köln: Wienand 1997, S. 67-90; Jan Nederveen Pieterse: Globalization and Culture. Global Mélange. Lanham/MD: Rowman & Littlefield 2003; und nicht zuletzt die Forschung zur ›transkulturellen Anglistik‹ in der Abteilung für Neue Englischsprachige Literaturen und Kulturen (NELK) der Goethe-Universität Frankfurt a.M. (www.nelk-frankfurt.de). 9 | Am stärksten verbreitet ist diese Vorstellung von einem monolithischen nationalen Kulturgedächtnis in der Forschung zu Erinnerungsorten, wie sie in der Nachfolge von Pierre Noras lieux de mémoire-Projekt entstanden ist. Vgl. dazu Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire I-III. Paris: Gallimard 1984-1992. Zunehmend werden jedoch auch europäische und transnationale Erinnerungsorte untersucht. Vgl. zum Beispiel Kirstin Buchinger, Claire Gantet und Jakob Vogel (Hg.): Europäische Erinnerungsräume. Zirkulationen zwischen Frankreich, Deutschland und Europa. Frankfurt a.M.: Campus 2009; Bernd Henningsen, Hendriette Kliemann und Stefan Troebst (Hg.): Transnationale Erinnerungsorte. Nord- und südeuropäische Perspektiven. Berlin: BWV 2009.

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Gruppen und Gesellschaften, wie wir sie insbesondere im Zeitalter der Nationalstaaten antreffen. Es ist jedoch unklar, ob ein solches Kulturkonzept auch als analytische Kategorie geeignet ist, mit der jene tatsächlichen erinnerungskulturellen Prozesse rekonstruiert werden können, die sich unablässig (und nicht nur in Zeiten der beschleunigten Globalisierung) zwischen Kulturen und über kulturelle Grenzen hinweg abspielen. Nicht nur die Erinnerungspraxis der Gegenwart erweist sich bei näherer Betrachtung als grundlegend transkulturell. Auch in historischer Perspektive wird deutlich, dass Kulturkontakt und kultureller Austausch für die Erneuerung des Gedächtnisses – und damit als ›Bedingung der Möglichkeit kulturellen Wandels‹ – stets eine wichtige Rolle gespielt haben. So wie sich Historiker zunehmend für Globalgeschichte und kulturellen Austausch (cultural exchange, braided history oder entangled history) interessieren,10 wenden sich die memory studies nun der Erforschung von ›transkultureller Erinnerung‹, dem ›Gedächtnis im globalen Zeitalter‹, ›transnationalem Gedenken‹ oder ›geteilten Erinnerungsorten‹ zu.11

10 | Zur Globalgeschichte und Konzepten kulturellen Austauschs vgl. Christopher A. Bayly: The Birth of the Modern World, 1780-1914. Global Connections and Comparisons. Malden/MA: Blackwell 2004; Peter Burke: Cultural Hybridity. Cambridge: Polity Press 2009; Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck 2009. 11 | Grundlegend für die Erforschung von ›Erinnerung im globalen Zeitalter‹ ist Daniel Levy und Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Auch die assmannsche Gedächtnisforschung hat sich in diese Richtung weiterentwickelt, vgl. Aleida Assmann und Sebastian Conrad (Hg.): Memory in a Global Age. Discourses, Practices and Trajectories. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010. Zu geteilten Erinnerungsorten in kolonialen und postkolonialen Kontexten vgl. Indra Sengupta-Frey (Hg.): Memory, History, and Colonialism. Engaging with Pierre Nora in Colonial and Postcolonial Contexts. Bulletin of the German Historical Institute London. London: German Historical Institute 2009. Speziell zu transcultural memory vgl. das gleichnamige Sonderheft der Zeitschrit Parallax (2011) und darin Astrid Erll: »Travelling Memory«, in: Rick Crownshaw (Hg.): Transcultural Memory. Sonderheft Parallax 17 (2011), S. 4-18.

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2. TR ANSKULTURELLE E RINNERUNG : F ORMEN Die ›transkulturelle Wende‹ in der Gedächtnisforschung12 bedeutet einen Perspektivwechsel. Es geht darum, das Gedächtnis nicht mehr nur als Bohrung in ›kulturspezifische Tiefen‹ zu beschreiben, sondern als Zugriff auf Wissens- und Erfahrungsbestände in der ›transkulturellen Breite‹. Hier soll im Folgenden die Frage erörtert werden, wie solche transkulturellen Erinnerungsakte als Motor kulturellen Wandels fungieren können. Kultureller Wandel wird immer da durch transkulturelle Erinnerung angestoßen, wo sich Gruppen oder Gesellschaften Wissen, Erfahrungen oder Fertigkeiten aneignen, die anderen soziokulturellen Kontexten entstammen. Dies war beispielsweise fast immer der Fall, wenn Staaten sich im 20. Jahrhundert Verfassungen gegeben haben – von der deutschen Verfassung nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zur südkoreanischen und zur japanischen Verfassung.13 Verfassungen – und dazu dürften auch die neueren Resultate des ›arabischen Frühlings‹ zählen – sind zumeist herausragende Dokumente kulturellen Wandels und transkultureller Erinnerung. Neben solchen Beispielen für den expliziten, bewussten Zugriff auf Gedächtnisbestände, die jenseits der eigenen kulturellen Formation angesiedelt sind, gibt es eine ganze Reihe faszinierender Beispiele dafür, wie kultureller Wandel durch das Gedächtnis anderer Kulturen vorbereitet oder überhaupt erst möglich wurde. Der Einfluss des Islam auf die europäische Renaissance ist ein solcher Fall, der auf die (zumindest aus heutiger Perspektive) implizite, nicht-bewusste oder nicht bewusst-gemachte Wirkung transkultureller Erinnerung verweist.14 Ein weiteres Beispiel ist die Bedeutung des Nahen Ostens und Nordafrikas für die Entstehung der klassischen griechischen Antike, die ja üblicherweise als die ›erste Erinne12 | Vgl. Lucy Bond und Jessica Rapson (Hg.): The Transcultural Turn. Interrogating Memory Between and Beyond Borders. Berlin und New York: de Gruyter 2013 (im Druck). 13 | Vgl. Chaihark Hahm und Sung H. Kim: »To Make ›We the People‹: Constitutional Founding in Postwar Japan and South Korea«, in: International Journal of Constitutional Law 8 (2010), S. 800-848. Die Autoren zeigen, wie die Verfassungen von Südkorea und Japan in komplexen internationalen Aneignungsprozessen entstanden sind. 14 | John M. Hobson: The Eastern Origins of Western Civilisation. Cambridge: Cambridge UP 2004.

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rung Europas‹ gehandelt wird. Die Kontroverse um Martin Bernals Thesen in Black Athena (1987-2006) war in diesem Zusammenhang auch eine Kontroverse um das (trans-)kulturelle Gedächtnis. Noch komplizierter erscheinen Konstellationen aus dem Zeitalter des Kolonialismus, wie etwa die Formulierung eines indischen Nationalbewusstseins im frühen 20. Jahrhundert auf der Basis eines kulturellen Gedächtnisses, das europäische Indologen überhaupt erst im 19. Jahrhundert konstruiert hatten. Was diese Beispiele nahelegen, ist die These, dass beinahe jede Form kulturellen Wandels auf die eine oder andere Weise auf Prozessen transkultureller Erinnerung beruht. Die Bedeutung transkultureller Erinnerung zeigt sich auch im Kernbereich der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung: auf dem Gebiet der nationalen Kommemoration. Gerade im heutigen immer stärker zusammenwachsenden Europa finden sich fast täglich Beispiele für eine transkulturelle Erinnerungspraxis, die meist gewollt und bewusst gestiftet ist. Dazu gehört etwa die Teilnahme an den Gedenkritualen der Nachbarn. So wurde Gerhard Schröder am 6. Juni 2004 als erstes deutsches Regierungsoberhaupt zu den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie (›D-Day‹) nach Frankreich eingeladen. Umgekehrt fand sich der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy im November 2009 zum zwanzigsten Jahrestag des Falls der Mauer bei den Gedenkfeiern in Berlin ein. Was auf diese Weise geschieht, ist nicht nur eine gegenseitige Anerkennung des nationalen kulturellen Gedächtnisses, seiner Inhalte und Deutungen. Durch die Partizipation an Gedenkritualen anderer Kulturen entsteht auch die Möglichkeit, sich in die Lage der Erinnernden zu versetzen: Sarkozy blickt vom Brandenburger Tor aus auf die deutsche Vergangenheit, Schröder vom Strand der Normandie auf den französischen Widerstand. Es ist ein solches transkulturelles Erinnern im emphatischen Sinne – mit seiner Ermöglichung von Perspektivwechsel und Perspektivübernahme –, das die internationale Gedächtnisforschung heute am stärksten beschäftigt. Aus diesem Grund sollen im dritten Teil dieses Beitrags zwei einflussreiche Konzepte aus den amerikanischen memory studies vorgestellt werden, die dazu geeignet sind, kulturellen Wandel als Resultat eines – als aktive und potentiell bereichernde Auseinandersetzung mit den Erfahrungen Anderer verstandenen – transkulturellen Erinnerns beschreibbar zu machen.

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3. E MPHATISCHE TR ANSKULTUR ALITÄT UND DIE E RMÖGLICHUNG KULTURELLEN W ANDELS : K ONZEP TE 3.1. Multidirectional Memor y Der Begriff des ›multidirektionalen‹, also in verschiedene Richtungen gleichzeitig verlaufenden, Erinnerns wurde im Jahr 2009 von dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Rothberg in der Monographie Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization geprägt. In diesem Buch geht es um die Frage, wie zwischen 1948 und 1962 – den unmittelbaren Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg also, die auch das Ende des Kolonialzeitalters bedeuteten – die Erinnerung an den Holocaust mit Diskursen über Kolonialismus und Rassismus verknüpft oder verknüpfbar war. Rothbergs These lautet, dass der sich in jenen Jahren herausbildende Holocaust-Diskurs gleichzeitig das Sprechen über die Kolonialherrschaft ermöglichte (der Kernbegriff im Englischen ist enable: eine Erinnerung ermöglicht die andere). In diesem Sinne konstatiert er: »The Holocaust has enabled the articulation of other histories of victimization«.15 Auf der Suche nach zeitgenössischen Denkmodellen für die Möglichkeiten von ›Erinnerung an den Holocaust im Zeitalter der Dekolonisierung‹ liest Rothberg Texte von Hannah Arendt, Aimé Cesaire, W.E.B. Du Bois und Charlotte Delbo neu. Aimé Cesaires Discours sur le colonialisme (1950) bescheinigt Rothberg etwa grundlegende Relevanz für die Tradition des »›provincializing‹ European trauma«.16 Césaire beschreibt in seinem Discours die Nazigewalt als »a crime against the white man« that »applied to Europe colonialist procedures which until then had been reserved exclusively for the Arabs of Algeria, the ›coolies‹ of India, and the ›niggers‹ of Africa«.17 Sich der historischen Nähe und Ähnlichkeit menschenverachtender Praktiken in der europäischen ›Metropole‹ und in der kolonialen ›Peripherie‹ bewusst zu werden, bedeutet für Césaire einen choc en retour. Rothberg zufolge hat diese Denkfigur eines – so möchte man hinzufügen – hochreflexiven multidirektionalen Erinnerns (ähnlich

15 | Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford/CA: Stanford UP 2009, S. 6. 16 | Ebd., S. 70. 17 | Zit. nach ebd., S. 70.

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wie Hannah Arendts ›Bumerang Effekt‹) einen »colonial turn in Holocaust studies« herbeigeführt.18 Ein Verständnis des ›Holocaust‹ als weltweit zirkulierendes Schema, das die Artikulation anderer Unrechtserfahrungen ermöglicht, findet sich bereits in der für das Feld der transkulturellen Gedächtnisforschung grundlegenden Studie von Daniel Levy und Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust (2001). Die Autoren haben gezeigt, wie der Holocaust als ›globales Symbol‹ zirkuliert, das Erfahrungen von Rassismus, Viktimisierung und Genozid vielfach überhaupt erst artikulierbar macht und deren Anerkennung sichert. Der Genozid in Ruanda, Apartheid in Südafrika oder das Schicksal der ›gestohlenen Generation‹ in Australien – die Artikulationen all dieser Erinnerungen sind gekennzeichnet durch den Bezug auf die weltweit bekannte und anerkannte Erinnerungsfigur des ›Holocaust‹. Opfergruppen nutzen also, kognitionspsychologisch gesprochen, ein Schema, dessen Slots (Opfer/Täter) sie neu ausfüllen. In diesem Sinne bezeichnet auch Andreas Huyssen den Holocaust als einen »floating signifier […] which attaches itself to historically very different situations«.19 Eine solche transkulturelle Erinnerungspraxis bedeutet natürlich auch in gewisser Weise eine Dekontextualisierung und Enthistorisierung des historischen Ereignisses. Sie scheint die Einzigartigkeit des Holocausts in Frage zu stellen, indem sie ihn mit anderen Formen des Genozids und der Menschenrechtsverletzung vergleicht. Auch wenn das in der historischen Forschung als nicht unproblematisch gesehen wird – und auch wenn es Beispiele für verdrehende und verzerrende Füllungen des ErinnerungsSchemas ›Holocaust‹ gibt (etwa wenn sich Tätergruppen als Opfer inszenieren) – stimmen doch heute die meisten Vertreter der memory studies darin überein, dass die Bedeutung des Holocaust für die Herausbildung eines »kosmopolitischen Gedächtnisses« (Levy/Sznaider), das weltweit die Artikulation und Anerkennung von Menschenrechtsverletzungen ermöglicht, nicht zu überschätzen sei. Als transkulturelle Erinnerungsfigur von globaler Reichweite hat der Holocaust zu kulturellem Wandel in den unterschiedlichsten lokalen Kontexten geführt.

18 | Ebd. 19 | Andreas Huyssen: Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory. Stanford/CA: Stanford UP 2003, S. 99.

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Transkulturelle Erinnerung wird also in einem sehr profilierten und viel rezipierten Bereich der aktuellen Gedächtnisforschung (meist am Beispiel des Holocaust–Diskurses) als Ermöglichung kulturellen Wandels begriffen. Hauptdenkfiguren scheinen hier das global zirkulierende Schema und das cross-referencing, also komplexe mnemonische Verweisstrukturen, zu sein. Das vor allem durch Migration und globale Medienkulturen in Bewegung versetzte Gedächtnis kann dazu führen, dass, mit Levys und Sznaiders Worten, »›unsere‹ Vergangenheit plötzlich auch ›deren‹ Zukunft wird«20 – und umgekehrt. Levy und Sznaider fragen konkret: »Wie erinnern sich türkische Deutsche, israelische Palästinenser, schwarze Amerikaner?«21 Man könnte eine offene Liste weiterer transkultureller Konstellationen des Erinnerns hinzufügen: Wie erinnern sich europäische Grenzregionen? Welche neuen Erinnerungen entstehen in durch Arbeitsmigration verknüpften und in Zeiten des Internets und der Billigflüge immer näher zusammenrückenden Orten (Anatolier in Frankfurt, Deutsche auf Teneriffa)? Auf welche Weise haben die Nachfahren von Kolonialsoldaten, die während der Weltkriege in Europa kämpften, an der angelsächsisch geprägten Erinnerungskultur der Veteranen teil? Rothbergs ›multidirektionales Erinnern‹ ist in diesem Kontext ein sehr glücklich gewählter Begriff, der die Dynamik transkultureller Erinnerung und damit auch die Grundlagen kulturellen Wandels beschreibbar macht. Rothberg kritisiert mit seinem Konzept zwei Tendenzen der bisherigen Gedächtnisforschung: erstens ihre ›containerisierenden‹ Konzepte von Gedächtnis, Identität und (National-)Kultur. Rothberg geht es um ein »opening up [of ] the separate containers of memory and identity«.22 In der Konsequenz richtet Rothberg, wie auch andere Vertreter der transcultural memory studies, seine Aufmerksamkeit nicht so sehr auf statische Gedächtnisbestände, sondern auf den unablässigen Verkehr von Gedächtnisinhalten, -medien und -praktiken zwischen Gedächtnisgemeinschaften.23 »[T]he borders 20 | Levy und Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 45. 21 | Ebd. 22 | Rothberg: Multidirectional Memory, S. 18. 23 | Ähnlich plädiert auch Ann Rigney für die Untersuchung von »dynamics of cultural memory«. Ann Rigney: »The Dynamics of Remembrance. Texts Between Monumentality and Morphing«, in: Astrid Erll und Ansgar Nünning (Hg.): A Companion to Cultural Memory Studies. Berlin und New York: de Gruyter 2010, S. 345-353.

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of memory and identity are jagged; what looks at first like my own property often turns out to be a borrowing or adaptation from a history that initially might seem foreign or distant«.24 Zweitens geht es Rothberg um die Zurückweisung der weit verbreiteten Vorstellung, dass das Gedächtnis stets nach dem ›Knappheitsprinzip‹ operiere. Er betont, dass Gedächtnis kein »zero-sum struggle«25 sei – kein Nullsummenspiel. Die Erinnerung an die eine Opfergruppe blende die Erinnerung an eine andere nicht notwendig aus oder blockiere sie. Im Gegenteil könnten solche Erinnerungen sich gegenseitig stärken. Die kulturellen Wirkungen des multidirektionalen Erinnerns schätzt Rothberg außerordentlich optimistisch ein. Er betont die »productive, intercultural dynamic of multidirectional memory«, »the potential to create new forms of solidarity and new visions of justice«.26 Eine solche Betonung – ja Beschwörung – von interkultureller Kommunikation, trans-ethnischer Solidarität und globaler Gerechtigkeit kennzeichnet die Vertreter der Forschung zu transkultureller Erinnerung im emphatischen Sinne. Es ist dieser Gestus der Zuversicht und der Hoffnung hinsichtlich der Potentiale einer Form des Erinnerns, welche jenseits etablierter oder angenommener Grenzen operiert, die Rothbergs Arbeiten mit denen von Alison Landsberg teilen, einer weiteren zentralen Vertreterin des Feldes.

3.2. Prosthetic Memor y Alison Landsbergs Monographie Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture (2004) ist im Bereich der amerikanischen Film- und Medienwissenschaft entstanden. Noch dezidierter als Rothberg interessiert sich Landsberg für die Rolle globaler Medienkulturen, medialer Strategien und formalästhetischer Wirkungsstrukturen bei ihrer Auseinandersetzung mit transkultureller Erinnerung. Landsbergs Kernfrage lautet: »How might individuals be affected by memories of events through which they did not live?«27 Ihre These ist, dass es heute, im Zeitalter der Massenmedien und der globalen Medien24 | Rothberg: Multidirectional Memory, S. 5. 25 | Ebd., S. 3. 26 | Ebd., S. 5. 27 | Alison Landsberg: Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture. New York: Columbia UP 2004, S. 1.

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kulturen, zu einem Phänomen gekommen ist, das sie ›prothetische Erinnerung‹ (prosthetic memory) nennt. Vermittelt vor allem durch das Kino, aber auch durch populäre Romane und neuartige, erfahrungshaftige Museen nehmen wir die Erinnerungen Anderer ›wie künstliche Gliedmaßen‹ an. Mit ihrer (an Marshall McLuhans Medientheorie und dessen extensions of man erinnernden) Metapher der ›Prothese‹ betont Landsberg zum einen die direkte, körperliche Wirkung, die Repräsentationen der Vergangenheit durch neue Medientechnologien auf ihre Rezipienten ausüben. Zum anderen zeigt sie, dass es sich bei prosthetic memory nicht nur um eine mediatisierte, sondern auch um eine kommodifizierte Form der Produktion von Erinnerungen handelt. Die Begriffswahl »signals their interchangeability and exchangeability and underscores their commodified form«.28 Das bekannteste Beispiel für das Phänomen des prosthetic memory ist wohl Steven Spielbergs Schindler’s List (1993), ein Kinofilm, der Erinnerung an den Holocaust nicht nur weltweit zirkulierte, sondern auch in den unterschiedlichsten kulturellen Kontexten Formen der Identifikation und des Nach-Erlebens provozierte.29 Ähnlich ›prothetische‹ Wirkung hatten die für den Oscar nominierten beziehungsweise mit ihm ausgezeichneten deutschen Kinofilme Der Untergang (2004) und Das Leben der Anderen (2004) für ein nicht-deutsches Kinopublikum.30 Doch nicht nur das Kino ist ein Ort der Produktion von transkultureller Erinnerung. Auch der Roman – gerade die vielübersetzte und weltweit rezipierte ›Weltliteratur‹31 – hat traditionell die Funktion erfüllt, Inhalte und Formen des kulturellen Gedächtnisses über zeitliche, räumliche und soziale Grenzen hinweg zu verbreiten. Beispiele hierfür sind der südamerikanische Roman, etwa die Texte von Gabriel Garcia Marquez’ und vonIsabel Allendes, postkoloniale indische Romane wie die von Arundhati Roy oder Kiran Desai, die in 28 | Ebd., S. 20. 29 | Für Fallstudien zu Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Israel, den Niederlanden und den USA vgl. Yosefa Loshitzky (Hg.): Spielberg’s Holocaust. Critical Perspectives on Schindler’s List. Bloomington: Indiana UP 1997. 30 | Fallstudien zur Rezeption solcher ›Erinnerungsfilme‹ in nationalen und internationalen Kontexten finden sich in Astrid Erll und Stephanie Wodianka (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen. Berlin und New York: de Gruyter 2008. 31 | Im Sinne von David Damrosch: What Is World Literature? Princeton/N.J.: Princeton UP 2003.

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der gesamten anglophonen Welt zu Bestsellern wurden, und nicht zuletzt auch deutsche Romane über die Weltkriege und ihre Folgen, von Erich Maria Remarque bis hin zu Günter Grass. Gerade an Remarques Im Westen nichts Neues (1929) lässt sich gut nachvollziehen, wie Literatur zu einem Medium prothetischer Erinnerung wird. Der Erste Weltkrieg wird hier erfahrungshaftig aus der ›Grabenperspektive‹ einfacher Soldaten inszeniert, Appelle der Ich-Erzählinstanz (des jungen Soldaten Bäumer) an eine fiktive Leserschaft laden zu Empathie und Mitleid ein und die im Roman vermittelten Werte und Normen (Lob der Kameradschaft, Kriegskritik, Kritik an Politikern und alter Generation usw.) scheinen weit über den Entstehungskontext hinweg Akzeptanz gefunden zu haben. Gestützt von einer klugen Marketingstrategie und flankiert von erhitzten Diskussionen in den Printmedien konnte der Roman zu einem machtvollen Medium der Erinnerung werden. Durch Übersetzungen und die Verfilmung in Hollywood (All Quiet on the Western Front, Regie Lewis Milestone, 1930) ermöglichte es Im Westen nichts Neues einem amerikanischen Publikum, sich in die Lage deutscher Frontsoldaten – des ehemaligen Feindes also – zu versetzen und die Kriegswirklichkeit in den Schützengräben imaginativ nachzuerleben. Narrative Fiktion wurde so zu einem Medium der transnationalen, geteilten Kriegserinnerung.32 Alison Landsberg schließt in ihre Studie ein Kapitel zu der TV-Serie Roots ein, die auf dem gleichnamigen Roman von Alex Haley (1976) beruht. Darin geht es um den transatlantischen Sklavenhandel, um die Verschleppung des Jungen Kunte Kinte aus Gambia nach Amerika im Jahr 1767, seine unerfüllte Hoffnung auf Rückkehr und um das Schicksal der folgenden sechs Generationen in den USA. Die Serie wurde 1977 in den USA ausgestrahlt. Soziologen haben auf der Basis von Interviews argumentiert, dass sie einen bedeutenden Einfluss darauf hatte, wie Schwarze und Weiße in den USA daraufhin die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels imaginierten: »Roots may have marked the first time that many whites had been able to identify with blacks as people.«33

32 | Vgl. dazu Astrid Erll: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Er in ne rungs kulturen in den 1920er Jahren. Trier: WVT 2003. 33 | Landsberg: Prosthetic Memory, S. 104.

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Landsberg betont, dass solche Filme, mit ihrer »large-scale mobilization of affect«,34 weit über die Aneignung (fiktional gestalteten) historischen Wissens hinaus zu einer produktiven Form von Empathie führen können: »The person does not simply apprehend a historical narrative but takes on a more personal, deeply felt memory of a past event through which he or she did not live. The resulting prosthetic memory has the ability to shape that person’s subjectivity and politics«.35 Die Mediatisierung transkultureller Gedächtnisinhalte ermöglicht also über die rezipientenseitige Perspektivübernahme und Empathie einen Wandel in persönlichen Geschichtsbildern und damit schließlich (etwa durch daraus resultierendes politisches Handeln) auch kulturellen Wandel. Am Anfang des kulturellen Wandels steht für Landsberg damit die transkulturell ausgerichtete Empathie – eine Form der Empathie allerdings, die keine naive Identifikation bedeutet, sondern Differenz erkennt und stets bewusst hält, dass die mediatisierte Erinnerung nicht die eigene Erinnerung ist. Prosthetic memory »creates the conditions of ethical thinking precicely by encouraging people to feel connected to, while recognizing the alterity of, ›the other‹.«36 Es sind diese ethischen und politischen Dimensionen von in transkulturellen Räumen zirkulierenden Gedächtnismedien, die Landsberg besonders interessieren. Sie betont, dass die Medien und Technologien prothetischer Erinnerungen vor allem eines seien: machtvoll (»we must recognize their power and political potential«).37 Die kaum zu überschätzende Wirkungsmacht des prosthetic memory bestehe in seiner »ability to produce empathy and social responsibility as well as political alliances that transcend race, class and gender«.38 Transkulturelle Erinnerung fördert also kulturellen Wandel, indem sie neue soziale und politische Bündnisse schafft, durch die etablierte Grenzen aufgebrochen werden.

34 | Ebd., S. 104. 35 | Ebd., S. 2. 36 | Ebd., S. 9. 37 | Ebd., S. 3. 38 | Ebd., S. 21.

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4. F A ZIT Landsbergs und Rothbergs Arbeiten zeigen, dass transkulturelle Erinnerung kognitiv-reflexive, mediale, ästhetische und emotional-affektive Dimensionen aufweist. Transkulturelles Erinnern kann auf rationale und irrationale Weise erfolgen, es kann bewusst und unbewusst, gezielt und kontingent, akzeptiert und uneingestanden oder gar verdrängt sein. Transkulturelles Erinnern durchzieht die populäre Massenkultur ebenso wie die kanonisierte Hochkultur, es materialisiert sich in der Kunst, der Religion, der Philosophie und im politischen Handeln. Anders als die Studien der Vertreter emphatischer Transkulturalität vielleicht implizieren, kann die über Grenzen hinweg operierende Erinnerung aber auch reiner gedankenloser Konsum sein, gezielt für zweifelhafte politische Zwecke funktionalisiert werden oder die Erfahrungen Anderer ›kapern‹ und für sich beanspruchen. Auch wenn die Mehrzahl der aktuellen Forschungsbeiträge sich auf Konstellationen des 20. und 21. Jahrhunderts beziehen, ist es doch wichtig zu betonen, dass transkulturelle Erinnerung nicht ausschließlich ein Phänomen der neueren und neuesten Geschichte ist. Sicherlich gehören die hohe Sichtbarkeit transkultureller Erinnerungsprozesse und deren explizite Reflexion in unser Zeitalter der beschleunigten Globalisierung. Grenzüberschreitende neue Medien und Migration einerseits sowie die in vielen Teilen der Welt zunehmende Bedeutung von Erinnerungspolitik andererseits spielen eine entscheidende Rolle für jene kontinuierlichen Transkulturationen des Gedächtnisses, die kulturellen Wandel anstoßen und die ihrerseits durch kulturellen Wandel immer wieder angestoßen werden. Dennoch hat transkulturelle Erinnerung auch eine deutlich historische Dimension: Sie findet sich bereits in der Antike (zum Beispiel die Wanderungen von Homers Epen durch den Mittelmeerraum) oder in der Frühen Neuzeit (etwa zur Zeit der Ersten Globalisierung und des weltumspannenden Handels der Portugiesen und der Niederländer). Eine Aufgabe der neuen transcultural memory studies wäre also, zu kartieren, wann, wo und wie Formen prothetischer und multidirektionaler Erinnerung kulturellen Wandel vorbereitet, ermöglicht, ausgelöst oder begleitet haben.

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L ITER ATUR Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999. Aleida Assmann und Sebastian Conrad (Hg.): Memory in a Global Age. Discourses, Practices and Trajectories. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992. Jan Assmann: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Jan Assmann und Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9-19. Christopher A. Bayly: The Birth of the Modern World, 1780-1914. Global Connections and Comparisons. Malden/MA: Blackwell 2004. Lucy Bond und Jessica Rapson (Hg.): The Transcultural Turn. Interrogating Memory Between and Beyond Borders. Berlin und New York: de Gruyter 2013 (im Druck). Kirstin Buchinger, Claire Gantet und Jakob Vogel (Hg.): Europäische Erinnerungsräume. Zirkulationen zwischen Frankreich, Deutschland und Europa. Frankfurt a.M.: Campus 2009. Peter Burke: Cultural Hybridity. Cambridge: Polity Press 2009. David Damrosch: What Is World Literature? Princeton/N.J.: Princeton UP 2003. Astrid Erll: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier: WVT 2003. Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart: Metzler 2011. Astrid Erll: »Travelling Memory«, in: Rick Crownshaw (Hg.): Transcultural Memory. Sonderheft Parallax 17 (2011), S. 4-18. Astrid Erll und Ansgar Nünning (Hg.): A Companion to Cultural Memory Studies. Berlin und New York: de Gruyter 2010. Astrid Erll und Stephanie Wodianka (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen. Berlin und New York: de Gruyter 2008. Chaihark Hahm und Sung H. Kim: »To Make ›We the People‹: Constitutional Founding in Postwar Japan and South Korea«, in: International Journal of Constitutional Law 8 (2010), S. 800-848.

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Bernd Henningsen, Hendriette Kliemann und Stefan Troebst (Hg.): Transnationale Erinnerungsorte. Nord- und südeuropäische Perspektiven. Berlin: BWV 2009. John M. Hobson: The Eastern Origins of Western Civilisation. Cambridge: Cambridge UP 2004. Andreas Huyssen: Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory. Stanford/CA: Stanford UP 2003. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. Alison Landsberg: Prosthetic Memory. The Transformation of American Remembrance in the Age of Mass Culture. New York: Columbia UP 2004. Daniel Levy und Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Yosefa Loshitzky (Hg.): Spielberg’s Holocaust. Critical Perspectives on Schindler’s List. Bloomington: Indiana UP 1997. Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire I-III. Paris: Gallimard 1984-1992. Jeffrey K. Olick, Vered Vinitzky-Seroussi und Daniel Levy (Hg.): The Collective Memory Reader. Oxford: Oxford UP 2010. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck 2009. Jan Nederveen Pieterse: Globalization and Culture. Global Mélange. Lanham/MD: Rowman & Littlefield 2003. Ann Rigney: »The Dynamics of Remembrance. Texts Between Monumentality and Morphing«, in: Astrid Erll und Ansgar Nünning (Hg.): A Companion to Cultural Memory Studies. Berlin und New York: de Gruyter 2010, S. 345-353. Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford/CA: Stanford UP 2009. Indra Sengupta-Frey (Hg.): Memory, History, and Colonialism. Engaging with Pierre Nora in Colonial and Postcolonial Contexts. Bulletin of the German Historical Institute London. London: German Historical Institute 2009. Wolfgang Welsch: »Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen«, in: Irmela Schneider und Christian W. Thomson (Hg.): Hybridkultur. Medien, Netze, Künste. Köln: Wienand 1997, S. 67-90.

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Wandel durch Prekarisierung Zur kulturellen Dimension der Prekarisierung von Arbeit und Leben 1 Oliver Marchart

D IE P REK ARISIERUNGSGESELLSCHAF T Im Herbst 2006 wurden von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung die Ergebnisse einer Studie der Wertevorstellungen von 3000 wahlberechtigten Deutschen vorveröffentlicht, die zu einer breiten öffentlichen Debatte führte, der sogenannten Unterschichten-Debatte. In dieser Studie wurde die Existenz eines politischen Einstellungstypus behauptet, der sich ins gesellschaftliche Abseits gestellt und von der Arbeitsgesellschaft ausgeschlossen fühlte. Diese Gruppe eines »abgehängten Prekariats«, wie man sie nannte, wurde auf acht Prozent beziffert.2 Damit drang der Begriff des Prekariats beziehungsweise der Prekarität in die deutschsprachige Öffentlichkeit vor, der in den Sozialwissenschaften bereits jahrelang diskutiert worden war. An der Debatte um die Ebert-Studie war jedoch bemerkenswert, dass, während um die Existenz oder Nicht-Existenz einer Unterschicht in Deutschland gestritten wurde (Müntefering), eine Diagnose vergleichsweise wenig Beachtung fand. Die Studie diagnostizierte nämlich nicht allein die Existenz eines abgehängten Prekariats, sondern 1 | Die Abfassung dieses Beitrags wurde ermöglicht durch die Finanzierung des Projekts »Protest als Medium — Medien des Protests« durch den Schweizerischen Nationalfonds. 2 | Ulrich Brinkmann, Klaus Dörre und Sabine Röbenack: Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung 2006.

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machte in den Befragungen eine breite gesellschaftliche Grundstimmung der Verunsicherung aus: 63 % der Befragten gaben an, die gesellschaftlichen Veränderungen bereiteten ihnen Angst, 46 % empfanden ihr Leben als ständigen Kampf, und 44 % fühlten sich vom Staat allein gelassen. Es zeigte sich damit eine Form der zumindest subjektiven Prekarisierung, die offenbar weit über die Gruppe des sogenannten abgehängten Prekariats hinausreicht. Dieses Ergebnis ist für die Forschung nicht neu. Pierre Bourdieu brachte es fast ein Jahrzehnt zuvor auf den Punkt, als er 1997 von der »Allgegenwart« der Prekarität sprach: Befristete Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeitarbeit hätten sich im privaten wie im öffentlichen Sektor, in der Industrie wie im Kulturbereich und Journalismus ausgebreitet und rissen die gesamte Welt, einschließlich der Welt der Kultur, in einen »breitgefächerten Prekarisierungsstrom«. Prekarisierung gehöre einer neuen Herrschaftsnorm an, die einen allgemeinen Dauerzustand der Unsicherheit errichte. Sein Fazit, und auch der Titel des Vortrags: »Prekarität ist überall«.3 Wenn dies zutrifft und Prekarität tatsächlich überall ist, so stellt sich freilich die Frage nach den gesellschaftstheoretischen Implikationen dieses zunächst empirischen Befunds. Die folgende Schlußfolgerung scheint mir auf der Hand zu liegen. Wenn Prekarität tatsächlich in den gesamten sozialen Raum diffundiert, dann ließen sich konsequenterweise die gegenwärtigen Gesellschaften des Westens, soweit sie den fordistischen Kompromiss der Nachkriegszeit und den Wohlfahrtsstaat hinter sich lassen, als Prekarisierungsgesellschaften bezeichnen.4 In der Prekarisierungsgesellschaft ist das soziale Gefüge einem Prozess des sozialen und kulturellen Wandels durch Prekarisierung tendenziell aller Arbeits- und Lebensverhältnisse ausgesetzt. Denn wenn die qua Erwerbsarbeit geregelte Existenzsicherung nur noch bis auf Widerruf gewährleistet ist, werden im äußersten Fall alle Lebensverhältnisse der Individuen in Frage gestellt: »Gibt es einen Folgeauftrag? Wird mein Vertrag verlängert? Wird das Weihnachtsoder Urlaubsgeld gestrichen? Lande ich bei Hartz IV? Reicht das Geld – für den Urlaub, für die Ausbildung der Kinder, fürs nackte Überleben? Was 3 | Pierre Bourdieu: »Prekarität ist überall«, in: Ders.: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz: UVK 1998. 4 | Oliver Marchart: »Auf dem Weg in die Prekarisierungsgesellschaft. Zur Analyse des öffentlichen Definitionskampfs um die zunehmende Prekarisierung von Arbeit und Leben«, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 36 (2010), S. 413-429.

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passiert, wenn ich krank oder alt bin? Wenn ich ein Pflegefall werde oder jemand aus der Verwandtschaft?«5 Die folgenden Überlegungen sollen daher eine doppelte These plausibel machen: 1.) Ein Gutteil des gegenwärtigen sozialen Wandels in den Gesellschaften des Westens lässt sich in den Zusammenhang jener Prekarisierungsphänomene stellen, die im letzten Jahrzehnt ins Zentrum einer Vielzahl sozialwissenschaftlicher Untersuchungen gerückt sind. 2.) Die sozialen Formen der Prekarisierung sind unauflösbar mit der Dimension des Kulturellen verbunden. Das Phänomen der Prekarisierung kann nur dann vollständig ausgeleuchtet werden, wenn wir die Perspektive einer ursprünglich von Antonio Gramsci angestoßenen Hegemonietheorie einnehmen, die Ökonomie und Kultur analytisch integriert. Diese Thesen setzen freilich einen Begriff von Prekarisierung voraus, der das Phänomen eben nicht als Randphänomen sozialer Entwicklung konturiert, sondern als ein tendenziell alle sozialen Felder beziehungsweise Schichten umfassendes Phänomen – deshalb meine Rede von der Prekarisierungsgesellschaft. Hinsichtlich seines theoretischen Status könnte man diesen Begriff zu jenen Kategorien zählen, die Bruno Latour als Panoramen bezeichnet: 360°-Darstellungen des sozialen Raums. Darunter zählt Latour etwa Luhmanns Begriff des autopoietischen Systems, Bourdieus »symbolische Ökonomie« oder Becks Risikogesellschaft. Latour macht auf den diagnostischen Wert solcher Panoramen aufmerksam, gesetzt, sie werden nicht mit Alleinerklärungsanspruch vorgetragen, sondern als mögliche Erklärungsansätze unter vielen. Dann erweisen sich Panoramen als produktiv, denn sie bieten die einzige Möglichkeit, Geschichte und Gesellschaft überhaupt als etwas »Ganzes« und damit auch scheinbar divergente Sozialphänomene in ihrem Zusammenhang wahrzunehmen. Aus ihnen, so Latour, gewinnen wir »unsere Metaphern für das, was uns miteinander verbindet, für die von uns angeblich geteilten Leidenschaften, für den allgemeinen Grundriss der Gesellschaftsarchitektur und die großen Erzählungen, mit denen wir diszipliniert werden.«6 In genau diesem Sinne 5 | Dirk Hauer: »Umkämpfte Normalität. Prekarisierung und die Neudefinition proletarischer Reproduktionsbedingungen«, in: Roland Klautke und Brigitte Oehrlein (Hg.): Prekarität – Neoliberalismus – Deregulierung. Hamburg: VSA Verlag 2007, S. 30-42, hier: S. 33. 6 | Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 326.

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erlaubt es der Begriff der Prekarisierungsgesellschaft, Gemeinsamkeiten und Überschneidungen sozialer Entwicklungen hervorzuheben, wo man andernfalls – wie in der Unterschichtendebatte – keine sehen würden. An drei, wie ich sie nennen werde, »Achsen der Prekarisierung« lassen sich solche Überschneidungen darstellen. Ich stützte mich zu diesem Zweck auf einer Reihe sozialtheoretischer Erklärungsansätze, die alle meine These vom umfassenden Charakter von Prekarisierung stützen. Ich kann sie an dieser Stelle natürlich nicht im Detail darstellen, möchte aber kurz offenlegen, welche Theorien den Hintergrund meiner weiteren Argumentation bilden: • Da ist zunächst die ökonomische Regulationstheorie (wie sie in Frankreich im Anschluss an den strukturalen Marxismus der Althusser-Schule ausgearbeitet und in Deutschland vor allem durch Joachim Hirsch weiterentwickelt wurde), die vor allem die für die Kapitalakkumulation notwendigen Formen der politischen, sozialen und kulturellen Regulation im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus untersucht. • Da sind die Gouvernementalitätsstudien der Foucault-Schule, wie sie u.a. die »Unsicherheitsdispositive« (Lemke) des Neoliberalismus untersucht hat wie auch die entsprechenden Subjektivierungsformen eines »unternehmerischen Selbst« (Bröckling). • Da ist weiters die pragmatische Soziologie – im Besonderen die prominente Arbeit von Boltanski und Chiapello, die im breiteren Kontext der Économie des conventions die Herausbildung einer neuen Rechtfertigungsordnung der »projektbasierten Polis« und damit eines neuen »Geistes des Kapitalismus« beschrieben haben. • Da ist der italienische Postoperaismus (am bekanntesten vertreten durch Antonio Negri, aber auch durch Maurizio Lazzarato, Paolo Virno oder Sergio Bologna), der die Ausweitung der Sphäre der Produktion unter Bedingungen der Prekarität in die gesamte Gesellschaft beschrieben hat, die nun zur »fabbrica diffusa« eines »kognitiven Kapitalismus« wird. • Und da ist schließlich die diskursanalytische Hegemonietheorie der Essex School (ausgehend von den Arbeiten von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe), die Prekarisierung mithilfe eines integralen Begriffs von Ökonomie fasst, das heißt von Ökonomie als einer mit Kultur verschränkten Dimension einer jeden hegemonialen Gesellschaftsformation.

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Werden die Erklärungen dieser Ansätze in ihren wesentlichen Punkten zusammengeführt, kommen wir zum übereinstimmenden Ergebnis, dass unter Prekarisierung ein Phänomen zu verstehen ist, das den gesamten sozialen Raum – wenn auch auf je unterschiedliche Weise – einem tief greifenden Wandlungsprozess unterwirft. Und zwar deshalb, so mein Argument, weil es zumindest entlang dreier Achsen die inneren Grenzen dieses Raums durchschneidet.

D IE ERSTE A CHSE DER P REK ARISIERUNG : E INE ZU S TR ATIFIK ATION »TR ANSVERSALE P REK ARITÄT« Auf einer ersten Achse verläuft der Strom der Prekarisierung, im Unterschied zum Begriff des Prekariats, quer zu sozialen Schichtungen. Zwar muss in der Tat unterschieden werden zwischen den verschiedenen Formen von Prekarisierungserfahrungen – und typischerweise wird, wie in der eingangs erwähnten Ebert-Studie auch unterschieden zwischen Prekarität als spezifischer Form der Armut und des Ausschlusses und Prekarität als, um Klaus Dörres Typisierung zu verwenden, Form der »atypischen Integration« der Unkonventionellen und Selbstmanager, der intellos précaires, die – aufgrund ausreichenden Bildungskapitals und womöglich auch ökonomischen Kapitals – nach wie vor in der Zone der Integration verortet werden.7 Allerdings ist die Erfahrung von Prekarisierung nicht auf diese beiden Gruppen begrenzt. Der Diskursanalytiker Jürgen Link hat den Begriff eines »transversalen Prekariats« geprägt für diese sich »quer durch die Stratifikation« erstreckende neue soziale Situation, die »als Flexibilisierung plus Wegfall beziehungsweise Schrumpfung der sozialen Netze […] entstanden ist«. Von einer »Transgression der Strata« lasse sich sprechen, weil eine objektive Gemeinsamkeit in jener »Gravitation« bestehe, »die alle Betroffenen mit einer durchgehenden Abwärtsspirale, bis hin zum ›Abgehängtwerden‹, bedroht.«8 Entscheidende Ursache für diese Transversalität des Phänomens ist, dass sich die zunehmende Flexibilisierung und Prekarisierung vieler 7 | Klaus Dörre: »Entsicherte Arbeitsgesellschaft. Politik der Entprekarisierung«, in: Widerspruch 49 (2005), S. 5-18. 8 | Jürgen Link: »Flexibilisierung minus Normalität gleich Prekarität«, in: KultuRRevolution 52 (2007), S. 32-37, hier: S. 35.

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Arbeitsverhältnisse auch auf die integrierten Sektoren der Normalarbeit auswirkt. In unterschiedlichem Grad und unterschiedlicher Form betrifft Prekarisierung »fast alle Arbeitnehmergruppen, den angelernten Hilfsarbeiter nicht anders als den Gründer eines Start-ups.«9 Man kann sich in dieser Hinsicht also der Definition von Klaus Dörre anschließen: »Mit Prekarisierung soll […] ein sozialer Prozess bezeichnet werden, über den die Erosion gesellschaftlicher Normalitätsstandards auf die Integrierten zurückwirkt.«10 Aufgrund dieses Rückwirkungseffekts kann Prekarisierung, im Unterschied zu Prekarität, nicht auf bestimmte soziale Strata oder Arbeitsverhältnisse begrenzt werden. Als Drohung wirkt sie auch auf die noch bestehenden Normalarbeitsverhältnisse. Ein solches Konzept nicht nur weitreichender, sondern, wie ich behaupten würde, umfassender Prekarisierung macht ungleichheitssoziologische Untersuchungen freilich nicht überflüssig. Er besitzt solchen Untersuchungen gegenüber aber den Vorteil, eine transversale Kondition des Wandels benennbar zu machen, die immer weitere Strata der arbeitenden (und nicht arbeitenden) Bevölkerung betrifft.

D IE Z WEITE A CHSE DER P REK ARISIERUNG : A RBEIT UND N ICHT -A RBEIT (» INTEGR ALE Ö KONOMIE «) Auch auf einer zweiten Achse erweist sich Prekarisierung als ein tendenziell die Gesamtheit sozialer Verhältnisse prägender Prozess. Dieser Prozess hat die grundlegende Verunsicherung nicht nur der meisten Arbeits-, sondern auch der meisten Lebensbereiche zur Folge: das heißt nicht nur die Sphäre der Ökonomie, sondern auch die der (Alltags-)Kultur. Zunächst aus dem einfachen Grund, dass in unseren Lohnarbeitsgesellschaften soziale Sicherheitsstandards an das Arbeitsverhältnis geknüpft sind und von dessen Prekarisierung mitgerissen werden. Aber aus Sicht der erwähnten Sozialtheorien herrscht Übereinstimmung bezüglich einer noch tiefer greifenden Ursache: Zunehmend verschwimmen nämlich die Sphärengrenzen zwischen Produktion und Reproduktion, Arbeit und Nicht-Arbeit, beziehungsweise Arbeit und Leben. So lautet die Hauptthese des Postoperaismus, der Ort der Arbeit habe 9 | Robert Castel: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Hamburg: Hamburger Edition 2007, S. 62. 10 | Dörre: Entsicherte Arbeitsgesellschaft, S. 58.

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sich von der Fabrik über den gesamten sozialen Raum hinweg ausgedehnt (die Rede ist von einer »fabbrica diffusa«).11 Die zur Produktion insbesondere sog. immaterieller Güter (Dienstleistungen, Wissen, Kommunikation, Affekte) erforderlichen intellektuellen und kreativen Fähigkeiten breiten sich tendenziell auf das gesamte Arbeitskräftepotenzial aus,12 weshalb Postoperaisten auch von Massenintellektualität sprechen, und werden vor allem jenseits des eigentlichen Orts der Arbeit erworben und trainiert. Auch wenn man scheinbar nicht arbeitet, arbeitet man. Diese Massenintellektualität wird zwar auch innerhalb der klassischen Lohnarbeit zunehmend nachgefragt, ihre typische Entsprechungsform ist aber die neue Selbständigkeit, wie sie auch von Boltanski und Chiapello beschrieben wurde: Sie ist charakterisiert durch in Netzwerken strukturierte Projektarbeit, bei der die Grenze zwischen Freizeit und Arbeitszeit immer schon unbestimmt bleibt.13 Es kommt zu einer Kolonisierung der Lebenswelt durch das Projektmodell: Das Leben selbst wird »als eine Abfolge von Projekten aufgefasst«.14 Zum Beispiel wird selbst Elternschaft zu einem Projekt, nämlich zu einem, wie Boltanski es nennt, »Projekt Kind«.15 Wird also einerseits die Sphäre der Nicht-Arbeit produktiv gemacht, so greift andererseits auch die Prekarisierung der Arbeit auf das Leben über. Da der Normalarbeitstag für Projektarbeit keine zeitliche Bezugsgröße mehr bildet, nehmen Honorarzahlungen an Bedeutung zu. Das impliziert nicht nur, dass es zur Intensivierung der Arbeitszeit kommt bis hin zu einem schrankenlosen Arbeitstag. Die Ersetzung der Lohnform durch die Rechnung oder das Honorar schafft darüber hinaus das grund11 | Maurizio Lazzarato: »Immaterielle Arbeit. Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus«, in: Toni Negri, Maurizio Lazzarato und Paolo Virno (Hg.): Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion. Berlin: ID Verlag 1998, S. 39-52, hier: S. 45. 12 | Michael Hardt: »Affektive Arbeit«, in: Thomas Atzer und Jost Müller (Hg.): Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität. Analysen und Diskussionen zu Empire. Münster: Westfälisches Dampfboot 2004, S. 175-188, hier: S. 183. 13 | Luc Boltanski und Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK 2006, S. 155. 14 | Ebd., S. 156. 15 | Luc Boltanski: »Leben als Projekt. Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt«, in: Polar 2 (2007), elektronisches Dokument: www.polar-zeitschrift. de/polar_02.php?id=69 (letzter Zugriff 15.1.2012).

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legende Prinzip der Subsistenzgarantie ab.16 War die Lohnform noch an den Anspruch der existentiellen Erhaltung der Arbeitskraft geknüpft, die durch den indirekten Lohn auch bei Verlust der Arbeitsfähigkeit garantiert wurde, so wird dieses Modell inzwischen vom Modell des existentiellen Risikos abgelöst. Auch in dieser Hinsicht – als Prozess der Entsicherung der Arbeits- wie auch der Lebensverhältnisse – erweist sich somit der gesellschaftsumfassende Charakter des Wandels durch Prekarisierung.

D IE DRIT TE A CHSE DER P REK ARISIERUNG : O BJEK TIVE UND SUBJEK TIVE P ROZESSE Mit dem Begriff Prekarisierung lassen sich schließlich sowohl objektive als auch subjektivierende Prozesse beschreiben. Objektiv erweist sich Prekarisierung als eine Form postfordistischer Regulation, die das keynesianische Wohlfahrtsstaatsregime untergräbt.17 War im Fordismus »Prekarität an die Ränder der kapitalistischen Akkumulation gedrängt: die kleinen Subunternehmer, die Landwirtschaft und der Kleinhandel, die Länder der Dritten Welt«,18 so werden nun Beschäftigungssicherung und Regelmäßigkeit des Einkommens auf breiter Front in Frage gestellt. Das daraus resultierende objektiv größere Abstiegsrisiko, das vom neuen Regulationsprinzip der Prekarisierung erzeugt wird, führt auf subjektiver Ebene zur Angstneurotisierung des Individuums. Die wirkt sich freilich unterschiedlich aus. Im extremen Prekarisierungsfall von Armut und Arbeitslosigkeit wird, wie Bourdieu festhält, das gesamte Verhältnis der Betroffenen zu Welt, Raum und Zeit destrukturiert. Doch als Drohung, inkarniert von der Reservearmee des Prekariats, bleibt Prekarität allzeit in den Köpfen aller präsent (»Weder dem Bewußtsein«, so Bourdieu, »noch dem Unterbewußten läßt sie jemals Ruhe«).19 16 | Sergio Bologna: Die Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur neuen Selbständigkeit. Graz und Wien: Nausner & Nausner 2006. 17 | »Deregulierung«, darauf wird in der Regulationstheorie immer hingewiesen, ist nicht keine Regulation, sondern eine spezifisch neoliberale oder postfordistische Form der Regulation. 18 | Michel Aglietta: Ein neues Akkumulationsregime. Die Regulationstheorie auf dem Prüfstand. Hamburg: VSA 2000, S. 30. 19 | Bourdieu: Prekarität ist überall, S. 97.

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Es würde allerdings zu kurz greifen, wollte man ausschließlich diese repressive Seite betonen, wird im Postfordismus doch zugleich die produktive Seite von Subjektivitätsressourcen mobilisiert.20 Die auf jeden einzelnen übertragene Verantwortung, mit sozialen und beruflichen Risiken selbst umzugehen, muss durch subjektivierende Strategien implementiert werden, die solche Risiken als Bereicherung und prekarisierte Arbeitsbedingungen als Freiheit zur Selbstverwirklichung erfahrbar machen. Darüber hinaus wurde im Anschluss an Foucault immer wieder darauf hingewiesen, dass die Selbstregierungsfähigkeiten der Subjekte heute zu den »Schlüsselressourcen der modernen Regierungsformen« zählen.21 Auch hier spielen objektivierende und subjektivierende Faktoren ineinander. Mithilfe gouvernementaler Technologien werden Herrschaftsmechanismen etabliert, die gerade das Autonomiepotential frei handelnder und unternehmerisch denkender Subjekte befördern und als Produktivitätsressource anzapfen sollen. Dabei handelt es sich um gelebte gouvernementale Technologien. In der Folge dringen die prekarisierten Arbeitsverhältnisse des neoliberalen Regimes – und die damit verbundene Subjektivierungsform des Unternehmers seiner selbst, der sich dem Marktgeschehen und seinen Risiken ausliefert – in Form der positiv kodierten Erfahrung von Kreativität und Selbstverwirklichung bis tief in die Psyche jedes einzelnen vor.

D IE KULTURELLE D IMENSION DES W ANDELS DURCH P REK ARISIERUNG : H EGEMONIE Mir ging es soweit darum, die Konvergenz unterschiedlicher sozialtheoretischer Erklärungsmodelle von Prekarisierung (jedes einzelne gestützt auf empirische Untersuchungen) in einem wesentlichen Punkt herauszuarbeiten: dass nämlich Prekarisierung nicht auf eine bestimmte Zone, Gruppe, Schicht oder Klasse begrenzt ist. Der »umfassende Prekarisierungsstrom«, von dem Bourdieu spricht, durchbricht die Grenzen der 20 | Alain Lipietz: Nach dem Ende des ›Goldenen Zeitalters‹: Regulation und Transformation kapitalistischer Gesellschaften. Ausgewählte Schriften. Hg. von HansPeter Krebs. Hamburg: Argument 1998, S. 170. 21 | Peter Miller und Niklas Rose: »Das ökonomische Leben regieren«, in: Richard Schwarz (Hg.): Zur Genealogie der Regulation. Anschlüsse an Michel Foucault. Mainz: Decaton Verlag 1994, S. 54-108, hier: S. 55.

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sozialen Schichtung (in Form von »transversaler Prekarität«), die Grenze von Arbeit und Nicht-Arbeit oder Arbeit und Leben (in Form einer »fabbrica diffusa«), und schließlich die Grenze zwischen objektiven und subjektiven Aspekten der Prekarisierung.22 Aus ebendiesem Grund darf die kulturelle Dimension des Wandels durch Prekarisierung in keiner Analyse vernachlässigt werden. Es handelt sich eben nicht um einen rein ökonomischen Prozess. Betrachten wir etwa die dritte Achse der Prekarisierung, dann erweisen sich die Selbstregierungstechniken prekärer Subjekte als tief verwurzelt in deren Alltagshandeln (also in der Alltagskultur) und in populären Vorstellungswelten, wie sie in den Massenmedien, in der Werbung, in den Lebensratgebern etc. verbreitet werden. Der Kulturbegriff, der uns erlaubt, all diese Formationen in Rechnung zu stellen, wird wohl am besten mit dem von Antonio Gramsci entwickelten Begriff der Hegemonie getroffen. Darunter lässt sich ein Verhältnis der Sicherung massenhaften Konsenses und freiwilliger Zustimmung zu einer bestimmten sozialen Formation beziehungsweise einem »historischen Block« verstehen. Das Feld der Kultur ist aus dieser Perspektive zutiefst machtgetränkt. Denn wie wäre die kulturelle Konstruktion sozialer Identitäten und Subjektivierungsformen analysierbar ohne Berücksichtigung der Machtverhältnisse, denen sie eingeschrieben sind? Soziale Identität wird in Form asymmetrischer Dominanz- und Unterordnungsverhältnisse artikuliert; man denke nur an Geschlechtsidentität, Zwangsheterosexualität, Klassenidentität oder an rassistische Zuschreibungen. Kultur ist zugleich der Bedeutungshorizont, vor dem Identitäten artikuliert und Subjekte konstruiert werden, und das Werkzeug, mithilfe dessen diese Artikulation vonstatten geht. Ein solch politisch gefaßter Kulturbegriff erlaubt es, Licht auf Machtverhältnisse zu werfen, die immer auch kultureller Art sind. Kultur, Identität und Macht stehen also in einem wechselseitigen Implikationsverhältnis: Wo von Identität die Rede ist, muss auch von ihrer machtbasierten Durchsetzung gesprochen werden.23 Wo Machtverhältnisse analysiert werden, muss immer auch Kultur als Medium der Macht, durch welches soziale Identität konstruiert wird, berücksichtigt werden. Wer also Kultur 22 | All das hat natürlich wiederum umgekehrt forschungspraktische Implikationen: So wird es beispielsweise nicht ausreichen, Prekarität ausschließlich mithilfe objektiver Indikatoren zu definieren, sondern man wird auch subjektive Prekarisierungserfahrungen zu ermitteln versuchen, etwa durch Interviews. 23 | Oliver Marchart: Cultural Studies. Konstanz: UVK 2008.

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sagt, muss immer auch Macht und soziale Identität zum Thema machen. In Form hegemonialer Kämpfe – um Dominanz und Subordination, um Ein- und Ausschluss sozialer Gruppen – wird Identität auf dem Feld der Kultur vorübergehend fixiert und definiert. Hegemonie ist nichts anderes als der Name, den man diesem Spiel von Kultur, Macht und Identität geben kann. Wenn wir unter Kultur somit jenes Medium verstehen, durch das hindurch »Macht produziert und um sie gerungen wird«,24 dann beinhaltet der Anstoß »kulturellen Wandels« im Sinne von Hegemonie: den Kampf, um eine existierende politische Formation herauszufordern und zu disorganisieren; die Einnahme einer »Position der Führung« (auf welch minoritärer Basis auch immer) gegenüber einer Reihe verschiedener Gesellschaftssphären zugleich – Ökonomie, Zivilgesellschaft, intellektuelles und moralisches Leben, Kultur; das Führen einer breiten und differenzierten Form von Kampf; das Gewinnen, in strategischem Ausmaß, von populärer Zustimmung; und also die Sicherung einer sozialen Autorität, die ausreichend tief reicht, um die Gesellschaft einem neuen historischen Projekt einzufügen. Dieses sollte nie fälschlich als beendet oder vollendet erachtet werden. Es wird immer herausgefordert, muss sich immer selbst sichern, ist immer ›im Prozeß‹. 25

Was mit Gramsci als hegemonialer »Stellungskrieg« bezeichnet werden kann, findet also wesentlich auf dem Terrain der Kultur statt, auf dem sich entscheidet, ob gesellschaftlicher Konsens hergestellt werden kann oder eben nicht. Gelingt das, so wird Kultur zur »organischen Ideologie«, die unterschiedliche Klassen und Strata der Bevölkerung wie durch Zement aneinander bindet. Das Ergebnis ist, in Gramscis Terminologie, ein »historischer Block« oder, in moderner Terminologie, eine hegemoniale Formation. Diese umschließt sowohl die ökonomische Basis als auch, wie es im Marxismus hieß, den so genannten Überbau. Denn nach Gramsci, der sich vom ökonomischen Determinismus der marxistischen Orthodoxie absetzt, wird eine Gesellschaftsformation nicht durch ökonomische Gesetze vereinheitlicht, sondern durch die Konstruktion eines »Kollektivwillens«, der sich 24 | Lawrence Grossberg: What’s Going On? Cultural Studies und Populärkultur. Wien: Turia + Kant 2000, S. 256. 25 | Stuart Hall: The Hard Road to Renewal: Thatcherism and the Crisis of the Left. London und New York: Verso 1988, S. 7.

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zu einem historischen Block erweitert. Und so wie ein Kollektivwille die korporative Identität einer einzigen Klasse oder Klassenfraktion übersteigt, so geht Gramscis Konzept von Ideologie als »Zement« eines »historischen Blocks«, in welchem Institutionen und Apparate des erweiterten Staates wie auch der Ökonomie zu einem organischen Ganzen artikuliert sind, über die traditionelle Basis/Überbau-Unterscheidung hinaus in Richtung einer Theorie hegemonialer Artikulation im Medium der Zivilgesellschaft und des Alltagsverstands, das heißt der Popularkultur. So konnte Stuart Hall im Anschluss an Gramsci Kultur definieren als »das jeweilige Feld der Praxen, Repräsentationen, Sprachen und Bräuche in jeder historisch bestimmten Gesellschaft«, welches »die widersprüchlichen Formen des Alltagsbewußtseins« umfasst, »die im alltäglichen Leben verwurzelt sind und dazu beigetragen haben, es zu formen«.26 Aus dieser Perspektive ist kultureller Wandel Produkt hegemonialer Kämpfe. Kultureller Wandel manifestiert sich in Verschiebungen der hegemonialen Formation eines Gemeinwesens.

F A ZIT Ein hegemonietheoretisch informierter Blick auf Prekarisierung erlaubt nicht nur, die kulturelle Dimension eines scheinbar rein ökonomischen Phänomens aufzuschließen. Er erlaubt auch, Zusammenhänge zu erkennen und die Verschiebungen zwischen ökonomisch-kulturell-sozialen Formationen in das größere Bild des Kampfes um Hegemonie einzuordnen, der den Übergang vom Fordismus zum Postfordismus antreibt. Der eingangs vorgeschlagene ›Panorama‹-Begriff der Prekarisierungsgesellschaft bietet sich zur Bezeichnung dieser Zusammenhänge beziehungsweise dieser neu entstandenen hegemonialen Formation an. Denn Prekarisierung mag auf den Einzelnen zwar unterschiedliche Auswirkungen haben je nach dessen Position im sozialen Gefüge, sie hat aber keineswegs so divergente Ursachen. Sie wird nämlich angetrieben durch ein neoliberales Flexibilisierungs-, Deregulierungs- und Entsicherungsregime im Übergang zum Postfordismus. 26 | Stuart Hall: »Gramscis Erneuerung des Marxismus und ihre Bedeutung für die Erforschung von ›Rasse‹ und Ethnizität«, in: Ders.: Ideologie, Kultur, Rassismus. Ausgewählte Schriften 1. Hamburg und Berlin: Argument 1989, S. 56-91, hier: S. 89.

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Letztlich stimmen die fünf eingangs erwähnten sozialtheoretischen Erklärungsansätze darin überein, dass unter Prekarisierung ein die gesamte soziale Formation umfassendes Phänomen zu verstehen ist. Von einer partikularen, auf bestimmte Lohnbeziehungen begrenzten Regulationsform wurde Prekarisierung in regulationstheoretischer Begrifflichkeit: zu einem zentralen Aspekt der postfordistischen Regulationsweise; in gouvernementalitätstheoretischer Begrifflichkeit: zu einem allgemeinen Unsicherheitsdispositiv und der entsprechenden Subjektivierungsform; in postoperaistischer Begrifflichkeit: zu einer fabbrica diffusa der prekarisierenden Inwertsetzung aller Lebensbereiche innerhalb des Kognitiven Kapitalismus; in der Begrifflichkeit Boltanski/Chiappelos: zum neuen kapitalistischen ›Geist‹ der projektbasierten Polis. Anders gesagt, Wandel durch Prekarisierung umfasst nicht allein das Lohnarbeitsverhältnis, sondern zieht inzwischen die meisten anderen Lebensverhältnisse in Mitleidenschaft. So wie sie eine Angelegenheit der Arbeitsbeziehungen ist, ist sie eine des Alltagslebens und der Kultur. Und so wie ihr im Kampf um soziale Rechte zu begegnen ist, so ist ihr auch im Kampf um Subjektivierungsweisen, Vorstellungswelten und Lebensformen zu begegnen.

L ITER ATUR Michel Aglietta: Ein neues Akkumulationsregime. Die Regulationstheorie auf dem Prüfstand. Hamburg: VSA 2000. Sergio Bologna: Die Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur neuen Selbständigkeit. Graz und Wien: Nausner & Nausner 2006. Luc Boltanski: »Leben als Projekt. Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt«, in: Polar 2 (2007), elektronisches Dokument: www.polarzeitschrift.de/polar_02.php?id=69 (letzter Zugriff 15.1.2012). Luc Boltanski und Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK 2006. Pierre Bourdieu: »Prekarität ist überall«, in: Ders.: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz: UVK 1998. Ulrich Brinkmann, Klaus Dörre und Sabine Röbenack: Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung 2006.

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Robert Castel: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Hamburg: Hamburger Edition 2007. Klaus Dörre: »Entsicherte Arbeitsgesellschaft. Politik der Entprekarisierung«, in: Widerspruch 49 (2005), S. 5-18. Lawrence Grossberg: What’s Going On? Cultural Studies und Populärkultur. Wien: Turia + Kant 2000. Stuart Hall: »Gramscis Erneuerung des Marxismus und ihre Bedeutung für die Erforschung von ›Rasse‹ und Ethnizität«, in: Ders.: Ideologie, Kultur, Rassismus. Ausgewählte Schriften 1. Hamburg und Berlin: Argument 1989, S. 56-91. Stuart Hall: The Hard Road to Renewal: Thatcherism and the Crisis of the Left. London und New York: Verso 1988. Michael Hardt: »Affektive Arbeit«, in: Thomas Atzer und Jost Müller (Hg.): Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität. Analysen und Diskussionen zu Empire. Münster: Westfälisches Dampfboot 2004, S. 175-188. Dirk Hauer: »Umkämpfte Normalität. Prekarisierung und die Neudefinition proletarischer Reproduktionsbedingungen«, in: Roland Klautke und Brigitte Oehrlein (Hg.): Prekarität – Neoliberalismus – Deregulierung. Hamburg: VSA Verlag 2007, S. 30-42. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Maurizio Lazzarato: »Immaterielle Arbeit. Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus«, in: Toni Negri, Maurizio Lazzarato und Paolo Virno (Hg.): Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion. Berlin: ID Verlag 1998, S. 39-52. Alain Lipietz: Nach dem Ende des ›Goldenen Zeitalters‹: Regulation und Transformation kapitalistischer Gesellschaften. Ausgewählte Schriften. Hg. von Hans-Peter Krebs. Hamburg: Argument 1998. Jürgen Link: »Flexibilisierung minus Normalität gleich Prekarität«, in: KultuRRevolution 52 (2007), S. 32-37. Oliver Marchart: »Auf dem Weg in die Prekarisierungsgesellschaft. Zur Analyse des öffentlichen Definitionskampfs um die zunehmende Prekarisierung von Arbeit und Leben«, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 36 (2010), S. 413-429. Oliver Marchart: Cultural Studies. Konstanz: UVK 2008. Peter Miller und Niklas Rose: »Das ökonomische Leben regieren«, in: Richard Schwarz (Hg.): Zur Genealogie der Regulation. Anschlüsse an Michel Foucault. Mainz: Decaton Verlag 1994, S. 54-108.

In-der-Mitte-Sein Zur Struktur gelingenden Handelns Mario Wenning

Gewöhnlich wird zwischen der Perspektive gelingenden Handelns in der Zeit und der verstrichenen Zeit, wie sie beispielsweise von Historikern, Soziologen oder Philosophen untersucht wird, unterschieden. Setzt man die Erfahrungswelt handelnder Menschen der erzählten, objektivierten Zeit gegenüber, so klaffen diese oft erheblich auseinander. Vergleicht man dabei beide, kommt die Perspektive der Handelnden meist zu kurz, da ein solcher Vergleich den Verlauf der Zeit bereits nicht mehr aus der Perspektive der ersten Person Singular eines Handelnden und damit in der Zeit wahrnimmt. Das Welthaft-Strukturelle der beschriebenen Zeit stellt einen Objektivitätsanspruch, der das Existentiell-Normative des in und aus Wandlungsprozessen heraus Handelnden, wenn überhaupt, nur unzureichend zur Geltung kommen lässt. Soweit das bereits von Augustinus im elften Buch der Bekenntnisse beschriebene klassische Problem. Der Existentialismus und insbesondere Heidegger haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Perspektive des in der Zeit Handelnden wiederzugewinnen. Dabei wäre erst zu prüfen, wie die Beziehung zwischen erzählter zu erlebter Zeit überhaupt zu bestimmen ist. Nachdem im ersten Teil dieses Aufsatzes die narrative Struktur der erzählten Zeit verdeutlicht wird, soll im Anschluss daran exemplarisch anhand von Martin Heideggers Handlungstheorie gezeigt werden, auf welche Weise das narrative Verständnis von Zeit, wie es in den europäisch geprägten philosophischen Traditionen vorherrscht, die Erfahrung von Handelnden tendenziell eher verstellt als verdeutlicht. Dies wird besonders deutlich, wenn man die westliche, narrativ verstandene Handlungstheorie mit einer außereuropäischen Theorie kontrastiert. Im dritten Teil wird deshalb im Anschluss an die ostasiatische Tradition des philosophischen Daoismus die Struktur

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des gelingenden, nicht narrativ verstandenen Handelns schematisch skizziert. Dieser systematisch motivierte transkulturelle Schritt erlaubt es, die im europäischen Kontext unhinterfragten, der Narrativität geschuldeten handlungstheoretischen Grundannahmen zu relativieren, um eine plausiblere Handlungstheorie zu entwickeln. Es geht dabei nicht darum, die Weltzeit der Lebenszeit in Form einer unüberbrückbar gewordenen Zeitschere gegenüberzustellen, wie es etwa Blumenberg Augustinus aufgreifend tut.1 Ziel ist es vielmehr, auf oft übersehene strukturelle Unterschiede hinzuweisen, um das Eigenrecht der Handlungszeit in den Vordergrund zu rücken. Dieses Eigenrecht, so die hier entwickelte These, besteht darin, dass gelingendes Handeln als eine Form von mühelosem Handeln zu verstehen ist. Noch bevor eine Klärung der Frage nach der Struktur gelingenden Handelns versucht werden soll, ist es jedoch hilfreich, zunächst die Parallele zwischen den beiden genannten Zeitstrukturen zu verdeutlichen. Die offenkundige Verbindung zwischen gedachter und gelebter, zwischen Welt- und Handlungszeit rührt daher, dass individuelle Lebensläufe und Handlungsperspektiven immer schon in historische Strukturen eingebettet sind, während historische Wandlungsprozesse durch menschliches Mitwirken vollzogen oder zumindest beeinflusst werden. Menschen stehen in Geschichten, betrachten diese vor- und rückwärts gewandt und wirken in zukünftige Geschichten hinein, auch wenn sie letztere nur partiell vorhersehen und beeinflussen können.

1. N ARR ATIVE S TRUK TUREN IN DER G ESCHICHTS SCHREIBUNG UND H ANDLUNGSTHEORIE Die gelebte Zeit kann sich mit der gedachten und erzählten Zeit decken, sie kann sich mit ihr berühren, sie kann dieser vorauseilen oder ihr hinterherlaufen, sie kann sich ihr entfremden oder sie sich erinnernd und antizipierend vergegenwärtigen und dadurch graduell aneignen. Sowohl gelebte als auch erzählte Zeit scheinen die Struktur von Geschichten aufzuweisen, wie es insbesondere in der von Hayden White analysierten Geschichts-

1 | Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986.

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schreibung und der von Paul Ricœur entwickelten narrativen Identitätstheorie betont worden ist.2 Wir erwarten von darstellenden Erzählungen der kulturellen Welt, dass sie sich auf einen Anfang, eine Mitte und ein Ende beziehen, so wie es, spätestens seit Aristoteles, auch von Handlungen angenommen wird.3 Die narrativen Fixpunkte Anfang, Mitte und Ende korrespondieren in der Handlung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und eröffnen sich einer Person in den zeitlichen Extasen des sich Erinnerns, des gegenwärtigen Erlebens und des Erwartens. Historiographisches Erzählen wäre demnach nicht etwa eine einem strukturell verschiedenen Gegenstand, der Welt menschlichen Handelns, aufoktroyierte Form, sondern ergibt sich aus der zeitlichen Struktur des Handelns. Mit einem Wort: der Mensch ist nicht nur ein Tier, das Geschichten erzählt, es lebt sie auch.4 Die sich auf die dreigliedrige Zeitstruktur berufende Analogie zwischen der subjektiv erfahrenen und objektivierten Zeit trügt jedoch bei genauerem Hinsehen, da sie über wesentliche Unterschiede zwischen der Perspektive des Zeit-Denkenden und des in der Zeit Handelnden hinwegtäuscht. Dabei geht es nicht nur um Unterschiede in der Dauer wie es in dem Spruch »Vita brevis, ars longa« zum Ausdruck gebracht wird. Neben der simplen Tatsache, dass Menschen im Vergleich zu den etwa durch die Geschichtsschreibung erschlossenen Zeiträumen vergleichbar kurz leben, sind Handelnde und über Zeitläufe Nach-Denkende und sie Nach-Erzählende ihrem Selbstverständnis und Erfahrungshorizont nach wesentlich verschiedenen Zielen verpflichtet und sehen sich demnach mit radikal verschiedenen Herausforderungen konfrontiert. Dies mag ein Beispiel illustrieren. Eine Feststellung wie etwa »die Schlacht bei Waterloo beendete endgültig Napoleons Herrschaft über Europa« benennt ein historisches Ereignis. Indem dieses als Endpunkt der napoleonischen Ära ausgegeben wird, ist implizit auch deren Anfang mitgedacht. Der Historiker kann seine Beschreibung wie ein Romanautor 2 | Hayden White: The Content of the Form: Narrative Discourse and Historical Representation. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1987; Paul Ricœur: Time and Narrative. Chicago: University of Chicago Press 1984. 3 | Aristoteles: Poetik. Stuttgart: Reclam 2005, 1450b27. 4 | David Carr weist auf die Parallelen und Unterschiede der historiographisch erzählten und gelebten Zeit hin. David Carr: Time, Narrative, and History. Bloomington: Indiana University Press 1986.

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vom Anfang oder auch vom Ende aufziehen. In jedem Fall erwarten wir von seiner historischen Analyse, dass sie die narrative Lücke zwischen Anfangs- und Endpunkt durch eine Erklärung schließt, die uns verdeutlicht, wie und warum etwas geschehen ist. Solch eine Erklärung hat zum Ziel, die historischen Ereignisse und Prozesse durch die Angabe von Ursachen und ihren Konsequenzen her zu verstehen. Dadurch soll – zumindest bis eine bessere Erklärung gefunden worden ist – die narrative Lücke zwischen Anfang und Ende geschlossen werden. In unserem Beispiel wäre eine mögliche Erklärung für das Ende der napoleonischen Ära mit der Schlacht zu Waterloo, dass der Brite Wellington und sein preußischer Verbündeter Bülow eine erfolgreichere militärische Strategie verfolgten, oder etwa dass die französischen Truppen bereits geschwächt waren und Napoleon seinen Rückhalt in der Bevölkerung und in der Armee verspielt hatte, oder dass das Wetter es nicht gut mit Napoleon und den Franzosen meinte. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass historische Untersuchungen zum Ziel haben, Wissen über konkrete Ereignisse und Wandlungsprozesse näher oder weiter zurückliegender Zeit zu fördern, indem sie narrative Verknüpfungen zwischen Anfang, Mitte und Ende herstellen, die den tatsächlichen kausalen Beziehungen möglichst entsprechen sollen. Was narrative Erklärungen nicht tun, ist, das beschriebene Geschehen normativ zu rechtfertigen oder universalen Gesetzen unterzuordnen. Dass es immer auch hätte anders kommen können und vielleicht auch anders hätte kommen sollen, sind implizite Annahmen jeder historischen Erklärung von kulturellen Wandlungsprozessen. Dies soll jedoch nicht bestreiten, dass es historische Wahrscheinlichkeiten gibt. Der historische Erzähler verfügt über zahlreiche Stilmittel und kann, basierend auf den überlieferten Quellen und je nach Fragestellung, auf Genres zurückgreifen, die sich strukturell analog auch in fiktiver Literatur finden. Napoleons unfreiwilliges Abdanken kann beispielsweise in den Tropen der Tragödie, Satire oder – im Lichte seines vorherigen Comebacks vielleicht am naheliegendsten – als Farce dargestellt werden. Obwohl das Denken und Sprechen über historische Vorgänge in den letzten Jahrzehnten das Verstehen von Kontinuitäten und sich überschneidenden Wandlungsprozessen zu seinem Gegenstand hat, werden auch diese in dem Sinne narrativ verstanden, dass ihnen implizit oder explizit ein Anfang, eine Mitte und ein Ende attestiert wird. Geschichten zeichnen sich dadurch aus, einem bestimmten Träger, etwa einer Gesellschaft, einer Stadt, einer Person oder einem Kunstwerk, ein gleichzeitiges Verhältnis

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von Kontinuität und Diskontinuität zuzusprechen. So wird etwa von Preußen nachgewiesen, dass es während der napoleonischen Ära zerschlagen und entscheidende Stufen im Säkularisierungsprozess durchlaufen hat. Der in der Zeit Handelnde – etwa Napoleon oder einer seiner Soldaten im Schlachtgemenge am Morgen des 18. Juni 1815 – sieht sich dagegen mit einer wesentlich anderen Aufgabe als der Zeit-Denker konfrontiert. Als Handelnder ist sein Zeitverhältnis das der Gegenwärtigkeit. Wenn das Verstehen menschlicher Handlungen sich trotzdem auf narrative Formen beruft, so geschieht dies, indem entweder der Anfang oder das Ende der Handlung betont werden, wie sie sich dem Handelnden darstellen. Wie als Eckpunkte des Lebens die Geburt und der Tod fungieren, wird die Handlung eingeteilt in intentio, actio und finis. Durch eine auf einer Entscheidung beruhenden Intention soll durch die Handlung ein der Intention möglichst entsprechendes Resultat herbeigeführt werden.

1.1 Heidegger und die Narrativierung der Handlung An Martin Heidegger, dem vielleicht prominentesten Zeitphilosophen des verstrichenen Jahrhunderts, lässt sich exemplarisch veranschaulichen, wie die narrative Struktur aus Anfang, Mitte und Ende in Anspruch genommen wird, um dem Handelnden eine dem Helden im Drama analoge Struktur zuzusprechen. Versetzen wir uns in dessen Perspektive, wie sie durch Heidegger dargestellt wird. Zunächst oder »ursprünglich« finden wir uns als Handelnde auf alltägliche Weise von Mitmenschen, Tieren, Werkzeugen, Kunstwerken und anderen Objekten umgeben und in nicht problematisierte und reflektierte Praktiken eingebunden. Unsere Alltagswelt ist uns durch ein Geflecht aus Interpretationen und Praktiken, die unser Handeln als Hintergrundannahmen prägen, unhinterfragt erschlossen. Handelnd jedoch verhalten wir uns zu diesen nicht gewählten Strukturen, indem wir uns im Modus der Sorge in Form von zu verfolgenden Entwürfen in die Zukunft projizieren. Die Struktur des stetigen »Sich-vorweg-seins« ist eine verpflichtende. Gelingendes oder, in Heideggers emphatischem Sinne, »eigentliches« Handeln zeichnet sich dadurch aus, sich aus dem nicht gewählten und einen immer schon prägenden Geschehenen durch die Entscheidung zu erheben, indem ein zukünftiges Ziel entworfen und entschlossen verfolgt wird. Obwohl Heidegger mit seiner Destruktion eines distanzierten, den Wandlungsprozessen der Welt bloß kontemplativ gegenüberstehenden

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Subjektbegriffs den Handelnden zurück in die jeweils durch Stimmungen erschlossene Welt sozio-historischer Strukturen versetzt, holt er ihn gleichwohl wieder aus dieser in ihrer Gegenwärtigkeit erschlossenen Welt heraus. Dies tut er, indem er die narrative Aufspannung des Subjekts zwischen ungewollter Geworfenheit, teilnehmender Sorge und vereinzelndem Entschluss als zentrale Bezugsgrößen des Handelnden ausgibt. Der Handelnde wirkt auf die Welt wie eine äußere Macht ein und gewinnt sein Verhältnis zur Gegenwart nur über sein Verhältnis zur Zukunft, die, so Heidegger, »Gegenwart aus sich entlässt«.5 Hier wird deutlich, dass Heidegger das Verhältnis zwischen Gegenwart und Zukunft entgegen seiner ursprünglichen Einsicht in die radikale Gegenwärtigkeit des Handelnden umdreht. Die Zukunft wird nicht etwa aus der Perspektive des in der Gegenwart Handelnden entworfen, sondern der Gegenwartsbezug ist dem Zukunftsbezug strukturell nachgeordnet, beziehungsweise nur aus dem Zukunftsbezug zu verstehen. Dadurch wird der Handelnde nicht nur seines ursprünglichen Gegenwartsbezugs beraubt. Gleichzeitig tritt er auch aus der Welt heraus, indem er sich selbst zum Ursprung und Ziel von angestoßenen Wandlungsprozessen wird: »das in der Zukunft gründende Sichentwerfen auf das ›Umwillen seiner selbst‹ ist ein Wesenscharakter der Existentialität. Ihr primärer Sinn ist die Zukunft.«6 Wegen der Fokussierung auf die selbstbezogene Fixierung in Richtung Zukunft, müssen Handlungen, die primär auf Gegenwärtiges ausgerichtet sind, misslingen oder zweitrangig erscheinen. Heidegger macht sich die Unverfügbarkeit des in jedem Augenblick eintreten könnenden eigenen Todes zu Nutze, um gelingendes Handeln primär aus der Perspektive einer entschlossenen Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit zu interpretieren. Diese Konfrontation ist eine vereinzelnde, in der der Umgang mit gegenwärtigen Dingen nur noch als instrumentell oder nichtig zu beschreiben ist.7 Der Handelnde läuft entschlossen und keine Mühe scheuend einer Zukunft entgegen, aus der die Rückkehr nicht mehr gelingen will. 5 | Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 1979, S. 326. 6 | Ebd., S. 327. 7 | Dieter Thomä resümiert »Er (der Handelnde) flüchtet sich zu ihm (dem Tod) als einem Ende aller Bestimmtheit, die nicht freisetzt, sondern festlegt auf eine Vereinzelung, in der das Dasein dann wieder verfügend gegenüber dem Seienden auftritt.« Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 424f.

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In seinem späteren Denken hat Heidegger dieses Problem bekanntlich zu lösen versucht. Bereits in Sein und Zeit bringt Heidegger zum Ausdruck, dass »die eigentliche Gegenwart« als ein »Augenblick« zu verstehen ist.8 Dort interpretiert er die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit bereits in der Tradition des memento mori. Die Konfrontation mit dem einen in jedem Augenblick ereilen könnenden Tod verleiht der Gegenwart eine besondere Bedeutung. Heidegger versucht zunehmend, die Herrschaft der Zukunft über den Rest der Zeit dadurch zu brechen, dass er eine Theorie des plötzlich hereinbrechenden Augenblicks – des »Ereignisses« – entwickelt. Die Probleme einer solchen Augenblicks-Philosophie liegen auf der Hand. Es wird nicht geklärt, auf welche Weise Augenblicke aus einer sich zunehmend von Handelnden unabhängig entwickelnden Seinsgeschichte zustande kommen sollen und wie ein gelingender Umgang mit solch einem aus dem Nichts auftauchenden Augenblick aussehen könnte. Diese kurze Rekonstruktion soll die in der Handlungstheorie verbreitete temporale Figur verdeutlichen, den Menschen in seiner Gegenwärtigkeit zu verankern, nur um ihn dann wieder aus dieser Gegenwärtigkeit in Bezug auf Anfänge oder Enden herauszunehmen.9 In Heideggers Denken zeigt sich diese Figur besonders deutlich, da er die menschliche Existenz als einen dramatischen Prozess inszeniert. Der sich auf seinen Anfang Beziehende oder seinem Ende entschlossen Entgegeneilende ist, so möchte ich behaupten, eine Person, die eine Sekundärhandlung vollzieht. Sekundärhandlungen täuschen über die ursprüngliche anfangs- und endlose Gegenwärtigkeit des in sein Tun vertieften Handelnden hinweg.10 Sekundärhandlungen sind narrative Konstrukte, die den Primärhandlungen aus der Beobachterperspektive zugesprochen werden. Die Beobachterperspektive kann dabei vorhersagend oder rekonstrukierend einholend sein, die

8 | Heidegger: Sein und Zeit, S. 68. 9 | So wäre auch gegen Philosophien des Anfangs, wie etwa Hannah Arendts Philosophie der Natalität, einzuwenden, dass sie der Struktur radikaler Gegenwärtigkeit unzureichend Rechnung tragen. 10 | Reiner Schürmann argumentiert, dass Heidegger der Figur des teleologischen Handelns in der Angst vor dem Tod entkommt und auf eine nichtteleologische, eine »praxis privé de but« verweißt. Le principe d’anarchie. Reiner Schürmann: Heidegger et la question de l’agir. Paris: Seuil 1982, S. 30. Zur Kritik daran vgl. Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, S. 423.

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Offenheit der Gegenwart weiß sie nicht zu fassen.11 Fasst man die Struktur gelingender Primärhandlungen von den temporalen Grundannahmen der Narration her, so wird diese Struktur verfehlt. Die gängigen narrativen Stilmittel verfehlen das im emphatischen Sinne gegenwärtige Handeln notwendig, sind sie doch an die Konstruktion eines Anfangs, einer Mitte und eines Endes gebunden.

2. D IE S TRUK TUR GELINGENDEN H ANDELNS Wenn es, wie es mir phänomenologisch einleuchtend scheint, zur Form menschlicher und dadurch immer schon handelnder Existenz gehört, dass sie sich weder durch absolute Anfänge, noch absolute Endpunkte auszeichnet, ist es an der Zeit, eine Phänomenologie des In-der-Mitte-Seins zu entwerfen. Diese Phänomenologie würde mit der Fixierung auf eine dreigliedrige Zeitstruktur aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft brechen. Obwohl Menschen auch erinnern und entwerfen, nachholen und antizipieren, tun sie auch dies gewöhnlich von der Perspektive der Mitte und nicht bloß eines Dazwischen (zwischen Anfang und Ende, Entschluss und Ergebnis) aus.12 Der Handelnde findet sich notwendig stets in die Mitte geworfen. Diese apriorische Bedingung gilt für Praktiken aller Art, seien es Tat-Handlungen, Denk- oder Sprechakte, wobei es den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, diese drei Formen des Handelns in ihren jeweiligen Eigenlogiken und im Hinblick auf ihr spezifisches Gelingen und ihre spezifische Gegenwartsbezogenheit zu differenzieren.

11 | Der Akt des beobachtenden wie auch des sich identifizierenden Erzählens kann auch eine Primärhandlung sein. Dies ist dann der Fall, wenn der Erzähler sich auf das Beobachtete auf eine Art und Weise einzulassen weiß, die das Erzählte in seiner Gegenwärtigkeit lebendig werden läßt. Erzählte Ausblicke und Erinnerungen, Anfänge und Enden sind nur dann lebendig, wenn sie als gegenwärtig bedeutende Möglichkeiten und Wirklichkeiten und nicht bloß als vergangene Wirklichkeiten und zukünftige Möglichkeiten erfahrbar werden. 12 | »Vor- und Nachdenken sind bestenfalls eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung gelingenden Handelns.« Günter Wohlfart: Die Kunst des Lebens und andere Künste. Skurrile Skizzen zu einem euro-daoistischen Ethos ohne Moral. Berlin: Parerga 2005, S. 227.

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Auf der Suche nach einer Handlungskonzeption, die sich nicht auf die narrativ verstandene Vergangenheits- oder Zukunftsorientierung festlegt, wird man in den ostasiatischen Traditionen fündig. Der transkulturelle Blick über den Horizont europäischer Traditionen bietet sich an, um sichtbar zu machen, dass die Übertragung narrativer Strukturen auf die Perspektive des Handelnden nicht ohne Alternative ist, gerade wenn es um das Verstehen optimaler Handlungen geht. Der so gewonnene transkulturelle »Blick von außen«13 entblößt die unhinterfragten Annahmen eines sich anhand von einem Anfang und einem Ende her begreifenden narrativ konstituierten Handlungssubjekts, wie es in den europäisch geprägten Traditionen üblich ist. Dieser Blick eröffnet eine zukunftsweisende Perspektive einer post-narrativistischen Handlungstheorie.14 Der Umweg über die fernöstlichen Traditionen, den auch Heidegger in seinem Austausch mit dem Daoismus und Zen Buddhismus bereits ein Stück weit zu gehen bereit war,15 bietet sich an. Trotz oder gerade wegen der Gefahr einer Dekontextualisierung liegt der Rückgriff auf fernöstliche Traditionen aufgrund der folgenden vier Faktoren nahe. Erstens ist insbesondere die chinesische Philosophie nicht an eine auf Konjugation beruhende Sprache gebunden. Damit ist sie frei von einer Grammatik, die den Sprecher im Vorhinein auf die Triade Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beziehungsweise Präteritum, Präsens und Futur festlegt. Im Gegensatz zu der – von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen – relativ jungen 13 | Francois Jullien: Detour and Access. Strategies of Meaning in China and Greece. New York: Zone Books 2004. 14 | Michel Foucault hat bereits auf die Notwendigkeit solch einer Auseinandersetzung mit nichteuropäischen Traditionen hingewiesen, wenn er in einem Interview postuliert: »das europäische Denken befindet sich an einem Wendepunkt. […] Sollte es eine Philosophie der Zukunft geben, so müsste sie außerhalb Europas geboren werden oder als Konsequenz von Berührungen und Zusammenstößen zwischen Europa und Nichteuropa entstehen.« [Übersetzung MW] Michel Foucault: »Michel Foucault and Zen: a stay in a Zen temple (1978)«, in: Jeremy R. Carrette (Hg.): Religion and Culture by Michel Foucault. Manchester: Manchester University Press 1999, S. 110-114, hier: S. 113. 15 | Reinhard May: Heidegger’s Hidden Sources. East Asian Influences on his Work. London: Routledge 1996; Lin Ma: Heidegger on East-West Dialogue. Anticipating the Event. London: Routledge 2008; Graham Parkes (Hg.): Heidegger and Asian Thought. Honolulu: University of Hawaii Press 1987.

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Kritik des distanzierten Subjektbegriffs in der westlichen Tradition, blickt man zweitens im Reich der Mitte auf eine dreitausendjährige Geschichte des Prozessdenkens zurück. Wandel wird in dieser Tradition nicht von der Perspektive eines wie auch immer zu verstehenden festen Subjekts her gedacht, das Wandlungen bewusst herbeiführt, obwohl, wie noch zu zeigen sein wird, auch ein Subjektbegriff entwickelt worden ist. Wichtig ist zu betonen, dass im alten China das menschliche Handeln nicht als isolierbare Einheit gedacht worden ist, die diesen Prozess unterbrechen würde und deswegen unabhängig von diesem Prozess zu beschreiben wäre. Drittens, und daran anschließend, werden Transformationsprozesse nicht von einem in der judeo-christlichen Tradition verankerten und in der Struktur der Narration fortlebenden und weiterentwickelten Anfangs- oder Endpunkt her verstanden. So gibt es keine Ursprungsmythen in denen ein Gott oder ein Heros die Welt schafft oder ihr die Stirn entgegen hält, wie es im Genesis-Mythos oder im Timaios geschildert wird und in der philosophischen Handlungstheorie säkularisiert worden ist. Wandlungsprozesse weben sich stetig fort und erneuern sich aus ihren jeweiligen Zusammenhängen. Sie tun dies ohne anzufangen, auf ein Ende hin zuzulaufen oder zirkulär zu sein. Viertens wird Zeit im chinesischen Kontext primär aus der Perspektive des Handelnden und nicht aus der des Zeit-Denkers, Beobachters und Erzählers begriffen. Zentrales Anliegen der chinesischen Philosophie ist es daher auch, die Kunst des Handelns aus der Perspektive des in der Zeit Handelnden zu verstehen ohne das Handeln dabei von den Wandlungsprozessen zu isolieren. Das Handeln soll vielmehr innerhalb dieser Prozesse kultiviert werden. Eine Phänomenologie des In-der-Mitte-Seins soll hier anhand der Frage nach dem »wann« oder der Zeit, dem »wie« oder dem Modus, dem »wer« oder dem Autoren und dem »warum« oder der Wirksamkeit gelingenden Handelns in groben Zügen skizziert werden. In der folgenden Rekonstruktion stütze ich mich auf den chinesischen Begriff des wu-wei (↋∌), welcher oft unzureichend als »Nicht-Handlung« übersetzt worden ist. Wu-wei bezeichnet nicht ein tatenloses Nichts-Tun, sondern eine Handlung, die mühelos vollzogen wird. Alternativ findet man in den klassischen Schriften von Konfuzius und Laotse daher auch die paradoxe Formulierung wei-wu-wei was soviel heißt wie Handlung ohne Handlung.16 Diese 16 | Während es in diesem Kontext primär um die Rekonstruktion des daoistischen Gedankens des mühelosen Handelns geht, präsentiert Edward Slingerland

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paradoxe Formulierung bezeichnet ein Gegenwarts-Tun ohne Zutun eines Pläne schmiedenden und Ziele fixierenden Subjektes, wie es in den westlichen philosophischen Traditionen unhinterfragt vorausgesetzt wird. Die Handlungskonzeption ist eine dezidiert normative. Wu-wei bezeichnet das Ideal einer optimal vollzogenen Handlungsform. Während Handlungen in den europäischen Traditionen das Verändern der Welt durch das transzendenten Prinzipien oder Gründen folgende auf die Welt Einwirken von Subjekten versteht, sieht die Konzeption des wu-wei vor, dass sich Handelnde in Wandlungsprozesse einspielen und diese somit beugen. Zentrale Momente einer Handlung in der chinesischen Tradition sind so nicht die Absicht, die Ausführung und das Ziel der Handlung, sondern das mühelose wirksam Werden in spielerisch vollzogenen Handlungsprozessen. Der Handelnde wirkt nicht durch die entschlossene und erschöpfende Intervention in eine ihm und seinen Intentionen fremde Wirklichkeit, sondern läßt sich auf die Wandlungsprozesse ein und wandelt sich mit und durch diese. Dabei ist das Subjekt weder Opfer noch Täter, sondern selbst eine Mitte, durch welche Wandlungen hindurch wirken, wodurch sowohl das Subjekt als auch die Wandlungen im Wechselspiel ein Stück weit transformiert werden.17

2.1 Das »Wann« gelingenden Handelns: Perfektibilität ohne Anfang und Ende Was in der Tradition des philosophischen Daoismus, wenn auch nicht systematisch entwickelt, so doch angelegt und in den klassischen Werken Daodejing, Zhuangzi und dem Buch der Wandlungen vorgedacht wurde, ist, was der französische Philosoph und Sinologe Francois Billeter »l’idée de

einen systematischen Überblick über die begriffliche Metapher des wu-wei während der Zeit der streitenden Reiche (5. bis 3. Jahrhunder AC). Edward Slingerland: Effortless Action. Wu-Wei as Conceptual Metaphor and Spiritual Ideal in Early China. Oxford: Oxford University Press 2003. 17 | Dies veranlasst Francois Jullien dazu, den chinesischen Begriff der Transformation (化, hua) dem in der griechischen, insbesondere der Aristotelischen Philosophie geprägten Begriff der Handlung (sowohl praxis als auch poiesis und techne) entgegenzustellen. Francois Jullien: Über die Wirksamkeit. Berlin: Merve 1999, S. 71-90.

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l’acte parfait« nennt.18 Die Idee einer perfekten Handlung entspringt einer Form von Perfektibilität in actu. Während sich der Begriff der Perfektibilität in christlich geprägten Traditionen auf ein durch Handeln her- beziehungsweise wieder herzustellendes Zukünftiges bezieht, geht es bei der Konzeption der Perfektibilität in actu um das im gegenwärtigen Handeln Gelingende. Der Grad der Perfektion einer Gegenwartshandlung bemisst sich daran, wie diese ausgeführt wird und ob sie im rechten Moment geschieht. Handlungsmomente sind eingebettet in Zeitstrukturen, die analog zu Jahreszeiten fungieren. So heißt es in den Gesprächen des Konfuzius: »Ich war fünfzehn, und mein Wille stand aufs Lernen, mit dreißig stand ich fest, mit vierzig hatte ich keine Zweifel mehr, mit fünfzig war mir das Gesetz des Himmels kund, mit sechzig war mein Ohr aufgetan, mit siebzig konnte ich meines Herzens Wünschen folgen, ohne das Maß zu übertreten.«19 Dabei steht weniger der zyklische Charakter der Saisonfolge im Vordergrund als die Beobachtung eines fließenden Übergangs zwischen einander abwechselnden Lebens- und Handlungsperioden, die ohne scharfe Trennlinien zu haben, voneinander verschiedene Möglichkeitsräume eröffnen. Zum saisonal bedingten richtigen Agieren und Reagieren bedarf es der Geduld, warten zu können, wie auch den richtigen Riecher, den Gelegenheits-Moment zu ergreifen und nicht verstreichen zu lassen. Situationsübergreifende Prinzipien sind bei der Bestimmung des rechten Moments hinderlich, da sich die Rhythmik gelingenden Handelns nicht nach einem transzendenten Muster richtet, das auf die Situation nur angewendet werden müsste. Die situativ spezifische Handlungsdynamik schöpft sich aus sich selbst und im Wechselspiel mit der sich stets verändernden Dynamik der äußeren Wandlungsprozesse. Möchte man Lebenszeit an ästhetischer Zeit messen, wie es die Vertreter des narrativen Ansatzes tun, so sollte man dies weniger anhand von Kurzgeschichten, Romanen oder Epen tun. Eher kann man sie mit der musikalischen Zeit, wie sie von Musikern erfahren wird, vergleichen. Dass in der Erfahrung von musikalischen Abläufen Vergangenheit und Zukunft 18 | Francois Billeter: »Pensée occidentale et pensée chinoise, le regard et l’acte«, in: Ders.: Differences, valeurs, hierarchie. Paris: Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales 1984, S. 25-51, hier: S. 50. Zitiert auch in Slingerland: Effortless Action, S. 7. 19 | Konfuzius: Gespräche. Buch II, 4. Köln: Anaconda 2007, S. 76.

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als Echo mitschwingen steht außer Frage. Diese werden jedoch in ihrer Gegenwärtigkeit verstanden und nicht in ihrer zukünftigen Erfahrbarkeit oder abschließenden Erinnerung. Die gegenwärtige Aufmerksamkeit, insbesondere in musikalischen Genres mit improvisatorischen Elementen, besteht beispielsweise nicht darin, die beabsichtigte Zukunft mühevoll in die Vergangenheit zu überführen und dabei die Gegenwart zu marginalisieren. Der oder die Musiker spielt oder spielen sich in die Rhythmik und die Melodie des sich entwickelnden Stückes ein und testen dessen Möglichkeitsräume. Manchmal werden in diesem Prozess die in ihm angelegten Möglichkeitsspielräume auch erweitert. Angewandt auf die Perspektive des Rechts und der Ethik, gleicht die Theorie gelingenden Handelns damit aus der Ferne der »Moral des Augenblicks«, wie sie Foucault in der griechischen Polis verwirklicht sah: Einige große gemeinsame Gesetze – der Polis, der Religion oder der Natur – bleiben gegenwärtig, doch ziehen sie gleichsam in der Ferne einen sehr weiten Kreis, innerhalb dessen das praktische Denken definieren muss, was zu tun ist. Und dazu bedarf es nicht eines maßgeblichen Textes, sondern einer techne, einer Praxis, einer Geschicklichkeit, die unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze die Handlung in ihrem Augenblick, in ihrem Kontext und im Hinblick auf ihre Ziele leitet. In dieser Moral konstituiert sich also das Individuum nicht dadurch als ethisches Subjekt, dass es die Regel seiner Handlung verallgemeinert, sondern im Gegenteil durch eine Haltung und eine Suche, die seine Handlung individualisieren und modulieren und ihr sogar einen einzigartigen Glanz geben können, indem sie ihr eine rationale und reflektierte Struktur verleihen. 20

Rationalität und rechtfertigende Reflexion stehen hier nicht zu Beginn eines nach Zielen und Mitteln suchenden Entscheidungsprozesses, sondern werden durch die Form der Handlung widergespiegelt. Obwohl der Momentcharakter der Zeit im Vordergrund steht, geht es nicht um die Neuheit einer jeden Situation. Gelingendes Handeln zeugt von einer Gegenwartskompetenz, die sich je nach Situation durch die in Erfahrung angereicherten Tugenden des gebotenen Zögerns wie der des sich ermutigenden Einschreitens auszeichnet. Die Praxis des erfahrenen Extemporierens ist keine der kontextunabhängigen Initiation oder des Regelfolgens. Sie muss sich schöpferisch in bereits eingestimmte Rhythmen einbinden 20 | Zitiert in Wohlfart: Die Kunst des Lebens und andere Künste, S. 227f.

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können, indem sie implizit auf erworbenes Wissen zurückgreift und dieses den sich stetig ändernden Herausforderungen anpasst und dadurch erweitert. Aus demselben Grund, aus dem Menschen weder ihre Geburt erinnern noch ihren Tod antizipierend vorwegnehmen können, stellt sich das Problem eines Anfangs der Handlung genausowenig wie die Aussicht auf ihr Ende. Wer handelt befindet sich immer schon inmitten verschiedener, sich gegenseitig durchkreuzender und überlappender Geschichten. Die saisonale Zeit des aus der Mitte heraus Handelnden bedarf daher auch nicht eindeutiger narrative Fixpunkte, wenn diese auch für manche reflektierten Praktiken, etwa das autobiographische Erzählen, unverzichtbar sein mögen. Die Zeit der Handlung ist markiert durch qualitativ aufgeladene Momente, Zeiten der Konjunktur und der Rezession. Im Gegensatz zu den numerisch festhaltbaren neutralen Zeiteinheiten, wie sie das westliche Denken seit der Renaissance prägen, sind jahreszeitliche Momente nicht mess- oder vorausberechenbar, auch wenn wir uns in eingrenzenden Beschreibungen auf sie beziehen können. Verbunden sind sie nicht durch ein sie tragendes Subjekt, sondern durch eine Überlappung von kontinuierlich vollzogenen Handlungsmustern. Dauer wird so nicht im Sinne des zwischen zwei Zeitpunkten Bleibenden gedacht, sondern als »Zwischen-Momentliches«21 (㢅 梃, shijian). Dieses Zwischen-Momentliche ist nicht etwa zwischen einem Anfang und Ende als Rahmenbedingungen eines Handlungsverlaufs konzipiert, sondern als Übergangszeit von einem Moment zum anderen Moment. Fasst man die temporale Struktur einer Handlung im Rahmen solch einer Übergangszeitstruktur, so ist der Habitus dieser Handlung nicht als Zielgerichtetheit, sondern als Anknüpfbarkeit und Fortsetzbarkeit zu verstehen. Handlungen sind sequentielle Vorgänge in der Zeit. Manchmal werden sie unterbrochen, um zu einem späteren Zeitpunkt weitergeführt zu werden, und manchmal fließen sie in neue Handlungen über. Eine weitere Konsequenz, die Zeit des Handelnden als Zwischen-Momentliches zu begreifen, besteht darin, sich vom Gedanken der die Übergangszeit transzendierenden, plötzlich hereinbrechenden revolutionären Ereignisse, wie sie etwa der späte Heidegger vorsieht, zu verabschieden. Im Gegensatz zu hereinbrechenden und alles überschattenden Ereignissen sind Momente nicht aus ihren jeweiligen Kontexten zu lösen und ste21 | Francois Jullien: Über die Zeit. Elemente einer Philosophie des Lebens. Zürich und Berlin: Diaphanes 2004, S. 58.

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hen miteinander in Beziehung. Handlungen gelingen, wenn sie sich diese Beziehungen zunutze machen ohne dabei diesen Nutzen isoliert zu betrachten und dadurch zu fixieren. Zu einer gelingenden Handlung gehört jedoch mehr als das richtige Timing.

2.2 Das »Wie« gelingenden Handelns: Mühelosigkeit Um zu klären, welche Einstellung der Handelnde in der gelingenden Handlung einnimmt, ist ihr Modus näher zu bestimmen. Unter Modus ist die Art und Weise zu verstehen, in der eine Handlung ausgeführt wird. Der Begriff, der den Modus der gelingenden Handlung, wie sie im Daoismus vorgedacht wurde, noch am genauesten wiedergibt, ist der der Mühelosigkeit. In seiner Öffnung für die Gelegenheit des jeweiligen Moments, bezeugt der Handelnde ein bestimmtes Knowing-how, ein praktisches, in der Handlung implizit bleibendes Vollzugswissen. Wie wir von einer Person behaupten, sie spreche eine Sprache fließend, so könnte man auch sagen, sie handelt fließend. Csíkszentmihályi, der die Metapher des Fließens für die psychologisch ansetzende Glücks- und Kreativitätsforschung fruchtbar gemacht und popularisiert hat, beschreibt diesen Zusammenhang als einen Prozess »in which action follows upon action according to an internal logic which seems to need no conscious intervention on our part. We experience it as a unified flowing from one moment to the next, in which we feel in control of our actions, and in which there is little distinction between self and environment, between stimulus and response, or between past, present and future.«22 Nicht zufällig besitzt die deutsche Sprache mit dem Wort Mühelosigkeit nur einen von Mühe abgeleiteten Begriff, um diese Erfahrung des fließenden Handelns zu beschreiben, wird doch die Handlung in den europäisch geprägten Traditionen als die im Normalfall Anstrengung bedürfende Übersetzung einer am Beginn stehenden Intention durch eine als Mittel verstandene Handlung in ein in die Zukunft projiziertes Ziel verstanden. Dass der Mühe bei der Umsetzung von Absichten in Ziele eine heraus22 | Mihály Csíkszentmihályi: »Play and Intrinsic Rewards«, in: Journal of Humanistic Psychology 15 (1975), S. 41-63, hier: S. 43. Die Parallelen zwischen dem Daoismus Zhuangzis und der Theorie des Fließens wird von Chris Jochim unterstrichen. Chris Jochim: »Just Say No to ›No Self‹ in Zhuangzi«, in: Roger T. Ames (Hg.): Wandering at Ease in the Zhuangzi. Albany: SUNY Press 1998, S. 35-74.

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gehobene Rolle zukommt, ist der Tatsache geschuldet, dass äußere Wandlungsprozesse primär als potentielle Hindernisse der Handlung und nicht als Chancen ihrer Verwirklichung interpretiert werden. Im mühelosen Handeln wird diese Struktur aufgebrochen. Der mühelos Handelnde nutzt seine Geschicklichkeit sowie eine Konstellation begünstigender Faktoren ohne dabei seinen Pläne schmiedenden Willen durch Anstrengung in die Tat umsetzen zu müssen. Freilich sind Erfahrungen des fließenden Handelns oft nicht von Dauer. Die vita otiosa oder mühelose Existenzweise kann entweder durch äußere Umstände oder durch den eigenen Willen unterbrochen werden. Im ersten Fall – man denke etwa an einen Jongleur, dessen Kaskade plötzlich dadurch unterbrochen wird, dass einer seiner Bälle durch einen Windstoß zu Boden fällt – lässt sich an die Mühelosigkeit der geglückten Bewegung anschließen, indem der Handelnde entweder einen neuen Versuch startet oder sein virtuoses Spiel unterbricht, um es unter günstigeren Bedingungen fortzusetzen. Anders sieht es im zweiten Fall, der Unterbrechung müheloser Handlung durch den eigenen Willen, aus. Kommt eine Handlung einmal trotz begünstigender externer Umstände nicht zustande oder gerät ins Stocken, so wird der Grund dafür seit Aristoteles gemeinhin im Willen oder genauer in der Willensschwäche des wider seines besseren Wissen Handelnden gesucht. Doch ist der Verweis auf die akratische Unterlassung eine zutreffende Beschreibung? Ist es nicht eher zutreffend, dass uns die Tatsache, dass unser Wille zu sehr an einem Plan festhält, bei dessen Realisierung im Weg steht? Dies wird durch die Prokrastination, die weit verbreitete Praxis des Aufschiebens, verdeutlicht. Ein bereits beschlossener Plan – etwa das Auswendiglernen eines Textes – wird auf die lange Bank geschoben, nicht etwa aufgrund von einem zu schwachen Willen, sondern gerade weil die Person zu sehr und zu oft an die anstehende Aufgabe denken muss und ihr so alle möglichen anderen noch ausstehenden Beschäftigungen einfallen, die sie vor der Erledigung der nun als lästig und anstrengend empfundenen Aufgabe noch tun könnte.23 Sekundäre Rationalisierungsprozesse setzen ein, die den Aufschub zu rechtfertigen versuchen und in extremen Formen zur Selbsttäuschung und dem Scheitern des ursprünglichen Plans führen können. 23 | Chrisoula Andreou: The thief of time: philosophical essays on procrastination. Oxford: Oxford University Press 2010.

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Bei einer mühelosen Handlung hingegen tut sich die Arbeit zwar nicht von, sondern nur wie von selbst, doch der Wille lässt dabei nicht seine Muskeln spielen. Doch was oder wer verbirgt sich hinter diesem sich nicht durch seine Absicht in den Vordergrund manövrierenden Willen?

2.3 Das »Wer« gelingenden Handelns: das stetige Nicht-Ich Wie bereits in der Betrachtung der Zeitstruktur und des Modus gelingenden Handelns deutlich geworden ist, steht weder ein abstrakter dreigliedriger Begriff von Zeit noch der eines Pläne schmiedenden und diese zwanghaft verwirklichen wollenden Ichs im Zentrum des gelingenden Handelns. Doch wie ist der willensfrei im Sinne von willenlos Handelnde zu verstehen? Haben wir es bei der mühelosen Handlung nicht mit einem autonomen Subjekt zu tun, das, bewusst seine Handlungsoptionen in kognitiven Prozessen abwägend, Autor seiner Handlung und Träger seines Willens ist, so geht es doch um zurechenbare Handlungen. Im Gegensatz zu reflexhaftem Tun wie dem Niesen oder körperlichen Bewegungen, die unintendiert passieren, wie etwa das Stolpern, sind Akteure für ihre mühelosen, nicht-intentionalen Handlungen verantwortlich.24 Es handelt sich bei diesen Handlungen oft um einen hohen Grad an Können und kein Gehenlassen. So schreiben wir dem Jongleur seine leichthändige und geschickte Ballbeherrschung zu und loben ihn dafür, wenn es sich auch nicht um moralisches Lob handelt. Die sich von selbst verstehende Handlung wird selbstvergessen ausgeführt. Hinter ihr steht was man als autotelisches Selbst bezeichnen könnte, ein Selbst, das unreflektiert das Handeln den Herausforderungen des Augenblicks anpasst und dabei indirekt wirksam ist.25 Der selbst-, zeit- und zielvergessen Handelnde lässt sich agierend und reagierend auf seine Umwelt, 24 | Wenn ich hier von »nicht-intentionalen Handlungen« spreche, so sind Handlungen gemeint, bei denen das bewusste Nachdenken über Absichten und das Kalkulieren von sich aus diesen Absichten ergebenden Mittel nicht im Vordergrund des Bewusstseins des Handelnden stehen. Es soll nicht ausgeschlossen werden, dass sich aus der Beobachterperspektive das Verfolgen von Absichten und der Gebrauch von diesen Absichten entsprechenden Mitteln ausmachen lassen. 25 | Der Begriff des autotelischen Selbst, welches (im Gegensatz zum exotelischen Selbst) seine Ziele selbstmotiviert und quasi-automatisch und mühelos verfolgt, ist von Mihály Csíkszentmihályi eingeführt worden. Vgl. Mihály Csíkszent-

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sei sie menschlicher, tierischer oder dinglicher Natur, mit einem erhöhten Maß an innerer und äußerer Aufmerksamkeit und Koordinationsfähigkeit ein. Er erlebt dabei ein Gefühl von Abgestimmtheit mit der Rhythmik der Umgebung, was ihn von einem Zombie oder Roboter unterscheidet. Im Zhuangzi findet sich folgendes aporetisches Gleichnis, das die nicht besetzte Position des Subjekts gelingenden Handelns näher veranschaulicht: Der Urahn Ran Xiang siedelte sich selbst im Zentrum des Kreises der Dinge an; so ging er mit den Dingen einher bis zu ihrer Vollendung und begleitete sie ohne Anfang und ohne Ende, ohne Periodizität und ohne Zeit. Wer sich selbst täglich zusammen mit den Dingen wandelt, der hat eine Einheit, die wandellos ist. […] Der Weise hat noch nicht einmal begonnen, einen Himmel zu haben, hat noch nicht einmal begonnen, Menschen zu haben, hat noch nicht einmal begonnen, einen Anfang zu haben, hat noch nicht einmal begonnen, Dinge zu haben. Er geht mit der Welt einher, doch setzt sich selbst nicht an ihre Stelle. Wenn er etwas tut, dann tut er es gründlich, aber er tut nie zu viel. Wie könnte er sich auf diese Weise unterjochen? 26

In diesem Gleichnis wird deutlich, dass der, der sich darin versteht, sich nicht gegen Transformationsprozesse zu wenden, sondern diese geschickt zu nutzen weiß, an Stetigkeit gewinnt. Das metaphorisch als »Sichansiedeln in der Leerstelle« beschriebene Handeln impliziert ein autotelisches Selbst, das die Aporie der Nicht- oder mühelosen Handlung perfektioniert hat, indem es sich im Wandel aufgehend vom Ich abzuwenden gelernt hat. Autotelelisches Handeln ist nicht mit selbstzweckhaftem Handeln zu verwechseln, da es durchaus indirekt Ziele verfolgt und dieses indirekte Verfolgen einen wesentlichen Bestandteil der Struktur gelingenden Handelns ausmacht und es sich dadurch etwa vom interessefreien Spiel oder der ästhetischen Wahrnehmung unterscheidet. Deshalb sei hier abschließend der Frage des Wozu beziehungsweise der Frage nach der Wirksamkeit gelingenden Handelns nachgegangen.

mihályi: Flow. The Psychology of Optimal Experience. New York: Harper 1990, S. 208-213. 26 | Zhuangzi: Das Buch der Spontaneität. Über den Nutzen der Nutzlosigkeit und die Kultur der Langsamkeit. Das klassische Buch daoistischer Weisheit. Aitrang: Windpferd 2008, S. 296.

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2.4 Das »Wozu« gelingenden Handelns: die Wirksamkeit Es soll nicht der absurde Eindruck erweckt werden, instrumentelles, auf Absichten und Zwecken beruhendes Handeln wäre generell unmöglich oder verwerflich. Es ist auch nicht meine Intention, die Reflexion auf den Wert von Absichten in Frage zu stellen. Vielmehr geht es darum zu zeigen, dass das Optimum unseres Handelns sich paradoxerweise dann einstellt, wenn das Ziel der Handlung nicht bewusst und nicht direkt verfolgt wird. Die weitverbreitete Annahme, dass signifikante Absichten auf direktem Weg zu erreichen sind, gilt es zu relativieren ohne gleich von einer sich hinter dem Rücken der Akteure verwirklichenden mysteriösen List der Vernunft auszugehen. Jon Elster geht in seinem klassischen Aufsatz »Why Things Don’t Happen as Planned« soweit zu behaupten, dass einige gerade unserer höchsten Ziele sich nur als Sekundäreffekte oder »by-product-states« einstellen.27 Die Konsequenzen dieser weitreichenden Einsicht blieben in der Handlungstheorie zumeist unbeachtet. Der Mechanismus der indirekten, nicht bewussten Zielverfolgung scheint nicht nur für komplexe autotelische motorische Handlungen wie etwa das Jonglieren oder die musikalische Impromptu-Improvisation zu gelten, sondern gerade auch für solche Handlungen und Eigenschaften, die gemeinhin oben auf den gängigen Werteskalen des Guten zu finden sind. Wollen wir glücklich oder mühelos sein, uns verlieben, natürlich auftreten, oder Mitleid empfinden, ist es relativ wahrscheinlich, dass diese Ziele durch die unserem Willen entspringenden Bemühungen in weite oder doch weitere Ferne rücken. Verfolgen wir sie hingegen nicht bewusst, stellt sich der gewünschte Zustand häufig – wenn auch nicht notwendigerweise – fast beiläufig und indirekt ein.

3. E INWÄNDE Nun mag gegen die sich an daoistische Motive anlehnende Konzeption mühelosen Handelns zweierlei eingewendet werden. Zum einen, so könnte behauptet werden, ist diese Konzeption problematisch, da sie die Handelnden den Umständen ausliefert, indem das Handeln ausschließlich an27 | Jon Elster: »Why Things Don’t Happen as Planned«, in: Nordal Akerman (Hg.): The Necessity of Friction. Heidelberg: Physica Verlag 1993, S. 248-256.

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hand von Erwägungen der Rechtzeitigkeit, Mühelosigkeit, Selbstlosigkeit und Wirksamkeit bewertet wird. Das Abwägen von Gründen über Handlungsziele rückt dabei in den Hintergrund. Sollte dieser Einwand zutreffen, so würde es sich bei der Konzeption des wu-wei primär um eine Anpassungsstrategie handeln. Die skizzierte Theorie gelingenden Handelns wäre dann in normativer Hinsicht problematisch, da sie Wandlungsprozesse unhinterfragt als gegeben und unveränderlich voraussetzen würde. Wu-wei bestünde in diesem Fall aus einer opportunistischen Anpassung an Wandlungsprozesse. Es wäre zu fragen, welche normativ-kritischen Ressourcen einer vom Daoismus inspirierten Handlungstheorie zur Verfügung stehen, um dem Einwand der unkritischen Opportunität zu entkräften. Obwohl der Daoismus aus den genannten Gründen skeptisch gegenüber jedweder kontexttranszendierenden Rechtfertigung moralischer Normen ist, lassen sich indirekte normative Konsequenzen ziehen. Geht man davon aus, dass es zu einem guten Leben gehört, nicht immer, aber immer wieder auch mühelos handeln zu können und bedeutende Ziele sich dadurch indirekt verwirklichen lassen, wären aus einem Recht auf Mühelosigkeit zu folgernde gesellschaftliche Strukturen zu fördern. Fließendes Handeln stellt sich nur ein, wenn der Handelnde in seiner Geschicklichkeit weder über- noch unterfordert wird. Geht man desweiteren davon aus, dass das Handeln, wie es sich aus der ersten Person Singular im Moment ihres gelingenden Handelns darstellt, nicht narrativ verfasst ist, müsste unser Selbstverständnis sich vom narrativen Druck lockern und mit der Annahme brechen, sich in Bezug auf alle Phasen seiner vorherigen und zukünftigen Ichzustände zu rechtfertigen und ein stets bewusst zu machendes Netzwerk aus möglichst kompatiblen Absichten zu verfolgen. Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Daoismus sich aufgrund seiner handlungstheoretischen Prämissen in seiner langen Geschichte als Herrschaftskritik verstanden hat. Insbesondere die Konzeption des fließenden, mühelosen Handelns legt es nahe, den Daoismus als eine Form kritischer Theorie zu interpretieren.28 Die Konzeption des mühelosen Handelns wurde, wie es schon in der zitierten Allegorie über König Ran Xiang angeklungen ist, als eine Art Fürstenspiegel entwickelt, um dem jeweiligen Regenten zu empfehlen, die Geschäfte der Bevölkerung ihrem 28 | Mario Wenning: »Daoism as Critical Theory«, in: Comparative Philosophy 2 (2011), S. 50-71.

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natürlichen Lauf zu überlassen, und ihm nahezulegen, wie es bei Konfuzius einmal heißt, still zu sitzen, nach Süden zu schauen und die leere Nabe in der Mitte eines bewegten Rades zu bilden. Nicht zufällig wird der Daoismus im heutigen China verfolgt, führt er doch – im Gegensatz zum staatlich propagierten Neokonfuzianismus – tendenziell zu Individualisierung und im Zuge dessen zu schwer zu kontrollierenden und innovativen Handlungsformen. Der im Rahmen des beschleunigten Modernisierungsprozesses übernommene und im Gegensatz zu westlichen Gesellschaften weitgehend ungebrochene Fortschrittsglaube steht in China im diametralen Gegensatz zu der mühelosen Gegenwartskompetenz, wie sie in den eigenen philosophischen Traditionen verankert ist. Gerade deshalb bietet sich eine produktive Reaktualisierung des Daoismus, verstanden als eine Kritik überkommener Handlungsformen, an. Selbst wenn zugestanden wird, dass die Beschreibung gelingenden Handelns dieses nicht notwendig auf Wandlungshörigkeit und Opportunismus festlegt, gibt es einen zweiten, verwandten Kritikpunkt, der besagt, dass die Theorie keinerlei hanndlungsleitende Rolle spielen könne, da sie die Möglichkeit einer durch Absichten hervorgebrachten gelingenden Handlung selbst in Frage stellen würde. Es wird mit anderen Worten bestritten, dass man müheloses Handeln bewusst herbeiführen und kultivieren könne. Die Aufforderung, möglichst mühelos und spontan zu handeln, versetzt den Angesprochenen in eine ähnlich aussichtslose Situation wie die des an Schlaflosigkeit Leidenden, der sich halb befehlend, halb wünschend einredet, doch endlich schlafen zu müssen und vor lauter Einreden das Einschlafen unterbindet. Feststellen, dass ich mühelos oder spontan handle, kann ich nur, wenn der Prozess schon begonnen hat, vielleicht sogar schon abgeschlossen ist. Eine Sache ist es, mühelos sein zu wollen, und eine ganz andere, mühelos zu sein, während es unklar ist, wie man aus der ersten Stufe des Wunsches in die zweite der Praxis findet. Die eigene Absicht in der Hoffnung Absicht sein zu lassen, dass sich das gewünschte Ziel indirekt einstellt, ist leichter gesagt als getan. Dieser auf die Paradoxie der Kultivierbarkeit mühelosen Handelns hinweisende Einwand übersieht jedoch die Existenz von Handlungsmöglichkeiten, die das Zustandekommen von optimalen by-product-states begünstigen. Während Handelnde womöglich nicht willentlich mühelos werden können, so können sie doch intermediäre Praktiken willentlich verfolgen, die die Mühelosigkeit befördern und es wahrscheinlicher machen, dass sich diese als by-product-state wie von selbst einstellt. Wie der Schlaflose die

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sprichwörtlichen Schafe zählen oder eine Schlaftablette schlucken kann, so stehen eine Reihe von Praktiken offen, die, wenn sie erst einmal habituiert werden, by-product-states begünstigen. Die in asiatischen Kulturen weitaus größere Rolle, die Ritualen zugemessen wird, ist vor diesem Hintergrund nicht etwa als konformistische Anleitung zum monotonen Mitmachen und Regeln verfolgen, sondern als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für indirekte Erfüllung zu verstehen. Häufig kommt Praktiken, die sowohl den Körper als auch den Geist beanspruchen ohne beide zu unter- oder überfordern, eine privilegierte Rolle in der Hervorbringung von by-product-states zu, da sie, wenn sie erst einmal habituiert worden sind, Willensvergessenheit fördern und den Handelnden dadurch von der narrativ strukturierten Zeitschere lösen und somit enthemmen. Ob es die vom klassischen Daoisten praktizierten Rituale des Umherwanderns, der Meditation, der Kalligraphie und des Tai-Qi-Betreibens sein müssen, sei einmal dahingestellt. Wichtig ist zu betonen, dass es sich um psychosomatische Praktiken und nicht um bloße Einstellungsänderungen und damit allein aus dem Willensakt geborene Absichten handelt. Im Gegensatz zur List des einschlafen wollenden Schafezählers oder Tablettenschluckers, haben wir es hier nicht mit einer Selbsttäuschung zu tun, sondern mit einer bewussten Initiierung in Praktiken indirekter Erfüllung. Es hat sich gezeigt, dass gelingendes Handeln – und nur darum sollte es hier gehen – nicht nach dem narrativen Muster von Anfang, Mitte und Ende zu verstehen ist. Während die objektivierte Zeit der Historiker, Soziologen und auch Philosophen narrativ strukturiert ist, ist die Zeit des gelingenden Handelns mühelos im Fluss der durch Gelegenheitsmomente aufgeladenen Gegenwart begriffen. Gelingendes Handeln ist fließend in Wandlungsprozesse eingebettet, beweist ein Gespür für den richtigen Moment, wird im Modus der Mühelosigkeit willensfrei vollzogen und stellt seine Wirksamkeit unter Beweis, indem sich der Handelnde die Wandlungsprozesse der Welt indirekt zu Nutze macht und diese (wie auch sich selbst) dabei verändert. Dabei verausgabt sich der Handelnde weder noch wird er vom Wandel überrollt. Im Gegensatz zu Helden in Geschichten kennt der Handelnde weder Anfang noch Ende, ist er doch immer in der Mitte.

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Wandel in der Kunst Überlegungen zum Verhältnis der Künste Daniel Martin Feige

E INLEITUNG Als sich Anfang der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts Charlie Parker, Dizzy Gillespie und Thelonious Monk in Minton’s Playhouse regelmäßig zu Jamsessions trafen, ereignete sich eine Revolution in einer der maßgeblichen Kunstmusiken des 20. Jahrhunderts: In Gestalt des Bebop war der Modern Jazz geboren. Die zunehmend als künstlerisch erschöpft und auf bloße Tanzmusik reduziert wahrgenommenen Idiome des Swing wurden von einer Generation junger Musiker durch eine Musik abgelöst, für die unter anderem eine komplexe Harmonik, virtuose Tempi und eine Konstruktion von Melodien charakteristisch ist, die die Akkorde um die Optionen 9, 11 und 13 erweitert und einen exzessiven Gebrauch von approach notes macht. Nicht zuletzt ist diese Konstruktion von Melodien mit einer neuartigen Gestaltung des Rhythmus in Form vor allem des Big Beats verbunden, der eine spezifische, durchgehaltene Spannung und Intensität der Musik mit sich bringt und melodische Einheiten, die auch gestische und dynamische Dimensionen unseres Sprechens exemplifizieren. Die Erfindung des Bebop bringt unterschiedliche Arten des Wandels in verschiedenen Bereichen der Kunst mit sich. Sie bildet erstens Veränderungen in der Tradition des Jazz selbst aus. Diese betreffen nicht allein die beschreibbaren musikalischen Innovationen des Bebop selbst, sondern mit ihnen geht retroaktiv ebenso eine Veränderung der vorhergehenden Stile des Jazz einher. Das nicht bloß in dem schlichten Sinne, dass der Swing sich im Nachhinein als Vorläufer des Bebop erwiesen haben wird: Es wird nun nicht nur möglich, an der rhythmischen, melodischen und harmonischen Gestaltung des Swings retroaktiv verstandene Vorausdeutungen

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auf die Idiome des Bebop zu entdecken, sondern der Swing wird für den mit dem Bebop vertrauten Hörer insgesamt neue Eigenschaften gewinnen und anders klingen als vor der Erfindung des Bebop. Zweitens zeitigt die Erfindung des Bebop Veränderungen auch in anderen Traditionen künstlerischer Musik. Das wiederum nicht allein in dem schlichten Sinne, dass Grenzgänger zwischen neuer Musik und Modern Jazz wie etwa Anthony Braxton ohne die Erfindung des Bebop als Ermöglichung späterer Stile des Modern Jazz und Cross-overs zwischen verschiedenen Arten von Musik nicht möglich gewesen wären. Vielmehr wird in Stilen oder einzelnen Werken der neuen Musik oder der Popularmusik auf für den Bebop charakteristische Verfahrensweisen im Sinne spezifischer Organisationsformen musikalischer Materialien oder auf für ihn zentrale stilistische oder expressive Merkmale zurückgegriffen. Drittens schließlich betrifft die mit der Erfindung des Bebop einhergehende Veränderung auch andere Künste als die Musik: Jack Kerouac hat in seinen literarischen Werken nicht allein den Jazz thematisiert, sondern Verfahrensweisen des Modern Jazz in die Literatur übertragen. Neben expliziten Rückgriffen auf den Bebop im Sinne seiner Thematisierung oder des Rückgriffs auf seine Verfahrensweisen ist mit der Erfindung des Bebop zugleich die Möglichkeit entstanden, an Werken anderer Künste neue Eigenschaften zu entdecken: So wird in bestimmten Spielfilmen potentiell ein neuer Rhythmus der Montage sichtbar, wie eine neue Choreographie der visuellen Strukturen in bestimmten Werken abstrakter Malerei sichtbar wird. In der Kunstwelt entwickeln sich beständig neue Möglichkeitsräume, in denen nicht allein die Potentiale etablierter künstlerischer Materialien und Verfahrensweisen ausgelotet werden, sondern darüber hinaus neue Materialien und Verfahrensweisen konstituiert werden: Erzählstrategien von Romanen, die vor hundert Jahren in keiner Weise salonfähig gewesen wären, bilden heute ganze Traditionen der Literatur aus; was in der bildenden Kunst vormals nur als Rahmung eines Kunstwerks denkbar war, wird heute zum zentralen Element vieler Kunstwerke; was ehedem nur als eine bloß äußerliche Störung der Musik in den Blick kam, ist heute etwa in Form der Profilierung des Geräuschs als dem Klang gleichberechtigte Kategorie zum Kernbestand musikalischen Materials avanciert. Gesetzt den Fall, ich habe diese Dynamiken am Beispiel der Erfindung des Bebop grundsätzlich überzeugend skizziert, lautet die Frage, die ich im Folgenden klären möchte: Wie müssen die Konturen der einzelnen Künste und wie muss ihr Zusammenhang verstanden werden, damit derartige Dyna-

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miken verständlich werden? Zwar ist mit dieser Fragestellung das Thema des Wandels in der Kunst keineswegs erschöpft – die Frage des Wandels des Kunstbegriffs hätte ebenso wie die Frage nach außerkünstlerischen historischen, normativen, kausalen oder ereignishaften Ausgangspunkten neuer Entwicklungen in der Kunst ausführliche Analysen verdient. Gleichwohl beanspruchen die folgenden Überlegungen eine zentrale Dimension der Logik des Wandels in der Kunst zu rekonstruieren: Wer nach dem Wandel in der Kunst fragt, muss eine Antwort auf die Frage nach der Verfasstheit und dem Zusammenhang der einzelnen Künste parat haben.1 Ich werde meine Antwort auf diese Fragestellung in kritischer Auseinandersetzung mit zwei klassischen Antworten entwickeln: Zum einen Lessings Einteilung der Künste in Raum- und Zeitkünste, zum anderen Hegels Entwurf eines hierarchischen Systems der Künste. Lessing hat in seinem einflussreichen Traktat Laokoon die These vertreten, dass Malerei und Literatur unterschiedliche Möglichkeitsräume hinsichtlich dessen aufweisen, was sie darzustellen und auszudrücken in der Lage sind. Während die Malerei als Nachahmung sichtbarer Körper diese in räumlichen Verhältnissen nebeneinander präsentiert, ist der Gegenstand der Dichtung die Handlung, die im Konsekutiven der Rede präsentiert werden kann. Diese Unterscheidung erweist sich bei Lessing allerdings weniger als eine analytische Unterscheidung, sondern ist letztlich normativ motiviert: Die Spielregeln der einen Kunst lassen sich nicht in eine andere Kunst übertragen, ohne dass dabei ein minderwertiges Kunstwerk produziert würde. Ich fasse die These, dass eine Kunst einen festen Möglichkeitsraum dessen hat, was sie auszudrücken und darzustellen in der Lage ist, und dieser Möglichkeitsraum insofern normative Kraft besitzt, dass er zugleich ermöglicht, zwischen gelungenen und misslungenen Werken dieser Kunst zu unterscheiden, anhand des Schlagworts der Materialspezifität. Wie ich zeigen werde, erweist sich diese These als problematisch. Hegels Theorie eines Systems der Künste, die er in seinen Vorlesungen über die Ästhetik entworfen hat, beerbt einerseits die These der Materialspezifität wie er andererseits auf Probleme von Lessings Vorschlag eine produktive Antwort geben kann. Anders als Lessing denkt er die Künste nicht isoliert voneinander und zeichnet zudem keine transzendentalen Möglichkeitsräume nach, sondern gibt eine historisch-retroaktive Erläuterung ihrer 1 | Ausführlichere Überlegungen zu dieser Frage habe ich angestellt in Daniel M. Feige: Kunst als Selbstverständigung. Paderborn: Mentis 2012 (im Erscheinen).

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zusammenhängenden Entwicklung. Er kann vielleicht als der Theoretiker gelten, der als erster nicht allein eine umfassende Skizze der einzelnen Künste und ihres Zusammenhangs in ihrer gesamten systematischen wie historischen Breite vorgelegt hat, sondern der einen sehr weitreichenden Versuch unternommen hat, den Wandel in der Kunst zu erklären und die Künste dabei in ihrer historischen wie – mit Blick auf das Verhältnis der Künste untereinander – pluralen Dimension zu denken. Gleichwohl kann auch Hegels Antwort nicht das letzte Wort beanspruchen: Die normative Über- beziehungsweise Unterordnung der einzelnen Künste erweist sich als ebenso problematisch, wie das Verhältnis der Künste untereinander nicht hinreichend dynamisch gedacht wird. Meine These ist, dass die Konturen der einzelnen Künste als historisch jeweils spezifische Stillstellungen eines Prozesses verstanden werden müssen, in dem unterschiedliche Materialien und Verfahrensweisen ständig neu erfunden werden und Potentiale etablierter Materialien und Verfahrensweisen immer wieder neu ausgelotet werden. Auf diese Weise zeichnet sich ein heterogener und dynamischer Begriff der einzelnen Künste ab, deren bewegliche Konturen nur verständlich werden, wenn man die komplexen Austauschprozesse im Blick behält, von denen her sich die Künste als individuelle allererst konstituieren.

E IN A NFANG MIT L ESSING Lessings Traktat Laokoon ist für die vorliegende Fragestellung weniger als ein Beitrag zur Interpretation der Laokoon-Gruppe und die kritische Auseinandersetzung mit Winckelmanns Deutung der antiken Kunst von Interesse, sondern weil sich in dem Traktat Grundzüge einer Theorie der Malerei und der Literatur als Exponenten zweier unterschiedlicher Arten von Künsten finden. Dass Lessing dabei auch die bildenden Künste unter den Begriff der Malerei subsumiert, exemplifiziert ebenso den historischen Ort seines Traktats wie die Tatsache,2 dass er Malerei und Literatur als unter2 | Dieter Mersch hält fest, dass »bis ins 18. Jahrhundert die Statue, das ›Standbild‹, dem Bildnis zugerechnet wurde.« Dieter Mersch: »Ästhetischer Augenblick und Gedächtnis der Kunst. Überlegungen zum Verhältnis von Zeit und Bild«, in: Ders. (Hg.): Die Medien der Künste. Beiträge zu einer Theorie des Darstellens. München: Fink 2003, S. 151-176, hier: S. 151.

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schiedliche Arten von Nachahmungen versteht. Obwohl beide Thesen vor der Folie späterer Entwicklungen der Kunst nicht mehr durchzuhalten sind, lässt sich die Subsumtion der bildenden Künste unter die Malerei vor dem Hintergrund von Lessings systematischer These zur Einteilung der Künste verständlich machen: Malerei und bildende Künste gehören zu den Raumkünsten. Für diese ist charakteristisch, dass sie Elemente in einem räumlichen Nebeneinander präsentieren. Lessing schließt von dieser Präsentationsweise auf konstitutive Grenzen dessen, was die betreffenden Künste in der Lage sind auszudrücken: »Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie […][,] nämlich Figuren und Farben in dem Raume […]; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: so können nebeneinander geordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die nebeneinander, oder deren Teile nebeneinander existieren […] [,] ausdrücken«.3 Gegenstand von Skulptur und Malerei sind damit Körper, denn diese sind »Gegenstände, die nebeneinander, oder deren Teile nebeneinander existieren«.4 Demgegenüber zählt Lessing die Literatur zu den Zeitkünsten, die ihre Elemente nicht im räumlichen Nebeneinander, sondern in einem zeitlichen Nacheinander entfalten. Anders als die Malerei kann die Literatur deshalb Handlungen ausdrücken, denn die »artikulierten Töne in der Zeit […] [können als] aufeinanderfolgende Zeichen […] nur Gegenstände ausdrücken, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen«.5 In zugespitzter Form schreibt Lessing deshalb: »Die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers.«6 Die Unterscheidung zwischen Raumkünsten und Zeitkünsten wird dabei nur scheinbar als analytische Unterscheidung zweier Logiken der Gestaltung von Elementen in unterschiedlichen Künsten präsentiert, denn in Wahrheit ist sie eine normative Unterscheidung. Es ist nicht nur so, dass die Raumkünste und Zeitkünste jeweils einen spezifischen Spielraum dessen aufweisen, was sie auszudrücken in der Lage sind, sondern die Raumkünste können bestimmte Sachen besser ausdrücken als die Zeitkünste und umgekehrt. Lessing verwendet viel Raum auf Überlegungen, 3 | Gotthold E. Lessing: Laokoon. Oder: Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Reclam: Stuttgart 1987, S. 114. 4 | Ebd. 5 | Ebd. 6 | Ebd., S. 129.

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die zeigen sollen, dass man zum Scheitern verurteilt ist, wenn man das räumliche Nebeneinander in einer Zeitkunst zu artikulieren versucht, wie man zum Scheitern verurteilt ist, wenn man das zeitliche Nacheinander in einer Raumkunst zu artikulieren versucht.7 Damit rekonstruiert er aber anders als er behauptet gar keine transzendentalen Möglichkeitsräume von Raumkünsten und Zeitkünsten: Mit der These, dass die Möglichkeitsräume der Raumkünste und der Zeitkünste jeweils auch Kriterien für die Gelungenheit beziehungsweise Misslungenheit der betreffenden Werke abgeben, wird die Redeweise von Möglichkeitsräumen nur in einer normativen Lesart verständlich.8 Denn warum sollte man vor der Übertragung der Gestaltungsprinzipien aus einer Art von Künsten auf eine andere Art von Künsten warnen müssen, wenn die eine Art von Künsten doch nur das darstellen kann, was sie darstellen kann? Wenn man warnen muss, handelt es sich nicht um Möglichkeitsräume in einem analytischen Sinne. Ich bezeichne diesen theoretischen Schachzug Lessings als die These der Materialspezifität einer jeden Kunst, die freilich bei ihm mit seiner Unterscheidung zwischen zwei Arten von Künsten ausgesprochen dünn ausfällt: Aus dem Material einer jeden Kunst folgt nicht allein, was in ihr auszudrücken möglich ist, sondern auch, was in ihr auszudrücken angemessen ist. Dass Lessings normative Unterscheidung der Raumkünste und Zeitkünste nicht überzeugend ausfällt, möchte ich nun anhand zweier Kritikpunkte zeigen. Erstens ist offensichtlich, dass Lessings Typologie einige Künste nicht hinreichend berücksichtigen kann. Tanz und Theater lassen sich nicht eindeutig auf eine der beiden Seiten schlagen.9 Wenn aber paradigmatische Künste nur noch als Mischformen aus Raum- und Zeitkünsten rekonstruiert werden können, spricht das eindeutig gegen Lessings Typologie. Dieser Einwand lässt sich allerdings derart kontern, dass man Lessings Typologie nicht so verstehen muss, dass sie für alle Arten von Künsten 7 | Vgl. etwa ebd., S. 98ff. 8 | In seinem Buch Philosophy of the Motion Picture bezeichnet Noël Carroll eine derartige Postion als »Medium Specificity«-These. Vgl. Noël Carroll: The Philosophy of Motion Pictures. Malden/Ma.: Blackwell 2008, S. 35ff. Wenn ich im Folgenden von der These der Materialspezifität spreche, so versuche ich damit das Terrain der Medienphilosophie zu umgehen. 9 | Vgl. in diesem Sinne auch Georg W. Bertram: Kunst. Eine philosophische Einführung. Reclam: Stuttgart 2007, S. 67.

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gilt. Schließlich folgt aus der Tatsache, dass man eine Typologie mit zwei Elementen vorschlägt nicht notwendig, dass es kein drittes Element geben könnte. Mit anderen Worten: Inwieweit Lessings Typologie eine erschöpfende Typologie für die Künste schlechthin darstellt, kann offen bleiben. Wie ein drittes Element oder weitere Elemente allerdings auszusehen hätten, bleibt angesichts von Lessings inhaltlicher Entscheidung für Raumkünste und Zeitkünste eher unklar. Zweitens überzeugt Lessings Typologie letztlich auch nicht für die Künste, die er im Blick hat. Denn das räumliche Nebeneinander der Malerei und Skulptur wird aus der Perspektive der Kunsterfahrung nicht auf einen Schlag erfasst, sondern weist selbst eine jeweils spezifische Zeitlichkeit auf. Viele Gemälde und Skulpturen leiten durch ihre Organisation die Choreographie des temporalen Nachvollzugs in der Wahrnehmung auf sehr strukturierte Weise an. Besonders deutlich wird das Ineinander von temporalen und spatialen Aspekten der Kunstwahrnehmung bei der Architektur, die in Lessings Typologie eindeutig den Raumkünsten zugeschlagen werden müsste.10 Der Nachvollzug des räumlichen Nebeneinanders braucht seine Zeit, wie der Nachvollzug des temporalen Nacheinanders in den meisten Fällen auch seinen Raum braucht.11 Die normative Unterscheidung zwischen Raumkünsten und Zeitkünsten erweist sich somit als problematisch, wenn man sie als Grundlage für eine Einteilung der Künste heranziehen möchte. Daraus folgt, dass die Unterscheidung der Künste auf andere Art und Weise getroffen werden sollte, als die, in der Lessing sie vornimmt. Aber wie genau sollte sie stattdessen getroffen werden? Aus jedem der formulierten Kritikpunkte lässt sich eine Herausforderung für eine angemessene Rekonstruktion der Konturen der einzelnen Künste entnehmen. Erstens denkt Lessing die Künste als zu isoliert voneinander. Der Zusammenhang zwischen Malerei und Literatur bleibt trotz ausführlicher Diskussion der Übertragung von Verfahrensweisen der einen Kunst in die andere Kunst letztlich zu unbestimmt: Lessing zeichnet allein scharfe Demarkationslinien ein, die eine normative Grenze insofern konstituieren, als sie die 10 | Ebd. 11 | Für die Literatur gilt das nur bedingt. In diesem Sinne könnte man vielleicht sagen, dass die Kategorie der Zeit die grundlegende Kategorie ist. Vgl. in diesem Sinne Martin Seel: »Form als eine Organisation der Zeit«, in: Ders.: Die Macht des Erscheinens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 39-55.

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Reinheit der jeweiligen Kunst sicherstellen sollen. Obwohl der hauptsächliche Gegenstand ebenso wie der normative Bezugspunkt des Traktats Werke der Antike sind, hat Lessings Theorie zweitens keine Ressourcen dafür, die historische Dynamik der Künste ernstzunehmen. Diese artikuliert sich darin, dass die Materialien einer Kunst ebenso wie deren Gebrauch keinem überhistorischen Möglichkeitsraum entspringen, sondern historisch in Bewegung sind. Hegels System der Künste kann als eine Theorie gelesen werden, die einerseits Lessings These der Materialspezifität beerbt, andererseits aber versucht, die Künste in ihrem Zusammenhang und ihrer historischen Bewegtheit verständlich zu machen. Auf den Spuren einer unter anderem bei Lessing systematisch entwickelten Figur geht Hegel den damit theoretisch vorgezeichneten Weg gewissermaßen konsequent zu Ende. Deshalb bietet es sich jetzt an, die systematische Weiterentwicklung der bei Lessing entwickelten Motive durch Hegel nachzuvollziehen. Wie ich argumentieren werde, lassen sich aber auf den Bahnen der These der Materialspezifität bestimmte Probleme prinzipiell nicht beheben.

H EGELS S YSTEM DER K ÜNSTE In seinen Vorlesungen über die Ästhetik hat Hegel eine Kunsttheorie entworfen, die sich auf der Landkarte gegenwärtiger kunsttheoretischer Diskussionen derart verorten lässt, dass es sich bei ihr um eine funktionalistische Kunsttheorie handelt.12 Funktionalistische Kunsttheorien müssen sich einerseits zu der Frage verhalten, ob sich eine oder mehrere kunstkonstitutive Funktionen bestimmen lassen oder ob sich hier allein Familienähnlichkeiten oder ein Cluster unterschiedlicher Funktionen ausfindig machen lassen.13 Andererseits müssen sie sich zu der Frage verhalten, auf 12 | Vgl. zum Funktionalismus etwa Bernd Kleimann und Reinold Schmücker (Hg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. Daniel M. Feige, Tilmann Köppe und Gesa zur Nieden (Hg.): Funktionen von Kunst. Frankfurt a.M.: Lang 2009. 13 | Vgl. zur familienähnlichkeitstheoretischen Diskussion von Kunst Morris Weitz: »Die Rolle der Theorie in der Ästhetik«, in: Roland Bluhm und Reinold Schmücker (Hg.): Kunst und Kunstbegriff. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik. Paderborn: Mentis 2002, S. 39-52. Vgl. zur Clustertheorie Berys Gaut: »Kunst als Clusterbegriff«, in: Ebd., S. 140-165.

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welche spezifische Weise Kunst die betreffende Funktion oder die betreffenden Funktionen erfüllt. Hinsichtlich dieser Fragen expliziert Hegel die Funktion von Kunst in Begriffen einer sich am Nachvollzug der sinnlichen Gestalt des Kunstwerks entzündenden reflexiven Selbstverständigung. Die sinnliche Seite der Kunst wird von Hegel dabei als durchgeistigt gedacht, da Kunstwerke nicht wie sonstige ästhetische Phänomene einfach eine irreduzible Konstellation sinnlicher Elemente oder Ereignisse präsentieren, deren Wahrnehmung als um ihrer selbst Willen lohnend erfahren wird. Die Erfahrung von Kunstwerken kann nicht sinnvoll nach dem Vorbild naturästhetischer oder alltagsästhetischer Erfahrungen verstanden werden.14 Kunstwerke sind demgegenüber Gegenstände eines bestimmten Verstehens. Dieses Verstehen kann nicht so erläutert werden, dass die von Kunstwerken ausgedrückten geistigen Gehalte etwa anhand des Vorbilds propositionaler Rede übersetzbar wären. Kunst ist keine attraktive Verpackung für Propositionen. Vielmehr artikulieren Kunstwerke geistige Gehalte derart, dass die Artikulationsweise selbst konstitutiv ist.15 Man kann das mit Hegel so erläutern, dass Kunstwerke Zeichen sind, für deren Bedeutung ihre sinnlich-materiale Gestalt konstitutiv ist. Spricht man von der Funktion, die Kunstwerke für Subjekte erfüllt, so geht es aber nicht so sehr um eine definitorische These in dem Sinne, dass Kunstwerke geistige Gehalte vermittels ihrer Artikulationsweise artikulieren, sondern es geht vielmehr um die Frage, welchen logischen Ort die Kunst in der menschlichen Welt einnimmt. Gemäß Hegels Vorschlag deuten sich Subjekte im Rahmen des Nachvollzugs der Artikulationsweise sinnlich-geistiger Konstellationen selbst. Als kunstinterne Funktionen scheiden für Hegel damit ästhetisch-hedonistische und epistemische Zwecke ebenso wie ethische Zwecke aus, auch wenn Kunstwerke zweifelsohne auch solche Zwecke erfüllen können: Im Nachvollzug der im Medium sinnlicher Gestalt artikulierten Gehalte gewinnen Subjekte Aussichten auf sich selbst. Wir 14 | Vgl. gleichwohl – auch gegen Hegel – kritisch zu jeder Spielart der These, dass sinnliche Eigenschaften für Kunst ein notwendiges Kriterium darstellen Daniel M. Feige: »Zum Verhältnis von Kunsttheorie und Ästhetik: Sinnlichkeit als konstitutive Dimension der Kunst?«, in: Zeitschrift für allgemeine Ästhetik und Kunstwissenschaft 56 (2011), S. 123-142. 15 | Danto hat in diesem Sinne das Bedeuten von Kunstwerken nach dem Vorbild intensionaler Kontexte erläutert. Vgl. Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 272ff.

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treten uns in der Kunst gewissermaßen selbst gegenüber, so dass unser Interesse an der Kunst letztlich ein Interesse an einer reflexiven Auseinandersetzung mit uns selbst ist.16 Die Spezifik künstlerischer Materialien und Verfahrensweisen lässt sich dabei für Hegel nur vor dem Hintergrund historisch-kultureller Lebensformen verständlich machen.17 Vor dem Hintergrund dieser funktionalistischen Theorie hat Hegel eine dem Anspruch nach umfassende Theorie der Kontur wie des Zusammenhangs der einzelnen Künste vorgelegt. Die einzelnen Künste individuiert Hegel anhand des jeweiligen künstlerischen Materials hinsichtlich der Frage, inwieweit dieses Material in der Lage ist, geistige Gehalte auszudrücken. Als Leitkünste schlägt er Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Literatur vor. Die Architektur wird derart bestimmt, dass sie »die schwere und nur nach den Gesetzen der Schwere gestaltbare Materie« bearbeitet,18 wohingegen das Material der Skulptur zwar auch noch die schwere Materie in ihrer räumlichen Totalität ist, in ihr aber, indem sie den menschlichen Körper darstellt, die Lebendigkeit des Geistes dargestellt werden kann. In der Malerei ist das Material der Architektur und Skulptur in dem Sinne verinnerlicht, dass die reale sinnliche Erscheinung – die Anordnung des schweren Materials zu faktischen Gebäuden oder Skulpturen – nun allein vom Kunstwerk repräsentiert wird, das Kunstwerk aber nicht länger diese selbst ist. Die Musik spielt in ihrer temporalen Anordnung von Klängen zugleich die existenzialen Bewegtheiten des Subjekts selbst durch, wohingegen in der Poesie schließlich das Material zur Geistigkeit im Sinne der Vorstellung gereinigt ist. Wie diese Charakterisierungen deutlich machen, gibt es für Hegel nicht allein eine feste Anzahl von Künsten, sondern die Künste stehen seiner Auffassung nach in einem bestimmten, nicht-additiven Verhältnis zueinander: Anhand der Maßgabe, inwieweit die jeweilige Kunst in der Lage ist, geistige Gehalte auszudrücken, erweisen sich die Architektur und die Poesie als Extreme auf gegenüberliegenden Seiten. Sie erweisen sich als 16 | Vgl. etwa Georg W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Band 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 52. 17 | Argumente für diese Auffassung finden sich entwickelt in Hegels Phänomenologie des Geistes. Georg W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. 18 | Georg W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Band 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 259.

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diese Extreme aus gleichermaßen systematischen wie historischen Gründen: Auf der Basis seines retroaktiv-teleologischen Verständnisses von Geschichte, im Rahmen dessen die Geschichte unserer kollektiven reflexiven Selbstverständnisse erzählt wird und im gleichen Atemzug insofern ihre Optimierung behauptet wird, als die Geschichte das bloß zeitliche Auseinander des zu-sich-selbst-kommenden Geistes ist, unterscheidet Hegel drei Kunstformen, d.i.: drei systematisch-historische Verhältnisse von geistigem Gehalt und sinnlicher Gestalt. Er kennzeichnet sie als symbolische, klassische und romantische Kunstform. In der symbolischen Kunstform ist der Gehalt selbst noch unbestimmt, da der Geist historisch auf einer Stufe steht, auf der die Gehalte noch gar keine Klarheit aufweisen. In der klassischen Kunstform, die historisch mit dem antiken Griechenland zusammenfällt, realisiert sich ein spannungsfreies Zusammenspiel von Gehalt und Gestalt. Der Geist steht hier auf einer historischen Stufe, auf der sich reflexive Selbstverständnisse ergeben haben, die ohne Überschuss oder Verlust in sinnlich anschaubaren Gegenständen ausgedrückt werden können. Genauer: Die reflexiven Selbstverständnisse liegen in der Antike allein in Form sinnlich-anschaubarer Gegenstände vor. Hegel sieht hier das Ideal der Kunst realisiert, das über das konfliktfreie Ineinander von Gehalt und Gestalt wie über die Qualität der artikulierten geistigen Gehalte relativ auf den historischen Stand bestimmt wird. Für die dritte Kunstform, die romantische Kunstform, schließlich ist charakteristisch, dass Gehalt und Gestalt jetzt spiegelbildlich zu dem Auseinanderfallen beider Seiten in der symbolischen Kunstform auseinanderfallen: Historisch sind nun Grundverständnisse entstanden, die nicht mehr im Medium sinnlicher Gestalt artikuliert werden können und dergestalt eines anderen Mediums der Artikulation bedürfen: Es ist die Philosophie, die diese Verständnisse auf den Begriff zu bringen vermag und sich in Hegels Augen als das tragende Medium der Selbstverständigung in der Moderne erweist. Hegels Vorschlag hat gegenüber Lessings Einteilung in Raum- und Zeitkünste den Vorzug, dass er dem Material unterschiedlicher Künste deutlich größere Aufmerksamkeit schenkt und zu gehaltvollen Differenzierungen der einzelnen Künste gelangt. Außerdem gibt es im Rahmen seiner Theorie keine transzendentalen Möglichkeitsräume, sondern allein historische Möglichkeitsräume, das heißt Möglichkeitsräume, deren Konturen nur verständlich werden, wenn man die historische Entwicklung unserer Kunstpraktiken nachvollzieht, in deren Rahmen sich bestimmte Gebrauchsweisen künstlerischer Materialien entwickelt haben. Gleich-

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wohl kann auch Hegels Vorschlag letztlich nicht überzeugen, wie ich anhand zweier Kritikpunkte zeigen möchte. Sie lassen sich insgesamt nicht nur darauf zurückführen, dass Hegels Rekonstruktion die historische Dynamik künstlerischer Materialien zu statisch und einheitlich denkt, sondern vor allem darauf, dass es Hegel nur unzureichend gelingt, die historische Dynamik künstlerischer Materialien mit der Frage des Verhältnisses der Künste untereinander in angemessener Weise in Beziehung zu setzen. Erstens werde ich zeigen, dass auch Hegels Fassung der These der Materialspezifität trotz ihrer Überlegenheit gegenüber Lessings Vorschlag vor allem unter historischer Perspektive mit Problemen zu kämpfen hat. Dass Hegel in systematischer Nachfolge von Lessings Individuation der einzelnen Künste steht, lässt sich derart verständlich machen, dass auch Hegel zufolge jede Kunst aufgrund des künstlerischen Materials, das für sie charakteristisch ist, einen festen Radius dessen abzirkelt, was sie in der Lage ist auszudrücken, und zugleich in der jeweiligen Kunst ein Optimum existiert, das im Rahmen dieses Radius getroffen oder verfehlt werden kann. Die Architektur erfüllt ihre Funktion am höchsten in der symbolischen Kunstform, die Skulptur in der klassischen Kunstform und Malerei, Musik und Poesie in der romantischen Kunstform. Zugleich gibt es ein Optimum der verschiedenen Optima, das in der Skulptur als Leitkunst der klassischen Kunstform realisiert ist. Die normative These der Materialspezifität wird von Hegel trotz seines Rekurses auf die historische Entwicklung künstlerischer Materialien nicht verabschiedet, sondern diese historische Entwicklung ist vor dem Hintergrund der jeweiligen Gegenwart allein als Vorbedingung zu lesen, von der her sich so etwas wie Möglichkeitsräume und Optima konstituieren können. Zweitens werde ich Hegels Ausdeutung des Verhältnisses der Künste in Zweifel ziehen. Hegel versteht das System der Künste derart, dass es hierarchisch strukturiert ist: Eine Kunst ist einer anderen Kunst als solcher überlegen oder unterlegen. Trotz der Doppeldeutigkeit, dass einerseits die antike griechische Skulptur als Verkörperung des Ideals der Kunst im Sinne einer Übereinstimmung von geistigem Gehalt und sinnlicher Gestalt und im Sinne einer die antike Kultur konstituierenden Erfüllung der Funktion von Kunst als höchste Kunstform expliziert wird und andererseits die Literatur als höchste Kunstform charakterisiert wird, weil in ihr am besten geistige Gehalte artikuliert werden können, folgt Hegels Rekonstruktion des Systems der Künste einer hierarchischen Logik. Konsequent ausbuchstabiert lautet die These damit, dass es nicht so ist, dass die

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Künste unterschiedliche, aber gleichermaßen lohnende Potentiale für uns bieten, sondern dass sie auch qualitativ unterschiedlich lohnende Potentiale bieten.

Z UR K RITIK DER THESE DER M ATERIALSPEZIFITÄT Die These der Materialspezifität besagt, dass jede Kunst anhand ihres Materials individuiert wird und dass dieses Material – wie auch immer historisch es geworden ist oder wie auch immer es einer überhistorischen transzendentalen Logik folgt – einen festen Spielraum hinsichtlich dessen determiniert, was diese Kunst auszudrücken in der Lage ist. Bestimmte Künste können damit bestimmte Dinge besser ausdrücken als andere Künste. Diese These ist dann eine normative These, wenn sie – wie explizit bei Lessing geschehen – mit einer Warnung einhergeht, dass man das, was eigentlich in einer anderen Kunst ausgedrückt werden müsste, nicht in einer Kunst auszudrücken versucht, die dazu gar nicht in der Lage ist: Wie ich geltend gemacht habe, sind Künste eben doch zur Überschreitung ihres Möglichkeitsraums in der Lage, wenn man vor einer solchen Überschreitung warnen muss. Hegels Fassung der These des Möglichkeitsraums operiert normativ mit der Behauptung eines Optimums hinsichtlich sinnlich-geistiger Konstellationen, die in den Künsten hergestellt werden. Beide Aspekte der These der Materialspezifität – die Behauptung von Optima und die Behauptung von festen Möglichkeitsräumen – möchte ich nacheinander einer Kritik unterziehen. Zunächst also zur These des Optimums in jeder Kunst. Diese These ist deshalb nicht zu rechtfertigen, weil sie verschweigt, dass es in jeder Kunst eine Pluralität unterschiedlicher Gebrauchsweisen künstlerischer Materialien gibt, von der her verschiedene Traditionen und Stile bereits in einer Kunst verständlich werden. Und selbst wenn, wie bereits die einleitenden Anmerkungen zu den Konsequenzen der Erfindung des Bebop deutlich machen, diese Traditionen oder Stile keineswegs gänzlich beziehungslos nebeneinander stehen, können sie dennoch nicht aufeinander reduziert werden. Diese Pluralität wird dann erklärlich, wenn man festhält, dass das künstlerische Material nicht von sich aus eine Richtung seines Gebrauchs vorgibt. Vielmehr lassen künstlerische Materialien immer Raum für unterschiedliche Gebrauchsweisen und sich mitunter widersprechende stilisti-

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sche Entscheidungen.19 Es macht zwar durchaus Sinn zu sagen, dass die Fugen Bachs, die Klaviersonaten Beethovens und die Aufnahmen der Improvisationen Bill Evans allesamt paradigmatische Werke künstlerischer Klaviermusik sind. Es macht aber keinen Sinn zu sagen, dass sie das deshalb sind, weil sie Optima dessen, was das Material der Musik hergibt, treffen. Wenn überhaupt sind sie paradigmatische Fälle künstlerischer Musik, weil sie den Zuhörern unterschiedliche – und im Fall der genannten Werke gleichermaßen lohnende – künstlerische Potentiale bieten und weil sie nicht zuletzt aufgrund ihrer lohnenden künstlerischen Potentiale prägend oder sogar initiierend für künstlerische Traditionen geworden sind.20 Zweitens zur Kritik der These fester Möglichkeitsräume in jeder Kunst. Mit der Zurückweisung der These künstespezifischer Optima ist die These eines festen Möglichkeitsraums in jeder Kunst noch nicht zurückgewiesen. Denn trotz aller Pluralität der Gebrauchsweisen künstlerischer Materialien könnte es ja sein, dass diese Gebrauchsweisen in jeder Kunst einen festen Möglichkeitsraum bespielen. Anders als die These künstespezifischer Optima ist die These fester Möglichkeitsräume in jeder Kunst nicht so einfach von der Hand zu weisen. Denn es scheint offensichtlich, dass künstlerische Filme anderes auf andere Weise ausdrücken können als Literatur oder Musik. Das räumliche Nebeneinander, das Gemälde gestalten, scheint doch etwas anderes zu sein als das zeitliche Nacheinander, das Werke der Literatur gestalten – soviel scheint auf den ersten Blick an Lessings These trotz all ihrer Probleme überzeugend. Die These fester Möglichkeitsräume könnte im Sinne einer nicht normativen, sondern analytischen Explikation der These der Materialspezifität verstanden werden. Es ist allerdings fraglich, ob das möglich ist. Denn so unzweifelhaft es ist, dass in jeder historischen Gegenwart vor dem Hintergrund unterschied19 | Noël Carroll hat diesen Gedanken überzeugend für Fragen der Definition des Films ausbuchstabiert. Vgl. Noël Carroll: »Auf dem Weg zu einer Ontologie des bewegten Bildes«, in: Dimitri Liebsch (Hg.): Philosophie des Films: Grundlagentexte. Paderborn: Mentis 2005, S. 155-176. 20 | Gadamer hat derartig verbindliche Werke anhand des Begriffs des Klassischen charakterisiert, der die betreffenden Werke trotz des faktischen historischen Abstandes aufgrund ihrer lohnenden Potentiale in Begriffen einer Zeitgenossenschaft expliziert. Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck 1990, S. 290ff.

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licher Traditionen und Stile in verschiedenen Künsten nicht alles in jeder Kunst artikuliert werden kann oder zumindest nicht alles in jeder Kunst auf gleiche Weise artikuliert werden kann, so unzweifelhaft ist es doch auch, dass diese analytische Lesart der These der Materialspezifität letztlich die historische Dynamik einer jeden Kunst übergeht. Sie ist in guter Gesellschaft von Hegels Verständnis der Geschichte der Künste, denn auch dieses ist einem viel zu statischen Begriff des Wandels in den einzelnen Künsten verpflichtet. Die These fester Möglichkeitsräume denkt die Künste auch dann zu statisch, wenn sie mit Hegel von einer historischen Entwicklung als Vorbedingung derselben ausgeht. Die Geschichte der Entwicklung der einzelnen Künste muss auf profiliertere Weise in den Blick kommen, als dies Hegel gelingt. Das bedeutet aber letztlich, dass sie auf ganz andere Weise in den Blick kommen muss. Anders als Hegel glaubt, sind die Künste dynamisch durch und durch. Künstlerische Traditionen und Stile sind nämlich nicht allein stabilisierende Faktoren, sondern vor ihrem Hintergrund werden immer wieder mitunter radikale Umgestaltungen in dem Sinne sichtbar, dass die Materialien einer Kunst selbst sich verändern. Von den Skulpturen Berninis, Rodins und Beuys’ kann gegenüber den Skulpturen des antiken Griechenlands nicht gesagt werden, dass sie sich im gleichen Register des Möglichen bewegen: Von dergestalt in ihrer Zeit neuartigen und sich heute als maßgeblich etablierten Kunstwerken in einer bestimmten Kunst muss vielmehr gesagt werden, dass sie neue Dimensionen des künstlerischen Materials erschließen und in diesem Sinne das, was zum Material einer Kunst gehört, in grundsätzlicher Weise verwandeln. Künstlerische Materialien sind keine »Naturmaterial[ien]«,21 sondern historisch-kulturell geformte Materialien durch und durch, und müssen in diesem Sinne von heterogenen Traditionen ihres Gebrauchs her verstanden werden, die in der Praxis zugrunde gelegte – und dabei freilich revidierbare – Entscheidungen darüber beinhalten, welche Eigenschaften des Materials künstlerisch relevant sind und welche nicht. Noch einmal: An dem Gedanken des Möglichkeitsraums einer jeden Kunst ist zweifelsohne überzeugend, dass auf jedem historischen Stand der Kunstwelt Möglichkeiten zusammen mit Unmöglichkeiten hinsichtlich der Potentiale der Materialien in unterschiedlichen Traditionen und Stilen einer jeden Kunst vorliegen. Gleichwohl erweisen sich die Materialien jeder Kunst unter historischer Pers21 | Vgl. in diesem Sinne Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 223.

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pektive auch dann als dynamisch, wenn nicht zuletzt die stabilisierenden Momente in Form von Weichenstellungen in bestimmten künstlerischen Traditionen im Vorhinein bestimmte Möglichkeiten verunmöglichen oder ermöglichen. Hegel übersieht somit trotz der Vielzahl historischer Werke, die in seinen Vorlesungen über die Ästhetik diskutiert werden, dass neue Gebrauchsweisen dieser Materialien das Material einer Kunst selbst mitunter radikal umgestalten können und zugleich die Ausdrucksmöglichkeiten dieser Kunst nachhaltig verwandeln. Die Dynamik künstlerischer Materialien ist allerdings keineswegs auf den Fall eingeschränkt, in dem in einem handgreiflichen Sinne neue Materialien in die Kunst eingeführt werden – wie etwa für den Fall der Entdeckung des Geräuschs als gleichberechtigt zum Klang in der neuen Musik, die nicht einfach als eine bloße Erweiterung bestehender Materialien rekonstruiert werden kann, sondern vielmehr als Transformation dieser Materialien verstanden werden muss. Die Dynamik künstlerischer Materialien artikuliert sich ebenso in dem Fall, in dem neue Aspekte der Materialien einer Kunst entdeckt werden. Man kann hier etwa an die Kompositionen Richard Wagners denken, in denen die Klangfarbe zum relevanten Aspekt des musikalischen Materials wird, oder eben an die Erfindung des Modern Jazz, durch die vormals nicht denkbare Möglichkeiten einer durchgehaltenen Spannung des musikalischen Rhythmus möglich werden. Da künstlerische Materialien keine Naturmaterialien sind und sie in Traditionen ihres Gebrauchs etabliert werden, muss auch für den Fall, dass am Material durch Werke, Stile oder Genres neue Eigenschaften entdeckt werden, von einer Transformation gesprochen werden: Entdeckung und Erfindung gehen hier Hand in Hand; nicht allein in dem Fall, in welchem neue Materialien auf handgreifliche Weise in eine Kunst eingeführt werden, handelt es sich um eine Transformation, sondern auch in dem Fall werden neue Materialien entdeckt, in dem an bestehenden Materialien neue Aspekte thematisch werden: Sie sind nicht mehr das, was sie vormals waren. Die Etablierung neuer Materialien oder die Entdeckung von Eigenschaften etablierter Materialien lassen die historisch gewordene Kunstwelt nicht als statischen Hintergrund dieser Entwicklungen sichtbar werden, sondern diese Entwicklungen tragen sich vielmehr auch in die historisch etablierte Kunstwelt ein: Retroaktiv werden durch diese Erfindungen und Entdeckungen historisch vorangehende Kunstwerke ebenfalls hinsichtlich ihrer konstitutiven Eigenschaften transformiert. Unter dem Gedanken der retroaktiven Transformation ist zu verstehen, dass sich auch historisch frühere

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Dimensionen von Lebensformen durch historisch spätere Aspekte von Lebensformen verändern können. Es ist ein Gedanke, der sich wiederum von Hegel her verständlich machen lässt: Im Rahmen von Hegels Konzeption historischer Lebensformen wird die jeweils spätere Lebensform sich als eine solche erwiesen haben, die Widersprüche der jeweils früheren Lebensform überwunden hat. Wichtig ist es festzuhalten, dass diese Form der Transformation nichts mit einer im Rahmen von Dantos analytischer Geschichtsphilosophie als prophetisch bezeichneten Position zu tun hat:22 Aus der Perspektive der früheren Lebensform lässt sich keine Entwicklung hin zu der späteren Lebensform vorhersagen. Erst aus der Perspektive der jeweils späteren Lebensform wird sich die frühere Lebensform als eine solche erwiesen haben, deren Widersprüche offen zu Tage getreten und im Rahmen der jeweils späteren ausgesöhnt worden sind. Bei der These retroaktiver Transformationen handelt es sich also nicht um ein kontraintuitives anachronistisches Denken, sondern sie trägt vielmehr der Tatsache Rechnung, dass Objekte und Ereignisse der menschlichen Welt historisch immer wieder Gegenstand von Neuinterpretationen aus der Perspektive späterer Sinnhorizonte sind. Anders als Hegel behauptet, muss man diese Dynamik dabei nicht in einer retroaktiv-teleologischen Weise erläutern, sondern man kann sie auch so erläutern, dass sie ohne einen Endpunkt auskommt. Arthur C. Danto hat in seinem einflussreichen Aufsatz The Artworld retroaktive Transformationen in der Kunstwelt so beschrieben,23 dass durch die Erfindung von Kunstwerken, die an ihrem Material eine neue Eigenschaft F entdecken, die bestehenden Kunstwerke sich als solche erwiesen haben werden, die hinsichtlich dieser Eigenschaft non-F sind. Er denkt diese Retroaktion dabei als Anreicherung, lässt allerdings aufgrund seines hypothetischen Intentionalismus, demzufolge das Kunstwerk einer »Entäußerung des Künstlerbewußtseins« insofern gleicht,24 als ein Kunstwerk immer auch die Sichtweise seines Schöpfers verkörpert, folgende Tatsache unterthematisiert: Kunstwerke können auch Eigenschaften verlieren und auch an früheren Kunstwerken können durch die Erfindung neuer Materialien oder durch die Entdeckung neuer Eigenschaften von Materialien 22 | Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. 23 | Arthur C. Danto: »The Artworld«, in: The Journal of Philosophy 61 (1964), S. 571-584. 24 | Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, S. 251.

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durch historisch spätere Kunstwerke neue Eigenschaften entdeckt werden. Diese Überlegung wird dann plausibel, wenn man sich unter Rekurs auf Hegels funktionalistische Bestimmung der Kunst der historistischen Intuition entledigt, dass die Bedeutung eines Kunstwerks auf den Kontext seiner Entstehung reduziert werden kann.25 Diese Überlegungen sollen zeigen, dass die These der Materialspezifität insgesamt nicht durchzuhalten ist. Während die erste Unterthese – die These künstespezifischer Optima – sich unter Rekurs auf die Pluralität der Gebrauchsweisen künstlerischer Materialien in unterschiedlichen Traditionen und Stilen bereits innerhalb jeder einzelnen Kunst zurückweisen lässt, erweist sich die zweite Unterthese – die These eines spezifischen Möglichkeitsraums einer jeden Kunst – als auf mindestens einem Auge blind: Sie lässt sich mit Verweis auf die vielfältigen historischen Dynamiken der künstlerischen Materialien zurückweisen, von denen ich Erfindung, Entdeckung und retroaktive Transformation genannt habe. Mit diesen drei Momenten ist bereits ein erster Schritt für eine angemessene Rekonstruktion des Wandels in der Kunst geleistet. Aber nur ein erster Schritt, denn eine Rekonstruktion der Logik des Wandels in der Kunst bleibt solange unzureichend, wie es ihr nicht gelingt, diese Dynamik des Materials mit dem Zusammenhang der Künste in Beziehung zu bringen. Bislang erweisen sich die Künste im Rahmen meiner Überlegungen zwar nicht mehr als zu homogen und zu statisch. Sie erweisen sich aber noch als zu unverbunden miteinander.

Z UR K RITIK DER THESE DER HIER ARCHISCHEN S TRUK TUR DES S YSTEMS DER K ÜNSTE Wie wir gesehen haben, geht bei Hegel mit der These der Materialspezifität die These einer hierarchischen Unter- beziehungsweise Überordnung der einzelnen Künste einher, auch wenn einerseits die Skulptur, andererseits die Poesie als höchste Kunst profiliert wird. Diese These ist allerdings in verschiedenen Hinsichten problematisch. Anders als Hegel glaubt, stehen 25 | Dieses Argument lässt sich vor allem ausgehend von Gadamers Hermeneutik der Vermittlung begründen. Hans Georg Gadamers philosophische Hermeneutik kann insgesamt als ein Projekt gelesen werden, dass in der Nachfolge Hegels dem Historismus auf diese Weise insgesamt eine Absage erteilt.

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die Künste in keinem Verhältnis einer normativen Über- oder Unterordnung zueinander. Hegel übergeht die vielfältigen Beziehungen zwischen den Künsten. Theodor W. Adorno hat in seinem Text Die Kunst und die Künste im Sinne einer Ausbuchstabierung dieser vielfältigen Beziehungen zwischen den Künsten in einflussreicher Weise die These einer Verfransung der Demarkationslinien der unterschiedlichen Künste geprägt.26 Er hat hierin vor allem eine starke Tendenz seiner Gegenwart erkannt, auch wenn er einräumt, dass die vielfältigen Bezüge der Künste untereinander keineswegs Produkt allein des 20. Jahrhunderts sind. So aufschlussreich das Theorem einer Verfransung der Künste auf den ersten Blick auch scheinen mag, so ist es doch nicht hinreichend. Der marginalere Kritikpunkt besteht darin, dass diese Diagnose keineswegs für alle Werke aller Künste zutrifft. Man muss also spezifizieren, welche Arten des Zusammenhangs zwischen welchen Werken, Stilen und Genres unterschiedlicher Künste bestehen. Der weniger marginale Kritikpunkt ist allerdings, dass es fraglich ist, ob das Verhältnis der Künste untereinander sinnvoll in Begriffen einer Logik der Verfransung aufgeklärt werden kann. Denn Verfransung setzt schon begrifflich faktische Grenzen voraus, an denen dann Zonen der Überlappung und Ununterscheidbarkeit auftreten. Ich möchte demgegenüber den Vorschlag machen, das Ineinander der Künste in einem stärkeren Sinne zu deuten: Die Konturierung der einzelnen Künste ist so zu verstehen, dass es sich bei Künsten um spezifische Ausdifferenzierungen handelt, die einem gemeinsamen Raum entspringen. Diesen Raum der Künste möchte ich anhand dreier Dimensionen kurz explizieren: Erstens im Sinne einer Übertragung von Verfahrensweisen der einen Kunst in die andere. Zweitens im Sinne einer Deutung von Werken oder Stilen einer Kunst unter Rekurs auf Prädikate, die scheinbar in einer anderen Kunst ihren angestammten Platz haben. Drittens schließlich im Sinne von Verfahrensweisen, die künsteübergreifend sind. Die Tatsache, dass die Künste in vielfältigen, nicht-äußerlichen Beziehungen zueinander stehen, artikuliert sich erstens darin, dass in jeder Kunst Verfahrensweisen anderer Künste aufgegriffen werden. Zwar gilt das nicht für alle Werke einer Kunst, aber es handelt sich bei den Werken, die in konstitutiver Weise mit Verfahrensweisen anderer Künste be26 | Theodor W. Adorno: »Die Kunst und die Künste«, in: Ders.: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 168-192.

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ziehungsweise genauer: Verfahrensweisen, die immer aus spezifischen Stilen, Traditionen o.ä. anderer Künste stammen, operieren, keineswegs um exotische Sonderfälle. Das episodenhaft-perspektivische Erzählen in Robert Altmans Short Cuts ist auch an spezifisch literarischen Verfahrensweisen geschult. Greenaways Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber wäre ebensowenig verständlich wie Wong Kar-Wais In the Mood for Love, wenn man die Übertragung vor allem von Farbgebungen im einen und Bildaufteilungen im anderen Fall, die sich bestimmter Stile der Malerei verdanken, übersieht. Nicht selten ist selbst die Ausbildung zur Produktion bestimmter Kunstwerke anhand von Verfahrensweisen anderer Künste geschult: Die Struktur eines Jazzsolos wird in der Unterrichtssituation hinsichtlich der Etablierung und Variation von Themen wie auch des Gebrauchs von Pausen häufig anhand der narrativen Konstruktion einer Geschichte wie auch der gestischen Choreographie des Vortragsstils literarischer Texte erläutert. Das bedeutet zwar nicht, dass jedes Kunstwerk einer Kunst so beschrieben werden sollte, dass jedes Kunstwerk notwendigerweise mit Verfahren aller Künste operieren würde. Es bedeutet aber sehr wohl, dass wir viele Werke unterschiedlicher Künste nicht mehr angemessen verstehen können, wenn wir ihren Rückgriff auf Verfahrensweisen anderer Künste ignorieren. Zweitens artikuliert sich das konstitutive Ineinander der verschiedenen Künste in der Tatsache, dass es zum Verständnis vieler Kunstwerke notwendig ist, auf Prädikate zurückzugreifen, die auf den ersten Blick eher der Charakterisierung einer anderen Kunst zu entstammen scheinen. So lassen sich etwa Prädikate, die aus dem Kontext einer Charakterisierung der Musik stammen, verständlich auf verschiedene Arten von Literatur anwenden: Eichendorffs Gedichte können zutreffend anhand klanglicher und rhythmischer Beschreibungen charakterisiert werden, die Prosa Thomas Bernhards lässt sich auch anhand der Beschreibung musikalischer Themenverläufe und Formen charakterisieren. Bewegt ist nicht nur ein Actionfilm wie Crank, sondern bewegt – in dem Sinne, dass es diese Eigenschaft im Sinne Goodmans metaphorisch exemplifiziert –27 ist auch Pollocks Number 18. Diese Charakterisierungen sind keiner nur projizierenden Übertragung von Beschreibungen einer Kunst auf eine andere geschuldet, denn die meis27 | Vgl. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 59ff. Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 76ff.

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ten Kunstwerke können wir nicht angemessen verstehen, wenn wir nicht auf Beschreibungen aus anderen Künsten zurückgreifen. Der im Zusammenhang mit der normativen Materialspezifitätsthese diskutierte Punkt, dass der Wandel in der Kunst auch die Erfindung neuer Materialien und die Entdeckung neuer Aspekte etablierter Materialien und die Wirkungen derartiger Erfindungen und Entdeckungen auch im Sinne einer retroaktiven Logik betrifft, lässt sich im Lichte der anhand geteilter Verfahrensweisen und identischer Prädikate ausgewiesenen Überlegungen zum Verhältnis der Künste dialektisch derart generalisieren, dass er letztlich die vielfältigen nicht-äußerlichen Relationen der Künste untereinander betrifft. So werden etwa durch die Entdeckung neuer Dimensionen der Materialien oder die Erfindung neuer Materialien der Musik auch an anderen Künsten Aspekte ihrer Materialien thematisch. Wichtig ist es festzuhalten, dass diese Dynamik zwar künsteübergreifend ist, aber immer spezifische Relationen zwischen Werken, Stilen, Genres und Traditionen zu anderen Werken, Stilen, Genres und Traditionen betrifft. Die retroaktive Logik entzündet sich selbst an der Erfindung einer neuen Kunst – durch die Etablierung des Kinos als eigenständiger Kunstform sind wir potentiell in die Lage versetzt, auch an Theateraufführungen, Bildern und Musikstücken neue Aspekte zu entdecken, aber das – im Sinne einer Zurückweisung einer Spielart der Theorie ästhetischer Einstellung – keineswegs an allen Theateraufführungen, Bildern und Musikstücken. Noch in einem dritten Sinne lässt sich der Zusammenhang der Künste denken. Es gibt nämlich eine Reihe von Verfahrensweisen, die in dominanter Weise künsteübergreifend zum Tragen kommen und in der jeweiligen Kunst ihre spezifische Ausformung erhalten. Zu denken ist hier etwa an die Narrativität, die allein genealogisch der Literatur enstammt und heute etwa im künstlerischen Spielfilm eine ebenso prägende Rolle spielt. Ebenso lässt sich an die Arbeit mit spezifischen Ästhetiken des Dokumentarischen denken, das nicht allein in Fotografien und Filmen zum Tragen kommt, sondern auch in bestimmten Arten von Bildern oder literarischen Texten. Bei derartigen Verfahrensweisen mag es sich historisch um Migrationsbewegungen dominanter Verfahrensweisen aus einzelnen Künsten in andere handeln – wir können aber jenseits dieser genealogischen Perspektive viele Werke unterschiedlicher Künste nicht angemessen verstehen, ohne diese künsteübergreifenden und in bestimmten Künsten dominanten Verfahrensweisen angemessen zu würdigen. Im Sinne dieser Überlegungen erweist sich der Raum der Künste immer schon als Raum, den wir nur verständlich machen können, wenn wir

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die vielfältigen Relationen der Künste untereinander im Blick behalten: Übertragung von Verfahrensweisen, ein geteilter Raum kunstästhetischer Prädikate und künsteübergreifende Verfahrensweisen.

K ONSEQUENZEN Ich komme zum Schluss, möchte die Diskussion noch einmal rekapitulieren und zugleich einige generelle Konsequenzen aus dem Gesagten für die Frage nach dem Wandel in der Kunst ziehen. Wie sich gezeigt hat, erweisen sich die Theoreme der Materialspezifität und der hierarchischen Struktur des Systems der Künste als problematisch, da sie die Dynamik künstlerischer Materialien und die Beziehungen der Künste untereinander nicht angemessen denken können. Die These der Optima der Künste oder des Optimums der Kunst schlechthin übersieht die Heterogenität bereits der einzelnen Künste. Diese wiederum hat ihren Grund in der Dynamik der künstlerischen Materialien selbst, die in einer vorhandenheitstheoretischen Deutung unzureichend verstanden bleiben: Sie nimmt ihren Ausgangspunkt von Erfindung, Entdeckung und retroaktiver Transformation. Diese Dynamik künstlerischer Materialien wird erst dann verständlich, wenn man sie vom Verhältnis der Künste her denkt: Übertragung von Verfahrensweisen, identische Prädikate zur Charakterisierung unterschiedlicher Künste und geteilte Verfahrensweisen in verschiedenen Künsten. Was sich dergestalt abzeichnet, ist ein Raum, von dem her die Künste sich konstituieren – aber ein Raum, der nicht länger in Begriffen eines Möglichkeitsraums beschrieben werden kann. Lessings und Hegels These von Möglichkeitsräumen der einzelnen Künste hat dann ihr Recht, wenn man für die Gegenwart den Versuch unternimmt, Formen und Spezifika, Möglichkeiten und Grenzen einzelner Künste aufzuklären. Sie erweist sich unter historischer Perspektive aber als problematisch, da die Künste nicht allein intern vielstimmig sind, sondern gewissermaßen kristalline Stillstellungen von einem in Wahrheit dynamischen Prozess sind. Fragt man nach dem Wandel in der Kunst, so stellt sich nicht allein die Frage nach einer retroaktiven Dynamik desselben, sondern auch die Frage nach dem projektiven Wandel in der Kunst. Dieser lässt sich vor dem Hintergrund des Gesagten so erläutern, dass Innovationen in der Kunst, die niemals mechanisch aus der bestehenden Kunstwelt ableitbar sind und hinsichtlich dieser immer ein produktives Moment von Kontin-

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genz aufweisen, sich selbst wiederum als Festlegungen von Retroaktionsketten erwiesen haben werden. Retroaktion und Projektion gehen Hand in Hand: Der Bebop, der spezifische Wandlungen in der Tradition des Jazz, in anderen Traditionen künstlerischer Musik wie auch in anderen Künsten gezeitigt hat, erweist sich somit als künstlerische Festlegung, die sich retroaktiv wiederum als Möglichkeiten ermöglichend gezeigt haben wird. Anders als Lessing glaubt, gehorcht diese retroaktiv-projektive Logik der Künste keinen transzendentalen Möglichkeitsräumen; anders als Hegel und Adorno glauben, folgt sie ebensowenig einem teleologischen oder negativistischen Gradienten. In ihr artikuliert sich die Heterogenität ebenso wie die historische Dynamik der in vielfältigen Relationen zueinander stehenden Künste, die als historisch jeweils bestimmte erst aus einem im Wandel begriffenen Raum hervorgehen.

L ITER ATUR Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973. Theodor W. Adorno: »Die Kunst und die Künste«, in: Ders.: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 168-192. Georg W. Bertram: Kunst. Eine philosophische Einführung. Reclam: Stuttgart 2007. Noël Carroll: »Auf dem Weg zu einer Ontologie des bewegten Bildes«, in: Dimitri Liebsch (Hg.): Philosophie des Films: Grundlagentexte. Paderborn: Mentis 2005, S. 155-176. Noël Carroll: The Philosophy of Motion Pictures. Malden/Ma.: Blackwell 2008. Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Arthur C. Danto: »The Artworld«, in: The Journal of Philosophy 61 (1964), S. 571-584. Daniel M. Feige: Kunst als Selbstverständigung. Paderborn: Mentis 2012 (im Erscheinen). Daniel M. Feige: »Zum Verhältnis von Kunsttheorie und Ästhetik: Sinnlichkeit als konstitutive Dimension der Kunst?«, in: Zeitschrift für allgemeine Ästhetik und Kunstwissenschaft 56 (2011), S. 123-142.

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Daniel M. Feige, Tilmann Köppe und Gesa zur Nieden (Hg.): Funktionen von Kunst. Frankfurt a.M.: Lang 2009. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck 1990. Berys Gaut: »Kunst als Clusterbegriff«, in: Roland Bluhm und Reinold Schmücker (Hg.): Kunst und Kunstbegriff. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik. Paderborn: Mentis 2002, S. 140-165. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Georg W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Georg W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Band 1-3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Bernd Kleimann und Reinold Schmücker (Hg.): Wozu Kunst? Die Frage nach ihrer Funktion. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. Gotthold E. Lessing: Laokoon. Oder: Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Reclam: Stuttgart 1987. Dieter Mersch: »Ästhetischer Augenblick und Gedächtnis der Kunst. Überlegungen zum Verhältnis von Zeit und Bild«, in: Ders. (Hg.): Die Medien der Künste. Beiträge zu einer Theorie des Darstellens. München: Fink 2003, S. 151-176. Martin Seel: »Form als eine Organisation der Zeit«, in: Ders.: Die Macht des Erscheinens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 39-55. Morris Weitz: »Die Rolle der Theorie in der Ästhetik«, in: Roland Bluhm und Reinold Schmücker (Hg.): Kunst und Kunstbegriff. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik. Paderborn: Mentis 2002, S. 39-52.

The Man Who Shot Liberty Valance oder Von der Undurchsichtigkeit normativen Wandels Martin Seel

1. Wie nicht wenige andere Western behandelt der Film The Man Who Shot Liberty Valance von John Ford (USA 1962) den Wandel von einem mehr oder weniger rechtlosen Zustand, in dem das Gesetz des Stärkeren gilt, zu dem einer staatlichen Ordnung, in der alle vor dem Gesetz mehr oder weniger gleich sind. Der Prozess der sozialen und politischen Transformation vollzieht sich in der Erzählung dieses Films weder monokausal noch eindeutig intentional. Er wird vielmehr auf höchst verschiedene Weisen erklärt und gerechtfertigt. Seine Antriebe sind Leidenschaft und Selbsttäuschung, Argument und Einsicht, der Konflikt zwischen Mehrheits- und Minderheitsinteressen, der Gang der technischen Entwicklung, sowie der Einsatz von Gewalt. Was am Beispiel des Schicksals der Bewohner eines fiktiven Städtchens im nordamerikanischen Westen vorgeführt wird, weist aber zugleich über den historischen Ort der erzählten Geschichte hinaus. Es verweist auf die Undurchsichtigkeit und Zweideutigkeit von Prozessen normativen Wandels auch und gerade dort, wo sich diese im kollektiven Bewusstsein als Erfolgsgeschichten sedimentiert haben. John Ford nimmt in The Man Who Shot Liberty Valance die Thematik eines anderen seiner frühen Spätwestern wieder auf. In The Searchers aus dem Jahr 1956 verkörpert John Wayne in der Figur des Ethan Edwards den Vertreter einer rächenden Gewalt, der sich im letzten Augenblick seiner jahrelangen Suche nach seiner von Komantschen – ihrerseits aus Rache – verschleppten Nichte zu zivilisatorischen Standards bekehrt, bevor er in der Schlusseinstellung des Films bildlich aus dem Bezirk einer befriedeten Bürgergemeinschaft ausgeschlossen wird. Nachdem die rettende Tat mit

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grausamer Gewalt vollbracht ist, gibt es für den Typus des Westernhelden in der sozialen Welt nicht länger einen Platz.1 Auf diese Konstellation nimmt Ford mit dem späteren, in Schwarz-Weiß gehaltenen Film einen dreifachen – und dreifach melancholischen – Rückblick: auf die historische Zeit der Erschließung des amerikanischen Westens, auf die heroische Zeit des filmischen Western-Genres, und mit ihr auf das eigene Werk. The Man Who Shot Liberty Valance handelt nicht nur von einem signifikanten Umkehrpunkt der US-amerikanischen Geschichte, er handelt auch von dem Gestus des künstlerischen Genres, in dem dieser Umbruch vielfach ausgeleuchtet wurde. Er leistet dies in Gestalt eines in fremdes Terrain verlegten Film Noir, der die dunklen Seiten der Geschichte eher hell und ihre hellen eher dunkel erscheinen lässt. Ich gebe zunächst einen groben Überblick über das Geschehen, löse dann aber die chronologische Ordnung des Films auf, um die in ihm inszenierte Intransparenz der Wirkkräfte normativen Wandels sichtbar werden zu lassen.

2. Die zentrale Handlung des Films steuert auf ein entscheidendes Ereignis und dessen Folgen zu. Ransom Stoddard (James Stewart), ein junger idealistischer Anwalt, begibt sich in den Westen, um dort sein Glück zu machen. Auf seiner Reise mit der Postkutsche wird diese von dem Banditen Liberty Valance (Lee Marvin) und seiner Gang überfallen und ausgeraubt. Weil er eine mitreisende Frau zu schützen versucht, wird Stoddard von Valance zusammengeschlagen. Der wehrhafte Rancher Tom Doniphon (John Wayne) findet ihn und bringt ihn in das Städtchen Shinbone zu der Gastwirtschaft der Familie Ericson. Auf deren Tochter Hallie (Vera Miles) hat Doniphon seit längerem ein Auge geworfen. Er will sie aber erst heiraten, wenn der Anbau seines Farmhauses fertiggestellt ist. Unterdessen erholt sich Stoddard und verdient sich Kost und Logis in der Küche sowie als Aushilfskellner der Ericsons. Gleichzeitig lässt er nicht davon ab, als Anwalt gegen den in seinen Augen unzivilisierten Glauben an das Recht des Stärkeren zu kämpfen, das die Sitten in der Gemeinde prägt, woraus sich 1 | Vgl. Martin Seel: »Ethan Edwards und einige seiner Verwandten«, in: Merkur 63 (2009), S. 954-964.

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Konflikte sowohl mit Tom Doniphon als auch erneut mit Liberty Valance ergeben. Zugleich bringt er Hallie Lesen und Schreiben bei und gründet eine Schule. Einen Verbündeten findet Ransom Stoddard in Dutton Peabody (Edmond O’Brien), dem Herausgeber und alleinigen Autor der Zeitung Shinbone Star. Im Zuge der bevorstehenden Wahl eines Delegierten, der in Washington das Interesse der Region vertreten soll, eskaliert ein politischer Konflikt, der das Land nördlich und südlich des Picket Wire River spaltet. Zwei Parteien stehen sich unversöhnlich gegenüber: diejenige der Viehbarone, die den vergleichsweise Hobbesianischen Naturzustand eines offenen Territoriums erhalten wollen, in dem sie nach Belieben schalten und walten können – und diejenige der kleinen Farmer und Geschäftsleute, die für die Gründung eines weiteren Bundesstaates votieren, in dem nach gleichem Recht für alle verfahren würde. Die Viehbarone verpflichten Liberty Valance und seine Bande, um die Bewohner von Shinbone zu terrorisieren, damit sie es nicht wagen, ihre eigenen Interessen zu vertreten. Dank des Engagements von Stoddard, dem Doniphon und sein schwarzer Gehilfe Pompey (Woody Strode) schützend zur Seite stehen, scheitert der Versuch von Liberty Valance, sich selbst als Abgesandter für die entscheidende Versammlung in Capitol City, der Hauptstadt der Region, aufstellen zu lassen. Doch Valance gibt keine Ruhe. Empört über seinen brutalen Überfall auf die Redaktion des Shinbone Star, fordert Stoddard Valance zum Duell, da er – in diametralem Gegensatz zu seinen anfänglichen Überzeugungen – zu dem Schluss gekommen ist, dass nur Gewalt das Gesetz der Gewalt brechen kann. Zur allgemeinen Verblüffung erschießt Stoddard den Banditen – so scheint es jedenfalls. In Wahrheit jedoch war es Tom Doniphon, der Valance aus dem Hinterhalt erschossen und damit die Stadt von seiner Schreckensherrschaft befreit hat. Als Doniphon daraufhin den verletzten Stoddard in den Armen von Hallie sieht, muss er erkennen, dass er die junge Frau an den zwar unbeholfenen, aber couragierten und gebildeten Mann aus dem Osten verloren hat. Tom betrinkt sich und setzt im Rausch den für Hallie errichteten Anbau seines Hauses in Brand. Gegen Ende des Films tobt auf der Wahlversammlung in Capitol City eine erbitterte Redeschlacht. Stoddard wird von seiner Partei als Kandidat aufgestellt. Als er, erschüttert von den Vorwürfen der Gegenseite, er sei ein feiger Mörder, den Raum in der Absicht verlässt, wieder zurück in den Osten zu gehen, hält Tom ihn auf und eröffnet ihm, dass er, Doniphon, es war, der Liberty Valance erschossen hat. Unter dem Jubel seiner Anhänger kehrt Stoddard daraufhin in die Versammlung zurück, während Doniphon unbeachtet den Ort verlässt.

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Diese zentrale Handlung wird innerhalb einer Rahmenerzählung vorgestellt, die weniger als ein Fünftel des gesamten Films umfasst. Stoddard hat mittlerweile eine große politische Karriere gemacht. Zusammen mit seiner Frau Hallie kommt er viele Jahre nach dem Tod von Liberty Valance überraschend nach Shinbone, da er von dem ehemaligen Marshal Link Appleyard (Andy Devine) über den Tod Tom Doniphons informiert worden ist. Auf dem Weg zum Bestatter wird er von einem Reporter des Shinbone Star abgefangen, der zusammen mit seinem Chef den berühmten Mann um ein Interview bittet. Stoddard willigt ein und klärt seine Zuhörer nach einigem Drängen des Herausgebers darüber auf, was seinerzeit vorgefallen ist. Obwohl es sich hierbei formal um Stoddards Erzählung handelt, wird die Hauptgeschichte selbst in einem durchweg objektiven Gestus erzählt. Dargeboten wird nicht die subjektive Version des Senators, sondern ein in wertender Hinsicht neutraler Rückblick darauf, wie es den verschiedenen Protagonisten in der damaligen Situation erging. Diese Chronologie der Ereignisse wird von Stoddards eigenen Worten lediglich eingerahmt. Erst nach ihrem Ende kommt der Erzähler selbst wieder zu Wort. Er lässt seinen Bericht in eine Rekapitulation des Erfolgs sowohl seiner ursprünglichen Agenda als auch seiner selbst münden. »Well, you know the rest of it. I went to Washington, we won statehood, I became the first governor…« – woraufhin der Herausgeber der Zeitung das Wort übernimmt: »Three terms as governor, two terms in the Senate, Ambassador to the Court of St. James, back again to the Senate, and a man who, with a snap of his fingers, could be the next vice-president of the United States.« Schließlich betritt Stoddard zum zweiten Mal den Raum, in dem der Armensarg mit Toms Leiche aufgebahrt ist. Entgegen seiner anfänglichen Aussage, er sei »zu einer Beerdigung« gekommen, ermahnt er seine Frau zum Aufbruch und besteigt mit ihr zusammen wieder den Zug in Richtung Washington.

3. Als der verletzte Ransom Stoddard auf einem Pferdekarren zur frühen Morgenstunde nach Shinbone gebracht wird, ist es noch dunkel. Die mexikanische Cantina hat noch – oder schon wieder – offen. Das Shinbone der Vergangenheit ist eine unscheinbare, eher schäbige Stadt mit einem deutlichen Anteil an mexikanischer Bevölkerung, einem lebhaften Nachtleben, rauen Sitten und erkennbarer Prostitution. Elemente des Rassis-

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mus (gegenüber der Figur des Pompey) werden sichtbar. Die moralisch integersten Figuren – der Zeitungsmann und der Arzt – huldigen einem ostentativen Alkoholismus. Wenn er nicht auf Raubzügen unterwegs ist, spielt Liberty Valance im Saloon Poker mit den anständigen Bürgern der Stadt. Als er tot ist, wird das Ereignis in den Kneipen und auf der Straße mit Musik und Gesang gefeiert. Ein Hauch zugleich fröhlicher und gefährlicher Anarchie liegt in der Luft des nächtlichen Treibens. Die Straße durch das Shinbone der Vergangenheit sehen die Zuschauer des Films ausschließlich bei Nacht. In der Rahmenerzählung dagegen herrscht durchweg heller Tag. Sie beginnt mit der Einfahrt des Verkehrsmittels der neuen Zeit in den gepflegten Bahnhof der Stadt. Da Senator Stoddard von den Zeitungsleuten aufgehalten wird, unternimmt der alte Marshal mit Hallie in seiner offenen Kutsche eine Fahrt in die Umgebung der Stadt. Eine einzige Einstellung zeigt deren verändertes Gesicht. Man sieht eine saubere, breite Straße, stattliche, mehrstöckige Gebäude, Telegraphenmasten und -leitungen, Bäume am Straßenrand, einige Kutschen und Pferde, aber nur wenige Menschen. Was man nicht sieht, sind Saloons oder Bars. Musik oder sonstiges Lärmen ist nicht zu hören. Die karnevaleske Atmosphäre, die die Stadt innerhalb der Rückblende belebt, ist gänzlich verschwunden. Ihre Ansichten in Gegenwart und Vergangenheit der filmischen Fiktion unterscheiden sich voneinander wie Tag und Nacht.2 »Lot of changes, huh?«, sagt der Senator seiner Frau, die seit langem nicht mehr am Ort ihrer Herkunft gewesen ist. Am Beginn seiner rückblickenden Erzählung betont er geradezu obsessiv den Unterschied der Zeiten. »You only know at first hand since the railroad came«, sagt er zu dem Herausgeber der Zeitung. »A lot different then. A lot different before, Mr. Scott. A lot different.« Auch Hallie fällt diese Differenz ins Auge. Als sie zum ersten Mal auf die Stadt blickt, noch bevor diese dem Zuschauer präsentiert wird, stellt sie, neben Link Appleyard, dem ehemaligen Marshal, auf der Kutsche sitzend, mit sichtbarer Genugtuung fest: »Place has sure changed: Churches, high school, shops.« Die Kamera unterstreicht diese Feststellung mit einer leichten Bewegung zu den Sprechenden hin. Der entscheidende Satz aber liegt in der lakonischen Antwort des alten 2 | Vgl. Robert B. Pippin: »Who Cares Who Shot Liberty Valance?«, in: Ders.: Hollywood Westerns and American Myth. London und New Haven: Yale University Press 2010, S. 61-101.

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Mannes: »Well, the railroad done that – desert’s still the same.« Dieser Satz bestätigt den Kontrast zwischen altem und neuem Zustand und relativiert ihn zugleich. Zum einen enthält er eine knappe Erklärung des Wandels, der sich seit seinen aktiven Tagen als Marshal vollzogen hat: Der Bau der Eisenbahn hat dies zuwege gebracht; der kulturelle und politische Fortschritt ist dem technischen gefolgt. Der Nachsatz aber relativiert jedes Zutrauen an eine grundlegende Veränderbarkeit der Verhältnisse. Die Wüste bleibt sich gleich – und mit ihr die Menschen, deren Lebensweg sich weiterhin nicht begradigen lässt.3

4. Diese fünf Minuten nach Beginn des Films gegebene Deutung steht in einem auffälligen Kontrast zu derjenigen, die ganz am Ende des Films vorgebracht wird. Der Senator und seine Frau sitzen gedankenverloren im Zug. Hinter den Fenstern zieht eine blühende Landschaft vorbei. Auf einmal fragt Stoddard Hallie, ob es ihr etwas ausmachen würde, wenn er Washington, sobald er sein jüngstes Gesetzesvorhaben durchgebracht habe, verlassen und mit ihr zusammen nach Shinbone zurückkehren würde – »to come back here to live«. Hallie reagiert ebenso erstaunt wie erfreut. Wenn er wüsste, sagt sie, wie oft sie davon schon geträumt habe (woraus folgt, dass er dies erstaunlicherweise nicht weiß). »My roots are here. I guess my heart is here. Yes, let’s come back«, sagt Hallie mit einem Ausdruck sehnsüchtigen Ernsts. Wie befreit schaut sie aus dem Fenster und wendet sich strahlend an ihren Mann: »Look at it. It was once a wilderness. Now it’s a garden. Aren’t you proud?« Ihre Frage suggeriert eine durchaus andere Erklärung der Veränderungen, die das Territorium in den zurückliegenden Jahrzehnten erfahren hat: Dieser Wandel ist ein Ergebnis politischen Handelns – und insbesondere der Willenskraft eines Mannes, der allen Grund hat, stolz auf seine Lebensleistung zu sein. 3 | Das Eisenbahn-Motiv wird auch am Ende der Haupthandlung in Erinnerung gerufen. Vor der Wahlversammlung in Capitol City wird Stoddard einem lokalen Politiker vorgestellt. »It’s quite a city you have here«, bemerkt der junge Anwalt. »Well«, lautet die Antwort, »it’s not much according your eastern standards, but that railroad station leads straight to Washington«: Stoddard muss auf den Zug in seine ruhmreiche Zukunft nur noch aufspringen.

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Gut eine Minute vor dem Schluss des Films wäre dies ein höchst versöhnliches Ende. Aber dazu kommt es nicht. In buchstäblich letzter Minute ergibt sich ein verstörendes, ja depressives Schlussbild von Ransom und Hallie, bevor man in einer Totalen, die der allerersten Einstellung des Films korrespondiert, den Zug – die Instanz der alternativen Erklärung des Marshals – durch die Landschaft in Richtung Washington – der Gegenrichtung zu Hallies Wünschen – davonfahren sieht. Ein letztes Mal erklingt die elegische Titelmelodie des Films, die auch zuvor immer dann ihre Stimme erhoben hat, wenn Hallie mit einem der beiden Männer, zwischen denen sie stand, eine heikle Situation durchlebt hat.

5. Die Erwiderung des Senators auf die aufmunternden Worte seiner Frau am Schluss des Films hat eine lange Vorgeschichte. Das zentrale Requisit des ersten, längeren Teils der Rahmenhandlung ist eine Hutschachtel. Der Schaffner, der vor dem Senator und seiner Frau aus dem Zug steigt, hält sie im Arm. Als nach einem Gegenschuss auf den wartenden Link Appleyard zuerst Hallie und dann Ransom aussteigen, hält sie der Schaffner gut sichtbar vor seinem Bauch. Die Schachtel ist relativ groß, rund, leuchtend hell und mit dunkleren Streifen verziert. Von einem weiteren Gepäckstück des Paares ist nichts zu sehen. Als die Besucher auf den alten Marshal zugehen und mit ihm sprechen, trägt der Schaffner die Schachtel vor sich her. Eine eigene Einstellung ist der Übergabe der Schachtel an den Marshal gewidmet, der sie anschließend an Hallie weiterreicht, nachdem diese in der Kutsche Platz genommen hat. »Back in business again: politics«, sind die ersten Worte, die Ransom, in Shinbone angekommen, an Hallie richtet, als er sich für sein Intermezzo mit den Reportern entschuldigt. Während er dies sagt, hält Hallie die Hutschachtel mit ihren schwarz behandschuhten Händen auf ihrem Schoß fest. Auch bei dem folgenden Dialog mit dem Marshal bleibt die Schachtel sichtbar. Bevor die beiden entscheiden, wohin sie fahren wollen, macht Hallie eine Andeutung, die der Marshal sofort versteht. »The cactus rose is in blossom«, bemerkt sie. Ohne dass die Sache beim Namen genannt würde, weiß Link Appleyard, wohin Hallie gefahren werden möchte: Zu dem verfallenen Farmhaus von Tom Doniphon, vor dem viele Kakteen in Blüte stehen.

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Mit ihnen hat es eine besondere Bewandtnis, wie die Zuschauer freilich erst in der Haupterzählung erfahren werden. Als Stoddard sich bei den Ericsons einquartiert hat und Hallie in der Küche des Gasthauses eine Passage aus einem Gesetzestext zu lesen geben will, muss ihm Hallie beschämt gestehen, dass sie Analphabetin ist. Mit leuchtenden Augen fasst Stoddard den Plan, ihr Lesen und Schreiben beizubringen, was kurz darauf zur Gründung einer Schule in Shinbone führen wird. »I’ll teach you«, sagt Ransom zweimal zu Hallie, die über diesen Vorschlag hoch erfreut ist, um gleich von ihm wegen ihrer fehlerhaften Grammatik korrigiert zu werden, als sie ihren Eltern davon erzählt. In diesem Augenblick der Vorfreude kommt Tom Doniphon mit seinem Gehilfen Pompey in den Raum. Ransom steht hinter Hallie und hält sie an ihren Schultern fest. »Well, pilgrim, I see you’re still protecting the ladies«, lautet Toms Kommentar – er wittert bereits, dass ihm hier ein Konkurrent in Liebesdingen entsteht. Hallie wendet sich Tom zu und bewundert ihn dafür, wie fein er sich für den Samstagabend herausgeputzt hat. Tom überreicht ihr ein Geschenk, das Pompey zuvor in den Händen gehalten hat: »Prettiest cactus rose I ever did see.« Hallie ist ergriffen und bewundert die Blüten. Pompey wird beauftragt, sie in den Garten zu pflanzen. Bevor Tom sich in die Gaststube begibt, macht er Hallie das Kompliment, sie sei beinahe schöner als eine Kaktusrose – wovon Hallie sichtlich bewegt ist. Als sie Ransom die Kaktusrose zeigt, fragt sie ihn: »Isn’t that the prettiest thing you ever seen?« Leise erklingt die Titelmelodie. Ransom jedoch setzt zu einem Konter gegenüber Toms galanter Geste an. »Hallie, did you ever see a real rose?« Leicht bedrückt muss Hallie verneinen. Aber sie rafft sich zu einem hoffnungsvollen Ausblick auf: »But maybe someday if they dam the river, we’ll have lots of water and all kinds of flowers« – eine Vision, die sich am Ende des Films erfüllt haben wird.

6. Zum allerersten Mal ist die Titelmelodie zu hören, als die Kutsche mit Hallie und dem früheren Marshal vor Toms ehemaligem, noch von Brandspuren gezeichnetem Farmhaus anhält. Nach einer Einstellung auf die vor dem Haus blühenden Kakteen folgt eine Einstellung auf die beiden Betrachter. Hallie hält weiterhin die Hutschachtel auf ihrem Schoß. Sie deutet auf ein besonders schönes Exemplar einer Kaktusrose. Link Ap-

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pleyard steigt aus, um es zu holen. Mit einer auffälligen Bewegung stellt Hallie die Hutschachtel neben sich ab. Schnitt: Man sieht Appleyard bei den Kakteen. Schnitt: Hallie blickt versonnen auf die Schachtel neben sich und zieht sie mit einer sanften Bewegung näher zu sich heran. Daraufhin erfolgt eine Überblendung zu dem Büro des Shinbone Star, wo der Senator gerade sein Interview mit den Journalisten beendet hat und mitteilt, er sei lediglich anlässlich der Beerdigung eines gewissen Tom Doniphon nach Shinbone gekommen. Mittlerweile sind Hallie und Appleyard zurückgekehrt. Durch die Tür der Redaktion sieht man den Marshal, der draußen mit der Hutschachtel vorbeigeht. Als Stoddard und seine Frau bei dem Bestatter ankommen, trägt Appleyard die Hutschachtel hinter ihnen her, bis sie in den Andachtsraum gelangen. Stoddard und Hallie verharren vor dem Sarg; im Hintergrund sieht man weiterhin den Marshal mit der Schachtel. Die Stoddards treffen auf Pompey und sprechen ihm ihr Beileid aus. Während der Senator in den Sarg blickt, bleibt der Marshal mit der Schachtel hinter ihm stehen. Danach setzt er sich neben Hallie und Pompey auf eine Bank – mit der Hutschachtel auf seinem Schoß. Der Senator nimmt auf der Stirnseite des Raums Platz. Als die vier Trauernden dort sitzen, kommt der Herausgeber der Zeitung, gefolgt von seinen beiden Redakteuren, in den Raum und verlangt eine Auskunft darüber, wer dieser Tom Doniphon denn gewesen sei. Der Senator weist dieses Ansinnen zunächst zurück, doch der Herausgeber insistiert. Der Senator erhebt sich, wechselt einen Blick mit seiner Frau, die ihm mit einem Nicken ihr Einverständnis gibt, der Forderung des Journalisten zu entsprechen. An Pompey, Hallie und dem Marshal vorbei verlässt der Senator den Raum. Aus halbnaher Einstellung bewegt sich die Kamera auf die drei verbleibenden Personen zu. Hallie nimmt dem Marshal die Hutschachtel ab und hält sie nun auf ihrem Schoß. Sie löst das Band, das den Deckel verschließt – und beginnt die Schachtel zu öffnen. In diesem Augenblick wechselt die Szene in die Werkstatt des Bestatters, in der nun der Senator jene Geschichte einleitet, die die Haupthandlung des Films ausmachen wird. Das bedeutet: Hallie lüftet ihr Geheimnis in dem Augenblick, in dem ihr Mann sich daran macht, sein Geheimnis zu offenbaren. Es ist diese Parallelaktion, auf die Stoddard in der allerletzten Minute des Films zurückkommen wird. Als Hallie ihn nämlich mit freudiger Intonation fragt, ob er nicht stolz sei auf sein Werk, schaut ihr Mann nur versonnen vor sich hin, zögert, und stellt die Frage, die ihn schon eine Weile beschäftigt haben muss: »Hallie, who put the cactus roses on Tom’s

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coffin?« Stoddard nämlich hat von der Aktion seiner Frau im ersten Teil der Rahmenhandlung gar nichts mitbekommen. In deren zweitem Teil, als die Journalisten sich verabschiedet haben und Stoddard nachdenklich den Andachtsraum betritt, sieht man auf dem Sarg die Hutschachtel mit halb geöffnetem Deckel stehen. Die Mitte des Sargs aber wird von dem Rücken des Marshals verdeckt. Der Senator ermahnt seine Frau zum Aufbruch, gibt Pompey mit herablassendem Mitgefühl ein paar Dollarscheine in die Hand und geht zur Tür. Hier erfolgt ein Schnitt. Die Kamera ist jetzt auf den Sarg gerichtet, auf dem die blühende Kaktusrose steht, die Hallie in der Hutschachtel von Toms Haus mitgebracht hat.4 Als Stoddard auf der Schwelle des Raums steht und die Tür hinter sich zuzieht, fällt sein letzter Blick auf die Kaktusrose, die er bisher nicht wahrgenommen hat. Er verweilt kurz bei ihrem Anblick und schließt dann die Tür hinter sich. Ein gleichzeitiger Zoom und Schwenk rückt den blühenden Kaktus ins Bild. Es folgt eine Überblendung auf die Schlusssequenz im Eisenbahnwagen, die zunächst von Zuversicht geprägt ist –  bis Stoddard seine Frage nach der Rose stellt und sich ein völliger Umschlag der Stimmung ereignet. Hallies Miene wird ernst. »I did«, lautet ihre schlichte Antwort. Während sie dies sagt – und für den Rest der Szene – ist ihr Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. »My heart is here«, hatte sie ihrem Mann kurz davor erklärt. Zumindest ein Teil ihres Herzens, so wird nun auch ihrem Mann deutlich, ist immer in Shinbone und damit bei einer Sehnsucht nach einem Leben an Toms Seite geblieben. Angesichts dieses unausgesprochenen, aber für die Zuschauer überdeutlichen Geständnisses bricht die pompöse Attitüde des Senators, die sich so signifikant von dem liebenswert linkischen Verhalten des jungen Stoddard unterscheidet, für einen Augenblick zusammen. Als ein Schaffner hinzutritt, nimmt Stoddard wieder seinen Habitus einer very important person an. Hallie starrt weiterhin ins Leere. Auf die den Service der Bahn lobenden Worte des Senators hin geht der Schaffner mit der Bemerkung »Nothing’s too good for the man who shot Liberty Valance« seiner Wege. Ansonsten reglos, öffnet Hallie nur leicht die Lippen, als dieser Satz fällt. Irritiert bläst der Senator das Streichholz aus, mit dem er seine Pfeife anzünden wollte. Noch einmal setzt die Titelmelodie ein. Betroffen blickt der Senator zu Boden. Aus4 | Von der Hutschachtel ist jetzt nichts mehr zu sehen. Sie wird auch im Zug nach Washington nicht mehr zu sehen sein. Sie hat ihren dramaturgischen Dienst getan.

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druckslos sitzt Hallie daneben. Nichts in ihrer Haltung, kein Blick zu ihrem Mann, deutet an, dass sie etwas von dem Geheimnis ihres Mannes weiß. Sie hat ihm ihres durch eine symbolische Handlung offenbart. Er behält seines für sich. Die weiße Weste, die der Senator in der Rahmenhandlung unter seinem schwarzen Anzug trägt, bleibt darum ein höchst ambivalentes Zeichen. Nicht er war es, der Liberty Valance getötet hat, und doch ist er es, der die Wahrheit über diese Urszene seiner Laufbahn verschwiegen hat – und weiterhin verschweigen wird. Unter diesen Bedingungen, so legt der trostlose Schluss des Films nahe, wird es für dieses Paar keine Rückkehr in die alte Heimat geben.5

7. Das Geheimnis der Hutschachtel gibt eine weitere Erklärung für den historischen Umbruch, der sich zwischen den Zeitebenen des Films ereignet hat. Es sind nicht die Effekte des technischen Fortschritts, die ihn zuwege gebracht haben, und er verdankt sich auch nicht der Wirkung umsichtigen politischen Handelns. Es sind vielmehr starke Kräfte des Begehrens, die hier am Werk gewesen sind. Ein Indiz hierfür sind die Blicke, mit denen Hallie das Treiben der beiden ihr zugeneigten Männer verfolgt. Als Tom sich nach der zweiten dramatischen Begegnung zwischen Valance und Stoddard für eine Weile verabschiedet, folgt Hallie ihm zur Tür des Lokals ihrer Eltern. In nachdenklicher Pose blickt sie hinaus in die Nacht, in der Tom seiner Wege geht – vielleicht in Sorge um ihn, vielleicht aber auch in Sorge darum, was ihrem Gast während Toms Abwesenheit zustoßen wird. Als Tom zurückkommt und den von Ransom organisierten Schulunterricht mit der Nachricht, Valance sei mit seiner Gang auf dem Weg in die Stadt, rabiat unterbricht, befiehlt er Hallie, sie solle nach Hause gehen, denn er wolle nicht, dass sie in eine Schießerei gerate. Hallie begehrt auf: »What I do and where I go isn’t your business. You don’t own me.« Tom nimmt es mit machistischer Gelassenheit: »As I said, you’re awful pretty when you get mad.« Komplimente dieser Art bekommt Hallie von Ransom 5 | Diese Sequenz macht auch deutlich, dass Hallie ihrem Mann die Erlaubnis, den Journalisten die Geschichte aus den alten Zeiten zu erzählen, nicht wegen der in ihr verborgenen Wahrheit, sondern allein umwillen des Andenkens an Tom Doniphon erteilt.

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nie zu hören. Als Hallie unmittelbar danach von dem Journalisten Dutton Peabody erfährt, dass Ransom seit neuestem Schießübungen unternimmt, gerät sie in helle Aufregung. Sie tritt auf die Straße (es ist Tag, aber man sieht die Straße nicht). Großaufnahme: Mit Tränen in den Augen ruft Hallie erregt nach Tom. Ihre Wut auf ihn ist verflogen, aber aus einem Impuls zugunsten des anderen Mannes. Tom soll nicht sie – er soll ihn beschützen. Tom spürt Ransom auf und führt ihn zu seiner Ranch, wo der Anbau des Hauses in Arbeit ist. Was das solle, fragt Ransom. »Im telling you that Hallie’s my girl«, lautet die Antwort. Aber davon gehe doch jedermann in der Stadt aus, erwidert Ransom. »Everybody except Hallie, maybe you«, entgegnet Tom. Ransom ist entrüstet. »That’s a damn lie, and you know it.« Mit klarem Gespür jedoch hat Tom erkannt, was Ransom noch vor sich selbst verheimlicht. Nicht ohne Hintergedanken macht sich Tom daran, dem Widersacher Unterricht im Gebrauch seines mickrigen Revolvers zu erteilen. »You don’t have to coach me«, nörgelt Ransom, aber lässt sich doch darauf ein. Tom nutzt die Gelegenheit, Ransom vorzuführen. Er treibt Scherze mit ihm, wie es auf seine Weise auch Liberty Valance tut. Durch einen Kunstschuss bekleckert er Ransoms Anzug mit Farbe. Einen ähnlichen Scherz wird sich der seiner Sache sichere Valance in dem späteren Showdown erlauben, als er zunächst auf einen mit Wasser gefüllten Tonkübel schießt, der seitlich über dem erschrockenen Stoddard hängt. In dem Vorspiel mit Tom freilich streckt der wütende Ransom diesen mit einem Faustschlag nieder, was ihm immerhin den verblüfften Respekt seines Kontrahenten einbringt. Die visuelle und verbale Parallelität zwischen Doniphon und Valance wiederholt sich noch einmal am Ende der nächsten Sequenz. Nachdem Valance bei der Wahlversammlung in Shinbone mit seinem Versuch gescheitert ist, sich selbst als Delegierten für die Versammlung in Capitol City wählen zu lassen, wendet er sich drohend an Stoddard. Doniphon will intervenieren, doch Valance herrscht ihn an: »You stay out of this: He’s been hiding behind your gun long enough.« Valance stellt Stoddard vor eine klare Alternative: »You got a choice, dishwasher. Either you get out of town or tonight you be on that street alone.« Dies ist genau die Alternative, vor die ihn Tom Doniphon schon zu Beginn gestellt hatte: Ohne eine Schusswaffe (und deren überlegene Beherrschung) werde er in der Stadt nichts ausrichten können. »Too bad you didn’t come to me sooner with that gun«, bemerkt er trocken, nachdem Valance abgegangen ist. Um es nicht zum Äußersten kommen zu lassen, bietet er Stoddard die Organisation seiner

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Flucht aus der Stadt an. Dieser bedankt sich bei ihm – und scheint das Angebot annehmen zu wollen. Dazu aber kommt es nicht. Denn nach dem Überfall von Valance und seinen Leuten auf die Zeitungsredaktion und die üble Misshandlung Peabodys ist Stoddard wild entschlossen, Valance zum Duell zu fordern. Wieder ist es Hallie, die eingreift. Sie stürzt aus dem Haus und alarmiert Pompey, der mit dem abfahrbereiten Wagen auf Stoddard wartet. Er solle schleunigst Tom herbeischaffen, da sich Ransom mit der Waffe auf die Straße begeben habe. Hallie ist es, die Tom als Retter auf den Plan ruft, auch wenn sie bis zum Ende des Films nicht weiß, dass Tom ihrem Flehen tatsächlich entsprochen hat. Als Tom nach dem Schusswechsel, in voller Westernmontur, mit der Hand an seinem Colt (aber ohne das Gewehr, mit dem er Valance erschossen hat), in die Küche der Ericsons kommt, muss er sehen, wie sich Hallie an der Seite des verletzten Ransom ausweint. Rasch befreit sich Hallie aus der Umarmung mit dem Mann, der wie durch ein Wunder überlebt hat. Die Titelmelodie, die das Tête-à-Tête zwischen den beiden begleitet hatte, klingt aus. Auf Ransom herabblickend, spricht Tom zunächst Hallie an: »Sorry I got here to late, Hallie.« Zu Ransom gewandt, sagt er betont lässig, er habe sich ja wirklich gekonnt aus dem Schlamassel befreit. Toms Behauptung, er sei zu spät gekommen, um helfend eingreifen zu können, ist eine klare Lüge – und ist es doch nicht. Denn mit seinem Werben um Hallie ist er zu spät gekommen. Die Tür, die er beim Verlassen der Küche zuschlägt, ist die Tür zu dem erhofften Leben mit ihr. Warum aber hat er überhaupt rettend eingegriffen? Weil Hallie ihn darum gebeten hat. Er bringt sich um sein Glück, weil er Hallie nicht unglücklich sehen kann. Der Rettungsschuss, den er aus dem Dunkel abfeuert, ist eine Handlung der Liebe – die ihn die Liebe seines Lebens kostet.

8. Dies ist zwar das stärkste Motiv für Toms Verhalten in der entscheidenden Situation des Films, aber keineswegs das einzige, das sein Handeln erklärt. Er hegt eine tiefe Verachtung für Liberty Valance und die Viehbarone, von denen dieser sich bezahlen lässt. Auch er ist ein kleiner Farmer, der seine ökonomischen Interessen durch die Politik der Herren jenseits des Flusses bedroht sieht. Und er zeigt durchaus Bewunderung für Ransoms Starrsinn und Tollkühnheit. In der Anrede als »pilgrim« oder auch »pro-

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fessor«, die er für ihn parat hat, ist nicht nur Geringschätzung, sondern auch Respekt enthalten. Toms Herablassung Ransom gegenüber gilt der in seinen Augen heillosen Naivität seines Konkurrenten. Seine Anerkennung aber gilt der Sache, für die dieser eintritt – dem Schutz der Menschen vor Willkür, Demütigung und Gewalt. Während die Dynamik der technischen und ökonomischen Entwicklung im Verlauf des Films eher beiläufig angesprochen, aber in seinem Anfangs- und Schlussbild unübersehbar in Szene gesetzt wird; während die politische Karriere des Ransom Stoddard nur in der Rahmenhandlung und ausschließlich mit Worten betont wird; während das Dreieck erotischer Leidenschaft vorwiegend durch Blicke, Gesten, Symbole und musikalische Kommentare vorgeführt wird: während alle diese Wirkkräfte des historischen Wandels, der sich vollzogen hat, vielfach unausgesprochen, aber deswegen nicht weniger nachdrücklich hervorgehoben werden, durchzieht ein expliziter Diskurs über Recht, Gesetz und Gewalt die gesamte Erzählung des Films. Kontroversen um die Rechtfertigung der jeweils präferierten sozialen Ordnung dominieren die Dialogführung von Anfang bis Ende.

9. Als Maxwell Scott, der Herausgeber des Shinbone Star in die kleine Versammlung der an Tom Doniphons Sarg Trauernden eindringt, entschuldigt er sich mit den an Stoddard gerichteten Worten: »Sir, I don’t wish to intrude, but a United States senator is news.« Dieser Satz präludiert eine mehrfach wiederholte Bemerkung des Gründers der Zeitung, Dutton Peabody, innerhalb der Haupthandlung des Films. Stoddards todesmutiger Kampf für Recht und Gesetz sei »news«, beteuert er, eine Einstellung, die Peabody beinahe mit seinem Leben bezahlen wird. In der Rahmenhandlung hingegen stellt die Presse eine etablierte Macht dar. Seine Zeitung, betont Scott zu Beginn, sei im ganzen Staat verbreitet. Er habe eine Verantwortung dafür, seine Leser erfahren zu lassen, warum der Senator von weit her kommt, um einem unbekannten Mann die letzte Ehre zu erweisen. »I have a right to have the story«, sagt Scott, womit zum ersten Mal der Begriff des Rechts ins Spiel gebracht wird. Diese selbstbewusste Berufung auf ein verbürgtes Recht – in diesem Fall dasjenige der Öffentlichkeit, über die Handlungen eines Politikers in-

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formiert zu werden – steht in einem starken Kontrast zu dem rechtlichen Zustand, der in den alten Zeiten herrschte. Als Liberty Valance Stoddard nach dem Überfall auf die Postkutsche niedergeschlagen hat, durchstöbert er seine wenigen Besitztümer. »Books? Law?«, sagt er mit ironischer Stimme. Er reißt Seiten aus einem der Bücher heraus. »Lawyer, huh«, lautet sein hämischer Kommentar. »I’ll teach you law: Western law«, fügt er hinzu – und peitscht ihn aus. Damit ist das dominante Thema auch der Dialoge zwischen Stoddard und Doniphon gesetzt. Immer wieder drehen sie sich um die Frage, wie sich Gesetz und Gewalt zueinander verhalten und was es mit dem Recht des Stärkeren auf sich hat. Wenn er gegen einen wie Valance etwas ausrichten wolle, erklärt Tom dem Neuankömmling gleich zu Beginn, dürfe er sich nicht an Paragraphen klammern und auf Gerichte hoffen, sondern müsse sich eine Waffe besorgen. »Out here a man settles his own problems.« Stoddard aber will von Waffen nichts wissen und weist Doniphon zurecht. »You know what you’re saying to me? You’re saying just exactly what Liberty Valance said. What kind of a community have I come to?« Er setzt zu einer Rede auf die überlegene Macht des Rechts an, bricht jedoch erschöpft zusammen. Schon hier springt ihm Hallie zur Seite mit der Bemerkung »A little law and order around Shinbone wouldn’t hurt anyone.« Für jemanden wie Tom Doniphon aber bilden Gesetz und Gewalt eine Einheit. Das Gesetz hebt Gewalt nicht auf, sondern verlangt, wenn es sein muss, seine gewaltsame Durchsetzung. Es enthält ein Recht auf Gewalt, und zwar: auf persönlich ausgeübte Gewalt. Wie Valance ist auch Doniphon ein Vertreter des Western Law. Nicht den Institutionen einer Exekutive kann und darf die Durchsetzung des Rechts überlassen werden. Die Schwäche einer institutionalisierten Gewalt, die ihr Monopol nicht durchzusetzen vermag, wird im alten Shinbone durch den hasenfüßigen Marshal repräsentiert, der nichts gegen Valance und seine Gang zu unternehmen wagt. Als Stoddard plant, in der Redaktion des Shinbone Star ein Anwaltsbüro zu eröffnen, bemerkt Tom, dies müsse er aber mit einer Schusswaffe verteidigen, aber dafür sei er nicht gerade der Typ. Kurz darauf kommt es in dem Gasthaus der Ericsons zu einem weiteren Konflikt mit Valance, der zwischen ihm und Doniphon beinahe mit Waffengewalt ausgetragen wird. »Everybody in this country kill-crazy?«, ruft Stoddard aus – und setzt damit wiederum beide, Valance und Doniphon, auf die Anklagebank. Zugleich beschwert er sich über das schützende Eingreifen Toms, muss aber zugeben, dass es Toms Waffe war, die Valance vertrieben

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hat. Als sich Tom ironisch dafür bedankt, dass Stoddard ihm mit seinem Dazwischengehen das Leben gerettet hat, gerät der Anwalt erneut in Rage: »That isn’t why I did it! Nobody fights my battles!«

10. Der Titel des Films aber sagt es schon: Nicht Stoddard selbst, sondern Doniphon wird die entscheidende Schlacht für ihn schlagen. Auch dem Vorsatz, den Stoddard am Ende dieser Szene ausdrücklich fasst – »I am staying and I’m not buying a gun either« – wird er untreu werden. Vorerst aber setzt Stoddard seine zivilisatorische Arbeit fort. Er verbindet seine Schulstunden mit politischem Unterricht, indem er seinen jungen und erwachsenen Schülern die Grundlagen einer republikanischen Verfassung nahezubringen versucht. Zugleich fordert er sein Publikum dazu auf, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen, um die Interessen der reichen Rancher in die Schranken zu weisen. Es komme darauf an, »to unite behind a real strong delegate and carry this fight to Washington, if necessary« – womit er, ohne es zu wissen, über die eigene Zukunft spricht. Das Textbuch für diese politische Erziehung liefert ein flammender Artikel im Shinbone Star. Als Doniphon jedoch den Unterricht mit schlechten Nachrichten unterbricht, kommt wiederum der Zusammenhang von Recht und Gewalt zur Sprache. Zugleich aber wird Doniphons grundsätzliche Sympathie für das Anliegen des Anwalts deutlich. »The good editor here«, sagt Doniphon zu Stoddard, »has written some noble words, and you read them good, too good.« Sobald der Artikel erschienen sei, werde es zu einem Blutbad kommen. Stoddard erwidert, warum ausgerechnet Tom gegen den Versuch sei, den Viehbaronen Einhalt zu gebieten, wo doch die Mehrheit der Stimmen auf Seiten der kleinen Leute sei? »That’s right«, lautet die Antwort, »but votes won’t stand up against guns.« Dieses Mal aber zeigt das ceterum censeo des Westerners Wirkung. Stoddard beginnt die Fronten zu wechseln. »Education is the basis of law and order«, steht im verlassenen Schulraum an der Tafel. Resigniert wischt Stoddard den Slogan weg. Als Hallie ihn zur Rede stellt, lautet seine Begründung: »You heard what Tom said. When force threatens, talk’s no good any more.« Die Etablierung eines gesicherten Rechtszustands, so dämmert es Stoddard, kann ohne Gewalt nicht gelingen. Bei der lokalen Wahl im Saloon kommt die sachliche Übereinstimmung zwischen Stoddard und Do-

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niphon ausdrücklich zur Sprache. Seite an Seite – aber unter dem Schutz von Toms Colt und Pompeys Gewehr – sorgen beide für einen geordneten Ablauf. »Tom, we need statehood«, sagt der Anwalt; »I agree«, erwidert Tom. Allgemein anerkannt und elegant gekleidet leitet Stoddard die Versammlung. »I can show you the rules«, beruhigt er die in Verfahrensdingen unsicheren Bürger. Mit anerkennenden Worten schlagen sich Stoddard und Doniphon gegenseitig als Kandidaten für die Wahlversammlung in Capitol City vor. Tom verzichtet mit dem Verweis auf seine privaten Pläne (die Heirat mit Hallie). An seiner Stelle wird Dutton Peabody nominiert. Trotz der erneut massiven Drohungen von Liberty Valance, der sich vergeblich als Kandidat bewirbt, werden die beiden gewählt. Als treibende Kraft der politischen Willensbildung – und der sozialen Transformation, die sie zur Folge haben wird – erscheinen hier die normativen Argumente zugunsten einer demokratisch etablierten staatlichen Ordnung, mit der ein gleiches Recht für alle verwirklicht werden kann. Weit ausführlicher noch wird das Pro und Contra in Sachen normativen Wandels auf dem regionalen Konvent in der Hauptstadt des Territoriums verhandelt. In der turbulenten Redeschlacht jedoch kommt es erneut zu einer dramatischen Verkehrung der Argumentation. Wie alle glauben, hat Stoddard Liberty Valance im Duell erschossen. Nach den von ihm verachteten Regeln des Western Law ist er damit zu erstem Ruhm gelangt. Zunächst hält Major Cassius Starbuckle, der eitle Sprecher der Viehbarone, eine Rede, mit der er die archaischen Freiheiten seiner Klientel verteidigt. Dann formuliert Peabody die Rechtsvorstellung seiner Partei. Er wettert gegen das »law of the hired gun«, das nur die Interessen der Reichen schützt, die das Land für ihr persönliches Eigentum halten. »We need statehood to protect the rights of every man and woman however humble.« Peabody schlägt Stoddard als regionalen Kandidaten für den Kongress vor. »He is a man who came to us not packing a gun, but carrying instead a bag of law books. He is a lawyer and a teacher.« Überdies sei er weithin bekannt als ein »great champion of law and order«. Während Stoddard nervös um sich blickt, ergreift wiederum der Sprecher der Gegenseite das Wort. Dieser nimmt sich den gerade aufgestellten Kandidaten direkt vor. Stoddard sei zu seiner Nominierung nur gekommen, weil er einen Mann getötet habe. Als Anwalt maße er sich an, das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen. Seine hauptsächliche Qualifikation sei das Blut an seinen Händen. In sich gesunken hört sich Stoddard diese Tirade an. So absurd die Vorwürfe des Redners sind, sie treffen ihn ins Herz. Denn Stoddard vernimmt in ihnen

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das – wenn auch grob verzerrte – Echo seiner eigenen Worte. Schließlich war er es, der den Gebrauch von Schusswaffen bei seiner Ankunft in Shinbone in Bausch und Bogen verdammt hat. Schließlich war er es, der die Unantastbarkeit des Verfahrens nach geschriebenem Recht beschworen hat. Schließlich war er es, der angetreten war, die Regeln des Western Law außer Kraft zu setzen. Nun aber sitzt er hier als Kandidat für den Kongress, weil er – wie er jedenfalls glaubt – selbst von dem Recht des Stärkeren Gebrauch gemacht hat. Dieser innere Widerspruch nagt an ihm. Umgeben von Parteigängern, die jubelnd an ihn glauben, verliert er seinen Glauben. »The mark of Cain is on this man«, donnert ihm der Redner entgegen. Als dieser Satz fällt, erhebt sich Stoddard von seinem Sitzplatz und verlässt den Raum – seiner Energie, seiner Courage, ja seines Lebensmuts beraubt.

11. Selbst die Regeln des Western Law aber bedürfen der Auslegung. In der zweiten, polemischen Ansprache von Major Starbuckle spiegelt sich ein Widerstreit von Gründen, der bereits vor dem Showdown zwischen Stoddard und Valance stattgefunden hat. Stoddard hat den Marshal beauftragt, Valance Bescheid zu geben, dass er vor dem Saloon auf ihn warte. Der ängstliche Marshal kommt dieser Aufgabe nicht mit direkten Worten, aber doch deutlich genug nach. Vor den Gästen im Saloon sagt er zu Valance, alle wüssten doch, dass Stoddard mit einer Waffe in der Hand nicht einmal seinen eigenen Hut vom Kopf schießen könne. Er überlässt es Valance, den Schluss zu ziehen, dass Stoddard tatsächlich mit der Waffe auf ihn wartet. Immerhin aber macht der Marshal klar, wie er die drohende Konfrontation zwischen den beiden einschätzt: »If you gun him down, it’ll just be pure murder.« Valance geht nicht sofort darauf ein, sondern versichert sich bei den Zuhörern: »You all heard him say that he had a gun, didn’t you?« – »I didn’t say that!«, ruft der Marshal erschrocken aus. Doch Valance lässt sich nicht beirren: »That ain’t murder, Mr. Marshal. That’s a clear cut case of self-defense.« Es ist diese Auslegung einer Grundregel des Western Law, die der Fürsprecher der Viehbarone in seiner Rede mit rhetorischer Willkür in ihr Gegenteil verkehren wird. Die Durchführung des Zweikampfs scheint jedoch zunächst der Deutung des Marshals Recht zu geben. Allein die Körpersprache zeigt die hoffnungslose Unterlegenheit von Stoddard gegenüber Valance an. Jener steht mit seiner Tellerwäscherschürze in gebeugter,

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unsicherer Haltung vor seinem mit verzierter Weste, Hut und Halstuch, doppeltem Gürtel und auffälligen Stiefeln lässig an einem Pfosten lehnenden Kontrahenten. Valance spielt mit Stoddard, entwaffnet ihn mit einem Schuss in den rechten Arm, lässt ihn sich mühsam wieder aufrichten und macht erst ernst, als der gedemütigte und praktisch wehrlose Mann zum zweiten Mal vor ihm steht: »All right, dude – this time right between the eyes.« Er zielt, doch bevor er feuert, feuert auch Stoddard. Bis zu dem Augenblick, in dem Valance getroffen niedersinkt, spricht vieles für die Deutung des Marshals: Stoddard konnte bis dahin nicht als satisfaktionsfähiger Gegner gelten. Ein klarer Fall von Selbstverteidigung liegt keineswegs vor. Ein Fall von Selbstverteidigung freilich schon, womit auch Valance, formell gesehen, ein Recht auf seiner Seite hat. Denn Stoddard ist mit der eindeutigen, wenn auch aussichtslosen Tötungsabsicht auf die Straße gegangen.

12. Erst sechs Minuten vor Ende des Films, vier Minuten vor dem Ende der langen Rückblende, erfahren die Zuschauer, dass das Duell anders ausgegangen ist als es den Anschein hatte. Sie erfahren es durch eine Rückblende in der Rückblende. Als Stoddard resignierend die Wahlversammlung verlässt, fängt Tom Doniphon ihn ab, stellt ihn zur Rede und eröffnet ihm, dass er es war, der Valance aus dem Hinterhalt erschossen hat. Die – nur 42 Sekunden lange – zweite Version des Showdowns, die auf diese Eröffnung folgt, beginnt mit einer Ansicht des Rückens von Doniphon, der die Leinwand vollständig ausfüllt. Aus diesem Dunkel löst sich die Figur, womit sie eine seitliche Ansicht auf die Szene mit Stoddard und Valance freigibt. Nur für die Filmzuschauer, aber nicht für die anderen Beobachter des Duells tritt Doniphon aus dem Schatten heraus. Er lässt sich von Pompey ein Gewehr zuwerfen, fängt es auf, zielt, und feuert einen Schuss – aus seitlicher Richtung, aber von vorne – in die Brust von Valance. Doniphon beobachtet, wie Valance fällt und geht unerkannt mitten ins Bild ab, das wiederum für einen Augenblick schwarz wird. Seine Tat bleibt im Dunkeln, bis er Stoddard die Augen öffnet und dieser nach Toms Tod den Zeitungsleuten den wahren Verlauf offenbart.6 6 | Wie Stoddards Erzählung, die den Hauptteil des Films ausmacht, ist auch Doniphons Version des Duells am Ende der ausgreifenden Rückblende formal mit

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»Pilgrim! Where are you going?«, fragt Doniphon den Anwalt, als dieser sich seiner Wahl zum Delegierten zu entziehen versucht. »I’m going home, Tom. I’m going back east where I belong.« Tom folgt ihm in einen Nebenraum und knallt die Tür zu. »Valance couldn’t make you run away. What is it now, pilgrim, your conscience?« Sei es nicht schlimm genug, einen Mann getötet zu haben, wenn auch in bester Absicht?, erwidert Stoddard aufgebracht und packt seine Sachen. Doniphon antwortet mit einem Selbstzitat: »You talk too much, think too much.« Und er fügt hinzu: »Besides, you didn’t kill Liberty Valance.« – »What?« – »Think back, pilgrim«, fordert Doniphon ihn auf, worauf der tatsächliche Ablauf des Duells mit Valance ins Bild gesetzt wird. Stoddard ist konsterniert. »But – Tom, why did you do it? Why?« – »Cold-blooded murder«, lautet die Antwort, »but I can live with it. Hallie’s happy. She wanted you alive.« – »But you saved my life!«, ruft Ransom beinahe empört aus. »I wish I hadn’t«, lautet die wütende Antwort. Tom stürzt einen Whiskey hinunter, schleudert das Glas auf den Tisch, hinter dem Ransom sitzt, und fährt mit schroffen Worten fort: »Hallie’s your girl now. Go on back in there and take that nomination. You taught her how to read and write. Now give her something to read and write about.« Währenddessen geht er zu der Tür des Nebenzimmers und reißt sie auf. Ransom tut wie ihm befohlen. Ohne ein Wort zu sagen, erhebt er sich und geht wie ferngesteuert in die Versammlung zurück.

13. Vieles, was in diesem Dialog gesagt wird, steht in einer gehörigen Spannung zu dem, was die Sprecher mit ihren Äußerungen zu sagen meinen. Stoddards Satz, »I’ll go back to where I belong«, spricht eine Wahrheit aus, die erst im abschließenden Dialog der Rahmenhandlung offenbar wird. Er hat keine Wurzeln im Westen geschlagen und wird keine dort schlagen – im Unterschied zu seiner Frau Hallie, die sich nach einer Rückkehr in die Heimat sehnt. Er hat seiner Frau, wie von Doniphon aufgetragen, eine Menge – über ihn – zu lesen gegeben, aber glücklich hat er sie nicht keinerlei Signalen einer bloß subjektiven Version versehen. Der Perspektivismus dieses Films liegt in den heterogenen Deutungen der Ereignisse innerhalb der verschiedenen Erzählebenen, nicht hingegen in einer markierten Perspektivität der Rückblenden selbst.

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gemacht. Nach den Regeln des Western Law, das er freilich ablehnt, hätte Stoddard mit der vermeintlichen Erschießung des Liberty Valance völlig korrekt gehandelt und müsste die Vorwürfe in der Versammlung überhaupt nicht ernst nehmen. Ob Doniphons Eingreifen hingegen nach dessen eigenen Regeln tatsächlich die Handlung eines kaltblütigen Mordes war, ist durchaus zweifelhaft, zumal wenn man die gegenteilige Deutung des Marshals in Erinnerung behält. Wenn nämlich das Verhalten von Valance auf einen »reinen Mord« zusteuerte, wäre Doniphon durchaus berechtigt gewesen, seinem potentiellen Opfer zu Hilfe zu kommen – und dies sowohl nach dem Kodex des Western Law als auch des bürgerlichen Rechts. Dass Doniphon dem Anwalt das Leben gerettet hat, müsste wiederum für Stoddard nach seinen ursprünglichen Standards – »nobody fights my battles« – erst recht ein Grund sein, das Weite zu suchen. Doniphon immerhin scheint sich über ein zentrales Motiv seines Handelns im Klaren zu sein. Er hat Stoddard nicht aus Freundschaft gerettet und auch nicht wegen der gemeinsamen politischen Sache, sondern um Hallie vor dem Unglück zu bewahren. Aber auch dies ist nur die halbe Wahrheit. Hätte Doniphon nicht einen gehörigen Respekt vor Stoddards Courage, verbunden mit einem ausgeprägten Widerwillen gegenüber Liberty Valance und den Leuten, in deren Diensten er steht, und wäre er nicht von der Sache überzeugt, für die Stoddard vehement eingetreten ist: er hätte es kaum über sich bringen können, den Schuss aus dem Hinterhalt abzufeuern – und könnte sich nicht der Illusion hingeben, damit gut leben zu können. Wie entschieden die beiden Hauptakteure des Films ihre jeweiligen Absichten auch verfolgen – sie sind und bleiben Getriebene der komplexen sozialen und persönlichen Situation, aus der heraus sie agieren. Sie tun, was sie glauben, tun zu müssen, und wissen doch nicht, was sie tun. Bevor Tom Doniphon seinem Gegenüber die Wahrheit darüber eröffnet, wer Liberty Valance erschossen hat, bläst er den Rauch seiner Zigarette direkt in die Kamera. Das Gesicht von Doniphon verschwimmt in einer artifiziellen Nebelwolke, bevor die Rückblende einsetzt. Stoddard und Doniphon, so gibt diese Metapher zu verstehen, agieren in einem Nebel ihrer einander durchkreuzenden Einsichten und Leidenschaften, aus deren unentwirrbarem Kräftespiel die helle Landschaft der Rahmenhandlung hervorgegangen ist.

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14. So hell jedoch, wie sie in den wenigen Aufnahmen von ihr erscheint, steht die Landschaft der neuen politischen Zeit am Ende gar nicht mehr da. Nicht nur hat sich im Verlauf des Films gezeigt, wie irrational die Genese der Rationalität des erreichten rechtlichen und zivilisatorischen Zustands gewesen ist. Nicht nur verdeckt die fast zwanghafte Beschwörung des gesellschaftlichen Fortschritts in der Rahmenhandlung die Irrungen und Wirrungen, die Verluste und Kontingenzen des vollzogenen Wandels. In der Schönheit der neuen Ordnung verbirgt sich zugleich ein Potential der Illusion und Unterdrückung, das im gegenwärtigen Zustand weiterhin wirksam ist. Denn soviel hat die Geschichte aus den alten Tagen deutlich gemacht: Der neue Bundesstaat ist nicht zuletzt durch Gewalt entstanden, einer Gewalt, deren Ursprung verborgen bleiben muss, wenn das Vertrauen in seine Stabilität erhalten bleiben soll. Insofern ist die Reinlichkeit des Städtchens Shinbone, aus dem die Kräfte des Chaos vertrieben scheinen, auch ein paradoxes Zeichen einer Gewalt, die im Stillen weiter wirkt. Das Recht auf persönlich ausgeübte Gewalt mag gebrochen sein, die Gewalt im Recht ist es nicht.7 Zu dieser Undurchsichtigkeit der Macht des neuen Rechts kommt diejenige der Erklärungen für den sozialen Wandel, die durch den gesamten Film hindurch kursieren. Wo immer sie verbal vorgebracht werden, beansprucht jede von ihnen ein exklusives Recht. Mal wird die technische Entwicklung, mal das normative Argument, mal das politische Engagement und mal die persönliche Leidenschaft hervorgehoben. Diese Erklärungen dafür, warum geschehen konnte und geschehen musste, was schließlich geschah, stehen nebeneinander, sind aber in der Dramaturgie des Films bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verflochten. Allein in dieser Gemengelage liegt die Erklärung, die durch die Form des Films angeboten wird. Historischer Wandel, so führt dieser vor, vollzieht sich aus einer Verquickung divergenter Vektoren und heterogener Motive. Darin liegt die geschichtsphilosophische Provokation dieses Films. Anhand einer fiktiven 7 | Vgl. hierzu Gertrud Koch und Hauke Brunkhorst: »Von der Gewalt gegen Körper zum Körper des Rechts. John Fords The Man Who Shot Liberty Valance«, in: Gertrud Koch und Paula Diehl (Hg.): Inszenierungen der Politik. München: Fink 2007, S. 76-96. Pippin: Who Cares Who Shot Liberty Valance. Christoph Menke: Recht und Gewalt. Berlin: August Verlag 2011.

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Episode aus der realen amerikanischen Geschichte wird die generelle Unordnung historischer Verläufe in Erinnerung gerufen. Was im Nachhinein als gerichtete Entwicklung erscheint, insbesondere dort, wo diese den Nachgeborenen als eine Entwicklung zum Besseren erscheint (oder ihnen als eine solche angepriesen wird), hat sich alles andere als linear entfaltet. In dieser Hinsicht gewinnen die Einzelschicksale in The Man Who Shot Liberty Valance eine exemplarische Kontur. Tom Doniphon bewirkt durch sein ebenso autarkes wie in normativer Hinsicht konsistentes Handeln den Untergang seiner eigenen Lebensform und seines eigenen Lebensglücks. Indem er seinen Heldenstatus als Westernfigur bewahrt, zerstört er diesen. Die Gegenfigur des Ransom Stoddard hingegen verstrickt sich trotz seines steilen Aufstiegs in einer mehrfachen Lebenslüge. Er lässt sich für diejenige Handlung feiern, mit der er seinem Selbstverständnis untreu geworden ist. Er muss erkennen, dass seine Frau trotz ihres Aufbruchs in die neue Welt der alten mit Leidenschaft verbunden bleibt. Gerade dort, wo er seine Ziele mit Starrsinn und Mut verfolgt, ist er nicht Herr seines Tuns. Seine Frau Hallie ist am Ende nur noch ein Schatten ihrer selbst. »You don’t own me!«, hatte sie Toms paternalistischer Fürsorge entgegengehalten. Nun lebt sie an der Seite eines Mannes, der mir ihr nicht einmal das Geheimnis teilt, das am Anfang seiner Karriere stand. Am Ende des Films haben alle Protagonisten – mit Ausnahme des nunmehr altersweisen ehemaligen Marshals – einen erheblichen Verlust an Authentizität erlitten. Sie sind nicht mehr, was sie waren. Durch die Kämpfe, die sie gewonnen haben, sind sie sich fremd geworden. Vor diesem Hintergrund erst wird der berühmte Satz von Maxwell Scott, dem aufdringlichen Herausgeber des Shinbone Star, verständlich. Er äußert ihn, nachdem er das Protokoll der Erzählung Stoddards zerrissen hat. Er weigert sich, dem Senator die Beichte abzunehmen. Er wird seine Geschichte nicht veröffentlichen. »This is the West, Sir. When the legend becomes fact, print the legend.« Die »Legende« von dem Mann, der Liberty Valance erschossen hat, ist zu einem »Faktum« geworden, weil alle daran glauben, obwohl es sich anders verhalten hat. Diese Legende aber, meint Scott, muss bestehen bleiben, weil »dies der Westen ist« – weil der politische und rechtliche Zustand zu labil ist, als dass die dunklen Kräfte, die ihn herbeigeführt haben, ausgeleuchtet werden dürften. Mit diesem Argument aber fällt nun Scott – wie einst der junge Stoddard – von dem eigenen Glauben ab. Hatte er doch zu Beginn des Films auf sein Recht gedrungen, die volle Wahrheit über jenen Tom Doniphon zu erfahren, und

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dies mit seinem Dienst an der Öffentlichkeit begründet. Nun sieht er seine Verantwortung umgekehrt darin, dieser das entscheidende Faktum vorzuenthalten. Der Film jedoch enthält dem Zuschauer gar nichts vor. Insofern vollzieht er eine Dekonstruktion der glorifizierenden Legende, die der Herausgeber im Bund mit dem Senator zu schützen versucht. Der Satz des Herausgebers ist somit alles andere als ein ideologisches Resümee des Films oder seines Regisseurs. Mit diesem Satz rechtfertigt der Herausgeber sein Verhalten. Zugleich versorgt er den Senator mit einem eleganten Argument dafür, seinen Legendenstatus auf Kosten der Wahrheit zu erhalten, auch wenn Stoddard, wie sich in der Schlussminute des Films zeigt, damit nicht froh werden kann. Innerhalb des Films dagegen kommt diesem Satz keinerlei rechtfertigende Stellung zu. Er zeigt keine Lösung an, sondern exponiert ein Problem. Er stellt die innerhalb seiner Komposition unbeantwortete Frage, ob und wie eine unverdeckte und unverblendete Rechtfertigung kulturellen und politischen Wandels möglich ist. Dies aber ist eine Frage, auf die der Film, wie es das gute Recht und vielleicht sogar die erste Pflicht eines Kunstwerks ist, eine Antwort mit Nachdruck verweigert.

15. Die Erzählung des Films verharrt insofern auf der Schwelle zwischen Durchsichtigkeit und Undurchsichtigkeit, Wahrheit und Täuschung, die – so legt er nahe – der Schauplatz historischen Wandels ist. Während Major Starbuckle zu seiner Erwiderung auf Peabodys Lobrede auf Stoddard ansetzt, erscheint Tom Doniphon – reichlich verspätet – auf der Versammlung. Er trägt verschmutzte Kleidung, ist unrasiert und wirkt verkatert. Niemand nimmt von ihm Notiz. Er zündet sich eine Zigarette an, setzt sich am Rand des Saals auf eine Treppenstufe und verfolgt mit verächtlicher Miene die Rede des Majors. Trotzdem ist sein Auftritt für die Zuschauer des Films noch einmal imposant. Als Doniphon zu der Versammlung kommt, verharrt er auf der Schwelle des Eingangs, breitet die Arme aus und hält sich mit den Händen an der weit geöffneten Flügeltür fest. Er betritt den Saal wie nur je ein schussbereiter Westernheld einen Saloon. Diese Pose ist hier nicht nur ein filmisches Zitat, sondern zugleich ein existentielles. Doniphon zitiert gleichsam ein letztes Mal seine archaische Präsenz, auch wenn er diesmal nicht mehr die Aufmerksamkeit des an-

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wesenden Publikums findet. Er befindet sich exakt auf der Schwelle zum Verlust seiner Lebensform, dessen entscheidender institutioneller Akt sich vor seinen Augen abspielt – ein Akt, in dem er selbst die Wende zu seinen Ungunsten herbeiführen wird. Das Ende der Haupterzählung macht diesen kulturellen Bruch unmissverständlich klar. Als Stoddard sich nach dem Gespräch mit Doniphon ohne ein weiteres Wort auf den Weg zurück in die Wahlversammlung macht, ist die hohe Schwingtür geschlossen. Nur gedämpft hört man Stimmen aus dem Saal. Stoddard stößt die Tür auf und wird drinnen mit lautem Jubel empfangen. Während die Türflügel auf- und zuschwingen, ertönt Blasmusik, man sieht Gestalten, die ihre Hüte schwenken – wieder lebt der Karneval der alten Zeiten auf, der bald von Gesetz und Ordnung gebändigt werden wird. Zögernd nähert sich auch Doniphon der Tür und bleibt vor ihr stehen. Er verharrt vor der Schwelle in die neue Zeit, von der er ahnt, dass für einen wie ihn dort keine Rolle vorgesehen ist. Immer kleiner wird der zwischen den Flügeln der Tür sich öffnende Spalt. Er macht kehrt, wirft mit entmutigter Geste seine Zigarette auf den Boden, und geht seitlich ab – vorbei an einem großen Spruchband, auf dem zu lesen steht VOTE TERRITORY AND THE OPEN RANGE. (In dem Raum, in dem zuvor Doniphon Stoddard die Augen geöffnet hat, standen Schilder mit der Aufschrift FARMERS FOR STATEHOOD.) Die offene Prärie – das ist der Inbegriff einer Lebensform, deren Schicksal drinnen besiegelt wird. Besiegelt wird damit auch das Schicksal Doniphons. Durch seine überlegene Kompetenz, seine Weitsicht, seinen Umgang mit der Waffe sowie seine Präsenz im rechten Augenblick hat er sich wider Willen, aber doch sehenden Auges entwaffnet. Als der Senator den Bestatter zu Beginn des Films zwingen will, Doniphons Coltgürtel mit in seinen Sarg zu legen, bemerkt der ehemalige Marshal mit belegter Stimme: »He didn’t carry no handgun, Ranse. He didn’t for years.«

L ITER ATUR Gertrud Koch und Hauke Brunkhorst: »Von der Gewalt gegen Körper zum Körper des Rechts. John Fords The Man Who Shot Liberty Valance«, in: Gertrud Koch und Paula Diehl (Hg.): Inszenierungen der Politik. München: Fink 2007, S. 76-96. Christoph Menke: Recht und Gewalt. Berlin: August Verlag 2011.

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Robert B. Pippin: »Who Cares Who Shot Liberty Valance?«, in: Ders.: Hollywood Westerns and American Myth. London und New Haven: Yale University Press 2010, S. 61-101. Martin Seel: »Ethan Edwards und einige seiner Verwandten«, in: Merkur 63 (2009), S. 954-964.

Zur Antizipation zukünftigen Wandels Johannes Rohbeck

Von einem Philosophen sind keine konkreten Prognosen über den kulturellen Wandel in der Zukunft zu erwarten, nicht einmal eine sozialwissenschaftliche Theorie darüber. Wohl aber beabsichtige ich, diejenigen Diskurse, die über den zu erwartenden kulturellen Wandel Auskunft geben, auf philosophische Art und Weise zu analysieren. Genauer werde ich dies aus dem Blickwinkel der Philosophie der Geschichte tun, als deren Vertreter ich an diesem Band mitwirke. Ich beginne mit expliziten Aussagen von Geschichtsphilosophen, die sich meist in der Nähe des sogenannten Posthistoire bewegen. Sodann behandle ich Prognosen, die aus der Zukunftsforschung stammen, aber auch populärwissenschaftliche Publikationen, wobei die Grenze fließend ist, so dass ich mir erlaube, die Unterschiede zu vernachlässigen. Schließlich thematisiere ich die Ethik der Zukunft, die soziale Veränderungen zu antizipieren hat und den kulturellen Wandel sogar zum ethischen Prinzip erklärt. Allerdings darf das dabei zugrunde liegende Prinzip der Offenheit der Geschichte nicht absolut gelten, weil bestimmte Fehlentwicklungen auszuschließen sind. Daher schlage ich das Konzept einer bedingten Offenheit der Zukunft vor.

I. P HILOSOPHIE DER G ESCHICHTE Die Behauptung, dass es keine Zukunft mehr geben werde, ist gleichbedeutend mit der Rede vom »Ende« der Geschichte. Ohne Zukunftsperspektive kann es keine Geschichte mehr geben. Zwar ist nicht zu bezweifeln, dass es formaliter eine zukünftige Zeit geben wird, wohl aber werden Zweifel erhoben, ob die Zukunft eine inhaltlich sinnvolle Zeit sein wird,

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die später einmal den Namen Geschichte verdiente. Faktisch verlaufen die Zukunftsentwürfe und die Theorien über das Posthistoire getrennt nebeneinander; selten werden die Querverbindungen explizit, wie auch nur gelegentlich Berührungen, Überschneidungen und Verschiebungen zu beobachten sind. Hier sehe ich meine Aufgabe darin, die beiden Diskurse miteinander zu verbinden und dabei vergleichbare Topoi aufzuweisen.

Der Verlust von Zukunft und Geschichte Der Zweifel daran, ob die Zukunft eine Perspektive zu bieten hat, ist zunächst epistemologischer Art. Er besteht in der Befürchtung, dass die wissenschaftlichen Prognosen die Idee der Zukunft grundsätzlich in Frage stellen. Dahinter steckt eine Paradoxie: Einerseits nimmt das Wissen über die Zukunft immer mehr zu, andererseits wird durch die Prognosen die Zukunft letztlich vernichtet. Wenn nämlich die Prognosen immer sicherer werden, wenn also die zukünftige Zeit vollständig prognostizierbar und erforschbar wird, ist die Zukunft bekannt; sie birgt nichts wirklich Neues oder Unvorhersehbares mehr. Der Historiker Lucian Hölscher spricht in diesem Zusammenhang gar von einer »Kolonialisierung der Zukunft«.1 In eigenartigem Kontrast dazu steht die Behauptung, die Zukunft sei so ungewiss, dass kein hinreichend gesichertes Bild von der Zukunft möglich ist.2 Hatte es soeben geheißen, die Zukunft sei völlig erforscht und da1 | Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft. Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 227; im Gegensatz dazu sprach Hermann Lübbe von einem »Zukunftsgewissheitsschwund«: Hermann Lübbe: Der Lebenssinn der Industriegesellschaft. Über die moralische Verfassung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Berlin, Heidelberg und New York: Springer 1990, S. 68; siehe auch: Paul Noack: Eine Geschichte der Zukunft. Bonn: Bouvier 1996, S. 11; Georges Minois: Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen. Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler 1998, S. 759; Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 203ff. 2 | Vgl. Andrea Heubach: Generationengerechtigkeit. Herausforderung für die zeitgenössische Ethik. Göttingen: Unipress 2008, S. 125f; Johannes Caspar: »Generationen-Gerechtigkeit und moderner Rechtsstaat. Eine Analyse rechtlicher Beziehungen innerhalb der Zeit«, in: Dieter Birnbacher und Gerd Brudermüller (Hg.): Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 73-105, hier: S. 85f; Ludger Heidbrink: Handeln in der Un-

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her ohne Neuigkeiten, sind wir jetzt mit dem Gegenteil konfrontiert: Wir kennen nicht die zukünftigen Individuen, daher können wir für sie nicht verpflichtet werden. Wir kennen nicht die Zahl dieser Individuen, nicht ihre Eigenart, nicht ihre Lebensumstände, vor allem nicht ihre Wünsche. Daher besteht auch keine moralische Verpflichtung gegenüber zukünftigen Generationen. Ob nun völlige Gewissheit oder Ungewissheit verkündet wird, in jedem Fall führen die absoluten Positionen zu einer Haltung, in der die Zukunft ihre theoretische und praktische Bedeutung verliert. Ein weiterer Einwand bezieht sich vordergründig auf die Begriffsgeschichte, ist jedoch ebenso folgenreich. Es werden Zweifel laut, ob mit Blick auf die zukünftige Zeit überhaupt von der Zukunft gesprochen werden darf. Es geht um den Verlust eines einheitlichen Begriffs von Zukunft.3 Denn dieser Begriff setzt das neuzeitlich-moderne historische Bewusstsein voraus, durch das nicht nur der Kollektivsingular Geschichte entstanden ist,4 sondern eben auch der Begriff der Zukunft. Doch mit der Krise der Moderne steht auch der Zukunftsbegriff in Frage. Setzt Zukunft einen einheitlichen Zeitraum voraus, so ist diese Voraussetzung heute verloren gegangen. An die Stelle des Glaubens an die Einheit der Menschheit ist die Erfahrung der Desintegration und Differenz getreten. In der heutigen Gegenwart hat sich der moderne Universalismus aufgelöst und es dominieren divergierende Zeitvorstellungen. Das gilt auch für die Zukunft: Gegenwärtig ist eine »Zukunftszersplitterung« zu beobachten.5 Wenn es daher keine gemeinsame Zukunft mehr gibt, ist nur noch eine Vielzahl von »Zukünften« zu erwarten. Symptomatisch für diese unübersichtliche

gewissheit. Paradoxien der Verantwortung. Berlin: Kadmos 2007, S. 11ff; Dieter Birnbacher: »Verantwortung für zukünftige Generation. Reichweite und Grenzen«, in: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hg.): Handbuch Generationengerechtigkeit. München: Ökom Verlag 2003, S. 81-103, S. 81; Jörg Tremmel: Bevölkerungspolitik im Kontext ökologischer Generationengerechtigkeit. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2005, S. 15. 3 | Vgl. Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, S. 225f. 4 | Vgl. Reinhart Koselleck: »Geschichte«, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Band 2. Stuttgart: KlettCotta 1975, S. 593-717. 5 | Vgl. Noack: Eine Geschichte der Zukunft, S. 13; Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, S. 226.

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Situation ist die sprachliche Schwierigkeit, die Pluralisierung der Zukunft grammatikalisch korrekt auszudrücken. Schließlich werden im Zweifel an der Zukunft Theorien des Posthistoire übernommen und radikalisiert. Denn diese Position findet sich nicht nur bei den bekannten Autoren des Posthistoire wie bei Arnold Gehlen, Vilém Flusser oder Jean Baudrillard, sondern ganz unerwartet auch bei den sich selbst so verstehenden Futurologen wie Paul Noack, Georges Minois, Jacques Attali oder Emil M. Cioran. Sie behaupten, mit Zukunft sei überhaupt nicht mehr zu rechnen. Das geradezu »klassische« Argument lautet, die großen Utopien des 19. und 20. Jahrhunderts seien aufgebraucht und auch keine neuen Entwürfe in Sicht. Konsens besteht über den Niedergang der Ideologien wie Wirtschaftsliberalismus, Marxismus und Nationalismus. Damit hat die Zukunft nichts Verheißendes und Leuchtendes mehr, die traditionellen »Zukunftsmacher« haben ihre Rolle eingebüßt.6 Obwohl in unserer Zeit mehr denn je über Zukunft geredet und geschrieben wird, so klagt etwa Noack, ist es »im Grunde eine Zeit, die keine Zukunft mehr kennt«.7 Kurz, die Zukunft hat keine Zukunft. Im Zuge des Sinnverlustes der Spätmoderne verliert auch die Zukunft ihren Sinn.8 Das »Ende der Zukunft« hat für die Zeitstruktur der Zukunftsdiskurse eine zwiespältige Konsequenz: Zwar wird formal der Standpunkt des Autors vor dem Geschehen eingenommen. Doch wenn inhaltlich keine Zukunft mehr erwartet wird, hört die Gegenwart gar nicht mehr auf, sie gilt daher als endlos. Das andere Extrem besteht darin, dass durch die Beschleunigung der modernen Zivilisation die Zukunft immer näher rückt, so dass sich die Gegenwart zusehends verkürzt und gleichsam aufgesogen wird, bis die Zukunft gegenwärtig ist. Entweder leben wir auch zukünftig eigentlich noch in der Gegenwart oder wir leben schon gegenwärtig in der Zukunft. 6 | Vgl. Noack: Eine Geschichte der Zukunft, S. 72ff; Minois: Geschichte der Zukunft, S. 758; siehe auch André-Clément Decouflé: L’an 2000 – une anti-histoire de la fin du monde. Paris: Gallimard 1975, S. 132. 7 | Noack: Eine Geschichte der Zukunft, S. 7; vgl. Minois: Geschichte der Zukunft, S. 760. 8 | Vgl.: Jean Gimpel: Das Ende der Zukunft. Der technologische Niedergang des Westens. Holm: Deukalion 1995; siehe auch Minois: Geschichte der Zukunft; Noack: Eine Geschichte der Zukunft; Armin Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 333f.

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Endlose Gegenwart Auf der einen Seite wird behauptet, dass sich die Gegenwart endlos erstreckt, weil keine Zukunft im emphatischen Sinn zu erwarten ist. Wenn die Zivilisation der Gegenwart, so die Argumentation, nichts Neues mehr hervorbringt, gibt es keine wirkliche Zukunft mehr, sondern nur die Gegenwart. Weil jedoch die mechanische Zeit weiter läuft, geht auch die Gegenwart weiter, sie wird endlos, unaufhörlich, »erstreckte Gegenwart«.9 Wenn die Zukunft der Zeitraum ist, der sich von der Gegenwart unterscheidet, leben die Menschen auch zukünftig nur noch in der Gegenwart. Die Gegenwart ragt zunehmend in die Zukunft hinein. So wird die Zukunft ein Teilmoment einer Gegenwart, die sich immer mehr ausdehnt. Ich bezeichne diese Position als geschichtsphilosophischen Präsentismus,10 der sich vom ontologischen und ästhetischen Präsentismus unterscheidet.11 Genauer betrachtet, gibt es nach dieser Konzeption nicht etwa keine Zukunft mehr, sondern die Zukunft gilt nicht mehr als die maßgebende

9 | Helga Nowotny: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 9; vgl. Thomas Gil: Gestalten des Utopischen. Zur Sozialpragmatik kollektiver Vorstellungen. Konstanz: Universitätsverlag 1997, S. 128, S. 133. 10 | Vgl. Peter Sloterdijk: Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 121; Ralf Konersmann: »Historische Gerechtigkeit. Proklamation des Präsentismus«, in: Claus Langbehn (Hg.): Recht, Gerechtigkeit und Freiheit. Aufsätze zur politischen Philosophie der Gegenwart. Paderborn: Mentis 2006, S. 269-286; Thomas Macho: »Künftige Generationen. Zur Futurisierung der Ethik in der Moderne«, in: Claus Langbehn (Hg.): Recht, Gerechtigkeit und Freiheit. Aufsätze zur politischen Philosophie der Gegenwart. Paderborn: Mentis 2006, S. 316-324; siehe auch: Gil: Gestalten des Utopischen, S. 128; Dieter Sturma: »Die erweiterte Gegenwart. Kontingenz, Zeit und praktische Selbstverhältnisse im Leben von Personen«, in: Antje Gimmerle, Mike Sandbothe und Walter C. Zimmerli (Hg.): Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen – Analysen – Konzepte: Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, S. 63-78, S. 65f. 11 | Vgl. Michael Theunissen: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 185f; Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 143ff; Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft, S. 333.

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Zeit.12 Das Utopische, das die Prognosen immer noch ausdrücken, ist kein auf Zukunft hin offenes Utopisches, sondern die qualitative Version einer besseren Gegenwart, die zwar morgen Realität werden kann, aber eben bloß als morgige Gegenwart. Zwar gibt es weiterhin Zukunft, aber nur als die Gegenwart von morgen, in der die Probleme von heute noch eine reale Chance haben, gelöst und bewältigt zu werden. Zukunft fungiert nur noch als Verlängerung der Gegenwart. Sie wird assimiliert und ist einer ganzen Zivilisation gegenwärtig wie die utopischen Welten, aus denen man die Zeit entfernt hat. Die Gegenwart hat die Vergangenheit und die Zukunft in sich aufgenommen.

Vorzeitige Zukunft Auf der anderen Seite steht dieser Art Präsentismus eine Position gegenüber, in der behauptet wird: Die Beschleunigung des sozialen Wandels lässt die Zukunft immer näher rücken. Dadurch verkürzt sich die Gegenwart, sie wird von der Zukunft verschlungen. Die wachsende Nähe der Zukunft lässt die Gegenwart schrumpfen. Während zuvor die Zukunft in immer größere Ferne rückte, nähert sich jetzt die Zukunft bis zur Auflösung der Gegenwart. Während zuvor die Zukunft immer später wurde und sich so immer mehr verspätete, wird sie jetzt immer früher, sie kommt vorzeitig in der Gegenwart an und wird allzu rasch Gegenwart. Während bisher die Gegenwart in die Zukunft hineinragte, wird sie jetzt von der Zukunft aufgesaugt. Während die Gegenwart entwertet wird, weil sie immer schneller veraltet, entsteht immer mehr Zukunft auf Kosten der Gegenwart. Die Zukunft reduziert die Gegenwart, in der sie immer schon präsent ist. Auch mit dieser entgegengesetzten Diagnose verbindet sich eine Zivilisationskritik. Hermann Lübbe interpretiert die Beschleunigung der modernen Zivilisation, welche den »Aufenthalt in der Gegenwart« verkürzt, als einen Verlust der Orientierung. Der Zeithorizont verengt sich so sehr, dass die näher rückende Zukunft als Bedrängnis erfahren wird.13 Die temporale Nähe des Unbekannten schwächt das Sicherheitsgefühl, wodurch 12 | Vgl.: Alvin Toffler: Der Zukunftsschock. Strategien über die Welt von Morgen. München: Goldmann 1970; Minois: Geschichte der Zukunft, S. 759. 13 | Vgl. Hermann Lübbe: Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart. Berlin, Heidelberg und New York: Springer 1992, S. 1ff; Lübbe: Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, S. 82, S. 114; siehe auch Hermann Lübbe: Zeit-

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neue Ängste entstehen. Die Risikoakzeptanz schwindet und das historische Bewusstsein wird überfordert. Damit begründet Lübbe einen Orientierungsverlust, der nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft unsichtbar macht. Hatte Hölscher von einer »Kolonialisierung der Zukunft« durch die wissenschaftlichen Prognosen gesprochen, so behauptet Lübbe eine »Kolonialisierung der Gegenwart durch die Zukunft«.14 Folgt man dem Soziologen Hartmut Rosa, übersteigt die soziale Beschleunigung in der Spätmoderne einen kritischen Punkt, jenseits dessen sich der Anspruch auf gesellschaftliche Synchronisation und soziale Integration nicht mehr aufrechterhalten lässt.15 Die Beschleunigung als Kern der Modernisierung hat sich gegen das ursprüngliche Projekt der Moderne gekehrt. Auf diese Weise führt die Verzeitlichung der Gesellschaft zu ihrer Entzeitlichung, die letztlich Stillstand bedeutet. Am Ende steht die Entzeitlichung der Geschichte. In diesem Zusammenhang spricht Alvin Toffler von einem »Zukunftsschock«, der darin besteht, dass die Zukunft zu schnell Gegenwart geworden ist.16 Für die Menschen bedeutet es einen »Schock«, wenn aus Zukunft plötzlich Gegenwart wird. Sie werden von den beschleunigten Veränderungen überrumpelt; sie stoßen unvermittelt auf die Zukunft und prallen mit ihr zusammen. Diese Konfrontation führt zu einer tief greifenden Desorientierung, die eintritt, wenn eine neue Kultur die alte überlagert. Dadurch werden die Erfahrung und das Wissen der Gegenwart entwertet, so dass es nicht mehr zählt. Der von Toffler behauptete Zukunftsschock ist im Grunde ein »Kulturschock«, durch den Individuen, Gesellschaften und Generationen in eine ihnen unbekannte neue Welt versetzt werden. Der Druck der Anpassung und die Dauer-Erwartung des Neuen machen die Menschen krank, die sich immer häufiger gewandelten Situationen ausgesetzt fühlen, in denen sie ihre früheren Erfahrungen nicht anwenden können.

Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts. Graz: Verlag Styria 1983, S. 35; Koselleck: Zeitschichten, S. 150ff. 14 | Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, S. 227; Lübbe: Im Zug der Zeit, S. 3. 15 | Vgl.: Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 49f., S. 384f., S. 402ff., S. 419, S. 452. 16 | Vgl.: Toffler: Der Zukunftsschock, S. 9ff, S. 242.

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Positiv konnotiert wird die Zukunft hingegen in Robert Jungks bekannt gewordenen Buch Die Zukunft hat schon begonnen.17 In diesem Geiste titelt Horst W. Opaschowski: »Die Zukunft wartet nicht. Die Zukunft beginnt – jetzt! Auch die Zukunft des Jahres 2030 hat längst begonnen.«18 Hinter diesem Motto verbirgt sich häufig die Idee des Fortschritts, das heißt die optimistische Erwartung, dass die Zukunft besser werden könnte oder dass es sich lohnt, für eine bessere Zukunft tätig zu werden. Demnach kann die Zukunft gar nicht schnell genug eintreten, weil sich daran die Hoffnung auf eine vorzeitige Utopie knüpft. Da die Zukunft eigentlich schon begonnen hat, wollen die Menschen die Gegenwart, die sie abwerten, so schnell wie möglich hinter sich lassen, ja sie leben sogar schon gegenwärtig in der Zukunft. Die Beschleunigung wird als nahe Zukunft erfahren und ausdrücklich erwünscht. Aus dem Optimismus der Zukunft ist inzwischen ein trivialer Werbespruch geworden, der für Innovation und ökonomische Effektivität stehen soll. Zugleich lässt sich auch politischer Zweckoptimismus beobachten, wenn etwa nach dem Desaster des Klimagipfels in Kopenhagen die Heinrich Böll Stiftung titelt: »Going Green – die grüne Zukunft hat schon begonnen«. Im Unterschied zur Konzeption der »endlosen Gegenwart« erweist sich die »vorzeitige Zukunft« als ambivalent. Während einige Autoren in der näher rückenden Zukunft die Gefahr eines Orientierungsverlustes sehen, begrüßen andere Autoren die beschleunigte Nähe des Zukünftigen als Dynamik der Moderne. Doch beiden Varianten ist gemeinsam, dass die Gegenwart von der Zukunft assimiliert wird und letztlich verschwindet. Letztlich folgt daraus, dass auch in diesem Fall die Zukunft negiert wird, weil sie sich von der Gegenwart nicht mehr unterscheiden lässt.

17 | Robert Jungk: Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht. Bern, Stuttgart und Wien: Scherz 1952. 18 | Horst W. Opaschewski: Deutschland 2030. Wie wir in Zukunft leben. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008, S. 17, S. 729; vgl. Hans-Ulrich Klose: »Die Zukunft hat schon begonnen«, in: Ders. (Hg.): Altern der Gesellschaft. Antworten auf den demographischen Wandel. Köln: Bund-Verlag 1993, S. 7-26.

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Die Gegenwart als Zeit der Handlung Im Hinblick auf die Ethik stellt sich hingegen die Aufgabe, den Unterschied zwischen Gegenwart und Zukunft herauszuarbeiten – nicht im Sinne einer präsentistischen Bevorzugung der Gegenwart, sondern im Gegenteil zur Rettung der Zukunftsperspektive. Wenn die Indifferenz von Gegenwart und Zukunft zu einem Orientierungsverlust führt, folgt daraus, dass das Festhalten an einer von der Zukunft unterschiedenen Gegenwart unverzichtbar ist, um sich im Handeln und für das Handeln zu orientieren, um überhaupt verantwortlich handeln zu können. Die Parteinahme für die Gegenwart mit Perspektive auf die Zukunft hat eine praktische und schließlich auch ethische Dimension. In diesem Sinn wird die zukünftige Zeit als ein Zeitraum vorgestellt, der durch Handlungen beeinflussbar ist, der veränderbar ist, der die Bedingungen der Möglichkeit für ein veränderndes Handeln enthält. Wenn die Zivilisation sich angeblich nicht verändert, hat die oben zitierte Beobachtung eine gewisse Berechtigung, dass sich die Gegenwart endlos erstreckt. Wenn hingegen die Herausforderungen der diversen Krisen angenommen werden, beginnt die Zukunft mit der aktiven Krisenbewältigung. Die Zukunft beginnt dort, wo das Gleiche der Gegenwart endet und etwas Neues anfängt. Die Zukunft wird wieder gewonnen, wenn es gelingt, sie offen zu halten, indem Alternativen gefunden werden. Der praktische Grund für den Standpunkt der Gegenwart besteht also darin, an der Gegenwart als eigenständigem Handlungsraum festzuhalten.19 Allein die Gegenwart ist die Zeit der Handlung. Nur heute kann im Hinblick auf zukünftige Ereignisse gehandelt werden. Daher kann die Verantwortung nur gegenwärtig lebenden Personen zugeschrieben werden; nur aus dieser Perspektive ist die in die Zukunft reichende Verantwortung ableitbar. Ist die Perspektive der Gegenwart einmal anerkannt, eröffnet sich überhaupt erst das Feld gegenwärtiger Debatten über die gerechte 19 | Vgl.: Dieter Sturma: »Die Gegenwart der Langzeitverantwortung«, in: Claus Langbehn (Hg.): Recht, Gerechtigkeit und Freiheit. Aufsätze zur politischen Philosophie der Gegenwart. Paderborn: Mentis 2006, S. 221-238, S. 221ff; siehe auch Armin Grunwald: Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft. Philosophisch-ethische Fragen. Freiburg und München: Alber 2008, S. 321ff, S. 331; Johannes Rohbeck: Aufklärung und Geschichte: Über eine praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft. Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 226ff.

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Verteilung zukünftiger Güter. Zwar liegen die beabsichtigten Wirkungen in einer deutlich entfernten Zukunft, aber das dafür verpflichtende Verhalten der Menschen ist in der Gegenwart angesiedelt. Für die Gegenwart bedeutet es, dass sie als Zeit der Handlung begriffen wird.

II. E THIK DER Z UKUNF T Wenn die Zukunft vom Standpunkt der Gegenwart als ein offener Handlungsraum zu konzipieren ist, wird noch ein anderer Aspekt wichtig, der das Thema dieses Bandes bildet. Auch für die Zukunft ist ein kultureller Wandel zu antizipieren, der ein wesentliches Kriterium für die Bemessung der Vorsorge für zukünftige Generationen bildet. Geschichtsphilosophisch ausgedrückt geht es dabei um die Offenheit der Geschichte. Aufklärung und Moderne hatten die Weltgeschichte bekanntlich »entfristet«.20 Auf diese Weise wurde die Heilsgeschichte in die profane Geschichte eines offenen Prozesses umgedeutet. Doch in der in jüngster Zeit wieder belebten Apokalypse schlägt diese Entfristung in eine neuerliche Befristung um.21 An die Stelle einer offenen Geschichte tritt wieder eine 20 | Vgl. Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 180ff; Odo Marquard: »Zeit und Endlichkeit«, in: Hans Michael Baumgartner (Hg.): Das Rätsel der Zeit. Philosophische Analysen. Freiburg und München: Karl Alber 1993, S. 363ff. – Unberücksichtigt bleibt hier die Frage, ob die moderne Geschichtsphilosophie eine Säkularisierung der christlichen Heilsgeschichte darstellt; vgl. hierzu: Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart: Kohlhammer 1953, S. 11ff, S. 129ff, S. 168ff; Hans Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 60; Walter Jaeschke: Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie. Eine historische Kritik der Säkularisierungsthese. München: Kaiser 1976, S. 13ff; Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Basel: Schwabe 2006, S. 230f.; Rohbeck: Aufklärung und Geschichte, S. 120ff. 21 | Vgl. Sloterdijk: Eurotaoismus, S. 171ff; Rom Harré, Jens Brockmeier und Peter Mühläuser: Greenspeak: A Study of Envoromental Discourse. London: Sage Publications 1999, S. 8ff; Alexander Demandt: Endzeit? Die Zukunft der Geschichte. Berlin: Siedler 1993, S. 46.

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abgeschlossen Geschichte. Erst mit der erwarteten »Rettung aus der Gefahr« kommt ein eschatologisches Moment zum Zuge, das die Geschichte wieder öffnet. Während die Apokalypse auf das »Ende der Welt« zielt, verheißt die Eschatologie einen »Neuanfang«, der auch in der gegenwärtigen Ethik der Zukunft eine Rolle spielt. Das Prinzip der Offenheit der Geschichte verbietet es, die aktuelle Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation in die Zukunft zu projizieren. Während der sogenannten Trendforschung vorgeworfen wird, lediglich Gegenwartsentwicklungen zu beschreiben, nimmt die Zukunftsforschung für sich in Anspruch, den zu erwartenden kulturellen Wandel ernst zu nehmen. Ebenso ist für die ethische Urteilsfindung der Umstand entscheidend, dass sich vor allem auch die Wertmaßstäbe der zukünftig Lebenden verändern werden. Dies bedeutet, die Einzigartigkeit der Gegenwart als besonderer historischer Zeit und damit die Andersartigkeit der Zukunft anzuerkennen. Es setzt ein historisches Bewusstsein darüber voraus, dass sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kulturell voneinander unterscheiden. Doch das Prinzip der Offenheit der Geschichte darf aus meiner Sicht keine absolute Gültigkeit beanspruchen. Denn es könnte so missverstanden werden, dass die Zukunft so »offen« sei, dass keinerlei Festlegungen möglich oder erwünscht wären. Das liefe auf einen radikalen Liberalismus hinaus, demzufolge jede Langzeitverantwortung müßig wäre. In diesem Sinne würden sich die Prinzipien Offenheit und Verantwortung sogar widersprechen. Daraus resultiert die Aufgabe, einen neuen Typ von Offenheit der Geschichte zu formulieren, der zugleich bestimmte Determinierungen enthält. Es bedarf einer qualifizierten Offenheit der Geschichte. Sie bedeutet, dass in der Zukunft nicht alles möglich sein darf, da es bestimmte Gefahren auszuschließen gilt. Das Prinzip der Offenheit der Geschichte ist so zu differenzieren, dass es nicht allein Wahlmöglichkeiten eröffnet, sondern dass vor allem die dafür notwendigen Bedingungen geschaffen werden. Gegenüber der Offenheit bedarf es zugleich der Schließung, das heißt der Ausschließung drohender Schäden. Zwar ist kein Abschluss der Geschichte zu erwarten, wohl aber der Ausschluss von Risiken. Offenheit und Geschlossenheit der Geschichte sind in ein neues Verhältnis zu setzen.

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Offenheit der Geschichte Auf der einen Seite ist für die Ethik der Zukunft der Umstand entscheidend, dass sich nicht nur die Lebensumstände, sondern vor allem auch die Wertmaßstäbe der zukünftig Lebenden verändern werden. Was in der modernen Geschichtswissenschaft oder in der historischen Soziologie zum Standard gehört, erweist sich jedoch in der Zukunftsethik als nicht so selbstverständlich und findet dort erst in jüngster Zeit Eingang. Die historische Erfahrung, dass es in modernen Gesellschaften einen steten und beschleunigten Wandel gegeben hat, und die daraus ableitbare Erwartung, dass dieser Wandel auch in Zukunft eintreten wird, legt das praktische Verhalten nahe, diesen Wandel aktiv zu unterstützen. Traditionelle Zukunftsethiken schreiben im Grunde den bisherigen Geschichtsprozess fort, indem sie unterstellen, dass zukünftige Generationen zwar neue und heute schwer vorhersehbare Technologien entwickeln, aber letztlich gleich bleibende Bedürfnisse und Interessen haben werden, so dass sich jederzeit eine Nutzensumme von Gütern und Glücksansprüchen berechnen lasse. In diesem Licht mag auch der Utilitarismus ›autoritär‹ anmuten, weil er das Glück der in Zukunft lebenden Menschen vorsorglich festschreibt. Dagegen können Zweifel angemeldet werden mit dem Argument, dass die Idee des guten Lebens einen genuin zeitlichen Sinn hat und von historischen Brüchen eingeholt wird.22 Dieser Überzeugung schließen sich inzwischen die meisten Utilitaristen an, indem sie die prognostische Unsicherheit der Technikfolgenabschätzung nun auch durch die Ungewissheit über die in Zukunft veränderten Zielvorstellungen ergänzen. Demnach ist zu erwarten, dass sich auch die Kultur als »Wertegemeinschaft« fortentwickeln wird, die in späteren Zeiten jeweils neue Optionen ermöglicht.23 Wir können heute nicht 22 | Kritisch zu Birnbacher: Wilhelm Vossenkuhl: »Heute und morgen gut? Über den zeitlichen Sinn des Guten«, in: Carmen Kaminsky und Oliver Hallich (Hg.): Verantwortung für die Zukunft. Berlin: LIT Verlag 2006, S. 49-62, S. 49; vgl. Otfried Höffe: Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 184; Hans-Peter Weikard: Wahlfreiheit für zukünftige Generationen. Neue Grundlagen für eine Ressourcenökonomik. Marburg: Metropolis 1999, S. 10. 23 | Dieter Birnbacher und Christian Schicha: »Vorsorge statt Nachhaltigkeit – Ethische Grundlagen der Zukunftsverantwortung«, in: Birnbacher und Brudermül-

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sagen, welche Präferenzausbildung zukünftige Generationen haben werden. Daraus folgt für die Zukunftsethik, dass nicht primär für bestimmte Güter gesorgt wird, weil man ja nicht wissen kann, ob diese von den zukünftigen Generationen geschätzt werden. Vielmehr ist es geboten, die Bedingungen der Möglichkeit für die Wahl zwischen verschiedenartigen Gütern zu schaffen.24 Daher sind nicht bestimmte Interessen später lebender Menschen zu berücksichtigen, sondern Optionen, welche möglichen Interessen zukünftiger Generationen eine reelle Chance auf Verwirklichung einräumen. Es geht also nicht um die Sorge für festgelegte Interessen später lebender Personen, sondern um die Entwicklung zumutbarer ökonomischer, sozialer und kultureller Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben. Die Frage lautet nicht, was Zukünftige brauchen, sondern was wir ihnen zur Verfügung stellen. Es geht auch nicht primär um die Vermeidung zukünftiger Schäden an bestimmten Personen, sondern vielmehr um die Vermeidung von Risiken durch gegenwärtiges Handeln ler (Hg.): Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität, S. 17-33, S. 19f, S. 24; Anton Leist: »Ökologische Gerechtigkeit. Global, intergenerationell und humanökologisch«, in: Julian Nida-Rümelin (Hg.): Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2005, S. 426-513, S. 470f; Sturma: Die Gegenwart der Langzeitverantwortung, S. 230; Andreas Lienkamp: Klimawandel und Gerechtigkeit. Eine Ethik der Nachhaltigkeit in christlicher Perspektive. Paderborn: Schöning 2009, S. 281; das entspricht dem Prinzip der »Öffnungsbedingung«, Ladenburger Diskurs »Langzeitverantwortung« von Jürgen Mittelstraß und Carl Friedrich Gethmann, in: Gottlieb Daimler und Karl Benz-Stiftung (Hg.), Jahresbericht 2001/2002, Ladenburg, S. 42f. 24 | Von einem »Pluralismus zweiter Ordnung«, der nicht nur toleriert, sondern auch postuliert wird, spricht Walter C. Zimmerli: Einleitung zu »Kapitalismus als Kultur?«, in: Jörn Rüsen, Hanna Leigeb und Norbert Jegelka (Hg.): Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung. Frankfurt a.M.: Campus 1999, S. 132140, S. 134f; vgl. Klaus Kornwachs: Das Prinzip der Bedingungserhaltung. Eine ethische Studie. Münster: LIT 2000, S. 60ff; Sturma: Die Gegenwart der Langzeitverantwortung, S. 230; Angelika Krebs: »Wieviel Natur schulden wir der Zukunft? Kritik am zukunftsethischen Egalitarismus«, in: Birnbacher und Brudermüller (Hg.): Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität, S. 157-182, S. 157; Dietrich Böhler: Zukunftsverantwortung in globaler Perspektive. Zur Aktualität von Hans Jonas und der Diskursethik. Bad Homburg: VAS 2009, S. 63.

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oder Unterlassen, sofern diese Risiken als streng oder faktisch irreversibel gelten. Ebensowenig sollen die Rechte oder Pflichten zukünftiger Generationen geschützt und bewahrt werden, vielmehr geht es um die »Erhaltung zumutbarer ökonomischer, sozialer und kultureller Bedingungen für die menschliche Lebensform«.25 Ziel ist es, den Möglichkeitshorizont offen zu halten, indem Handlungsspielräume zur Verwirklichung je eigener Lebensentwürfe erhalten oder geschaffen werden. So sollen wir beispielsweise nicht nur bestimmte Verkehrssysteme hinterlassen, sondern auch die Freiheit, bestimmte Systeme wieder rückgängig zu machen oder zu verändern wie überhaupt den Wert Mobilität neu zu definieren. Auch generationenübergreifende Kooperationsprojekte wie zum Beispiel die Raumfahrt sollten so flexibel angelegt sein, dass nachfolgende Generationen die Möglichkeit erhalten, entsprechende Pläne zu verändern oder abzubrechen. Es kommt darauf an, eine Alternative zum bisherigen Prozess der Modernisierung oder einen alternativen Fortschritt zu ermöglichen. Zur Offenheit gehört auch das Prinzip der Reversibilität, das heißt die Ermöglichung von Reversionen von Schäden. Offenheit kann so auch das Rückgängigmachen von Fehlentwicklungen und die Rückkehr zu früheren Zuständen bedeuten. In diesem Kontext lautet die Formel: »Intergenerationelle Gerechtigkeit bedeutet also, allen Individuen gleiche Wahlfreiheit zu gewähren, unabhängig davon, zu welcher Generation ein Individuum gehört.«26 Es 25 | Sturma: Die Gegenwart der Langzeitverantwortung, S. 235; vgl. David Thomson: »Generations, Justice, and the Future of Collective Action«, in: Peter Laslett und James S. Fishkin (Hg.): Justice between Age Groups and Generations. New Haven und London: Yale University Press 1992, S. 237-235, S. 237ff. 26 | Weikard: Wahlfreiheit für zukünftige Generationen, S. 85; Günter Altner: »Menschliche Grundbedürfnisse«, in: Birgit Breuel (Hg.): Agenda 21. Vision: nachhaltige Entwicklung. Frankfurt a.M. und New York: Campus Verlag 1999, S. 134140, S. 134ff; Jürgen Kopfmüller et al.: Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet. Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren. Berlin: Edition Sigma 2001, S. 75. – In diesen Zusammenhang gehört das Konzept des »Planetary Trust« von Edith Brown Weiss; die »Conservation of Options« erfordert den Erhalt der natürlichen und kulturellen Vielfalt sowie der Wahlmöglichkeiten für spätere Generationen; vgl. Michael von Hauff und Alexandro Kleine: Nachhaltige Entwicklung. Grundlagen und Umsetzung. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2009, S. 109.

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dürfen keine wirtschaftlichen, ökologischen oder gesellschaftlichen Belastungen akkumuliert werden, welche die Entscheidungsfreiheit zukünftiger Generationen über ihren Lebensstil beschneiden beziehungsweise eine Unerfüllbarkeit der Mindestanforderungen für ein menschenwürdiges Leben späterer Generationen riskieren. Dahinter steht die Kritik am Utilitarismus mit seiner Vorstellung wachsenden Wohlstands, ebenso die Kritik an der normativen Ökonomik, die bisher Wohlfahrtsökonomik war. Doch das Konzept der Wohlfahrt hat sich als zu eng erwiesen, da es einen einheitlichen Vergleichsmaßstab und damit letztlich eine homogene Entwicklung in der Geschichte voraussetzt. Die neue Ökonomik thematisiert die Rechte und Freiheiten von Individuen, deren Wahlhandlungen und Präferenzen, aber auch mehr Eigenverantwortung. Den nachrückenden Generationen sollen mindestens die gleichen Chancen zur Befriedigung ihrer grundsätzlichen Bedürfnisse erhalten werden, wie sie der heutigen Generation zur Verfügung stehen. Gerechtigkeit herrscht, wenn die Menschen eine Ausgangssituation mit gleicher Ausstattung vorfinden. Intergenerationelle Gerechtigkeit besteht dann in intergenerationell gerechten Voraussetzungen, indem die Mitglieder aller Generationen gleich gute Wahlmöglichkeiten erhalten sollen. An die Stelle der Wohlfahrt treten der Wert der Vielfalt und die entsprechende Wahlfreiheit als Wertbasis. An die Stelle der Fürsorge die Vorsorge für Chancengleichheit. Dahinter steht nicht zuletzt die Kritik am Egalitarismus, dem vorgeworfen wird, alle Bedürfnisse, Interessen und Lebensweisen nach dem gleichen Standard zu bemessen. Demzufolge wären wir verpflichtet, den zukünftigen Menschen »das Gleiche« zu hinterlassen, also die Realisierung »gleicher« Glücksansprüche zu garantieren. Ein derart einheitlicher Maßstab setzt wiederum einen mehr oder weniger homogenen Prozess in der Geschichte voraus. Praktisch liefe es darauf hinaus, dass man letztlich für alle Länder eine gleiche oder ähnliche Entwicklung konzipierte – einschließlich ihrer ökologischen und sozialen Schäden. Um diesen Fehlschluss zu vermeiden und die Vielfalt der Kulturen anzuerkennen, dient nun das Programm einer Ermöglichung grundlegender Entwicklungspotenziale. Während der Ansatz der »Grundbedürfnisse« vorwiegend auf materielle Aspekte abzielt,27 richtet sich dieses Konzept der »Verwirklichungs27 | Zu den »Grundbedürfnissen« gehören, ohne dass darüber ein Konsens besteht: Ausreichende Nahrung, Arbeit zum Lebensunterhalt, Gesundheitsfürsorge,

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chancen« oder »Befähigungen«, das in das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen aufgenommen wurde, auf die Summe der aktiven Möglichkeiten beziehungsweise Fähigkeiten, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, sodann auch auf kulturelle Bedürfnisse wie sinnvolle Arbeit, soziale Anerkennung und politische Partizipation.28 Befähigungen sind daher die Gesamtheit an Dingen, die einer Person erstrebenswert erscheinen und die sie wählen kann zu sein beziehungsweise zu tun. Sie können elementar oder komplex sein und bilden einen wichtigen Teil der individuellen Freiheit. Das Prinzip der Wahlfreiheit bedeutet zunächst Diskontinuität in der Geschichte. Mit der Garantie gerechter Wahlmöglichkeiten werden vertraute Kontinuitäten wie die Vorstellung eines fortschreitenden Wohlstandes verabschiedet. In Frage gestellt wird nicht nur, ob aus heutiger Sicht ökonomische Prosperität in Zukunft erreicht werden kann, sondern vor allem auch, ob dieses Ziel überhaupt wünschenswert ist. Der noch bedeutsamere Bruch besteht darin, dass in Zweifel gezogen wird, ob dieses Ziel von den zukünftigen Generationen überhaupt für erstrebenswert gehalten wird. Geschichtsphilosophisch formuliert, liegt die so ermöglichte Freiheit darin, den zivilisatorischen ›Fortschritt‹ selbst zu bestimmen oder auch in sanitäre Einrichtungen, eine Wohnmöglichkeit und eine ausreichende Wasser- und Energieversorgung; Weikard: Wahlfreiheit für zukünftige Generationen, S. 163ff; Florian Mehl: Komplexe Bewertungen. Zur ethischen Grundlegung der Technikbewertung. Münster: Lit 2001, 202ff; Jörg Tremmel: »Generationengerechtigkeit – Versuch einer Definition«, in: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hg.): Handbuch Generationengerechtigkeit. München 2003, S. 27-78, S. 47. 28 | Vgl.: Amartya Sen: »Capability and well-being«, in: Martha C. Nussbaum und Amartya Sen (Hg.): The Quality of Life: A Study Prepared for the World Institute for Development Economics Research (WIDER) of the United Nations University. Oxford, New York, Athens: Clarendon Press 1995, S. 30-53, S. 30ff; Amartya Sen: The Idea of Justice. London, New York und Ontario: Penguin Group 2009, S. 231, S. 271; ähnlich Martha C. Nussbaum: Frontiers of Justice: Disibility, Nationality, Species Membership. Cambridge: Harvard University Pess 2006, S. 87ff; vgl.: JanHendrik Heinrichs: Grundbefähigungen. Zum Verhältnis von Ethik und Ökonomie (= Ethica, Bd. 12). Paderborn: Mentis 2006, S. 177; Franz Nuscheler: Entwicklungspolitik. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2006, S. 233; Henning Hahn: Globale Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. Frankfurt a.M.: Campus 2009, S. 117ff.

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Frage zu stellen, indem zur Disposition steht, ob sich eine Generation auf einem bescheideneren Niveau andere Vorteile der Umwelt und sozialen Gerechtigkeit verschaffen kann. Damit wird berücksichtigt, dass sogar das Geschichtsbewusstsein selbst einem historischen Wandel unterliegt und sich in Zukunft ändern kann. Diese Art Diskontinuität betrifft also nicht nur die Mittel der Realisierung, sondern die Wertbasis der Zukunftsverantwortung. Wesentlich ist die Voraussetzung, dass die historische Entwicklung von Werten, Optionen und Präferenzen kontingent ist, dass diese Kontingenz reflektiert wird und dass mit ihr bewusst umgegangen wird. Die Wahlfreiheit in den Mittelpunkt zu stellen, bedeutet, die Kontingenz zum ethischen Programm zu machen, indem Handlungsspielräume offen gehalten und sogar noch erweitert werden. In diesem Kontext mutiert die Offenheit der Geschichte zu einer ethischen Kategorie. Die historische Erfahrung, dass es in modernen Gesellschaften einen steten und beschleunigten kulturellen Wandel gegeben hat, und die daraus ableitbare Erwartung, dass dieser Wandel auch in Zukunft eintreten wird, legt das praktische Verhalten nahe, diesen Wandel aktiv zu unterstützen. Daraus folgt das moralische Gebot, den zukünftigen Generationen eine Veränderung ihrer Lebensweise nicht nur zuzugestehen, sondern auch durch gezielte Maßnahmen freizustellen. Die Ermöglichung des kulturellen Wandels wird zur moralischen Pflicht, die das Recht auf freie Wahl und Selbstbestimmung einer jeden Generation zuschreibt.

Bedingte Offenheit Auf der anderen Seite darf das Prinzip der Offenheit nicht verabsolutiert werden. Denn häufig ist es ein Motto des radikalen Liberalismus, der alles so laufen lassen will wie bisher, was auch immer am Ende herauskommt. Notwendig ist es vielmehr, bestimmte Gefahren auszuschließen. Daher ist es erforderlich, der Öffnung auch Schranken zu setzen. Das erklärte Ziel besteht darin, die Bedingungen für die Befriedigung der Bedürfnisse und darauf aufbauende weitere Optionen für die Zukunft sicherzustellen. Das gilt für eine lebenswerte Umwelt, für die Erhaltung natürlicher Ressourcen, für eine intakte Infrastruktur und für ausreichende Staatsfinanzen. Dabei zeigt sich, dass die zu garantierende Wahlfreiheit den Umfang der zu bewahrenden Ressourcen sogar noch erweitert, weil ja nicht ausgeschlossen werden kann, dass zukünftige Generation auf Dinge Wert legen

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werden, die uns heute weniger bedeuten. Auf dem Feld der Biodiversität ist diese Tendenz bereits zu beobachten. In dieser Hinsicht ist also wieder Kontinuität gefordert, die nicht dem Zufall überlassen werden darf. Doch dabei handelt es sich nicht mehr um die alte Kontinuität des Wirtschaftswachstums, sondern um eine neue Kontinuität der ökologischen und sozialen Gerechtigkeit. Hier darf es keine Lücken in der Geschichte geben. Dazu gehört auch, an bestimmten universalen Prinzipien festzuhalten, selbst wenn sich dabei die Frage nach der Berechtigung einer Anwendung gegenwärtiger Maßstäbe auf die Zukunft stellt und die Unsicherheit über die historische Reichweite ethischer Standards bestehen bleibt. Diese Art Kontinuität kann schließlich als ein moralisches und politisches Gebot bezeichnet werden. Um politische Kontinuität zu garantieren, fordert Antony Giddens rechtlich bindende Systeme, die aufeinander folgende Regierungen durch die Verfassung verpflichten, zum Beispiel das Programm der Emissionsreduktion fortzuführen.29 Gefordert ist also eine Kontinuität ethischer Verantwortung. Diese Kontinuität bedeutet Festlegung und Ausschließung zugleich. Wenn auch kein Abschluss der Geschichte im Ganzen möglich und wünschenswert ist, so ist doch ein Ausschluss von Risiken geboten. Auch wenn keine Befristung der Geschichte im Ganzen angestrebt wird, so sind doch wenigstens historische Fristen einzuhalten, die Gefahren markieren. Hatte Francis Bacon auf dem Titelbild seines Novum Organum den Aufbruch auf das offene Meer des Atlantiks propagiert, vor dem schon Kant aus erkenntnistheoretischen Gründen gewarnt hatte, so sind jetzt in praktischer Absicht begrenzende und leitende Bojen zu setzen für sichere Fahrwege. Auf der historischen Landkarte müssen Sperrzonen des Risikos eingerichtet werden. Diese Vorsichtsmaßnahmen bedeuten daher nicht nur Öffnung, sondern auch Schließungen und Beschränkungen. Es kommt darauf an, Dämme zu errichten und Irrwege zu blockieren. Die Geschichte im Gan29 | Vgl. Anthony Giddens: The Politics of Climate Change. Cambridge: Polity Press 2008, S. 84. – So hat sich beispielsweise die britische Regierung gesetzlich dazu verpflichtet, die Treibhausgase zu reduzieren, bis zum Jahr 2020 um mindestens 26 Prozent und bis 2050 um mindestens 60 Prozent; vgl. außerdem: Opaschewski: Deutschland 2030, S. 183; Harald Welzer: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Frankfurt a.M.: Fischer 2008, S. 250ff; Klaus Leggewie und Harald Welzer: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie. Frankfurt a.M.: Fischer 2009, S. 130, S. 156ff, S. 174ff.

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zen kann damit nicht kanalisiert werden, wohl aber gibt es die Verpflichtung, gefährliche Kanäle zu sperren, indem bestimmte Entwicklungskorridore der Geschichte eingerichtet werden. »Offenheit« heißt damit Einschluss günstiger und Ausschluss schädlicher Bedingungen. In diesem Sinn plädiere ich für eine bedingte Offenheit der Zukunft.

L ITER ATUR Günter Altner: »Menschliche Grundbedürfnisse«, in: Birgit Breuel (Hg.): Agenda 21. Vision: nachhaltige Entwicklung. Frankfurt a.M. und New York: Campus Verlag 1999, S. 134-140. Dieter Birnbacher: »Verantwortung für zukünftige Generation. Reichweite und Grenzen«, in: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hg.): Handbuch Generationengerechtigkeit. München: Ökom Verlag 2003, S. 81-103. Dieter Birnbacher und Christian Schicha: »Vorsorge statt Nachhaltigkeit – Ethische Grundlagen der Zukunftsverantwortung«, in: Dieter Birnbacher und Gerd Brudermüller (Hg.): Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 17-33. Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Hans Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Dietrich Böhler: Zukunftsverantwortung in globaler Perspektive. Zur Aktualität von Hans Jonas und der Diskursethik. Bad Homburg: VAS 2009. Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. Johannes Caspar: »Generationen-Gerechtigkeit und moderner Rechtsstaat. Eine Analyse rechtlicher Beziehungen innerhalb der Zeit«, in: Dieter Birnbacher und Gerd Brudermüller (Hg.): Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 73-105. André-Clément Decouflé: L’an 2000 – une anti-histoire de la fin du monde. Paris: Gallimard 1975. Alexander Demandt: Endzeit? Die Zukunft der Geschichte. Berlin: Siedler 1993.

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Anthony Giddens: The Politics of Climate Change. Cambridge: Polity Press 2008. Thomas Gil: Gestalten des Utopischen. Zur Sozialpragmatik kollektiver Vorstellungen. Konstanz: Universitätsverlag 1997. Jean Gimpel: Das Ende der Zukunft. Der technologische Niedergang des Westens. Holm: Deukalion 1995. Armin Grunwald: Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft. Philosophisch-ethische Fragen. Freiburg und München: Alber 2008. Henning Hahn: Globale Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. Frankfurt a.M.: Campus 2009. Rom Harré, Jens Brockmeier und Peter Mühläuser: Greenspeak: A Study of Envoromental Discourse. London: Sage Publications 1999. Ludger Heidbrink: Handeln in der Ungewissheit. Paradoxien der Verantwortung. Berlin: Kadmos 2007. Jan-Hendrik Heinrichs: Grundbefähigungen. Zum Verhältnis von Ethik und Ökonomie (= Ethica, Bd. 12). Paderborn: Mentis 2006. Andrea Heubach: Generationengerechtigkeit. Herausforderung für die zeitgenössische Ethik. Göttingen: Unipress 2008. Otfried Höffe: Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft. Frankfurt a.M.: Fischer 1999. Walter Jaeschke: Die Suche nach den eschatologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie. Eine historische Kritik der Säkularisierungsthese. München: Kaiser 1976. Robert Jungk: Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht. Bern, Stuttgart und Wien: Scherz 1952. Hans-Ulrich Klose: »Die Zukunft hat schon begonnen«, in: Ders. (Hg.): Altern der Gesellschaft. Antworten auf den demographischen Wandel. Köln: Bund-Verlag 1993, S. 7-26. Ralf Konersmann: »Historische Gerechtigkeit. Proklamation des Präsentismus«, in: Claus Langbehn (Hg.): Recht, Gerechtigkeit und Freiheit. Aufsätze zur politischen Philosophie der Gegenwart. Paderborn: Mentis 2006, S. 269-286. Jürgen Kopfmüller, et al.: Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet. Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren. Berlin: Edition Sigma 2001.

Z UR A NTIZIPATION ZUKÜNFTIGEN W ANDELS

Klaus Kornwachs: Das Prinzip der Bedingungserhaltung. Eine ethische Studie. Münster: LIT 2000. Reinhart Koselleck: »Geschichte«, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Band 2. Stuttgart: Klett-Cotta 1975, S. 593-717. Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Angelika Krebs: »Wieviel Natur schulden wir der Zukunft? Kritik am zukunftsethischen Egalitarismus«, in: Dieter Birnbacher und Gerd Brudermüller (Hg.): Zukunftsverantwortung und Generationensolidarität. Würzburg: Königshausen und Neumann 2001, S. 157-182. Klaus Leggewie und Harald Welzer: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie. Frankfurt a.M.: Fischer 2009. Anton Leist: »Ökologische Gerechtigkeit. Global, intergenerationell und humanökologisch«, in: Julian Nida-Rümelin (Hg.): Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2005, S. 426-513. Andreas Lienkamp: Klimawandel und Gerechtigkeit. Eine Ethik der Nachhaltigkeit in christlicher Perspektive. Paderborn: Schöning 2009. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart: Kohlhammer 1953. Hermann Lübbe: Der Lebenssinn der Industriegesellschaft. Über die moralische Verfassung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Berlin, Heidelberg und New York: Springer 1990. Hermann Lübbe: Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart. Berlin, Heidelberg und New York: Springer 1992. Hermann Lübbe: Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts. Graz: Verlag Styria 1983. Thomas Macho: »Künftige Generationen. Zur Futurisierung der Ethik in der Moderne«, in: Claus Langbehn (Hg.): Recht, Gerechtigkeit und Freiheit. Aufsätze zur politischen Philosophie der Gegenwart. Paderborn: Mentis 2006, S. 316-324. Odo Marquard: »Zeit und Endlichkeit«, in: Hans Michael Baumgartner (Hg.): Das Rätsel der Zeit. Philosophische Analysen. Freiburg und München: Karl Alber 1993. Florian Mehl: Komplexe Bewertungen. Zur ethischen Grundlegung der Technikbewertung. Münster: Lit 2001.

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Georges Minois: Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen. Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler 1998. Jürgen Mittelstraß und Carl Friedrich Gethmann: »Langzeitverantwortung«, in: Gottlieb Daimler und Karl Benz-Stiftung (Hg.): Jahresbericht 2001/2002. Ladenburg, S. 42f. Armin Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008. Paul Noack: Eine Geschichte der Zukunft. Bonn: Bouvier 1996. Helga Nowotny: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Franz Nuscheler: Entwicklungspolitik. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2006. Martha C. Nussbaum: Frontiers of Justice: Disibility, Nationality, Species Membership. Cambridge: Harvard University Pess 2006. Horst W. Opaschewski: Deutschland 2030. Wie wir in Zukunft leben. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008. Johannes Rohbeck: Aufklärung und Geschichte: Über eine praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft. Berlin: Akademie Verlag 2010. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. Amartya Sen: »Capability and well-being«, in: Martha C. Nussbaum und Amartya Sen (Hg.): The Quality of Life: A Study Prepared for the World Institute for Development Economics Research (WIDER) of the United Nations University. Oxford, New York, Athens et al.: Clarendon Press 1995, S. 30-53. Amartya Sen: The Idea of Justice. London, New York und Ontario: Penguin Group 2009. Peter Sloterdijk: Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativuniversalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Basel: Schwabe 2006. Dieter Sturma: »Die erweiterte Gegenwart. Kontingenz, Zeit und praktische Selbstverhältnisse im Leben von Personen«, in: Antje Gimmerle, Mike Sandbothe und Walter C. Zimmerli (Hg.): Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen – Analysen – Konzepte: Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, S. 63-78.

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Dieter Sturma: »Die Gegenwart der Langzeitverantwortung«, in: Claus Langbehn (Hg.): Recht, Gerechtigkeit und Freiheit. Aufsätze zur politischen Philosophie der Gegenwart. Paderborn: Mentis 2006, S. 221238. Michael Theunissen: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. David Thomson: »Generations, Justice, and the Future of Collective Action«, in: Peter Laslett und James S. Fishkin (Hg.): Justice between Age Groups and Generations. New Haven und London: Yale University Press 1992, S. 237-235. Alvin Toffler: Der Zukunftsschock. Strategien über die Welt von Morgen. München: Goldmann 1970. Jörg Tremmel: Bevölkerungspolitik im Kontext ökologischer Generationengerechtigkeit. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2005. Jörg Tremmel: »Generationengerechtigkeit – Versuch einer Definition«, in: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hg.): Handbuch Generationengerechtigkeit. München 2003, S. 27-78. Michael von Hauff und Alexandro Kleine: Nachhaltige Entwicklung. Grundlagen und Umsetzung. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2009. Wilhelm Vossenkuhl: »Heute und morgen gut? Über den zeitlichen Sinn des Guten«, in: Carmen Kaminsky und Oliver Hallich (Hg.): Verantwortung für die Zukunft. Berlin: LIT Verlag 2006, S. 49-62. Harald Welzer: Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. Frankfurt a.M.: Fischer 2008. Hans-Peter Weikard: Wahlfreiheit für zukünftige Generationen. Neue Grundlagen für eine Ressourcenökonomik. Marburg: Metropolis 1999. Walter C. Zimmerli: Einleitung zu »Kapitalismus als Kultur?«, in: Jörn Rüsen, Hanna Leigeb und Norbert Jegelka (Hg.): Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung. Frankfurt a.M.: Campus 1999, S. 132-140.

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Die Autorinnen und Autoren

Emil Angehrn; Studium der Philosophie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Leuven und Heidelberg. Promotion 1976 in Heidelberg, Habilitation 1983 an der Freien Universität Berlin. 1989 Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. Seit 1991 Professor für Philosophie an der Universität Basel. Forschungsschwerpunkte: Antike Philosophie, 19./20. Jahrhundert, Metaphysik, Geschichtsphilosophie, Politik, Hermeneutik. Buchpublikationen: System und Freiheit bei Hegel. Berlin und New York: de Gruyter 1977; Geschichte und Identität. Berlin und New York: de Gruyter 1985; Geschichtsphilosophie. Stuttgart: Kohlhammer 1991; Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996; Der Weg zur Metaphysik. Vorsokratik – Platon – Aristoteles. Weilerswist: Velbrück 2000; Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik. Weilerswist: Velbrück 2003; Die Frage nach dem Ursprung. Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik. München: Fink 2007; Wege des Verstehens. Hermeneutik und Geschichtsdenken. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008; Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen. Tübingen: Mohr Siebeck 2010. Stefan Deines ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt a.M.. Er studierte Philosophie, Germanistik und Soziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, war Stipendiat des DFG-Graduiertenkollegs »Klassizismus und Romantik im europäischen Kontext«, Mitarbeiter im Forschungsprojekt »Aussichten einer evolutionären Ästhetik« und promovierte 2008 in Frankfurt mit einer Arbeit zum Thema »Immanente Kritik. Modelle kritischer Handlungsfähigkeit in Hermeneutik, Poststrukturalismus und Neopragmatis-

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mus«. Er hat Beiträge zu seinen Forschungsschwerpunkten Ästhetik, Geschichtsphilosophie, Sprachphilosophie, Sozialphilosophie und kritische Theorie veröffentlicht und arbeitet zur Zeit an einer pluralistischen Theorie der Funktionen und des Werts von Kunst. Astrid Erll ist Professorin für Anglophone Literaturen und Kulturen an der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschungsinteressen liegen auf den Gebieten der Literatur- und Kulturtheorie, der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung/memory studies, der Narratologie und der Medien- und Intermedialitätstheorien. Promotion mit einer Arbeit zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in der deutschen und englischen Literatur (Gedächtnisromane: Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier: WVT 2003); Habilitation zur britischen Kolonialgeschichte (PrämediationRemediation. Der indische Aufstand in imperialen und post-kolonialen Medienkulturen (1857 bis zur Gegenwart). Trier: WVT 2007). Sie ist Mitherausgeberin der Reihe Medien und kulturelle Erinnerung/ Media and Cultural Memory (de Gruyter, seit 2004, mit A. Nünning) der Bände A Companion to Cultural Memory Studies (Berlin und New York: de Gruyter 2010, mit A. Nünning), Mediation, Remediation and the Dynamics of Cultural Memory (Berlin und New York: de Gruyter 2009, mit A. Rigney). Zu ihren weiteren Publikationen gehören eine Einführung in die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung (Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart: Metzler 2005 (2. Auflage 2011; englisch: Memory in Culture. New York: Palgrave 2011) sowie eine Einführung in Interkulturelle Kompetenzen (Stuttgart: Klett 2007, mit M. Gymnich). Daniel Martin Feige ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 626, »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin. Er studierte zunächst Jazzpiano am Sweelinck Konservatorium in Amsterdam, dann Philosophie, Germanistik und Psychologie an den Universitäten Gießen und Frankfurt a.M.. 2009 Promotion in Philosophie in Frankfurt mit einer Arbeit zur philosophischen Kunsttheorie. Forschungsschwerpunkte sind neben der Ästhetik und Kunstphilosophie (bes. Film, Musik und Literatur) der deutsche Idealismus (bes. Hegel), die Geschichtsphilosophie sowie die zeitgenössische theoretische Philosophie in Gestalt der philosophischen Hermeneutik, der postanalytischen und der poststrukturalistischen Philosophie. Veröffentlichungen

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zu diesen Schwerpunkten in Fachzeitschriften und Sammelbänden. Im Erscheinen: Kunst als Selbstverständigung. Paderborn: Mentis 2012. Doris Gerber ist Privatdozentin am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen. Sie studierte zunächst Diplom-Pädagogik und dann, im Rahmen eines Zweitstudiums, Philosophie und Geschichte. Promotion in Philosophie 2001 mit einer sprachphilosophischen Arbeit sowie Habilitation in Philosophie 2010 an der Universität Tübingen. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Handlungstheorie und Sozialphilosophie, politische Philosophie und Geschichtsphilosophie, Moralphilosophie und Angewandte Ethik sowie Wissenschaftsphilosophie der Human- und Sozialwissenschaften. Veröffentlichungen zu diesen Bereichen in verschiedenen Fachzeitschriften und Sammelbänden. Gemeinsam mit Véronique Zanetti Herausgabe des Sammelbandes Kollektive Verantwortung und Internationale Beziehungen. Berlin: Suhrkamp 2010. Im Erscheinen: Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung. Berlin: Suhrkamp 2012. Oliver Marchart ist SNF-Professor am Soziologischen Seminar der Universität Luzern. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen u.a. Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin: Suhrkamp 2010; Hegemonie im Kunstfeld. Die documenta-Ausstellungen dX, D11, d12 und die Politik der Biennalisierung. Köln: Walter König 2008; Cultural Studies. Konstanz: UVK 2008; Post-Foundational Political Thought. Edinburgh: Edinburgh University Press 2007; Stand der Bewegung? Protest, Globalisierung, Demokratie – eine Bestandsaufnahme. (Hg. mit Rupert Weinzierl) Münster: Westfälisches Dampfboot 2006; Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung. Wien: Turia + Kant 2005; Laclau. A Critical Reader. (Hg. mit Simon Critchley) London und New York: Routledge 2004; Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus (als Hg.). Wien: Turia + Kant 1998. Cornelis Menke studierte Philosophie und Gräzistik sowie Physik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er wurde 2007 an der Abteilung Philosophie der Universität Bielefeld mit der Arbeit »Zum methodologischen Wert der Vorhersage neuartiger Phänomene« promoviert. Seit 2008 leitet

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er eine Nachwuchsforschungsgruppe am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) und ist seit 2009 Dilthey-Fellow der VolkswagenStiftung am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Bielefeld. Seit 2010 ist er Mitglied der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wissenschaftstheorie, der Methodologie- und Wissenschaftsgeschichte und der sozialen Erkenntnistheorie. Buchpublikation: Zum methodologischen Wert von Voraussagen. Paderborn: Mentis 2009. Johannes Rohbeck ist Professor für Praktische Philosophie und Didaktik der Philosophie an der Technischen Universität Dresden. Forschungsschwerpunkte: Geschichtsphilosophie, Technikphilosophie, Ethik, Didaktik der Philosophie und Ethik, Philosophie des 18. Jahrhunderts. Buchveröffentlichungen: Egoismus und Sympathie. Frankfurt a.M. und New York: Campus 1978; Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. und New York: Campus 1987; Technologische Urteilskraft. Zur Ethik technischen Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983; Technik – Kultur – Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000; Geschichtsphilosophie zur Einführung. Hamburg: Junius 2004; Marx. Leipzig: Reclam 2006; Aufklärung und Geschichte. Über die praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft. Berlin: Akademie 2010. Hartmut Rosa studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik in Freiburg und London, war dann als Research Assistant an der Harvard University und wurde anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Politikwissenschaft der Universität Mannheim. 1997 wurde er an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit zur politischen Philosophie Charles Taylors promoviert. Anschließend war er wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie in Jena und als Feodor-Lynen-Forschungsstipendiat an der New School University in New York, wo er seit 2002 Affiliated Professor ist. Nach Lehrstuhlvertretungen für Politische Theorie an der Universität Duisburg-Essen und an der Universität Augsburg wurde er 2005 zum Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Universität Jena bestellt. Er ist Herausgeber der Zeitschrift »Time & Society« und Sprecher der DFG Kolleg-Forschergrup-

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pe »Landnahme, Beschleunigung, Aktivierung«. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Soziologie der Moderne, Zeitdiagnosen und die Kommunitarismus-Debatte. Zentrale Veröffentlichungen sind: Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor. Frankfurt und New York: Campus 1998; Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005 (Neuauflage 2008); Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Berlin: Suhrkamp 2012. Martin Seel ist seit 2004 Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.. Er studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte in Marburg und in Konstanz, wo er 1984 promovierte und 1990 habilitierte. Von 1992 bis 1995 war er Professor für Philosophie an der Universität Hamburg, von 1995 bis 2004 an der Universität Gießen. Buchpublikationen: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985; Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991; Versuch über die Form des Glücks. Studien zur Ethik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995; Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996; Ästhetik des Erscheinens. München: Hanser 2000; Vom Handwerk der Philosophie. 44 Kolumnen. München: Hanser 2001; Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002; Adornos Philosophie der Kontemplation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004; Paradoxien der Erfüllung. Philosophische Essays. Frankfurt a.M.: Fischer 2006; Die Macht des Erscheinens. Texte zur Ästhetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007; In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008 (zusammen mit G. W. Bertram, D. Lauer und J. Liptow); Theorien. Frankfurt a.M.: Fischer 2009; 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue. Frankfurt a.M.: Fischer 2011. Mario Wenning ist Assistant Professor an der University of Macau und Humboldt Stipendiat an der Goethe-Universität Frankfurt. Er hat 2007 an der New School for Social Research promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Kritische Theorie, den Deutschen Idealismus und die Interkulturelle Philosophie. Neben Veröffentlichungen in diesen Bereichen übersetzt er Schriften von bspw. Carl Schmitt, Karl Jaspers, Peter Sloterdijk und Ernst Tugendhat.

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Edition Moderne Postmoderne Friedrich Balke, Marc Rölli (Hg.) Philosophie und Nicht-Philosophie Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen 2011, 342 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1085-7

Michael Fisch Werke und Freuden Michel Foucault – eine Biografie 2011, 576 Seiten, Hardcover, 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1900-3

Oliver Flügel-Martinsen Jenseits von Glauben und Wissen Philosophischer Versuch über das Leben in der Moderne 2011, 144 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1601-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Moderne Postmoderne Anke Haarmann Die andere Natur des Menschen Philosophische Menschenbilder jenseits der Naturwissenschaft 2011, 146 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1761-0

Hilge Landweer, Catherine Newmark, Christine Kley, Simone Miller (Hg.) Philosophie und die Potenziale der Gender Studies Peripherie und Zentrum im Feld der Theorie November 2012, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2152-5

Miriam Mesquita Sampaio de Madureira Kommunikative Gleichheit Gleichheit und Intersubjektivität im Anschluss an Hegel Dezember 2012, ca. 224 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1069-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Moderne Postmoderne Suzana Alpsancar Das Ding namens Computer Eine kritische Neulektüre von Vilém Flusser und Mark Weiser

Christian Lavagno Jenseits der Ordnung Versuch einer philosophischen Ataxiologie

November 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1951-5

Januar 2012, 228 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1998-0

Dirk Braunstein Adornos Kritik der politischen Ökonomie 2011, 444 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1782-5

Mara-Daria Cojocaru Die Geschichte von der guten Stadt Politische Philosophie zwischen urbaner Selbstverständigung und Utopie Juli 2012, 256 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2021-4

Christian Dries Die Welt als Vernichtungslager Eine kritische Theorie der Moderne im Anschluss an Günther Anders, Hannah Arendt und Hans Jonas August 2012, 518 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1949-2

Gerhard Gamm, Jens Kertscher (Hg.) Philosophie in Experimenten Versuche explorativen Denkens 2011, 308 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1681-1

Diana König Das Subjekt der Kunst: Schrei, Klage und Darstellung Eine Studie über Erkenntnis jenseits der Vernunft im Anschluss an Lessing und Hegel 2011, 338 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1901-0

Waltraud Meints Partei ergreifen im Interesse der Welt Eine Studie zur politischen Urteilskraft im Denken Hannah Arendts 2011, 270 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1445-9

Martin Müller Private Romantik, öffentlicher Pragmatismus? Richard Rortys transformative Neubeschreibung des Liberalismus November 2012, ca. 786 Seiten, kart., ca. 49,80 €, ISBN 978-3-8376-2041-2

Mathias Richter Freiheit und Macht Perspektiven kritischer Gesellschaftstheorie – der Humanismusstreit zwischen Sartre und Foucault 2011, 636 Seiten, kart., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-1769-6

Sibylle Schmidt, Sybille Krämer, Ramon Voges (Hg.) Politik der Zeugenschaft Zur Kritik einer Wissenspraxis 2011, 358 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1552-4

Maurice Schuhmann Radikale Individualität Zur Aktualität der Konzepte von Marquis de Sade, Max Stirner und Friedrich Nietzsche 2011, 396 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1719-1

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