Figurationen und Gesten des Schreibens. Zur Ästhetik der Produktion in Robert Walsers Prosa der Berner Zeit 3484151021, 9783484151024

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Figurationen und Gesten des Schreibens. Zur Ästhetik der Produktion in Robert Walsers Prosa der Berner Zeit
 3484151021, 9783484151024

Table of contents :
Vorbemerkungen: Zu einer Ästhetik der Produktion in Walsers Berner Prosa
I. Programme
1. Produktionsverhältnisse – Schreibprozeß, Diskurs, Poetologie
1.1 Schreiben und Schrift
1.2 Schreibgeschichte(n)-Lesegeschichte(n)
2. Produzenten - Schriftsteller, Dichter, Autor
2.1 Wen kümmert’s, wer schreibt?
2.2 Autorschaft und Selbsttechnik: das diskursanalytische Interesse am Schreiben
2.3 Eigentümlichkeiten
3. Produktionsmetaphern
3.1 Zur kulturellen T(r)opik des Schreibens
3.2 Spur, Erinnerung, Zeichen: ›Die Ruine‹
3.3 Knotenpunkte
4. Schreiben, Schrift: Probleme der Darstellung, Analyse und Lektüre
4.1 Auf der Suche nach dem Gegenstand
4.2 Schreibszenen
4.3 Schreiben in der Schulbank: ›Fritz Kochers Aufsätze‹
4.4 Das Schreiben lesbar machen
5. Walsers Schreibszenen: Mikrogramm und Abschrift
5.1 Das »Bleistiftsystem«
5.2 Das »Abschreibesystem«
II. Lektüren
6. Nachtseiten der Produktion
6.1 Vermessungen der Nacht
6.2 Exkurs I. Philomele: der Text der Nacht
6.3 Schlafen
6.4 Schlafen-Wachen; Schreiben-Lesen: ›Minotauros‹
6.5 Schlaf als ›anderer Zustand‹
6.6 Exkurs II. Walsers ›Surrealismus‹
6.7 Gespenster
7. Die Arbeit des Schreibens
7.1 Geistesarbeiter
7.2 Hand-Werk und Broterwerb
7.3 Goldfabrikant und Schreibmaschinenfräulein: Textfabrikationsweisen
8. Annäherungen an einen Textualisierungsprozeß: Das ›Tagebuch‹-Fragment
8.1 Erste Annäherung: Inszenierung des Erotischen
8.2 Zweite Annäherung: Schriftbilder
8.3 Dritte Annäherung: Vor-Schriften
8.4 Zum Schluß: Vorschrift und Vergnügen
Literaturverzeichnis

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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER

BAND 102

STEPHAN KAMMER

Figurationen und Gesten des Schreibens Zur Ästhetik der Produktion in Robert Walsers Prosa der Berner Zeit

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2003

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-15102-1

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch

Inhalt

V o r b e m e r k u n g e n : Z u einer Ä s t h e t i k der P r o d u k t i o n in Walsers Berner Prosa

I.

ι

Programme

ι . Produktionsverhältnisse — Schreibprozeß, D i s k u r s , Poetologie

5

1.1 Schreiben und Schrift 1.2 Schreibgeschichte(n)-Lesegeschichte(n)

5 j j

2. Produzenten - Schriftsteller, Dichter, Autor

29

2.1 Wen kümmert's, wer schreibt? 2.2 Autorschaft und Selbsttechnik: das diskursanalytische Interesse am Schreiben 2.3 Eigentümlichkeiten

29 39 ^j

3. Produktionsmetaphern

57

3.1 Zur kulturellen T(r)opik des Schreibens 3.2 Spur, Erinnerung, Zeichen: >Die Ruine< 3.3 Knotenpunkte

57 61

4. Schreiben, Schrift: Probleme der Darstellung, Analyse und Lektüre 4.1 4.2 4.3 4.4

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A u f der Suche nach dem Gegenstand Schreibszenen Schreiben in der Schulbank: > Fritz Kochers Aufsätze< Das Schreiben lesbar machen

75 79 84 gp

5. Walsers Schreibszenen: Mikrogramm und Abschrift

106

5.1 Das »Bleistiftsystem« 5.2 Das »Abschreibesystem«

106 r^^

V

II. Lektüren

6. Nachtseiten der Produktion 6.1 Vermessungen der Nacht 6.2 Exkurs I. Philomele: der Text der Nacht 6.3 Schlafen 6.4 Schlafen—Wachen; Schreiben—Lesen: >Minotauros< 6.5 Schlaf als >anderer Zustand< 6.6 Exkurs II. Walsers >Surrealismus< 6.7 Gespenster

7. Die Arbeit des Schreibens 7.1 Geistesarbeiter 7.2 Hand-Werk und Broterwerb 7.3 Goldfabrikant und Schreibmaschinenfräulein: Textfabrikationsweisen

141 141 145 148 151 168 175 J8O

184 184 187 209

8. Annäherungen an einen Textualisierungsprozeß: Das >TagebuchEntwurf< und >Reinschriftäußerlichen< Umstände ihrer Organisation verleihen. Daß letztere mehr als nur ein Akzidens dieser Arbeitsweise darstellen, ist spätestens seit dem Erscheinen der von Bernhard Echte und Werner Morlang herausgegebenen Bände >Aus dem Bleistiftgebiet< kein Geheimnis mehr. Andererseits, und dies ist das zweite Faszinosum dieses Schreibens von der Randperspektive der zeitgenössischen kulturellen Zentren, zeichnet Walsers Texte eine erstaunliche Hellhörigkeit fur die Zeitgebundenheit schriftstellerischer Tätigkeit aus. Von der literarischen Tradition, die durch den Lektüre-Kanon der Jahrhundertwende bestimmt wird, über die vielfaltigen intellektuellen, mentalen und medialen Errungenschaften bis hin zu den Rändern des kulturell Akzeptierten - Kino, Trivialliteratur, Varieté etc. — geben die Prosastücke zu erkennen, daß in ihnen ein »Jetztzeitstil« (BG 3: 73) zur Sprache kommt, dessen Scharfsichtigkeit seinesgleichen sucht; dies aber nicht, ohne auch hier sich eine irreduzible Individualität zu bewahren. Die 1998 erschienene große Untersuchung von Peter Utz, die Walsers Texte in der »dialektischen Spannung zur Gravitationskraft seiner Zeit« 2 liest, hat bei der Erforschung dieses Terrains Maßstäbe ge1

2

Zur Zitierweise von Walsers Texten und Briefen vgl. die Angaben im Literaturverzeichnis. In Zitaten aus den Bänden >Aus dem Bleistiftgebiet < ( B G 1—6) bezeichnet Kursivierung — wenn nicht von mir als Hervorhebung gekennzeichnet — unsichere Entzifferung, kursiv in eckigen Klammern stehen Ergänzungen der Herausgeber. Utz 1998, S. 10. Zitierte Literatur wird in den Fußnoten nach folgendem Schema nachgewiesen: Autorname ggf. Jahr der Erstpublikation/Jahr der zitierten Ausgabe, ggf. Bandzahl in großen römischen Ziffern, Seitenzahl. Für vollständigen Angaben sei auf das Literaturverzeichnis verwiesen; sämtliche Hervorhebungen in Zitaten entstammen, wenn I

setzt, hinter die eine Lektüre nicht zurückfallen sollte, die sie aber auch nur schwer einholen kann. Wenn im folgenden, wie eben formuliert, Walsers Prosastücken die besondere Aufmerksamkeit gilt, erfordert dies — obgleich damit die meist unthematisierte Gemeinsamkeit eines Großteils der Walser-Rezeption nur wiederholt zu werden scheint — eine Begründung: Nicht nur bilden die Prosastücke den quantitativ größten und repräsentativsten Teil von Walsers schriftstellerischer Produktion der Berner Zeit; darüber hinaus lassen die Spezifika dieser Prosa ebenso wie ihr Stellenwert als eigentliche Text-Schnittstellen zwischen Schreibtisch und den Restformen literarischer Öffentlichkeit, die Walser in den zwanziger Jahren noch zugänglich sind, sie zum privilegierten Gegenstand der hier vertretenen heuristischen Doppelperspektive werden. Die doppelte Faszination für die Differenzen und Konvergenzen von individueller ästhetischer Arbeit und kulturellen Identifikations- und Abgrenzungsmodellen verlangt einen auch methodischen Doppelblick: >Figurationen und Gesten des SchreibensProduziertheit< von Texten eher als auf deren Sinn. Der erste Teil der vorliegenden Untersuchung beschäftigt sich ausgehend von dieser Prämisse mit theoretischen Annäherungsweisen an die Oberfläche des Texts. Diese werden jeweils kontrastiert mit darauf bezogenen Textlektüren, anhand derer die methodischen Konzepte gewissermaßen auf die Probe gestellt werden sollen. Im ersten Kapitel wird versucht, die formulierten methodischen Überschneidungen, unter Berücksichtigung insbesondere der englischsprachigen und französischen textkritischen Theorien der letzten Jahrzehnte, näher zu bestimmen. Dabei wird zu berücksichtigen sein, daß das anscheinend voraussetzungslos einem — meist wenig fröhlichen — Positivismus der Überlieferungswirklichkeit von Dokumenten verpflichtete Erkenntnisinteresse textkritischer Ansätze fundamental an kulturelle Konventionen über die Grenzziehung zwischen >Texten< und ihren materiellen Grundlagen, ihren >sekundären< Erscheinungsformen sowie den Praktiken ihrer Transmission und Speicherung gebunden ist. Das zweite Kapitel wird — ausgehend von der diskursanalytischen Auseinandersetzung mit Literatur — nach dem Stellenwert einer >Praxis des Schreibens< fragen, die jenseits theoretischer Wiederbelebungsversuche des Autormodells und zugleich ohne Letztbegründung im historischen Subjekt des Schreibenden konzeptualisiert werden kann. Einer näheren terminologischen Bestimmung der >Figurationen des Schreibens< dient das dritte Kapitel. Dort soll das Konzept einer Produktionsmetaphorik — als textuell reflektiertes Verhältnis zwischen individueller und kultureller Situiertheit ästhetischer 3

Arbeit — umrissen werden, das den Ausgangspunkt fur die Textlektüren des zweiten Teils bildet. Ein viertes Kapitel setzt sich, um die Problematik des >SchriftSchreibszenen< (R. Campe) formen. Das fünfte Kapitel des ersten Teils schließlich, das zu den Textlektüren des zweiten überleitet, rekapituliert Walsers Schreibsystem unter besonderer Berücksichtigung der angesprochenen Oberflächeneffekte von Schreiben und Schrift; die herkömmliche Differenzierung zwischen einem >Entwurfs-< und >ReinschriftNachtseiten der Produktion^ es erkundet die produktionsmetaphorischen Kontextualisierungen von >NachtSchlaf< und >SchreibenTagebuchTexts< als Inszenierung des Schreibens reicht. Es handelt sich bei den folgenden Seiten damit um Ansätze zu einer Ästhetik der Produktion, die von der Oberfläche des materiell Vorhandenen ausgehen, diese beschreibend erkunden und die dazu vorhandenen Beschreibungs- und Begriffsmodelle kritisch überprüfen wollen. Gegenstand der Untersuchung sind also, im Unterschied zur Produktionsästhetik oder zur Kreativitätsforschung, nicht kognitive Prozesse oder psychische Voraussetzungen literarischer Arbeitsweisen, sondern die Materialien, auf und aus denen Texte gefertigt werden.

4

Gellhaus 1995, S. 2 1 (im Original hervorgehoben).

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I.

Programme

ι.

Produktionsverhältnisse - Schreibprozeß, Diskurs, Poetologie

i . i Schreiben und Schrift Die programmatischen Ausführungen des ersten ebenso wie die anschließenden Lektüren des zweiten Teils dieser Arbeit fassen den Komplex ästhetischer Produktion in mancher Hinsicht weiter, als es zu einer Untersuchung von Walsers Schreibprozessen in der Berner Zeit — etwa in textgenetischer Perspektive oder auf der poetologischen Mikroebene autonomer Einzeltexte — notwendig zu sein scheint. Dadurch sieht sich ihr Unternehmen von vornherein mit gewissen Einwänden konfrontiert: Wird hier nicht in mehr oder minder traditionell literaturwissenschaftlicher Art nach Motiven und Strukturen gesucht, die fur diese Prosa signifikant sein könnten? Wird nicht die Perspektive auf die strukturelle Immanenz individueller Schreibvorgänge vernachlässigt zugunsten einer Art von Analyse, die sich für kulturelle Codierungen und diskursive >patterns< bei weitem mehr zu interessieren scheint als fur die konkrete Entstehungsweise ästhetisch eigenständiger Texte? Und schließlich: Soll die Absicht verfolgt werden, nach Metaphoriken des Schreibens, der Produktion zu suchen, warum werden diese — allgegenwärtig in Walsers Texten — nicht einfach >beim Wort genommen< und als poetische Figurationen in Beziehung gesetzt zu den Vorgängen, die sich im Schreibprozeß als konkrete Ausführung dessen abspielen, was jene zu beschreiben vorgeben? Schließlich finden sich genügend Belege dafür, daß Walsers Texte, mehr oder minder verstellt, konstant über die Umstände ihrer Produktion und über deren Bedingungen reflektieren. Ich schriftsteilere ja seit einiger Zeit, und dann und wann laufen begreiflicherweise Honorare ein, von denen ich mir beinahe einbilde, es sei geschenktes Geld, womit ich nicht unbedingt seht sorgsam umzugehen nötig hätte. ( 1 8 , 4 9 ) Ich halte gegenübet Büchern sowohl wie Menschen ein lückenloses Verstehen eher für ein wenig uninteressant als ersprießlich. Hie und da ließ ich mich vielleicht durch Lektüre beeinflussen. Vor ungefähr zwanzig Jahren verfaßte ich mit einer gewissen Behendigkeit drei Romane, die dies unter Umständen gar nicht sind, die vielmehr Bücher sein mögen, worin allerlei erzählt wird, und

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deren Inhalt von einem kleinern oder größern Mitmenschenkreis geschätzt zu werden scheint. [ . . . ] Als ich zur Schule ging, lobte einer meiner Erzieher oder Lehrer meine Handschrift, die aller Wahrscheinlichkeit nach eine ausgesprochene Prosastückhandschrift ist, die mir zahlreiche Skizzen usw. ausfertigen half und mich meinen Schriftstellerberuf aufrechtzuhalten befähigte, worüber ich mich selbstverständlich freue. Ich ging seinerzeit vom Bücherverfassen aufs Prosastückschreiben über, weil mich weitläufige epische Zusammenhänge sozusagen zu irritieren begonnen hatten. Meine Hand entwickelte sich zu einer Art Dienstverweigerin. U m sie zu begütigen, mutete ich ihr gern nur noch geringere Tüchtigkeitsbeweisablegungen zu, und siehe, mit derartiger Rücksichtnahme gewann ich sie mir allmählich wieder. (20, 428Í.) Ich übe mich hie und da im Herstellen von ganz kleinen Gedichten, was vielleicht seiner Natur nach etwas wie eine Mädchenübung ist, derart mit in die Hand gestütztem Kopf am Tisch zu sitzen und unmittelbar danach auf ein Blättchen hinzukritzeln: >Ich sitze am Tisch und wie ich sehe, will sich mitten in mir etwas über mich wundern.« ( 1 9 , 7 1 )

Diese Auflistung ließe sich beinahe beliebig verlängern; viele fiir die äußeren Umstände von Walsers Schreiben in der Berner Zeit relevanten Bedingungen sind schon in dieser kleinen und ziemlich zufälligen Auswahl unterschiedlich pointiert — aber allemal explizit — benannt: die Honorarschriftstellerei des Zeitschriftengeschäfts, die thematische Selbstbezüglichkeit der Texte, vielleicht sogar die Kleinheit der Schriftzüge, diese aufsehenerregendste und zugleich verschwiegenste Eigenschaft von Walsers Schreibverfahren im Bleistiftgebiet. Weitere Auffälligkeiten, etwa die zunehmende Individualisierung des Stils, die Vernachlässigung der >Markttauglichkeit< der Prosatexte oder ihre konstitutive Intertextualität ließen sich ohne weiteres an zahlreichen anderen Zitaten nachweisen. Selbst die Basis für eine literaturgeschichtliche Einordnung von Walsers Schreiben scheint anhand dieser Beispiele gegeben. Die Omnipräsenz schreibender Reflexion über Sprache und Schreiben ist, darüber sind sich die Literaturwissenschaftler einig, ein Epochenphänomen ersten Ranges: »Die literarische Moderne hat seit der Romantik eine wesentlich sprachreflexive Dimension.« 1 Bisher sind Untersuchungen zu Walsers Poetologie 1

Vietta 1992, S. 158. — Vgl. zu »Walsers Moderne« Evans 1989 sowie Evans 1985; Harman 1985a; gar ein Vorläufer der >Postmoderne< wird Walser in der Beurteilung von Rothemann: »Der Autor Robert Walser steht [...] nicht nur im Zeichen und Konsens der epochalen Bestimmungen der Moderne, weil er die Bedingungen metaphysischer Realitätsvorgaben (Ding, Ich, Wille, Subjekt-Objekt) hintergeht, sondern diese Prosa reflektiert darüber hinaus auf das Problem der Modernität, da sie den Differenzgedanken gestaltet: nicht nur realisiert sie die Dekonstruktion der begrifflichen Verbindlichkeit der Sprache, vielmehr zeigt sie zudem den Differenzgrund auf, derart, daß diese Dichtung die Gleichzeitigkeit und damit Gleichursprünglichkeit der Ab- und Anwesenheit, der verstellten und präsenten gegenständlichen Erfahrung, des motivlich- und antimotivlichen Gehens und Wahrnehmens in der Darstellung als Fundament jedes Weltzugangs

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ebenso w i e zur darin verhandelten Problematik der Schriftlichkeit denn auch dieser thematischen Selbstbeziiglichkeit g e f o l g t , selbst w e n n es ihnen w e n i g e r u m die E r k u n d u n g des Schreibprozesses zu tun war. 2 Seit m i t den von Bernhard E c h t e und W e r n e r M o r l a n g entzifferten und herausgegebenen Bleistiftmanuskripten die spezifische und aufsehenerregende A r b e i t s weise ins Bewußtsein gerückt ist, die sich aus >mikrographischen< -

sich

zwischen einer durchschnittlichen Buchstabenhöhe von drei bis einem M i l limeter bewegenden

— Erstniederschriften absatz- und meist

titelloser

Schriftblöcke und, davon ausgehend, aus mehr oder minder stark redigierenden Tintenabschriften zusammensetzt, scheint die allgegenwärtige thematische Autoreferentialität von Walsers Prosa auch fur ihre materiellskripturale Basis gelten zu können. F ü r die Geschichte seines Schreibens und fur seine Schreibgeschichten w i r d d a m i t seit g u t 1 5 J a h r e n behauptet, daß die eine sich in den andern mehr oder w e n i g e r unmittelbar w i d e r spiegle u n d Walsers Texte so über das » B l e i s t i f t s y s t e m « und das i h m folgende » A b s c h r e i b e s y s t e m « 3 A u s k u n f t gäben, deren Materialität sich v o r her in den minimalisierten und als >unlesbar< geltenden Bleistiftzügen der 5 2 6 >Mikrogrammreinen< Ausdrucks, des Unbegrifflich-Mimetischen, radikal authentischer Erfahrung zu machen. Gipfelnd in den leichtgefugten Skizzen und der Filigranarbeit der Mikrogramme, kann dieses Verfahren letztlich nicht mehr gesteigert, nur noch vom völligen Schweigen übertroffen werden — andernfalls Dichtung in Ordnungslosigkeit, blindes Chaos, begriffslose A n schauung zurückfiele. Vor die Alternative Chaos oder Verstummen gestellt, hat Walser das Verstummen, das endgültige Schweigen als die letztmögliche Steigerung und Fortsetzung seines dichterischen Tuns gewählt. 5 D a ß eine derart tragische Teleologie des D i c h t e n s über das V o r h a n d e n s e i n v o n » F o r m e n u n d K o n z e p t i o n e n « allein schon a u f der materiellen E b e n e des Schreibens h i n w e g s i e h t , ist nicht w e i t e r v e r w u n d e r l i c h ; daß die E i n sperrung u n d das V e r s t u m m e n - M a c h e n d u r c h die Institution P s y c h i a t r i e d a d u r c h z u m poetologischen H ö h e p u n k t v o n W a l s e r s D i c h t e r d a s e i n v e r klärt w i r d , der der P r o g r a m m a t i k seines Schreibens g e s c h u l d e t sein soll u n d nicht seiner institutionellen E n t m ü n d i g u n g , schlicht skandalös. 6 Ihre 4

5

6

Morlang 1994a, S. 93. — Die oben zitierte Wendung von den »ganz kleinen Gedichten« (19, 7 1 ) kann als Geheimnis auch nur wahrgenommen und enträtselt - d.h. wörtlich gelesen — werden, wenn man um das Spezifikum dieses Schreibens schon weiß. Strelis 1 9 9 1 , S. 1 3 2 . — Daß schlüssige literaturwissenschaftliche Erkenntnisse über die Figur der »Stille« in Walsers Texten auch ohne den trügerischen Rückschluß auf die Autorpsychologie möglich sind, zeigt Kießling-Sonntag 1997 (vgl. zur Prosa der Berner Zeit das abschließende Kap. 5 (205—272) der Arbeit). — Die Form einer Textinterpretation, die sich mit den Biographien (Mächler 1966/1976; Sauvat 1989/1993, die allerdings ihrerseits auf Walsers Texte zur Rekonstruktion der Biographie Bezug nehmen müssen) kurzschließt, scheint in Teilen der Walser-Forschung bis anhin völlig unproblematisch; eine geradezu absurde Identitätsbehauptung zwischen >Leben< und >TextenBiographie< interpretiert werden sollen, unternimmt in jüngerer Zeit etwa Audiberti 1996. »Das leidenschaftliche Dichten Walsers, das sich nicht bewahren, nicht behaupten, das sich allem öffnen will, muß auch den Tod der Dichtung und die Selbstpreisgabe des Dichters, seinen Identitätsverlust als Eventualität mit einbeziehen« - so Strelis' Verschränkung des Scheiterns von Biographie und Werk in Kürzestfassung (Strelis 1 9 9 1 ,

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äußerste K o n s e q u e n z

findet

die G l e i c h s e t z u n g v o n Schreibverfahren u n d

T e x t sowie die Ü b e r b l e n d u n g v o n der Schriftstellerei zur B i o g r a p h i e dann, w e n n W a l s e r s H a n d s c h r i f t e n in eine P a t h o - G r a p h i e v e r w a n d e l t w e r d e n , in der die p s y c h i s c h e K o n s t i t u t i o n ihres U r h e b e r s abzulesen sein soll. Z w a r kann eine solche A n a l y s e , b e g n ü g t sie sich m i t der beschreibenden B e o b a c h t u n g v o n S c h r i f t z ü g e n , durchaus b e m e r k e n s w e r t e Erkenntnisse g e w i n n e n , e t w a eine als » K u n s t w e r k « inszenierte S c h r i f t oder die subtile individuelle » B e r e i c h e r u n g « u n d V a r i a t i o n s c h u l m ä ß i g e r Schönschriften w a h r n e h m e n . 7 D e r U b e r g a n g zur >charakterologischen< S y n t h e s e jedoch w i e d e r h o l t v o r jeder T e x t h e r m e n e u t i k l e d i g l i c h einen platten P s y c h o l o g i s m u s :

Er

bleibt

u n b e k ü m m e r t u m die f u n d a m e n t a l e D i f f e r e n z , die z w i s c h e n p s y c h o a n a l y t i schen oder a l l g e m e i n p s y c h o l o g i s c h e n A u s s a g e n über eine Person u n d p s y chologisch/psychoanalytisch geleiteter Interpretation v o n Texten

besteht,

>hinter< denen ein A u t o r s u b j e k t k e i n e s w e g s unverstellt sichtbar zu w e r d e n braucht. G r a p h o l o g i e in diesem S i n n bleibt, auch w e n n sie g e g e n P s y c h i a trisierung anzutreten sich anschickt, jenen N o r m a l i s m u s k o n z e p t e n

und

V e r f a h r e n der D i s z i p l i n i e r u n g verhaftet, die historisch H a n d s c h r i f t u n d S u b j e k t i v i t ä t erst aneinander g e b u n d e n h a b e n . 8 S o w i r d denn der » D r u c k -

7 8

S. 133). Den anderen Extrempol dieses Biographismus' findet man bei Marian Holona, der die »konsequente Ablehnung aller literarischen Aktivität« ab 1 9 3 3 , ohne die Zwangsinternierung in Herisau auch nur zu erwähnen, als Höhepunkt einer »ganz persönlichen Trotz-Haltung« (dis-)qualifiziert (Holona 1980, S. 135). — Bernhard Echte hat längst durch die akribische Rekonstruktion der Vorgänge von Walsers Internierung solchen Interpretationsabsichten die Grundlagen entzogen; vgl. Echte 1984. Walther 1 9 9 1 , S. 9; i i f . Vgl. dazu Hahn 1993: »Nicht nur professionelle Entzifferer, sondern jeder Leser kann handschriftlich Verfaßtes, vor allem auch ganz private Kommunikationen wie etwa Liebesbriefe als säkulare Form unfreiwilliger Beichte traktieren und Schlüsse auf die versteckte Identität, auf Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit des Autors ziehen. Ob wir wollen oder nicht, schreibend öffnen wir uns fur andere nicht nur über den manifesten Sinn unserer Texte. Wir hinterlassen trans-hermeneutische Spuren: die Sphäre des Sinns der Texte erhält so etwas wie ein >Leckdurchsickertsprache< institutionalisieren. Dabei sollte aber [ . . . ] klar sein, daß es im strengen Sinn keine natürliche >Sprache< des Körpers oder der Hand gibt. Wo immer Sprache ist, da handelt es sich um eine soziale Tatsache. Im Fall der Handschrift wie in dem des Körpers im allgemeinen entspringt der Eindruck der Sprachlichkeit aus unserer unwillkürlichen Tendenz, Bewegungen und Rhythmen zu interpretieren, als wären sie eine Sprache. Dabei ist schwer zu leugnen, daß Handschrift uns zu identifizieren vermag. Jedoch in einem sehr eingeschränkten Sinn: Sie sagt, wer wir sind (Ich und kein anderer), aber nicht, was wir sind. An sich hat sie autographische, keine auto biographische Indexikalität. Sie erzählt keine Geschichte« (202f.).

9

auftrag eines Schriftautors [ . . . ] in A r t u n d M e n g e identisch m i t seinem L i b i d o - V o r t r a g i m S i n n S i g m u n d F r e u d s « ; 9 die scheinbar

regelmäßigen

u n d flüssigen B l e i s t i f t z ü g e erweisen sich unter d e m V e r g r ö ß e r u n g s g l a s des G r a p h o l o g e n als » s k l e r o t i s c h « ; 1 0 schließlich d r ä n g t der » S c h r e i b s t r i c h des f ü n f z i g j ä h r i g e n Schriftautors [ . . . ] die V i t a l k r a f t u n d die S e x u a l k r a f t m a r k a n t in den H i n t e r g r u n d . « 1 1 W i l l e n t l i c h oder nicht liefert solcher S c h e m a t i s m u s das scheinbar o b j e k t i v e A r g u m e n t zu all den Interpretationen der Mikrographie

als A u f l ö s u n g , als sich a n k ü n d i g e n d e s

Verstummen

des

Schreibens i m »aufs Papier g e w o r f e n [ e n ] G e r ä u s c h « . 1 2 V e r s u c h e , die spezifische >Schriftreflexivität< 1 3 v o n W a l s e r s

Textproduk-

tion konsequenter zu fassen, verzichten in der R e g e l a u f derartigen autorp s y c h o l o g i s c h e n D e t e r m i n i s m u s . 1 4 M a n sieht in der M i k r o g r a p h i e w e n i g e r 9

Walther 1 9 9 1 , S. 1 1 . - Ob eine derart mechanistische Auffassung der Libidorepräsentation tatsächlich »im Sinn Sigmund Freuds« genannt werden kann, bleibe dahingestellt. Vgl. grundsätzlich die weiterreichende (nämlich auf Textinterpretationsverfahren mit psychoanalytischer Grundlage überhaupt bezogene) Warnung von Didier Anzieu: »Man darf auf keinen Fall den manifesten Inhalt mit der Genese, das Produkt mit dem Produktionsprozeß verwechseln« (Anzieu 1982, S. 216).

10

»Die Winzigschrift ist kaum verbunden, besteht aus unzähligen Einzelbewegungen [...]. Es sind weder Striche noch Kurven noch Punkte. Keine zwei aufeinanderfolgenden Züge sind klar und schlank. Alles lottert, zittert. Alles sklerotisch. Auf gesprochene Sprache übertragen: Die Stimme trägt die Aussage nicht durch. Ist eine nicht endende Verstotterung« (Walther 1 9 9 1 , S. 17). Was Walther hier beschreibt, ist der Eindruck einer optischanalogen Vergrößerung der Mikrogramme, der leicht ohne Graphologie erklärt werden kann: Es ist das Resultat der extremen Verkleinerung der Schrift, verbunden mit der Verwendung zunehmend schlechterer Papierqualitäten und weicherer Bleistifte (vgl. B G 4, 4Ó2Í.; B G 6, 703). Von der »Verstotterung« zum Verstummen schließlich scheint der Weg der Interpretation nicht allzu weit.

11

Walther 1 9 9 1 , S. 20. — Waither ist zugute zu halten, daß er weitgehend auf den Interpretationssprung von der Biographie zu den Texten als ästhetischen Objekten verzichtet. Ob sich seine Interpretationen, die ja nur zum Teil veröffentlicht zu sein scheinen (vgl. Echte 1997, S. 18 Anm. 45), konsequent dieser methodischen Zurückhaltung bescheiden, kann hier natürlich nicht beurteilt werden.

12

van Rossum 1986, S. 2 3 7 . Mit >Schriftreflexivität< und >Schriftlichkeit< wird im folgenden eine Art des Schreibens bezeichnet, in dem die ästhetischen, formalen und medialen Dimensionen des Mediums/ Zeichensystems Schrift als Reflexionsgegenstand des Schreibens auftreten; eine Reflexion also, die nicht teilhat an der Verdrängung und Disqualifizierung der Schrift als defizitäres Sekundärphänomen gesprochener Sprache, sondern deren Gesetzmäßigkeiten mit zum Ausgangspunkt der Textproduktion macht.

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14

So etwa van Rossum 1986, der allerdings von einer biographischen Übersetzung der »systematischen] und tief intentionellfen] Kleinschreiberei« doch nicht ganz Abstand zu nehmen scheint: »Ist es zu weit gedacht, wenn man in der Bereitwilligkeit, in der übergroßen Bereitwilligkeit, mit der Walser seine Psychiatrisierung [...] auf sich nahm, wenn man in ihr das Fortfallenlassen jener letzten kleinen Veräußerung in der Schrift sieht, ein Zurücknehmen der riesigen, winzigen und vergeblichen Anstrengung zu schreiben?« (235; 240); sowie Hofmann 1996 und vor allem Roser 1994.

IO

ein pathologisches Phänomen als vielmehr den Versuch, einen »Begriff von Schrift« zu erproben, »der die diskursive, phonetische Schrift, und mit ihr die Literatur, zu transzendieren oder als eine ursprünglichere zu unterschreiten sucht«. 1 5 Die konstitutive Schriftlichkeit der Prosa wird dabei einmal als individuelle Reaktion auf die Maßgaben einer Ästhetik der Moderne aufgefaßt, die dem Schriftsteller die universelle »Verschiebbarkeit« der als Zeichensystem konzipierten Beschreibungsmöglichkeiten von Welt »im Spiel der Sprache und des Sinns« vorgibt, ihm aber im selben Zug die »Schwäche seiner Macht« demonstriert, da diese Zeichenhaftigkeit jeden Eingriff von aller Verbindlichkeit losspricht. Resultat eines »Drang[s] zum Schreiben, der zugleich [ . . . ] die Schrift verneint«, läßt sich die Mikrographie so als »Versuch eines Auswegs« erklären, indem sie durch ihre programmatische Kleinheit den Anspruch, diese Beschreibungsmöglichkeiten in ihrer Konsequenz tragen zu können, ebenso unterbietet wie den emphatischen Ausweg in die selbstgenügsamen Sprachspiele eines nur autoreflexiven Zeichenspiels. 16 Die Mikrogramme erscheinen zum anderen als Raum einer spielerischen Inszenierung von literarischer Kommunikation, die dem >Autor Walsen in den zwanziger Jahren zunehmend verwehrt bleibt. Der Bruch mit literarischen Konventionen führt als seine Kehrseite die »Lust am Spiel mit der Sprache« mit sich, »in das der [inszenierte, S K ] Leser einbezogen wird.« In einer selbstbezüglichen »Poetologie der Sprachbelebung« kommt ein Dialog mit einer den Texten immer schon eingeschriebenen >LeserLeser< auf Distanz hält und ihn auf die Kontingenz von Erzählinhalten, -formen und -strukturen aufmerksam macht: Ein Verstoß gegen geltende Regeln kann sinntragend nur da sein, wo eine Instanz unterstellt wird, die bemerkt, daß Regeln gebrochen werden. 1 7 Im stringentesten Versuch, die >Schriftreflexivität< von Walsers Berner Texten zu erschließen, stellt Dieter Roser diese in Bezug zur mediengeschichtlichen Krise der Schrift zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Durch das Auftreten von konkurrierenden Aufzeichnungs- und Speichermedien für Ton und Bild — Grammophon und Film — wird die Schrift auf ihre eigene Medialität zurückverwiesen. Der Literatur stellt sich damit die Frage nach ihrer Legitimation überhaupt. Unter den veränderten me-

15 16 17

Roser 1994, S. 1 5 7 . van Rossum 1986, S. 238. So die Argumentation bei Hofmann 1996; Zitate S. 450 u. 453.

11

dialen Bedingungen des ausgehenden 1 9 . und beginnenden 20. Jahrhunderts — so lautet etwa Friedrich Kittlers ebenso einfache wie eingängige These — sind Schreiben, Lesen und Sprechen, sind Produktion und Rekonstruktion von Signifikanz fundamental anderen Bedingungen unterworfen als zur Gründungszeit deutscher Nationalliteratur ein Jahrhundert zuvor. Während im »Aufschreibesystem von 1 8 0 0 « ein »Diskursverbund« von familialisierten Geschlechterverhältnissen

(als Produktionsinstanz),

Ge-

lehrten (als Multiplikatoren) und der absoluten Wissenschaft Philosophie (als Legitimationsinstanz) das System der Literatur organisiert und geregelt hat, verschiebt das »Aufschreibesystem von 1 9 0 0 « die Konstituenten dieses Ordnungssystems in Richtung des Heterogenen: Wenn die eine Mutter von pluralen Frauen, der fleischgewordene Alphabetismus von technischen Medien und die Philosophie von psychophysischen oder -analytischen Sprachzerlegungen abgelöst wird, zergeht auch die Dichtung. An ihre Stelle tritt, deutsch oder nicht, eine Artistik in der ganzen Spannweite dieses Nietzschewortes: vom Buchstabenzauber bis zum Medienhistrionismus.18 Der diesem Ansatz innewohnenden Tendenz zum Reduktionismus und zur Monokausalität braucht man nicht zu folgen; er sensibilisiert jedoch fìir das Strukturphänomen der grundsätzlichen (medialen) Selbstbezüglichkeit, das der ästhetischen Schriftproduktion angesichts der Herausforderung einer sich selbst reflexiv werdenden Moderne eignet. Der zunehmende

Verdacht,

dem

universale

Begründungssysteme

— seien

sie

metaphysischer oder historisch-teleologischer Art — ausgesetzt werden, schlägt sich nieder im gesteigerten Reflexionsgrad auf Bedingungen und Implikationen von Zeichensystemen, in denen jene Legitimationsstrategien sich artikulieren. D i e kritischen Verfahren, derer sich diese Infragestellungen zu bedienen wissen — (zumindest im deutschsprachigen Raum) von Nietzsches Geneaologie scheinbarer Universalien anthropologischen Verhaltens bis zu Freuds Archäologie des unbewußten Fundaments vermeintlich autonomer Subjektivität — werden zu Präliminarien beinahe jeder poetologischen oder >produktionsästhetischen< Reflexion des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die medientheoretisch erweiterte Form der Diskursanalyse vermag dabei auf die Verknüpfungsmöglichkeiten unterschiedlichster Wissensfelder aufmerksam zu machen, die das »Aufschreibesystem« von Datenaufzeichnung, -Übermittlung und -speicherung organisieren. Wenn beispielsweise der Erfinder dieser schönen — und Walsers »Abschreibesystem«, so könnte man meinen, als Begriff komplementierenden — Bezeichnung, Senatspräsident Daniel Paul Schreber, »alle [s]eine Gedanken, 18

Kittler 1985/1987, S. 1 8 3 .

12

alle [sjeine Redewendungen, alle [s]eine Gebrauchsgegenstände, alle sonst in [sjeinem Besitze oder [sjeiner Nähe befindlichen Sachen, alle Personen, mit denen [er verkehrt] usw.« in »Bücher[n] oder sonstige[n] Aufzeichnungen« festgehalten wähnt, wobei die Niederschrift durch rätselhafte Schreiber vorgenommen wird, die »ihrerseits des Geistes völlig entbehren und denen von den vorübergehenden Strahlen die Feder zu dem ganz mechanisch von ihnen besorgten Geschäfte des Aufschreibens sozusagen in die Hand gedrückt wird, dergestalt, daß später hervorziehende Strahlen das Aufgeschriebene wieder einsehen können«, 19 dann scheint sein paranoisches System in der Tat wie eine »Verbundschaltung aller Datenspeicher« 20 und Datenübertragungsmöglichkeiten auf avanciertem technischen Stand zu arbeiten. 21 Wo phantasmatische Schreiberhände ganz mechanisch und die Schreiber selber ohne jeden Geist aufzuzeichnen beginnen, haben sich in der Tat die Gesetzmäßigkeiten eines Mediums und einer Praxis verselbständigt. Dagegen aber, und deshalb sind sein »Bleistift-« und »Abschreibesystem« bei weitem mehr als ein Komplement zu Schrebers »Aufschreibesystem«, unternimmt es Walsers Prosa, sich der Tragweite der Beziehung von Geist und Hand auf der Szene der Schrift zu vergewissern. Sie nimmt diese Selbstvergewisserung nicht nur mit ironischen Reflexen auf Mechanismen und Automatismen der Schreiberhand in Angriff: Er schien seine Dichtungen, die Rechnungsauszügen glichen, schlafend hervorgebracht zu haben. (BG 4, 137) Ich schrieb dies Prosastück, wie ich gestehen muß, auch ganz mechanisch, und hoffentlich gefällt es dir darum. Ich wünsche, es gefalle dir so, daß du vor ihm zitterst. Es sei fur dich in gewisser Hinsicht ein fürchterliches Prosastück. U m es zu schreiben, machte ich nicht einmal vorher genügend Toilette. Schon aus diesem Grund kann's nichts anderes sein als ein Meisterstück oder -werkchen, wollen wir doch wohl lieber bloß voller Nachsicht sagen. (BG 1, 68) 22

Vielmehr steht - so Roser - der »Walserschen Schriftlichkeit [...] eine schriftlich fingierte Mündlichkeit des Erzählens« gegenüber, die einerseits ihre Schriftlichkeit betont, sich aber andererseits auf »einen Erzählmodus, 19 2° 21

22

Schreber 1903/1985, S. 90. Kittler 1985/1987, S. 305. V g l . dazu auch Stingelin 1989, der diese Tendenz paranoischer Systeme in (klinischen) Aufzeichnungen aus der Basler Irrenheil- und -pflege-Anstalt Friedmatt und der Berner K l i n i k Waldau (u. a. am >Fall< Adolf W ö l f l i ) nachweist. V g l . dazu den Abschnitt >Walsers >SurrealismusSchriftlichkeit< Walserscher Texte, die Bestimmung von Literatur als Ort der Reflexion ihrer materiellen und medialen Bedingungen — alle diese Aspekte behandelt Roser erschöpfend in dem Sinne, daß sich zwar, der zentralen Bedeutung der Thematik für Walsers Schreiben entsprechend, mühelos weitere Belege für die vertretenen Thesen anführen ließen, diese selbst aber wohl dadurch nur unwesentlich umakzentuiert werden könnten. Doch bleibt Rosers Analyse dabei einerseits an die Ebene der unmittelbaren inhaltlichen Selbstthematisierung gebunden und beleuchtet so nur einen Aspekt der strukturell möglichen Autoreflexivität literarischer Texte. 25 Und andererseits erstreckt sich sein Interesse — wohl nicht zuletzt aufgrund der notwendigen Zurückweisung biographistischer Interpretationsansätze — weder auf den konkreten Schreibvorgang noch auf das Erscheinungsbild der Manuskripte im Sinn eines >material textNeuen Theorie des Romans< ausgehend von Jean Paul entwirft, um die Differenz zwischen personalen und literarischen Ich-Funktionen zu pointieren: »Ein Schriftsteller erschafft keine Menschen aus Fleisch und Blut, sondern aus Papier und Tinte oder Druckerschwärze. Nur selten wird das Bewußtsein davon Teil der Darstellung im Roman selbst. Es handelt sich hierbei um die wirklich materielle Basis des Schreibens (die Buchstaben sind nicht in dieser Weise materiell), wozu auch noch die Setz- und Druckmaschinen und die Buchhändlermesse gehören« (Pott 1990, S. 129). Der »Akt des Schreibens« tritt dabei, wie auch Roser fiir Walser überzeugend darstellt, »ins Bewußtsein, d. h. zunächst in die Schrift selbst ein« (ebd.), in der Erscheinung thematischer Selbstreferenz und in Allegorien des Schreibens. »Um eine Vorstellung davon zu bekommen, daß die Schrift bei Walser sich von der literarischen Sprache, der Rede trennt und in dieser Loslösung als freigelegtes Medium unter Medien die Grenze zur skripturalen Kunst überschreitet, d.h. zu einer anderen Schrift als der phonetischen Buchstabenschrift überläuft, muß man nicht bei der schwierigen Beurteilung des Erscheinungsbildes der Mikrogramme stehen bleiben. Ansonsten ist zu befürchten, die Beurteilung ließe sich zu sehr von Walsers Biographie leiten (Winzigkeit der Schrift und Walsers Demut, psychische Erkrankung und korrespondierender Schriftzerfall, Auslöschung der Schrift und Rückzug oder Verschwinden in der Heil-

14

darum aber wird es in den folgenden Kapiteln und Teilen dieser Arbeit gehen — ohne allerdings dabei einen Rekurs auf das Autorsubjekt als hermeneutische Kategorie wieder einfuhren zu wollen. Daß, in Abgrenzung zu den geläufigen Hypostasierungen der Mikrographie, gerade von Seiten Bernhard Echtes und Werner Morlangs immer wieder eine konkretere Beschäftigung mit den Spuren von Walsers Schreibarbeit angemahnt wurde, ist wenig erstaunlich und noch weniger obsolet. Den Interpreten, die Walsers Bleistiftgebiet als vorweggenommenen Ausdruck einer Schrifttheorie betrachten, mit der sich Walser — vor/mit Derrida — gegen den Phonozentrismus der abendländischen Philosophietradition und Literatur wende, 27 wird ebenso eine konkret materialgestützte Beschäftigung mit den Mikrogrammen als Korrektiv empfohlen wie den Krisentheoretikern einer biographisch orientierten Psychohermeneutik.28 Das Interesse am »bloße[n] Schreibprozeß« erscheint unter diesen Umständen allerdings keineswegs nur »banal positivistisch«, 29 wie Echte meint. Die Analyse des Schreibprozesses bzw. einer Schreib-Arbeit, wie sie das »Bleistiftgebiet« und die Tintenmanuskripte dokumentieren, stellt die einzige Möglichkeit dar, gegenüber der in der Forschungsliteratur vorherrschenden Nicht-Unterscheidung zwischen Schrift- und Schreibmetapborik und den rekonstruierbaren Spuren eines Schreibvorgangs genau die Differenz zwischen Schrift als kulturell codiertem System von Sprachproduktion und Schreiben als individuellem Akt zu betonen, von der ausgehend eine — und vielleicht jede — Poetik des Schreibens erst ergründet werden kann.

1.2 Schreibgeschichte(n) — Lesegeschichte(n) Die hier letztlich aufgrund der Notwendigkeit dieser Unterscheidung postulierte Wahlverwandtschaft zwischen in weitem Sinne diskursanalytischen und textkritischen oder -genetischen Fragestellungen erweist sich in mehrfacher Hinsicht als eine weniger ge- und erzwungene, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Michel Espagne hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Konvergenz historischer und philologischer Erkenntnisinanstalt - wie der Fall Adolf Wölflis bezeugt, ein Ort fur Kalligraphen - u. ä.)« (Roser 1994, S. 170). Genau diesen von Roser kritisierten Kurzschluß von Lebensumständen und Arbeitsweise - die Irrenanstalt als »Ort fur Kalligraphen« - , dem eine ganze avantgardistische Tradition in der modernen Literatur widerspricht (vgl. zur »Aufwertung der Textoberfläche« in der Literatur der Moderne seit Rimbaud und Mallarmé u. a. Gumbrecht 1996 [Zit. S. 27]) vollzieht z.B. Wechsler 1 9 9 1 , S. 2 5 4 - 2 5 6 . 27 28 29

So ansatzweise etwa bei van Rossum 1986. Vgl. Morlang 1994a, S. Echte 1997, S. iof. Echte 1994b, S. 6 1 .

15

teressen weiter trägt, als es die »bloße Metapher« der »Entstehungsgeschichte« — von Diskursen, von Texten - vermuten läßt. Der häufige Einwand, ein Diskurs sei eine abstrakte Zusammenstellung, während die Textentstehungsstufen eine zuverlässigere Grundlage liefern, ist nicht akzeptabel, insofern als die textgenetische Arbeit nicht weniger als die historische Rekonstruktion mit unüberlieferten Denksituationen und äußeren Impulsen frei umgeht. Die Vorstellung einer bruchlosen Kontinuität zwischen dem ersten Textkern und dem ausgeführten Werk ist nicht weniger trügerisch als die zwischen der Vielfalt der möglichen Archivdokumente und der historischen Darstellung. Wenn man allerdings den Akzent auf die historiographische Dimension der Textgenese legt, dann geschieht das nicht mit der Absicht, auf ein sachliches Geschehen jenseits des Texts hinzuweisen. Denn der Bezug des Textentstehungsprozesses auf den historischen Horizont ist ebenfalls ein Bezug auf Texte. Der Historiker, der Archivfragmente montiert und zu einem neuen Sinn aktualisiert, arbeitet nicht weniger mit Textmaterial als der Editionsphilologe. Philologische und historiographische Textrekonstruktion laufen schließlich auf dasselbe methodische Handwerk hinaus. 30

Textwissenschaften — und insofern rekapituliert Espagnes Postulat eine seit etwa Anfang der 8oer Jahre geführte Diskussion — sehen sich zunehmend vor der Aufgabe, die kulturellen und historischen Aspekte ihres Gegenstands sowohl wie ihres methodischen Instrumentariums zu erkunden. Diskursanalysen — hier scheinen weniger Vorarbeiten geleistet zu sein — hätten dagegen die Arbeit am Signifikanten, die sich in (ästhetischen) Schreibprozessen dokumentiert findet, als Archiv zu entdekken, aus dem sich eine Praxis (mit all den Implikationen, die mit diesem Begriff verbunden sind) rekonstruieren ließe. Dieser Praxis müßten die Vorschriften und Möglichkeiten diskursiver Artikulationsangebote ebenso eingeschrieben sein wie ihre Kritik im Sinn eines individuellen Verhaltens zu der von ihnen ausgeübten >gouvernementalité< (Foucault). Schreibprozesse31 sind, was in der französischen und englischsprachigen texttheoretischen und -kritischen Forschung längst kein Geheimnis mehr ist, nicht nur Zeugnisse individueller Kreativität. In ihnen findet sich auf der einen Seite zwar eben jene individuelle Arbeit an den Materialien zum Text aufgehoben, deren Spuren die Manuskripte dokumentieren. Die kon30

31

Espagne 1996, S. 38f. - Als kulturwissenschaftlich akzentuierten Einfuhrungsbeitrag in die Problematik und Geschichte von Textkritik und Edition vgl. Neumann 1999. Es geht hier zunächst um den vorrangig materialen Objektstatus von Manuskripten und um die Frage ihrer Repräsentierbarkeit. Zur Problematik des Verhältnisses von >SchreibenSchrift< und >Text< - die davon natürlich unmöglich gänzlich zu trennen ist - , die sich aus der Berücksichtigung von Manuskripten als Erkenntnisgegenstand für eine >textkritisch< orientierte Literaturwissenschaft ergibt, wird in Kap. 4 und, mit Blick auf Walser, Kap. 5 dieses ersten Teils näher eingegangen.

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krete Form dieser Arbeit aber ist anderseits immer schon von den Grundlagen geprägt, die je historisch als kulturelle Artikulationsangebote von Textproduktion und Autorschaft vorgegeben sind. Die individuelle Praxis eines Schreibenden besteht immer auch in der Auseinandersetzung mit und der transformierenden Arbeit an diesen Vorgaben. Während in den deutschsprachigen Forschungen zur »Poetologie der Textgenese« mit der Absicht einer spezifisch literaturwissenschaftlichen Theorie das Problem >Textentstehung< »separiert werden soll von seinem psychologischen, soziologischen und materiellen Aspekt«, selbst da, wo das Bewußtsein dafür vorhanden ist, daß die ihr zugrundeliegenden Auffassungen von — und Aussagemöglichkeiten über — ästhetische(r) Produktion selber historisch bedingt sind, 32 so gehören gerade diese scheinbaren Nebenaspekte untrennbar zum Konzept etwa der >critique génétique< dazu. Ihr Untersuchungsgegenstand, das (literarische) Manuskript, ist zunächst und vor jeder im engeren Sinn literaturästhetischen Fragestellung sowohl »objet materiel« wie »objet culturel«: Materiales Objekt, indem für die Untersuchung von Schreibprozessen Papierwahl, das verwendete Schreibwerkzeug, die räumliche Anordnung der Schrift züge auf dem Papier und die graphiscb-semiotiscbe Dimension einer spezifischen Arbeitsweise beschrieben und rekonstruiert werden müssen, ehe die semantische Ebene eines sprachlichen Produktionsprozesses in den Blick rückt; kulturelles Objekt, weil der Umgang eines Schriftstellers mit seinen Manuskripten, genauer: weil die Position, die diese im Zwischenraum zwischen individuellem Arbeitszeugnis und »öffentlichen Wahrnehmung einnehmen, nicht losgelöst von kulturellen Voraussetzungen betrachtet werden kann. Die Dispositive der Aufbewahrung und Wertschätzung von Manuskripten und der Einschätzung ihres Erkenntniswerts als Zeugen eines Schaffensprozesses und als Ausdruck künstlerischer Subjektivität bedingen sich gegenseitig. 33 Zwar sollte aus literaturwissenschaftlicher Sicht der Idee einer generellen anthropologischen Theorie des Schreibens, wie sie im Umkreis der >critique génétique< gelegentlich auch eingefordert wird 34 — gerade vor 32

Gellhaus 1 9 9 4 a , S. 1 3 ; vgl. S. 23Í.: »Erschließt sich, frage ich jetzt das Problem verkürzend, die Genese eines Gedichtes nicht erst von seinem vorgängigen Verständnis her, so daß in einer U m k e h r u n g der verbreiteten Ansicht die Darstellung der Textgenese die letzte und schwierigste A u f g a b e der Literaturwissenschaft wäre, abhängig v o m literaturwissenschaftlichen Erkenntnisstand, v o m Stand des Wissens über Texte?«

33

V g l . Grésillon 1 9 9 4 ; zur Unterscheidung zwischen der semiotischen und semantischen

34

So beispielsweise die von Klaus Hurlebusch vorgeschlagene Unterscheidung von »werk-

Ebene von Manuskripten H a y 1 9 9 6 . genetisch« und »psychogenetisch« arbeitenden Autor-Typen (Hurlebusch 1 9 9 8 ; Hurlebusch 1 9 8 6 ) . A u c h die Unterscheidung zwischen dem »Kopfarbeiter« und dem »Allesschreiber« (Grésillon 1 9 9 7 , S. 2 4 1 f.) entspricht eher einem heuristischen Kriterium des Handschriftenlesers als einer produktionsästhetischen Kategorie.

17

dem Hintergrund eines historisch-diskursiven Bewußtseins von ihrem Gegenstand — mit entsprechender Skepsis begegnet werden. Doch stellen die Interdependenzen zwischen historischen >Programmen< literarischen Schreibens einerseits und dem Gegenstand >Manuskript< in seiner äußerlichen Materialität ebenso wie als Produkt eines individuellen Arbeitsprozesses andererseits ein methodisches Fundament dar, hinter das eine an Schreibprozessen interessierte Literaturwissenschaft nicht mehr zurückfallen kann, ohne das Risiko jenes Organizismus', wie er etwa in der Germanistik paradigmatisch durch Beißners Vorstellung eines »ideal[en] Wachstum[s]« 35 von Texten vertreten worden ist, in Kauf zu nehmen. Einem Verständnis der Manuskripte als materiale und kulturelle Objekte hingegen folgt diese Untersuchung zu Walsers Schreibverfahren. Einer ihrer Aspekte ist in dieser Hinsicht eine »Entgrenzung der Überlieferungsträger« von dem darauf notieren Textmaterial, die »unweigerlich zur Historisierung der Handschriften und Handschriftendeutung führt.« 36 Die semantische Lektüre von Manuskripten soll ergänzt werden durch die Rekonstruktion der Paradigmen dieser Semantik — der kulturellen Poetik, die dem Schreibprozeß zugrunde liegt — ebenso wie durch eine semiologische Lektüre der Materialität der Manuskripte; Paradigmen also, die dem Schreibvorgang vorausgehen, die dieser hervorbringt und die besonders in Walsers Fall wiederum zum Reflexionsgegenstand von Textproduktion werden. 37 Bezeichnenderweise ist der materiale Aspekt, der den Blick auf die Verknüpfung von Schreibproduktivität und -technik und deren Folge für Textformen und Autorfunktionen erlaubt, bisher im allgemeinen eher Interpreten aufgefallen, die sich mit medienanalytischen Fragestellungen befassen und deshalb an der Individualität von Schreibprozessen in der Regel wenig Interesse haben, 38 als der >Buchstabenpflege< der Editionswissenschaft: Angaben über Schreibmaterial und -geräte tauchen in Editionen allenfalls als in Apparatbänden versteckter Bestandteil von Textzeugenbeschreibungen, als Anhaltspunkte zur Datierung von Textzeugen oder zur Chronologie von Arbeitsphasen 39 auf, für den editorischen — und in noch höherem Grad für den 35 36 37 38

39

Beißner 1 9 6 1 , S. 260. Espagne 1996, S. 56. Vgl. dazu Kap. I.5 und II.8 dieser Arbeit. Eine der wenigen Ausnahmen bildet Stingelin 1988, der Nietzsches Schreibmaschinenarbeit mit seinem Schreibprozeß und seiner Sprachreflexion in Verbindung bringt. So schon bei Scheibe 1 9 7 1 : »Als Grundschicht ist die unterste und durchlaufende Textfassung einer Handschrift anzusehen, die durch die Zeilenanordnung zweifelsfrei bestimmbar ist und in der Regel durch einheitliche Schrift und einheitliches Schreibmaterial gekennzeichnet ist. [...] Korrekturen, die von gleicher Hand und zugleich mit gleichem Schreibmaterial vorgenommen sind, gelten als Korrekturschichten« (18, Anm. 6).

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interpretatorischen — U m g a n g mit dem Text spielen sie darüber hinaus eine in der Regel kaum größere Rolle als Wasserzeichen oder Papierdicke. Z w a r hält Siegfried Scheibe fest, daß die »sich direkt materialisierenden und damit für die editorische Arbeit konkret faßbaren Gewohnheiten« eines Autors, die Verwendung von Papier und Schreibmaterialien, als Teile von dessen Arbeitsweise durchaus »textologisch relevant« 4 0 sein mögen. Sie können ihre Relevanz jedoch als »Informationen über den Befund« nur einlösen im synthetisierenden Verfahren der »editorischen Interpretation«, die den Text erst erzeugt. 4 1 Gesteht man aber der Hypothese, daß das Schreibwerkzeug am Gedanken mitarbeitet, einen weiterreichenden Stellenwert zu, als das die Literaturwissenschaft gemeinhin tut — und daß dies der Fall sein könnte, haben in letzter Zeit medien- und diskursanalytische Untersuchungen über den konkreten Einfluß der Schreibmaterialien hinaus auch für andere Systembedingungen der Produktion und Verbreitung von Texten gezeigt 4 2 —, dann müßte sich die germanistische Editionsphilologie nicht weniger als die gängige Interpretationspraxis dem Vorwurf einer »überkommenen logozentrischen Denkweise« stellen, die sich schwertut, Autorhandschriften und Drucke nicht nur als Träger verbalen Sinns, sondern auch als materielle Artefakte anzuerkennen, die fur sich untersucht werden können [...]. Dieser materielle Aspekt überlieferter Texte kommt in anderen Textwissenschaften, die nicht so von Belangen des Buchlesers dominiert werden, wie z.B. in der Handschriftenforschung der französischen >critique génétique< oder in der Druckforschung der angloamerikanischen analytical bibliography*, weit besser zur Geltung. 43 Die Reflexion auf die materiale, respektive mediale Dimension des SchriftBegriffs wird dann umso dringlicher, wenn man berücksichtigt, daß ihr Ausbleiben — beinahe nach dem Muster einer Wiederkehr des Verdrängten — die Auseinandersetzungen um Reproduktions- und Darstellungsverfahren in der Edition seit langem heimsucht: in methodischen Grundsatzüberlegungen, die immer dann aktuell werden, wenn es darum geht,

4

° Scheibe 1990, S. 58. Scheibe gibt dazu folgende Beispiele: »Die Verwendung unterschiedlicher Arten von Papier in den verschiedenen Produktionsstufen zu einem Werk [...]; die unterschiedliche Art und Weise der Benutzung dieses Papiers [...]; die Art der Beschreibung dieses Papiers mit unterschiedlichen Schreibmaterialien; die Art der Ausführung von Korrekturen, wiederum mit verschiedenen Schreibmaterialien« (57). 41 »Nicht der Text det Handschrift, sondern die Handschrift selbst ist der Befund. Die Handschrift bedarf der Interpretation: das Ergebnis der Interpretation ist der Text« (Zeller 1 9 7 1 , S. 79). 42 Vgl. etwa die Studien von Siegert 1993 sowie Dotzler 1996. 43 Hurlebusch 1995, S. 1 8 5 . - Klaus Hurlebusch hat neulich einen Vermittlungsversuch zwischen den angesprochenen Positionen vorgeschlagen: Hurlebusch 1998.

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Modelle zur Darstellung (komplexer) handschriftlicher Arbeitszusammenhänge in typographischer Form zu begründen, das heißt, ihre strukturelle Unzulänglichkeit zu betonen. Genau dann wird nämlich in der Regel besonders deutlich erkennbar, »daß es etwas an der Schrift gibt, das für den Text wesentlich ist und doch niemals in Text sich übersetzen läßt.« 44 So haben etwa Wolf Kittler und Gerhard Neumann aufgrund ihrer Überlegungen zur editorischen Darstellung (und adäquaten Darstellbarkeit) von Kafkas Nachlaß betont, daß jede Edition, solange sie »nach traditionellem Muster handschriftliche Korrekturzeichen in ein System genormter, in Drucktypen gegossener Symbole übersetzt, [...] dem Ideal einer nicht handgeschriebenen Schrift verhaftet« bleibt. 45 Anschließend an diese Überlegungen — und weshalb auch sollte sich diese Ambivalenz auf »Korrekturzeichen« begrenzen lassen? — plädiert Roland Reuß für einen Begriff von Materialität, der die Zäsur zwischen >Schrift< und >Text< als die unhintergehbare Differenz fur jede textkritische Tätigkeit faßt. In deren Erkenntnis und Vermittlung wären dann Aufgabe und Verfahrensweise kritischen Edierens anzusiedeln: es hat sich in jeder einzelnen seiner Entscheidungen vom »Material des Textes« her in Frage stellen zu lassen und gleichzeitig diese Infragestellung >lesbar< zu machen. Was vorliegt, ist damit - getreu der Definition Zellers 46 - »nicht der Text, sondern Materialien zu ihm, Buchstaben, Tinte, Farbe, Papier etc., auch Virtualitäten, die erst nach dem Durchgang durch die Textkritik zu Momenten des Textes werden. Die Textkritik setzt den Text nachträglich als ihre Voraussetzung.« 47 Daß in diesem Zusammenhang immer wieder betont worden ist, die Reproduktion der Handschriften als Faksimile solle eine erwünschte, ja notwendige Erweiterung zur textgenetischen Darstellung bieten, hat das unausweichliche Problem dieser in der editorischen Tätigkeit zu erbringenden Transformationsleistung weniger gelöst als vielmehr sichtbar gemacht: Edition verharrt, im Zeitalter des Faksimiles vielleicht mehr denn je, in der Ambivalenz zwischen dem Versuch einerseits, Darstellungsverfahren typographischer Umschrift zu entwickeln, »die den Zustand der Manuskripte mit nahezu photographischer Genauigkeit wiederzugeben vermögen, andererseits aber tut sie das immer noch mit Hilfe des typographisch gestalteten Buches.« 48 44 45 46 47 48

Groddeck 1995b, S. 6 1 . Kittler/Neumann 1990, S. 73. Vgl. Zeller 1 9 7 1 . Reuß 1995, S. 1 7 Anm. 1 1 . Kittler/Neumann 1990, S. 73f. - Vgl. für einen weiter gefaßten medien- und editionsgeschichtlichen Überblick W. Kittler 1 9 9 1 und Grésillon 1998.

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Damit zeigt das Postulat nach Faksimileausgaben als »Grundlageneditionen« 49 eine Verschiebung des Interesses an, die einem gewichtigen Bestandteil der Materialität von Schrift Rechnung trägt: dem Schrift-Bild als ihrer optisch-graphischen Dimension. Wird das Manuskript nicht länger nur als Träger von >Text< aufgefaßt, sondern auch als materielles graphisches Objekt, kann und soll seine Reproduktion und Analyse nicht nur dazu dienen, editorische Entscheidungen transparenter zu machen, wie noch die erste konsequente Faksimileedition innerhalb der Germanistik — die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe — den damals ungewohnten Aufwand zu begründen versuchte. 50 Seine Analyse ermöglicht vielmehr Aufschlüsse darüber, in welchen beschreibbaren Kontexten der Schreibarbeit ein spezifischer Autor die materiellen Bedingungen, die sich aus dem Zusammenspiel von Schreibmaterial und Schreibinstrument ergeben, in welcher bestimmten Weise nutzt: Die Verteilung der Schriftzeichen auf der Fläche des Papiers, die Verwendung möglicher Änderungs- und Revisionsverfahren beim Schreiben, Unterbrechungen des Schreibvorgangs durch aliterale graphische Elemente wie etwa Skizzen oder Zeichnungen geraten in den Blick. Analysen des Schriftträgers als »espace graphique« 51 müssen sich aber keineswegs auf Dokumente autorzentrierter Textproduktion beschränken, sondern können ebenso auf die kulturell codierten Praktiken der Produktion und Reproduktion von Texten angewendet werden, wie sie in mittelalterlichen Manuskripten oder im Medium des Drucks überliefert sind. 52 So sind — das sollten diese Ausführungen angedeutet haben — nicht nur Schreibprozesse, wie sie die Uberlieferung dokumentiert, untrennbar von den historischen Umständen ihrer Produziertheit, auch die wissenschaftlichen Zugangsweisen zu ihren Erscheinungsformen rekurrieren auf historisch unterschiedliche und bei der Beschäftigung mit ihnen zu reflektierende Paradigmen der Erkenntnis. Weder ist also der Zugang zu individuellen Schreibprozessen als Zeugnissen künstlerischer Subjektivität mit dem Blick auf die Manuskripte unmittelbar zu erreichen, noch basiert das Interesse an diesen Zeugnissen auf einem (wissenschafts)historisch wertfreien und objektiven Standpunkt, wie es die Beschäftigung mit der Überlieferung in ihrer 49 50

51 52

So im Anschluß an Almuth Grésillon Zeller 1998. »Die Wiedergabe aller problematischen Handschriften im Faksimile ermöglicht die Überprüfung des Wortlauts, der Textentstehung und des Textzusammenhangs. [...] Die Faksimiles der Frankfurter Ausgabe dienen nicht als Schmuckbeilage, sondern haben als Basis der Textdarstellung eine praktische Funktion« (Sattler 1 9 7 5 , S. 18). Grésillon 1994, S. 5 1 . Vgl. dazu aus der reichhaltigen Literatur vor allem aus dem Bereich der >critique génétique< und der amerikanischen >textual bibliography< Hay 1996 sowie die Beiträge in Bomstein/Tinkle 1998.

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nackten Materialität suggerieren könnte. Das zeigen, deutlicher womöglich als die Untersuchungen der >critique génétiques da in der Regel ausgehend von weniger für die Phantasmen der Unmittelbarkeit anfälligen Problemen von Drucküberlieferung, die Debatten der englischsprachigen >TextkritikTextkritik< nicht länger als bloße Zuarbeiterin für die editorische Präsentation und hermeneutische Untersuchung literarischer Texte auf, sondern versteht sich als Grundlage fiir jede Interpretation, unabhängig von deren methodischen Prämissen, und leitet daraus den Selbstanspruch einer Neubegründung ihrer Begrifflichkeit ab: [Tjextual criticism and bibliography are conceptually fundamental rather than preliminary to the study of literature, and [...], consequently, their operations need to be reconceived along lines that are more comprehensive than the ones currently in force. 54

Das heißt insbesondere, auch für die Versuche einer Poetologie der Textgenese oder die Analyseverfahren der »critique génétiques daß sich das Ziel solcher Analyseansätze nicht länger auf die Vorbereitung kritischer Editionen beschränkt. Ausgehend von der Frage nach dem >neuen< Gegenstand von Literatur- und Kulturwissenschaften: »Was ist ein Text?«, ergänzen sie die strukturalen und semiotischen Antworten um eine historische Dimension: »Consequently, one comes to see that texts always stand within an editorial horizon (the horizon of their production and reproduction).« 55 53

Z u diesen Begriffen in der traditionellen englischsprachigen Philologie und ihrer Neukonzeption im Rahmen des hier vorgestellten Paradigmenwechsels vgl. Greetham 1992, S. 271 — 346. Verkürzt und vereinfachend ausgedrückt beschäftigt sich die »textual bibliography«, ursprünglich ausgehend von der Analyse von Drucken, mit der materiellen Erscheinungsform von Handschriften und Drucken (etwa Schriftarten und -typen, Satz etc., aber auch Schreibervarianten bei handschriftlicher Überlieferung), »textual criticism« dagegen entspricht weitgehend der Textkritik, wie sie im Gefolge von W o l f f und Lachmann auch in der deutschen Philologietradition als Methode der Rekonstruktion des »richtigen«, verläßlichen Texts geläufig ist.

54

McGann 1985, S. 182. - Die institutionelle Etablierung dieses Gleichberechtigungsanspruchs von »Literaturwissenschaft« und »Textkritik« (um in der vertrauten Terminologie zu bleiben) widerspiegelt etwa die von George Bornstein herausgegebene Schriftenreihe »Editorial Theory and Literary Criticism«, die im Universitätsverlag von A n n Arbor, Michigan erscheint. McGann 1 9 9 1 , S. 21.

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Diese Historisierung des >Texts< scheint dann weniger spektakulär, wenn man sich zu Vergleichszwecken die Praxis textkritischer Verfahren bei Überlieferungssituationen vergegenwärtigt, die nicht auf autographe Dokumente zurückgehen können. Ihre Gegenstand bilden seit je Texte, deren Historizität konstitutiver Bestandteil und Ausgangslage kritischer Arbeit darstellen. Neueren Datums ist dabei allenfalls die Auffassung, daß Überlieferung nicht mehr einfach als potentielle Entstellung eines ursprünglichen und »richtigen* Texts und damit der Intention des Autors gewertet, sondern als Dokument einer selbst wieder zu historisierenden Praxis des Umgangs mit Texten betrachtet wird.' 6 Textkritik in diesem Sinn kommt nicht umhin, ihr Interesse auf die vielfältigen sozialen und historischen Kräfteverhältnisse zu richten, die — emanzipiert von ahistorischen Begrifflichkeiten wie Autorschaft und Intention — die jeweiligen Autorbilder, die Auffassungen vom »richtigen* Text und von den ihm angemessenen Präsentationsformen prägen. 5 7 Erst aus der Überblendung der Rekonstruktion eines kulturell bestimmten Schriftsystems mit der einer individuellen Praxis des Schreibens und durch die Analyse ihrer Interaktionen und Differenzen läßt sich also aus den Spuren von Schreibvorgängen das ablesen, was man eine Poetik des Schreibens, und das heißt: die — insbesondere in der Moderne — artikulierte Verbindung von Regel und Praxis bei der Herstellung von Texten nennen kann. Ihre Berücksichtigung wird notwendig, will man einerseits der Skylla eines kulturalistisch-diskursiven Determinismus entgehen, für den literarische Texte nur mehr Technologieeffekte sind, und andererseits der Charybdis einer ahistorisch selbstgenügsamen Illusion des schöpferisch tätigen, autarken Künstlersubjekts entkommen, dessen Werk nur in der Versenkung in die in ihm und durch es artikulierten autonomen Gesetzmäßigkeiten des Ästhetischen durchmessen werden kann. Allein aus den Dokumenten der Überlieferung und dem ihnen immanenten sprachlichen Gehalt läßt sich eine so verstandene Poetik des Schreibens also ebenso wenig erschließen wie aus dem ausschließlichen Rekurs auf Aussagen, die ihrem Gegenstand »äußerlichen* diskursiven Registern entstammen.

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»L'œuvre littéraire, au Moyen Age, est une variable« (Cerquiglini 1989,8. 57) — ausgehend von diesem Grundsatz hat sich in der Mediävistik die Debatte um die »New Philology* entfaltet; vgl. dazu als Überblick Gleßgen/Lebsanft 1997 und Tervooren/Wenzel 1997. Vgl. Bornstein 1 9 9 1 a , S. 8f. und ausführlicher Shillingsburg 1997. - Vgl. dazu auch die Untersuchungen zu den (historischen) Paradigmen editorischer/textkritischer Praxis bei Schlaffer 1990; Grigely 1995 und Espagne 1998. - Für den Autorbegriff deckt sich diese Zugangsweise mit den Ansätzen im meistens als Postulat für den >Tod des Autors* mißverstandenen Vortrag von Foucault 1969/1988.

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A u f Lektürepraktiken, zu denen Walsers Manuskripte — als »material text< und als Dokumente von Textualisierungsprozessen — Anlaß bieten, wird im Zusammenhang mit Walsers >Schreibszenen< noch ausfuhrlicher einzugehen sein. Doch soll hier in aller Kürze, gleichsam um die Tragweite der oben beschriebenen Konzepte exemplarisch zu akzentuieren, auf einen Aspekt aufmerksam gemacht werden, der bei den folgenden Lektüren nur am Rande eine Rolle spielen wird: auf den gedruckten Text als Dokument einer kulturellen Praxis von Produktion und Gestaltung. Denn einmal abgesehen von allen Fragen nach der Bedeutsamkeit von Schreibmaterialien enthält Walsers Briefwechsel ebenso wie seine Prosa genügend Zeugnisse dafür, daß die äußerliche Gestalt eines Texts, also seine para- und peritextuellen Einrichtungen, keinerlei Zufälligkeiten duldet, beziehungsweise nicht weniger Aufmerksamkeit verdient als seine semantische Dimension. 58 Das gilt nicht nur fur die ersten Publikationen, die in enger gestalterischer Zusammenarbeit mit Karl Walser entstanden sind und bei denen in Walsers Briefwechsel mit dem Verlag die wenig erstaunliche Strategie sichtbar wird, Urteile und Forderungen über Druckgestaltung und Buchschmuck als Aussagen seines renommierteren Bruders zu kennzeichnen. 59 Schon beim 1 9 1 3 im K. Wolff Verlag erschienenen Band >Auf58

Zum Begriff des >Paratexts< cf. Genette 1987/1989. McGann hat gegen diesen Begriff kritisch eingewendet, daß er nichtsprachliche Phänomene, die zum Verständnis der Textualität notwendig sind, ausklammere (Satz, Papier etc.) (McGann 1 9 9 1 , S. I3f.). Dem ist nicht vollumfänglich zuzustimmen: Zwar liegt das Schwergewicht von Genettes Ausführungen tatsächlich auf sprachlichen Informationen, er setzt sich aber ebenso mit dem »verlegerischen Peritext« auseinander, dessen Bestandteile gerade auch »der Satz und die Wahl des Papiers« bilden; vgl. Genette 1987/1989, S. 2 2 - 4 0 , Zit. 38. - Zu Walsers Verlagsbeziehungen vgl. Echte 1998, der den Umstand hervorhebt, daß Walser sich zumindest zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn vornehmlich an Verlage wandte, »die fur ihre bibliophilen Editionen bekannt waren« (224).

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Symptomatisch dafür Β 36, 32f. vom 17. Juli 1904, an Rudolf von Poellnitz: »Ich bekam heute ein Schreiben von meinem Bruder, worin er mir, das >Buch< betreffend, folgendes schreibt: >Vom Insel-Verlag bekomme ich heute eine zweite Druckprobe [ . . . ] die mir lange nicht so gut gefällt wie die Erste. < Meinem Bruder scheint die erste Druckprobe [...] besser und er wünscht folgende kleine Aenderungen: Die Ueberschrift ein klein wenig größer, ebenso das Initial (aber nicht so groß wie das in der zuletztgesandten Probe), dann den Zwischenraum (zwischen einem jeden Abschnitt) breiter mit einem Strich — wie das in den Drucken des vorigen Jahrhunderts üblich war, oder: Er will die Ueberschriften selber zeichnen, in lateinischen Buchstaben, und statt des Striches eine feine Borde zeichnen [ . . . ] Nun bitte ich Sie, sehr verehrter Herr v. Poellnitz, darüber gleich und direkt mit Karl Walser correspondieren zu wollen. Es ist ja selbstverständlich, daß, wenn ich meinem Bruder den Schmuck des Buches (durch Ihre Einwilligung) anvertraue, ich ihn auch ganz machen lassen will, und seine Ideen in dieser Richtung von vorneherein auch die Meinigen sind.

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sätze< äußert Walser selber direkte, wenn auch dezente, K r i t i k an der ihm zugestellten Satzprobe: Ich hätte gern den Buchstaben kleiner und leichter, und ich möchte Sie höflich bitten, mir doch Brandstetter's Musterheft zur Ansicht einsenden zu wollen. Mit dem deutschen Typ bin ich einverstanden; nur denke ich mir gern das Druckbild duftiger, leiser! Vielleicht haben Sie die Güte und lassen noch eine Probe herstellen. (B 6 1 , 56) Was hier deutlich wird, ist ein Bewußtsein für Drucktypen als geregeltes Inventar von Zeichensätzen, aus dem der für eine Publikation jeweils passende gewählt werden kann. Walsers Einwände heben so bis zu einem gewissen Punkt die Trennung zwischen den sprachlichen und den b i b l i o graphischem Text-Ebenen auf, die flir gewöhnlich zur Unterscheidung zwischen den Produktionsinstanzen von Texten dient. 6 0 Die Typen, Elemente der »bibliographical codes«, 6 1 die fur Erscheinungsform und Bedeutung literarischer Texte weder gleichgültig noch gleichwertig sind, treten in den Bereich der poetologischen Reflexion ein. Explizit benannt werden diese Zusammenhänge in Walsers Korrespondenz mit dem Verlag Huber & Co. zum Band >PoetenlebenPoetenleben< zu spitzig und eckig vorkommt. Es ist etwas Gekünsteltes, im übrigen etwas durchaus Unvolkstümliches daran, dem ich mich weigere, meine Zustimmung zu geben. Ein Buch in diesem Druck würde

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Ich beschränke mich dann nur auf die textliche Correctur.« — Zum Verhältnis von Karl und Robert Walser vgl. Echte/Meier 1990. »[A] careful distinction must be drawn between the linguistic and the bibliographical features of text. The distinction is important because it highlights the interactive nature of textuality as such. So far as editors are concerned, the chief (but not sole) authority over the linguistic text is the autor, whereas the chief (but not sole) authority over the bibliographical text normally falls to the publishing institution within which an author is working« (McGann 1 9 9 1 , S. 66f.). McGann 1 9 9 1 , S. 1 3 . Vgl. Β 1 2 3 - 1 2 5 , 1 0 2 - ι ο 6 ; Β 1 2 7 - 1 2 9 , 1 0 7 - 1 0 9 ; Β 1 3 4 , 1 1 3 ; Β 1 3 6 , i i 4 f · ; Β 1 3 8 , ι ι 6 .

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mir vollkommen Missvergnügen bereiten; daher bitte ich Sie dringend, eine andere Wahl treffen zu wollen. Antiqua wollen wir nicht nehmen. Ich schlage eine schlichte, altherkömmliche, ehrbare, an Schul-Lesebücher mahnende, einfache, ehrliche un-reformierte Fraktur vor, ganz dem Traditionellen entsprechend, warm und vor allen Dingen: rund. N u r um Gotteswillen nichts, was an Peter Behrens und dergleichen Reformierereien erinnert. [ . . . ] Das Satzbild soll weich, rund, bescheiden, warm und ehrlich aussehen. Das Buch soll womöglich aussehen, als wenn es im Jahre 1 8 5 0 gedruckt worden sei. Mit anderen Worten: Mein sehr lebhafter, inniger Wunsch in dieser Hinsicht ist: Unmodernität! W i r wollen unter keinen Umständen das nachahmen, was draussen im Reich in den letzten Jahren an geschmackvoller Geschmacklosigkeit oder geschmacklosem Geschmack auf Buchgewerbegebiet hervorgebracht wurde. Darf ich Sie bitten, mir ein, zwei, drei verschiedene Proben zugehen lassen zu wollen? [ . . . ] Vor allen Dingen eine feine, zarte, runde, unverkiinstelte Fraktur. Das Buch soll deutsch und nicht assyrisch oder ägyptisch aussehen. Besitzen Sie Erstausgaben von Klassikern, wie Schiller, Lessing, Göthe, usw.? Mein Grundsatz ist: keine zweifelhaften Zierraten, sondern edle nutzentsprechende Schlichtheit. (B 1 2 5 , 104IÏ.) 6 3

Diese Überlegungen Walsers beziehen sich unzweifelhaft auf die semiotischen Aspekte der Schrift, die nicht der semantischen Funktion des Textes angehören. Sie tun dies nicht in Hinsicht auf den individuellen Charakter einer Handschrift, in der Spuren eines Schreibprozesses zu entdecken sind, sondern im Bezug auf die kulturellen Erscheinungsformen einer >SchriftöffentlichkeitInsel< mit dem erklärten Ziel an, die »Verbreitung kunstmäßig ausgestatteter Bücher von litterarisch wertvollstem Inhalt in weitere Kreise des deutschen LesePublicums« zu tragen »und damit zugleich ein der Begünstigung und Entwicklung moderner Kunstbestrebungen günstiges Resultat zu erreichen.« 04 Wenn sich Walser nun explizit gegen jene kunsthandwerklichen 63

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»Walser schrieb diese Worte in eben jenen Tagen, da die Dadaisten in Zürich mit ihren typographischen Experimenten hervortraten. Doch diese jungen Leute waren keine Schweizer, sondern Emigranten aus den verschiedenen kriegfuhrenden Ländern Europas. Für den damaligen Schweizer Zeitgeschmack hingegen war Walsers Betonung des Herkömmlichen keineswegs so unzeitgemäss, wie es aus heutiger Sicht wirken mag. So erhielt sein Buch >Poetenleben< nach Erscheinen auch zahlreiche wohlwollende Kritiken, wobei nicht ganz zufallig sein dürfte, dass verschiedene Rezensenten, unter ihnen Hermann Hesse, einmal mehr Vergleiche mit Eichendorffs >Taugenichts< anstellten und Walsers Buch damit in eben jene Zeit zurückversetzten, an die es von seiner Gestaltung her erinnern sollte« (Echte 1998, S. 232). >Almanach der Insel fur 1 9 0 C X , Einleitung. Zit. nach Schöffling 1 9 8 1 , S. 9 . — Eine direkte Anspielung auf den >InselKlassisch< verdienen Texte wohl dann genannt zu werden, wenn ihre Präsenz innerhalb eines kulturellen Diskurses von der konkreten Materialität des Buchs und des Texts abgelöst werden kann. »Ich möchte im Buch keinen Schmuck haben als den hübschen Text selbst, den ich deshalb schmuck und zierlich wünsche« (B 1 2 5 , 105). Dieses Spannungsverhältnis kehrt auch in Walsers Prosa wieder, so etwa im >Brief an einen Zeitschriftenredaktorc Indem ich es mir zur Pflicht gemacht habe, über die Ausstattung Ihrer zweifellos schätzenswerten Zeitschrift nachzudenken, kam ich zum Entschluß, überzeugt zu sein, daß das Papier, das Sie verwenden zu können glauben, nicht nichtssagend, nicht bescheiden genug ist. [ . . . ] Gerne mache ich Ihnen ohne leiseste Honorarforderungen den Ihnen vielleicht sympathischen Vorschlag, zugunsten häufigeren Erscheinens die Pracht und Vornehmheit derselben in so starkem Maße, wie es Ihnen als erträglich vorkommt, einzuschränken, die ich, falls ich Führer zu sein in der Lage wäre, was übrigens vorläufig gar nicht mein Wunsch ist, überhaupt einstellte, da gerade der äußere Schmuck die Wirkung des Inhalts sozusagen beschädigt. Prunkvolle Zeitschriften scheinen mir Ä h n lichkeit mit schwerfällig daherschwimmenden Schiffen zu haben, die nicht genügend leicht lenkbar sind, während ich sie mir lieber als Flugschriften im Gewände von elegant dahinfliegenden, amüsant flatternden, zielsicheren Vögelchen vorstelle. ( 1 8 , 15of.)

Die Texte der Berner Zeit scheinen sich nicht ohne Ironie an die Zeiten zu erinnern, in denen das >Dekorative< des Schreibens augenfällig an die 65

Eine Ambivalenz, die noch in der 1 9 2 6 entstandenen >Gedichtbesprechung< angesprochen wird: »Gewöhnlich scheint uns nun ja das Papier eines Gedichtbuches an sich schon beinahe himmlisch; glatt ist es, und dennoch, so möchte man sagen, von körperhafter Festigkeit, Anfaßtüchtigkeit. Kann auch ich poetisch werden? In der Tat scheint es sich so zu verhalten.« ( 1 8 , 228).

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»Wozu soll der Strich oben dienen? Sie werden verzeihen, wenn ich der Meinung bin, dass er gänzlich überflüssig ist. [...] Ebenso wie der Strich oben soll das Initial wegfallen, weil dadurch die dekorative und sinngemässe Wirkung der Ueberschrift des Prosastückes leidet. Das Initial gibt nur Unruhe und raubt oder stört die schlichte Anschaulichkeit. / Die Seitenzahl wünsche ich, aus Grundsätzen ebenfalls der Einfachheit, genau in die Mitte und hoffe Sie damit einverstanden. / Was schließlich die Betitelung der Stücke betrifft, so müssen sich nach meinem Dafürhalten die Ueberschriften durch einen etwas grössern Buchstaben sichtlich vom Text abheben. Ein wenig Schwärze darf da angewendet werden und etwas mehr Kräftigkeit« (B 1 2 5 , 105).

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Bedingungen seiner Distributionsumstände gebunden war. »Einst diente ich meinem Vaterland aufs feinste, trefflichste dadurch, daß ich ein schön gedrucktes und möbliertes, Pardon, beumschlagtes Gedichtbuch herausgab. Welch eine imposante Leistung das war!« (18, 29) Es fällt schwer, dabei nicht auch an einen autobiographischen Kommentar und damit an den 1909 bei Bruno Cassirer erschienenen Band >Gedichte< zu denken: Im Quartformat, mit 16 Originalradierungen Karl Walsers ausgestattet, auf Büttenpapier in einer Auflage von 300 numerierten und von den Brüdern handsignierten Exemplaren gedruckt, zu einem Subskriptionspreis von 30 Mark verkauft, 67 erscheint das Buch tatsächlich >möbliertInsel< zehn Jahre vorher reklamierte. Gute fünfzehn Jahre nach den oben zitierten Vorgaben zur Buchgestaltung wiederholen sich die Überlegungen zur Wirkung von Typographie und Layout als Bericht einer Leseerfahrung. Das Prosastück >Mutti< (1930/ 3 1 ) verdeutlicht noch einmal und lange nach Walsers letztem Erfolg auf dem Buchmarkt, daß befriedigende Lektüre untrennbar mit dem Erscheinungsbild des >bibliographical code< verbunden ist. Mehr noch: Dieses vermag, über seine mögliche Korrespondenz mit dem Text-Gehalt hinaus, den Leser sogar von Enttäuschungen inhaltlich-stilistischer Art wie etwa der »Monotonie« der »Redensarten« absehen zu lassen: Ich bin mit Lesen eines Buches fertig geworden, das ich als passabel bezeichnen möchte, worunter ich etwas Hübsches, mithin Befriedigendes verstehe. Stellenweise wollte ich glauben, das Werk enttäusche mich, indem ich in bezug auf Redensarten, deren sich die Personen bedienten, Monotonie konstatierte. Im ganzen genommen fand ich dennoch das Buch interessant, und zwar vorwiegend wegen seines klaren, artigen Aufbaus. Beispielsweise machten schon nur die Druckseiten an und für sich einen beinahe durchweg günstigen Eindruck auf mich. Die Buchstaben schienen mir nicht so sehr mit Angestrengtheit und Energie aufs Papier gepreßt, als bloß sorgfaltig draufgelegt worden zu sein. Sodann gab mir das Vorkommen zahlreicher Abschnittchen, d.h. das häufige Beginnen neuer Zeilen Gelegenheit, auf der angenehmen, willkommenen Lektüre gleichsam auszuruhen. Ich las ein gemütlich und konservativ geschriebenes Buch mit sozusagen herkömmlicher Behaglichkeit. (20, 3 6 9 )

Walsers Aufmerksamkeit für den »Peritext«, 68 den seine eigenen Produkte erhalten, bricht nach der letzten zustande gekommenen Buchpublikation ebensowenig ab. Im Märzheft 1926 der von Max Rychner redigierten Zeitschrift >Neue Schweizer Rundschau« erscheint der achtseitige Prosatext 67 68

Alle Angaben nach Schäfer 1978, S. 2 1 . Genette 1987/1989, S. 22.

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>Die RuineDas Alphabets 17, 192) »Ich selber werfe mitunter meine Glieder in die Luft, als wäre ich ein Roboter.« (>Krachen wie Schlangen.. .milieu< au sens vague de »contexte« ou de »social background< (par opposition au sens fort, newtonien, que réactive la notion de champ), ni même ce qu'on entend d'ordinaire par »milieu littéraire« ou »artistiques c'est-à-dire un univers de relations personnelles entre les artistes ou les écrivains, mais un champ de forces agissant sur tout ceux qui entrent dans cet espace de différement selon la position qu'ils y occupent (soit, pour prendre des points très éloignés, celle d'auteur de pièces à succès ou celle de poète d'avant-garde) en même temps qu'un champ de luttes visant à transformer ce champ de forces« (Bourdieu 1984, S. 5). V g l . zu diesem Begriff auch Bourdieu I985a/i992, S. I55ff. und die umfassende Darstellung bei Bourdieu 1992. — Die hier verwendete Begrifflichkeit des »literarischen Feldes« bezieht sich auf den literatursoziologischen Ansatz Pierre Bourdieus und nicht auf die weiter gefaßte und in Fortsetzung der Rezeptionstheorie Isers entworfene phänomenologische Theorie des »Bewußtseinsfelds«; vgl. dazu Lobsien 1988. Zur soziologischen Theorie des literarischen Feldes vgl. Jurt 1984; Fischer/Jarchow 1987; Jarchow/Winter 1993; Jurt 1995, S. 7 1 - 1 0 7 .

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piazieren (Produktionsebene) wie zu lokalisieren (Rezeptionsebene) sind. Auf ihm spielen sich die Auseinandersetzungen und Bündnisse als strategische Akte »im Kampf um die symbolische Herrschaft« 90 vor dem Hintergrund einer historisch variablen Autonomie zu andern Regelfeldern ab. Diesem Beschreibungsansatz geht es nicht darum, tradierte deterministische Modelle von ästhetischer Produktion als > Uberbau < sozialer Verhältnisse wieder einzusetzen. Er versucht vielmehr, den historischen Befund eines Prozesses von Autonomisierung und Ausdifferenzierung (der Bedingungen von) ästhetischer Produktion bestehen zu lassen, der wohl unabhängig vom jeweiligen methodischen Ansatz als Grundlage der ästhetischen Moderne gewertet werden muß, ohne aber dabei auf die Dimension gesellschaftlicher Kodierungs- und Normierungsstrukturen und ihrer Wechselwirkungen mit den Positionsbeziigen im Feld kultureller Produktion verzichten zu wollen. Es mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, die Rekonstruktion eines literarischen Feldes in diesem Sinne an den Texten eines Autors zu versuchen. Läuft nicht unweigerlich eine solche Analyse Gefahr, stillschweigend von einer Instanz der Autorschaft auszugehen, die ihre Prämissen gerade in Frage stellt? Müßte man dagegen nicht einwenden, daß eben durch die Historisierung des Konzepts >Autorschaft< eine derartige Referenz in Widerspruch geriete mit der Einsicht, daß man sich zur Erkundung eines kulturellen Feldes nicht auf die Einheiten und Funktionen verlassen kann, die dieses fiir die in ihm möglichen Einsätze bereithält? Vielmehr hätte an deren Stelle eine Analyse — oder Archäologie — der Aussagen und ihrer Bedingungen zu treten, die den Diskurs strukturieren; sie müßte von der Zuschreibung an ein spezifisches schreibendes Individuum zunächst absehen. 97 Der >Autor< wäre erst danach wiedereinzufüh96

Bourdieu I985a/i992, S. 160. — Der Strategiebegriff ist in der Auffassung Bourdieus »ein Instrument, das den Bruch mit dem objektivistischen Standpunkt und der Auffassung eines akteurlosen Handelns, wie es der Strukturalismus (unter Rückgriff auf den Begriff des Unbewußten) voraussetzt, ermöglicht. [ . . . ] Die Strategie ist [ . . . ] das Produkt eines praktischen Sinns als eines >Spiel-SinnsSpielsAutor< oder eine produktive Instanz. Aber dieser >Autor< ist nicht mit dem Subjekt einer Aussage identisch; und das Produktionsverhältnis, das er mit der Formulierung unterhält, ist nicht deckungsgleich mit dem Verhältnis, das das äußernde Subjekt und das, was es äußert, verbindet« (134).

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ren — nicht als »sprechendes Individuum, das einen Text gesprochen oder geschrieben hat«, sondern »als Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts.« 98 Die Analyse hätte also nicht von der scheinbar unhintergehbaren Instanz eines Autorsubjekts auszugehen, sondern zunächst nach den spezifischen historisch-diskursiven Bedingungen zu fragen, unter denen ein Individuum zum >Autor< konstituiert wird (resp. konstituiert werden kann). Deutlich scheint sich die Notwendigkeit einer solchen Verschiebung abzuzeichnen, wenn man den Bruch wahrnimmt, der sich in Foucaults Schriften öffnet zwischen der Hoffnung auf eine Literatur, mit deren Hilfe es dem Denken möglich werden soll, an seine Ränder und über sie hinaus zu gelangen, und der Ernüchterung seiner Archäologie von Diskursen, für die es einen privilegierten »Durchgang nach >DraußenRissesAutorschaft< ab. Die Frage »qu'est-ce qu'un auteur« setzt — so scheint es — der Suche nach einem Sprechen, das »die immer neu bezwungene Form des Draußen« sichtbar werden läßt, im methodischen Verbund mit der Absage ans >Werk< und an die >écriture< den Schlußpunkt. 1 0 1 Noch in >Les mots et les choses< weist Foucault zu Beginn explizit darauf 98 99 100 101

Foucault 1 9 7 0 / 1 9 9 1 , S. 20. Foucault 1966/1988, S. 1 3 2 . Foucault 1966/1988, S. I32f.; Foucault 1963/1989. Foucault 1966/1988,8. 1 5 5 . - »Die Literatur verschwindet zunehmend aus seinem Denken zugunsten einer formalen Reflexion über die Sprache, in deren Mittelpunkt die Frage nach dem Verhältnis von Diskurs und Macht steht. Nach der Archäologie des Wissens ist die Literatur nicht mehr der paradoxe und gleichwohl wesentliche Ort von Foucaults eigenem Sprechen, sondern nur noch ein möglicher Gegenstand der historischen Diskursanalyse unter anderen« (Geisenhanslüke 1997, S. 216). Vgl. auch die gründliche Untersuchung von During 1992, der im Unterschied zu Geisenhanslüke über den Bruch in Foucaults theoretischen Positionen hinausgeht. »In broad terms, one can classify his remarks and essays on literature under four headings: first, the literary theory that underpins Madness and Civilisation, the book on Roussel and the essays on transgression; second, the literary history that lies embedded in those trasgressive essays; third, his description of the uses to which literary realism was put in the production of the docile society, and, last, a not very fully developed description of description of literary criticism both as a particular manipulation of the author effect and as a mode of modern power. Yet Foucault rarely deals with literature itself as a category or an institution« (186).

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hin, daß das Buch »seine Entstehung einem Text von Borges zu verdanken« hätte. 1 0 2 Damit wird die Möglichkeit, eine Klassifikation der Erkenntnisweisen zu versuchen, strategisch von der Existenz eines >anderen< Diskurses begründet — dieser erst ließe in der »Atopie« 1 0 3 der Sprache überhaupt wahrnehmbar werden, daß die (Un-)Möglichkeit eines >anderen Denkens< davon abhängig ist, ob und inwiefern Sprache an die Funktion der Referenz gebunden ist. Erst ausgehend von dieser strategischen Uberschreitung kann im Raum der nach Bezeichnungen und Repräsentation geordneten Sprache jene »Isolierung« einer Sprachform festgestellt werden, »deren besondere Modalität es ist, >literarisch< zu sein«: Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, der Epoche, in der die Sprache sich in ihrer Dicke als Objekt eingrub und sich allmählich von einem Wissen durchdringen ließ, rekonstruierte sie sich anderswo in einer unabhängigen, schwierig zugänglichen, bezüglich des Rätsels ihrer Entstehung verschlossenen und völlig auf den reinen Akt des Schreibens bezogenen Form. Die Literatur ist die Infragestellung der Philologie (deren Zwillingsgestalt sie gleichwohl ist): sie fuhrt die Sprache der Grammatik auf die nackte Kraft zu sprechen zurück, und da trifft sie auf das wilde und beherrschende Sein der Wörter. [ . . . ] Literatur unterscheidet sich mehr und mehr vom Diskurs der Vorstellungen, schließt sich in eine radikale Intransivität ein. Sie löst sich von allen Werten, die im klassischen Zeitalter sie zirkulieren lassen konnten (der Geschmack, das Vergnügen, das Natürliche, das Wahre), und läßt in ihrem eigenen Raum alles entstehen, was dessen spielerische Verneinung sichern kann (das Skandalöse, das Häßliche, das Unmögliche). Sie bricht mit jeder Definition der >Gattungen< als einer Ordnung von Repräsentationen angepaßten Formen und wird zur reinen und einfachen Offenbarung einer Sprache, die zum Gesetz nur die Affirmation - gegen alle anderen Diskurse ihrer schroffen Existenz hat. Sie braucht also nur noch in einer ständigen Wiederkehr sich auf sich selbst zurückzukrümmen, so als könnte ihr Diskurs nur zum Inhalt haben, ihre eigene Form auszusagen. 104 Knappe zehn Jahre später antwortet Foucault auf die Frage nach seiner Beschäftigung mit Literatur: »Für mich war die Literatur etwas, das ich beobachtete, nicht analysierte, oder reduzierte oder in das Feld der Analyse integrierte. Sie war eine Pause, ein Einhalten, ein Wappen, eine Fahne.« Ihr soll, so Foucault weiter, nicht die Funktion einer »Generalverpackung aller anderen Diskurse« zugeschrieben werden. Vielmehr wäre nach den Vorgängen ihrer Institutionalisierung, ihrer »Sakralisierung« zu fragen,

103 104

Foucault 1966/1974, S. 17. - Bei der von Borges zitierten »gewissen[n] chinesische[n] Enzyklopädie« zur Gruppierung der Tiere (Borges 1 9 5 2 / 1 9 8 0 - 8 2 , V. 2, S. 1 1 if.) handelt es sich zwar tatsächlich um eine unter den Bedingungen der abendländischen Episteme unmögliche, keineswegs aber um »eine sinnlose Ordnung« (Geisenhansliike 1997, S. 26). Foucault 1966/1974, S. 2 1 . Foucault 1966/1974, S. 3Ó5f.

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die seit dem 19. Jahrhundert Literatur und Universität verknüpfen. 105 Zwei Schritte sind zu dieser Analyse notwendig: Erstens die konsequente Beachtung der — in Frankreich durch Blanchot und Barthes postulierten — »Selbstbezüglichkeit der Literatur«, ein Konzept, »mit dessen Hilfe man sich der Idee entledigen konnte, die Literatur sei der Verkehrsknotenpunkt oder der Punkt, an dem alle Wege zusammenlaufen würden, der Ausdruck aller Gesamtheit«, 106 ein Postulat allerdings, das in gewisser Weise durchaus zu einer Resakralisierung und Abschottung der Literatur führen kann. Um dies zu vermeiden, sollen zweitens die Fragen gestellt werden nach der Grenze dessen, was die Rede von Literatur ermöglicht, und den Auswirkungen, die diese Grenzziehung auf ihre Aussagen zeitigt. Die »Schwelle, hinter der ein Diskurs [...] beginnt, innerhalb des als Literatur qualifizierten Bereichs zu funktionieren«, kann allein durch die Perspektive auf die internen Gesetzmäßigkeiten und Strukturen der Texte nicht sichtbar gemacht werden. Es ginge vielmehr darum, die Ereignishaftigkeit einer »Bewegung« zu erfassen, »den kleinen Vorgang, durch den ein nichtliterarischer Diskurs, ein vernachlässigter, so rasch vergessen wie ausgesprochen, in das literarische Feld eintritt«, und die Veränderungen zu beschreiben, die der Umstand mit sich bringt, »daß er als Literatur anerkannt wird«. 1 0 7 Und drei Jahre später ist als Konsequenz dieses Postulats, das noch einmal die Grenze zwischen der Literatur als eigengesetzlichem Gegenstand und als Objekt von Machttechniken zu ziehen scheint, ein ganz anderer Traum einer Literatur an die Stelle der Sprache »im Glanz ihres Seins« 108 getreten: der Traum von einem Buch, das den Titel »Die Lüste {plaisirs] der Geschichte« zu tragen hätte und in dem in einer »erotisch-historischen Anthologie« von Bildern, Stichen und Exzerpten jene Kapitel der Wissenspräsentation dargestellt würden, mit deren Hilfe seit dem 19. Jahrhundert Untertanen in vaterlandsliebende Bürger verwandelt werden sollen: Vercingétorix, jeune guerrier à moitié nu, indomptable et vaincu, venant offrir sa personne au milieu des légionnaires cuirassés; Blandine frémissante au milieu de ses lions; le galop des Huns sur fond d'incendies parmi des femmes dépoitraillés et implorantes; Brunehaut à la croupe de l'étalon, etc.. 109

Die Sammlung solcher Szenen, die seit über einem Jahrhundert als »Erotisierungspunkte« von Geschichte funktioniert haben, bezieht sich auf die 105 τ 6

°

107

'°8 109

Foucault Foucault Foucault Foucault Foucault

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1975/1990, 1975/1990, 1975/1990, 1966/1974, 1978/1994,

S. S. S. S. S.

229; 2 3 1 . 231. 233. 366. 501.

Gattung einer »Litho-Literatur«, 1 1 0 die eine Verlagerung der von Foucault an Flauberts >La tentation de saint Antoine< beschriebenen »fantastique de bibliothèque< bildet. Eine Verlagerung in doppelter Hinsicht: Einmal treten die Phantasmen der Lektüre aus dem Raum der Bibliothek heraus und betreten den der Gesellschaft; zweitens aber — und entscheidender — verlassen sie den engen Bereich > zwischen Tisch und Lampe < und besetzen den Raum zwischen den Institutionen und den Körpern. Sie bilden keine Halluzinationen des Schreibenden mehr, die diesen an die Grenze zum Wahnsinn treiben, sondern helfen mit, den Leser >normalistisch< zu disziplinieren. 1 1 1 Kurz: Literatur zeigt nicht mehr die Möglichkeiten einer anderen Ordnung des Denkens wie Borges' chinesische Enzyklopädie; sie lenkt vielmehr den Blick des Machtanalytikers auf die Transmissionspraktiken der >gouvernementalitéinfamen Menschenc Mag man auch im Namen der »guten Literatur< all die Autoren bespötteln, die zeilenschindend ihre Verkaufszahlen in die Höhe treiben wollen, der Diskurshistoriker ist denen, die damit Erfolg hatten, dankbar, nicht zuletzt wegen ihres Wissens darüber, daß und wie >Literatur< sich verkauft — für Geld zu haben i s t . 1 1 2 Vor diesem Hintergrund erzählt sich aber auch die Geschichte der Literatur auf eine ganz andere Art als in der Beschreibung ihrer radikalen Intransivität: Es entsteht eine Kunst der Sprache, deren Aufgabe nicht mehr ist, das Unwahrscheinliche zu singen, sondern das zur Erscheinung zu bringen, was nicht erscheint — nicht erscheinen kann oder darf: die letzten und feinsten Grade des Wirklichen auszusagen. Sobald man ein Dispositiv bereitstellt, das dazu zwingt, das >winzig Kleine< [infime] zu sagen, das, was man nicht sagt, das was keinen Ruhm verdient, das >Infame< also, formiert sich ein neuer Imperativ, der die immanente Ethik des literarischen Diskurses des Abendlands bilden

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Foucault 1978/1994, S. 501 (»>points d'érotisation< de l'Histoire«); 500 (»litho-littérature«). — Ist es bloß ein Zufall des Genres — Foucault führt den Traum zu einem solchen Buch auf Eugène Sues >Mystères du peuple< zurück —, daß der ehemals reine Raum der Schrift durch ein weiteres Darstellungsmittel komplettiert wird? »[C]e genre de récit ne peut pas se comprendre sans l'existence de la lithographie, modèle et point d'aboutissement de toutes ces scènes« (500). Zum Begriff des >Normalismus< vgl. Link 1997. Foucault 1978/1994, S. 500: »Après tout, la littérature populaire du X I X e siècle était commercialisée à grande échelle et par des gens pour qui un sou était un sou. On s'est moqué de ceux qui tiraient à la ligne pour vendre davantage. Soyons reconnaissants à ceux qui en mettent plein la vue. Ils savaient que la littérature, ça s'achetait.«

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sollte [...]. Eine Art ausdrücklicher Befehl, den nächtlichsten und alltäglichsten Teil der Existenz aufzustöbern (sei es auch um darin gelegentlich die feierlichen Figuren des Geschicks zu entdecken), zeichnet die Neigungslinie [ligne de pente] der Literatur seit dem 1 7 . Jahrhundert - seit sie eben Literatur im modernen Sinn des Wortes zu sein begonnen hat. Mehr als eine spezifische Form oder ein wesentlicher Bezug zur Form ist es dieser Zwang, ich würde sagen: diese Moral, welche die Literatur charakterisiert und ihre unermeßliche Bewegung bis zu uns getragen hat: Pflicht, die gemeinsten der Geheimnisse auszusagen. Die Literatur gibt nicht allein diese große Politik, diese große Diskursethik wieder; sie läßt sich auch nicht ganz auf sie zurückfuhren, aber sie hat hier ihren Ort und ihre Existenzbedingungen. 113

Die Literatur reiht sich damit ein in die Prozeduren, die in der modernen Gesellschaft die Subjekte sprechen macht. Sie unterhält darin ihre doppeldeutige Beziehung zur Wahrheit und zur Macht, daß sie aufgrund der konstitutiven Unentschiedenheit zwischen wahr und falsch, die Bedingung ihres Erzählens ist, zwar im Raum des >Nicht-WahrenNicht-Wahren< lokalisiert wird, vermag sie, »versessen darauf, das Alltägliche unterhalb seiner selbst aufzuspüren, den A n stand zu verletzen, heimtückisch oder brutal Geheimnisse zu enthüllen, Regeln und Codes zu verschieben, das Unsagbare sprechen zu machen«, dazu tendieren, sich außerhalb des Gesetzes anzusiedeln oder zumindest »die Bürde des Skandals, der Übertretung oder der Revolte« auf sich zu nehmen. So bleibt sie »[mjehr als jede andere Form der Sprache« der Diskurs des >InfamenLiteratur< kaum zu denken wäre — sich in der Ausformulierung der Methode aufzulösen droht; mit anderen Worten: genau das Interesse für und die Faszination durch ästhetische Texte, die Foucaults Ausarbeitung einer Ordnung der Dinge und Diskurse wesentliche Anreize gegeben zu haben scheinen, verschwinden in dem Moment, in dem die Systematik ihrer Genealogie und Archäologie ans Licht tritt. Literatur kann darin keinen Ort der Ausnahme oder Überschreitung mehr darstellen, sondern untersteht — verschärft durch ihren problematischen Wahrheitsbezug — denselben Prinzipien der Disziplinierung und Organisation wie alle anderen Möglichkeiten der Produktion von Aussagen. Man kann sich dieser Herausforderung entziehen, indem man der Diskursanalyse eine primäre Zuständigkeit für ästhetische Texte abspricht und festhält, daß sie »nicht als Verfahren zur Beschreibung oder gar Deutung literarischer Texte konzipiert« ist. 1 1 0 Eine »genuin Foucaultsche Literaturwissenschaft« gibt es nicht und kann es nach dieser Auffassung nicht geben, »da es in jedem Fall spezifischer Verfahren zur Analyse literarischer Diskurse bedarf.«" 7 Dieses Zurückweichen droht allerdings unmerklich die Position der Literatur im erwähnten Dispositiv zu verdoppeln und zu bestätigen: Sie wird am Platz dieses >anderen Diskurses< festgeschrieben, den sie einnehmen muß und nicht einnehmen kann — die Maske, mit der sie im Feld des Diskurses auftaucht, bekommt sie so noch einmal aufgesetzt. Man kann umgekehrt die Wertigkeit literarischer Aussagen mit Aussageformen anderer Bereiche des Diskurses gleichsetzen — ein Verfahren, das einige der ertragreichsten Adaptionen literaturwissenschaftlicher Diskursanalyse auszeichnet —, verkennt aber dann wohl unweigerlich den >RestécritureSchrift< zu sein. >Schrift< wird im Zusammenhang mit Foucaults Untersuchungen zu den Techniken des Selbst neu bestimmt. Was dabei in den Blick gerät, ist ihre Rolle im Verhältnis zu einer Praxis und Ästhetik der Existenz, deren erste Zeugnisse in der griechischen und römischen Antike zu finden sind. Die Archäologie dieser Praktiken muß sie von den Veränderungen und Neudefinitionen befreien, die sie im Christentum erfahren haben. Die é c riture de soi< ist in der Antike noch keineswegs mit den Erfordernissen der Glaubensprüfung oder des Sündenbekenntnisses verbunden; 120 es geht nicht darum, die Abgründe der Seele auszuloten und das darin Verborgene ans Licht zu bringen. Foucault führt dazu zwei Beispiele an: die Praxis der >HypomnemataNotiz, Aufzeichnung zur U n terstützung des Gedächtnisses< kann h[ypomnema] mit Bezug auf verschiedene Gelegenheiten und Situationen privater N a t u r annehmen, wie z . B . Stichwortzettel für eine Rede, Lektürenotizen oder Aufzeichnungen von neuerworbenem Wissen, Unterrichtsmaterialien usw.« Bei Piaton (Phaidros 2j6d) dienen sie als »schriftliche Notizen zur Unterstützung des eigenen Gedächtnisses gegen das Vergessen, das mit dem Alter einhergeht, also eine A r t persönliches Tagebuch. Die Konnotation >Notiz privater Natur< rechtfertigt den G e brauch des Worts h[ypomnema] im Sinne einer nicht für die Verbreitung in der Öffentlichkeit bestimmten Schrift, im Gegensatz zu einem veröffentlichten Werk« ( 8 1 3 ) . I2a

Foucault 1 9 8 3 / 1 9 9 4 , S. 4 1 8 : »Iis constituaient une mémoire matérielle des choses lues, entendues ou pensées; ils les offraient ainsi comme un trésor accumulé à la relecture et à la méditation ultérieures.«

I2}

Foucault 1 9 8 3 / 1 9 9 4 , S. 4 1 9 .

48

Es handelt sich also darum, die heterogenen, in diversen Formen der Überlieferung und Vermittlung kursierenden Bruchstücke eines Diskurses mit einer »Sorge um sich« zu verknüpfen, die im Zentrum der antiken Ethik steht. 1 2 4 Erreicht wird dies zum einen durch eine Diätetik der medialen Praktiken Lesen und Schreiben, die nicht voneinander getrennt werden dürfen. Sie erlaubt im Akt des Lesens/Schreibens eine Haltung des Bewußtseins, die sich in der meditativen Versenkung auf die Geschichte seines Wissens und dessen Re-Präsentation im >Hypomnema< von den Besorgnissen der Zukunft abwendet und sich dadurch von der strukturell futurischen Haltung des Selbstbekenntnisses — auf die Beurteilung durch eine weltliche oder göttliche Instanz hin — unterscheidet. Zweitens ermöglicht diese Praxis eine reflektierte Wahl von heterogenen Elementen und damit den Verzicht auf die »doktrinäre Einheit einer Schule«, wie sie die Arbeit des Grammatikers, dessen Kenntnis sich auf das ganze Werk (eines Autors) erstrecken muß, ebenso erfordert wie der Unterricht des Berufsphilosophen. Das Selektionsprinzip der Notizen grenzt sich dagegen durch eine doppelte Relativierung des in ihnen Festgehaltenen ab — es sind Wahrheiten in der räumlichen Begrenzung der notierten/wiedergelesenen Sentenz, deren Wert allein von den Umständen ihres Gebrauchs abhängt. Eine Form von Einheitlichkeit schließlich erhält diese Sammlung des Disparaten einerseits nur in der Geste des Schreibens/Lesens als eingeübte Praxis, andererseits erhält der Schreibende/Lesende selbst seine Einheit als Schriftproduzent wiederum erst durch diesen Eintritt in eine materialisierte Genealogie des Denkens/des Gedachten. Darüber hinaus dienen die >Hypomnemata< als Grundlage zur Korrespondenz mit anderen, die eine zweite Form der Schrift als Selbsttechnik darstellt: Der gesendete Brief wird, durch die Geste des Schreibens, zur Arbeit an seinem Absender ebenso, wie er durch Lesen und Wiederlesen auf den Empfänger einwirkt. Die Korrespondenz ist dabei mehr als eine >Selbst-Übung< im Schreiben — wenn in der Praxis des >Hypomnemas< gewissermaßen die produktionsästhetische Technik des Selbst zum Zuge kommt, so tritt in der Korrespondenz die Repräsentation des Selbst nach außen hinzu, in welcher der Schreiber eine gleichsam physische Präsenz wiedererlangt: Schreiben wird zu einem >Sich-sehen-lassenDer Schriftstellen. Die scheinbar banale Vorstellung eines empfindenden Nacherlebens des Beschriebenen verkehrt sich in einer furiosen Radikalisierung zum Konzept einer fortlaufenden >Selbstverfremdung< — wenn denn diese Bewegung in der Begrifflichkeit von Subjektivität überhaupt noch zu fassen ist — im A k t des Schreibens. Jetzt fange ich an, einzusehen, weshalb man sich nicht scheut, den Schriftsteller einen >Helden der Feder< zu nennen; diese Bezeichnung ist trivial, aber wahr. Er erlebt alles in seinen Empfindungen, er ist Karrenschieber, Wirt, Raufbold, Sänger, Schuster, Salondame, Bettler, General, Banklehrling, Tänzerin, Mutter, Kind, Vater, Betrüger, Erschaffener, Geliebte. Er ist der Mondschein, und er ist das Brunnenplätschern, der Regen, die Hitze in den Straßen, der Strand, das Segelschiff. Er ist der Hungernde und der Sattgegessene, der Prahler und der Prediger, der Wind und das Geld. Er fallt mit dem Goldstück auf den Zahltisch, wenn er schreibt: und sie (eine polnische Gräfin) zählt das Geld auf. Er ist das Erröten auf der Wange einer Frau, die merkt, daß sie liebt, er ist der Haß eines kleinlichen Hassers, kurz, er ist alles und muß alles sein. Für ihn gibt es nur eine Religion, nur ein Gefühl, nur eine Weltanschauung: in die Anschauung, in das Gefühl, in die Religion anderer, womöglich aller liebend aufpassend unterzuschlüpfen. Er ist mit sich jedesmal fertig, wenn er das erste Wort schreibt, und wenn er den ersten Satz geformt hat, kennt er sich nicht mehr. Ich meine, das alles darf ihn empfehlen.. . I 3 7

Diese Anbindung der Dissoziation an die Praxis des Schreibens muß den Ausgangspunkt fur den Umgang mit Walsers Ich-Inszenierungen bilden.

136 137

von Matt 1985, S. 104. Walser 1907/1996, S. 5 [Hervorhebung SK], - W i e Peter U t z festgestellt hat, nimmt der Schluß dieses Prosastücks die Disposition der Er-Ich-Figurationen der Berner Prosa und insbesondere des >Räuberempfiehlt< das Ich im Schlußsatz den Schriftsteller dem Leser des Textes, mit dem Gestus der Anbiederung. Doch gleichzeitig >empfiehlt< sich auch das Ich, macht sich auf den drei Schlußpunkten davon. [ . . . ] W o h l nirgends hat Walser die Entäußerung des Schriftstellers an sein Schreiben schneidender formuliert als hier« (Utz 1996b, S. 10).

56

Sie tritt auf als Verkettung, die aus der Setzung eines Ich im Schreiben, in (der) Schrift mehr werden läßt als die Spielmarke einer sprachlichen Struktur und gleichzeitig etwas anderes produziert als die Repräsentation eines Subjekts: die Reflexionsfigur einer eigentümlichen Poetologie, einer Poetologie der Eigentümlichkeit.

3.

Produktionsmetaphern

3.1 Zur kulturellen T(r)opik des Schreibens Der hier für die zugleich diskursiven und poetologischen Bildfelder, in denen sich eine Auseinandersetzung mit der Ästhetik der Produktion kondensiert, vorgeschlagene Terminus der >Produktionsmetapher< hat, soweit ich sehe, bisher keine systematische Bestimmung gefunden. Seine Konturen sind im Kontext dieser Untersuchung zu umreißen einerseits im Verhältnis zu dem von Jürgen Link auf der Grundlage einer literaturwissenschaftlich ausgerichteter Diskursanalyse entworfenen Programm der >KollektivsymbolikSzientismus< bei Hörisch/Pott 1983.

57

Diese rezeptionsorientierte Basis kann nun sinnvoll erweitert werden durch die A n a l y s e der oft heterogenen G e m e n g e l a g e n , welche die mediale U b e r l a g e r u n g von Praktiken — ihr gewissermaßen >metaphorisches< Verhältnis — produziert. Deren F u n k t i o n ist die eines » I n t e r d i s k u r s e s « , 1 3 9 einer sowohl semiotischen w i e diskursiven M e h r s t i m m i g k e i t . Z i e l der Interdiskursanalyse ist die Rekonstruktion und B e s t i m m u n g eines historisch je differenten » v e r n e t z t e n ] E n s e m b l e [ s ] « von Diskursintegration und Wissenssubjektivierung, »das sich als wesentliche B e d i n g u n g (und zwar sowohl in materialer w i e in formaler H i n s i c h t ) für die Produktion von Literatur e r w e i s t . « 1 4 0 Z w a r gesteht dieses K o n z e p t der Literatur als F o r m gesellschaftlicher Praxis durchaus eine gewisse Eigenständigkeit zu. Literatur ist nicht nur eine A u s s a g e f o r m unter anderen, in der sich der U m g a n g m i t historischen Formationen des Wissens artikuliert, sondern privilegiertes M e d i u m einer Integration und Subjektivierung von W i s s e n . 1 4 1 M e h r noch: Ihre E i g e n ständigkeit ist geradezu die Voraussetzung fur ihr systemisches F u n k t i o nieren

als

Medium

von

diskursiven

Überlagerungen,

deren

Schichten die Interdiskursanalyse lesbar machen w i l l . Dennoch

einzelne bleiben

methodisch alle jene Fragen literarischer Produktivität ausgeblendet, die sich nicht auf die D i m e n s i o n gesellschaftlich-sozialer Produktionsbeding u n g e n , diskursiver A u s s a g e m ö g l i c h k e i t e n oder eines bloßen Reagierens darauf zurückführen lassen. Z u m blinden Fleck des Ansatzes w i r d also sowohl die individuelle poetische Praxis, die sich i m Spannungsfeld k u l t u -

139

140

141

Der Begriff des Interdiskurses stellt strenggenommen eine Erweiterung des mittlerweile schon >klassisch< gewordenen Intertextualitätsbegriffs dar: Während dieser, so Link, sich auf den Nachweis der »Interferenz bereits kanonischer Texte bzw. Autoren« konzentriert, will die Interdiskursanalyse zusätzlich auf »die Interferenz anonymer Diskursarten« aufmerksam machen, die sich in »Kollektivsymbolen« manifestieren, in »Sinnbilder\_n\ (komplexe, ikonische, motivierte Zeichen) [...], deren kollektive Verankerung sich aus ihrer sozialhistorischen, z.B. technohistorischen Relevanz ergibt, und die gleichermaßen metaphorisch wie repräsentativ-synekdochisch und nicht zuletzt pragmatisch verwendbar sind« (Link 1988, S. 288; 286). Link/Link-Heer 1990, S. 97. — »Allgemein formuliert, verfolgt Literaturanalyse als Interdiskursanalyse also zwei Fragerichtungen: Erstens untersucht sie (in generativer Absicht) die Entstehung literarischer Texte aus einem je historisch-spezifischen diskursintegrativen Spiel. Dabei sind sehr verschiedene Fälle möglich: Von einer enzyklopädisch-totalisierenden Tendenz [...] bis zur selektiven >Anlehnung< an wenige oder einen einzigen Spezialdiskurs(e). Zweitens geht es um die je besondere Subjektivierung des Integral-Wissens: In (stets interdiskursiv konstituierten) »elementar-literarischen Formen< wie Figuren (etwa als >CharakterenVorgabengenerativen< Ansatz von den Fragestellungen der Textwissenschaften und Textgenetik ebenso wie von der Verfahrensweise poetologischer Lektüren. 1 4 2 Gemessen am in dieser Untersuchung verwendeten Begriff der Produktionsmetapher sensibilisiert das Modell der Interdiskursanalyse für die Vielschichtigkeit, die aus der Referenzfunktion dieser Metaphern und den daraus entstehenden Artikulationsebenen des Textes entsteht. Es läßt sich, so könnte man seine >Brauchbarkeit< fur die hier intendierte Fragestellung zuspitzend einschränken, für die Rekonstruktion der »Produktionsgesetze der Sinnbildung« fruchtbar machen, 1 4 3 nicht aber für die der Textbildung in Schreibprozessen. Textbildung auf einer genetischen und/oder strukturalen Ebene ist dagegen Gegenstand jener Formen von poetologischer Lektüre, die sich »ein Verhalten zum Text« zum Ziel gesetzt haben, »das diesen aus dem Ensemble seiner semantischen, topischen, formalen und autoreflexiven Elemente zu begreifen versucht.« 1 4 4 Die für die Moderne konstitutive Selbstbezüglichkeit von Literatur wird dabei insofern als textueller Produktionsfaktor betrachtet, als die dem System der Sprache zugrundeliegende (offene und unabschließbare) Verweisstruktur in der Artikulation des Texts und/oder durch die poetische Arbeit zu einer, wenn auch prekären, ästhetischen und durch jeden A k t der Lektüre/der Um-Schrift suspendierten Geschlossenheit w i r d . 1 4 5 Die Rekonstruktion dieser >clôture< steht aufgrund der D o p 142

Das wird deutlich an Links Forderung nach der Konstruktion eines »System[s] der Produktionsregeln«. Er versteht darunter folgendes Stufenmodell: »Auf der >tiefsten< Stufe lägen etwa eine Reihe (sich widersprechender) ideologischer, ideologisch-ästhetischer und ästhetischer Regeln [z.B. > V o l k s t ü m l i c h k e i t vs. >ArtistikZwischentieferen< Ebenen gleichzeitig auf mehreren dieser Subsysteme operieren und dadurch die spezifisch literarische — und gleichzeitig ästhetische und ideologische — Identität des Textes produzieren« (Link 1983, S. i68f.).

143

Link 1983, S. 10. Groddeck 1 9 9 1 , II, S. xxi. Die Doppelung der Ebenen unterscheidet diese A r t poetologischer Lektüre, der die Selbstbezüglichkeit literarischer Texte zugrundeliegt, von systemtheoretischen Autopoiesis-Modellen. Letztere begründen, wie es einer ihrer Vertreter formuliert, keine Text-, sondern eine »Handlungswissenschaft«: Voraussetzung ist, »daß Literaturwissenschaftler ihren Gegenstandsbereich nicht über >Texte< und >Werke< (als Textwissenschaft), sondern über das spezifische (literarische) >Handeln von Menschen< bestimmen, also ihre Disziplin als Handlungswissenschaft betreiben und entsprechend eine Handlungstheorie benöti-

144 145

59

pelstruktur von Offenheit und Geschlossenheit

in einem

permanenten

Spannungsverhältnis zwischen dem A n s p r u c h auf Eigengesetzlichkeit der Texte u n d der Voraussetzung einer stets verschiebenden und entstellenden >dynamis< des sprachlichen Zeichensystems. D e n n schon die Selbstbezüglichkeit literarischer Texte ist, so paradox das klingen m a g , an die R e f l e xion auf S t r u k t u r und Funktionieren von Literatur überhaupt g e b u n d e n — sie ist gewissermaßen fundamental t r a n s t e x t u e l l . 1 4 6 D a s als ästhetische G e schlossenheit erscheinende E n s e m b l e von Textelementen verweist auf rhetorische F o r m e n , auf strukturelle und funktionale G a t t u n g s m e r k m a l e , auf all die Zeichenwelten u n d -gesetze, die i h m vorausliegen und die es i m Prozeß

ihrer Schließung

verdrängt.

Mit

anderen W o r t e n :

Literarische

Selbstreferenz entsteht durch die Differenz poetischer Texte zur referentiellen F u n k t i o n der Sprache, eine Differenz, die Literatur selber herstellen m u ß und die die M e h r w e r t i g k e i t ihrer Z e i c h e n i m Oszillieren zwischen ihrer Poetizität und der von ihr suspendierten Referentialität ermöglicht. M i t d e m hier verwendeten Terminus >Produktionsmetaphorik< soll versucht werden, diese A u f h e b u n g nicht als Ausschluß, sondern i m G e g e n t e i l als differenzierenden Einschluß zu lesen. Z u diesem Z w e c k w i r d in den beiden ersten K a p i t e l n des zweiten Teils dieser U n t e r s u c h u n g nach Metaphern der Textualisierung g e f r a g t werden, an denen die Reflexion von P r o d u k t i v i tät auf je spezifische W e i s e in Erscheinung treten kann. E i n erster Lektüregen« (Viehoff 1993, S. 196). Autopoiesis ist dabei keine ästhetisch-literarische Kategorie, sondern liegt im Theoriedesign der Ausdifferenzierung von Systemen und der SystemUmwelt-Verhältnisse begründet: »Wenn LITERATUR nämlich als - verobjektiviertes soziales System und als - verobjektivierender - lebensweltlicher Handlungsraum verstanden wird, d.h. als ein Bereich, in dem Menschen engagiert literarisch handeln und in dem sie mit und in bezug auf Literatur ihre subjektiven Lebenspläne mittel- und langfristig kooperativ verwirklichen wollen, dann muß auch angenommen werden, daß diejenigen, die innerhalb des literarischen Systems handeln und seine besonderen Vorteile und Möglichkeiten täglich — ökonomisch und ideologisch — nutzen, an seinem über einen längeren Zeitraum gesicherten Erhalt interessiert sind. [...] Unter diesem Blickwinkel gilt: Nicht allein Lesergeschichte, Rezeptionsforschung und Wirkungsgeschichte, sondern vor allem der Bereich der literarischen Produktion kann uns, wenn er kritisch befragt wird, darüber Auskunft geben, wie das Literatursystem als soziales Handlungssystem einen Modus der >Selbstbezüglichkeit< ausbildet, der — wegen seiner hier unterschobenen Intentionalität — auch als Steuerung von Veränderungsprozessen thematisiert werden kann« (21 if.). — Cf. auch Böhn 1992; Luhmann 1995, S. 396: »Vorausgesetzt sind all die Operationen, die in ihrer rekursiven Vernetzung eine Differenz zwischen Kunst und Nichtkunst produzieren. Vorausgesetzt ist das basal-selbstreferentielle Beobachten als Operation. Gäbe es das nicht, gäbe es nichts, was als Kunst beschrieben werden könnte. Aber die Reflexion, um die es unter dem Titel >Selbstbeschreibung< geht, verwendet eine andere Unterscheidung. Sie bezieht sich auf ein anderes Anderes als die basale Selbstreferenz, nämlich auf die Umwelt des Kunstsystems, und speziell auf die innergesellschaftliche Umwelt des autopoietischen Systems der Kunst.« 146 Vgl. Schmeling 1978 sowie Schmeling 1989.

60

durchgang wird sich dabei auf den semantischen Raum >Nacht< —>Schlaf< konzentrieren und die signifikanten Verkettungen zu rekonstruieren suchen, die diesen mit den Reflexionsfeldern >Text< und >Schreiben< verknüpfen (vgl. Kap. II.6). Eine zweite Annäherungsweise an die Metaphorik der Produktion wird die zum ersten Metaphernfeld begrifflich konträr stehende Semantik der >Arbeit< bieten, welche die Reflexion der Produktion an einen gesellschaftlich besetzten Raum von Bewertungen und Legitimationen bindet; die Arbeit des literarischen Schreibens als Form auch ökonomisch zu bewertender Produktivität ist kein selbstverständlicher >fait socialDie Ruine< »Ein Neubau ist etwas Schönes, Gesundes, Fröhliches, gleichsam Gesangliches, etwas Erbauliches, aber eine Hausniederreißung, o, wie hat das etwas Romantisches. Man steht mit anderen Zuschauern in tiefe Gedanken versunken da und schaut in eine Ruine. Bausteine, die ihre Pflicht verrichtet haben, werden mit Hackwerkzeugen von ihrem langjährigen Stand- oder Sitzort, den sie stützend einnahmen, heruntergeholt, und man blickt in Wände, die Stubenwände gewesen sind, die noch die Tapetenkleidung anhaben und die nun von jeder Interieurlichkeit entblößt sind.«

(BG 4, 7 7 )

Die Ambivalenz zwischen kultureller Topik und poetologischer Produktivität und die Erkundung ihrer Wechselwirkungen werden im folgenden zunächst an der Lektüre eines einzelnen Textes auf die Probe gestellt, bevor nach übergreifenden Bildfeldern gesucht wird, welche die Grenzen des Einzeltexts überschreiten. 61

Walsers Prosastück >Die Ruine< ( 1 7 , 1 2 6 — 1 4 2 1 4 7 ) , ein Text, der im Rahmen der Berner Prosa zunächst durch seinen mit acht eng gesetzten Druckseiten relativ großen Umfang auffällt, 1 4 8 erscheint in der MärzNummer 1 9 2 6 der >Neuen Schweizer RundschauRealienbezug< ließe sich stützen im Blick auf den Abschnitt, der ungefähr das mittlere Drittel des Prosastücks einnimmt und leicht auf die »acht Jahre« von Walsers Aufenthalt in Biel bezogen werden kann. Liegt es bei der Allgegenwärtigkeit des Sprechens von Erinnerungen, das die >Ruine< durchzieht, nicht nahe, den Text als ein durch seine reflektierte Form zwar eigenwilliges, aber dennoch deutliches Beispiel autobiographischen Erzählens zu betrachten — als weiteres Kapitel von Walsers angeblichem »Ich-Buch«, dieser »Art literarischen Tagebuchs seiner Existenz« in der Berner Z e i t ? 1 5 1 Bei aller Evidenz vermag die Anbindung an biographische Bruchstücke jedoch weder die Funktion der Erzählelemente noch

•49 V g l . 1 7 , 5 0 6 . — Architekturhistorisch sind diese Stukkaturen allerdings — als wäre damit genau der Punkt getroffen, an dem sich ein Realitätsbezug mit der Gedächtnisstruktur treffen könnte, die der Text inszeniert -

höchst problematisch; sie bilden eine A r t Pa-

limpsest: »Dans cette église que le Vorarlberg a marqué de son génie, le stuc remplaçait le marbre et le bronze des âges classiques. Malheureusement, le vandalisme et le manque d'entretien ont détérioré des parties importantes de ce matériau baroque par excellence. Il y a peu, piliers, pilastres et plafonds ont été recouverts de nouveaux stucs décorés, de couleur blanche. C'est à eux, il n'est pas douteux, que l'abbatiale d'aujourd'hui doit la profonde impression d'unité qu'elle impose« (Delavelle 1 9 8 2 , S. 48). 150

Mächler 1 9 6 6 / 1 9 7 6 , S. 9 3 Í .

151

Greven 1 9 9 4 a , S. 3 3 2 .

63

die Struktur des Texts zu erhellen; sie greift zu kurz, da dieser weit davon entfernt ist, lokalisierbare und kohärente Erinnerungsbilder herzustellen, und geht gleichzeitig zu weit, wenn sie die heterogenen Elemente der Erzähl-»Kombination« 152 auf — wenn auch fiktiv gebrochenes — Erleben zentrierte. Berücksichtigt man nicht nur die auf solche biographischen Bruchstücke zurückzuführenden Erzählstränge des Prosastücks, wird das Bild der Ruine als Allegorie für die Gedächtnisleistung und ihre poetische Arbeit lesbar, ein Kollektivsymbol für die gesellschaftliche Funktion des Erinnerns, die im Text darüber hinaus an weiteren Gedächtniszeichen — etwa dem Grab oder dem Namen — verhandelt wird, und die über die Grenzen des Texts hinaus auf zeitgenössische Inszenierungen des kulturellen Gedächtnisses verweist. Gleichzeitig aber ist es ein poetologisches Element. Vom ersten Satz an gibt sich die Erzähltechnik des Prosastücks als Folge einer Erinnerungsarbeit zu erkennen, in der mehrere mnemonische, semantische und rhetorische Assoziations- und Dissoziationsstrategien kombiniert und überlagert werden, die immer wieder dazu dienen, den Gang dieser Arbeit als Schreibprozeß zu reflektieren. Die von Walser im Brief an Rychner verwendete Selbstbeschreibung seiner Textarbeit als »Kombination« (B 263, 233) wird damit mehrfach lesbar: Sie bezieht sich nicht allein auf die allerdings auffällige Heterogenität der im Prosastück versammelten inhaltlichen Elemente, sondern bezeichnet darüber hinaus zunächst die Struktur der Erinnerungsarbeit, deren Allegorie das Bild der Ruine darstellt. Der Text reflektiert nicht nur auf einer referentiellen Ebene über die Möglichkeiten und Bedingungen der Erinnerung, er bringt nicht Erinnerungsfragmente in eine narrative Ordnung, sondern eine Struktur von Erinnerung zur Darstellung, die den fragmentarischen und scheinbar unzusammenhängenden Charakter der kombinierten Elemente erst produziert. >Die Ruine< scheint kaum eines der Symbole und Zeichen auszulassen, unter deren Auspizien der poetische und theoretische Diskurs der Zeit über Erinnerung und Gedächtnis gefuhrt wird; es erscheinen Gedächtnisorte wie Friedhof und Ruine, klassische topoi des Andenkens wie Gebein und Grabsteine, tradierte Gedächtnisstützen wie Orts- und Personennamen, sogar eine auf Nietzsches im Namen des glücklichen Lebens gegen

152

Zum kombinatorischen Erzählverfahren des Prosastücks vgl. B G 2, 295ff. und Β 263, 233: »Wie Sie sehen werden, stellt es etwas wie eine Kombination dar, und wie ich glaube, ist sie ganz nett gemacht«. - Die »Kombination« als Prinzip der ästhetischen Verfahrensweise bei Walser hat bereits Jürgens 1 9 7 3 hervorgehoben.

64

das > Wiederkäuern der Erinnerung gerichtete Geschichtskritik 1 5 3 anspielende Passage: »Aber nun lassen Sie mich Ihnen erzählen, wie es kam, daß ich acht Jahre lang verdrießlich dreinschaute. Ich zehrte nämlich an Erinnerungen. Will man fröhlich sein, so darf man keine Erinnerungen haben, und wenn sie noch so angenehm wären« ( i 3 i f . ) . Diese Überfrachtung des Texts mit Erinnerungszeichen sabotiert gerade die Erzählbarkeit von Ereignissen, welche die Fähigkeit zur Erinnerung voraussetzt, durch ihre unaufhörliche Arbeitsleistung. Einfalle unterbrechen immer wieder den geordneten Gang des Erzählens, eröffnen neue Umwege und ruinieren so die Gerichtetheit einer Textbewegung, der sie als Ausgangs- und Anfangspunkt zu dienen hätten. Gedächtnistechniken wie >Andenken< und >Erinnerung< ermöglichen das Fortschreiten des Texts, fuhren aber im selben Z u g zur Auflösung einer narrativen Ordnung, die ihre Gegenstände in kohärenter Abfolge und immanenter inhaltlicher Folgerichtigkeit verläßlich zu organisieren vermag. Der erste Abschnitt schon setzt diese Subversion gegenüber dem Erzählverlauf ins Recht, wenn in ihr die Erfolgsgeschichte des »Waisenknaben« aufgebrochen wird durch metanarrative Kommentierungen der Erzählarbeit — »Mir scheint, ich sage die Wahrheit, wenn ich darlege und vor mich hinwerfe, er habe täglich bloß ein Stück Brot zu essen gehabt« ( 1 2 6 ) — oder wenn ausgerechnet eine Schriftstellerkarriere dazu verwendet wird, als Negativ diesen Trivialroman >en miniature< zu kontrastieren: Uns ist ein junger Mann bekannt, der die Kaufmannskarriere zugunsten der poetischen preisgab. Der Himmel und die menschliche Gesellschaft straften ihn hart dafür. Er wurde Schriftsteller und blieb als solcher bodenlos erfolglos. Ganz anders unser braver Knabe, von dem wir wissen, mithin mitteilen können, daß er mit der Zeit, d. h. im Lauf langsam verhallender Jahre, falls man so sagen darf, Direktor wurde. ( 1 2 7 ) 1 5 4

153

»Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Thiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholten Wiederkäuen leben sollte. Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Thier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es g i e b t e i n e n G r a d von S c h l a f l o s i g k e i t , v o n W i e d e r k ä u e n , v o n h i s t o r i s c h e m S i n n e , bei d e m das L e b e n d i g e zu S c h a d e n k o m m t , und z u l e t z t zu G r u n d e g e h t , sei es nun ein M e n s c h o d e r ein V o l k o d e r e i n e C u l t u r « (Nietzsche 1874/1988, I, S. 250).

154

Doch gleichzeitig wird unmißverständlich deutlich gemacht, wer am Ende solcher linearen Geschichten haust: der Tod, der »ungalant [...] auf gar keine Vorzüge Rücksicht« nimmt — der aber dadurch diese Geschichten auch erinnerungsfähig und erzählbar werden läßt: »das erfuhr auch er, dem wir diese Geschichte widmeten« ( 1 7 , 127).

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Erinnern und Erzählen werden damit aus ihrem scheinbaren Bedingungsverhältnis gelöst. Wo die Einfälle sich überstürzen, wird das Erzählgebäude schließlich zum Einsturz gebracht. Es gilt also, nach Ordnungskriterien zu suchen, welche die Heterogenität der Einfälle zu strukturieren vermögen. Einen privilegierten Anlaß fur die narrative Kombination von Erinnerungsleistungen bilden N a m e n . 1 5 5 Der Name macht's, im Namen liegt es. Wenn wir an Paris denken, zwitschert's vor uns. Da haben wir auch den Namen. Im Wort Pompeji ist für jeden eine bestimmte Vorstellung enthalten. Bedeutende Namen, gleichviel, in welchem Sinn sie uns entgegenklingen, sind an sich ein Geschenk für uns. ( 1 2 8 )

Das »Geschenk« des Namens ermöglicht es, die Vorstellungen, die sich mit diesem verbinden, zu bündeln und zu bewahren. Er bildet das Eingangstor zum Archiv des Gedächtnisses, in dem die ihm zugehörigen Erinnerungen lagern, und wird demnach bevorzugt besetzt von den psychischen Mechanismen, welche die Bedingungen des Erinnerungsprozesses steuern; sein Wesen ist es Benjamin zufolge darüber hinaus, sowohl die »extensive« wie die »intensive Totalität« der Sprache zu bündeln, er garantiert die restlose Mitteilbarkeit, die sie, als »Sprache schlechthin«, zum »geistigen Wesen des Menschen« werden läßt. 1 5 6 Der Name, mag er sich als Funktion eines Textes im Titel oder als Ausweis eines Subjekts, das in ihm zeichnet, zu erkennen geben, stiftet in der Ordnung, der Zeichen um den Preis ihrer Verständlichkeit zu gehorchen haben, Identität. Seine Verläßlichkeit ist garantiert, wenn sich ihm eine individuelle und damit unverwechselbare Geschichte (eines Subjekts, eines Textes) zuordnen läßt und wenn er sich dem Spiel des Signifikanten verweigert, um es durch diese Unverwechselbarkeit stillzulegen. Das eindringlichste Bild der Unzerstörbarkeit des Namens jenseits und auf Kosten eines (in ihm) sprechen-

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156

Vgl. zur Funktion von Namenerinnerung und -vergessen das erste Kapitel von Freuds >Zur Psychopathologie des Alltagslebens« (Freud 1 9 0 4 / 1 9 4 0 - 1 9 8 7 , IV, S. 5 - 1 2 ) . »Man kann den Namen als die Sprache der Sprache bezeichnen (wenn der Genetiv nicht das Verhältnis des Mittels, sondern des Mediums bezeichnet) und in diesem Sinne ist allerdings, weil er im Namen spricht, der Mensch der Sprecher der Sprache, eben darum auch ihr einziger. [...] Der Name ist aber nicht allein der letzte Ausruf, er ist auch der eigentliche Anruf der Sprache. Damit erscheint im Namen das Wesensgesetz der Sprache, nach dem sich selbst aussprechen und alles andere ansprechen dasselbe ist. Die Sprache — und in ihr ein geistiges Wesen — spricht sich nur da rein aus, wo sie im Namen spricht, das heißt: in der universellen Benennung. So gipfeln im Namen die intensive Totalität der Sprache als des absolut mitteilbaren geistigen Wesens und die extensive Totalität der Sprache als des universell mitteilenden (benennenden) Wesens« (Benjamin I 9 i 6 / i 9 7 2 f f . , I I . i , S. 1 4 4 Í ). - Dazu Schestag 1992.

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den Subjekts bietet der Grabstein, der den auf ihm gezeichneten Schriftzug s t u m m bewahrt und gerade damit jene erzählerische Beredsamkeit ermöglicht, die er durch seine Referenzfunktion erhält. Gräber reden ja überhaupt eine so lebhafte, ich möchte glauben, erzählerische Sprache. Jeder Grabstein erzählt mir den Lebenslauf des einst Lebendigen. Man meint, alle diese Gestorbenen leben zu sehen, man sieht sie Einkäufe machen, kochen, waschen, schreiben, zur Bank gehen, in die Eisenbahn steigen, man sieht sie essen, ins Bett gehen, hört, was sie zur Frau sagen. (129; Hervorhebung SK)

Der Friedhof wird zum Erzählort >par excellences indem er die identitätssichernde und textgenerierende Funktion des Namens und damit die Verläßlichkeit der Erinnerung gerade dann garantiert, wenn der N a m e selbst Gefahr läuft, den Verschiebungs- und Verdichtungsmechanismen des Signifikanten zu unterliegen. Wenn im Abschnitt, der die Havelfahrt des Text-Ichs schildert, die Identifikation des Erinnerten durch den Zauber einer poetischen Analogie der Bildlichkeit bedroht wird, führt die Signatur des Namens zurück zur Wiederversicherung der Referenz, die er trägt: Während die Erinnerung dem Erzähler Landschaften vorspiegelt, die »nach Radierungen von Rembrandt« (138) aussehen und die Fahrt »einer Kleopatrafahrt, die Havel dem Nil, und die Mark Brandenburg dem Land Ägypten« zu gleichen beginnen, führt ihn der Namenszug zu seiner poetischen Aufgabe zurück: »Auf die Bitte der Dame des Hauses zeichnete ich meinen N a m e n in ein Album. Ein solches ist in allen guten Häusern gleichsam Sitte, und das Einzeichnen des Namenszuges bedeutet eine Höflichkeit. [ . . . ] >Ihre Handschrift gibt den exaktesten Aufschluß über Ihre Art und Weiseavoir une belle écriturestyleécritures< d'une banque, d'un navire) ou religieuse (l'Écriture), une pratique signifiante d enonciation dans laquelle le sujet >se pose< d'une façon particulière (ce dernier sens est tout moderne, encore peu reçu). Disons pour simplifier (et avec tous les risques qu'une telle simplification comporte) que l'écriture comporte trois déterminations sémantiques principales: I o C'est un geste manuel, opposé au geste vocal (on pourrait appeler cette écriture-là scription, et son résultat scripture). 2° C'est un registre légal de marques indélébiles, destinées à triompher du temps, de l'oubli, de l'erreur, du mensonge. 3° C'est une pratique infinie, où s'engage tout le sujet, et cette pratique s'oppose dès lors à la simple transcription des messages; Ecriture entre en opposition de la sorte tantôt avec Parole (dans les deux premiers cas) tantôt avec Ecrivance (dans le troisième). O u encore: c'est, selon les emplois et selon les philosophies: un geste, une Loi, une jouissance« (Barthes 1973/1994, S. 1 5 5 5 ^ . — Den Hinweis auf diesen erst in den >Œuvres Complètes< publizierten Artikel ebenso wie zahlreiche Anregungen zum Konzept der >Schreibszene< und zu einer »Genealogie des Schrei-

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In der Begriffsbestimmung von >writing< steht der aktiv-produktive Aspekt gar an erster Stelle: »I.i.a. The action of one who writes, in various senses; the penning or forming of letters or words; the using of written characters for purposes of record, transmission of ideas, etc.«; »2.a. The art or practice of penmanship or handwriting«; »3.a. The action of composing and committing to manuscript; expression of thoughts or ideas in written words; literary composition or production«; »5. The state or condition of having been written or penned; written form«; »II.6. That which is in a written (now also typewritten) state or form; something penned or recorded; written information, composition, or production; literary work or compilation«; »8.b. A written paper or instrument, having force in law; a deed, bond agreement, or the like; a document relative to a marriage contract or settlement.« 1 ® 1

Zwar läßt sich die Konnotation der Prozessualität im Deutschen durch die Nominalbildung des Verbs: >Schreiben< wiedergeben, der dem Schriftbegriff eigene »Doppelcharakter als System und Aktivität« 1 8 2 aber bleibt aus der Wortbedeutung ausgeschlossen; gerade in der deutschen Rezeption neuerer französischer Literaturtheorien, die den Begriff >écriture< zum Zentralkonzept erheben, wird, wie symptomatisch die Übersetzungen zweier in dieser Beziehung einschlägiger Publikationen zeigen, auf diese Nuancierung gern verzichtet: So heißt etwa Roland Barthes' >Le degré zéro de l'écriture< in der Ubersetzung >Der Nullpunkt der LiteraturL'écriture et la differance< verwandelt sich, gleich doppelt entstellt, in >Die Schrift und die Differenz^ Das Aufmerken auf dieses Ersetzungs- und Auslassungsverhältnis mag als Spitzfindigkeit angesehen oder als Folge von Übersetzungszwängen verbucht werden, besonders dann, wenn auch die französischen Texte teilweise nahelegen, Begriffe wie >textelittérature< oder >écriture< als Synonyme aufzufassen.1®3 Indes scheint es gerade im Zusammenhang der folgenden Überlegungen nicht hinfällig, darauf hinzuweisen, daß ein Begriff wie Schreibprozeß strenggenommen wohl kaum anders denn als Tautologie denkbar ist: Die Dimen-

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182 183

bens« verdanke ich einem Vortrag zur »poetologischen Reflexion der Schreibwerkzeuge« von Martin Stingelin, Basel (publiziert: Stingelin 1999). Simpson/Weiner 1989, X X , Sp. 646t. - Zur >Unübersetzbarkeit< dieser Bezeichnungen vgl. Gumbrecht 1993, S. 382f. Pfeiffer 1988, S. 7 3 1 . »Ich verstehe unter Literatur nicht einen Korpus oder eine Folge von Werken, auch nicht einen Sektor des Umgangs oder des Unterrichts, sondern den komplexen Graph der Spuren einer Praxis: der Praxis des Schreibens. Ich habe also bei ihr im wesentlichen den Text im Auge, das heißt das Gewebe von Signifikanten, das von dem Werk gebildet wird, weil der Text das Zutagetreten der Sprache ist und weil die Sprache in ihrem Innern selbst bekämpft und umgelenkt werden muß: nicht durch die Botschaft, deren Instrument sie ist, sondern durch das Spiel der Wörter, für das sie die Bühne abgibt. Ich kann also unterschiedslos sagen: Literatur [littérature], Schreibweise [écriture] oder Text [texte]« (Barthes 1978/1980, S. 25).

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sion der Prozessualität ist dem Schreiben per se inhärent. Die Differenzqualität

zwischen

>Schrift
Schreiben< — als uneinholbar individueller, sowohl körperlicher wie ästhetischer A k t dieser Materialisierung, über dessen Implikationen, gerade im Bezug auf die Semantik von Schrift, Literatur reflektieren kann — ; diese Differenzqualität soll hier aufrechterhalten und als Ausgangspunkt von texttheoretischer Methodenreflexion, Darstellungs- und Lektüreverfahren sichtbar gemacht werden. Z u klären bleiben allerdings nicht nur terminologische Unsicherheiten. Wer versucht, die in den letzten Jahrzehnten erarbeiteten methodologischen Annäherungsmöglichkeiten an Schreiben und Schrift zu überblikken, wird sich im weiten Feld von Schreibprozeßforschung, Textgenetik, >critique génétiqueécriture< und des Texts, Poetologie und Medienanalyse, Theorien künstlerischer Kreativität und Editionswissenschaft schnell mit einem Gewirr von Heteronomien konfrontiert sehen, die — was zur Minderung dieser Irritation nicht unbedingt beiträgt — alle vorgeben, sich auf mehr oder weniger >dasselbeSchreiben< und >SchriftécritureSchreibensscene of writing< unternimmt — an Melvilles Roman >Moby Dick< — bereits Gasché 1977.

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g e n zwischen Körper, Sprache, Gerät und Intention v o r n i m m t , u m »sie dann wieder zu übergehen auf[zu]fordern«: Mit >Schreiben< ist oft eine Bewegung gemeint, die die Grenze der Unterscheidungen in Richtung auf den Körper oder auf die Materialität überquert. >Die Schreibszene< kann einen Vorgang bezeichnen, in dem Körper sprachlich signiert werden oder Gerätschaften am Sinn, zu dem sie sich instrumental verhalten, mitwirken — es geht dann um die Arbeit der Zivilisation oder den Effekt von Techniken. 186 Diese G r e n z z i e h u n g e n und ihre jeweilige Überschreitung

konstituieren

ein je spezifisch zu analysierendes »nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und G e s t e « , 1 8 7 in d e m sich Semantik und Körperlichkeit verschränken — » V o m Schreiben in abstracto zu sprechen, ist [ . . . ] ein Fehler.« 1 8 8 Dieses M o d e l l läßt sich aber meines Erachtens nicht lediglich analytisch auf die individuellen (literarischen, epistolographischen

etc.)

Szenen des Schreibens beziehen; es ermöglicht ebenso, danach zu fragen, w i e die erwähnten methodischen Ansätze der Schreib- und Schriftlichkeitsforschung ihre Schreibszenen entwerfen. So kann ein Fundament der Vergleichbarkeit geschaffen werden, das als A u s g a n g s p u n k t für die Beurtei186

Campe 1 9 9 1 , S. 759f. - Zwar mag vor diesem Hintergrund eine »Theorie des Schreibens« auf den ersten Blick unmöglich erscheinen, »weil Theorie zur Geschichte des Geistes gehört, Schreiben aber zur Gegengeschichte des Buchstabens« (Kamper 1993, S. 193); dringlicher und ergiebiger wäre auf jeden Fall eine »Genealogie des SchreibensGeste< besteht darin, sie als eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs aufzufassen, fur die es keine zufriedenstellende Kausalerklärung gibt. U m die so bestimmten Gesten verstehen zu können, m u ß man ihre >Bedeutungen< aufdecken« (Flusser 1 9 9 1 , S. 11). Flussers Beschreibung der Schreibgeste entspricht dem Modell Campes trotz ihrer (nicht nur phänomenologischen) Fixiertheit auf das Maschinenschreiben weitgehend: »Zunächst muß ich die Wörter so ordnen, daß das erst nur verschwommen Gedachte zum Ausdruck kommt. Verschiedene Ordnungen zwingen sich auf. Die logische Ordnung: und ich überzeuge mich davon, daß das Auszudrückende sich dagegen wehrt, logisch geordnet zu werden. Man m u ß das Auszudrükkende zurechtschneiden. Sodann die Ordnung der Grammatik: und ich überzeuge mich davon, daß die beiden Ordnungen nicht immer übereinstimmen. Ich fange an, mit beiden Ordnungen zu spielen und gehe so vor, daß das Auszudrückende zwischen den Widersprüchen von Logik und Grammatik gerade noch durchrutscht. Danach die Ordnung der Orthographie: und ich entdecke die Wunder des alphabetischen Codes. Die Funktion der Kommas, der Fragezeichen, die Möglichkeit, Absätze zu machen, Zeilen zu überspringen, und die schöne Möglichkeit der sogenannten »Rechtschreibfehler^ (Frage: Ist ein bewußtes Vergehen gegen Regeln ein Fehler?) Gewiß, all diese Entdeckungen mache ich mit meinen Fingern auf den Tasten der Maschine und mit dem automatischen Verschieben des Blatts in der Maschine. Das Auszudrückende drückt sich im Verlauf dieses Spiels aus: es realisiert sich. Deshalb entdecke ich im Verlauf des Schreibens überrascht das, was ich schreiben wollte« (Flusser 1 9 9 1 , S. 47).

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Havelock 1982/1990, S. 49.

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l u n g ihrer Plausibilität -

oder besser: Angemessenheit an den jeweiligen

G e g e n s t a n d dienen kann. D a s heißt fur die vorliegende U n t e r s u c h u n g insbesondere, daß sich die methodischen Konstruktionen der Schreibszene von der Rekonstruktion von Walsers spezifischer literarischer Schreibszene auf ihre Aussagefähigkeit hin befragen lassen sollen — pathetischer f o r m u liert: Interpretation w i r d G e g e n s t a n d einer K r i t i k durch L i t e r a t u r . 1 8 9

4 . 2 Schreibszenen D i e Schreibszene, welche die linguistische Schreib(prozeß)forschung entw i r f t , weist verblüffende Ä h n l i c h k e i t e n m i t der Schulbank a u f . 1 9 0 Ihr I n teresse g i l t vorrangig d e m Schreiben als » P r o b l e m l ö s e p r o z e ß « 1 9 1

in der

» H a n d l u n g s w e i s e >FormulierenSchulbankgénéticiens< und der Linguistik besteht, haben Grésillon und Lebrave schon Anfang der 80er Jahre formuliert: »Sans doute, on objectera que la linguistique est largement devenue, depuis quelques années, une linguistique des opérations, et qu'il suffirait d'affiner la description de celles-ci pour pouvoir rendre compte des opérations de production textuelle. Ce serait, nous semble-til, oublier que, jusqu'au présent, la linguistique s'est plutôt efforcée de chercher dans les énoncés des traces ou des marqueurs d'opérations abstraites construites, alors que les manuscrits donnent à voir des opérations concrètes bien matérielles« (Grésillon/Lebrave 1982, S. 170; vgl. auch — etwas versöhnlicher — Lebrave 1983, S. 2 i f f . sowie die Beiträge in Grésillon/Lebrave 1983). Sie gilt für die scheinbar >konkreter< orientierte Schreibprozeßforschung nicht minder als für die strukturalistisch geprägte Analyse sprachlicher Operationen: Erstere bleibt, so Martin Stingelin, »methodisch weitgehend in der kognitionspsychologischen Introspektion befangen [...], die sie mit dem >Problemlösemodell< aus der Schulaufsatzforschung importiert hat. Folge dieser Befangenheit ist, daß »die Ereignishaftigkeit des Schreibakts selbst in seiner Materialität, Positivität und Kontingenz gerne vernachlässigt« wird (Stingelin 1999, S. 81). Zu einem Versuch, von Seiten der Schreibforschung dieses methodische Defizit zu decken, vgl. Ludwig 1995.

203

Barthes 1973/1994, S. 1 5 3 5 . »The production of handwritten text may be regarded as a hierarchical process in which information is transformed from one stage to the next. At the highest, semantic level, the writer first has the intention to write a certain message. At subsequent levels (syntax, lexicon), this message is transformed into words. Guided by the rules of orthography, the ordered sequences of letters (graphemes) are then looked up, following which the specific letter shapes, to be called allographs [...], are selected. So far, it may be assumed that the stages involve discrete, abstract entities stored and operated upon as symbols. [...] Unlike many other motor tasks, the temporal characteristics of handwriting appear to be less clearly represented than the spatial ones. This is probably due to the fact that handwriting serves a communicative function where the major constraint is legibility and general appearance of the finished, spatial product: In that case, the internal representation would be geared to these spatial requirements. Moreover, allographic representations must be assumed to be highly idiosyncratic« (Thomassen 1996, S. 1028).

204

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schung das literarische Manuskript als materielle Spur des Schreibens offensichtlich als mit der jeweiligen Autorpoetik gleichrangiges Dokument gilt und damit beide kongruente und sich ergänzende Aussagen liefern sollen. 205 Der linguistische Ansatz mag dort fruchtbare Resultate zeitigen, wo es um Probleme eines aufgabengeleiteten und empirisch überprüfbaren schriftlichen Formulierens geht. Von der radikalen — weder reduzier- noch wiederholbaren — Singularität literarischer Schreibprozesse dagegen scheint er, wenn er sie überhaupt als Problem wahrzunehmen imstande ist, sichtlich überfordert.

4.3 Schreiben in der Schulbank: >Fritz Kochers Aufsätze< Das beschriebene Modell des Schreibens als Aufgabe und als >ProblemlösungsstrategieFritz Kochers AufsätzeFritz Kochers Aufsätzen ins Extrem getrieben werde: »Parataxe als Satzstruktur, dann als Textstruktur, als Lebensprogramm«. Die subversive Dimension von Walsers Prosa verdankt im Gegenteil ihre Sprengkraft einer unaufhörlichen Verschiebung, die semantische, inhaltliche und diskursive Kohärenzen gerade in ihrer Konsequenz ad absurdum fuhrt. Nicht »Unzusammenhängendes< wird durch sein Nebeneinander in Beziehung gesetzt, sondern vielmehr Thematiken unter dem Befehl des >Selbstdenkens< als letztlich nur durch die Redeordnungen des Diskurses vereinheitlichte entlarvt.

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Pädagogen allerdings scheint diese Eigenheit der Aufsatzform später aufgefallen zu sein als Walsers oder auch Nietzsches 2 1 3 Schriftstellerblick — und sie holt noch ihre K r i t i k ein. »Man mag in Anweisungen und Lehrplänen suchen, um das Wesen des Aufsatzes aus den ihm gestellten Forderungen aufzuschließen, es ist immer ein und dasselbe: der Aufsatz ein Fabrikat, ein Machwerk, das auf Bestellung von dem Handwerker zu gegebener Stunde zurückzuliefern ist, und das bestimmte, vorher gegebene Bedingungen zu erfüllen hat. Er sei: schön, klar, geschmackvoll, gewählt usw.« Der Aufsatzunterricht in seiner maschinellen und durchformalisierten Organisationsform wird zum »pädagogischen Spuk«, dem »alle Transfusionen aus Dichterblut [ . . . ] das schaffende Eiweiß des organischen Lebens« nicht zu verleihen vermögen. 2 1 4 Im Verbund mit den obligaten Seitenhieben gegen den Tagesmarkt des journalistischen Schreibens und dem J a m mer über die Krise der Literatur stellen die beiden Hamburger Volksschullehrer Adolf Jensen und Wilhelm Lamszus syntaktisch gewagt, aber semantisch unzweideutig fest, was dieser »Vampyr« im Bildungs(er)leben deutscher Schüler anrichtet: »Unser Schulaufsatz ein verkappter Schundliterat«. Es ist Schundliteratur, die sich wie ein trüber Strom aus der zünftigen Aufsatzliteratur auf die Methode des Lehrers ergießt und jegliche Naivität im Keime erstickt! Formalisten und Anempfinder sind die Triumphe der Schule. Sie werden auf Kosten der echten sprachschöpferischen Begabung gezüchtet. Die Sprachindividualitäten werden in der Schule zerstört, und die Phantasiebegabungen verbildet und zugrunde gerichtet, denn es ist Schundliteratur schlimmster Art, wozu die Wissensschule ihre Kinder im Aufsatzunterricht systematisch erzieht. 215 Mit der »Schundliteratur« habe der Musteraufsatz — so die Polemik

-

gemein, daß er erstens über Dinge zu schreiben gebe, die außerhalb des Erfahrungsbereiches ihrer potentiellen Verfasser liegen, und deshalb zwei213

Vgl. dazu Nietzsches Polemik in »Lieber die Zukunft unsrer Bildungsanstaltenc »Und so lange die deutschen Gymnasien in der Pflege der deutschen Arbeit der abscheulichen gewissenlosen Vielschreiberei vorarbeiten, so lange sie die allernächste praktische Zucht in Wort und Schrift nicht als heilige Pflicht nehmen, so lange sie mit der Muttersprache umgehen als ob sie nur ein nothwendiges Übel oder ein todter Leib sei, rechne ich diese Anstalten nicht zu den Institutionen wahrer Bildung« (Nietzsche 1 8 7 2 / 1 9 8 8 , 1 , S. 6 7 8 6 8 1 ; Zit. 681). — Nietzsches kritische Einlassungen bilden die Grundlage jeder zeitgenössischen Schul(aufsatz)kritik und zeigt gleichzeitig die Folie, vor deren Hintergrund die Thematik des schreibenden Schülers hier interessiert: als Keimzelle schriftstellerischer Betätigung nämlich, deren Verirrungen mit derjenigen der Pädagogik parallel gesetzt werden können. Cf. auch Ludwig 1988, S. 302Íf.

214

Jensen/Lamszus 1 9 1 0 , S. iof. Jensen/Lamszus 1 9 1 0 , S. 1 9 [im Original gesperrt].

215

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tens nicht aus innerlichem Erleben geschrieben werden kann: »All die Menschlein, die sich in seinem Revier tummeln, sind gleicherweise der Literatur entlehnt.« Doch die »Paarung« literarischen und »aufsatzschreibenden Geistes« zeugt nichts als »hoffnungslose Bastarde« — auf inhaltlicher ebenso wie auf stilistischer Ebene, wo sich die »vor Schönheit wild gewordenen Schnörkel« des sog. guten Stils austoben. 2 1 6 Genau die Stilübungen also, die dem Schüler »die Handhabung des Spracbvorrathes, der jedem Einzelnen vom Gesamtgeiste zum Gebrauch bereit gelegt ist«, einschreiben sollen, genau die Technik zur Erlangung jener » abgerundete [n] Gestalt« des Gedankens, welche die bloß naturhafte Sprachbeherrschung zur Beherrschung der »Lebensgesetz[e] des Kunstschaffens« leiten soll, 2 1 7 »verrammeln noch gehörig mit stilistischen Schwierigkeiten das Tor des Schaffens, damit es um Gottes willen sich nicht öffne.« 2 1 8 Diesem Schematismus setzen Jensen und Lamszus eine Neubegründung des >SchaffensNatur< ersetzt: »Das geht triebmäßig wie Pflanzenwuchs« 2 2 1 — Ästhetik als angewandte Physiologie. Dagegen nun bildet Fritz Kochers Beharren auf der Materialität seines Schreibens und dessen äußerer Erscheinungsform eine subtile Subversionsstrategie: Als bloße Schönschrift überbietet sie in ihrer ikonischen Erscheinung jeden erzieherischen Zugriff von vornherein; wo dagegen die zierlichen Buchstaben und Zeilen die Gegenstände, wo das Finden feiner Wörter und die Fragmentierung von Ideen die Freiheit zur einen »Grundidee« ( i , 24) zu überwuchern anfangen, da hat das Schreiben die ihm aufgetragene Problemlösungskapazität bereits uneinholbar in Richtung einer Intransivität 222 überschritten — einer Intransitivität der Schreibszene, die sich als Grundlage von Walsers Poetologie der Eigentümlichkeit wiederfinden wird. 2 2 3

4.4 Das Schreiben lesbar machen A m Ausgangspunkt des Interesses der >critique génétique< ebenso wie einer im weitesten Sinn textkritisch arbeitenden — das heißt: Begrifflichkeiten wie >TextGenese< und >Schrift< nicht unbefragt verwendenden und gleichzeitig die Materialität der Überlieferung reflektierenden — >literaturwissenschaftlichen Grundlagenforschung < könnte die folgende Gegenstandsbestimmung stehen: »Worauf es ankommt, ist der Akt des Schreibens, der gesamte Rest ist mythisch.« 2 2 4 Die Schreibszenen, die ausgehend von diesem Ansatz analysiert werden sollen, entsprechen den spezifischen Ausformungen der »Geste«, dem individuellen Zusammenspiel jener Faktoren, die Flussers Kartographie des >Schreibens< benennt:

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zen, die Welt der Kinder und der großen Leute, die Welt der Zweifel und der Gewißheit. Es ist nichts, was wir nicht zu schreiben wagen« (177). Jensen/Lamszus 1 9 1 0 , S. 178. - »Der Sieg der Psychophysik ist ein Paradigmenwechsel. Statt der klassischen Frage, was Leute können könnten, wenn sie gebildet und liebevoll genug gebildet würden, taucht das Rätsel auf, was sie immer schon können, wenn Automatismen nur einzeln und gründlich getestet werden« (Kittler 1985/1987, S. 219). Der Lehrer wird so zum »Gärtner, der sein ganzes Thun auf die Natur der Pflanze gründet, auf das ihr eingeborene Leben mit seiner Freiheit und Kraft, das freilich in seinem Wachsen Lenkung von höherer Einsicht in die letzten Zwecke braucht, daß launenhafte Willkür und Zufall verhütet oder doch beschränkt werden, die von diesen Zwecken nichts wissen« (Hildebrand 1887/1890, S. 156). Vgl. Barthes 1970/1994. Für eine ausfuhrliche Textanalyse auf der Basis dieser Walserschen > Poetik des Schreibens< vgl. Kap. II.8 dieser Arbeit. Flusser 1 9 9 1 , S. 47f.

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U m schreiben zu können, benötigen wir — unter anderem — die folgenden F a k t o r e n : eine O b e r f l ä c h e ( B l a t t P a p i e r ) , e i n W e r k z e u g ( F ü l l f e d e r ) ,

Zeichen

(Buchstaben), eine K o n v e n t i o n ( B e d e u t u n g der Buchstaben), R e g e l n (Orthograp h i e ) , e i n S y s t e m ( G r a m m a t i k ) , e i n d u r c h das S y s t e m d e r S p r a c h e b e z e i c h n e t e s System (semantische

Kenntnis

der Sprache), eine zu schreibende

Botschaft

(Ideen) u n d das S c h r e i b e n . D i e K o m p l e x i t ä t l i e g t n i c h t so sehr i n d e r V i e l z a h l d e r u n e r l ä ß l i c h e n F a k t o r e n als in d e r e n H e t e r o g e n i t ä t . 2 2 5

Die Probleme, die eine solche Zugangsweise zur >dritten Dimension der Literaturauteur< entre les deux positions radicalement différentes que sont l'écriture et la lecture. Le passage constant d'une position à l'autre au cours de la genèse textuelle provoque une multiplication des rôles chez le sujet-auteur, multiplication dont les effets énonciatifs sont mal connus, mais très certainement considérables« (Grésillon/Lebrave 1983a, S. 9).

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können, die aber ihrerseits — und zwar nicht nur durch die kulturanthropologische Determinante der Benutzung von Schrift 231 — hinsichtlich ihrer individuellen Erscheinungsform irreduzibel ist. Denn mögen die Rahmenbedingungen, von der Notwendigkeit des Schreibmaterials bis zum System der >langueKopfarbeiter< vs. >Papierarbeiterim Kopf< bereits Vorformuliertes lediglich noch >zu Papier< bringen muß, werden beim genaueren Hinsehen in ihrem Aussagewert beträchtlich relativiert. Denn gerade die Abweichungen vom linearen Schreibverlauf zeigen an, daß der sprachliche Formulierungsprozeß nach dem Muster eines allmählichen Verfertigens der Sätze beim Schreiben vorangeht; Schreiben ist dabei simultan Geste und Textproduktion: »Wird es sich bei allem dem, was ich hier zur Sprache geben, wie soll ich doch nur schnell sagen, zur Sprache bringe um etwas wie eine Liebesgeschichte handeln.« 233 Die Perspektivenverschiebung, die das innovative Potential der c r i t i que génétique< kennzeichnet, besteht in der Abkehr vom >Text< und in der Hinwendung zum >Manuskriptavanttextes< oder >brouillons< — bilden einen eigenständigen Gegenstand philologisch-analytischer und hermeneutisch-kritischer Betrachtung. Diese Konjunktion dient im Selbstverständnis der >critique génétique< insbesondere zur Abgrenzung von den Methoden der Philologie, als deren — überdies solche Abhängigkeit verdrängender — Wiederaufguß 234 einige ihrer Kritiker sie sehen: Die »critique génétique« vergöttert weder den Text noch die Handschrift. Die Handschrift ist ihr Gegenstand, während es der Philologie nicht so sehr um die Handschrift, sondern um den Text geht: um den Text, seine Geschichte, seine Konstituierung, seine Edition. Sich im Sinn der »critique génétique« mit literarischen Handschriften zu befassen, bedeutet gewiß, die Handschriften philologisch zu analysieren, um ihre Genese zu rekonstruieren; aber gleichzeitig setzt eine Interpretationsarbeit ein, die es nicht auf die Herausgabe des authentischen Textes, sondern auf die Erläuterung der Schreibprozesse abgesehen hat. 2 3 5 233 234

235

Walser 1997, Mikrogramm-Blatt 295/I, Z . 4 5 t »[Cjertains observateurs, plus respectueux du poids de la tradition philologique que sensibles à la nouveauté du travail sur les manuscrits modernes, s'offusquent de voir la critique génétique prospérer dans une altérité sans conflit avec la philologie. Ils prétendent que r>ailleurs< revendiqué par les études de genèse recouvre une amnésie fâcheuse, qualifient de factice la rupture annoncée par les généticiens et les invitent à faire allégeance à une philologie qu'ils n'auraient en réalité jamais quittée« (Lebrave 1992, S. 39). - So etwa Guyaux 1990, S. i 7 7 f . , der von einem »monadisme parisien« spricht und der »critique génétique< die Rückbesinnung auf philologische Tugenden empfiehlt: »Le philologue est l'homme divers et unique qui concentre son esprit sur le texte qu'il lit, avec toute rigueur et l'indépendance qui s'imposent. Et la critique de genèse se sépate si peu, me semble-til, de ce principe de convergence, de concentration et de liberté intellectuelle qu'elle pose les mêmes conditions préalables: par exemple celle de publication des textes. [ . . . ] O r l'édition des textes est bien la première tâche que s'impose la critique génétique, >le reste de l'activité interprétative< se mouvant autour d'elle«. - V g l . auch, allerdings weitaus differenzierter und ausgreifender, Espagne 1998. Grésillon 1994/1999, S. 44.

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Während mit dieser Verlagerung der Perspektive eine begriffliche Konzeptualisierung gegenüber der Ausdifferenzierung heuristischer Kategorien und analytischen resp. Repräsentationstechniken zur Beschreibung und Vermittlung des neugewonnenen Gegenstands eingestandenermaßen in den Hintergrund tritt, 236 zeichnet sich - nicht zuletzt bedingt durch das diskursive Umfeld, in dem der Forschungsansatz sich konstituiert hat 237 — eine folgenreiche Begriffsproblematisierung beinahe von Anfang an ab: die der Kritik an all jenen Konzepten, die sich einer Ästhetik des (Ab-)Geschlossenen, — sei es als >clôture< oder als Vollendung — verdanken und dabei insbesondere der Kritik am Begriff des Texts. 238 Zugespitzt ließe sich diese Problematisierung folgendermaßen formulieren: Die Innovationen strukturalistischer und darauf basierender semiotischer Fragestellungen ebenso wie Derridas >écriturecritique génétiqueWerk< (als gesellschaftlich produziertes materielles Objekt) oder ein Manuskript (materielle Spur eines Schreibakts) — aber kein Text. 2 4 3 240 241

242 243

Barthes 1973/1994, S. 1 5 3 5 . Cf. Grésillon 1994, S. 5 i f f . - Die deutsche Übersetzung dieses Begriffs durch »Schreibraum« (vgl. Grésillon 1994/1999, S. 6~jff.) verkürzt ihn, wie mir scheint, um eine zentrale Dimension: genau denjenigen Teil des Manuskripts nämlich, der zwar zum Schreiben als Vorgang gehört, aber eben nicht — auch in der Handschrift nicht — in Schrift aufgeht. Barthes 1 9 7 3 / 1 9 9 0 , S. 373. Neuerdings hat Roland Reuß die Forderung nach einer begrifflichen Trennung von »Text und Entwurf« (Reuß 1999, S. 14) entschieden wiederholt. Während Texte »der Struktur nach apograph« und »nicht unauflösbar an ein bestimmtes Material gebunden« sind, verhält es sich ftir Manuskripte anders: »Genau das gilt in keiner Weise fur eigenhändige Entwurfshandschriften. In ihnen ist, auf der Suche nach dem Text, das Gesetz der linearen Sukzession, das den Text auf seiner Außenseite dominiert, außerkraftgesetzt. Es kann in ihnen drunterund driibergeschrieben, eingefugt, überschrieben, mehrfach unter- und durchgestrichen sein. Unentschiedenheit in der Folge ist hier kein Manko, sondern ein immer wieder vorkommendes Merkmal von autographen Entwürfen, das als solches beschrieben werden will. Zeitlich weit auseinanderliegend notierte Wörter gehen auf dem Papier des Autographs neben syntagmatischen der Sukzession auch paradigmatische Konstellationen von Gleichzeitigkeit ein, die als solche, und d.h.: positiv, wahrgenommen werden wollen« (Reuß 1999, S. i6f.). - Reuß gelingt es, in dieser Problematisierung auf den unlösbaren Zusam-

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E n d é f i n i t i v e , a u c u n des critères de t e x t u a l i t é n'offre par l u i - m ê m e de c e r t i t u d e r e c t i l i g n e et constante, et celle-ci ne p e u t d a v a n t a g e être acquise en les réunissant: l'histoire d u texte, sa cohérence interne, la lecture, le dessein de l'auteur ne f o n t pas système; nous ne disposons pas d u p r i s m e à quatre faces q u i p e r m e t t r a i t d ' i d e n t i f i e r à c h a q u e fois c o m m e t e x t e u n o b j e t littéraire, et o n p e u t m ê m e penser q u e la recherche d ' u n tel i n s t r u m e n t risque de d e m e u r e r insatisfaite c o m m e le f u t celle d e critères u n i v o q u e s de littérarité. Faut-il t o u t b o n n e m e n t c o n c l u r e que le t e x t e n'existe pas? Il s u f f i t , m e s e m b l e - t - i l , de constater q u ' i l ne p e u t être d é f i n i a b s o l u m e n t . Et les critères q u e je viens d ' é v o q u e r se révèlent opératoires p o u r p e u q u e nous les traitons en paramètres d ' u n c h a m p variable où v i e n n e n t s'inscrire des réalisations t o u j o u r s diverses de l'acte d'écrire. N o n pas le Texte, mais des t e x t e s . 2 4 4

Die Pluralisierung und >Entabsolutierung< geschlossener Konzepte, die Louis Hay zur Abkehr von dem für Mißverständnisse anfälligen Gegensatz von >texte< und >avant-texte< zugunsten der neutraleren Begrifflichkeit von >écriture< und >écrit< aufrufen läßt, 245 fuhrt zu einer weiteren wesentlichen Korrektur an gängigen Schrift- und Produktionsvorstellungen: der Abkehr von Vorstellungen, welche die Linearität des Mediums Schrift und die Teleologie des literarischen Produktionsprozesses voraussetzen. Selbst in sonst so klugen Erkundungen des Schriftbegriffs wie denen Vilém Flussers finden sich Aussagen, die anzeigen, daß ihr Verfasser manchmal eher von den eigenen Erfahrungen mit der Schreibmaschine auszugehen scheint als von einem Blick auf komplexe Manuskripte; nur so kann das Schreiben als eine »lineare, jämmerlich eindimensionale Geste« 240 dargestellt werden. Diese Konzeption von Schrift geht von einer historischen Erscheinungsform aus, die dann verabsolutiert wird: vom Druck und der Maschinenschrift. Schrift sind fur ihn Schriften, »Drucksachen« 247 — anders

menhang von Materialität, Zeitlichkeitskonzepten und Textbegriff aufmerksam zu machen (daß er dabei nur ganz am Rand auf die doch immerhin auch schon über zwanzig Jahre alte Diskussion der >critique génétique< eingeht, ist gerade aufgrund des ihn von dieser wohltuend unterscheidenden Bewußtseinsgrads für begriffliche und methodische Fragestellungen äußerst schade); allerdings scheint mir der Antagonismus von >Text< und >Entwurf< gerade hinsichtlich des zweiten Begriffs nicht ganz glücklich gewählt. Denn vor dem Hintergrund seiner kritischen Prüfung etwa des Fassungsbegriffs als Sprach- und Denkform (vgl. Reuß 1990, S. 5Íf.) dürfte er nicht übersehen, daß die Terminologie des Entwerfens — »animo concipere« (Grimm 1854—1971/1984, III, Sp. 655) — die verworfene Teleologie gewissermaßen durch die Hintertür zurückzuholen droht. 244 245

246 247

Hay 1985, S. 154. Hay 1985, S. 154. - Eine terminologische und methodische Verschiebung, die - folgt man dem >textgenetischen GIossar< in Grésillon 1994/1999, S. 293ff. - leider folgenlos geblieben zu sein scheint. Flusser 1991, S. 49. »Eine Drucksache ist eine typische Sache und keine charakteristische, unvergleichliche, einzigartige« (Flusser 1987/1992, S. 53f.)

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wäre das hartnäckige Beharren auf Linearität (Zeilen), Eindimensionalität 248 und der Bezug auf die Vorstellung eines wie die Buchstaben auf den Zeilen fortschreitenden Geschichtsprozesses 249 nicht zu erklären: Die Geste des Schreibens gehorcht einer spezifischen Linearität. Dem abendländischen Programm entsprechend beginnt sie in der linken oberen Ecke einer Oberfläche; sie rückt bis zur rechten oberen Ecke vor; um auf die linke Seite zurückzukehren, springt sie genau unter die bereits geschriebene Linie und fahrt fort, auf diese Weise vorzurücken und zu springen, bis sie die rechte untere Ecke der Oberfläche erreicht hat. Es handelt sich um eine offensichtlich >akzidentielle< Linearität, um ein Produkt der Zufalle der Geschichte. 2 5 0

Damit aber vernachlässigen Flussers Ausführungen zur Schrift genau den Punkt, der bei der Analyse von Manuskripten und Schreibprozessen wesentlich ist: das Mehrschichtige, >Chaotischestatische< Reproduktionstechniken, ihre mimetische Ubersetzung und eine darauf basierende genetische 257 258

Scheibe 1982, S. 14. Grésillon 1998, S. 269.

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Darstellung mit zugegebenermaßen größerem Aufwand fur den Benutzer bisher ermöglicht haben, bleibe dahingestellt. 259 Eine nicht nur aus der Perspektive der >critique génétique< besonders problematische Ausformung der Vorstellung von Linearität besteht im teleologischen Modell der rückblickenden Interpretation und Bewertung — die oft genug den Charakter einer Abwertung annimmt — des Schreibprozesses von seinem Ende, dem im Idealfall >fertigenvollendeten< Text her. 200 Zwar hat sich das Interesse an Überlieferungsdokumenten und Textgenesen in den letzten Jahren zunehmend vom Imperativ editorischer Nutzbarmachung befreit. Dennoch wird jeder Versuch, die heterogene Materialität von überlieferten Dokumenten in die Form einer Textgeschichte, einer chronologischen Anordnung zu bringen, durch die Blickrichtung vom Ende her bedroht, die sich ihr Material — im selben Z u g und meist ohne sich des grundsätzlichen Unterschieds dieser Umkehrung bewußt zu werden — als eine Entwicklung zum Ende hin unterwirft. Die Differenz zwischen diesen Perspektiven ist die zwischen einem epistemologisch genetischen und einem genealogischen Modell: Ersteres zerlegt eine rekonstruierte Ganzheit in ihre einzelnen Elemente, um die Zielgerichtetheit und Gesetzmäßigkeit ihres Zustandekommens zu erklären, sie will ausfindig machen, warum sich diese Entwicklung von ihrem Ursprung an in die Richtung bewegt hat, an deren Endpunkt sie schließlich gelangt ist. 2 0 1 Letztere dagegen setzt der Suche nach dem Ursprung und der daraus erfolgenden evolutionären Entwicklung die »Erforschung der Herkunft« 2 0 2 entgegen: 259

Das ist selbstverständlich kein Plädoyer gegen die Form elektronischer Edition — Hypertext heißt nicht automatisch >bewegte (Handschriften-)BilderInterlineartextgenetischer
Genese< entwickeln, liegt in dem Reflexivpronomen. Es setzt eine Identität voraus, die alles andere als fraglos ist. 2 0 3 In dieser Perspektive dienen Manuskripte und Schreibprozesse nicht länger allein zur Rekonstruktion eines kreativen Schaffensvorgangs, der — meist teleologisch als Arbeit zur Erfüllung einer Idee hin verstanden, die dem konkreten Schreibakt immer vorausliegt — in der intendierten Vollendung des Werks mündet und allenfalls einem mehr oder minder gewalttätigen Zufall des Abbruchs oder des Scheiterns unterliegt. Daß vor diesem Paradigmenwechsel eine Verdrängung der materialen und im weitesten Sinn technischen Aspekte des Schreibens kritiklos Gültigkeit beansprucht hat, ist unbezweifelbar. Die Untersuchung von A r beitsgewohnheiten und Schreibmaterialien auf der einen, dokumentarische Genauigkeit im Umgang mit Schriftträgern auf der andern Seite legitimierten sich allein als Mittel zum Zweck: die Gesetzmäßigkeit, ja Normativität eines dichterischen Schaffensprozesses unter den Bedingungen positiver wissenschaftlicher Genauigkeit beweisbar zu machen — selbst und gerade in solchen Fällen, wo die Einsicht in derartige Gesetzmäßigkeiten nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden durfte. 204 So dient etwa in der

263 264

die totalen Umschwünge, die Irrtümer, die Schätzungsfehler, die falschen Rechnungen, die das entstehen ließ, was existiert und fur uns Wert hat. Es gilt zu entdecken, daß an der Wurzel dessen, was wir erkennen [...], nicht die Wahrheit und das Sein steht, sondern die Äußerlichkeit des Zufalligen« (Foucault 1 9 7 1 / 1 9 8 7 , S. 74). Reuß 1999, S. 1 1 . Daß sich die Legitimationsstrategie der »Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe< in ihrem Kern auf eine ihrem Gegenstand fremde poetologische Formulierung stützt, ist Ausdruck dieser Notwendigkeit. Denn die Grundkonzeption des »allmählichen Wachstums< des dichterischen Kunstwerks und die Unumgänglichkeit seiner Rekonstruktion zum Verstehen berufen sich bekanntlich auf einen kurzen Brief Goethes an Zelter (4. August 1803), in dem er den Empfänger auf »[s]eine genetische Entwicklungen« verweist: »Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen aufhaschen, um sie einigermaßen zu begreifen« (Goethe 1 8 8 7 - 1 9 1 2 , Β X V I , S. 2 6 5 0 . Roland Reuß hat auf diese »bis heute übersehene Pointe des Beißnerschen Begründungsgangs« und ihre methodischen Folgen hingewiesen, »die Notwendigkeit seines >textgenetischen< Umgangs mit Hölderlin immer wieder ausgerechnet durch ein Goethezitat zu untermauern [...]. Galt es doch in den vierziger Jahren zunächst um Verständnis darum zu werben, warum soviel Mühe auf die Darstellung einer Überlieferung verwendet werden

ΙΟΙ

für dieses Verfahren geradezu paradigmatisch gewordenen >Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe< die »Mühe« des Editors, »die Handschrift Wort fur Wort zu entziffern«, der »Aufgabe des Philologen, das Verwickelte zu entwickeln und das Werden des einzelnen Gedichts bei letztmöglicher Vollständigkeit doch leicht überschaubar darzustellen.«205 In der »Werkstatt« von Beißners Ausgabe werden die Dokumente, das Rohmaterial aus Hölderlins Dichterwerkstatt, mit Verfahren »intensiv[er] Interpretation« zu jenen Zeugnissen des »— nach Goethes Wort — unermüdlich zum Besseren arbeitenden Schriftstellers« geschmiedet, in deren Präsentation sich »überzeugender, weil organischer und weniger willkürlich die Erklärung des Seins aus dem Werden« abzeichnet, als das jedem anderen »herkömmlich[en] analytisch[en] Verfahren« möglich wäre. Aus dem »brodelnd[en] Chaos«, das die Handschrift als »Spiegel und Niederschlag eines schöpferischen Vorgangs« abbildet, destilliert die >genetische< Darstellung das »ideale Wachstum vom ersten Keim des Plans und Entwurfs bis zur endgültigen Gestalt« und erhält, im besten Fall, als »schönen Lohn philologischer Mühe« das im Lauf der Überlieferung verlorene Gedicht. 206 Diese organizistische Metaphorik, die sich gegen einen reflektierten Arbeitsbegriff ebenso sperrt wie gegen die Einsicht, daß poetische Sprache nicht einfach Wiedergabe von Gedanken und Ideen beabsichtigt, sondern ein dynamisches und gerade in ihrer ästhetischen Funktion hochgradig selbstbezügliches Zeichensystem darstellt, ist seit längerem Gegenstand der Kritik — wo die »Werkstatt des Dichters [...] zum Kreißsaal« 207 wird, bleiben produktionsästhetische Überlegungen, die nicht bloß die Mythen dichterischen Ingeniums repetieren wollen, außen vor. 208 Die Verschiebung in der editorischen Theorie und Pragmatik, die ungefähr in der Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzt, hat die praktische und methodische Proliferation solcher Mythen nicht unangetastet gelassen. sollte, von der viele Zeitgenossen wahrscheinlich annahmen, daß sie einem mehr oder weniger umnachteten Hirn entsprang. [ . . . ] Die Suggestivkraft des Zitats entlastete die gesellschaftliche Vermittlung der wissenschaftlichen Initiative, enthob der Arbeit am Begriff und deckte auch sonst das editorische Verfahren« (Reuß 1 9 9 9 , S. j f . ) . 265

Beißner 1 9 4 2 , S. 1 9 ; 2 4 .

266

Beißner 1 9 6 1 , S. 2 5 2 f r . .

267

Beetz/Antos 1 9 8 4 , S. 9 4 .

268

Z u r Kritik an der organizistischen Vorstellung von literarischen Arbeitsprozessen ließen sich spätestens seit Poes >The Philosophy of C o m p o s i t i o n ( 1 8 4 6 ) Selbstaussagen von Autoren in beinahe beliebiger M e n g e anfuhren; die in dieser Arbeit angeführten Beispiele aus Walsers Texten mögen stellvertretend dafür stehen. -

Grundlegende methodische

Einwände formuliert naheliegenderweise die >critique génétique« -

vgl. etwa Bellemin-

Noël 1 9 8 5 , Grésillon 1 9 9 2 - , die allerdings, worauf Fohrmann 1 9 9 4 , S. 3 4 4 hinweist, diese Vorstellung zumindest in ihrem N a m e n noch mit sich trägt.

I02

Nicht nur im Zusammenhang mit Imaginationen des literarischen Arbeitsprozesses wurde dabei auf die Einschränkungen aufmerksam gemacht, denen sich eine Ausrichtung an Modellen zielgerichtet-intentionaler Kreativität unterwirft; gerade auch für die editorische Darstellung gilt, daß die Orientierung an der Gestalt des >fertigen< Texts, dem dann die aus dem Arbeitsprozeß ausgeschiedenen Varianten zugeordnet werden können, zu einer Verzerrung der Perspektive fuhrt. Denn fiir komplexere genetische Zusammenhänge wird es in der Regel kaum die Möglichkeit geben, das gesamte überlieferte Material eines Schreibprozesses direkt mit der letzten Textgestalt in Zusammenhang zu bringen. 2 0 9 Der Paradigmenwechsel, der sich in der textkritischen Arbeit und ihrer methodischen Reflexion abzeichnet, restituiert die Materialität und Individualität der Manuskripte gewissermaßen in zwei Etappen. Während Beißner an der emphatischen Vorstellung des dichterischen Schaffensprozesses unbeirrbar festhält, so sind die Ansprüche bereits bei Hans Zellers ab 1 9 5 8 erscheinenden Conrad Ferdinand Meyer-Edition andere: Ihr Ziel ist die Präsentation eines »historisch[en] Text[s]«, der nicht einem »möglichst glatten, unanstößigen oder [ . . . ] >besten< Text im Sinne irgendeiner Ästhetik« entsprechen darf, sondern allein dem Anspruch der Authentizität, 2 7 0 und damit verbunden die Wendung gegen jegliche Form von »Intuitionsphilologie«, 271 berufe sie sich auf Konzepte eines zu ergründenden Autorwillens oder auf mehr oder minder explizite (eigene) Voraussetzungen darüber, wie Texte zu erscheinen haben. An die Stelle des Konzepts eines >idealen Wachstums< von Texten tritt die durch die Apparatgestaltung darzustellende Rekonstruktion jener heterogenen »Textgeschichten im kleinen«, die in Beißners Apparatmodell verschwinden. 272 Das wirkt sich in der editorischen Aufbereitung der Manuskripte insofern aus, als sie nicht wie in Beißners Modell 269

Diese integrative Darstellung bringt zwar den Vorteil leichterer >Lesbarkeitred garn< to organize the material, or that there is such a thing as a final text to which all data can be referred. Unfortunately, this is generally not the case with more complex genetic material, in which not all textual fragments can be related directly to a final version and the number of variants is so high that having them embedded within the text would lead to a rapid decrease of readability« (Lebrave 1987, S. 136).

270

Zeller 1964, S. 72. Zeller 1 9 7 1 , S. 55. — Die polemisch-präzise Wendung wird verständlicher, wenn man sie auf Beißners Einwände gegen Zellers Editionsverfahren bezieht: Beißner »vermag nicht einzusehn«, daß ein Editor »ein derart sonderliches Bedürfnis befriedigen müsse«, wie es die von Zeller geforderte Rekonstruierbarkeit der Handschrift darstellt: »Der Unterschied liegt darin, daß Zinkernagel, Backmann und Zeller die H a n d s c h r i f t in ihrem räumlichen Zustand und graphischen Erscheinungsbild reproduzieren wollen, während die Stuttgarter Ausgabe versucht, das G e d i c h t in seinem Werden darzustellen« (Beißner 1964, S. 81).

271

272

Zeller 1958 (Zit. S. 362).

103

von vornherein einer genetischen Aufbereitung in Fassungen und Textstufen unterworfen werden, sondern — angeordnet nach einer rekonstruierten Chronologie der Textentstehung — ihr Texfbestand zumindest ansatzweise in der ihr je eigenen Individualität erschlossen und dargestellt wird: Die Darstellung der Gedicht-H[andschriften] in dieser Ausgabe sucht drei Forderungen zu genügen: i. der Forderung, die Hfandschrift] zu interpretieren ( i n t e r p r e t i e r e n d e I n f o r m a t i o n ) , d.h. die Zeichen zu entziffern, daraus einen Text herzustellen und dessen Entstehung soweit möglich darzustellen. [...] 2. der Forderung, die graphischen Gegebenheiten der H[andschrift] wiederzugeben, soweit sie der Begründung und Kontrolle der Interpretation dienen ( d e s k r i p t i v e I n f o r m a t i o n ) . 3. der Forderung, die interpretierende und deskriptive Information in möglichst lesbarer und übersichtlicher Form zu bieten. 273 Die (chronologische) Linearität eines Entstehungsprozesses wird damit konfrontiert und kombiniert mit der »Eindeutigkeit oder Mehrdeutigkeit« der handschriftlichen Überlieferung, die als solche darzustellen sind. 2 7 4 Dem entspricht ein strukturalistisch geprägter Begriff von Text, wie er in Hans Zellers und Gunter Martens' theoretischen Überlegungen nicht zuletzt in Hinblick auf die betreffenden Editionsgrundsätze und auf den interpretatorischen U m g a n g mit ihnen formuliert worden ist. Text, verstanden als Summe seiner einzelnen Zustände, die ihrerseits als zeitliche Abfolge einzelner jeweils autorisierter Fassungen definiert werden, kann so prinzipiell als offen — a-teleologisch und strukturell unabschließbar — verstanden werden; 2 7 5 die Authentizität der Darstellung beschränkt sich allerdings in der Traditionslinie editorischer Arbeit weitgehend auf den Text der Handschrift, wie der oben zitierte Grundsatz explizit macht: Materiale Befunde sind deskriptiv wiederzugeben, um die interpretierende Tätigkeit des Editors möglichst transparent erscheinen zu lassen. 2 7 6 Noch die »Frankfurter Hölderlin273

274 275 276

Zeller 1964, S. 1 1 0 ; kursive Hervorhebung SK. — Louis Hay, der auf die Differenz der Positionen aufmerksam gemacht hat, scheint mir trotz der genauen Darstellung der Unterschiede zwischen den Intentionen Beißners und Zellers zu übersehen, daß es sich nicht nur um eine andere Funktion des selben Apparattyps handelt, sondern um einen dadurch von Grund auf differenten Zugang zum zu edierenden Material: »Take F. Beissner's >stepped< apparatus: the observation could not fail to be made that it implies a teleological view of the author's working methods, in keeping with Goethe's concept of the writer »working unremittingly towards what is better. < Fifteen years later, Hans Zeller adopts and perfects the same type of apparatus, but his perspective is appreciably different: the stress is no longer on the author's intentions but on the structure of the text; the whole set of permutations of variants is taken into account with all its potentials for textual filiation and convergence; and synoptic display assumes its position alongside lemmatized listings, or >stepsdie Wiedergabe eines graphischen Befunds< oder >die Rekonstruktion der Handschrift^ um ihrer selbst willen, sondern, um dies zu wiederholen, in erster Linie die Deutung der Hand-

104

Ausgabe^ die sich erstmals in der Geschichte der germanistischen Editionstätigkeit eine vollständige Faksimilierung aller überlieferten Manuskripte vorgenommen hat, argumentiert programmatisch mit diesem legitimatorischen Gestus. Faksimilierung dient gleichzeitig als Ersetzung und als Perfektionierung jener >deskriptiven Information·! : Ersetzung im Bewußtsein, daß jeder diskursive Beschreibungsvorgang in seinem Informationsgehalt hinter die — durch diplomatische Umschrift zu vermittelnde — Abbildung des Manuskripts zurückfällt; Perfektionierung, indem die »graphischen Gegebenheiten« 2 7 7 in einer sich hinsichtlich der räumlichen Anordnung schriftlicher Zeichen mimetisch verhaltenden typographischen Transkription nicht nur beschrieben, sondern übersetzt werden. Das mit der Abkehr von teleologischen Vorstellungen der poetischen Arbeit einhergehende Augenmerk auf die Materialität der (meist) handschriftlichen Dokumente fuhrt somit seit einigen Jahren, auch außerhalb der »critique génétiqueText< und >SchriftUnedierbarkeit< sprechen könnte. Die praktische Lösung eines solchen editorischen Problems besteht neuerdings vermehrt in faksimilierten Ausgaben, welche die Schriftlichkeit der Überlieferung vor Augen fuhren. Ungeklärt erweist sich dabei dennoch die Frage, was sich denn aus dem Gewirr von Linien, die sich auf der Grenze der Lesbarkeit bewegen, ablesen ließe, wenn es nicht mehr nur um Rekonstruktion von Text und Textgenese gehen soll, also um die Herstellung einer wie auch immer gearteten textuellen Ordnung, sondern u m die Schrift selbst. 27 ®

Der »Akt des Aufzeichnens« bildet somit jenen »Nullpunkt von Text«, 2 7 9 zu dem sich der (Lektüre-)Akt einer Rekonstruktion von Textualisierungsprozessen in einem unaufhebbaren Verhältnis der Nachträglichkeit befin-

277 278 279

schrift, in zweiter Linie die Möglichkeit einer gewissen Kontrolle mittels der deskriptiven Angaben. Diese gestatten in günstigsten Fällen die Nachprüfung der editorischen Entscheide, vor allem jedoch erlauben sie dem Benutzer, sich einigermaßen unabhängig vom Herausgeber über die Textkonstituierung Gedanken zu machen, Einfälle, Fragen zu erwägen und sogleich bis zu einem gewissen Grade abzuklären, Vermutungen zu erhärten oder abzuweisen« (Zeller 1 9 7 1 , S. 8of.). Zeller 1964, S. m . Groddeck 1994, S. Groddeck 1994, S. 38.

105

det. Doch kann dieser Nullpunkt des Texts mit einem weiter gefaßten poetologischen >Nullpunkt des Schreibens< nicht einfach gleichgesetzt werden. In die >Schreibszene< ist die Reflexion auf den Aufzeichnungsakt selbst immer schon eingegangen — in ihr vermitteln sich die Prozeduren des Schreibens mit anderen, >externen< Konstituenten, die eine sie machbuchstabierende < Lektüre zu entziffern gehalten ist.

5.

Walsers Schreibszenen: Mikrogramm und Abschrift

5 . 1 Das »Bleistiftsystem« Das Oktober-Heft 1 9 5 7 der Schweizer Kulturzeitschrift >du< widmet, ein knappes Jahr nach Robert Walsers Tod, dem damals seit fast einem Vierteljahrhundert Verstummten einen Beitrag: die übliche Mischung aus Photographien, Erinnerungen und noch unbekannten Texten, derer sich die Propagierung eines nur Insidern bekannten Schriftstellers im größeren Publikumskreis zu bedienen pflegt. Publikationsstrategisch erscheint dieses Vorgehen geschickt; Carl Seelig ist seit Mitte der dreißiger Jahre unablässig damit beschäftigt, das ihm von Walsers Schwester Lisa anvertraute Korpus von Texten — Manuskripte oder Druckbelege seines >Prosastückligeschäfts< — zugänglich zu machen und verfügt 1 9 5 7 »noch über einen Fundus von mehreren hundert Walser-Texten [ . . . ] , die niemals in Buchform erscheinen waren«. 2 8 0 Seit 1 9 5 3 erscheint eine funfbändige, von ihm herausgegebene Ausgabe der >Dichtungen in Prosadouble bindVorMund< Seelig artikuliert, sollte sich bald als instabil erweisen und mußte von ihm durch ein erneutes, diesmal privates Machtwort wieder hergestellt werden: Jochen Greven, der Seelig mit einer Transkription des abgebildeten Blattes überraschte, erhielt vorerst keinen weiteren Einblick in die Dokumente dieser angeblichen »Geheimschrift«, deren >Schlüssel< indes Seelig mit der beigelegten Vergrößerung — »wie bewußt oder unbewußt auch immer« 2 8 2 — bereits mitgeliefert hatte. Die Entdeckerfreude hatte sich mit der Veröffentlichungstaktik des Herausgebers zu bescheiden. Es handelt sich, dies nebenbei, beim reproduzierten Manuskript um das Mikrogramm-Blatt 300, eines der 1 1 7 Kunstdruckblätter, deren Entzifferung mittlerweile die ersten drei Bände von Bernhard Echtes und Werner Morlangs Edition >Aus dem Bleistiftgebiet< füllt. Darauf notiert sind zunächst zwei komplette >Felixdeutsche< Handschrift war. Sie ist allerdings nicht nur wegen ihrer Winzigkeit außerordentlich schwer und zuweilen überhaupt nicht zu entziffern [. . .]. Trotzdem ließ sich an den Textanfangen sowohl von Prosaabschnitten wie von Gedichten (Titel sind nur selten angeführt) der Inhalt dieser Blätter zweifelsfrei als Konzepte zu literarischen Arbeiten Walsers aus den Jahren 1 9 2 4 bis 1 9 3 3 erkennen. Etwa die Hälfte der über 800 Prosaentwürfe dürfte zu Texten gehören, die auch in Reinschriftmanuskripten oder in Veröffentlichungen erhalten sind; 360 von ihnen wurden bisher identifiziert. Die übrigen Abschnitte enthalten Konzepte, die Walser entweder selbst verwarf, ehe er sie in die Reinschrift übertrug, oder deren endgültige Fassung in der einen oder anderen Weise verloren ging« (Greven 1 9 7 2 , S. 7f.).

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Ausgangspunkt wohl seiner gesamten schriftstellerischen Produktion steht, wird vermutlich ein Geheimnis bleiben. Nach der oft zitierten Selbstaussage im Brief vom 20. J u n i 1 9 2 7 an Max Rychner ließe sich dieser Einschnitt auf ungefähr 1 9 1 7 / 1 8 , also noch in die Bieler Zeit datieren: »Sie sollen erfahren, mein Herr, daß ich vor ungefähr zehn Jahren anfing, alles was ich produziere, zuerst scheu und andächtig mit Bleistift hinzuskizzieren« (B 3 2 2 , 300). In diese Richtung weist auch die Korrespondenz mit dem Rascher Verlag über den verschollenen Roman >Tobold< sowie ein Brief an den Hermann Meister Verlag vom 8. Mai 1 9 1 9 : Walser spricht am 1 2 . Dezember 1 9 1 8 zunächst von einem Roman, den er »entworfen« habe und »der, wie ich voraussetze, Ende Januar 1 9 1 9 niedergeschrieben sein wird« (B 169, 154), eine Zeitplanung, die sich allerdings als etwas zu optimistisch erweisen sollte. Erst am 1 0 . März meldet Walser, er werde »[i]m Lauf dieser Woche [ . . . ] den Roman fertig haben« (B 1 7 7 , 1 6 3 ) und schickt drei Wochen später die » 1 2 9 Manuscriptseiten« des Romans an Rascher (B 1 8 0 , 165). Einen guten Monat später bietet er dem Hermann Meister Verlag »ein [ebenfalls verschollenes] Bruchstück aus einem Roman« fur die Zeitschrift >Saturn< an und fugt bei: »Das Stück ist aus dem Bleistiftentwurf und konnte nicht in die Reinschrift aufgenommen werden aus technischen Gründen« (B 1 8 3 , 167). Die Nüchternheit, mit der hier mehr oder minder beiläufig und - mit zwei Ausnahmen 2 8 7 — genau auf die Komponenten des Bleistiftsystems eingegangen wird, die auch knappe zehn Jahre später im Brief an Rychner den wesentlichen Bestandteil von Walsers >Bekenntnis< ausmachen, sollte nicht übersehen werden. Aufschlüsse über die Schriftgröße allerdings werden weder hier noch in den bekannten Zeugnissen der 20er Jahre geboten. Der Brief vom 20. Juni 1 9 2 7 entbehrt dieser Beiläufigkeit; die Mischung von Geständnischarakter und Verschleierungsstrategie macht ihn jedoch in seinem Status als authentisches autobiographisches Zeugnis höchst problematisch — zu deutlich scheint in ihm die Geste der Inszenierung durch, in der das Mitgeteilte erscheint. 288 Es ist vielleicht nicht überflüssig, an dieser Stelle 287

288

Nämlich die Ursache dieser Aufteilung des Schreibvorgangs und die Verlangsamung der Arbeit. Morlang 1994a hat auf die »rhetorisch[en] Gebärden und Formalismen« (85) aufmerksam gemacht, die die im Brief erzählte »Schaffens- und Lebensgeschichte« (B 3 2 2 , 300) einkleiden: »Die hier vorliegende > Aufrichtigkeit mystifiziert. Sie bedarf der Erklärungen, Ergänzungen, ja einer eigentlichen Übersetzungsanstrengung. Von ihr läßt sich schwerlich auf den wirklichen mikrographischen Sachverhalt schließen« (89). Genauer ließe sich vielleicht sagen: das Bekenntnis inszeniert Aufrichtigkeit und »Genaunehmen«. Im »N. B.« des Briefes wird diese Geste explizit: »Ein Zürcher versetzte mir vor vierzehn Tagen einen Stoß in die Gegend oberhalb der Stelle, wo sich das Herz befindet. Inzwischen erholte ich mich wieder. Ort: Die >Laubenins Reine< zu schreiben pflegte, daß er »nie eine Zeile verbessert« hätte, gehört mit zu den Nachwirkungen der geradezu mythologischen Konstruktion des Autors Walser, an deren Ausgangspunkt möglicherweise Eduard Korrodis Lob der kalligraphischen Qualitäten von

289

290

Alkohol!« (B 322, 301). — Beinahe vollständig wird hier der rhetorische Gliederungskatalog der argumenta ad rem< erfüllt: »Bei allem nun, was getan wird, dreht es sich um die Fragen: Warum?, wo?, wann?, wie? und mit welchen Mitteln? ist es getan worden?« (Quintilian 1975/1988, I, S. 559). Morlang 1994b, S. 75; vgl. jetzt dazu auch Siegel 2001, fur die der Brief die poetologische Chiffre schlechthin für Walsers Mikrographie bietet. - Natürlich liegt es im Nachhinein nahe, Walsers Texte als verschwiegene Explikation all dieser Geheimnisse zu lesen; etwa das erst 1935 erschienene Prosastück >Was sie für einen Erfolg hatc »Ich übe mich hie und da im Herstellen von ganz kleinen Gedichten, was vielleicht seiner Natur nach etwas wie eine Mädchenübung ist, derart mit in die Hand gestütztem Kopf am Tisch zu sitzen und unmittelbar danach auf ein Blättchen hinzukritzeln: >Ich sitze am Tisch und wie ich sehe, will sich mitten in mir etwas über mich wundern.< Mein bißchen Gedichtemachen, das natürlich fur mich überaus wertvoll ist, weil ich mit ihm gleichsam Minuten oder halbe Stunden ausfüllen kann, die sonst leer, unausgefüllt, unbenützt vergehen, verwehen würden, pflege ich allemal mit Prosazeilen zu umrahmen oder abzulösen, wie die hier sind« (19, 7if.). Morlang 1994a, S. 93. IIO

Walsers Manuskripten steht 291 und die mit Benjamins 1929 erschienenem Essay gewissermaßen kanonische Geltung erlangt hat. 292 Mögen auch die erhaltenen Romanmanuskripte zu >Geschwister Tanner< und >Der Gehülfe< eine verblüffende Geschlossenheit aufweisen, obwohl sie in kürzester Zeit niedergeschrieben wurden, frei von Spuren einer revidierenden Praxis sind auch sie nicht. 293 Ihre relative Homogenität bildet wohl dennoch die Ausnahme oder ist Zeichen einer Schreibpraxis, die nach ca. 1 9 1 0 nicht mehr durchgehend aufrecht erhalten werden konnte. Bereits auf der Rückseite eines Manuskripts aus dem Jahre 1 9 1 2 etwa findet man Bleistiftentwürfe in allerdings noch >normaler< Schriftgröße; aus der Bieler Zeit sind einige weitere Entwürfe — in der Regel wiederum auf Rückseiten von abgeschlossenen Prosastücken — überliefert; und schließlich gehört die Revisionsarbeit gerade in diesen Jahren elementar zu Walsers Arbeitsweise. Wesentlich interessanter als die Tatsache einer Aufteilung des schriftstellerischen Arbeitsprozesses in einen >SchreibAbschreibvorgang< scheinen die Begründungen, die Walser fur die Wahl einer derart strengen Systematik von »Bleistift«- und »Abschreibesystem« gibt. Der »Schreibfederüberdruß« (B 322, 301) gehört zwar seinerseits zu den durchgängigen Klageliedern von Schriftstellern, seine imaginäre Überwindung kommt noch in Benjamins — durch einen diätetischen Aspekt erweiterter - >Galanterieware< zum Ausdruck: »Wenn der Zigarettenrauch in der Spitze und die Tinte im Füllhalter gleich leichten Zug hätten, dann wäre ich im Arkadien meiner Schriftstellerei.« 294 Doch bei der Beschreibung des Heilmittels gegen diesen Schreib-Krampf ist vom Schreiben erstaunlicherweise gar nicht mehr die Rede. Der Bleistift dient dazu, »alles, was ich produziere, zuerst scheu und andächtig [...] hinzuskizzieren«, um »zu bleistifteln, zu zeichnelen, zu gfätterlen. Für mich ließ es sich mit Hülfe des Bleistiftes wieder besser spielen, dichten; es schien mir, die Schriftstellerlust lebe dadurch von neuem auf« (B 322, 300f.). Erst mit der Praxis der Abschrift tritt das Schreiben wieder auf die Bühne — »beim Abschreiben aus dem Bleistiftauftrag lernte ich knabenhaft wieder — schreiben«. Man hat es also bei dieser Inszenierung der Schreibszene mit einer Gemengelage von Strategien zu tun, die sich alle in der körperlichen Geste der 291 292

293

294

Vgl. ¡Corrodi 1928/1978. Benjamin i929/i972ff., I I . i , S. 325. Vgl. dazu Echte 1994b. - Zur Konstruktion des >Autors Walser< in der Rezeption cf. die erhellende Untersuchung von Keutel 1989. Vgl. etwa die in 9, 355 — 376 sowie 10, 309 mitgeteilten Streichungen der Manuskripte; ergänzend die — allerdings ebenfalls unvollständigen und hinsichtlich der Überarbeitungen nicht kritisch zwischen Lektor und Autor unterscheidenden — Anhänge bei Gößling 1 9 9 1 , S. 2 1 2 - 2 3 2 und Gößling 1992, S. 2 3 5 - 2 4 6 . Benjamin 1 9 2 8 ^ 1 9 7 2 f f , IV. 1 , S. H 2 f . III

Handbewegung überschneiden und sie vom Krampf zu befreien suchen, der zum »Zusammenbruch« der federführenden Schreib-»Hand« geführt hat: Eine Diätetik des Schreibens, die den Haß auf die Feder, die Ermüdung und Verdummung durch sie mittels einer spielerischen Wiedereinführung der »Schriftstellerlust« (B 3 2 2 , 3 0 1 ) zu überwinden sucht; 295 eine Ausdifferenzierung der Praxis, die das Skizzieren, Spielen und — hier mag man die Konnotation der Verkleinerung im nachhinein mitlesen — Dichten mit dem Bleistift dem Schreiben mit der Feder gegenüberstellt; eine Selbstdisziplinierung mit Blick auf das Schreiben, die den Widerstand der Hand überlistet; dies alles nicht ohne die »Qual« in Kauf nehmen zu müssen, die solche Pädagogiken in der Regel bedeuten. Diätetik des Schreibens — das heißt aber auch, daß man die »kopfschüttelnde Skepsis über die psychische Verfassung dessen, der so schrieb oder schreiben mußte«, 296 also den Verdacht auf eine pathologische Grundlage dieser Praxis, aufzugeben hat. 297 Die Bleistiftmethode ist für Walser, noch verläßlicher als die Selbstzeugnisse belegt das die ungeheure Produktivität der Jahre 1 9 2 4 ^ , kein Krankheitssymptom, sondern »ein Weg der Gesundung-«,298

295

Vgl. die entsprechende Briefstelle: »Ich darf Sie versichern, daß ich (es begann dies schon in Berlin) mit der Feder einen wahren Zusammenbruch meiner Hand erlebte, eine Art Krampf, aus dessen Klammern ich mich auf dem Bleistiftweg mühsam, langsam befreite. Eine Ohnmacht, ein Krampf, eine Dumpßeit sind immer etwas körperliches und zugleich seelisches. Es gab also für mich eine Zeit der Zerrüttung, die sich gleichsam in der Handschrift, im Auflösen derselben, abspiegelte und beim Abschreiben auf dem Bleistiftauftrag lernte ich knabenhaft wieder — schreiben« (B 322, 3 0 1 ; Hervorhebungen SK).

596

Echte 1997, S. 14. Vgl. dazu auch den Anfang von Kap. I.i dieser Arbeit. Echte 1997, S. 14 (u. ff.). - Neuerdings ist Walsers Mikrographie vor einem anderen Hintergrund als »Mittel der Selbstheilung« bezeichnet worden: Anette Schwarz sieht Walser im Gefolge Benjamins als gewissermaßen letzten Repräsentanten, als »Höhe- und Endpunkt der barocken > Leidenschaft^ der Melancholie«. Der Schreibkrampf Walsers wird in diesem Zusammenhang als Teil einer allgemeinen Verfallsgeschichte gesehen: »Die Geschichte nicht nur eines Zerfalls der Schrift, sondern die eines Subjekts, eines Ich und eines Körpers; ein Zerfall einer organischen Totalität, der sich im Werk Walsers nachverfolgen läßt und sich wie ein Bilderbuch der Dekomposition liest. Walsers Werk und dessen Figuren [ . . . ] sind nach dem Modell einer allegorischen Ruine gebaut« (Schwarz 1996, S. 1 7 4 ; 173). Die Bleistiftmethode vermag diesem Dekompositionsprozeß vorübergehend Einhalt zu gebieten. Dieser interessante Ansatz leidet allerdings darunter, daß zu seiner Bestätigung eine unstrukturierte Mischung von Textbelegen aus allen Perioden von Walsers Schaffens herangezogen wird — von einem »Genaunehmen der Entstehungsweise« (B 3 2 2 , 3 0 1 ) kann keine Rede sein; die Mikrographie wird in erster Linie metaphorisch instrumentalisiert. — Schreiben als >Selbstheilung< thematisiert auch Schmidt-Hellerau 1986, S. 458ff. in ihrer Analyse des >Räubern Hecken, verbargen, die bloß Straßenstaub aufbewahren, wie etwa in Gemächern viele unnötige Nippsächelchen auch nur so eine Art Erhalter und Aufbewahrer ungesunder Luft sind, weil sie 65 vielfach in ihrer schnörkeligen Niedlichkeit staubig bleiben. Bil= =ben. (I4r) Bilden solche Zwischenbemerkungen für mich etwas wie Aus= =ruhegelegenheiten oder etwas wie Brücken, [ . . . ]

Korrodi 1928/1978, S. 1 2 1 .

137

Hier wird die Entscheidung sichtbar, die im Verlauf der Abschrift zur Absatzgliederung geführt hat. Sollte die Reflexion über die »Zwischenbemerkungen« zunächst direkt an die Abschweifung — vor diesem Absatz handelt der Text vom Verhältnis zwischen dem »Tragischen« und dem »Komischen« — anschließen, so wird nun im Abschreibeprozeß eine Zäsur gesetzt. Auch hier erhält die Berücksichtigung des Erscheinungsbilds eine über die unmittelbare Notwendigkeit hinausweisende Bedeutung. Denn bereits die Streichung der Silbe »Bil« und der Neuansatz auf der folgenden Zeile wäre ein eindeutiges Indiz flir die beabsichtigte Gliederung gewesen. Doch in einem Arbeitsgang werden die letzte Silbe des vorliegenden und die erste des folgenden Absatzes doppelt gestrichen, dann ein Trennzeichen eingefügt und die Schlußsilbe auf der neuen Zeile, die zugleich die unterste der Seite ist, wiederholt. Die Eindeutigkeit des optischen Eindrucks ist auch hier primäres Ziel der graphischen Gestaltung. 345 Walsers System des Schreibens ist, um die vorangegangenen Ausführungen zu rekapitulieren, jenseits jedes deterministischen Verhältnisses von Entwurf und Reinschrift eines der Transformation, der Wiederholung. Es lenkt durch die unterschiedliche Verwendung ihrer Parameter den Blick auf die Schrift in ihrer Materialität — eine kleine Medienkunde der Schrift gewissermaßen, an der sich die Produktivität all der Äußerlichkeiten feststellen läßt, die ein allein >sinnorientiertes< Lesen übersieht. 340 Wenn in den Lektüren des zweiten Teils (v. a. in Kap. II.8) im Zusammenhang mit der Arbeit des Schreibens für die Mikrogramme der Begriff der >TexturSchusterjungenHurenkindSchriftbilderTextur< verstehe ich das Ergebnis des individuellen Schreibprozesses, den Walsers

Mikrographie

darstellt: m i t Bleistift auf Papier aufgetragene, skizzierte >Schrift-BilderTexts< annehmen werden; andererseits aber in hohem M a ß ausgearbeitete sprachliche T e x t - O b j e k t e , denen man m i t d e m U r t e i l des U n f e r t i g e n und des Vorläufigen nicht g e recht w i r d . >TexturText< sein w i r d ; das, was (in seiner sprachlichen Gestalt) >Text< i m m e r schon gewesen sein w i r d .

sperren. Er bestimmt mit dem Begriff das >Gemachte< eines zeichenhaft-sprachlichen Gewebes, das »nicht mehr vorwiegend einer Aussage, einem >InhaltSemiosis< im Sinn Kristevas, soll selbstverständlich nicht als Einwand gegen seine äußerst anregende Untersuchung genommen werden; es hat lediglich die Aufgabe dieser spezifischen Abgrenzung zu meinen Interessen. Es ist äußerst schade, daß Baßlers Analysen sich ftir Walser — wohl aus Gründen synchronischer Vergleichbarkeit seines Literaturkorpus — auf Prosastücke der Bieler Zeit beschränkt; seine Versuche der Interpretation feuilletonistischer Schreibweisen (vgl. i 3 i f f . ) und einer Erweiterung poetologischer Lektüren (vgl. 1 4 1 - 1 4 8 ) wären bestimmt auch fur die Prosa der Berner Zeit in höchst ergiebigem Sinn weiterzuverfolgen, komplementär etwa zu den historisch-poetologischen Analysen von Peter Utz (vgl. Utz 1998, S. 2 9 5 - 3 6 8 ) zum Thema des Feuilleton-Schreibens.

139

II. Lektüren

6. Nachtseiten der Produktion »Die Löwen waren schläfrig, trag, das bemerkte man gleich; sie bekommen ihr regelmäßiges Essen. In der langandauernden Bewegungsunfreiheit entlöwen sich gleichsam, so nach meinem Dafürhalten, die Löwen. Gleichwohl sind sie gefährlich.« (>Aufsatz über LöwenbändigungNachtstück< präfiguriert scheinen.1 Ihre Figuren machen sich auf, den Raum schreibend zu durchmessen und poetologisch zu vermessen, der dort den Hintergrund fur die Beobachtungen eines »einsamen jungen Mann[es]« (16, 93) während seines nächtlichen Spaziergangs bildet: Er setzte sich den Hut auf den Kopf und ging hinunter, wo Nacht und Welt das Gleiche bedeuteten, wo alle Bedeutungen zu schlafen und zu träumen schienen, wo alles Große schlummerte, als möchte es gerne weiter und weiter schlummern oder als wolle es aufgeweckt und aufgestöbert sein, wie das Dornröschen, von dem anzunehmen ist, oder vielleicht angenommen werden darf, daß es sich mitten in seinem tiefen Schlafe nach dem Erwachen oder Gewecktwerden sehnte. Also lag alles Große und Lebendige wie in einen Schlummer gesunken da. Die einzeln brennenden Laternen, ob Gas oder ob Elektrisch, sahen wie Wächter des zarten Schlafes aus, und die Blätter, von einem leisen, liebevollen Nachtwind in Bewegung gesetzt, flüsterten und lispelten wie Wesen, die träumten und im Traume allerlei reizend-konfuses Zeug redeten. (16, 93f.) Der Spaziergänger, in dessen Wahrnehmungen die bekannte romantische Vorstellung vom Lied nachhallt, das in den Dingen schläft und nur darauf 1

Cf. dazu Greven 1966, S. 6ff.

141

wartet, von einer poetischen Seele geweckt zu werden, verzichtet allerdings auf alle Erweckungsversuche 2 zugunsten einer präzisen Beobachtung. Die Nacht, »das Herz der Welt«, bleibt still: »So still, wie freudevoll war die Nacht, die der Spaziergänger, in einer Anwandlung von Laune, jetzt seine, seine Nacht nannte« ( 1 6 , 95). A n stillen Menschengruppen vorbei und durch stille Straßen gelangt er am Schluß wieder in sein Zimmer zurück, aus dem ihn das »Ungewisse« ( 1 6 , 9 3 ) unter dem Versprechen eines metonymischen, die Grenze zwischen Spaziergang und Gedankengang verwischenden Treibens hinausgerissen hat. 3 Was die Nacht auszeichnet, ist ihre Funktion als Medium des Subtilen, der Nuance und als Schauplatz ihrer Schönheit — Schauplatz insofern, als daß darauf »nichts zu geschehen und stattzufinden braucht«, es »kaum noch einige Bewegungen gibt, die deshalb groß und bedeutsam sind, weil sie klein und spärlich an Zahl sind« und »die Ruhe die Unruhe überwältigt hat« ( 1 6 , 95). Sie öffnet damit einen Raum der Wahrnehmung und des Denkens mit fließenden Konturen, dessen vorübergehende Besetzung und Inbesitznahme auch den Spaziergänger den diesen bestimmenden Gesetzen unterwirft. 4 Walsers Poetik der Nacht fugt sich damit, so scheint es, nahtlos ein in die Umwertung des Motivs in Romantik und literarischer Moderne. Es bestimmt sie nicht mehr die Ambivalenz von reflexiver Andacht und Furcht, die angesichts der Abwesenheit des Lichts die Besinnung auf das

2 3

4

Sie werden etwa im Prosastück >Dornröschen< ( 1 9 1 6 ) beschrieben; vgl. 6, i8ff. »Er, der jetzt ging, fand Welt und Nacht göttlich schön, er vermochte an nichts zu denken, da alle Gedanken sich von ihm losgemacht hatten und in der Freiheit sich ergingen. Gedanken kamen auf ihn zu, er wollte sie anrühren, aber da gab es nicht viel anzurühren. Das zerlief und zerging, eh er es erhascht und gedacht hatte. [ . . . ] >Wenn ich nur in solcher Zaubernacht lustwandle*, sagte er sich, >so denke ich und bin voller schöner Gedanken, ja, bin der Gedanke selber, oder wenigstens ein Stück davon.« [ . . . ] So ging er dann, und ihm begegneten allerlei Leute oder unkenntliche Gestalten, weibliche und männliche, deren Augen er oft noch ein wenig unterscheiden konnte. Leise ging alles. [ . . . ] In Gedanken blieb der junge Mann stehen, und in Gedanken ging er wieder ein kleines Stück vorwärts« ( 1 6 , 94). Den gegen die Prosa der Bieler Zeit oft erhobenen Vorwurf des bloß Idyllischen — oder mit Walsers eigenen Worten: des >Hirtenbüebeligen< (vgl. Seelig 1 9 5 7 / 1 9 7 7 , S. 22) — wird man angesichts der konsequent metonymischen Struktur des Texts, die den von ihm beschriebenen Inhalt spiegelt, sowie der komplexen Licht-Dunkel-Metaphorik wohl auch gegen diesen Text kaum erheben können. Die Nacht der Romantik jedenfalls ist in diesem Prosastück nicht mehr wiederzufinden: Die »einzeln brennenden Laternen, ob Gas oder ob Elektrisch«, schreiben ihm gute 100 Jahre Beleuchtungsgeschichte der städtischen Nachtlandschaft ein, vor deren Hintergrund die Poesie der Nacht erst wieder erschrieben werden muß. Vgl. zur Geschichte der nächtlichen Illumination Schivelbusch 1983. Der Auffassung Grevens, es handle sich um ein zwar »hochbewußtes«, aber »äußerlich seltsam zeitfremdes [ . . . ] Sprachgebilde« (Greven 1966, S. 9), kann ich deshalb nicht zustimmen.

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wahre — und das heißt in der Regel göttliche — Licht einfordert,5 vielmehr wird die Nacht selbst zum privilegierten Bereich des Poetischen. Dies, indem sie die gewohnten Konturen, die das Licht der Aufklärung auf die Geheimnisse der Welt wirft, verwischt und so die Ordnungen des Denkens hin zu jenen poetischen Verfahrensweisen zu überschreiten sucht,6 welche die von ihnen gesetzten Grenzen so programmatisch wie provisorisch aufheben. Die Nacht ist in Walsers Texten jedoch weder Ort des Verbots und der Transgression, noch ein allumfassendes und irgendwie indifferentes Prinzip von Mütterlichkeit, Kosmogonie und ursprünglicher Geborgenheit,7 weder verfemter Teil noch Paradies, sondern ein poetischer Produktionsraum, in dem die Ambiguität der Figuren und Wirkungen (nicht ihre Abweichung vom >Normalen< oder das vom Diskurs Ausgeschlossene) zum Ausgangspunkt der Artikulation wird. Den »Federzug des Tags Ereignis« (Goethe), schwarz auf weiß, zeichnet die Nacht. Vor allem in den 20er Jahren erforscht Walsers Prosa die Gesetze dieser Nacht und ihrer Geschöpfe konsequent. Nicht nur der Nacht als solcher gilt die Aufmerksamkeit des Schreibens, sondern auch ihren Begleiterscheinungen: dem Schlaf, den Träumen, den Gespenstern. Nicht nur in nächtlichen Spaziergängen werden ihre Räume erkundet, sondern vor allem anderen schreibend und lesend ihre Manifestationen. So verändert sich in der Prosa der Berner Zeit das Feld der Konnotationen der >Nacht< mehr und mehr, es verliert noch die letzten Spuren eines romantischen Imaginationsraums als »selig[er] Schoß einer halbbesonnenen Selbstvergessenheit«,8 die Texte wie der eingangs zitierte noch vage erkennen lassen:

5

»Wird die sittliche Entwicklung des Menschen als ein erfolgreicher Kampf gegen die Nacht und die ihr innewohnenden Mächte des Bösen verstanden, so stellt Christus als die andere Sonne ein ewiges Licht in der Nacht dar. Somit weist jedoch die christliche Tradition der Nacht selbst wieder eine gegenläufige Funktion zu, denn in die Sphäre des Nächtlichen dringt nicht nur die böse Macht des Teufels sowie Gottes strafendes Handeln, sondern die Nacht kann auch die Geborgenheit einer Gottesnähe beinhalten.« Sie wird »Schauplatz religiöser Hingabe, göttlicher Offenbarungen, Erleuchtungen und Visionen« (Bronfen 1993, S. 369).

6

Vgl. Genette 1968, S. 154: »[L]a préférence accordée à la nuit n'est pas, comme elle le prétend, un choix licite et sanctifié par l'adhésion divine, mais au contraire un choix coupable, un parti pris de l'interdit, une transgression.« So etwa Greven: »Wie steht es nun aber mit der Nacht, die hier [im >Nachtstückangelesenen< Helden und Heldinnen in standardisierte Erzähl- und Handlungsmuster verstricken. 10 Noch die Nachtseiten dieser Nacht, die Heimsuchungen nächtlicher Wahrnehmungen durch das Unheimliche, lassen sich als literarische Topoi entziffern, die nur noch wenig Unheimliches mit sich zu bringen scheinen: » W i e machtlos bin ich nun schon wieder«, rief ich nicht allzu laut aus, indem mich eine »unbekannte Hand« aus dem Schlaf warf, der für uns ja etwas wie ein liebes, warmes, willkommengeheißenes Haus ist. Ich stand auf, nein, zuerst hörte ich unten auf der Straße Schritte, die ich so genau wie möglich beschreiben will. Diese Schritte, diese Tritte waren etwas höchst Seltsames. Indem ich nämlich erwachte, ließen sie sich sofort vernehmen, unmittelbar auf das Erwachen hin. [ . . . ] Man kann sich nichts Drolligeres, Lebensbejahenderes vorstellen als das Marschiertempo jenes unbekannten Wanderers oder Cherubs, der mir wie das »Geschöpf meines Schlafes« vorkommt, da er jedesmal zu wandern beginnt, sobald ich wach werde. [ . . . ] Ein »Doppelgänger«? Diese Frage stand plötzlich wie eine »Figur« vor mir. G a b es nicht einen bekannten Roman, der diesen Titel trug? Von wem dieser Roman wohl war? H m . ( 1 8 , 5 2 — 5 4 )

Damit kehren die »Klapperbeinchen« (19, 100) des Unheimlichen da wieder, wo nach Freud mit ihrem Auftauchen am ehesten zu rechnen ist: in »jen[er] Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.« 11 Im Prosastück >Der verlorene Sohn< beispielsweise tritt der unverkennbare Doppelgänger des >Räubers< aus dem Bleistiftgebiet an das Licht der lesenden Welt, um als »unvergleichlich[er] Unheimlich[er]« (19, 105) durch die nächtlichen Straßen zu ziehen und so das Erzählen vom angekündigten Gegenstand abzuhalten. Bis ins Detail werden dabei Episoden aus dem »Räuber-Roman« wiederholt, etwa die Kaffeelöffelchengeschichte,12 oder fortgeschrieben: Wenn der »Unheimliche« sich 9 10

11

12

Vgl. dazu Utz 1998, S. 3 5 8 - 3 6 8 . So etwa in >Die keusche Nacht< ( 1 9 2 5 ; 1 7 , 334fr.) oder in der >Mondscheingeschichte< ( 1 9 2 7 ; 19, 39off., vgl. B G 4, 40iff.), wo sich diese Verstrickungen in der Bleistiftversion mit einer Erzählreflexion überlagern; vgl. Kammer 1999. Freud 1 9 1 9 / 1 9 8 9 , IV, S. 244. - Es sei hier schon daraufhingewiesen, daß sich in Walsers Texten zwischen ca. 1 9 2 6 und 1928 einige tatsächlich >unheimliche< Episoden finden, die mit dem Verweis auf literarische Topoi allein nicht zu erklären sind. Vgl. unten den Abschnitt >GespensterDie schöne Nacht< wird angesichts all dieser Umbesetzungen die »Seele« des Schreibers nur mehr umfliegen »wie eine Philomele« (19, 87), die, ihrer Sprache beraubt, ihre Geschichte allein über den Umweg eines Gewebes, eines Texts noch erzählen kann. 6.2 Exkurs I. Philomele: der Text der Nacht Philomele, so weiß Hederichs >Gründliches mythologisches LexiconLexicon< an dieser Stelle die Rede vergeht: Prokne und Philomela setzen ihrem Gatten — beziehungsweise Vergewaltiger — Tereus den eigenen Sohn zum Mahl vor. 14 Vor dem Zorn des Getäuschten fliehend, verwandeln sich die Schwestern in eine Schwalbe und eine Nachtigall, verwandelt sich Tereus selbst in einen Wiedehopf. 15

13 14

15

in Gebrauch gehabt hatte« (19, 106). - Die Überschneidungen zwischen dem >RäuberMetamorphosen< erwähnt im Zusammenhang mit der Verwandlung der beiden Frauen nicht einmal die Vogelnamen. 16 Das »Deutsche Wörterbuchs verzeichnet unter dem Eintrag >Philomele< ein Leihwort aus dem Französischen — »philomèle« —, das, so Grimm und entgegen der einschlägigen griechischen Lexikographie, aber wohl aufgrund einer naheliegenden, wenn auch »offensichtlich falsch[en] Etymologie«, 17 auf »griech. philoméla nachtigall« zurückgehe. 18 Und wie das Wörterbuch, so die Dichter: Philomele Dich hat Amor gewiß, o Sängerin, futternd erzogen; Kindisch reichte der Gott dir mit dem Pfeile die Kost. So, durchdrungen von G i f t die harmlosathmende Kehle, Trifft mit der Liebe Gewalt nun Philomele das Herz. 1 9

Diese produktive Rezeption nimmt eine doppelte Reduktion der Figur vor: erstens fällt die in der Überlieferung angelegte Ambiguität der Zuordnung innerhalb der Doppelmetamorphose weg, zweitens und darauf basierend wird die mythische Vorgeschichte ausgestrichen. Die ihrer stimmlichen Artikulationsfähigkeit beraubte und allein noch über den Umweg der Zeichenschrift kommunizierende Philomele, die nach ihrer Metamorphose über eben diesen Verlust der Stimme zu klagen vermag, wird zu Amors Medium, zu seinem Stimme gewordenen Pfeil. 20 Philomele bietet sich jedoch, gesteht man ihr ihre mythologische Geschichte wieder zu, als eine treffende Allegorie jener Poetik der Nacht an, die Walser entwirft. Ihres unmittelbaren Sprechens beraubt, artikuliert sie sich nur über und in Texte(n); sie wird zum Paradigma einer Geschichte der Enteignung, deren Umstände in einer anderen Form artikuliert werden 16

17 18 19 20

Noch in Zedlers >Universal-Lexicon< bleibt diese Ungewißheit erhalten: »Bey alle dem aber sind die Auetores insonderheit nicht einig, in was fiir einen Vogel eigentlich eine jede Schwester verwandelt worden. Denn da einige bemeldeter massen wollen, daß Procne in eine Nachtigall, die Philomela aber in eine Schwalbe verwandelt worden; so kehren es andere um, und wollen, daß die Philomela in eine Nachtigall, die Procne aber in eine Schwalbe verwandelt worden sey« (Zedier 1 7 3 1 - 5 0 / 1 9 6 1 - 6 4 , X X V I I , Sp. i99of.). Coppel 1 9 8 5 , S. 4 2 1 . Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , XIII, Sp. 1829. Goethe 1 7 8 5 / 1 8 8 7 - 1 9 1 2 , II, S. 128. Vgl. zu diesen Metamorphosen der Metamorphose in der neulateinischen, italienischen und englischen Literatur Gutwirth 1982; Coppel 1985; Hume Lutton 1988.

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müssen: »Die Nacht, die mich wunderbar umgab, umflog meine Seele wie eine Philomele« ( 1 9 , 87). Es singt nicht mehr die Nachtigall, sondern die Nacht stellt einen Artikulationsraum und eine Artikulationsform zur Verfügung, in dem Texte miteinander »verflocht[en]« ( 1 9 , 88) werden — und in denen selbst die Artikulation der Wahrheit, welche die Webarbeit Philomeles buchstäblich entzifferbar macht, problematisch erscheint: »Gehöre ich zu den wahrheitsliebenden Berichterstattern oder nicht? Ich will in diese Frage wie in einen knusprigen Kuchen hineinbeißen und als Antwort vorbringen, daß ich beispielsweise über das Wetter nie eine Silbe verliere« (19, 87). Letzteres allerdings ist in der >Schönen NachtAutonomie< von Walsers Prosa,

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Schiebungen sind jedoch nur der sprachlich radikalste Ausdruck einer Poetologie, die sich um die Produktionsmetaphorik von Schlaf und Wachen entspinnt. >Schlaf< erhält darin die Funktion eines reflektierten Produktionsprinzips, das die Grundstruktur des sprachlichen

Zeichensystems

ebenso umfaßt wie die >Umweltbedingungen< der Schreiber-Figurationen und das Archiv des schon Geschriebenen, Gelesenen, Gesehenen, Gehörten. Aufgrund seiner Komplexität läßt sich dieses Grundmodell kaum als eindeutige Beziehung zwischen isolierbaren Einzeldiskursen beschreiben; die semantischen Zuordnungen, welche die Texte im metaphorischen Feld des >Schlafs< treffen, sind dafiir schlicht zu heterogen. Diese Heterogenität verleitet oft genug dazu, sie in der formalen Abstraktion des Paradoxons oder der Figur des Oxymorons zu beschreiben. Darauf wird die vorliegende Lektüre insofern verzichten, als sie versucht, ein poetologisches Programm zu entziffern, das sich dann an den Texten und den Vorgängen ihrer Entstehung prüfend zu bestätigen und zu korrigieren hat und sich deshalb mit diesen — in ihrer Relevanz fur das Verständnis der Sprache als Kommunikationsmittel nicht bestrittenen — Schematisierungen nicht zufrieden geben kann. 2 4 Vielmehr schafft die Ambiguität der paradigmatischen Besetdie er als einer der ersten erkannt hat — vgl. Siegrist 1967 —, folgendermaßen zusammen: »Walser war davon überzeugt, daß sein Schreiben in der Berner Zeit einen Fortschritt gegenüber früher bedeutete [...]. Tatsächlich kann man einen Entwicklungs-, ja Radikalisierungsprozeß beobachten: Walser trieb sein Schreiben in jene Richtung weiter, die ihm von Anbeginn an innewohnte, aber erst jetzt zu ihrer eigentlichen Ausprägung fand, bis hin zur Brüskierung der Lesererwartungen und zur Verweigerung der Rücksicht auf traditionelle Gattungsanforderungen. [...] Walser konstituiert derart eine artistische Sprachwelt von eigener Gültigkeit, einen poetischen Kosmos von autonomer Gesetzlichkeit; er schafft im Akt des Schreibens eine neue Wirklichkeit. Derlei Artistik waren nur wenige Zeitgenossen bereit und imstande wahrzunehmen, und es hat Jahrzehnte gedauert, bis die Erkenntnis sich durchsetzte, daß Walser in den Bieler und Berner Jahren seine poetische Welt sowohl erweitert wie radikalisiert hat (und nicht etwa in krankhaften Manierismus abgeglitten ist)« (Siegrist 1991, S. 64ft.). 24

Die Zuschreibungen von Paradoxität - stellvertretend etwa bei Cardinal 1982, die unter diesem Aspekt, allerdings nur kursorisch, auch auf die Schlaf—Wachen—Thematik zu sprechen kommt; vgl. S. 32 u. ç,off. - gehen zwangsläufig von einer konventionalistischen oder formalen Sprach- und Bedeutungstheorie aus, deren nur beschränkte Fruchtbarkeit für die Analyse poetischer Texte kaum abzustreiten ist (vgl. Hörisch 1999, S. 62: »Die Sprache der Literatur [...] besteht nicht aus Propositionen, die irgendeinem wie immer auch zu definierenden Adäquatheitskriterium, sondern nur einem Stimmigkeitskriterium unterliegen.«). So auch Cardinal: Sie unterscheidet zunächst Zweideutigkeit, die dann gegeben sei, wenn sich in einem Text aufgrund seiner semantischen/syntaktischen Gestalt (mindestens) zwei gleichwertige Lektüremöglichkeiten ergeben und unentscheidbar ist, welche von ihnen die >richtige< sei, und Ambivalenz, in der sich zwei widersprüchliche Deutungsangebote gegenseitig negieren, was zu einem »pregnant vacuum« fuhrt, welches zur Figur des Paradoxons transzendiert werden kann. Diese erscheine so als ein Sprachspiel, in dem etwas Neues und Subtileres ausgesagt werden kann, als es konventionell logische Denk- und Sprachverfahren ermöglichen. Das Paradox

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zungen der Metapher des Schlafs und der ausgehend von ihnen gebildeten Komplementär- und Gegensatzpaare ein semantisches Feld, das von daran anschließenden Entgegensetzungen wie beispielsweise Bewußtsein—Unbewußtes oder Lesen-Schreiben begrenzt, aber nicht bestimmt wird und in dem jene Produktionsmetaphern ihren Spielraum finden. Dieses Oszillieren führt nicht selten dazu, daß die metaphorischen Besetzungen die Gegensätzlichkeit der ihnen zugrundeliegenden Wortbedeutung zu überwinden beginnen. So findet zum Beispiel im Prosastück »Das Parlament (1926) die >schläfrige< Rezeptionshaltung der Ich-Figur ihr Komplement in der >belebenden< Produktivität, die durch den Abzug der Aufmerksamkeit von der Szene des Texts erst ermöglicht wird und die einen intertextuellen Verweiszusammenhang in Gang setzt, der auf diesem Umweg wieder zu ihr zurückführt. Vom Platz »auf einer Galerie« blickt das Text-Ich auf die Figuren der Herren Räte herab, die sich zum Teil auf ihren Plätzen mit Notieren befassen oder mit Lesen von allerhand beschriebenen oder bedruckten Papieren. Z u m Teil scheinen sie tiefgedankenvoll; anderenteils findet es vielleicht der oder jener fur üblich oder für vorteilhaft oder fiir passend und angezeigt, möglichst wenig bei »allem dem« zu denken. Einen Herrn grüßend, der sich gleich mir in die Assemblée einfand, erhebt sich unten die Gestalt eines Herrn vorgerückten Alters, und fängt zu sprechen an, und nach einer Minute belebt mich die Gewißheit, daß er zu verzichten scheint, großen Eindruck zu machen; er verhielt sich rednerisch gewissermaßen so, daß man beim Aufmerksamsein leise einnickte. Im ganzen Hause machte sich eine nicht zu leugnende Schläfrigkeit geltend. Unwillkürlich reiste ich gedanklich geschicht-rückwärts und stattete Rednern von Ruf und Begabung, wie z . B . Mirabeau, geistig einen kurzen Besuch ab. Erwähnter war ja ein vom Schicksal zu Regengüssen des Redens Erkorener. Seine A r t zu sprechen besaß jeweilen die größte Platzregenähnlichkeit. Seine Ansprachen glichen Gewittern; er hat oft eher geblitzt und gedonnert als bloß gesäuselt und gesprochen. ( 1 7 , i o j f . )

Die schläfrige Gedankenflucht fuhrt somit die Ich-Instanz des Texts zu Kleists >Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden Leben/Lesen< als expliziter Gegenentwurf zu den Irrungen gesetzt, die der Fortgang des Texts um »Nationenproblem« und »Minotauros« entspinnt. 49 Die »gewisse Sorte von Schlaf«, die das >Leben/Lesen< in Texten voraussetzt, ist dabei »eventuell lebendiger als das Leben selber.« Der Text entwirft hier also einen Antagonismus von Schlaf und Wachen und gleichzeitig eine Umbesetzung der damit gemeinhin verbundenen Vorstellungen: Künstlerische Produktion ist das Ergebnis einer >gewissen Sorte von Schlafvita activa< und von der Zeitgenossenschaft nach sich zieht, ja voraussetzen muß, um sich als Produktion behaupten zu können. Erst die Ungestörtheit von Anforderungen dieser Zeitgenossenschaft ermöglicht die Hingabe an die Form von »Leben und Denken«, aus der die Tätigkeit des »Schriftsteller[s] und Liebhaber[s] von Schriften« sich entfalten kann mit dem Risiko, seiner Umwelt als »Idiot« zu erscheinen; Idiot im etymologischen Sinn als einer, der in seiner Eigentümlichkeit fur sich allein handelt und sich so den Anforderungen der >koine< entzieht, 50 indem ihr entspringende Zumutungen — hier Frauen und das Nationenproblem — systematisch >kaltgestellt< werden, da sie die künstlerische >vita contemplativa< einzuschläfern drohen. Allerdings ist der Text nicht so naiv, vorzugeben, eine derart eskapistische Poetik sei sein Eigenstes. Die literarische Tradition eines solchen >Idiotismusses< wird mit dem »Taugenichts« explizit benannt. Selbst die Durchführbarkeit dieses poetischen Programms wird vom Text wenn nicht bestritten, so zumindest unterlaufen, indem er eigentlich andauernd von den Gegenständen handelt, von denen er gerade nicht sprechen will; er weiß: »Was nicht anwesend ist, ist es manchmal gerade dadurch sehr« (20, 49). Das »bischen Glück«, das die »Distanz zur Nation« für diese Form des >Lebens< bedeu49

Z u beachten sind dabei auch die wiederholten Verweise auf den »Idiotismus«, den schon die Reflexion über dieses Problem voraussetzt, indem dabei »Millionen von Menschen durch das womöglich hiedurch stark belastete Gehirn« laufen anstatt Texten. Minotauros wird zum »Hornochsen«. V g l . dazu U t z 1 9 9 8 , S. 3 8 5 Í . — Hier würde, scheint mir, die Interpretation also — bezüglich der Leser-Figur und nicht, was seine Analogisierung zu einem »mythischen Kommunikationsmodell« betrifft — zutreffen, die Schmeling vom Schlußsatz des >Minotauros< gibt, und die es für die Tintenabschrift zu relativieren galt: »Thematisiert wird das Verhältnis zwischen Produktion und Rezeption oder, um im Bild zu bleiben, das W e r k als Labyrinth, in das der Leser eingeschlossen ist. Die Metapher, die Walser als Bild fur die Vereinigung irrationaler (Unbewußtheit) und rationaler Vorgänge auffaßt (Arbeit am Werk), besagt nicht nur, daß der Text ein Labyrinth sei und der Rezipient eine theseushafte Natur, sondern durch Analogie-Schluß erhalten wir ein zwar einfaches, aber komplettes mythisches Kommunikationsmodell, das den Vergleich zwischen dem Schriftsteller-Ich und der legendären Daidalos-Gestalt mit einschließt« (Schmeling 1 9 8 7 , S. 226f.).

50

V g l . die Art.

>ΐδΐος
κοινός
konventionelle< Besetzung als höchst problematische herausgestellt. An der Stelle der Ambiguität erscheint also ein Antagonismus, der den Zugang zur Textwelt zu einer Grenzübertretung in ein Labyrinth erklärt, aus dem nur herausgefunden haben wird, wer deren Regeln akzeptiert: [...] und ich halte, was ich hier schrieb, was mir aus Wissen und Unwissenheit entstand, was der Unsagbare sagen ließ, für ein Labyrinth und jeder Leser gliche ja dann einem Theseus, der durch in dies Ausgesprochene hineintrat ging, durch die Seltsamkeiten irrte, als welches ihm manches, was ich vielleicht total ungesagt seif» ließ, berührte, und wenn er sich einigermaßen mit de»>m wunderlichen Sätzen Unverstandenen einverstanden erklären konnte, glücklich ans Licht trat.

Die Abschrift nun schreibt diesen Zusammenhang so um, daß vom stark besetzten Antagonismus nur noch ein irritierendes Oszillieren bleibt. Mit einer Ausnahme allerdings: mit der Theseus-Rolle des Lesers verhält es sich genau umgekehrt. Denn die Abgründigkeit des Mikrogramm-Schlusses kontrastiert in derart hohem Maß mit der Geschlossenheit der Prosastückabschrift, daß man in diesem Fall tatsächlich von zwei verschieden komplexen labyrinthischen Ordnungen sprechen kann. Gleicht hier »jeder Leser [...] einem Theseus«, dann weniger, weil er das, was geschrieben steht, für ein Labyrinth halten muß, auch wenn das Text-Ich hier weitaus entschiedener an dieser Beschreibung festhält. Vielmehr sind es die »Selt51

Cf. dazu Schweiger 1996, S. loof. — Schweiger moniert zurecht das Ausblenden der Dimension des Erotischen in den kulturkritischen Interpretationen des >MinotaurosVölkischem< kann uns Greven nicht erläutern, somit ist er dem Minotauros zum Opfer gefallen« (100). Ob ihre Analogisierung des Vermeidens des Minotauros mit dem der »Macht des Erotischen« ( 1 0 1 ) diese Interpretationslücke füllen kann, sei dahingestellt; zuzustimmen ist ihr allerdings bei der Nachzeichnung des Spiels von Absenz und Präsenz als poetologisches Modell des Textes: »Indem der Erzähler betont, diesmal die >Mädels< nicht miteinzubeziehen, hält er sie dennoch präsent, und wir freuen uns, ohne den Erzähler, daß >dies hier< doch noch ein >Seidenstrumpfaufsatz« geworden ist. Der Fetisch Seidenstrumpf steht hier als Chiffre fur die Anwesenheit der Abwesenheit. Der Text wird zum Seidenstrumpf, der gleichzeitig enthüllend und verhüllend ist« ( 1 0 1 ) .

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samkeiten« des Ungesagten, die fur den Effekt der Irritation verantwortlich sind und jeden Leser zu affizieren drohen. In diesem Irrgarten bilden die >wundcrlichcn Sätzc< des Geschriebenen den roten Faden, dem jeder Leser, von oben links nach unten rechts, in seiner schieren Materialität und im Verzicht auf jedes hermeneutische Begehren zu folgen hat — Einverständnis, nicht Verständnis ist gefragt. Das Ende der Lektüre fällt, nur dann, mit dem Ende der Nacht zusammen: Der Leser tritt am Ende des Textes, der in völliger Kongruenz das abbildet, was er aussagt, »ans Licht«. In der schreibenden Lektüre des >Abschreibesystems< nun bleibt das Ungesagte ungesagt. Ein Abglanz seiner Bedrohlichkeit wird als Warnzeichen vor den Text gesetzt — >Minotauros< — und die Heldenhaftigkeit jeder weiteren Lektüre angesichts der gemeisterten Herausforderung der ersten relativiert. Kann damit das Labyrinth — mit den erwähnten Vorbehalten — als eine Struktur- und Rezeptionsmetapher gelesen werden, 52 so bildet der Schlaf, primär unabhängig davon und vor deren Setzung, eine Produktionsmetapher für die schriftstellerische Tätigkeit. 53 Sowohl im Bleistifttext wie in der Tintenabschrift des Prosastücks wird am Gegensatz von Schlaf und Wachen als Ausgangspunkt der Schreibszene festgehalten. Doch die >starke< inhaltliche Besetzung des Mikrogramms verschiebt sich in der Abschrift in den Bereich des Ambivalenten, Angedeuteten. Wird im Mikrogramm die Nützlichkeit dieser »gewissen Sorte von Schlaf« hervorgehoben, »weil er ein Leben bedeutet, das eventuell lebendiger ist als das Leben selber« — was im Rekurs auf den Anfang als Gegenbesetzung des 52

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Eco bezeichnet in diesem Sinn das Labyrinth als »abstraktes Modell der Vermutung« (Eco 1983/1984, S. 64). Natürlich lassen sich die Wurzeln dieser Metaphorik — ebenso wie die Figur des >Taugenichts< - wiederum in die Romantik zurückverfolgen. Ihre Aktualisierung wäre aber ohne die Differenz zu vernachlässigen, welche die Verschiebung des Akzents auf die (textproduzierende) Tätigkeit mit sich bringt; es handelt sich keineswegs um eine Aufwertung des Schlafs aus dem Grund, daß das Subjekt dabei näher zu einer Poesie der Natur und zu seiner natürlichen Poesie kommt, wie es etwa Schlegels >Lucinde< formuliert: »Mit dem äußersten Unwillen dachte ich nun an die schlechten Menschen, welche den Schlaf vom Leben subtrahieren wollen. Sie haben wahrscheinlich nie geschlafen, und auch nie gelebt. Warum sind denn die Götter Götter, als weil sie mit Bewußtsein und Absicht nichts tun, weil sie das verstehen und Meister darin sind? Und wie streben die Dichter, die Weisen und die Heiligen auch darin den Göttern ähnlich zu werden! Wie wetteifern sie im Lobe der Einsamkeit, der Muße, und einer liberalen Sorglosigkeit und Untätigkeit! Und mit großem Recht: denn alles Gute und Schöne ist schon da und erhält sich durch seine eigne Kraft« (Schlegel 1799/19580*., V, S. 26). Von dieser Unmittelbarkeit ästhetisch-moralischer Erfahrung ist der >Schlafverschlingenden^ oral konnotierten A k t , 5 5 dessen Wirkung aber auf diese Ereignishaftigkeit beschränkt bleibt. Über das erste Buch kann wenig mehr ausgesagt werden, als eben der fesselnde Umstand, daß es interessant ist; es erschöpft sich im Akt der Lektüre und bleibt, wie ein geleertes Glas, »ausgelesen« zurück: »Ich lege in diesen Zeilen mit Freimut dar, wie mich ein interessantes Buch nicht ruhen ließ, bis ich es ausgelesen hatte, weil eine eigentümliche Romantik in ihm lebte, die ja an sich etwas billig sein mag, die aber nichtsdestoweniger stark auf mich einwirkte« ( 1 8 , 225). Es sind die Reste dieses Leseverhaltens, die in Walsers Texten als »Angelesenes« ( B G 1 , 1 0 1 ) wiederkehren und den Referenzspielen — mit »Bahnhofhallenbüchlein« (20, 3 1 4 ) und »Dreißigcentimesbändchen« (8, 64) — zahlreicher Prosastücke der Berner Zeit zugrunde liegen: 5 6 »Ich lese ungefähr so, als äße ich etwas überaus Mundendes, was womöglich etwas materialistisch gesprochen sein dürfte, wodurch ich mich aber durch mich selbst nicht verunfeinert sehe, da flir mein bescheidenes Empfinden Spirituelles und Greifbares ineinander verwoben sind« (20, 302). Das zweite Buch transzendiert die mehrfach >materielle< Gebundenheit der Lektüre. Nicht das fesselnde und verzehrende Interesse an Inhalten ist

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»Das erste Buch las ich, wie schon gesagt, so g u t wie in einem einzigen Z u g , d. h. ich trank, schlürfte, verschlang es förmlich, so sehr fesselte es m i c h « ( 1 8 , 2 2 3 ) . — V g l . dazu — mit zahlreichen weiteren Verweisen zu dieser Thematik — Roser 1 9 9 4 , S. 8 0 — 9 7 .

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Fuchs 1 9 9 3 weist überzeugend auf diesen >oralen< Aspekt des »Anlesens« hin, wenn sie feststellt, daß die »Wortbildung von >anlesen< bewußt an >trinken< und >angetrunken< an[spiele]«, worauf auch die Bezeichnung des »Ich in spielerisch-witziger Analogie zum Gewohnheitstrinker als >Gewohnheitsanleser< [ B G 1 , 1 0 2 ] « abziele ( ι ο γ ί . ) . Peter U t z hat unter medialen Gesichtspunkten überzeugend auf den Zusammenhang zwischen diesem Verfahren und dem Feuilletonismus hingewiesen: »Jenes >Anlesenzerstreuender< Zeitschriftenlektüre ein punktuelles Pflücken von Stoffen, Motiven, aber auch einzelnen Begriffen, ohne den Anspruch auf eine umfassende Auseinandersetzung mit der Vorlage und ohne Herstellung einer tiefergehenden intertextuellen Beziehung. Der Feuilletonist n i m m t sich das Recht heraus, fremde Texte genau so oberflächlich zu lesen, wie seine eigenen Texte im Normalfall gelesen werden« (Utz 1 9 9 8 , S. 3 4 1 ) . — Das Prinzip des »Anlesens« ist nicht auf inhaltliche Erzählmodelle beschränkt; so können auch illustrierte Buchdeckel zum Movens des Schreibens werden: Walsers Form des U m gangs mit »Litho-Literatur« (Foucault 1 9 7 8 / 1 9 9 4 , S. 5 0 1 ) . Cf. etwa 1 7 , 3 4 o f f . ; B G 4 6 f . und -

in die Erzählung eines Prosastücks verwoben -

B G 4, 149fr.

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1,

am Werk, die das Lesen an die Augenblicklichkeit des Genießens bindet, sondern eine zeitlose und -vergessene Form der Bezauberung und der Hingerissenheit: Als ein Meisterwerk erscheint mir ein Buch, das vor allem die Eigenschaft hat, daß es dem Wandel der Mode, der Zeit standhält, daß es sich mit seines Inhaltes, seines Geistes Vorzüglichkeiten gleichsam sieghaft durchsetzt. Ein Meisterwerk weckt sowohl erstens Rührung, als es zweitens dem guten Geschmack zu keiner Zeit Mühe verursacht, sich mit ihm zu befassen. Natürlich kann man Meisterhaftigkeit auch noch anders definieren. Solch ein Buch besitzt etwas wie eine hypnotische Kraft; es hat Leute bezaubert, die anders aufzutreten, anders zu denken gewöhnt gewesen sind als wir, und es bezaubert nun auch uns Lebende, Moderne. [ . . . ] A u f dem zweiten Buch, nämlich auf dem Meisterwerk, lag ich wie in einer A r t Hängematte, so schön, leicht faßlich, einschmeichelnd war es geschrieben, in einem so ohne weiteres überzeugenden Ton schien es mir abgefaßt. ( 1 8 , 2 2 2 - 2 2 4 )

Dieses Verhältnis zwischen Text und Leser übersetzt nicht nur jene permanente Aktualität in den Vorgang der Lektüre, die »Meisterwerke« oder eben >Klassiker< im Kanon literarischer Wertung auszeichnen soll. Der Akzent der Leseerfahrung wird von der »Unverwelklichkeit« (18, 225) des Texts verschoben auf die Leichtigkeit seiner Aneignung: »Es gibt eben Bücher, die dadurch, daß sie wie spielend gedichtet zu sein scheinen, und daß sie wie spielend genossen, >bewältigt< werden können, nichts an Wert einbüßen, und vielleicht habe ich mit dieser Anspielung das Bezeichnende der Meisterleistung ausgesprochen« (18, 224). Die Lektüre als Spiel, deren Reproduktion in der »Anspielung« besteht, bezeichnet somit jene Relation zwischen Rezipient und Buch, bei der keiner der beiden Teile den Rezeptionsvorgang dominiert. Lesen ist kein Aufflammen eines Begehrens, das sich seinen Gegenstand rauschhaft einverleibt und ihn dadurch zerstört. Es stellt den wiederholbaren Vorgang einer die Zeitgebundenheit des Lektüreakts suspendierenden Text-Lust dar, deren Faszination in ihrer »hypnotisch[en] Kraft« (18, 223) liegt. Die produktiven Aneignungs- und >EntstellungsRealität< nicht an einem positivistischen Wahrheitsverständnis gemessen werden kann.« 57 Zu dieser Art der anspielenden Entstellung gehört etwa auch ein Prosastück wie >Ein Dramatiken (19, 26iff.), erschienen im Morgenblatt der 57

Keutel 1989, S. 4 1 . - Z u Walsers Dichterporträts resp. zur Intertextualität von Walsers Texten vgl. neben den zahlreichen Einzelbeitragen in Chiarini/Zimmermann 1987 und Hinz/Horst 1992 auch Böschenstein 1 9 8 3 sowie die Beiträge in Borchmeyer 1999.

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frankfurter Zeitung* vom 4. April 1 9 2 7 ; ein unbenanntes, aber unschwer identifizierbares Büchner->Porträtwahre< und nun namentlich genannte >sujet< von Walsers Ausführungen wird Büchner gegen diese Art der Fiktionalisierung verteidigt. 58 Die Redaktion gibt Walser am 22. Mai 1 9 2 7 ebenfalls eine Möglichkeit zur Entgegnung, mit der er sich souverän gegen diese Art von Wahrhaftigkeitsanspruch wendet: Ich erblickte an der Litfaßsäule eine Ankündigung, daß Büchners »Leonce und Lena< aufgeführt würde, und da überkam mich mit einmal die Lust, über Büchner etwas zu sagen, aber diese Essaylust verwandelte sich, indem ich an die Arbeit schritt, in eine Gedichtherstellungslust, indem ich nämlich in der Tat den >Dramatiker< mit Ihrer geschätzten Erlaubnis für ein Gedicht in Prosa halte, in welcher inneren Stellung mich der Herr Erwiderer nicht recht erfaßt zu haben scheint, was ich ihm natürlich keineswegs übelnehme. [...] Der Aufsatz, den Sie die Freundlichkeit besaßen, abzudrucken, stelle lediglich etwas wie eine phantasiehafte, kleine, kurze, dünne, schlanke, nervöse, gesunde, kecke, zaghafte Erzählung dar, fing ich während der Niederschrift an zu merken, und der vortreffliche Büchner wurde mir ganz einfach nur eine Art Modell, nur Halt, eine Imagination, woran ich mich vorübergehend festhielt. Da ich nur phantasierte, klavierspielte usw., so fiel fur mich von Anfang jede Verpflichtung weg, Richtigkeiten, Zutreffendes auszusprechen, ich brauchte vielmehr bloß dafür zu sorgen, daß ich mich von der Möglichkeit, d. h. von ihrem Veranlassunggeben fernhielt, man könne irgendwie meine Vorlage, d.h. mein Modell feststellen. Die Leser, so sprach es in mir, würden mit Leichtigkeit das Novellistische meines anscheinenden Essays spüren und mir infolgedessen jede Freiheit, jede poetische Zwanglosigkeit gönnen und gewähren, insofern sie wahrnehmen könnten, ich triebe mit der Freiheit nicht Mißbrauch. Anwesend war ich bei der Vorstellung nicht, obwohl mir beliebte, zu sagen, ich sei mit dabei gewesen. Als Poet hatte ich doch schlankweg das Recht hierzu, denn wenn ein prosaschreibender Poet >lügtGelogenen< besteht ja gerade das Leben, das er im Flug des ihn umarmenden befruchtenden Gedankens kreiert. Die Erwiderung des Herrn Erwiderers ist durchaus vernünftig; das nicht ganz Geschickte, Passende darin ist nur darin zu suchen, daß er auf eine Lustigkeit nicht lustig antwortet, denn Sie, sehr verehrter Herr, zweifeln doch wohl keine Minute lang daran, daß,

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»Ein Dramatiker? Und zwar ein kränklicher, höchst unlustiger, über und über gefühlvoller, zu vielerlei ganz unpassenden Lyrismen neigender, der nicht im geringsten Theatraliker ist? Es mag angenehm sein, mit solchem Urteil gegen den Strom einer fest zu einheitlichem Empfinden gelangten literarischen Meinung zu schwimmen. Aber bis zur Quelle des Stroms muß man gelangen, will man überzeugen können. [ . . . ] Z u vornehm, sensibel, nervös, philosophisch, um die Bühne beherrschen zu können? Nein, wir wissen, daß diese Kraft, nehmt alles nur in allem, sich auswirkt, lebendig auch auf der Bühne, sind darum wenig gerührt über den frühen Tod. Wir wissen, daß der Strom nicht versandet ist, gegen den zu schwimmen angenehm sein mag, auch wenn es nicht überzeugt hat« (Heymann 1 9 2 7 , S. 2).

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wenn ich seriös, sachgemäß, analysierend über Büchner hätte schreiben wollen, was nicht meine Intention war, der Versuch einen ganz andern Anblick erhalten hätte, er dann nicht mit dem Charakter einer Teppichweberei, eines Spiels mit Worten, von etwas Mosaikartigem an Ihre werte Adresse adressiert worden wäre. ( 1 9 , 4Ó8f.)

Einer spielerischen Anverwandlung vermeintlich referentieller Gehalte in Prosastücke ist >vernünftige< Kritik nicht gewachsen — für die »Teppichweberei« von Walsers kleinen Erzählungen gelten Klassiker, wie auch alle anderen Texte, nicht als Gegenstand, über den (wahr) zu sprechen wäre, sondern als Fundus von Sprachspielen, der zur Grundlage der Textualisierungen wird. 5 9 Während die Praxis des »Anlesens« Narrationen eines kollektiven und anonymen literarischen Imaginären als eben solche aufzeigt und parodiert, 00 verfolgt der spielerische und anspielende Umgang mit Texten eine andere Strategie: den Wiedereintritt gesicherter Daten in den Bereich des Fiktiven, »als ob ihm alles nur dichterisch zugänglich wäre. [ . . . ] Alle Wirklichkeit wird schon ästhetisch, in der geraubten Distanz erfahren.« 01 Doch beschränkt sich Walsers Lektürebericht nicht auf diese beiden antagonistischen Formen des Lesens. Es tritt eine dritte Art des Verhältnisses zum Text auf, die in sich widersprüchlich scheint: Zwar beschäftigt sich das Ich des Prosastücks mit dem dritten Buch »am eingehendsten«, erlaubt sich sogleich, »zu beteuern oder auch bloß die Bemerkung zu machen, dieses habe einen ausgezeichneten Eindruck auf mich gemacht, wobei ich gleich von Anfang an das Bekenntnis ablegen zu dürfen meine, des Buches Vortrefflichkeit hätte mich beinahe einzuschläfern, gähnen zu machen, zu ermüden vermocht« ( 1 8 , 223). Die >schläfrige< Rezeptionshaltung ist jedoch gleichzeitig die »nachhaltigste« ( 1 8 , 225). Sie erst ermöglicht die »Arbeit des Lesens« ( 1 8 , 224), die sich, folgt man den Ausführungen Walsers, äquivalent zur Arbeit des Schreibens verhält: Ich glaubte, ich täte gut, nachdrücklich auf ein Buch hinzuweisen, das ich mit Mühe las, dessen Lektüre mich gleichsam zappeln ließ. Ein nicht sehr unterhaltsames Buch gewährte mir vielleicht seiner Exaktheit, das heißt seines Zeitgeistes wegen die nachhaltigste Unterhaltung, und wenn man mir gestattet, noch etwas beizufügen, so fordere ich die Leser gegenüber dem, was sie lesen, gewissermaßen zur Nachsicht auf und lade sie ein, lesen zu — — lernen. (18, 225)

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»Die > Wahrheit < kann [ . . . ] kein Kriterium darstellen, da es innerhalb der Fiktion nur die >Wahrheit< des Textes gibt; diese Wahrheit wird allerdings außerhalb der Literatur prinzipiell als Lüge verdächtigt« (Keutel 1989, S. 39). Vgl. auch Fuchs 1993, S. 97. Zum parodistischen Verfahren von Walsers Umgang mit >Trivialliteratur< vgl. Fuchs 1993, S. I03ÍF. Henzler 1992, S. 5 1 .

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N i c h t nur wiederholt die S c h l u ß b e m e r k u n g des Prosastücks beinahe w ö r t lich, doch in ungleich bescheidenerem Gestus, die Leseanweisung

von

Nietzsches Vorrede zur >MorgenrötheRück- und Vorsicht< ist die » N a c h s i c h t « getreten. A u f f ä l l i g ist hier vor allem, daß die V e r b i n d u n g von L u s t , M ü h e und L a n g s a m k e i t auf der Seite der R e z e p tion, die diese schläfrige A u f m e r k s a m k e i t ermöglicht, auf der Produktionsseite seine Entsprechung findet in den Beschreibungen von Walsers B l e i stiftarbeit sowohl i m Brief an M a x R y c h n e r w i e in der > B l e i s t i f t s k i z z e ^ 0 3 D o c h nicht allein die Schläfrigkeit einer Rezeptionshaltung und das produktive G e g e n s t ü c k einer besinnlich-träumerischen A r b e i t sind aneinander gebunden, nicht nur inhaltliche V e r k n ü p f u n g e n koppeln die Szene der N a c h t an die des Schreibens, diese Arbeitsweise ist auch eine Frage des >Stils< — verstanden als F o r m literarischen A u s d r u c k s ebenso w i e als »Schreibgerät« : Ö 4 Italianismen usw. scheinen mir selbstverständlich in einem Prosastück, das ein untersuchendes, prüfendes, tastendes, ganz auf feinster Aufmerksamkeit beruhendes ist, nicht am Platze zu sein. Mit stürzenden Sätzen käme man kaum weit, wo es sich um Porträtierung von etwas im Schlaf Erlebtem handelt. ( 1 9 , 89f.) D e r Bleistift ist das privilegierte Schreibgerät für diese A r t der N a c h t a r beit, da sich m i t i h m , w i e schon G o e t h e wußte, das aufweckende Kratzen, das die Feder beim Schreiben auf d e m Papier als N e b e n e f f e k t zeitigt, vermeiden läßt. 0 5 D e r Bleistift als Schreibgerät des Spontanen, U n g e o r d n e t e n 62

»Nichts mehr zu schreiben, womit nicht jede Art Mensch, die >Eile hatArbeitfertig werden< will, auch mit jedem alten und neuen Buche: — sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt g u t lesen, das heisst langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen... Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht sich nur vollkommene Leser und Philologen: lernt mich gut lesen!-« (Nietzsche 1 8 8 1 - 1 8 8 7 / 1 9 8 8 , III, S. 17).

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Vgl. Kap. I.5. Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , XVIII, Sp. 2905. Im sechzehnten Buch von >Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit< schreibt Goethe folgendes über die »Ausübung« seiner »Dichtergabe«, die »zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden« kann, »am freudigsten und reichlichsten« aber »unwillkürlich, ja wider Willen« zutage tritt: »Auch beim nächtlichen Erwachen trat derselbe Fall ein, und ich hatte oft Lust, [...] mich zu gewöhnen im Finstern, dutch's Gefühl, das was unvermuthet hervorbrach zu fixiren. Ich war so gewohnt mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder zusammenfinden zu können, daß ich einigemal an den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm einen quer liegenden Bogen zurecht zu rücken, sondern das

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u n d V o r l ä u f i g e n — die M e d i e n g e s c h i c h t e dieser P r o d u k t i o n s w e i s e g ä l t e es noch zu schreiben. W a l s e r s m i n u t i ö s e Bleistiftarbeit jedenfalls läßt sich k a u m ohne weiteres a u f diese g ä n g i g e A u f f a s s u n g reduzieren; nicht zuletzt deshalb n i c h t , w e i l sie d a r u m w e i ß . 6 6 Festzuhalten b l e i b t hier aber der U m s t a n d , daß die schreibende E r k u n d u n g des nächtlichen R a u m s u n d die A r t i k u l a t i o n v o n T e x t e n , deren G r u n d l a g e die P r o d u k t i v i t ä t des Schlafes ist, präzise die A r b e i t s w e i s e voraussetzt, die nach W a l s e r s S e l b s t a u s k ü n f t e n i m B l e i s t i f t g e b i e t m ö g l i c h g e w o r d e n ist.

6 . 5 S c h l a f als >anderer Z u s t a n d < D i e P r o b l e m e , die eine D e f i n i t i o n des Schlafes m i t sich b r i n g t , solange sie in den T e r m i n i einer B e w u ß t s e i n s p h i l o s o p h i e g e f a ß t w e r d e n soll, sind o f f e n s i c h t l i c h . 6 7 D e r S c h l a f w i r d als B e w u ß t s e i n s z u s t a n d betrachtet, der Gedicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rühren, in der Diagonale herunterschrieb. In eben diesem Sinne griff ich weit lieber zu dem Bleistift, welcher williger die Züge hergab: denn es war mir einigemal begegnet, daß das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Product in der Geburt erstickte« (Goethe 1 8 1 1 - 1 8 3 3 / 1 8 8 7 1 9 1 2 , X X I X , S. I4f.). - Den Hinweis auf diese Stelle findet man auch bei Roser 1994, S. 1 7 0 als Argumentation zugunsten eines »somnambulen Schreibenfs]«, welches die Arbeit mit dem Bleistift ermöglichen soll. 66

Dotzlers Versuch, die »Modernität« Walsers auf die medientechnische Konsequenz der Bleistiftschrift zu reduzieren, führt hier nicht weiter: »Papier, Bleistift und Radiergummi sind genau die Elemente, die Turings Universalmaschine definieren: mit Einschluß des Menschen als Papiermaschine, unter Ausschluß des Menschen eben als Turing-Maschine. Daß diese nicht etwa nur lesen oder auch nur schreiben können, sondern lesen und schreiben und löschen, macht sie zu mehr als bloß einem trivialen Automaten, ja sogar zu mehr noch als einer einfach nur programmierbaren Maschine. Es macht, daß ihre strukturelle Programmierbarkeit auf sich selber zurückkommt und so zum Definiens der Struktur von Programmierbarkeit überhaupt gereicht« (Dotzler 1996, S. 4 7 6 - 4 7 9 , Zit. 479). - Der Radiergummi - also die Funktion des Löschens - fehlt im Bleistiftgebiet; selbst wenn diese Funktion vorhanden wäre, gälte zumindest für die Analyse von Schreibprozessen Hans Jost Freys Diktum: »Verworfenes ist nicht getilgt« (Frey 1990, S. 76).

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Die folgenden Lektüren setzen an dem Punkt ein, wo versucht wird, in (philosophischen, medizinischen) Diskursen dem Schlaf als eigenständiges Phänomen auf die Spur zu kommen — es handelt sich also nicht um einen philosophiegeschichtlichen Aufriß — vgl. dazu Seitter 1999. Ein solcher dürfte zweifellos nicht erst mit Kant oder Hegel einsetzen; er hätte sich beispielsweise um die den diätetischen Aspekt des Schlafs zu kümmern, wie ihn Montaigne in Bezug auf das Tempo der Vernunft entwirft: »Die Vernunft befiehlet uns wohl, daß wir beständig auf einerley Wege, aber nicht, mit einerley Schritt fortgehen sollen. Ob sich gleich der Weise von den menschlichen Leidenschaften nicht hinreissen, und von der rechten Bahn abgehen soll, so kann er denselben doch ohne Hintansetzung seiner Pflicht so viel nachgeben, daß er geschwinder oder langsamer gehet, und nicht wie eine Säule unbeweglich und ohne Gefühl stehen bleibet« (Montaigne 1754—54/ 1992, I, S. 533f·)· Ferner wäre die Problematik des erkennenden Subjekts im Angesicht von Traum, Schlaf und Wahnsinn zu berücksichtigen, welche in der ersten von Descartes >Mediationes< vorgestellt wird: Der Evidenz konkreter Selbstwahrnehmung — »...daß

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indes genau jene Bestimmungen vermissen läßt, die einen Zustand als einen des Bewußtseins auszeichnen. »Der Schlaf ist, der Worterklärung nach, ein Zustand des Unvermögens eines gesunden Menschen, sich der Vorstellungen durch äußere Sinne bewußt werden zu können.« Kant verbannt im selben Zug die Erklärungsnotwendigkeit dieses Phänomens aus dem Zuständigkeitsbereich seiner »Anthropologien »Hiezu die Sacherklärung zu finden, bleibt den Physiologen überlassen; welche diese Abspannung, die doch zugleich eine Kräftensammlung zu erneuerter äußeren Sinnenempfindung ist [...], — wenn sie können, erklären mögen.« 68 Diese Aufgabe wird, wie wir sehen werden, die Physiologie auch hundert Jahre später noch beschäftigen; die unablässige Wiederholung dieses Rätsels der Gleichzeitigkeit von »Abspannung« und »Sammlung« wird sich als ihr Leitmotiv herausstellen. Das eigentliche Skandalon, das der Schlaf für eine »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht< — und das heißt: als »Erkenntnis des Menschen als Weltbürgers«6ξ> — darstellt, liegt darin, daß es sich um einen Zustand handelt, während dessen sich der Mensch als Weltbürger eben gerade nicht bestimmen läßt - ein Zustand, der überdies bekanntlich ein Drittel des menschlichen Lebens für sich in Anspruch nehmen soll. Gleichsam ausgebürgert in eine eigene und, wenn überhaupt, nur vermittelt kommunizierbare Welt, hindert ihn einzig deren partielles Vergessen daran, sich einbilden zu können, er sei möglicherweise Bürger zweier Welten: »würden wir die folgende Nacht da wieder zu träumen anfangen, wo wir es in der vorigen gelassen haben: so weiß ich nicht, ob wir nicht uns in zwei verschiedenen Welten zu leben wähnen würden.«70 Wer auf dieser Nichtunterscheidung beharrt, an dessen »Gesundheit« werich jetzt hier bin, daß ich, mit meinem Winterrock angetan, am Kamin sitze... « - wird dort die Erfahrung des Traums entgegen gehalten. »Denke ich einmal aufmerksamer hierüber nach, so sehe ich ganz klar, daß Wachsein und Träumen niemals durch sichere Kennzeichen unterschieden werden können« (Descartes, 1 6 4 1 / 1 9 9 2 , S. 33AsoziaIität< des Schlafs als tendenzielle Suspendierung der »sozial[en] Zugehörigkeit der schlafenden Individuen« vgl. Macho 1 9 8 7 , S. 255Í. sowie Lenk 1 9 8 3 , welche die soziale Dimension des Verhältnisses von Traum und Literatur wohl am gründlichsten untersucht hat.

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den die »Mitmenschen«, die dadurch eben von gesellschaftlicher MitMenschlichkeit ausgeschlossen werden, zweifeln wie an Walsers >Glückskindc Hinsichtlich des Glückskindes schien jede, auch die zufälligste und billigste Besserungsbestrebung am Platz, aber sämtliche Versuche, ihm einzuprägen, was Vernunft sei, blieben vollkommen erfolglos, denn da das Glückskind in und an sich selbst vergnügt war, wurde es durch nichts gedrängt, auf die Stimmen derer zu lauschen, die es auf den rechten W e g zu leiten begehrten, träumte es doch an einem fortlaufenden, spinnwebhaften Traum, dessen Maschen natürlich überaus fein sein mußten, und von dessen Lieblichkeit andere einfach nichts ahnten. ( 1 8 , 2 8 2 )

Moral — oder »Resultat« — dieser wunderbar ironischen Darstellung einer im Wortsinn autonomen Existenz, die sich konsequent den gesellschaftlichen Glücksangeboten zwischen »Mädchenwelt« und materiellen »Kostbarkeiten« entzieht, da seine »Glücksbedingungen [ . . . ] in ihm selbst« liegen, ist der Umstand, daß des »Glückskindes und seiner Sorglosigkeit wegen [ . . . ] so und so viele besorgte, liebe, gütige Menschen keine richtige Ruhe« ( 1 8 , 2 8 i f f . ) mehr finden, weil sie »auf die Ansprechbarkeit und Motivierbarkeit« 7 1 eines ihrer potentiellen Gesellschaftsmitglieder verzichten müssen. Als eine der » V e x i r f r a g e n « 7 2 einer Philosophie des Bewußtseins berührt die Definition des Schlafes, will man sie nicht den Physiologen überlassen, sondern vor dem Hintergrund einer Theorie des Subjekts entwikkeln, die Möglichkeit des »Unterscheiden[s] der Individualität als f ü r s i c h - s e y e n d e r gegen sich als nur s e y e n d e « und so die Möglichkeit einer Bestimmung des Unterschieds zwischen organischem Sein und bewußtem Dasein: In das Wachseyn fällt überhaupt alle selbstbewußte und vernünftige T h ä t i g k e i t des für sich seyenden Unterscheidens des Geistes. — Der Schlaf ist Bekräftigung dieser Thätigkeit nicht als bloß negative Ruhe von derselben, sondern als Rückkehr aus der Welt der B e s t i m m t h e i t e n , aus der Zerstreuung und dem Festwerden in den Einzelnheiten, in das allgemeine Wesen der Subjectivität, welches die Substanz jener Bestimmtheiten und deren absolute Macht ist. 7 3

Der Schlaf wird gesetzt nicht nur als Negativ des Wachens und der bewußten Tätigkeit des Geistes, ebenso ist ihr Wechselverhältnis bestimmt als verschobene, dem individuellen Körper inhärente und zugleich durch den Zyklus der Abfolge von Tag und Nacht rhythmisierte Wiederholung jenes 71 72 73

Macho 1987, S. 256. Hegel 1830/1927-1930, X, S. 110. Hegel 1830/1927-1930, X, S. I09f.

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Prozesses, der die Bewegung des Geistes formiert. Der »Blitz der Subjectivität«, der im Erwachen die »Form der Unmittelbarkeit des Geistes« durchschlägt — so wie im eingangs zitierten Prosastück >Das Parlament die Schläfrigkeit des Parlamentsbesuchers durch die Texterinnerung an Kleists Mirabeau in literarische Produktivität umschlägt 74 — bringt damit jene Wahrheit zutage, die der dialektischen Bewegung im Gegensatz zur fließenden Abfolge von Veränderungen des Einen und zum festen Gegensatz eines Verhältnisses der Ausschließlichkeit zum Andern innewohnt. 75 Der Gegensatz von Schlaf und Wachen erscheint darin als natürliche Verkörperung des dialektischen Prinzips am Menschen selbst: Während im Ablauf der Lebensalter die Bewegung einer Entwicklung beobachtet werden kann, deren fließende Veränderungen sich immer schon vor dem Hintergrund einer »einfache[n] Einheit« abgespielt haben werden, die das darin »beharrende Eine Subject« darstellt; während im Geschlechterverhältnis der »feste Gegensatz« feststellbar wird, in dem zwei Individuen aufeinandertreffen, die darin einer »mit ihrer Substanz in unmittelbarer Einheit bleibende[n], und eine[r] in den Gegensatz gegen diese Substanz eingehende[n] Subjectivität« begegnen, so erreicht der Wechsel von Schlaf und Wachen »jene Flüssigkeit des Unterschieds«, in denen die Zustände der Gegensätzlichkeit zu »bloßen Zuständen« werden und an denen er, vermittelt durch die Zäsur des Erwachens, als dialektischer Prozeß lesbar wird. 70 Im Erwachen wird also das Anheben jener gespiegelten Dämmerung den Subjekten auf den Leib geschrieben, aus der die Eule der Minerva aus dem Grau in Grau der Unterschiedslosigkeit zu ihrem Flug anhebt — die Eule, der Walsers Kommentar zur allegorischen Funktion, die sie im System dieser Philosophie einnimmt, allerdings beredte Worte verleiht, um ihren Anspruch darauf zu erhalten, ein Nachttier zu bleiben: Im verfallenen Gemäuer sprach eine Eule zu sich: »O schauervolles Dasein. Irgendwer würde sich entsetzen, ich aber bin geduldig, senke die Augen, kauere so. Alles in und an mir hängt in grauen Schleiern herab, aber auch über mir

74

Vgl. oben Kap. II.6.3. - Das stellt einen wesentlichen Unterschied zur Hegeischen Absicht einer Verkörperung der Dialektik - vielleicht den zentralen Unterschied zwischen der Strategie literarischer und philosophischer Texte überhaupt - dar: während diese aus dem Wechsel von Schlaf und Wachen Subjekte konstituiert, hat ihre Relation in Walsers Poetologie allemal Texte zur Folge.

75

Hegel 1830/1927 — 1 9 3 0 , X , S. 1 1 3 . Interessanterweise sind die beiden Vergleichsgegenstände, die Hegel zu dieser Unterscheidung hinzuzieht, genau jene, die in der Verknüpfung von Freuds Neuformulierung des Schlafzustands zu den bestimmenden Elementen jenes »spezifischen Lebens« werden: der Verlauf der Lebensalter und das Geschlechtsverhältnis. Hegel 1 8 3 0 / 1 9 2 7 - 1 9 3 0 , X , S. i n f .

76

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funkeln die Sterne, dies Wissen stärkt mich. Buschiges Gefieder bedeckt mich; am Tag schlafe ich, des Nachts bin ich wach. Ich brauche keinen Spiegel, um zu erfahren, wie ich aussehe, das Gefühl sagt es mir. Ich kann mir mein sonderbares Gesicht leicht denken. [ . . . ] Sie sagen zu mir: > Philosophien Aber der vorzeitige Tod hebt den späteren auf. Der Tod ist fur die Eule nichts Neues, sie kennt ihn schon.[«] ( 1 7 , 2 6 7 )

In der Umkehrung der Dialektik, genauer: Entdialektisierung des Verhältnisses von Schlaf und Wachen in der Physiologie und Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts gilt das Augenmerk nicht mehr jenem Blitz der Subjektivität, den das Erwachen als Negation der Negation des Wachzustandes durchs organische Dasein des Menschen jagt, sondern den Vorgängen des Einschlafens — sei es in seiner >natürlicher< Gestalt, sei es durch Hypnose oder Narkotika bedingt. Das Einschlafen wird dabei geradezu zum Genießen und zur Verkörperung eines Begehrens: ein »eigenthümlich wohlthuendes Gefühl« bietet den »Köder«, den die Natur ausgelegt hat, um die Notwendigkeit des Schlafs für die menschliche Körpermaschine begehrenswert erscheinen zu lassen. Mich ins Bett zu legen, gestaltete sich mir jeweilen zu einem Vergnügen, dessen Schilderung ganze Seiten einnähme. Ich schlief dort mit grandioser Sorglosigkeit. Mein Schlaf glich einem Parke. Wenn ich aufwachte, schlich sich der Wunsch in meine Inwendigkeit, es möchte sogleich wieder Abend sein, damit ich Grund hätte, nur schnell wieder einzuschlummern ( 1 7 , j ü ) 1 1

Die Physiologie — die sich zum natürlichen Schlaf knapp genug und voller Widersprüche äußert78 — untersucht vor allem die Erkundungen all jener Äußerungen eines psychischen Zustands, die nicht mehr der Tätigkeit des Bewußtseins unterworfen sind, die aber psychologisch auffälliger und diagnostisch-therapeutisch interessanter erscheinen als der gewöhnliche Schlaf: Suggestion, Hypnotismus, hysterische Phänomene, Automatismen etc. Wo sie sich dennoch um ihn kümmert, bewegt sie sich noch im Tableau der von Hegel vorgegebenen Opposition, was den Gegensatz von Bewußtsein und Schlaf betrifft. Ihr explizites Interesse an Schlafzuständen ist jedoch nicht mehr eines an der Analogisierung philosophischer Grundsätze mit Erscheinungsformen der Natur, sondern einerseits der Beweis naturgesetzlicher Regelmäßigkeit noch am als Grenzfall eines Naturwesens betrachteten Menschen, die andererseits und gewissermaßen von >jenseits< dieser Grenze schlicht unter die Prämissen einer Devianz gestellt werden muß. Zwar soll, entsprechend den physiologischen Vorstellungen vom ge77

78

So dazu Walsers Prosastück mit dem in diesem Zusammenhang sprechenden Titel >Ich soll arbeiten« ( 1 7 , 78). Vgl. den Überblick bei Claparède 1905, S. 247, Anm. 1 u. ff.

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sunden, normalen Körper als diagnostisches Maß aller Abweichung, dabei durchaus der gewöhnliche Schlaf und dessen richtige Theorie den Schlüssel bieten, um die erwähnten pathologischen Erscheinungen erst erklärbar zu machen. 79 Doch läßt sich der permanent wiederkehrende Topos der R ä t selhaftigkeit und des Geheimnischarakters des Schlafzustands durchaus als Indiz dafür lesen, daß gerade die Normalität einer Devianz diesen Gegenstand so irritierend hartnäckig im Diskurs hält; d.h. die unhintergehbare Differenz im Wesen des Menschen, die zwischen der Gesetzmäßigkeit chemischer Prozesse auf der Ebene der Physiologie und den spezifisch psychischen Abweichungen des Schlafs von all dem klafft, was die Grundlage des und das Selbstverständnis vom menschlichen Bewußtsein(s) bildet. Im Zug der Erweiterung der Physiologie in Richtung einer Psychophysiologic erhält der Schlaf die Funktion eines Schutzmittels, das die spezifische Organisation des sympathischen Nervensystems erfordert. Seine Reizfähigkeit ist nämlich von zwei Einschränkungen bestimmt: erstens zeigt jeder Sinn ein bestimmtes Spektrum von Reizbarkeit, dessen liminale Pole — Reizschwelle und Reizhöhe — die Wahrnehmung von Sinneseindrücken regulieren, so daß unter ebenso wie über einer gewissen Stärke Sinneseindrücke noch nicht resp. nicht mehr wahrgenommen werden können. Zweitens und für die Bedeutung des Schlafs wichtiger ist der Umstand, daß Wiederholungen einer Reizung einen abstumpfenden Effekt auf die Reaktion des Nervensystems haben. Zwar sind diese beiden Einschränkungen nervlicher Reaktionsfähigkeit nicht absolut, sondern relativ zu den jeweiligen individuellen Voraussetzungen und den sie beeinflussenden äußeren Umständen, doch kann als Gesetz für das neurologische System gelten, »daß jede Reihe von Reizungen eine Minderung der Reizfähigkeit zur Folge hat.« 8 ° Der Schlaf nun dient als Regulativ für diese gesetzmäßige Minderung, damit sie nicht zu einem chronischen Zustand, zur Apoplexie werden kann und damit die Reaktionsfähigkeit der Nerven sich zu erneuern vermag. Während diese psycho-physiologische Abgrenzung des Schlafs vom Wachzustand wiederum nur eine relative ist — gewisse Nervenfunktionen setzen sich im Schlaf ebenso fort wie andere körperliche Vorgänge — , so findet man die absolute, die »scharfe Grenze« 81 im Bereich 79

80 81

Vgl. Haffner 1884. — Nach Lenk kann sich die physiologische Normalisierung des Schlafs durchaus auf philosophische Vorläufer berufen: Nach Aristoteles verhalte sich der Schlaf zum Wachsein »wie die Krankheit zur Gesundheit, wie die Blindheit zur Sehkraft und wie die Taubheit zum Gehör« — der Schlaf also »ein defizienter Modus, ein Mangel« gegenüber dem Wachzustand, der in einer »dogmatischen Setzung« zum »einzig wahren, gesunden, positiven Zustand« wird (Lenk 1983, S. 155). Haffner 1884, S. 5. Haffner 1884, S. 8.

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des Psychischen: Die Grenze zwischen Schlaf und Wachen für das menschliche Bewußtsein läßt sich bestimmen durch das Vorhandensein der Verfügbarkeit einer bewußten Beziehung zu Raum und Zeit. Die Rätselhaftigkeit des Phänomens allerdings müssen auch diese Beschreibungen aushalten. Als Ausweg bleibt der Rekurs auf den Normalismus eines »tellurisch[en] Gesetz[es]« der Periodizität, dem auch der Mensch als das »unperiodischste« aller Wesen 82 unterworfen ist. So wird versucht, die Gegensätzlichkeit von Schlaf und Wachen auf einen bloßen naturgesetzlichen Unterschied geregelter Zustände zu reduzieren: »Schlaf und Wachen sind im Grunde keine Gegensätze, sie sind nur Grundunterschiede, sie sind - E b b e und Fluth!« 83 War für Hegel noch der Fluß des Wechsels für die Abfolge von Schlaf und Wachen bestimmend, in dem sich die Bewegung der Dialektik dem individuellen Körper einschreibt, so wird nun das Wechselverhältnis als nur noch analoge Wiederkehr kosmologischer Rhythmen bestimmt. »Schlaf und Wachen sind nicht [...] gleichwertig, ebensowenig übrigens wie Tag und Nacht, sondern der Schlaf ist ein Mangel, und was ihm fehlt ist eben das Wachsein.« 84 Walsers Poetologie des schreibenden Schlafens/schläfrigen Schreibens stellt die geschlossene Linearität dieser Abfolge genauso in Frage wie ihren physiologischen Utilitarismus. Die Verschachtelungen, in deren Folge Schlafen und Schaffen sich verwirren, zielen direkt auf das Fundament der Normalität, das der skandalösen Zäsur im Bewußtsein unterschoben wird. Dann ging er, ohne sich von der Wirtin zu verabschieden, in den Garten, legte sich unter eine breitästige Tanne und sank in tiefen Schlaf, worin er träumte, er sei verpflichtet, ein Buch zu schreiben, und wisse nicht wie anfangen. Als er erwachte, war es Nacht, eine Stimme rief nach ihm, es war ihre, und gleich darauf eine andere und eine dritte und vierte. Nachdem er genügend ausgehorcht hatte und ruhig geworden war, ging er ins Haus und sprach zu seiner Gebieterin: »Ich bin durch einen längeren Aufenthalt in literarischen Kreisen stark ästhetisiert worden. Es ging oder geht vielen so. Vor lauter Verstehen kann es geschehen, daß man nichts mehr versteht.« »Das ist wohl nicht so schlimm«, meinte sie, und auch wir meinen das. ( B G ι , 1 1 8 ) 8 5

82 8} 84 85

Scholz 1887, S. 8. Scholz 1887, S. 23. Lenk 1983, S. 1 5 5 . Vgl. nun - siebzig Jahre nach Walser - als philosophiehistorisches Gegenkonzept einer »Dramatik des Oszillierens zwischen verschiedensten Zuständen [...], die durch Wiederholung, Regelmäßigkeit, Institutionalisierung, Normalisierung, Gewöhnung wesentlich abgeschwächt, verschleiert, unbewußt und unerkannt gemacht wird«, Seitter 1999 (Zit. 17).

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6.6 Exkurs II. Walsers >Surrealismus< Die Ähnlichkeiten, die Walsers Texte da, wo sie vom Schlaf und vom Schreiben und ihrer Beziehung handeln, mit der Programmatik surrealistischer Textproduktion teilen, scheinen auf den ersten Blick so irritierend wie verblüffend. 86 Ich schrieb dies Prosastück, wie ich gestehen muß, auch ganz mechanisch, und hoffentlich gefällt es dir darum. Ich wünsche, es gefalle dir so, daß du vor ihm zitterst. Es sei für dich in gewisser Hinsicht ein fürchterliches Prosastück. U m es zu schreiben, machte ich nicht einmal vorher genügend Toilette. Schon aus diesem Grund kann's nichts anderes sein als ein Meisterstück oder -werkchen, wollen wir doch wohl lieber bloß voller Nachsicht sagen. (BG i , 68)®7

Wie weit und ob überhaupt Walser Kenntnis von den entsprechenden zeitgenössischen Debatten nahm, läßt sich wohl kaum feststellen; entsprechende Zeugnisse oder Lektüren sind nicht dokumentiert und lassen es ratsam erscheinen, die Befunde vorsichtiger als »Affinität mit den Intentionen der historischen Avantgarde« 88 zu beschreiben. Diese immerhin ist

86

»Mit der Phänomenologie seines Spätwerks stellt sich Walset in die Nachbarschaft der historischen Avantgarde«, hat Tamara Evans festgestellt und auf die Ähnlichkeiten und Differenzen von Walsers experimentellem Schreibverfahren und avantgardistischen Kunstpraktiken wie der Montage, der Collage und der >écriture automatique< aufmerksam gemacht; vgl. Evans 1989, S. 1 1 6 — 1 4 4 (Zitat 133); Widmer 1980/1984, S. 64. Schon Max Rychner konstatierte - was heute auszugsweise den Rücken von Band 19 der >Sämtlichen Werke< schmückt - die »verblüffend wirksamfe], sprechendfe] Beziehungslosigkeit« von Walsers Sprachexperimenten, »die an die auf surrealistischen Bildern vollzogene Vereinigung bisher >unvereinbarer< Bildelemente erinnert«: »Die Freude am Experimentieren mit der Sprache und am Aufspüren von Lebendigkeiten in ihr durchdringt Walser, wie einen in die Zusammenhänge seines Laboratoriums versponnenen Alchimisten, der sein Hantieren halb aus Forscherlust, halb aus Spieltrieb weiterfuhrt. Das Spielerische ist ihm bewußt; er setzt es ironisch in Rechnung, indem er es in Stellen von einer gelegentlich starr arabeskenhaften Kindlichkeit aufnimmt, diese jedoch so faustdick übertreibt, daß gleichsam die Ironie selber wieder ironisiert wird. In solchen Widerspiegelungen wird dann bald etwas treffsicher Geistreiches, bald etwas nahezu Sinnleeres aufgefangen. Die Einfalle machen sich autonom [...]. D i e Bezüge sind, wenn auch nicht handgreiflich vorhanden, doch in einer Schicht, die unter den Übereinkünften des Bewußtseins liegt« (Rychner 1937/1978, S. 148). Die von Rychner redigierte Zeitschrift >Wissen und Leben< resp. (ab 1926) >Neue Schweizer Rundschau< kann als eine der Quellen gelten, über die Walser Z u g a n g zu französischen Literaturdebatten hatte. Eine Auseinandersetzung mit dem Surrealismus allerdings wird man dort vergebens suchen.

87

Beinahe scheint es allerdings, daß die im folgenden dargestellten Programmatiken surrealistischer Textproduktion hier schon genauso ironisiert werden wie anderswo andere und besser verbürgte Produktionsweisen einer das schreibende Subjekt überwältigenden Inspiration.

88

Evans 1989, S. 138.

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augenfällig: die Prinzipien der M o n t a g e 8 9 und der Collage, die Subvertierung linearer Narrativität, der G e b r a u c h verfremdender Metaphern, die B e r u f u n g auf Spontaneität u n d wortspielerische Blödelei, das Verwirrspiel m i t möglichen Referenzen dokumentieren g e w i ß »avantgardistische E x p e rimentierlust«. 9 0 F ü r m ö g l i c h e direkte Surrealismus-Kenntnisse Walsers jedoch bleibt man auf V e r m u t u n g e n u n d Spurensuchen a n g e w i e s e n . 9 1 Z u den maßgeblichen poetischen Verfahren von Walsers Textproduktion werden die Reflexionen über Schlaf und Schreiben zwar erst in der Prosa der Berner Z e i t , das bereits 1 9 0 7

erschienene Prosastück >Das Theater, ein

Traum< zeigt allerdings bereits ein Bewußtsein fur diese Z u s a m m e n h ä n g e und versteht auch ihre textgenerierende Produktivität auszunutzen: Sind nicht auch die Dichtungen Träume, und ist denn die offene Bühne etwas anderes als ihr großgeöffneter, wie im Schlaf sprechender Mund? Während des anstrengenden Tages treiben wir in den Straßen und Lokalen unsere Geschäfte und nützlichen Absichten vor uns her, und dann finden wir uns in den engen Sitzreihen wie in engen Betten zum Schauen und Hören ein; der Vorhang, die Lippe des Mundes, springt auf, und es brüllt, zischt, züngelt und lächelt uns befremdend und zugleich herzensvertraulich an; es setzt uns in eine Erregung, deren wir uns nicht bemeistern mögen und können, es macht uns krümmen vor Lachen oder erbeben vor innerlichem Weinen. Die Bilder flammen und brennen vor den Augen, die Figuren des Stückes bewegen sich übernatürlich groß, wie nie gesehene Gestalten, vor uns. Das Schlafzimmer ist dunkel, nur der offene Traum glänzt in dem starken Licht, blendend, redend, daß es einen zwingt, mit offenem Munde dazusitzen. ( 1 5 , 8f., Hervorhebung SK) 89

90 91

Evans führt als möglichen Einfluß für das Montageprinzip Walsers seine - durch einige Prosastücke dokumentierten - Kinobesuche in den 20er Jahren an: »Man sollte [...] bedenken, dass Walser in den zwanziger Jahren ein häufiger Kinobesucher war und sich ganz offensichtlich nicht nur für die verfilmten Stoffe, die er des öftern nacherzählte, interessiert hat, sondern dass ihm die Technik des Films, wo sich das Montierte als das >Wirkliche< gibt, vor allem auch eine Bestätigung seiner eigenen Arbeitsweise geliefert haben könnte. [...] Die bewegte Kamera, die Technik des Überblendens und Übereinanderprojizierens [...], die Technik des harten Schnitts, überhaupt der filmische Editionsprozess der Zerstörung und Konstruktion sind in Analogie zu Walsers Schreibprozess zu sehen, als Entsprechungen der dynamischen und subjektiven Optik von Walsers im Medium Sprache montierten Spaziergänge durch Ausstellungen, Geschäftsstrassen, Städte und Landschaften« (Evans 1989, S. Evans 1989, S. 1 3 3 . Eine Suche mit Umwegen allerdings, wie ein von Bungartz entdecktes Indiz ftir die mögliche Kenntnis, jedenfalls aber fiir eine gewisse Wahlverwandtschaft zeigt. Breton zitiert im ersten surrealistischen Manifest (1924) die Aussage Paul Valérys, »er selbst würde sich immer weigern zu schreiben: Die Marquise ging um fünf Uhr auso. (Breton 1924/1977, S. 13). Diesen unmöglichen Romananfang zitiert und parodiert Walsers Prosastück >Schaufenster (II)< von 1928 - nicht an seinem Anfang, selbstredend: »Ich ging einmal, es mochte zirka fünf Uhr oder meinetwegen halb sechs Uhr abends sein, durch die Hauptstraße einer großen Stadt. Könnte nicht so eine Novelle beginnen?« (20, 176). Vgl. Bungartz 1988, S. i04f.

176

Die Spiegelung zwischen Bühne und Zuschauerraum, die diesen »übernatürlich[en]« Effekt evoziert, der Zustand der Überwältigung, des >ChoksÜbernatürlichemSurrealismusLes champs magnétiques< fuhren wird, erhält ihre Struktur durch die diesem Diktat des Unbewußten applizierten äußerlichen Zäsuren und Restriktionen. Kapitellängen werden ausschließlich von der Unterbrechung der Aufzeichnungsarbeit bestimmt, Differenzen der Schreibweise ergeben sich allein schon durch die Veränderung der Schreibgeschwindigkeit. Daß diese Programmatik indes mehr Mythologie der Produktion als strikt befolgtes Regelwerk sein dürfte, beweist schon ein Blick auf die Beschreibung der Manuskripte, die automatischen Texten< wie etwa Bretons und Soupaults >Les champs magnétiques< ( 1 9 1 9 ) zugrundeliegen: Während die Auswahl von Texten fur die Druckfassung grundsätzlich noch nicht gegen den postulierten Automatismus des Schreibens zu verstoßen braucht, finden sich hingegen im Manuskript — man ist versucht zu sagen: die üblichen — Spuren von Überarbeitung, die deutlich machen, daß es besonders Breton sehr wohl an gelegentlicher »Unaufmerksamkeit« gegenüber dem Schreibprozeß hat fehlen lassen: Streichungen, Sofortkorrekturen, ja gar Zusätze zwischen den Zeilen einerseits, Bretons Redaktionsspuren in von Soupault verfaßten Texten andererseits. 96 Bei allen Unterschieden — ein erster Hauptunterschied liegt darin, daß bei den Surrealisten die Textproduktion säuberlich von der Reflexionsebene der ihr zugrunde liegenden Poetik getrennt wird, während Walsers Texte ihre poetologische Dimension erst im und aus dem Schreiben selbst entfalten —, bei allen Unterschieden also sind die Ähnlichkeiten dieser Poetiken verblüffend: Verfahren der Montage, der Assoziation, die Bedeutung des >objet trouvé< usw. sind literarische Techniken, die sich durchgängig auch bei Walser vorfinden lassen. Walsers Schreibverfahren der Berner Zeit kann man durchaus >surrealistisch< nennen, wenn man von der schulbildenden Kategorisierung dieser Zuschreibung ebenso absieht wie von den selbstinszenatorischen Mythen ihrer Protagonisten. Naheliegender schiene es aber wohl, es als Radikalisierung jener schon in der Berliner Zeit entworfenen Text- und Bildstrategien des >Überwirklichen< zu verstehen, die nun konsequent auf die Bedingungen und die Szene des Schreibens selbst zurückgespiegelt werden. Denn — und das ist die zweite, gewichtigere Differenz in den Strategien der beiden Formen von Textproduktion —Walsers Poetologie entspringt nicht wie die der Surrealisten den Phantasmen unzensierter Kreativität oder einer Befreiung der Phantasie, 96

Dies im genauen Widerspruch zu Bretons Äußerungen im ersten Manifest, nach denen sich Soupault »völlig [zujrecht« und »mit allen Kräften der geringsten Überarbeitung, der geringsten Korrektur von Stellen widersetzte, die mir in ihrer Art nicht gelungen erschienen« (Breton 1 9 2 4 / 1 9 7 7 , S. 25; vgl. Anm. 1).

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vielmehr handelt es sich um eine Poetik der Materialien und der Materialität, die man bis zu den Spuren des Schreibprozesses zurückverfolgen kann. 6.7 Gespenster Gespenster, insbesondere in ihrer Erscheinungsform als Doppelgänger,97 gehören spätestens seit der Romantik zum festen Inventar der Literatur. Sie interessieren hier allerdings nicht der Traditionslinie ihres Erscheinens als Motiv und Figur unzähliger Texte, sondern als imaginäre Materialisierungen der Szenen subjektiver Autorschaft.98 Die Erscheinung des Gespensts in schwarzer Nacht bildet das Negativ jener Phantasmen zwischen Tisch und Lampe, welche die Literatur zu Papier bringt. Denn die Funktion des »Doppelbewußtseins«, das im Spiel von Schreiberhand und den Schriftzügen auf dem Papier entsteht, ist nicht der »seelischen Konstellation« der Autoren geschuldet, wie Rank die gleichsam universalen Erscheinungen von Doppelgängertum in ein klinisches Symptom überträgt.99 Sie liegt vielmehr in der Szene des Schreibens selbst begründet, in jener »Alteritätserfahrung am Schreibtisch«,100 für die die Verbindung von Selbstvergewisserung und Verlusterfahrung, respektive -drohung konstitutiv wird. Im Schrift-Spiegel erkennt sich das schreibende Subjekt als ein anderes: »Das Schreiben verlangt nicht die Lektüre, es hebt die Rückaneignung des Objektivierten auf. Das Schreiben ist die Verführung. Wiedergelesen werde ich ein anderer sein werden als der, der ich schreibend war. Auf diese Weise bin ich nicht, wenn ich schreibe.«101 Das Gespenstische - oder genauer: Gespensteranfällige — dieser Schreib-Szene wird deutlich, wenn man die vorgenommene Übertragung des Doppelgängers auf den Schrei bvorgang in die Terminologie Lacans übersetzt: das Schrift-Bild ist wie »der Doppelgänger [...] jenes Spiegelbild, das das Objekt a enthält« und so sein unheimliches »eigenes Sein« erhält.102 Unheimlich deshalb, weil in ihm genau jener »Part des Subjekts« wieder 97

Vgl. dazu Rank 1925/1993. Anette Schwarz hat Walsers Gespenster als Allegorie der »Decomposition« gelesen, welche Subjekt und Schreiben Walsers in der Berner Zeit bedrohe und die Materialgebundenheit der Mikrographie als »Mittel der Selbstheilung« dagegen gesetzt. Ihrer Lektüre wäre — als allegorische — zuzustimmen, wenn sie nicht durch die Versuchungen des allegorischen Modells verfuhrt würde, Schreibszene und Text gleichermaßen als Allegorie (eines Subjekts) zu deuten (vgl. Schwarz 1996, S. 1 7 1 - 1 8 9 ; Zit. 174; 173). Darin liegt der Hauptunterschied zum hier unternommenen Versuch: wenn es fur ihn ein allegorisches Verhältnis gibt, dann ist es das zwischen Schreiben und Text. 99 Rank 1 9 2 5 / 1 9 9 3 , S. 28f. 100 Rommel 1988, S. 3 1 0 . 101 Bohn 1993, S. 1 3 2 . "° 2 Dolar 1993, S. 126. 98

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a u f t a u c h t , der in der Spiegelszene n i c h t w i d e r g e s p i e g e l t w e r d e n kann; w e n n Lacan als Repräsentation dieses v e r s c h w u n d e n e n O b j e k t s den B l i c k w ä h l t , dann repräsentiert dessen V e r s c h w i n d e n das, w a s d e m schreibenden S u b j e k t b e i m B l i c k in den S c h r i f t - S p i e g e l als Unrepräsentiertes u n d U n r e p r ä s e n t i e r bares w i e d e r b e g e g n e t : den A k t des S c h r e i b e n s . 1 0 3 D i e U n h e i m l i c h k e i t der W i e d e r b e g e g n u n g m i t d e m eigenen S c h r i f t B i l d , verschoben hin zu einer Szene >fremden Schnüffelns< i m B e r e i c h des E i g e n e n , E i g e n s t e n , steht denn auch i m M i t t e l p u n k t einer jener w e n i g e n >Gespensterfreien Schriftstellers < zur ökonomischen Selbstverständlichkeit wird und ästhetische Texte nicht mehr vorwiegend von Beamten und Pastoren gewissermaßen im Nebenamt >gedichtet< werden. 109 Die Figur des >Berufsschriftstellers< ist, was ihr ökonomisches und ihr kulturelles Kapital betrifft, nichts weniger als unproblematisch. Die mehr oder minder systematische gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit der sozialen und ökonomischen Situation von Schriftstellern gründet in der Erkenntnis, daß »[h]eute mehr als jemals zuvor [...] geistige Kultur nicht nur die Sache des einzelnen großen Genies« ist, »sondern zugleich auch eine Sache der materiellen Organisation.«IID Ausgangspunkt beinahe aller dieser Analysen und Lösungsvorschläge ist die auffallende Diskrepanz zwischen der allgemeinen gesellschaftlichen und der monetären Wertschätzung, die den sogenannten >Geistesarbeitern< entgegengebracht wird. Es gilt, die »Unterwertung der geistigen Arbeit« 1 1 1 zu analysieren und Lösungsvorschläge zu entwerfen, die der dadurch entstehenden Gefährdung des kulturellen Lebens entgegenwirken sollen. Die Bandbreite der zur Problemklärung angebotenen Argumentationsmuster erstreckt sich von der nüchternen Forderung nach gewerkschaftsähnlicher Interessenvertretung 112 bis zur pathetischen Emphase des Schriftstellers als kritisch-geistiges Bewußtsein der Zeit schlechthin. 113 Einig ist man sich

108 109 110

111 112 113

Mahrholz 1 9 2 2 , S. 68f. Zur Geschichte dieser Entwicklung vgl. den kurzen Überblick bei Neuschäfer 1 9 8 1 . Haenisch 1920, S. 39. - »Das wissenschaftliche und das künstlerische Genie muß heutzutage genährt werden, es muß gedüngt werden durch die Bereitstellung der äußeren, materiellen Erfordernisse des Kulturlebens« (40). Haenisch 1920, S. 9 [im Original gesperrt], Vgl. Rauecker 1922. Der Schriftsteller erscheint dabei als die zeitgemäße und zeitgebundene - moderne Form des Textproduzenten überhaupt: ein risikofreudiger Artist der Verwandlung von synchronem >Geschehen< in Schrift: »Seiner Schrift kann deshalb weder die objektive Kühle des Wissenschaftlers noch die epische Ruhe des Erzählers nützen; seine Aufgabe ist nicht die Chronik der Leidenschaft, sondern ihre lebendige Sprache, weil seine Dinge

185

allenfalls über den Grund - die Ökonomisierung des Wortes durch die allgemeine und enorme Zunahme des Presseeinflusses — der ökonomischen Misere, die nun, nach einem Jahrhundert sogenannt freier Schriftstellerei, zu beheben sei; weitgehend einig auch über deren Folgen: eine quantitative Proletarisierung des Schreibens unter dem Druck des kärglichen Zeilengelds, der qualitative Verfall dichterischer Sprache und dichterischen Sprachbewußtseins, die radikale Unzulänglichkeit jedes Aquivalenzverhältnisses von ökonomischem Erfolg und ästhetischer Qualität. Um die heterogene diskursive Gemengelage dieser Auseinandersetzung zu strukturieren, mag eine Typologie der in den Bestandesaufnahmen festgestellten Schriftstellerpositionen weiterhelfen: Erstens gibt es den Ausnahmefall des Autors, der allein vom Ertrag seiner Schriften leben, das heißt: sich mit mehr oder weniger — den Gesetzen von Angebot und Nachfrage seitens des Publikums aber dennoch unterworfener — »freier Stoffwahl« auf einem »freien Markt« behaupten kann. 1 1 4 Aus naheliegenden Gründen interessiert dieser die Untersuchungen am wenigsten. 115 Zweitens sind da die Schriftsteller, die aufgrund anderer Erwerbstätigkeiten oder durch ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit nicht auf die ökonomische Einträglichkeit ihres Schreibens angewiesen sind. Sie bilden die Gruppe, die wegen der Gestalt des Literaturmarktes die große Mehrheit der Autoren ausmacht. Drittens schließlich gibt es die Zwischengruppe jener »freien Schriftsteller, die ohne im festen Dienstverhältnis zu bestimmten Verlegern zu stehen, doch ihre Stoffe und ihre Arbeitsform den Bedürfnissen schon vorhandener Unternehmungen, deren Technik, auch dem Geschmack sowohl des Publikums als der fur das Publikum wählenden Zwischenmänner anpassen« müssen, die also »ihren Erwerb ausschließlich oder doch zum größten Teil aus dem journalistischen Vertrieb kleinerer Arbeiten haben.« Ihre Situation kann als die wohl »kläglichste«

nicht schon geschehen, sondern erst in ihm am Wachsen sind. In seinen Sätzen lebt das Frage- und Antwortspiel, die These und die gewagte Antithese; er braucht den Hohn, das rasche Spottwort und den schwellenden Groll: er ist ein Sprecher, der sich selber der rascheste Gegner ist, ein Seiltänzer auf dem hohen Seil gefährlicher Gedanken, der mit der Balancierstange der Logik tollkühn die Schwebe hält« (Schäfer 1 9 1 1 , S. 45). " 4 Fred 1 9 1 1 , S. 23. 115 Damit erscheinen sie vergleichsweise avantgardistisch: »1964 stellten R. König und A. Silbermann fest, daß das Erfassen der Berufswirklichkeit künstlerischer Berufe dadurch erschwert werde, daß das Selbstverständnis als auch das Fremdverständnis der Schriftsteller noch stark von den Theorien der bürgerlichen Ästhetik und des bürgerlichen Geniebegriffs durchdrungen seien. Die Darstellungen des Schriftstellerberufs wurden auch tatsächlich immer wieder mit der wertenden Frage nach dem >eigentlichen< Schriftsteller, dem >Dichterfreien Schriftstellers< höhn. Von der gesellschaftlichen Wertschätzung des >Dichters< profitiert diese Art des >freien< Schriftstellers ebensowenig, wie sie die Freiheit von Stoff- und Stilwahl genießen kann. Die entgegen allen Idealen literarischer Qualitätsarbeit hochgradig egalitären Produktionskosten — sie bleiben vom Papier über den Druck bis zum Vertrieb von allen Inhalten unabhängig — haben eine Entlohnungspraxis zur Folge, die keineswegs den Heterogenitäten textproduzierender Arbeit gerecht werden können. Das aus diesen Umständen notwendig werdende Tempo des Schreibens und der Gedanken wirkt damit natürlich auf die Qualität der »Tagesschriftstellerei« zurück: Das ist dann erst die fürchterliche Schleifmühle unserer Literatur; denn weil, um nur einen Erwerb von 2 0 0 Mark im Monat zu erzielen, durchschnittlich jede Woche ein solches Feuilleton geschrieben werden muß: vermag leicht einer das erste halbe Dutzend noch mit angesammelten Gedankenreihen anzufüllen, auch später wird ihm hin und wieder eins dazwischen noch geraten. Im ganzen aber muß ihm W i t z und Sorgfalt versanden in dieser schlecht bezahlten Hetzarbeit. Nicht lange, er hat sich aufgegeben und muß doch weiter schreiben. Sein Stil fängt an mit Flüchtigkeiten, und wenn ihn nicht ein Glücksfall aus dieser Handwerkerei

erlöst, ist er in wenigen Jahren

als Schriftsteller drunter

durch.117

Die ökonomische Krise im Gefolge des ersten Weltkriegs verschärfte diese an sich schon problematische Ausgangslage derart, daß der preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Konrad Haenisch 1 9 2 0 in einem Vortrag zur Situation dieser »>freien< Geistesarbeiter« sich des im ökonomischen Sinn passenden Wortspiels vom >vogelfreien< Schriftsteller nicht enthalten kann und den Erhalt des Feuilletons zur vordringlichsten Aufgabe der Kulturpolitik erhebt. 1 1 8

7.2 Hand-Werk und Broterwerb Robert Walser verkörpert im Lauf seiner schriftstellerischen Existenz ein relativ breites Spektrum innerhalb der vorhandenen Möglichkeiten des

116

Fred 1 9 1 1 , S. 2 3 ; 3 8 [Hervorhebung im Original gesperrt].

117

Schäfer 1 9 1 0 , S. η·)ί.

118

Haenisch 1 9 2 0 , S. 2 7 . — V g l . auch die großangelegte Untersuchung des >Vereins für Sozialpolitik

zur Situation der »geistigen Arbeiter«: Sinzheimer 1 9 2 2 ;

Francke/Lotz

1922.

187

Schriftsteller-Berufs: vom hoffnungsvollen Jungautor, der sich in Künstlerund Schriftstellerkreisen schnell einen Namen macht, ohne damit aber weiter gefaßte Leserkreise und so eine durch das Schreiben ökonomisch gesicherte Existenz gewinnen zu können, bis zum am Rand der literarischen Öffentlichkeit arbeitenden Zeitschriftenlieferanten, der sich sozusagen von Feuilleton zu Feuilleton schreibt. In seiner Prosa schließlich spielen die Erwartungsmuster, welche die Gesellschaft an das Verhalten von Produzenten literarischer Texte stellt, eine unübersehbare Rolle; von der bissigen Kritik an bildungsbürgerlichen Konventionen 119 bis zu leicht ironischen Darstellungen dichterfreundlicher Wohltätigkeit reicht das Spektrum dieser Reflexionen: Und dann gab sie mir Geld, d.h. es ging folgendermaßen zu: Sie nestelte in ihrer Handtasche, als wenn sie dabei mit ihren Gedanken weit fort, irgendwo ganz anders sei, und krabbelte dann das hervor, was mir ohne weiteres annehmbar vorkam. Möglich mag ja sein, daß ich kein Geld von ihr hätte annehmen sollen. Immerhin geschah es, und zwar aus folgendem, wunderbar einfachen Motiv: Da ich, so sprach ich sogleich zu mir, fxir Schriftstellerarbeit oft entweder nur eine dünne, spärliche oder überhaupt keine Bezahlung oder Löhnung bekomme, so werde ich von einer Gelegenheit, mich einigermaßen entschädigt zu sehen, Gebrauch machen dürfen. »Sie halten mich fur arm?« fragte ich sie, wonach sie zur Antwort gab: »Nun ja, natürlich. Sie sind doch ein Dichter, und da alle oder doch wenigstens viele Dichter mit der Zeit ein bißchen herunterkommen und obendrein alle Dichter, gewiß aber namentlich Sie, das Leben lieben, so glaubte ich Ihnen als die Unglückliche, als die ich bin, und zugleich als die Tochter aus bürgerlichem Hause, die ich bin, eine kleine Unterstützung aushändigen zu sollen. Ich habe Geld, Sie aber haben ja viel, viel mehr.« ( B G

4, 100)

Die Zäsuren in Walsers Biographie zum Anfang der Berner Zeit scheinen sich in den wenigen aus dem Jahr 1 9 2 1 überlieferten Prosastücken besonders deutlich niederzuschlagen. Die Wiederannahme einer Stellung nach beinahe 15 Jahren des Berufsschriftstellertums ist zweifellos eine Änderung in den Lebensumständen, von der eine Poetik des Umgangs mit >WirklichkeitDichters< in Walsers sogenannten >Dichterporträts< begegnet. Der hier eingeschlagene Weg auf der Suche nach der Metaphorik der schriftstellerischen Arbeit geht indes umgekehrt vor: Nicht nach der Arbeit des Schreibens wird gefragt, sondern nach den Konnotationen des Schreibens als Form von Arbeit — als individuelle und zugleich gesellschaftliche Praxis, für die ein heterogenes Ensemble kollektiver Anerkennungs- und Bewertungskriterien besteht. Walsers Reaktion auf die oben skizzierte neue ökonomisch-biographische Lage besteht keineswegs in einem Verstummen, wie es noch 1 9 1 9 >Das letzte Prosastück< halb ironisch, aber dennoch in einigen Zügen eher die Umstände der zehn kommenden Jahre seiner Schriftstellerexistenz vorwegnehmend als die vergangenen zehn resümierend, ankündigt: Wahrscheinlich ist dies mein letztes Prosastück. Allerlei Erwägungen lassen mich glauben, es sei fiir mich Hirtenknaben höchste Zeit, mit Abfassen und Fortschicken von Prosastücken aufzuhören und von offenbar zu schwieriger Beschäftigung zurückzutreten. M i t Freuden will ich mich nach anderer Arbeit umschauen, damit ich mein Brot in Frieden essen kann. Was tat ich zehn Jahre lang? U m diese Frage beantworten zu können, muß ich erstens seufzen, zweitens schluchzen und drittens ein neues Kapitel oder frischen Abschnitt beginnen. Zehn Jahre lang schrieb ich fortgesetzt kleine Prosastücke, die sich selten als nützlich erwiesen. Was habe ich dulden müssen! Hundertmal rief ich aus: » N i e mehr wieder schreibe und sende ich«, schrieb und sandte aber jeweilen schon am selben oder folgenden Tag neue Ware, derart, daß ich meine Handlungsweise heute kaum noch begreife. Was ich an Einsenden leistete, macht mir kein Zweiter nach. Dies steht einzig da und gehört um seiner Possierlichkeit willen an die Plakatsäule geheftet, damit jedermann über meine Treuherzigkeit staunen kann. [ . . . ] Was taten die Herren Bibliothekare mit den Skizzen, Studien, Aufsätzen, womit ich sie überhäufte? Sie lasen sie, benäselten, beaugapfelten sie, zogen sie in Erwägung und

191

legten sie säuberlich in ihre Behälter oder Schubladen, wo sie aufbewahrt und fur eine passende Gelegenheit liegen blieben. K a m dieselbe jeweilen rasch herbei? Absolut nicht! Sie hatte es nie sehr eilig. Es ging mitunter jahrelang, bis sie sich zeigte, und unterdessen raufte sich ein Unglücksmensch in seiner Dachstube das Haar aus. [...] Ich glaube, das beste wird sein, wenn ich mich in eine Ecke setze und still bin. (16, 32if; 327)

Was sich verändert, ist der Charakter des Schreibens selbst. Kein SichAbarbeiten in mühseliger Revisionspraxis 123 steht mehr im Zentrum der Äußerungen über die schriftstellerische Arbeit. Gegen diese Form ästhetischer Wortverknappung führt Walser die zum desillusionierten sprach- und erkenntniskritischen Diskurs am Anfang des Jahrhunderts auffallend kontrastierende Einsicht der schieren Unmöglichkeit ins Feld, etwas Neues zu sagen. »Ach, ich will tun, als wäre alles, alles, alles längst gesagt. Nicht wahr, ich mache mir's bequem, aber sollte ich etwa nicht?« ( 1 7 , 2 1 ) Das entspricht keineswegs der sprachkritischen Verzweiflung der Moderne darüber, vom »fressend[en] Rost« einer kontaminierten Sprache noch der Möglichkeit zum »familiären und hausbackenen Gespräch« beraubt zu werden. 124 Im Gegenteil: wenn »alles, alles, alles längst gesagt« ist, dann gibt es den Druck nicht mehr, etwas Neues sagen zu müssen, weil die einzig mögliche Form ästhetischer Individualität fortan in der >bricolage< mit diesem Material des Schon-Gesagten besteht. 125 Fortan kann >kombiniertSachlichkeit< der neuen Lebensumstände direkt in ein poetologisches Programm verwandeln — was sich in Titeln von 1 9 2 1 veröffentlichten Prosastücken niederschlägt: »Neueste NachrichtDie ElfenauNeuesWas aus mir wurde< (1912); SK] die Zwangsjacke des Feuilletons, die ihm ein ungnädiges Schicksal übergestreift hat, um, und er verwandelt ihre bunte Innenseite in ein äußerliches Erkennungsmerkmal des eigenen Schreibens« (Utz 1998, S. 298). Vgl. Mohr 1994. — Da, wo sich Walser als >Subjektsujet< im Foucaultschen Sinn, fest-stellen läßt/lassen muß, bricht sein Schreiben und das Interesse dafür ab: »Erst die gegen seinen Willen erfolgte Verlegung in die Heil- und Pflegeanstalt Herisau brachte 1933 das endgültige Verstummen. Walser scheint sich mit der sozialen Identität, die man ihm nahelegte, abgefunden zu haben, zumal sie ihm beträchtliche psychische Entlastung versprach: Er war nun Patient einer psychiatrischen Klinik, klassifiziert als Schizophrener, doch unauffällig, und unbeirrbar konnte er sich der Sicherheit und Eintönigkeit des Anstaltsalltags überantworten. Er gab dem Identitätszwang paradoxerweise in einer Rolle nach, die der Gesellschaft als Musterbeispiel des Identitätsverlustes gilt, in der des Insassen einer Irrenanstalt. Walser aber wurde in ihr erst >normalIch< und >Er/Räuber< Bungartz 1988, S. 52—64; Bürgi-Michaud 1996, S. 193 — 2 1 0 sowie schon Colwell 1978. Die Behauptung Holonas, »daß ein deutliches Ansprechen dieser Problematik [...] ab 1920 stark zurückgeht« (Holona 1980, S. 114), ist kaum nachzuvollziehen. Was zurückgeht, ist allenfalls die Zahl der Prosastücke, die durch ihren Titel diesem Kontext zugeordnet werden können. Im Gegenteil ist mit Bürgi-Michaud, wenn auch möglicherweise mit einer nicht ganz so pessimistisch-passiven Perspektivierung, festzuhalten: »Das literarische Schaffen dieser Periode [hier im engeren Sinn bezogen auf die Jahre 1924/25] ist inhaltlich geprägt von Walsers kritischer Auseinandersetzung mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit, einer Auseinandersetzung, die zuweilen einem generellen Infragestellen seines literarischen Talents gleichkommt, oft aber auch einem vehementen Verteidigen als Reflex gegen von aussen an ihn gerichtete Anwürfe« (Bürgi-Michaud 1996, S. 24f.).

195

ich inliegende sechs Arbeiten mit ich darf sagen starkem Willen eifrig bearbeitet habe, was mich keine kleine Summe von Geduld gekostet hat. Es würde mich freuen, wenn ich diesbezüglich nicht weiter Anstrengung nötig hätte zu machen sondern mit Ihrem werten Hause freundlich einig werden könnte. Was ich irgendwie tun konnte, um ein schönes, wohlgeformtes Buch herzustellen, habe ich getan. (B 1 4 2 , 1 1 9 )

Walsers Äußerungen zu seinem Schreiben in den Briefen an Frieda Mermet bedienen sich fast ausnahmslos der Metaphorik der Arbeitswelt, der Aufgabe, der Pflichterfüllung — »ich sitze jeden Tag an der täglichen Arbeit, die ich nach und nach zu bewältigen hoffe« (B 168, 152); er entschuldigt sich fur die knappen und seltenen Briefe damit, »anhaltend im Beruf zu schreiben« (B 176, 162) zu haben und kann im Oktober 1920 das »Glück« vermelden, »diesen Sommer einige Fortschritte zu machen, nämlich in meinem Gewerbe, d. h. der Dichterei oder vorteilhafter gesprochen: Dichtkunst« (B 195, 177). In der Berner Zeit verlagert sich diese Reflexion zunehmend, wenn auch zunächst über Umwege, in die Texte, während in den Briefen sich, wenn überhaupt, eher unmittelbar poetologische Fragen oder aber explizit kulturkritische Ausführungen manifestieren. Erstes Opfer dieses kritischen Impetus wird Efraim Frischs >Neuer MerkurDas letzte Prosastück< gleichsam weiterschreibend — als Neuerung im poetischen Programm auftritt. Nicht nur das Schreiben, sondern vor allem auch die Figuren des Schreibenden und die Problematik der gesellschaftlichen Bewertung seiner Arbeit werden durch diese Fokussierung in den Blick gerückt. Dies zunächst in einem grundlegend materiellen Sinn: Die Prosastücke sind zwar >GeistesprodukteVerlegers< gleichsam seinen historischen Sinn zurückerstattet. 138 Schriftstellerei ist Produktion auf — zunehmend unsicheren — Kredit. Dementsprechend ist denn auch immer wieder vom »Geld« die Rede, das mit »Artikelverfassen« (BG 4, 91) gewonnen werden kann: »Apropos, schreibe ich etwa auch diesen Aufsatz oder Essay, wie scheinbar schon so 138

»[.E]in buch verlegen« bedeutet ursprünglich lediglich, »die druckkosten fur das buch eines anderen übernehmen« (Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , X X V , Sp. 759). — »Zwar behält der >freischaffende< Feuilletonist scheinbar wie ein Kleinunternehmer die Produktion seiner feuilletonistischen Ware in der eigenen Hand. Doch bleibt er fur ihren Vertrieb ganz von den Feuilletonredakteuren abhängig. Diese eigentlich frühkapitalistische Produktionsstruktur, unter dem Begriff >Verlagssystem< im 18. Jahrhundert verbreitet, hält sich nur noch auf dem Buch- und Zeitungsmarkt. Seine Monopolstellung im Zugang zum literarischen Markt gibt dem >Redakteur< oder dem >Verleger< in den Augen des abhängigen Heimarbeiters eine Machtfulle, auf die er nur mit Unterwerfung oder Aggression reagieren kann« (Utz 1998, S. 344).

198

manchen vorausgegangenen,

w i e d e r l e d i g l i c h f ü r n i c h t s a n d e r e s als f ü r

G e l d ? I c h w i l l diese F r a g e , ä h n l i c h w i e ich es m i t s o n s t i g e n g e t a n h a b e , d e r B e q u e m l i c h k e i t h a l b e r o f f e n s t e h e n lassen« ( 1 8 , 1 6 8 ) . D i e F r a g e b l e i b t w o h l nicht zuletzt deshalb offen, w e i l der W e c h s e l k u r s v o n A u f s ä t z e n u n d G e l d , ü b e r d i e o b e n e r w ä h n t e U n s i c h e r h e i t h i n a u s , in d o p p e l t e r H i n s i c h t p r e k ä r ist. Z w a r w e r d e n d a d u r c h z u m e i n e n d i e P r o d u k t e s c h r i f t s t e l l e r i s c h e r T ä t i g k e i t als A r b e i t i m k o n k r e t e n ö k o n o m i s c h e n S i n n faßbar. A l l e r d i n g s d i e n t das e r s c h r i e b e n e H o n o r a r k e i n e s w e g s d e r m a t e r i e l l e n E x i s t e n z s i c h e r u n g . I m G e g e n t e i l w i r d das ö k o n o m i s c h e K a p i t a l d e r S c h r i f t s t e l l e r a r b e i t gewissermaßen v o m kulturellen Kapital gesellschaftlicher Klischees

von

D i c h t e r e x i s t e n z a u f g e z e h r t : D e r A r b e i t s l o h n w i r d in R e s t a u r a n t s , K a b a r e t t s u n d s o n s t i g e V e r g n ü g u n g s a n s t a l t e n g e t r a g e n u n d e r f ä h r t d a m i t eine V e r s c h w e n d u n g , die der ü b e r k o m m e n e n V o r s t e l l u n g der B o h è m e - E x i s t e n z nur zu g u t entspricht:139 Ich schriftsteilere ja seit einiger Z e i t , und dann und wann laufen begreiflicherweise Honorare ein, von denen ich mir beinahe einbilde, es sei geschenktes G e l d , w o m i t ich nicht unbedingt sehr sorgsam umzugehen nötig hätte. ( 1 8 , 5 2 ) » D u arbeitest nur deshalb so eifrig fur die Presse, u m den Lohn in allerlei Restaurants zu tragen«, redete mich dieser Tage eine D a m e an, die die Respektabilität selbst zu sein schien. Ich warf auf die Bemerkung hin bloß einen bittenden Blick in den H i m m e l . ( 1 7 , 8 2 ) . Dieses ö k o n o m i s c h e Verhalten schließt aber T ä t i g k e i t u n d H a b i t u s

des

S c h r i f t s t e l l e r s — t r o t z ihrer f a k t i s c h e n > W i r t s c h a f t l i c h k e i t < — m i t d e n g e s e l l s c h a f t l i c h s a n k t i o n i e r e n d e n V o r u r t e i l e n k u r z , d i e d e n S c h r e i b e n d e n als p o t e n t i e l l e n A r b e i t s v e r w e i g e r e r u n d also A u ß e n s e i t e r b e w e r t e n . 1 4 0

Denn

159

Diese kann deshalb nicht allein — zumal nicht direkt in Übertragung auf Walsers Biographie — zum Nennwert einer Ökonomie der Souveränität genommen werden. Vgl. zu diesem Aspekt von Walsers Texten Hinz 1 9 8 5 . — Damit soll Walsers »ökonomischen Entwürfen< keineswegs die Strukturverwandtschaft mit Konzepten einer souveränen Ökonomie im Bataille'sehen Sinn insgesamt abgesprochen werden. Es gibt explizite Beschreibungen dieser Art, die an Präzision dieser theoretischen Konzeption in nichts nachstehen, z.B.: »Das Land braucht heute mehr als je zuvor wieder eine Elite von Begabten, von Freien und Schönen, in sich Abgeklärten, von solchen, die genügend Seelenstärke haben, um auf Arbeit zu verzichten, eine Elite von Menschen, deren Existenz sich auf dem Luxus aufbaut, den sie bezahlen, und die den Luxus, seine Lust und seine Qual, zu ertragen vermögen« ( B G 4, 70).

140

Vgl. dazu, unter vielen anderen, etwa das Prosastück >Ich soll arbeiten< ( 1 7 , 75ff.) resp. B G 2, 478f.: »>Sie sollen arbeiten. Einfach tätig sein sollen Sie. Ich befehle Ihnen das ja natürlich nicht, denn ich habe Ihnen nichts vorzuschreiben. Ich sehe sehr gut ein, daß ich nicht Ihr Vorgesetzter binMan sieht Sie häufig herumflanieren, das nimmt sich nicht sonderlich gut aus, falls Sie gesonnen sind, nicht gleich aufzufahren, wenn Ihnen jemand die Meinung sagt.RäuberZwischenhändlers< wie des Konsumenten — die Erscheinungsform einer Ware unter anderen an: Industrie und Handwerk, Handel und Landbau sandten ihre Abgesandten. Von rollenden Läden herab wurden Weggli, Schinkenbrötchen, Blumensträuße, Limonade und Literatur verkauft. Der Andrang war namentlich nach letzterem Artikel groß. J a , ja, man täuscht sich! ( 1 7 , 3 1 )

Literatur liegt, wie Käse und Wäsche, in Schaufenstern, 141 wirbt mit phantasieanregenden Umschlägen wie jede andere Ware mit ihrer Verpakkung um das Interesse potentieller Käufer. 142 Sie akzeptiert gleichzeitig von Seiten des Produzenten — als >Wechsel< den Status einer Art von Papier-Geld, die in den Umlauf der Zirkulationsanstalten gespeist wird, die aber — wie schon die winzige, doch entscheidende Differenz zwischen >Beitrag< und >Betrag< anzeigt - im Gegensatz zum normalen Geldverkehr allein durch höchst instabile Konventionen gedeckt ist.

141

142

»In der Stadt wieder dufteten Nelken dicht neben Geisteserzeugnissen in Buchläden. Hier stand ich vor roten Kugeln, das waren Holländerkäse. In einem Schaufenster befanden sich nichts als Damenstrümpfe« ( 1 8 , 9). »In Schaufenstern sieht man, hübsch voneinander abgetrennt, Hüte, Brot, Zuckerbäckereien, Uhren, Gewänder, Bücher, Photographenapparate, Würste, Bürsten, Zigarren, Handwerkszeug, Kolonialwaren, Antiquitäten usw. ausgestellt. Die Geschäftsleute verstehen mehr oder weniger ihre Schaufenster, die hier hoch, dort niedrig, irgendwo schmal, anderweitig breit sind, derartig zu arrangieren, daß die Augen des Publikums fasziniert werden und Kauflust geweckt wird« (19, 177).

200

Die Verschränkung dieser Diskurse zeigt exemplarisch das 1926 entstandene und im August 1927 im >Berliner Tageblatt< veröffentlichte Prosastück >Artikel·. Weist es schon sein Titel als Text und Handelsgegenstand zugleich aus, bildet einer seiner Schreibanlässe eine Form selbst wieder ökonomisierter Textualität: das Blatt eines »Abrißkalender[s]«, den das Text-Ich »von der Herausgeberin, einer Nahrungsmittelfabrik, zugesandt erhielt« (19, i26f.). So kehren Texte, zirkulierend über den Bereich der ökonomischen Produktion, der seinerseits Funktionsbereiche des Literaturbetriebs in sich aufnimmt, an ihren Ausgangsort zurück und werden Anlaß zur Entstehung eines neuen Texts; dies nicht nur durch ihre Zeichenfunktion, die zur textproduzierenden Erinnerung Anlaß gibt und so die präzis arrangierte Assoziationsstruktur des Prosastücks in Gang setzt, 143 sondern ebenso als >mise en abyme< dieses Zirkulationsverhältnisses: N u n ist mein Abrißkalender mit Sprüchen versehen, und zwar so, daß mir jeder neue Tag einen neuen Weisheitsspruch beschert. Solche Sprüche genügen uns, was ihren Gedankeninhalt betrifft, nicht immer, was ja verständlich ist. A b e r der heutige Abrißkalenderspruch ist, ich möchte sagen, großartig. E r ist schön und fromm, fröhlich und tief, g u t m ü t i g und achtunggebietend zugleich, und er stammt aus persischem Geistesleben her. Ich füge nun vielleicht etwas Eitles, Selbstgefälliges bei, wenn ich melde, daß der Abrißkalender auch einen aus einem der Bücher, die ich schrieb, herausgezogenen Ausspruch birgt. Dies natürlich bloß durchaus nebenbei, und ich bedaure eigentlich, diese Persönlichkeitsbemerkung, die vielleicht nicht ganz statthaft ist, gemacht zu haben. ( 1 9 , 1 2 8 )

Diese Spiegelung suspendiert die Differenz zwischen »Wirklichkeit« und »Büchern oder [...] Zeitungspapier« (19, 126), die am Anfang des Textes steht, ebenso wie die zwischen beobachteter Spiegelung und narzißtischer Selbstbespiegelung. In geradezu meisterhafter Weise wird eine abgründig komplexe Zirkulationsstruktur >fertiger< Produkte konfrontiert mit der Akzentuierung einer linear verlaufenden Arbeitszeit, die sich zwar von »neun Uhr vormittags« (19, 126) bis »halb zwölf Uhr« (19, 130) erstreckt, das dabei Produzierte aber wiederum unter die Gesetzmäßigkeit komplexerer Austauschverhältnisse zwingt. Sie bringt also, sozusagen zwi143

»Auf dem Abrißkalender ist ein junges Mädchen abgebildet, das bräunliche Wangen hat, keck in die Welt schaut, und jetzt erinnere ich mich plötzlich, so am Tisch sitzend und diese Skizze hier skizzierend, an Ellen Key, neben der ich einst, das heißt vor soundso vielen Jahren, die für die Menschheit so merkwürdig geworden sind, im Hause eines Berliner Verlegers, anläßlich eines Diners, bei Tisch saß, und die mir bei dieser Gelegenheit, vielleicht zum Zeichen ihres Wohlwollens, wozu eine ältere Frau gegenüber einem jungen Anlaufenden und Strebenden naturgemäß berechtigt war, eine Birne, die sie geschält hatte, auf den Teller legte« ( 1 9 , 127).

201

sehen K a f f e e p a u s e 1 4 4 u n d » M i t t a g s m a h l « ( 1 9 , 1 3 0 ) , einen Text hervor, der m i t seinem ersten Buchstaben einen A n f a n g n i m m t u n d i m S c h l u ß p u n k t sein E n d e findet; der Verlauf des Textes g i b t diese Linearität allerdings als rein äußerliche und kontingente zu erkennen: D e r »Zufall Arbeitsschritte< teilen, das sie verkettende Strukturprinzip aber besteht gerade in permanenter Rekursivität und Zirkulation. W i e nach M a r x G o l d G o l d >hecktGeld< und >GeistRäuberWert< gehandelt wird, der in der Tat kein Dasein mehr, wie um Hegels (oder Heideggers) These zu bestätigen, bestimmt, also gegen eine desakralisierte, entgötterte und damit >geistlos< gewordene Welt des >BetriebsMerkspruch
Blättern für die

Kunst< die Prosa im allgemeinen: E R Z Ä H L U N G . Man verwechselt heute kunst (literatur) mit berichterstatterei (reportage) zu welch letzter gattung die meisten unsrer erzählungen (sogen, romane) gehören, ein gewisser zeitgeschichtlicher wert bleibt ihnen immerhin obgleich er nicht dem der tagesblätter richtverhandlungen behördlichen zählungen u.a. gleichkommt. 1 4 7 Wenn der Scheidemünze des schriftstellerischen Tagesgeschäfts der Glanz wahrer Poesie, die »alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend« 1 4 8 konzipiert und erarbeitet werden muß, entgegengestellt wird, dann nur, um letztere auch als Produkt jeder gängigen gesellschaftlichen Zirkulation zu entziehen. Nach Rainer Kolk entspricht dieser Aufkündigung der Beziehung zwischen den gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnissen und der Kunst und die Strategie von Georges Selbstinszenierung als deren Erneuerer, ja Retter noch bis ins organisatorische Detail: Georges Strategie als sozialer Akteur im literarischen Feld des deutschsprachigen Raums zielt auf eine Position, die für bestehende Strukturen marginal bleibt, diese Distanz aber als zeitgemäß definiert und durch gezielte Kontakte mit den europäischen Literaturmetropolen beglaubigt. Die Misere der deutschen Kunst, von der die ersten Jahrgänge der Blätter wie selbstverständlich ausgehen, kann nicht durch Partizipation an ihrer Organisationsform behoben werden, deren Sog innovative Impulse neutralisieren würde. Die Konsequenz ist jenes halböffentliche Vertriebssystem, das auf direkte Kommunikation setzt, auf die persönliche Bekanntschaft, die George mit allen Autoren seiner Zeitschrift sucht, wie auf ihre Vermittlung und Empfehlung durch private Kontakte. Diesem demonstrativen Verzicht auf die Kumulation ökonomischen Kapitals, um Bourdieus Metaphorik aufzugreifen, der sich in der geringen Auflage von ca. 100 Exemplaren je Heft ebenso spiegelt wie im Verzicht auf geläufige Vertriebswege und Werbemaßnahmen, entspricht aber, und dies ist entscheidend, ein Zugewinn an symbolischem Kapital. 1 4 9 Diese letztlich fatale Naivität teilt Walser ebensowenig wie den Gestus heiliger Ernsthaftigkeit, mit dem diese sich gerne u m g i b t . 1 5 0 Sein »Fabri147 148 149 150

Zit. nach Landmann 1964, S. 1 1 . Zit. nach Landmann 1964, S. 7. Kolk 1998, S. 50. Bereits fur Walsers Künstler-Reflexionen aus der Berliner und Bieler Zeit gilt die Verschränkung von Teilautonomie und gesellschaftlicher Einbindung, die in der Berner Prosa selbst wiederum in der literarischen Produktion thematisiert werden wird: »Es wäre jedoch darauf hinzuweisen, daß bei Robert Walser die Losgelöstheit des Künstlers von der Gesellschaft eher eine relative ist; weder der unversöhnliche Gegensatz von Bildungsphilister (Bourgeois) und Künstler, noch die subtilen Analysen der Psychologie des Künstlers bestimmen diese Problematik. Es fehlen auch jene ästhetisierenden Momente,

203

kantenbewußtsein« ( 1 9 , 287) hat als grundsätzlich selbstreflexives dafür den gewichtigen Vorteil für sich, die Gesetzmäßigkeiten, denen es unterliegt, so klar wie ironisch beschreiben — und das heißt wiederum: in Texte verwandeln — zu können: Einige mittelalterliche kunstgewerbliche Abbildungen überzeugten mich neuerdings, mit welch liebenswürdiger Bequemlichkeit, mit was für einer auserlesenen ruhigen Energie einstmals Künstler und Kunsthandwerker arbeiteten, Worte, womit es mir selbstverständlich nicht einfällt, heutige Art und Weise zu kritisieren, ich vielmehr bloß geglaubt, gedacht haben will, daß wir in vieler Hinsicht von den Einstigen zu lernen bestrebt sind. Bei uns Heutigen ist es eine Tatsache, die ich weder als unerbaulich noch als durchweg angenehm empfinde, daß jedes Ausfuhren, Herstellen usw. auf dem Gebiet der Kunst literarische Begleitetheiten, ein geschriebenes oder gesprochenes Hin- und Herraten, was schön und nützlich sei, hervorruft. M i t dieser Tatsache verhält sich's ganz einfach so: es gibt in unsern Tagen viele unproduktiv Gebildete, die man freilich nicht wird hindern wollen, sich auf verfeinerte, gleichsam bloß anschauende Weise zu betätigen. ( 1 9 , 7 2 f . )

Die Metaphorik dieser Reflexion bedient sich dabei nicht nur in der Historisierung, die selbst wiederum diverse Klischees der Geschichte kultureller Produktivität in Anspruch nimmt, der Begriffsfelder des Handwerks. 1 5 1 Oft zitiert in diesem Zusammenhang wird der Anfang des Prosastücks >Eine Art ErzählungNebensächlichen< in der syntaktischen Struktur zunächst dezent, aber wirksam falsche Fährten: Besteht der Schreibanlaß in der Geschichte des Mannes, dessen Alterungsprozeß der Erzählverlauf durch die fortlaufende Präzisierung radikal zu beschleunigen scheint? Handelt es sich um eine Diener-Herr-Geschichte? Oder stehen, ihrem Status zum Satzende entsprechend, die zwei Söhne und ihre Differenzen im Fokus des Texts? Selbst wenn man sich für diese letzte und plausibelste Variante entscheidet, wird man das Geheimnis vorerst noch kaum lüften; das »Motiv« oder Erzählmodell >Vater — zwei gegensätzliche Söhne< weist derart grundsätzliche Züge auf, daß es als Modell anonym bleibt — zwischen Mythos und Trivialliteratur und quer durch die Literaturgeschichte erstreckt sich das Textfeld, in dem die Differenz zweier Brüder und der darin präfigurierte Bruderzwist verhandelt werden kann. Deshalb ist das Offenlassen der Frage nach dem Motivspender nur konsequent; auf dieser Ebene der Erzählarbeit lassen sich >Eigentumsverhältnisse< an narrativen Elementen schwerlich behaupten. Es eröffnet zudem einen Spannungsbogen, der sich über das ganze Prosastück hinweg erstreckt; dieser läßt wegen des >Rätselcharakters< der Inszenierung die Textstücke in der Tat als >zusammengenagelte< Zeilen erscheinen, die mehr und mehr vom Geheimnis ihrer Referenz preiszugeben versprechen. Folgerichtig gibt der Text die Lösung des Rätsels erst am Schluß: »Man wird gemerkt haben, daß mich Schillers >Räuber< ernsthaft werden ließen und lachen machten, die ich mir kürzlich wieder einmal zu Gemüt führte« (20, 325). 153

Vgl. Villwock 1993, S. 5 2 - 6 2 .

205

In einer von diesem Wissensstand ausgehenden Relektüre wird nun sichtbar, daß Walsers Prosastück von Anbeginn auf die >Räuber< zurückgeht und eine Lektüre präsentiert, deren Umschlag in schreibende Produktivität vom Zitat bis zur Parodie »Bild fur Bild« (20, 323) das gesamte Spektrum intertextueller Verfahren abdeckt. 154 Das läßt sich schon an der Beschreibung der Figurenkonstellation zeigen: Das erste Söhnchen ist schön, zugleich aber verhältnismäßig leider liederlich, während sich der zweite Sprößling, bei nicht allzu stattlicher äußerer Erscheinung, will sagen nicht sehr vorteilhafter Gestalt, durch Solidität hervortut. Der erste Abkömmling wandert in die Ferne und Weite, indes Nummer Zwei hübsch säuberlich, dienlich und artig zu Hause bleibt, wo die Geliebte des ersteren Gelegenheit in Hülle und Fülle hat, lebhaft, ich meine sehnsüchtig an die Aufunddavongelaufenheit, mit andern Worten, den Feurigen und Idealistischen zu denken, der jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach arm und verlassen im Ungewissen herumirrt. Wie die Personen heißen, will nicht ausgeplaudert sein. (20, 323)

Je »oberflächlichen das Mitgeteilte ist, desto präziser >stimmt< Walsers Inszenierung: An- respektive Abwesenheit der einzelnen Figuren am/vom Ort des Geschehens, der den >Sehe-Punkt< fur deren Konstellation bildet; die äußere Erscheinung der Brüder; 1 " die Sehnsucht der »Geliebt[en] des ersteren«. Die Beschreibung ist montiert aus Handlungselementen der ersten und dritten Szene des ersten Aktes, die im »Moorischen Schloß« 1 ' 6 handeln; zudem ist die Charakterisierung der Brüder in der Perspektive des alten Moor gehalten — damit entfällt im Prosastück auch das intrigante Potential, das Franz bereits in der ersten Szene von Schillers Drama an den Tag legt. Diese Oberflächenpräzision ist jedoch kein durchgängiger Schlüssel fur die Entzifferung von Walsers Verrätselungsstrategie. So bleibt das Außenseitertum des ersten Sohnes in der parodistischen Schilderung wiederum auf der Ebene von Äußerlichkeiten, während der Bezugstext tiefe seelische Abgründe aufreißt, um Karl zum Räuberhauptmann werden zu lassen: Essensmangel, vernachlässigte Kleidung und unregelmäßige Rasur, trivialste Bildelemente sozialer Stigmatisierung also, treten an die

•54 V g l . dazu Lachmann 1990, S. 38ÎÏ. 155

156

V g l . den Schlußmonolog Franz' in der ersten Szene des ersten Akts: »Ich habe grosse Rechte, über die Natur ungehalten zu seyn, und bei meiner Ehre! ich will sie geltend machen. [ . . . ] Warum mußte sie mir diese Bürde von Häßlichkeit aufladen? gerade mir? Nicht anders als ob sie bey meiner Geburt einen Rest gesezt hätte. Warum gerade mir die Lappländers Nase? Gerade mir dieses Mohrenmaul? diese Hottentotten Augen? Wirklich ich glaube sie hat von allen Menschensorten das Scheußliche auf einen Haufen geworffen, und mich daraus gebacken« (Schiller i782/i943ÍF., III, S. 18). Schiller 1782/1943«:, III, S. 1 1 ; 33.

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Stelle der »[u]nglüklich[en] Konjunkturen«, 157 die Franz Moor an den Rand der Gesellschaft treiben. 158 Ebenso parodistisch scheint der Umgang mit dem Dialog zwischen Amalia und dem alten Moor eingangs der zweiten Szene des zweiten Akts. Die bei Schiller knapp gehaltene Trauer des alten Moor über die Abwesenheit Karls — »Es ist schwer, es ist traurig! Ich sterbe, und mein Sohn Karl ist nicht hier« 1 5 9 — sowie eine unauffällige Regieanweisung (»AMALIA. [...] Faßt seine Hand mit Wehmut.«l6°) verwandelt sich in Walsers Text-Werkstatt in einen ausufernden und am Ende von subtiler Zweideutigkeit gerahmten Monolog: Der alte Stammhalter oder -vater zieht das Mädchen mitunter in den Bann oder Kreis oder in den Rahmen einer Unterhaltung, wobei ihm einfallen kann, zu sagen: »Mein Sohn sehnt sich, nach Hause zu kommen, und indes ihn diese an sich gewiß prächtige Eigentümlichkeit zu einem von oben bis unten Gefühlvollen macht, wandert er durch ehemals reich und mächtig gewesene, nunmehr aber halbzerfallene, jedes kunstverständige Auge ihrer Ruinenhafitigkeit wegen entzückende Städte, oder er klettert über Halden und Abhänge, trifft im Vorbeimarschieren in zweifelhafter, buntzusammengewobener Gesellschaft Einwohner an, die irgendeine Kommission auf ihren Achseln mitfortzutragen scheinen und sieht sie in die und die imposanten oder unauffälligen Türen treten. W o bist zu nun, Hoffnung meiner Hinfälligkeit?«, und er ringt, falls man das für glaubhaft halten mag, seine Hände, und Fräulein wissen nichts Besseres zu tun als ihn, was klägliche Auffuhrung anbelangt nachzuahmen. (20, 3 2 3f.)

Solche Spiele der Verstellung präfiguriert aber auch Schillers Drama: ebenfalls in der zweiten Szene des zweiten Akts gibt Herrmann, laut Regieanweisungen »verkappt« und »mit veränderter Stimme« vor, Nachricht von Karl zu erstatten: »Er studirte in Leipzig. Von da zog er, ich weis nicht wie weit, herum. Er durchschwärmte Deutschland in die Runde, und, wie er mir sagte, mit unbedektem Haupt, barfus, und erbettelte sein Brod vor den Thüren.« 101 Die Heterogenität schreibender Relektüre trifft indes nicht nur die Figuren, sondern auch Dialoge und Szenenanordnungen. So wird in den drei auf die Explizierung der Figurenkonstellation folgenden Abschnitten dieselbe Szene (II.2) Gegenstand der Umschreibung; das Spektrum der 157 158

159

" 6o 161

Schiller 1 7 8 2 / 1 9 4 3 ^ , III, S. 6. »Der mit allen merklichen Gaben Ausgestattete hat vielleicht jetzt hie und da nichts zu beißen und brechen, womit essen gemeint sein könnte. Sein Anzug fangt womöglich nach und nach an, Beweise von Vernachlässigung zu bekunden, und ob er dazu komme, sich regelmäßig rasieren zu lassen, kommt sowohl im selbst wie seiner daheimgebliebenen Freundin, die von empfindsamer Art ist, zweifelhaft vor« (20, 323). Schiller 1 7 8 2 / 1 9 4 3 ^ , III, S. 45. Schiller I782/I943ÍF., III, S. 44. Schiller 1782/1943ÎÏ., III, S. 46.

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Inszenierung reicht auch hier von parodistischer Paraphrase bis zur Wortgenauigkeit. Franz Moors Schlußauftritt, im Handlungsverlauf des Dramas nach der fingierten Botschaft von Karls Tod und ihren Auswirkungen auf den alten Moor und Amalia positioniert, mündet im Prosastück schließlich in einem Zitat: Das Fräulein flog in ihr Boudoir [»AMALIA. [ . . . ] ab in Verzweiflung«], und der sehr gravitätische zweite Sohn, dieses, wie es schien, famose Früchtchen, tanzte im Empfangssaal einen Vergnügtheitstanz [»FRANZ. hüpft frolockend herein.«], wobei er allerlei Gelenkigkeit an den Tag legte. Was sprach er anderes, als: »Jetzt bin ich Herr« [»Izt bin ich Herr.«], und guckt oder blinkt nun nicht gleichsam die Quelle durch, die mich nährt, die Matte, auf der ich mich hier sozusagen sattweide? (20, 3 2 5 ) 1 6 2

Nach dieser markierten Nahtstelle, die — beiden Texten zugehörend und sie miteinander verbindend — den Schlüssel der intertextuellen Rätselinszenierung liefern, ist der Rest der Handlung schnell abgetan. Die folgenden neun Szenen von Schillers Drama, an Textumfang immerhin zwei Drittel des gesamten Stücks, werden in einen halben Satz gerafft — »Sohn Nummer Eins erlebt inzwischen Verschiedenartiges« — und zusammen mit der letzten Szene in einem einzigen Abschnitt verdichtet, der in Grevens Ausgabe gute dreizehn Zeilen umfaßt und darüber hinaus das tragische Ende in ein offenes verwandelt: »Der, der dies vernimmt, springt auf, läßt die Absicht verlauten, sogleich zu ihr zu gehen, damit er sie und sie ihn sähe, und in der Tat findet ein Wiedersehen statt.« (20, 325) Walsers literarisches Vexierspiel ist über den zugleich respektlosen und präzisen Umgang mit dem Bezugstext hinaus von fundamentaler poetologischer Subversivität. Denn nach der Auflösung des Rätsels wird der Bezugstext zur expliziten Gegenfigur des eigenen poetologischen Programms erklärt. Die >Räuber< sind, so der »handwerklich[e] Romancier« (19, 322), »eine Dichtung quasi aus einem Gusse« (19, 325). 1 6 3 Dieses Urteil trifft 162

163

In eckigen Klammern: Schiller 1782/19438?., III, S. 52. Die Regieanweisungen und der Ausschnitt aus Franzens Schlußmonolog der Szene befinden sich in unmittelbarer Abfolge in den Zeilen 1 9 - 2 2 . Daß das weder für die Entstehungsgeschichte des Schauspiels noch für Schillers Selbsteinschätzung des Dramas zutrifft, hat Villwock 1993, S. 54 hervorgehoben: »>Die Räuber< tragen als gemeinsame Frucht einer qualvollen Entstehungssituation und eines unbändigen auktorialen Selbstbehauptungswillens, in Schillers Worten: >des naturwidrigen Beischlafs der Subordination und des Genius< natürlich die Male ihrer Herkunft. Das Werk ist äußerst heterogen: die verschiedensten Vorlagen schimmern durch; zwei historische Ebenen (das ursprünglich gemeinte 18. Jahrhundert und das 16. Jahrhundert, in das die Handlung aus Angst vor der Zensur verlegt werden mußte) überlagern sich, was zu Ungereimtheiten führt; unvereinbare Stilebenen und Sprachregister wechseln sich in bunter Folge ab [...]; zu viele vom Hauptgeschehen ablenkende >Realitäten< drängen sich in den Text und stören die dramatische Konzentration.«

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wohl für die unter den Auspizien des >Klassikers< stehende Schiller-Rezeption der Zeit, die diesen »ins Genialische aufbläst«, 1 0 4 eher zu als fur den Text des Schauspiels; es unterstreicht aber die Differenz zwischen dem Dichterideal eines Schöpfergenius' und der Schreibwirklichkeit des Basteins und Montierens zusätzlich, die den Rahmen von Walsers Prosastück bildet. D i e Schreibprogrammatik des Montageverfahrens gibt sich zudem als Lektüreresistenz gegen ein geschlossenes, normativ homogenes Werkideal zu erkennen, das die Rezeption >klassischer< Texte steuert: Die schreibende Relektüre Walsers klopft es auf die Risse und Brüche ab, die von der Stilvorgabe einer »Dichtung quasi aus einem Gusse« gekittet und versteckt werden sollen.

7 . 3 Goldfabrikant und Schreibmaschinenfräulein: Textfabrikationsweisen »Wert und Wort, steckt in dieser Klangähnlichkeit nicht etwas Überraschendes, als bedeuteten diese beiden Wörter ein und dasselbe?« (>Mich überrascht jedesmal.. .Vorschlag dem Büchernachdrucke zu steue r e (Bürger 1777/1987, S. 6 9 8 - 7 1 5 ) . Dazu allgemein Bosse 1 9 8 1 . - Weitere Belege zur metaphorischen Verknüpfung von Gold und Poesie bei Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , VIII, Sp. 7 0 5 f r . Hörisch 1996 (Zit. 45). Dazu Hörisch 1996, S. 20ff. (Zitate 26). — Überzeugender als Hörischs »Problemgeschichte der Literatur«, die streckenweise an eine (systemtheoretisch-)funktionalistisch aufgeladene Motivgeschichte erinnert, scheint mir allerdings, bei allen notwendigen Einwänden gegen ihre übereilte Homologisierungstendenz und politische Instrumentalisierung, die Strukturgeschichte von Gold, Sprache, Vater und Phallus bei Goux 1973/1975 und - von den erwähnten Mängeln zunehmend befreit - Goux 1984.

209

tung durch die Literatur. Die Belege, die sich dafür quer durch die Jahrhunderte anfuhren lassen, sind geradezu überwältigend und zeigen eines recht deutlich: »echtes poetisches Gold« stellt einen beträchtlichen Differenzierungsbedarf gegenüber dem wertstiftenden Edelmetall zur Verhandlung. Ortografikus dagegen, der schon durch seinen Namen unter den Verdacht eines Wortfalschmünzers gestellte Titelheld des 1925 im >Prager Tageblatt< erschienenen Prosastücks >Der Goldfabrikant und sein Gehilfeautopoietischen< Einfall ist nicht einmal die im Ruch der Goldmacherei stehende Tradition der Alchemie gekommen, ging es ihr doch, gemäß ihrem esoterischen Überbau, bei der Goldherstellung darum, im Allgemeinverständnis geringerwertige, aber deshalb nicht weniger symbolisch codierte Materialien in den begehrten Stoff zu verwandeln: Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die vernachlässigten, verachteten Materialien, die sich dann und dadurch in höchste Werte verwandeln, heißt die Regel des alchimistischen Prozesses. 168 Als symbolisch verfahrende und allein symbolisch zu verstehende Praxis schiene dessen Verwandtschaft mit der Spielart der Zeichen-Wertschöpfung also naheliegend, die aus den Schlacken der sprachlichen Gebrauchsund Tauschzeichen poetische Wahrheit schöpft. Doch im Fall des Goldfabrikanten scheint das geschilderte Verfahren, das Ortografikus »in die angenehme Lage versetzte, täglich zwei Tonnen Gold an die Reichsbank abzuliefern« (17, 337), mit Zauberei oder Alchemie auch auf symbolischer Ebene nichts zu tun zu haben. Im Gegensatz zu den zahlreichen Bündnissen und Pakten, die traditionsgemäß literarische Helden um den Preis ihres Seelenheils mit monetärem Überfluß versorgen, bleibt in Walsers Prosastück jeder übernatürliche Eingriff aus: D i e Sache g i n g so vor sich: der G o l d h e r s t e l l e r sandte das kostbare Material, in K i s t e n v e r p a c k t , d e m überaus g e s c h i c k t e n , w i l l f ä h r i g e n K o m m i s zu, der das Z e u g a u s p a c k t e , es i n e i n e m h i e f u r t a u g l i c h e n O f e n u m s c h m o l z , u n d d i e W a r e dann banklich verwertete. ( 1 7 ,

337)

Die >creatio ex nihilonichts< schon zu sagen? — 168

»[L']or alchimique accomplit sa genese depuis une matière méprisée, à laquelle on ne prête pas attention« (Marteau 1 9 9 5 , S. 105).

2IO

konsequent schweigt, erscheint für die hier verfolgte Fragestellung dadurch umso verdächtiger, daß dieser — wie wir von seinem »holden Sprößling Hulda« erfahren — im Nebenberuf »Prosastücke« herzustellen pflegt (17, 337). Es liegt aber dennoch nur auf den ersten Blick nahe, den Text ohne weitere Umstände als poetologische Allegorie zu deuten. 169 Weit aufschlußreicher ist es, zunächst der eigentümlichen ökonomischen Produktions- und Zirkulationsgeschichte ein wenig weiter auf der Spur zu bleiben. Die Geschichte davon, wie aus dem Gold, einem der Edelmetalle, so »nutzlos, wie sie innerhalb des unmittelbaren Produktionsprozesses sind, so entbehrlich [...] sie als Lebensmittel, als Gegenstände der Konsumtion« erscheinen, das »Maß der Werte« schlechthin wird, 1 7 0 ist Gegenstand der >großen Erzählung< der politischen Ökonomie. Der historische Prozeß von der einfachen Wertform zur Abstraktion der Geldform, die das Gold als universales Äquivalent und als dessen Symbol zugleich setzt, ist — als Entstehung des Kapitalismus — einer der Hauptgegenstände der abendländischen Gesellschaftsgeschichte geworden. Doch nicht nur auf diesem Schauplatz erweisen sich das Gold oder die Ware beim näheren Hinschauen als keineswegs so unproblematisch, wie man es sich angesichts ihres geradezu universalen Funktionierens vorstellen könnte. Den von der >großen Erzählung < der ökonomischen Theorie geschilderten Auszug des Goldes aus dem Verhältnis von Produktion und (konkretem) Tausch entstellt Walsers Prosastück zur schieren Absurdität. Die Geschichte der Goldfabrikation beginnt dabei mit dem Versand des Produkts an die »Reichsbank«; darüber, welches Äquivalent sich der Goldfabrikant seine Ware zumessen läßt, schweigt der Text beredt: es handelt sich um »unsäglichste[n] Überfluß« ( 1 7 , 337). Dieses Schweigen erstaunt keineswegs angesichts der Eigenart, daß das Gold als abstraktes »Rechengeld« in der Logik des Kapitalismus »nicht nur keinen fixen, sondern überhaupt 169

Roser 1994, S. io6ff. liest es als Reflexion über die Eigentumsverhältnisse an literarischen Texten. Die folgende Lektüre verdankt seiner präzisen und methodisch reflektierten Interpretation einige Anregungen, wenn sie auch ihre Folgerung, »[d]ie ausufernde Intertextualität [ . . . ] der Spätprosa last[e] schwer auf dem fiktionalen Sprecher, der die Bezugnahme auf fremdes Eigentum zu verarbeiten sucht, indem er sie motiviert oder abschwächt« ( 1 1 0 ) , nicht teilt. — Hübner 1995, S. 1 2 5 sieht die »Tätigkeit des Goldfabrikanten« schlicht als eine »Metapher fur den Schriftstellerberuf. « Der Hinweis auf eine trivialliterarische Vorlage (vgl. 18, 75f.; Roser 1994, S. 106) scheint ihr, obwohl dies das Thema ihrer Abhandlung unmittelbar beträfe, entgangen zu sein. Die zentrale poetologische Dimension dieses Prosastücks wäre, dabei ist Hübner recht zu geben, in der Figur der >creatio ex nihilo< allerdings eher zu suchen als in der Frage nach Intertextualität: teilen doch das Gold, die Prosastücke und die Abschriften das Rätsel ihrer konkreten und ursprünglichen Entstehung.

170

Marx 1 8 5 9 / 1 9 6 1 , S. 1 3 0 , 50.

211

keinen Preis« hat — G o l d ist eben keine »spezifische Ware« mehr. 1 7 1 D a ß das »Scheindasein des Goldes innerhalb seiner Funktion [ . . . ] in K o n f l i k t mit seinem wirklichen Dasein« 1 7 2 tritt, zeigt sich in Walsers Text daran, daß sein materielles Erscheinen »in Kisten verpackt«, sein konkretes Dasein zwecks banklicher Verwertung erst umgeschmolzen werden m u ß ( 1 7 , 337). Das Prosastück läßt keinen Zweifel daran, daß er sich der Absurdität dessen, was er beschreibt, unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten bew u ß t ist. »Nach und nach g i n g ein Zittern durch die Volkswirtschaft. Es gab Massenansammlungen verbunden mit Straßenansprachen. Der Chef scheffelte fort und fort aus dem Nichts G o l d heraus« ( 1 7 , 337). N ä h m e man nämlich das geschilderte Verfahren beim Wort, so resultierte aus der Tätigkeit des Goldfabrikanten ein nationalökonomisches Paradox: eine regelrechte Goldinflation. Die Handlungslogik

von Walsers

Prosastück

bringt das G o l d u m seine symbolische Funktion: es erhält den gleichen prekären Status wie das ungedeckt zirkulierende Papier-Geld. >Der Goldfabrikant und sein Gehilfe< setzt dazu eine kunstvolle Verwirrung der drei Register in G a n g , in die sich das allgemeine Äquivalent G o l d im monetären Diskurs eintragen l ä ß t . 1 7 3 G o l d erscheint zunächst in seiner Eigenschaft als »Maß der Werte« (Marx), das der Goldfabrikant in abgewogenen Einheiten von »täglich zwei Tonnen« ( 1 7 , 337) in den U m lauf bringt. D a m i t aber hat es dieses Register bereits überschritten. Denn in ihm ist die materielle Existenz des Goldes so überflüssig wie verwirrend. W i e jeder im Singular gesetzte G o t t beschränkt sich auch der »Gott der W a r e n « 1 7 4 besser auf seine symbolische Funktion. 1 7 5 Ebensowenig taugt 171 172 173

Marx 1859/1961, S. 58. Marx 1859/1961, S. 90. Cf. für das folgende Goux 1984, S. 127^: »Trois registres différentiables de la chose monétaire se tressent, se défont, se subordonnet les uns aux autres variablement suivant les régimes de l'échange. Etalon des mesures, l'équivalent général est un archétype auquel se réfère idéalement tout objet pour s'y évaluer. Instrument d'échange, l'équivalent général est un intermédiaire qui participe au mouvement incessant de la circulation et dont la substance devient indifférente devant le statut de simple signe ou pur symbole qui, par fonction, est le sien. Moyen de paiement ou de réserve, l'équivalent général est une richesse réelle, un objet présent doué d'une valeur dite intrinsèque, naturelle ou >en soi< (bien que soumise dans son être même à la donation de valeur par le site de la Mesure) qui ne se laisse pas remplacer. «

174 175

Marx 1859/1961, S. 103. Goux 1984, S. 127. - »Der Preis oder die Geldform der Waren ist, wie ihre Wertform überhaupt, eine von ihrer handgreiflich reellen Körperform unterschiedne, also nur ideelle oder vorgestellte Form. Der Wert von Eisen, Leinwand, Weizen usw. existiert, obgleich unsichtbar, in diesen Dingen selbst; er wird vorgestellt durch ihre Gleichheit mit Gold, eine Beziehung zum Gold, die sozusagen nur in ihren Köpfen spukt. [ . . . ] Da der Ausdruck der Warenwerte in Gold ideell ist, ist zu dieser Operation auch nur vorgestelltes oder ideelles Gold anwendbar« (Marx 1 8 6 7 - 1 8 9 0 / 1 9 6 2 , S. i i o f . ) .

212

das von Ortografikus fabrizierte Gold zum Tauschmittel oder zur Anhäufung stiller Reserven: Ein abstrakter und unnennbarer »Überfluß« läßt sich dagegen einhandeln, der sich als solcher aber gerade jedem Tauschprozeß im Rahmen der kapitalistischen Ökonomie entzieht; dieser Überfluß seinerseits ist nicht wie in anderen Erzählungen einer langen literarischen Tradition die Folge des stillen, gar geizigen Anhäufens verborgener Schätze, sondern stellt sich auf so verschwiegene Weise wie das Gold selbst ein. Walsers kleine Erzählung verwirrt und verdoppelt die Logiken des monetären Diskurses — und sie verknüpft diesen im zweiten Teil mit einem Diskurs über das Schreiben, in dem allerdings die Dimension der Ursprünglichkeit ebenso ausgeblendet wird wie im Prozeß der Goldherstellung. Mit dem literarischen Text teilt das fabrizierte Gold das Schweigen um die Umstände seiner Produziertheit. Genau in ihrer Verschwiegenheit aber werden diese zum Problem. Die Tochter des Goldfabrikanten, Hulda, die den Weg in die Selbständigkeit mittels einer von ihr eröffneten »Schreibmaschinerie« (17, 338) einschlägt, ist im Vergleich zu ihrem Vater, dem scheffelnden Chef, bedeutend näher am Puls zeitgemäßer Produktionsbedingungen. 176 Das befremdliche, aber anscheinend problemlos funktionierende Produktionspaar Goldfabrikant—Gehilfe des ersten Teils verschiebt sich damit in der zweiten Hälfte des Prosastücks zum alltäglicheren, aber durch die — etwa von Friedrich Kittler auch historisch belegte — Überlagerung von Autorschaft und Liebe hochproblematischen Produktionspaar Gehilfe—Tocher des Goldfabrikanten. H u l d a hatte sich inzwischen selbständig gemacht, indem sie eine Schreibmaschinerie eröffnete, die scheinbar ganz vorzüglich gedieh. Das erfuhr Angelus und da g i n g er nun zu Fräulein H u l d a hin. M i t Abschriften! ( 1 7 , 3 3 8 )

Letztere sind, wie der Fortgang der Erzählung zeigt, kein >hysteron proteronKunst< selbst — unterstellen will. Das Prosastück entlarvt diese Phantasmen originärer Wertschöpfung (im Namen von . . . ) als verdächtigen Zauber — ein Verdacht, von dem auch textuelle Eigentumsverhältnisse nicht unbetroffen bleiben. Denn der Gehilfe des Goldfabrikanten, der seine »Abschriften« auf den Markt der Poesie tragen will, ist nur die ebenso konsequente Gegenfigur des Schreibenden zu einer Zeit der Zeicheninflation, in der »alles, alles, alles längst gesagt« ( 1 7 , 2 1 ) ist. Das in Walsers Texten unablässig vertretene Recht auf poetische Eigentümlichkeit und Eigenständigkeit bedeutet demgemäß keine isolierte Unbeeinflußbarkeit durch andere Texte, sondern besteht gerade in der Aufgabe ihrer produktiven Rezyklierung. Deren Problematik formulieren zahlreiche Prosastücke der Berner Zeit, und es ist kein Zufall, daß der »Goldfabrikant« ausgerechnet da und mit der Insistenz einer Wiederkehr des Verdrängten wieder auftaucht, wo vorgegeben wird, ein unmittelbares und ungekünsteltes Schreiben am Leitfaden der Wirklichkeit zum Programm zu erheben; 1 7 8 eine differenzierte Auseinandersetzung »hinsichtlich des literarischen Eigentumsrechts« ( B G 4, 2 3 5 ) entspinnt sich beispielsweise auf dem MikrogrammBlatt 1 9 , 1 7 9 wo diesbezüglich — wenig überraschend - »für Schonung« ( B G 4, 2 3 5 ) in der Bewertung solcher Aneignungstechniken eingetreten wird. Das Sich-zu-eigen-machen von Wörtern, Sätzen und Figuren findet sich dort, einmal mehr im Rahmen einer intertextuellen Inszenierung und ausgehend von der der Problemfigur des »geistig[en] Eigentum[s]« ( B G 4, 233), in einer Semantik des Ökonomischen, ja des Klassenkampfs ebenso aufgehoben wie in der des Juridischen, in der Semantik des Tausches und der Gabe ebenso wie in der der Kommunikation — die Umstände der Entstehung treten auch hier verschwiegen hinter die Frage nach der Herkunft zurück. 1 8 0 178

Dies im sogenannten >TagebuchGe-

215

Im Tableau des Prosastücks vom >Goldfabrikanten< dagegen werden gewissermaßen die personalen Schnittstellen zwischen den Diskursen der Poesie und des Geldes besetzt. Die Figur des in (und aus?) »unsäglichstem Überfluß« Prosastücke schreibenden Ortografikus bildet dabei, ebenso wie die des Gehilfen, der seine Signifikantenbeute abschreibend proliferieren will, das ironisch überhöhte und gewissermaßen ins A-topische gewendete Personal der seit ungefähr 1 9 1 0 geführten Diskussion über die sozialen Bedingungen des Textproduzenten, heiße er nun Dichter, Schriftsteller oder Journalist. Walsers kleine Geschichte literarischer Ökonomie ist damit nicht nur eine allgemeine poetologische Reflexion über Autorschaft und Eigentum. Sie setzt vielmehr die zeitgenössischen Verhältnisse, in denen Literatur immer schon Ware ist, voraus und umschreibt in >humoristischer< (Deleuze) Uberbietungslogik die Folgen, die sich daraus fur die Produktion ästhetischer Texte ergeben. Walser, der seit einer »wesentlich niedlichen« Erbschaft zu Beginn der 20er Jahre ökonomisch einigermaßen unabhängig ist, zumindest den die Honorierung der Schreibarbeit betreffenden Teil dieser Debatten also gewissermaßen mit einem Blick von außen verfolgen und sich »in schöner und vornehmer Ausschließlichkeit der Dichtkunst sowohl wie der Lebensvergnügtheit« ( 1 8 , 66) widmen kann, 1 ® 1 scheint trotz dieser >schrägen< Perspektive die Interdependenz von gesellschaftlicher und ökonomischer Wertschätzung schärfer zu fassen als viele der programmatischen Einsätze der >GeistesarbeitsSimon, eine Liebesgeschichtede la page«, die dem lesenden Schreiber dienstbar ist. 181

Das heißt allerdings nicht, daß sich Walser von den Kämpfen um die finanzielle Anerkennung seiner Arbeiten ganz zurückgezogen hat; vgl. etwa die beiden Briefe an Adolf Schaer-Ris von Anfang Okt. 1927: Β 330, 309; Β 3 3 3 , 3 1 2 ) . Andererseits inszeniert er sich nicht nur gelegentlich in Texten, sondern etwa auch bei der Berner Steuerbehörde in der Rolle des armen Poeten. Vgl. zu den lebensweltlichen Umständen von Walsers Berner Jahren etwa Echte 1994c, S. 9ff., Walsers Steuererklärung von 1928 dort auf S. I i , kontrastiert mit einem Honoraravis des Berliner Tageblatts.

216

8.

Annäherungen an einen Textualisierungsprozeß: Das >TagebuchKalenderblättern von I92Ó< besteht, nehmen die neun Halbseiten des Kalenders, auf denen sich die Bleistiftversion des Textes befindet, der unter dem von Jochen Greven 182 stammenden Titel »>TagebuchRäuberRoman< der Jahre 1924/25, darüber hinaus den letzten längeren, zusammenhängenden und durchkomponierten 183 Prosatext dar, den Walser geschrieben hat. Das >Tagebuch Authentizität< dieses doch gleichzeitig immer wieder als seltsam gegenstandslos< beschriebenen Schreibens. Dabei ist sie, ganz abgesehen vom nichtautorisierten Status des Gattungsbegriffs als Titel des Texts, streng genommen weder unproblematischer noch als solche aufschlußreicher als die anderen Form- und Gattungsbezeichnungen von und in Walsers Prosa. Es wird deshalb genau nach den Entsprechun182

183

184

Carl Seelig hatte die von Walser unbetitelte Tintenabschrift noch mit dem Titel >Tagebuch (über Frauen)< versehen. In seinem Artikel zum 60. Geburtstag Walsers in der Basler National-Zeitung (14. April 1938) hatte er ein Zitat aus dem Tintenmanuskript als Auszug aus einem »ungedruckten Roman Robert Walsers« bezeichnet (Seelig 1938/1978, S. 188) Fragmentarisch erscheint er nur, wenn man die sowohl in der Bleistiftversion wie in der Abschrift vorhandene Öffnung auf ein »Gespräch« (309/I, 69/TBF-A, 53) als uneingelöstes Versprechen des Texts betrachtet. Eine Lektüre, die diese Öffnung als poetologisches Element ernstnimmt und in ihr den »Fluchtpunkt« des Texts sieht, bietet Utz 1998, S. 2 9 0 - 2 9 3 (Zit. 293). Obermann 1987.

217

gen und Differenzen zu fragen sein, die Walsers Text mit der literarischen Gattung des Tagebuchs verbindet und ihn von ihr trennt. Zudem böte der umfangreiche und sowohl im Wortlaut des Mikrogramms wie der Abschrift zugängliche Text im Grunde den idealen Beobachtungsgegenstand für eine — damit natürlich in ihrem Allgemeinheitsanspruch selbstverständlich begrenzte — Untersuchung von Walsers Verfahren im »Bleistift«- und »Abschreibesystem«. Im folgenden wird allerdings nur der ersten Hälfte dieser Möglichkeit Rechnung getragen: einer intensiven Lektüre der figuralen und gestischen Schreibspuren auf den entsprechenden Mikrogramm-Blättern. Dies nicht zuletzt deshalb, weil mit der Edition der von Bernhard Echte faksimilierten und transkribierten Mikrogramm-Blätter eine Grundlage gegeben ist, anhand derer sich die Lektüre der Kritik stellen kann. Dank der Qualität der FaksimileAbbildungen, die - wenn sie sich beim Blick durch die Lupe auch als immer noch stark gerastert erweisen — die bloßen Bildschmuckbeilagen der Mikrogramm-Bände doch bei weitem hinter sich läßt, hat ein Teil von Walsers >Bleistiftgebiet< erstmals einen gewissen Grad an öffentlicher >Lesbarkeit< erhalten, ohne dabei die von ihm gestellte Problematisierung dieser Lesbarkeit an die nur gelegentlich gebrochene Glätte eines konstituierten >Lesetexts< zu verraten. 185 Auf dieser Basis soll die Poetologie des Schreibens, die bisher an einigen metaphorischen Knotenpunkten verankert wurde, an der Rekonstruktion des Schreibprozesses überprüft werden - lassen sich die Beobachtungen zur (nächtlichen) Schreib-Zeit, zur Schreib-Arbeit, die als poetologische Ebenen seiner Texte einen zentralen Stellenwert einnehmen, auch an den Spuren von Walsers >literarischer Arbeitsweise< beobachten, deren äußere Bedingungen zwar mittlerweile bekannt, deren Verfahrensweisen aber längst noch nicht en détail untersucht sind, läßt sich — mit anderen Worten — die Formation einer >Textur< beschreiben? Die Lektüre, die sich nur in Auszügen von Wort zu Wort (in einem buchstäblichen wie hermeneutischen Sinn) entziffernd fortbewegen kann, versteht sich als eine Annäherung in mehreren Schritten. Sie versucht dabei, die >paratextuellen< Parameter der Schreibspuren, etwa Zeilenumbrüche und Markierungen, ebenso zu berücksichtigen wie die Stockungen und Verwerfungen, die als Spuren der Schreibarbeit die Linearität eines Lesetexts brechen. 186 Dieses Verfahren wird nicht zuletzt dadurch vereinfacht, daß eine 185

186

Zur Kritik an der dort gewählten Darstellungsform vgl. Reuß 1998; dazu oben Kap. I.5, Anm. 4 1 . Das folgende Minimum an diakritischen Zeichen wird zur Auszeichnung in den Zitaten verwendet:

218

diplomatische Transkription fur die entsprechenden Mikrogramm-Blätter bereits vorliegt und der Lektüre damit auch in materieller Gestalt zur Seite treten kann — ein Umstand, ohne den dieses Vorhaben nicht ohne weiteres möglich gewesen wäre und der es erlaubt, die Deskription des Manuskriptbefunds auf das nachfolgende Minimum zu beschränken: Das >Bleistiftgebiet< des sogenannten >Tagebuchgeflügelten Worte< aus dem klassischen, griechisch-lateinischen Repertoire — wie es ein Werbeprodukt für die >Tusculum Text

Zeilenbruch Streichung Überschreibung

¿UiUti |Text|, Ï Text ^ Te/x/t

unentzifferte(s) Zeichen/Zeichenfolge/Wort Zeichenfolge/Wort unterhalb/über der Grundzeile editorische Ergänzungen

219

schulden wir dem K|naben.«; Cicero — »Denen, die lernen wollen, steht meist die Autorität derer im Wege, die zu lehren vorgeben.« Bl. 305/426: Schlagwort: »At|hen«. Solon — »Nie wir unsere Stadt durch Ze|us' Bestimmung zugrund geh'n/ Und durch den Götterbeschlu|ß selig-unsterblicher Schar./ Denn ein mutiger Schutz, die To|chter des mächtigen Vaters,/ Pallas Athene hält so ihre H|and über uns.«; Pindar - »O strahlende, veilchenbekränzte, sangfrohe |S|chirmerin Griechenlands, ruhmvolles Athen, | dämonische Stadt.«; Thukydides — »Wir lieben das Schöne auf maßvolle Weise.« Bl. 309: auf dem Kopf stehend beschrieben; Schlagwort: |»zogenheit«. Seneca — »|s.«; Ovid — »| gelebt.«; Mark Aurel — »|ck, wenn du gezwungen bist unter der Menge |«, »|de, am Strande, im Gebirge, und auch du pfleg-| |b|er wie unklug ist das, da es die doch freisteht | |z|iehen.«187 Die Vorgänge der Textualisierung werden im folgenden in drei Annäherungen in den Blick genommen, die von für die Textur dieser Schreibarbeit zentralen Komplexen ausgehen: die Disposition des erotischen Erlebnisses, die sich als Motor des Schreibens ausgibt; die Schrift-Bildlichkeit, in der immer wieder auf die materielle Erscheinungsform des Schreibens Bezug genommen wird; zuletzt die Vor-Schriften, an denen sich der Textualisierungsprozeß abarbeitet.

8.1 Erste Annäherung: Inszenierung des Erotischen »Anfangs steh' ich jeweilen naiv da, gelange dann zu Raffiniertheiten. Tu' ich's absichtlich oder unbewußt? Über Fragen von Wichtigkeit erlaub' ich mir nicht, mir den Kopf zu zerbrechen, den ich so viel wie möglich schone.« (8, 87) Anfangen. Der Schreibprozeß setzt ein mit einem Umweg, mit einer A b schweifung: Heute machte ich ein nettes kleines und ganz geringfugiges=ausdehniges Spazier|gängelchen, trat in eine Lebensmittelhandlung und sah darin ein nettes Mädchen | stehen von gleichsam auch nur geringer Größe in sichtlich bescheidener Haltung stehen. (295/I, 1 - 3 )

187

Die acht Abschnitte des >TagebuchDie schönen Augen< ( 1 8 , i68ff.) auf den Blättern 305 und 308; also entgegen der >Schreibrichtung< des >TagebuchVerbirgst du dein Gesicht jetzt< — Vgl. den Überblick in B G 4, 5 i 9 f . und die Transkriptionen in der Faksimileausgabe. Auf die Kontextualisierungen, die sich aus diesen Konstellationen ergeben, wird hier nur am Rande eingegangen.

220

Der Anfangssatz beginnt mit einer nur auf den ersten Blick unproblematischen Inszenierung eines Erlebnisberichts, eines Protokolls, das die Trennung zwischen den Kategorien des Erlebnisses und seiner Verschriftlichung — die in Walsers Texten immer wieder eingefordert wird 1 8 8 — zugleich aufhebt und bestätigt. Bestätigt, weil die Vorgabe einer Präsenz des Erlebens (»Heute«), mit der das Schreiben einsetzt, sogleich durchstrichen wird (»machte«) und sich als Produkt genuin erzählerischer Repräsentation erweist; aufgehoben, weil sich bereits der unscheinbare Satz durch eine fundamentale poetologische Selbstbezüglichkeit auszeichnet, welche die traditionelle Differenz zwischen dem Erlebenden und dem Schreibenden kassiert und verschiebt. Die selbstbezügliche, genauer: schriftreflexive Wendung, die das Schreiben von Anfang an verdoppelt, hintertreibt das mimetische Konzept, das es postulieren wird und das den Normen einer Poetik entspricht, in der in »jeder äußeren Anschauung des Poeten [ . . . ] lebendige, die Anschauung erfüllende und gestaltende Stimmung« 1 ® 9 am Werk ist. Denn nicht nur das »ganz geringfugig[e]ausdehnig[e] Spazier|gängelchen« mit seinem kleinen Schritt über das Zeilenende bildet die Bewegung des Schreibens selbst ab, auch das »nett[e] Mädchen« stellt zunächst einmal ein Schrift-Bild dar: »von gleichsam auch nur geringer Größe in sichtlich bescheidener Haltung« da>stehendäußeren Anschauung< die Schriftzüge, die seine Hand auf dem Papier schon hinterlassen hat. Die implizite Poetologie des Schriftbilds, die sich hier abzeichnet und die jedes außer ihr liegende Referenzsystem in ein Verhältnis der Nachträglichkeit zwingt, wird im anschließenden Satz gleichsam bestätigt durch den expliziten Rekurs auf das Problem des dem Schreiben immer schon hinterherlaufenden Beginns: »Auf dem Spaziergang überlegte ich mir ein wenig, wo>mit was für Worten ich eine | Arbeit zu beginnen haben würde, die ich hier anfange niederzuschreiben« (295/I, 4f.). 1 9 1 Noch 188

189 190

191

A m deutlichsten, weil an den Namen gebunden, in >Walser über Walserc »Alles was Schriftsteller Walser >später< schrieb, mußte von demselben > vorher« endlich erlebt werden« ( 1 7 , 1 8 3 ) . Die Markierung der Zeitverhältnisse deutet indes an, daß das Bedingungsverhältnis zwischen Erleben und Schreiben so eindeutig nicht zu bestimmen ist. Bereits die nächsten beiden (Ab-)Sätze kehren es um: »Kann ein Mensch, der nicht schriftstellert, morgens überhaupt seinen Kaffee trinken? / Ein solcher wagt kaum zu atmen!« Dilthey 1 8 8 7 / 1 9 2 1 « : , VI, S. 1 3 1 . Daß in dieser Wendung die »Lebensmittelhandlung« zum metaphorischen Ort der Schreibbewegung und ihrer Wahrnehmung wird, entspricht der im vorangehenden Kapitel dargestellten Poetik der >Arbeitbeginnen< und >anfangenheute, hier fange ich anErlebtem< in Schrift hintertreibt. Reflexion über den Anfang ist möglich nur als Wiederholung und Umkehr 1 9 3 der jedem Beginnen eingeschriebenen Zäsur. Die Unmöglichkeit dieser Präsenz läßt den Satz umschlagen in eine explizite Programmatik der Schreib-Zeit:

sich unter der Synonymie der Wörter verbirgt: »Anfangen und anheben haben ein sinnliches fassen und heben an etwas zu unterläge, beginnen und entginnen ein beschneiden und anschneiden« (Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , I, Sp. 1296). - Die »Arbeit« wird durch die Wahl der passenden Worte von Einschnitten und Zäsuren markiert, während das Schreiben als Einsetzen einer Bewegung sinnlich faßbar ist. 192

Die betonte Lokalisierung »hier« antwortet gleichsam auf die Überschreibung von »wo« in der vorangehenden Zeile.

193

Der zitierte Satzteil bewegt sich einerseits, vom »Spaziergang« über die Wortsuche, auf die Präsenz des Anfangs zu, verkehrt dadurch aber seine Behauptung — » . . . hier anfange niederzuschreiben« — ins Gegenteil: der Anfang steht an seinem Schluß. »Kein Sprechakt, der zu vollziehen verspricht, was er darstellt, läßt sich an >vorhandener< Realität verifizieren. Der Entwurf, dessen Vollzug er sprachlich zu sein vorgibt, setzt - in darstellungstheoretisch hintergehbarer Zirkularität - zukünftige Bedingungen unter der Beding u n g dieser Voraussetzung voraus« (Hart N i b b r i g 1994, S. 12). - Es läge nahe, diese Überlegungen zur Problematik des Anfangs, gerade im Zusammenhang mit der Dimension der Schriftlichkeit, an die sie gebunden ist, mit einem Verweis auf Derridas Theorie der >écrituredifférancedekonstruktivistischer< Literaturwissenschaft von de Man (etwa de Man 1979/1988) bis Hamacher (vgl. Hamacher 1988, Hamacher 1998) nachzuzeichnen.

222

[ . . . ] und deren Niederschrift mich ^voraussichtlich etwa zwanig | Tage lang beschäftigen wird. Während dieses Zeitumfangs werde ich also ziemlich emsig sein, nicht ohne mir dann und wann | eine Ruhepause zu gönnen, u>as>womit ich sagen will, daß mich dieses »Journal« hier in keiner Weise überanstrengen wird. (295/I, 5 - 7 )

Das zugemessene Arbeitspensum von »voraussichtlich etwa zwan[z]ig Tagten]« entspricht nun genau der materiellen Grundlage der ersten sechs Abschnitte, die auf den Kalenderblättern 295 und 296, 299 und 308, 3 1 0 und 298 niedergeschrieben sind: Das Schreibmaterial ist auf seiner Rückseite >vorbeschrieben< mit den Daten eines über drei Wochen durchlaufenden Kalendariums — Sonntag, 1 1 . April bis Samstag, 1. Mai. Der Zeitbezug des Schreibens scheint damit nicht nur in der Setzung einer fiktiven und verdichteten »poetisch[en] Eigen-Zeit« zu liegen, »die sich am Dokument einer realen Zeit, nämlich des Kalenderjahres 1926, ironisch mißt«. 1 9 4 Die Poetik der Schreibzeit erweist sich damit als Aktualisierung einer Materialpoetik. Sie kann als reflexive Komplementarisierung der impliziten Poetologie der Schriftlichkeit bezeichnet werden, mit der das Schreiben anhebt; aus der Konfrontation mit ihr entspringt das den Schreibprozeß in Gang haltende Spiel von Regel und Überschreitung. Die Wiederaufnahme des Schreibens über die Blattgrenzen hinaus wird wiederholt als Fortsetzung einer Arbeit ausgegeben, die durch die zeitliche Zäsur (mindestens) einer Nacht unterbrochen wurde. Am Anfang des zweiten Abschnittes etwa ist es eine »Zerstreuung«, die »gestern [...] vom Festhalten an vorliegender Aufgabe« abgehalten hat (296/1,4f.); der Einschnitt zwischen dem zweiten und dritten Abschnitt, eingeleitet von der Absicht, »ein bischen Atem [zu] schöpfen«, und begleitet vom Versprechen, »[s]ogleich« weiterzufahren (296/I, 68), scheint sich über diese kurze Pause hinaus ausgedehnt zu haben: Der Schilderung aller möglichen Gefahren und Bedrohungen des Schreibens zu Beginn des dritten Abschnitts folgt die Mitteilung eines Einfalls, der dem Text-Ich »[vergangene Nacht« (299/I, 18) in den Sinn gekommen ist; der vierte Abschnitt endet mit der Vorgabe, »[m]orgen [...] zeitig und lustig« weiterzufahren und entschuldigt seinen geringen Umfang — mit 47 MikrogrammZeilen ist es tatsächlich der kürzeste Textblock — mit dem Umstand, daß »es heut Sonntag ist« und sich das Text-Ich deshalb erlaubt, sich »zunächst vom Schreibtisch zu erheben« (308/I, 45f.). Auch am Anfang des sechsten >Kapitels< wird das Weiterschreiben als unausgesprochen morgendliche Tätigkeit thematisiert, wenn auf Befürchtungen hinsichtlich der Schreibauf-

194

Groddeck 1998, S. 93.

223

gäbe verwiesen wird, die das Text-Ich »gestern Abend« (298/I, 1) mit Sorge erfüllt haben. Auffällig ist aber, daß diese expliziten Verweise auf die Gegenwärtigkeit der Schreibgeste sowie auf ihre täglichen Unterbrechungen und Wiederaufnahmen nur in den ersten sechs Abschnitten zu finden sind, die sich — wie erwähnt — aufgrund ihres Schreibmaterials als Produkt jener ungefähr zwanzig als Schreibzeit in Aussicht gestellten Tage identifizieren lassen. Die Hinweise auf die Zeitlichkeit des Schreibens, die etwa das siebte >Kapitel< thematisiert, folgen zwar noch dem Muster von morgendlicher Arbeit und abendlicher Unterbrechung, bleiben aber ohne Bezug zum

unterstellten

Kontinuum

des Vorhabens:

Die

»außerordentlich

schlechte Nacht« (426/I, 5) des Text-Ichs wird nicht im Zusammenhang mit der Thematisierung des Schreibens angeführt, die Verweise dieser Art bisher begleitet hat, sondern als Entschuldigung fur den Inhalt des Mitgeteilten: »Fange ich hier zu klagen an, pfui« (426/I, 4). Im letzten A b schnitt schließlich wird das Programm des täglichen Schreibens als unterbrochen eingestanden. A n den ersten Zeitbezug der Textur, 1 9 5 der mit der Vorgabe des Schreibens verknüpft ist, schließt ein neuerlicher Umschlag. Mit ihm kommt ein gattungspoetisch bestimmtes Muster ins Spiel, das die Rezeption des Texts, weit über Seeligs und Grevens Betitelung hinaus, geprägt hat: 1 9 6 Ich I würde natürlich, statt Journal ebenso gut »Tagebuch« haben sagen können. Ich meine, daß ich mir vorgenommen habe, diese Zeilen | die vielleicht Interesse auslösen werden, was ich natürlich lebhaft wünsche, so ungeziert, demnach also

•95 Vgl. zu diesem Konzept Kap. I.5, S. i38f. 196

So etwa Grevens differenzierte Darstellung, die auf die Mehrschichtigkeit dieser Gattungsanspielung aufmerksam gemacht hat: »[E]s handelt sich nicht etwa um den Ansatz zu einem wirklichen intimen Tagebuch, der sich dann nur in anderer Richtung entwikkelt. Die Tagebuchform oder etwas ihr entfernt Ähnliches wird hier etwa so adaptiert wie bei den Prosastücken der in diesem Band folgenden Gruppe [ 1 8 , 1 1 1 - 1 5 6 ] die Briefform. Tatsächlich handelt es sich eher um den Versuch, aus der Gattung des >Berichts< eine Großform zu entwickeln (dies zeigt auch der Vergleich zu Walsers früheren Tagebuch-Romanen J a k o b von Gunten< und >Theodor< - dort waren der Tagebuchschreiber und seine Situation noch Gegenstände einer deutlich konzipierten Fiktion). Dieses Experiment ist ingesamt wieder eine Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen >Kunst< und >LebenTagebuch< beginnt in den 8 0 e r J a h r e n des 1 9 . Jahrhunderts und fuhrt zu einer regelrechten T a g e b u c h - M o d e in der Lesewelt der J a h r h u n d e r t w e n d e . 1 9 7 D a m i t aber schlägt eine »Literatur i m R o h z u s t a n d « , 1 9 8 die vornehmlich den Charakter privater Selbstvergewisserung trägt, in einen ästhetischen

Gesetzen

unterliegenden

Inszenierungsort

von

Intimität

u m , 1 9 9 an d e m die »vermeintliche Z u f ä l l i g k e i t der Tagebuchaufzeichnung [ . . . ] zu einer rhetorischen L i s t « und das »scheinbare A b s e h e n von der z u k ü n f t i g e n A n w e s e n h e i t eines Lesers [ . . . ] z u m literarischen M i m i k r i der U n m i t t e l b a r k e i t « w i r d . 2 0 0 D a s T a g e b u c h g i b t sich d a m i t als strukturell zwiespältige G a t t u n g zu lesen, die zwangsläufig d e m »je anderen V o r w u r f « ausgesetzt ist, »entweder das T a g e b u c h an den T a g oder an das B u c h zu v e r r a t e n « . 2 0 1 D i e Stilvorgaben der W a h r h a f t i g k e i t , Ungeziertheit, das programmatische Vermeiden rhetorischer K ü n s t l i c h k e i t und inhaltlicher

197

198

199

200 201

Hargen Thomsen bezeichnet die Veröffentlichung von Henri Frédéric Amieis und Friedrich Hebbels Tagebüchern als Geburtsakt der modernen Tagebuchliteratur: »Als in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Tagebücher dieser beiden Autoren als Buch erschienen (Amiel 1882, Hebbel 1885/87), da wurde aus einem erfolglosen Genfer Philosophie-Professor ein europäisches Literatur-Ereignis und ein bis dahin nur noch in Literaturgeschichten präsenter Dramatiker wurde zu einem der meistrezipierten >Klassiker< an der Jahrhundertwende. Im selben Jahrfünft erschienen die ersten Teilausgaben des Tagebuchs der Brüder Goncourt und des heute vergessenen Journals der russischen Malerin Marie Bashkirtseff (beide 1887), und mit einem Jahrzehnt Verspätung trat auch Italien in diese Tradition ein, als ab 1898 das Zibaldone des Giacomo Leopardi zu erscheinen begann. [...] Eine neue Literaturgattung begann sich zu etablieren; die Selbstrezeptivität war durchbrochen« (Thomsen 1994, S. 381). Wuthenow 1990, S. ix. - Vgl. zur Problemgeschichte des Tagebuchs neben dem ausfuhrlichen Überblick von Wuthenow v. a. Picard 1986, Miller 1992 sowie Thomsen 1994. Die vom Titel und von den gewählten Texten her vielversprechende Untersuchung von Aronson 1991 beschränkt sich leider weitestgehend auf reine Deskription, die nach wenig originellen Kriterien angeordnet wird. Beispielsweise stellt sich aufschlußversprechend betitelte erste Kapitel »The diary as metaphor« (iff.) als genaues Gegenteil des Erwarteten heraus; eine (letztlich aber wohl nur den Leser) erschöpfende Aufzählung all der Metaphern, die fürs Tagebuchschreiben eben so in Gebrauch sind. »Ein für ein Publikum geführtes Journal verliert [...] die ihm eigene Intimität, wie sie z.B. in der oftmals naiven und sentimentalen Anrede an das Journal als vertrauten, verschwiegenen Freund in ungeschminkter Weise sich zu zeigen pflegte. Erst als künstlich wiederhergestellte kann sie dann doch noch Eingang finden, damit aber wird sie unweigerlich fiktiv« (Wuthenow 1994, S. 394). Picard 1985, S. 20. Miller 1992, S. 290.

225

Stilisierung gehören zu den Topoi der autobiographischen Literatur. Sie verweisen aber in der Verschiebung, der sie in Walsers Textur in Richtung eines Darstellungsproblems und Arbeitsprogramms unterzogen werden, nur mehr auf eben diesen konventionalisierten Charakter; die Topoi erscheinen so gerade in ihrer programmatischen ästhetischen Naivität als inszeniert und schreiben durch diese Ambivalenz das oszillierende »Flunkern« zwischen Sprachschmuck und nüchterner Berichterstattung als Gesetzmäßigkeit fest, das durch die Einfachheit der Darstellung vermieden werden soll. 202 Festzuhalten gilt es indes vor allem an der Beobachtung, daß diese Auseinandersetzung mit den Anforderungen einer literarischen Gattung der Schreibarbeit nicht vorausliegt, sondern von ihr selbst hervorgebracht wird. Erst der (Um-)Weg über eine implizite Poetologie des Materials, die Gegenstand einer sie einholenden Reflexion wird, setzt das textproduzierende Potential einer normativen — wenn auch in sich selbst schon zwiespältig gewordenen — poetischen Kategorie in Gang. Aufgrund der fortlaufenden Verschiebung seiner Bezugssysteme, der Auffächerung und Problematisierung der dem Schreiben zugrundeliegenden Bedingungen erweist sich der Anfang des sogenannten >Tagebuchflunkern< liegt in genau diesem oszillierenden Gestus, der von Walsers Formulierung auffälligerweise nicht der Unwahrhaftigkeit gegenübergestellt wird, sondern der schmucklosen Einfachheit der Darstellung: »flimmern, funkeln, flakkern« verzeichnet das >Deutsche Wörterbuch< als Worterläuterung (Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1984, III, Sp. 1 8 5 1 ) . - Jochen Greven hat in einem instruktiven und meiner Ansicht nach über die Tragweite der ihm zugrundegelegten konstruktivistischen Ansätze weit hinausgehenden Beitrag die Radikalisierung des Selbstbeobachtungsparadigmas gerade für die Texte der Berner Zeit hervorgehoben: »In Walsers später Prosa ist Beobachtung und Selbstbeobachtung in offenster, vielfältigster Weise demonstriert und thematisiert, und man kann wohl auch von einer Radikalisierung sprechen. [ . . . ] Aber das so entstehende subjektive Weltprotokoll ist kein wohlorganisierter Mikrokosmos, sondern eher ein Chaosmodell, bestehend aus Beobachtungssplittern, die fortwährend mit Erinnertem reagieren, aus einem Konglomerat von Anekdoten, Lesefrüchten, gedanklichen Einsichten und Erwägungen. Deren Verknüpfung folgt keiner einsichtigen Logik, sondern wird eher von hintergründigen Assoziationen, geheimen Regeln der Anspielung und Spiegelung oder auch bewußter Aleatorik bestimmt« (Greven 1994b, S.

203

Groddeck 1998, S. 92. Auf die Entscheidung zugunsten einer Konzeption der Ich-Instanz des Texts als >Erzähler< resp. als referentiell lesbares Ich, das auf ein hinter ihm stehendes >reales< Ich verweist, wird in der vorliegenden Lektüre bewußt verzichtet — beide Entscheidungsmöglichkeiten werden vom Text nicht getragen. Denn gilt für die Erzähler-Figur der Narrativitätstheorie, wie Klaus Weimar überzeugend nachgewiesen hat: »Der Erzähler ist im Text abwe-

204

226

ihrer Geständnishaftigkeit auf dem ureigensten Terrain der Enthüllung aufrecht erhält: Was ich ¿ >vorbringen möchte | ist, daß ich in hiesiger Stadt, die für mich sozusagen »wertvoll« geworden ist, eine Reihe, d.h. einige in der Tat nette | teilweise sogar imposante Frauen kennen zu lernen Gelegenheit hatte, was eine Anmerkung ist, von der ich gestehe, | daß sie mich freut. (295/I, 10—13)

Das Spiel mit der Verlockung erotischer Bekenntnisse — die »nett[en] teilweise sogar imposant[en] Frauen« erscheinen als Komplementär- und Gegenbild zum »nett[en] Mädchen [...] in sichtlich bescheidener Haltung« des ersten Satzes — nimmt die Textur allerdings, ungeachtet einer weiteren Markierung von Präsenz (»in hiesiger Stadt«) sofort wieder zurück in einem — im Schreibprozeß dokumentierten — Aufschub der Befriedigung dieses Leserbegehrens; dies, indem sie die Frauenbekanntschaften zunächst, zur Beglückung der schreibenden Ich-Instanz (vgl. 295/I, 14Í.), gleichsam ins Allgemeinmenschliche transzendiert: »Wen würde es nicht die Sympatie, die er sich angewöhnen durfte, zu ein paar lebensfröhlichen und vertrauen|erweckenden Gestalten zu hegen nicht befriedigen können.« (295/I, 13f.) Damit sind, im ersten Viertel des >Anfangskapitelssuspense< und Suspendierung erotischen Begehrens. Schaulust. Die Textualisierung des >Erlebnissesrealen Autor< Walser schon auf der Ebene referentieller Eigenlogik scheitern müssen, hat die WalserForschung längst erkannt: »Auch in den Texten, die als autobiographisch angesehen werden können, tritt das sprechende Ich in verschiedenen Verkleidungen und Rollen auf, setzt sich der Autor zu sich selbst in Distanz« (Jürgens 1 9 7 3 , S. 1 1 8 ) . Vgl. zum >TagebuchGespensterText-IchIch-Instanz< und >-ich-glücktaufzuhaltenWert< abzuwerfen. 206 Wiederholt wird aber nicht nur die >suspenseWachsen< einer »recht angenehm[en] Bekanntschaft«, die Erwartung eines fortgesetzten »Frauennichtaußerbetrachtlassen[s]« (19, 191), eine Erwartung, die allerdings bereits vom folgenden Satz jäh ent-

205 206

Vgl. Wuthenow 1990, S. 6off. Während der Riickbezug auf den Text-Körper im ersten Satz nur durch die Berücksichtigung der Materialität des Schreibens möglich wird, illustriert er hier in geradezu schulmäßiger Art die »metatextuelle Funktion« einer rhetorischen Figur: »Die dekonstruierende Logik der Paronomasie wendet den Text auf ihn selbst zurück, er repräsentiert nichts mehr als den Verlust des Sinns und provoziert eine turbulente Fluchtbewegung von widersprüchlichen Bedeutungen« (Groddeck 1995a, S. 146).

228

täuscht wird — auf den ersten Blick. Denn nicht von erotischen Abenteuern wird erzählt, sondern von einer Unterhaltung über die theoretische Sublimierung von Sexualität par excellence: die Psychoanalyse. Auf den zweiten Blick allerdings erweist sich der Satz einmal mehr als zwiespältigselbstbezüglicher Sinnabgrund. Zunächst ist festzustellen, daß die erzählte Unterhaltung der emphatisch geständnishaften Betonung der nächtlichen Stille auffällig widerspricht. Sie übertönt gewissermaßen das Schweigen, das Verschwiegene der erwarteten Bekenntnisse, bildet eine >Deckerzählung< für die amourösen Ereignisse, welche die rhetorische Wiederholungsstruktur der Periode ahnen lassen. Der so selbstbezüglich gewordene »Sinn und Wert der Psychoanalyse« entpuppt sich — wie böswillige Zeitgenossen ihr schon immer unterstellten — als Möglichkeit zur sublimierenden Artikulation der Indiskretionen. Wie raffiniert der Satz die in ihm zum Ausdruck gebrachte Ambivalenz aufrechterhält, wird ersichtlich, wenn man seine Verschiebungs- und Ersetzungslogik mit der Falle der Verneinung vergleicht, welche die Psychoanalyse am Weg der Geständnisse aufgestellt hat. 207 Von dieser zweideutigen Szenerie wendet sich der Fortgang des Schreibens radikal ab — hin zu einer topischen Perspektive, die, gleichsam um die Ambivalenz des Geäußerten noch einmal zu betonen, sowohl zur angeführten intellektuellen Debatte wie auch zur programmatischen Einfachheit des Stils nur schlecht passen will: Wie heiter, warm und schön />zu diesem Zeitpunkt der Nachthimmel mit Sternen prangte | Gewiß glich es einem Prangen. Der Sternenhimmel erschien mir wie ein früchtebeladener freundlicher Baum und dann sogleich darauf wie ein feinbesticktes | Hemd oder wie eine prächtig mit Ornamentierung ausstaffierte Robe. (295/I, 1 9 - 2 1 )

Das Insistieren auf der Pracht des sternengeschmückten Himmels verleiht dem Perspektivenwechsel aber wiederum eine autoreflexive Dimension: Indem der Sternenhimmel so »durch glanzentfaltung, Schönheit, schmuck usw. sich auszeichnet] und in die äugen f[ällt]«, 2 ° 8 bringt er den >ornatus< der Text-Konstellation ins Spiel, den Schmuck der Rede. Die sich daran 207

»Gelegentlich kann man sich eine gesuchte Aufklärung über das unbewußte Verdrängte auf eine sehr bequeme Weise verschaffen. Man fragt: Was halten Sie wohl fur das Allerunwahrscheinlichste in jener Situation? Was, meinen Sie, ist Ihnen damals am fernsten gelegen? Geht der Patient in die Falle und nennt das, woran er am wenigsten glauben kann, so hat er damit fast immer das Richtige zugestanden. [...] Kein stärkerer Beweis für die gelungene Aufdeckung des Unbewußt, als wenn der Analysierte mit dem Satze: Das habe ich nicht gedacht, oder: Daran habe ich nicht (nie) gedacht, darauf reagiert« (Freud 1925W1989, III, S. 373; 377).

208

Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , XIII, Sp. 2066; Art. >prangenfrüchtebeladenenfeinbestickten< »Ornamentierung« unterstreicht diese Wendung — und kann ihre Legitimation gleich doppelt von der Rückseite des Blattes beziehen, wo sich unter dem Stichwort >Natur< folgende Kalenderweisheiten — resp. durch die Halbierung der Seite entstandene Bruchstücke davon 2 0 9 — verzeichnet findet: »Alles auf Erden, Körper und Bäume haben eine [der ganzen Welt ähnliche Beschaffenheit, das] 2 1 0 Kleinste und das Größte« (Hippokrates), sowie: »Die Natur liebt es sich zu verstecken« (Heraklit). Gleichzeitig aber können die einzelnen Glieder des Vergleichs auch rückbezüglich auf die vorangehende Schilderung gelesen werden: der »früchtebeladen[e] freundlich[e] Baum« auf das Weiter>wachsen< der »angenehm[en] Bekanntschaft«; das »feinbestickt[e] Hemd« auf das subtil verschleierte erotische Versprechen der Textur; die »prächtig mit Ornamentierung ausstaffierte Robe« (Hervorhebung SK) schließlich als Meta-Metapher, 211 die sich in den diesen Aufwand an rhetorischem Schmuck entfaltenden Autornamen einschreibt. Exkurs: Die Literarisierung des Erotischen — der Name der »Heldin«. Schon die Wiederaufnahme des Schreibens am Anfang des zweiten Abschnitts, auf der komplementären Kalenderblatthälfte zum ersten, scheint sich um den Grundsatz authentischer Mitteilung eines Erlebnisses nicht mehr zu kümmern, sondern unterstreicht noch den Status der Fiktionalität des Berichteten: Z u n ä c h s t scheine ich u m eines weiblichen Vornamens willen in nicht unerheblichen Zweifeln | zu sein, den ich meiner » H e l d i n « anhängen möchte. Irgend ein anderer A u t o r würde sich | vielleicht deswegen irgendwie b e u n r u h i g t fühlen. Ich aber g l a u b e entschiedenes | Vertrauen zu mir haben zu dürfen, und ich g l a u b e des weiteren, daß m i c h eine Zerstreuung | wie sie mich z . B . gestern 2 9

°

210

211

Der dadurch weggefallene Text wird im folgenden Zitat durch eckige Klammern bezeichnet. Daß dadurch gerade die meine Argumentation tragende Ähnlichkeit nicht Bestandteil des Schriftträgers ist, könnte als Einwand gegen sie formuliert werden; andererseits bildet diese Zäsur — dies als Spekulation — die einzige Möglichkeit, den so entstehenden Kontext des Schreibens, der sich auf der Rückseite des beschriebenen Blattes abzeichnet, buchstäblich vor Augen zu haben. Das Wort >ausstaffieren< ist nicht nur Element eines Vergleichs und damit des rhetorischen >ornatusvestimentärer Zeichens so kann der von Reinacher festgehaltene Distanzierungseffekt in Walsers Semiotik der Bekleidung auch über die Motivanalyse hinaus auf diese >Verschleierungstaktik< der Textinszenierung übertragen werden. Vgl. Reinacher 1988, S. i32ff.

230

vom Weitererzählen, vom Festhalten an vorliegender Aufgabe | bis zu einer gewissen Grenze ablenkte, nicht wird hindern können, mitzuteilen, daß mir ei«>die Abbildung einer Gräfin zu Gesicht kam. (296/I, 1—6)

An die Stelle eines Erlebnisberichts tritt eine explizite Auseinandersetzung mit Verfahren und Figuren von Literarizität — mit der Namengebung, der »Heldin«, dem »Autor«. Dabei wird deutlich, daß die »nicht unerheblichen Zweifel« bezüglich des Benennungsakts nichts sind, was das Schreiben aufhält oder das »entschieden[e] Vertrauen« des -ich- zu sich in Frage zu stellen braucht: der Zweifel wird vom Textverlauf durch das Vertrauen auf eine Entscheidung suspendiert. Die Verfiigungsmacht des hier die Szene betretenden »Autorfs]« über die Geste der Benennung, ein sich in jedem Text neu konstituierender, gewissermaßen adamitischer Akt, erscheint darüber hinaus als rhetorische Zuschreibung, die auf die >ornatusangehängt< werden. 2 1 2 Wenige Zeilen später wird die Problematik der Namengebung erneut aufgenommen: ein Name für die Heldin erscheint. Das »entschieden[e] Vertrauen«, das das Text-Ich in sich setzt, geht so weit, daß die Setzung des Namens als revidierbar ausgegeben werden kann: Die »Entscheidung« (296/I, 20) hierüber, so behauptet es, ist noch nicht gefallen — und damit wird die Verfügungsgewalt des zu Berichtenden über die inszenatorische Freiheit des Schreibenden einmal mehr prekär. Erna? Sollte dies | die richtige Heldinnenbezeichnung sein? Noch wage ich mich hierüber nicht zu äußern, wage noch immer keine Entscheidung zu treffen nach dieser Richtung hin | W ü r d e ich denken, daß mir vielleicht schon heute nachmittag oder dann doch spätestens morgens früh das Wörtchen, das mich befriede, einfallen wird, wovon | ich hoffe, es werde, wenn irgendmöglich so sein. (296/I, 1 9 - 2 2 )

»Erna« erscheint zwar zunächst als konkrete Möglichkeit der Benennung nicht mehr in der Funktion eines rhetorischen Figurenschmucks, welcher 212

Die Verwendung des Worts ist zudem höchst ambivalent dokumentiert: man >hängt< jemanden einen »schimpf« ebensogut >an< wie einen »kränz«. Vgl. Grimm 1854 — 1 9 7 1 / 1984, I, Sp. 367^ — Diese Reflexion der Namengebung ist, wie Andrea Hübner gezeigt hat, ein Strukturmerkmal von Walsers Berner Prosa: »In Walsers Texten figurieren die Namen nicht mehr als Emblem für eine individuelle und von anderen Menschen unterscheidbare Persönlichkeit. Einerseits weigert sich der Erzähler kategorisch, den Namen der jeweils dargestellten Figuren preiszugeben, andererseits bezeichnet er sie nach abstrakten Eigenschaften, die jedoch im Text selten bestätigt werden, ersetzt die Namen durch metonymische Wendungen, gibt ein- und derselben Person verschiedene Namen, wird bei der Wahl der Betitelung von Klangähnlichkeiten geleitet oder macht explizit auf die Willkür der Namensgebung aufmerksam« (Hübner 1995, S. 124).

231

der »Heldin« (296/I, 2) >angehängt< wird, sondern in der einer nichtigen Benennung·!. Die Legitimation dieser Geste indes bleibt doppelt fraglich; nicht der Benennungsakt allein erscheint erneut als riskiertes Sprechen, sondern der Dezisionismus dieses Akts überhaupt. »Erna« entwirft dabei die Möglichkeit einer Chiffre, in der zwei vom Fortgang des Texts zu aktualisierende semantische Stränge eingeschrieben sind. Der mögliche Name stellt eine Kurzform von Ernesta, dar, was einerseits gewissermaßen als weiblicher >ErnstErlebnisses< erst begründet. Daß die Position des >Tagebuchauktorialen< Status ins Wanken. Von der (wenn auch in der Logik des Texts sich letztlich als >unzuverlässig < erweisenden) souveränen Geste etwa gegenüber den Figuren des Erzählens, das den vielleicht einprägsamsten Romananfang überhaupt auszeichnet: »Eduard — so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter — Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Propfreiser auf junge Stämme zu bringen« 214 —, von einer Souveränität des »Erzählers Ernsts< vgl. etwa 299/1, 1 8 - 2 4 . Goethe 1 8 0 9 / 1 8 8 7 - 1 9 1 2 , X X , Sp. 3. - Auf die geradezu mathematische Präzision, mit der Namenskonstellationen in den »Wahlverwandtschaften bedeutsam werden, hat die Forschung spätestens nach Benjamins Essay immer wieder aufmerksam gemacht; vgl. etwa Schlaffer 1 9 8 1 . Die »Eigenständigkeit literarischer Figuren, die beginnen, gegen ihren >Urheber< zu revoltieren, ist denn auch ein wiederkehrendes Moment moderner Texte; vgl. das besonders schöne Beispiel bei O'Brien 1939/1989, S. 333Í.: »Was mir jedoch im Augenblick

232

der Topos auktorialer Verfügungsmacht nicht etwa mit spezifisch >modernen< Mitteln unterlaufen, sondern durch einen nicht weniger traditionellen gleichsam überboten: den der poetischen Inspiration. 216 Zurückkehrend zur Textualisierung des > Erlebnisses Tagebuchs< zur Aufgabe gesetzt hat, kann damit die Lektüre schon der ersten Sätze festhalten: Die Niederschrift dessen, was es mit den Frauenbekanntschaften hier auf sich hat, erweist sich von Anbeginn als problematisch. Das Schreiben kommt um dieses Thema nicht herum, schiebt es aber laufend auf und verschleiert es — und schlägt so aus diesem Spannungspotential jene poetische Produktivität, welche dem Schreiben über das Begehren eigen ist. Wie um diese Form der Arbeit und ihre Produktivität zu akzentuieren, findet schon in der Hälfte des ersten A b schnitts eine Rekapitulation des bereits erledigten Pensums statt: »Ich sprach da also von einem Gespräch und von einer Zeitungsmeldung und habe angekündigt, daß ich mich für einige Frauen erwärme, die gleichsam etwas wie meine erklärten »Lieblinge« seien« (295/I, 28f.). Damit manövriert sich aber die Textur wiederum in ihre eigene »Notlage« (295/I, 26) — die einer permanenten Entschärfungsnotwendigkeit in bezug auf das in ihr angelegte erotische Potential: Mit diesem Frauenkennengelernthaben ist es nun freilich wiederum | gar keine so wichtige Sache, indem ich diese Frauen nur so vom irgendwo Gesehenhaben, mit den Augen gestreift-haben kenne, denn ich muß in | der Tat bekennen,

die meisten Sorgen macht, ist ein Brieföffner. Ich hatte ihn in einer frühen Szene eingeführt, um Pater Hennessy etwas zu geben, womit er während des Besuchs bei einem Gemeindemitglied spielen konnte. Jetzt befindet er sich in den Händen von McDaid. Er hat eine stumpfe Stahlklinge, und irgendetwas geht hier vor, eindeutig. Das Buch siedet vor Verschwörung, und es haben mindestens zwei geflüsterte Konsultationen sämtlicher Figuren stattgefunden, zwei Figuren eingeschlossen, die noch nicht einmal offiziell erschaffen sind. Die Nachwelt, die sich ins Geschick ihrer Vorfahren einmischt, falls Sie verstehen, was ich meine. Es ist wirklich schlimm. Der Einzige, der sich dagegenstemmt, höre ich, war bisher Captain Fowler, der versoffene Hedonist, welcher darauf besteht, daß bis zur Vollendung von Kapitel Zwölf alles mit rechten Dingen zugeht; und er wurde überstimmt. Offen gesagt, Leser, ich fürchte, mein letztes Stündlein hat geschlagen. [ . . . ] Seltsam ist die Welt, aber schön ist sie auch. Wie schwer ist sie, die Stunde des Abschieds. Die Polizei kann ich nicht rufen, denn wir Autoren haben unseren närrischen Stolz. Das Schicksal von Bruder Barnabas ist besiegelt, besiegelt für immer. Ich muß schreiben!

216

Dies, lieber Leser sind meine letzten Worte. Behalte sie und hege sie. Nie wieder kannst du meine unsterbliche Prosa lesen, denn meine Zeit, die eine gute Zeit war, ist abgelaufen« Diese allerdings wird von Walsers Ironie oft genug in den Blick genommen; vgl. etwa B G I, 85 — Z u den Verfahren und Strategien der Namengebung vgl. Hübner 1995, S. 124.

233

daß ich wenig [ojdei in gewisser Hinsicht überhaupt nicht in das gehe, was man Gesellschaft nennt. (295/I, 2 9 - 3 1 )

Das Verhältnis des Text-Ichs zu den »Frauen« wird hier nicht mehr rhetorisch verschleiert, sondern — im Wortsinn — marginalisiert: vom >Kennengelernt-< über das »Gesehenhaben« bis hin zum »mit den Augen gestreifthaben« soll die Intensität der Kommunikation reduziert werden; die Kehrseite dieses Verfahrens ist allerdings, daß bei der Kennzeichnung der zunehmend >interessekennen< und >bekennenGeständnis< erhalten bleibt. Infolge dieser — scheiternden — Vermeidungsstrategie, 218 welche die Textur zugleich beschreibt und vorführt, verweist sie, einen weiteren Abweg einschlagend, auf das Verhältnis zwischen dem Text-Ich und der »Gesellschaft« zurück. Die Problematik der >Verhältnisse< verdoppelt sich — Suspendierung und >suspense< — damit also in eine strukturelle und narrative Funktion, deren Knotenpunkt das »Erlebnis« darstellt: Immerhin dürfte es nachgerade Zeit geworden sein, daß ich vom Erlebnis vorsichtig mich I anschicke zu reden. Wird's etwas von Bedeutung sein. Diese Frage wird sich von selbst beantworten. Ich sei immer noch haargenau derselbe | Ungezwungene, Natürliche, war vor einigen Wochen jemand sichtlich bemüht, mich glauben zu machen. (295/I, 4 2 — 4 4 )

Der Aufschub der Rede, 219 der regelmäßig da einsetzt, wo zur Sprache gebracht werden soll, was in diesen Zeilen, hier, jetzt »vor[zu]bringen« wäre, wird konfrontiert mit einem Redegegenstand, der, wie eine zeitgenössische Poetik will, am Ursprung und im Zentrum aller Poesie steht: 217

218

219

Zu verweisen wäre hier auf die von Alfred Fankhauser mitgeteilte Episode aus einem Gespräch mit Walser im Bahnhofbuffet Bern: »Walser war irgendwie gereizt, schimpfte über verschiedene Wirtschaften, unter anderm das >Du Théâtres wo man ihn nicht habe bedienen wollen. Verglichen mit der dort verkehrenden Gesellschaft sei er mehr als nur respektabel. Dann brachte er einen absolut originalen Ausdruck. >Was mache die Wyber u die Schwächlinge dert under? Alls i allem nüt als Augevögle.. .der Gesellschaft« gehörende handelt. Zu diesem Strukturelement von Walsers Prosa vgl. neben dem exemplarischen Prosastück — dem, im wörtlichen Sinn, >Traum von einem Prosastück< — >Der heiße Brei« (19, 8c)ff.) z.B. Hart Nibbrig 1 9 8 1 , S. 179: »Das Umgehen, das Auslassen, das Ausweichen und Zurücktreten grundieren Walsers Erzählen auch dort, wo er plätschernd draufloszuschreiben scheint«.

234

dem Erlebnis. 220 Doch er affiziert dieses sofort: An die Stelle des dargestellten, Dichtung gewordenen Erlebnisses tritt die Ankündigung eines »vorsichtig[en]« und noch immer zögernden Anschickens und die prospektive Frage nach dessen Bedeutung. Letztere nimmt nicht nur kontrastierend Bezug auf die Nebensächlichkeit der soeben mitgeteilten »Tatsachen«. Man muß die Frage als eine nach dem Grad der Textproduktivität des in Aussicht gestellten Erlebnisberichts betrachten - als Frage nach der Signifikanz in einem zeichentheoretischen Sinn. 221 Der lakonische Verweis darauf, daß sie »sich von selbst beantworten« wird, beschreibt dann genau dieses textgenerierende Potential, das der Fokussierung auf das »Erlebnis« zukommen soll. 222 Daß die Frage nach dem >Bedeutenden< im Mitzuteilenden ihrerseits spätestens seit Goethes >Dichtung und Wahrheit< zur Grundkonstellation autobiographischer Verwandlung von Leben in Schrift gehört, läßt das hier fokussierte Problemverhältnis anschlußfähig bleiben für die >gattungspoetische< Dimension des Mikrogramms, auf die zurückzukommen sein wird. 220

»Die darstellende Kunst erweitert den engen Umkreis von Erleben, in den jeder von uns eingeschlossen ist, sie hebt den in dunklem und heftigem Innewerden enthaltenen Zusammenhang des Lebens in die helle, leichte Sphäre des Nachbildens, sie zeigt das Leben, wie es in mächtigeren auffassenden Vermögen, als die unseren sind, sich abspiegelt, und sie rückt es in eine Ferne von dem Zusammenhang unseres eigenen Handelns, durch welchen wir ihm gegenüber in einen freien Zustand geraten« (Dilthey 1895 —1896/192 iff., V, S. 276).

221

Aus diesem Grund greifen Interpretationen zu kurz, die das Verhältnis vom Text-Ich zu Erna hin auf sozialen und/oder subjektphilosophischen Schemata transzendieren wollen: Obermann etwa spricht vom »dilletantisch[en] [sie!] Selbstgenuß« (Obermann 1987, S. 26), den das Liebeserlebnis fur das Text-Subjekt abwerfe (ohne dabei auf den Begriff des Narzißmus, den der Text ja geradezu aufdrängt, einzugehen); sie verankert diesen in der »Außenseiterexistenz des Ich-Erzählers« und in der Problematik der Spaltung der Ich-Figur im Text: »Gibt die Außenseiterrolle den Geflihlsdilletantismus [sie!] vor, so ist die dieser Haltung entspringende Distanz zum eigenen Gefühl bedeutsam, um das >Liebeserlebnis< auch zu beschreiben. Die Paradoxie dieser Haltung reflektiert das D i lemma des Ich-Erzählers als erlebendes und wahrnehmendes Ich. U m seinen eigenen Wahrheitsanspruch auch erfüllen zu können, m u ß er sich um eine Gegenüberstellung mit sich selbst — als erkennendes Subjekt und erkanntes Objekt — bemühen: Interpretiert man ein >Liebeserlebnis< als bedeutungsvolle Erfahrung und unmittelbare Begegnung mit anderen, und betrifft diese Erfahrung das Bewußtsein der Ganzheit (Identität) des Menschen, dann ist die >Schilderung des Liebeserlebnisses< dazu ausersehen, den Sinngehalt dieser Erfahrung mit dem Ziel der Wahrheitsfindung wiederzugeben« (Obermann 1987, S. 26).

222

»Treten wir aus der Jagd nach Zielen heraus, ruhesam, {blicken) in unser Leben zurück, so erscheinen seine Momente usw. bedeutsam. Dieses ist die natürliche Ansicht des Lebens. In dem Dichter tritt diese Auffassung gesteigert hervor. Er erfaßt die Bedeutsamkeit des Lebens. Indem der Dichter von dem, was er gewahrt, nicht zum Handeln angeregt wird, wird die Menschenwelt ihm bedeutsam. Die Bedeutung eines Geschehnisses liegt darin, daß seine ursächliche Verkettung zugleich Erzeugung eines Wertes ist. Für den handelnden Menschen liegt der Wert in einem Ziel, für den dichterischen in jedem Lebensmoment« (Dilthey i 9 0 7 - i 9 0 8 / i 9 2 i f f , V I , S. 319).

235

Diese Anschlußfähigkeit ist umkehrbar. Wenn kurz vor Ende des ersten Abschnitts selbstbezüglich von der Funktion des bisher Geschriebenen die Rede ist — eine Selbstbezüglichkeit, welche die Suspendierung der Programmatik erneut bestätigt —, bekennt sich die Textur nun als evident rhetorisch strukturierte: »Dieser erste Abschnitt hier dürfte etwas mit einer Art I Einleitung verglichen werden dürf können« (295/I, 44t.). Die »Einleitung«, als >insinuatio< einer der schematischen Teile der rhetorischen Strukturierung von Texten, paßt nur schlecht zur von Stil- und Gattungsvorgaben im Zeichen der Aufrichtigkeit abzugrenzenden »Herzensschrift« 223 — denn um nichts anderes soll es sich, wie die folgenden Sätze zeigen, handeln: Wird es sich bei allem dem, was ich hier zur Sprache geben, wie soll ich doch nur schnell sagen, zur Sprache bringe | um etwas wie eine Liebesgeschichte handeln. Wäre es möglich, daß ich mich hiesigenorts zu irgendwelcher Stunde gar «>bis über die Ohren hinaus | verliebt hätte? W ü r d e so etwas nicht womöglich geradezu unglaublich anmuten? Denn immer hielt ich mich und hielten mich A > alle die Andern fìir | sozusagen lieblos, unfähig begeistert zu sein, unkapabel sich zu enthusiasmieren, für irgendetwas zu schwärmen, feurig für dieses oder jenes einzutreten | sich ea entzückt, entflammt zu fühlen. (295/I,

45-49)

Das Schreiben wird damit wiederum zum Kern dessen vorstoßen, was »vor[zu]bringen« wäre: zur Möglichkeit, daß der Motor der Textentstehung in einem erotischen Erlebnis zu suchen ist, das gleichzeitig als Anlaß und als Hemmung des Schreibverlaufs gelten kann und so mit der selbstreflexiven Bewegung und dem Pensum des Schreibens in Konflikt gerät. Dieser Konflikt allerdings besteht, wie die bisherige Lektüre zeigen konnte, vor allem auf der »inhaltlichem und poetisch-programmatischen Ebene — zwischen dem bloß andeutenden und permanent zu verschleiernden Verweis auf einen erotisch-libidinösen Kontext und der Vorgabe der klaren, ungeschmückten Rede. Was dagegen die Programmatik des Schreibens und der Textproduktion betrifft, so erweist sich dort dieser Konflikt nicht nur als irrelevant. Er ist, er produziert Text — »etwas wie eine Liebesgeschichte«. (Hervorhebung SK) — und steht damit in einem Verhältnis uneinholbarer Nachträglichkeit zum »Erlebnis«. Diese Nachträglichkeit wird selbst wiederum in der unaufhörlichen Versicherung schreibender Präsenz in einem zeitlichen und räumlichen Sinn — jetzt, hier — thematisiert, wird zur Bewegung eines permanenten Aufschubs und gleichzeitig einer Selbstreflexion der Textualisierung.

223

Vgl. dazu Schneider 1986.

236

Das heißt aber, daß auch hier die unterschiedlichen Ebenen der Textur nicht einfach in die herkömmlicherweise zu diagnostizierende Spaltung zwischen Erzählung und Erzählkommentar, zwischen Text und Metatext geschieden werden können. 2 2 4 Das -ich- der Textur, dem die Lektüre als Textfigur eine solche Unterscheidungsfähigkeit letztlich zuzurechnen hätte, kann keinen Standort außerhalb der Textbewegung fiir sich in Anspruch nehmen, von dem aus erst diese Differenzierung zu treffen wäre. Es bringt sich vielmehr — intransitiv — durch das Schreiben, im Schriftverlauf erst zur Sprache; dies in einem Akt, der nicht der Logik einer >Gabe< gehorcht, sondern einer der Produktivität: »Wird es sich bei allem dem, was ich hier zur Sprache geben, wie soll ich doch nur schnell sagen, zur Sprache bringe...«. Thematisiert wird diese Unbestimmtheit der IchFigur durch die Destruktion eines erstmals in der Textur auftauchenden Konsenses einer Aussage (von sich) über sie/sich. Die Zuschreibung der Lieblosigkeit, der Unfähigkeit zur Begeisterung, zur Schwärmerei, zum Engagement, die -ich- und »alle die Andern« über -ich- treffen, wurde von der Textur bereits durch den rhetorischen Enthusiasmus ihrer bisher >problematischsten< Stelle dementiert: »Wie heiter, warm und schön zu diesem Zeitpunkt der Nachthimmel mit Sternen prangte. Gewiß glich es einem Prangen.« (295/I, 19f.) Im zweiten Abschnitt wird gleich zu Beginn in die beschriebene Doppelfunktion von Erlebnis und Schreiben eine neue Dimension eingeführt. Mit der Frage nach der »Heldin« (296/I, 2) und ihres zu bestimmenden »weiblichen Vornamens« (296/I, 1) kommt, wie gezeigt, eine Ebene der Literariziät und Fiktionalisierung zum Vorschein, die ihrerseits nur schlecht mit der Absicht eines Tatsachenberichts zur Deckung zu bringen ist. Auf den Erlebnisbericht selbst hingegen wird erst in der zweiten Hälfte des Abschnitts und genau in der Blattmitte wieder eingegangen - nachdem die Rahmenbedingungen für eine Poetenexistenz, von finanzieller Sorglosigkeit bis zum Bezug eines »ächten, wirklichen Dichterzimmerchens« (296/I, 37), expliziert worden sind. N a c h einigen Tagen schon, nachdem ich in der neuen W o h n u n g wohnlich | geworden war, betrat ich sodann eine Vergnügungshalle, wo ich diejenige p o m pös=zierlich auftreten sah, in deren Erscheinung es mir gegeben war, mich | m i t einem Schwung zu verlieben, den ich ¿ >bis dahin nicht bei einer Persönlichkeit aufgesucht hätte, w > d i e sich durch Trockenheit, Vorsichtigkeit usw. bis dahin I aas ge>hervorgetan hatte wie die ist, die von m i r repräsentiert wird. (296/I, 40-43) 224

Zur Infragestellung dieser Unterscheidung vgl. schon oben Kap. II.6.

237

Die Bedeutsamkeit, die sich im Anschluß an das kontingente Ereignis — als Zäsur durch die zweimalige Formulierung von »bis dahin« doppelt markiert — entspinnt, bestätigt sich bereits hier und läßt auch die Erscheinungsform des von ihr Betroffenen nicht unverändert. Die bisher vorherrschenden Kanzlistentugenden wie »Trockenheit, Vorsichtigkeit usw.«, welche die »Persönlichkeit [...], die von mir repräsentiert wird«, verkörpert hat, fegt der »Schwung« hinweg, den die Verkettung von Kontingenzen erzeugt. Dadurch werden aber nicht Charaktereigenschaften als variabel und insbesondere durch amouröse Verstrickungen gefährdet dargestellt. Es ergibt sich vielmehr die Umkehrung eines psychologischen Topos: Ist es darin das Liebeserlebnis, das sich persönlichkeitsverändernd und das Sozialverhalten tangierend auswirkt, zeigt sich hier sowohl die Kausalität brüchiger als auch die Figuralität der betreffenden »Persönlichkeit[en]« — >personae< — deutlicher. Persönlichkeit ist ein Effekt von Repräsentation, die schwungvolle Verliebtheit gilt nicht etwa der auftretenden Frau, sondern vielmehr »deren Erscheinung«, die einen wahren Taumel von allen möglichen Klischees einer Semantik der Liebe auslöst: Ich hauchte bloß dies eine: Bin ich bestraft oder belohnt, bereichert oder | vollständig ein Armlicher und ist es wirklich nur ein menschliches Etwas, wirklich keine Göttin aus dem Universum herabgeflogene Göttin, die ich mit den I unnützesten unwürdigsten Augen, die es je gab, schaue und sehe, vor deren Anblick großaufgerissenen Blickes in die Blindheit sinkend, und indem ich | solche/j/ oder entsprechend ähnliches Glücksgeflüster zu mir sprach, schien es um mich geschehen. (296/I, 4 3 - 4 6 )

»[Sjolches oder entsprechend ähnliches Glücksgeflüster«, das vom Überirdischen bis zum Blendenden, von Selbsterniedrigung bis zur Überhöhung des Objekts die Versatzstücke eines Liebesdiskurses montiert, vermag nicht ganz darüber hinwegzutäuschen, daß es sich hier um einen Auftritt in der ganzen Theatralität der Bedeutung dieses Wortes handelt; einen Auftritt, der demzufolge auch von Anbeginn durch das Übergewicht seiner visuellen Wahrnehmung bestimmt ist: »wo ich [...] diejenige pompöszierlich auftreten sah, in deren Erscheinung es mir gegeben war, mich [...] zu verlieben« (296/I, 4if.; Hervorhebung SK). Die Betonung des sowohl aktiven wie passiven Akts der visuellen Wahrnehmung — schauen und sehen22"> — unterstreicht die bereits oben (vgl. 295/I, 30) angedeutete Erotik 225

"ISjchauen unterscheidet sich von sehen so, dasz letzteres die passive affection des sinnes, ersteres einen bewuszten willensact, die selbstthätige richtung des blickes auf etwas hin bezeichnet« (Grimm 1 8 5 4 — 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , XIV, Sp. 2310). — Diese Akzentuierung gleichzeitig aktiver und passiver Anteile der beschriebenen »Schaulust« entspricht exakt der von Freud beschriebenen >perversen< Ausrichtung des Visuellen, »wenn sie das normale Sexualziel, anstatt es vorzubereiten, verdrängt.«: »Bei der Perversion, deren Streben das 238

des Blicks, der sich bis z u m K o l l a p s eines >Über-Sehens< verausgabt und sein O b j e k t gleichsam überbelichtet: »vor deren A n b l i c k großaufgerissenen Blickes in die B l i n d h e i t s i n k e n d « . 2 2 0 D i e exzessive Metaphorik des Sehens b e s t i m m t auch in der F o l g e die Schilderung des Erlebnisses. Sie w i r d die Taktik der A b s c h w e i f u n g u n d des U m w e g s , den die Textur ihr einzeichnet, hintertreiben: W a s - i c h - sieht, das m u ß - i c h - zur Sprache bring e n , gerade da, w o - i c h - es verschweigen w i l l : 2 2 7 Aus Rücksicht darauf daß sie noch unerschrocken und unverwundet | unter den Lebenden weilt, lasse ich ihre Costümlichkeit usw., die Farbe, die sie trug, den Schnitt ihres Gewandes, ihre Gesichtszüge, ihre Höhe, Größe und besonders | auch ihre Art, wie sie sich zu frisieren liebte, unbeschrieben. Ich brauche nur so viel zu bekennen, daß sie mir ausnehmend schön, unvergleichlich schön, unsagbar | schön und ebenso ¿¿ in ebenso unaussprechlichem Grad wertvoll vorkam, und daß ich sie von da an immer in der denkbar begreiflichsten und taktlosesten | Art und Weise angaffte, was sich fur mich zu einem bis dahin erlebten, empfundenen Glück auswuchs. (296/I, 4 6 — 50) D i e D o m i n a n z des Visuellen i m R a h m e n dieses Liebeserlebnisses w i r d erstens dadurch betont, daß das akzidentielle Signalement der » H e l d i n « — K l e i d u n g und Frisur — ebenso »unbeschrieben« bleibt und in der F o l g e w i e ihr substantielles physiognomisches Profil d e m Topos der U n s a g b a r keit a n h e i m f ä l l t . 2 2 8 Dieser tritt i m Verlauf des Schreibvorgangs gerade da

226

Schauen und Beschautwerden ist, tritt ein sehr merkwürdiger Charakter hervor [...]. Das Sexualziel ist hiebei nämlich in zweifacher Ausbildung vorhanden, in aktiver und passiver Form« (Freud 1905/1989, V, S. 66f.). >Blind< kann, so das >Deutsche Wörterbuchs als Bezeichnung »von sachen« dienen, »die sich nicht öfnen« (Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , II, Sp. 120). - »Für das Auge pflegen wir die dunkeln psychischen Vorgänge bei der Verdrängung der sexuellen Schaulust und bei der Entstehung der psychogenen Sehstörung so zu übersetzen, als erhöbe sich in dem Individuum eine strafende Stimme, welche sagte: >Weil du dein Sehorgan zu böser Sinneslust mißbrauchen wolltest, geschieht es dir ganz recht, wenn du überhaupt nichts mehr siehstHeldin< vom Argument der Diskretion initiiert wird, das zu diesem Topos eigentümlich quer steht, setzt die Textur eine Markierung von >RealitätRealität< erfordert wird. Sie bildet keine Einschreibefläche fur einen taktil-aggressiven Blick, sondern läßt ihn an ihrer Oberfläche brechen. Zweitens aber wird der visuell-taktile Charakter des »Mit den Augen gestreift-haben[s]« (295/I, 30) in der zweiten Hälfte des Satzes fixiert und verstärkt: »Ich brauche nur so viel zu bekennen, [...] daß ich sie von da an immer in der denkbar begreiflichsten und taktlosesten Art und Weise angaffte«. Die Fixierung durch den Blick, die unverhohlen eine körperlicherotische Dimension annimmt, versagt sich jeglicher Form von Sublimierung - geradezu obszön klafft das Betrachterauge, be-greiflich und taktlos, seinem Gegenstand entgegen, rekurriert man einmal mehr auf die überlieferte Wortbedeutung. 229 Die Verschränkung von Begehren und Befriedigung im visuellen Akt bringt die Fortsetzung des Satzes mitsamt dem in ihr auftauchenden >Verschreiben zum Ausdruck: »...was sich fur mich zu einem bis dahin erlebten, empfundenen Glück auswuchs.« Das »Glück« besteht nicht in der Singularität eines Erlebens, wie es die >richtige< Wendung des >bis dahin nie Erlebten< suggerieren würde, sondern in der Kontinuität von Begehren und Erfüllung, die bis zum einem aller229

Vgl. Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , I, Sp. 336 - dem Wörterbuch scheint es ob dem ungeheuren Akt geradezu die (deutsche) Sprache zu verschlagen: »ANGAFFEN, gleichsam adhiare oculis, oculo hianti, aperto ore intueri«. Sogar ein lateinischer Neologismus (>adhiare< fehlt in den einschlägigen Wörterbüchern) wird zur Definition notwendig. Dieselbe körperlich-taktile Dimension liegt auch dem Lexem taktlos zugrunde: »TAKT, TACT« bezeichnet zunächst »die berührung, der thätige gefuhls- und tastsinn« und übertragen (oder besser: sublimiert) »das innerliche feine gefühl fur das rechte und schickliche, ein feines und richtiges urtheil« (Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , X X I , Sp. 92). Die > Taktlosigkeit streicht gewissermaßen diese Sublimierung durch. Es läge nahe - worauf hier nur am Rand verwiesen werden soll — die Struktur dieses Sehens mit der Phänomenologie Merleau-Pontys zu entziffern; vgl. dazu Merleau-Ponty 1964/1994, insbesondere das Kap. >Die Verflechtung — Der ChiasmusAuswuchses< und des >sich Herausnehmens< (296/I, 50) ist eine Semantik des Exzesses angelegt, die wiederum mehr oder weniger unmittelbar auf die Dimension der Körperlichkeit rekurriert. 230 Ich nahm mir also heraus, glücklich zu sein | und die Mitteilung dieses U m standes fuhrt mich auf den Gedanken, ich sei damals gewissermaßen i»>was meine Schriftstellerei anbetrifft, stecken, haften geblieben, | ich könnte sagen, ich sei damals ein ¿¿>bischen »»>geistlos gewesen, hätte keinerlei kulturtreibenden Energien gehab in mir lebendig zu machen verstanden (296/I, 5 0 — 5 2 )

Wie bei einer Textstrategie, die mit den Konzepten der Psychoanalyse spielt, nicht anders zu erwarten, hemmt das entsublimierte Begehren die schriftstellerische Produktion. Die Grundlage gerade intellektueller und künstlerischer Tätigkeit wird nach Freuds Konzept der Sublimierung durch die Umleitung des Sexualtriebs geschaffen, bei der Ziel und Objekt des Begehrens nicht mehr im Bereich des Sexuellen zu lokalisieren sind, sondern sich eine neue Richtung innerhalb eines kulturellen Dispositivs suchen. »Denn welches Motiv hätten die Menschen, sexuelle Triebkräfte anderen Verwendungen zuzuführen, wenn sich aus denselben bei irgendeiner Verteilung volle Lustbefriedigung ergeben hätte? Sie kämen von dieser Lust nicht wieder los und brächten keinen weiteren Fortschritt zustande.« 231 Gerade sogenannt >perverse< Triebausrichtungen, und insbesondere die vorgeführte Blick- und Sehlust sind dabei — so Freud — besonders geeignet, durch Unterdrückung der »Kulturarbeit« zugeführt zu werden. 232 Denn einerseits ist die »sexuelle Neugierde«, die sich im Bereich des Visuellen artikuliert, per se mit Kulturtechniken konfrontiert, die sie zur Sublimierung in Form künstlerischer Gestaltung zwingen: »Die mit der Kultur fortschreitende Verhüllung des Körpers hält die sexuelle Neugierde wach, welche danach strebt, sich das Sexualobjekt durch Enthüllung der verborgenen Teile zu ergänzen, die aber ins Künstlerische abgelenkt (>sublimiertauswachsenAuswuchsGegenstände< des Schreibens; sie betrifft hier die Rahmung des Erlebnisses, der sich die Erinnerung zu vergewissern hat: Alles in Allem hatte ich es um jene Zeit also erstens mit einer W i t w e , z>die ich an sich sehr nett fand, zweitens mit dem Dienstmädchen oder der Aufräumerin | dieser W i t w e , die mir an sich ebenfalls ungemein gut gefiel, drittens aber mit schriftstellerischen Versuchen, die mir nicht gelingen wollten und viertens aber mit | genannter Maschine zur Hervorbringung höchsten Entzükkens mitten in mir zu tun. (296/I, 5 3 — 5 5 )

Das Modell der »Parallele« (296/I, 28), hier rückübertragen auf die »Absichten, Wünsche und Bestrebtheiten« (296/I, 29) als Gegenstände der Erinnerung, konstruiert einen Polymorphismus der Begehren,236 der verschiedene Ebenen libidinöser Energieverteilung beschreibt: Die Nettigkeit der Witwe, die ebenfalls temperierte Attraktion, die vom »Dienstmädchen« ausgeht, das Scheitern sublimierender Kulturarbeit und die >maschinelle< Produktion von Lust bilden ein Tableau von Intensitäten, deren 234 235

256

Freud 1 9 1 5 / 1 9 8 9 , III, S. c, 4 f. Freud stellt folgende »Stufen« fest: »a) Das Schauen als Aktivität gegen ein fremdes Objekt gerichtet; b) das Aufgeben des Objektes, die Wendung des Schautriebes gegen einen Teil des eigenen Körpers, damit die Verkehrung in Passivität und die Aufstellung eines neuen Zieles: beschaut zu werden; c) die Einsetzung eines neuen Subjektes, dem man sich zeigt, um von ihm beschaut zu werden« (Freud 1 9 1 5 / 1 9 8 9 , III, S. 92). — Es sei noch einmal festgehalten: Hier geht es nicht um eine psychoanalytische Interpretation des Walserschen Texts, der es darum zu tun wäre, latente Inhalte freizulegen. Im Gegenteil stellt die Rekonstruktion des Prozesses zum Text eine Form der >Oberflächenlektüre< dar, in der es hier im besonderen um die poïetische Dimension von Wissenselementen geht; die Bruchstücke aus der psychoanalytischen Theorie sind Grundlage eines Textualisierungsvorgangs (unter anderen), welche gewisse Spielregeln aufstellt, an denen sich das Schreiben — in die eine oder andere Richtung — abzuarbeiten hat. »Der Partialtrieb der Schaulust kennt keine Grenzen in der Wahl und kein Maß in der Zahl seiner Objekte« (Manthey 1 9 8 3 , S. 92).

242

Spannungsverhältnis die erzählende Strukturierung der Erinnerung bestimmen wird. Die letztgenannte vierte Ebene rückt indes um der Eigenartigkeit ihrer Formulierung willen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die »genanntje] Maschine zur Hervorbringung höchsten Entzückens mitten in mir« bietet sich im libidinösen Kontext des geschilderten Erlebnisses geradezu als Gegenstand einer Entzifferung an, die auf eine phallisch(auto)erotische Konnotation rekurriert — eine Lektüre, der die geschilderte Inszenierung psychoanalytischer Diskursversatzstücke keineswegs widersprechen würde. Dennoch scheint hier ein gewisser Vorbehalt geboten, nimmt man den Text in seiner Wörtlichkeit ernst: Es ist ausdrücklich von einer »genannten« Maschine die Rede, der dann lediglich das >Angaffen< (vgl. 296/I, 50) selbst entspräche. Wie bereits dargestellt, sperrt sich dies — gerade im Zusammenhang der dominierenden Ebene von Bildlichkeit und Visualität, die das Schreiben im zweiten Abschnitt bestimmt — gegen eine Überbewertung der phallischen Bedeutung des Blicks. Das >Gaffen< verweist erstens auf ein Aufreißen, ein Klaffen seitens der aktiven Instanz des Sehens 237 — darin liegt seine >obszöne< Dimension. Zweitens aber macht der begehrende Blick an der Oberfläche der Erscheinung halt und entspricht damit jener ersten Sublimationsleistung künstlerischer Gestaltung, die der Schautrieb vollführt. Dessen konsequente Modellierung nach dem Freudschen Muster zeigt auch die Weiterfuhrung hin zur »Aufstellung eines neuen Ziels: beschaut zu werden«, 2 3 8 die abgelöst wird durch die Inszenierung einer bisher ausgesparten Dimension des Narzißtischen in der psychoanalytischen Theorie, den Aspekt der Homosexualität — begleitet durch eine neuerliche Markierung (nicht nur) psychoanalytisch verbürgter Zweideutigkeit: Bereits schien mich mein Ideal einigemal minimal beachtet zu haben | was ich schon für überaus viel hielt, indem ich es fur die höchste Gnade, ftir die schönste blühendste aller Freundlichkeiten von ihr auffaßte. Und sah ich dann dort | im Kaffehaus nicht eines Tages, als ich mich wieder einmal daselbst voll Seligkeit daselbst aufhielt, einen reizenden jugendlichen Lakaien dem Lift entsteigen, der sich I scheinbar ein glänzend funktionierendes Verkehrsmittel auswies. (296/I,

55-58)

237

238

Diese Verknüpfung von passiver und aktiver Funktion des Auges hat Otto Fenichel an Phänomenen einer »Magie des Schauens« festgehalten: »Bemerkenswert ist, daß das Auge bei all diesen magischen Vorgängen eine doppelte Rolle spielt. Es ist nicht nur aktiv-sadistisch (der Anblickende bannt sein Opfer), sondern auch passiv-rezeptiv (der Anblickende wird durch das, was er sieht, gebannt)« (Fenichel 1 9 3 5 , S. 562). Freud 1 9 1 5 / 1 9 8 9 , III, S. 92.

243

Noch der scheinbare Geständnistopos des Tagebuch-Schreibers, der auf diese Inszenierungen erotischer Bekenntnisse folgt, 239 entspricht der bewährten analytischen Grundregel der gleichschwebenden Aufmerksamkeit noch fürs kleinste und unsinnigste Detail, fur die bekanntlich »keine Anknüpfung [...] zu locker, kein Witz zu verwerflich« ist, »als daß er nicht die Brücke von einem Gedanken zum andern« bilden könnte. 240 Bei einem sprachlichen Produktionsprinzip, »alles mit zu sagen, was [...] durch den Kopf geht«, auch dann, wenn der Eindruck besteht, »es sei unwichtig, oder es gehöre nicht dazu, oder es sei unsinnig«, 241 gibt es keine Abschweifung, kein zu vernachlässigendes Detail. Bereits in der Produktionsmetaphorik der >Schlafs< ist, wie oben gezeigt werden konnte, dieses Prinzip der metonymischen Verkettung von mehrfachen Bestimmheiten der Schreibpraxis angelegt, die eine strukturelle Wahlverwandtschaft zu Freuds Konzeption der Traumarbeit ebenso nahelegen wie zur surrealistischen Praxis der >ecriture automatique< oder damit zusammenhängenden Assoziationstechniken. Es geht dabei, was die nachfolgenden Überlegungen zur Technik des Schreibens verdeutlichen, nicht um die Produktion eines bekennenden Wahrheitsdiskurses, sondern um die schreibende Überwindung »vollendetster Schweigsamkeit« und »unübertroffenster Zurückhaltung«. Wie aber ist diese Inszenierung des Begehrens als Vorstellung des Blicks, die hier so nachdrücklich in Erscheinung tritt, zu entziffern? Die Freudschen Modelle von Schaulust und Narzißmus scheinen nicht zuletzt deshalb ungeeignet, weil sie eher Ausgangspunkte der Funktionsweise dieser Textur darstellen, als daß sie als Schlüssel für ihre Lektüre taugen. Sie bilden Interpretationsangebote, deren Implikationen durch die Textualisierung gewissermaßen übererfüllt werden. Andererseits zeigt sich hier aber auch kein Ansatzpunkt für die Rekonstruktion jener Form von >fetischisierenden< Verfahrensweisen, die Walsers Texte sonst ihren erotischen Inszenierungen gern — und nicht minder reflektiert — zugrunde legen. Denn das Objekt des Blicks bleibt eine leere Fläche, die, genau besehen, nicht einmal durch Projektion gefüllt wird: Explizit ist von der Unbeschrieben-

239

240 241

»Wie käme ich dazu, über jene holde Zeit voll bedeutsamen »Unsinns« den Vorhang | vollende/z/ster Schweigsamkeit und unübertrefflichster unübertroffenster Zurückhaltung herabfallen zu lassen« (296/1, 58f.). Freud 1900/1989, II, 507. Freud 1904/1989, Erg.-Bd. 1 0 3 .

244

heit und Unbeschreibbarkeit der Erblickten die Rede. Es bleibt übrig allein der A k t des Blicks selbst. 242 Die visuelle Inszenierung des Liebeserlebnisses wird wiederaufgenommen und gespiegelt an allen Stellen, die im Verlauf der Textur auf das Erlebnis als jenes »Tatsächlich[e]« (310/I, 3) Bezug nehmen — das »eigentlichste], mir «wz>wie von der Vorsehung vorbe>als Turn | oder Tummelplatz vorbcst angewiesen[e] Gebiet« (310/I, if.). An dieser >Tatsächlichkeit< des Geschriebenen mißt sich das Gelingen des Schreibens, denn daß auch »Liebesaffären verhältnismäßig uninteressant ausfallen« (299/I, 7) können, ist eine Gefahr, durch die das Scheitern der Darstellung als permanente Drohung im Bewußtsein bleibt — eine Tatsache, die nicht zuletzt Walsers auf der >Trivialliteratur< basierenden Anlese- und Textverarbeitungsverfahren immer wieder feststellen und reflektieren. 2 4 3 Die Problematik des Mißlingens, mit der der dritte Abschnitt einsetzt, entspinnt sich — wie schon im zweiten Abschnitt (vgl. 296/I, 26f.) — zunächst an einem strukturellen Aspekt des Schreibens. Wie bin ich bei der nur leisesten Vorstellung, die Anstrengung, die sich auf den vorliegenden und folgenden | Blättern abspielt, könnte mir mißlingen, unmutig gegen mich gestimmt und gesinnt, wie zittere ich | beispielsweise vor Verachtung gegenüber mir selbst, wenn ich mir einbilde, es könnte möglich sein, daß | mir die Schilderung des Liebeserlebnisses mißlänge, das ja den eigentlichen Gegenstand einer | Arbeit bildet, worin ich mir auf das Festeste untersage, Schützengrabenepisoden oder dergleichen | anzubringen, die in diesen unseren friedensuchenden Nachkriegstagen störend wirken würden und eher geneigt sein könnten, einen Mangel an Interessiertheit als eine | aufrichtige Anteilnahme auszulösen. Nun können ja anderseits Liebesaffären verhältnismäßig uninteressant ausfallen, ich bin überzeugt, daß es hier | eine derartige Möglichkeit, eine solche »Gefahr« ftir mich gibt. (299/I, 1 - 8 )

War es im vorangehenden Abschnitt die >Architextur< sprachlicher Konstruktion, die unter dem Verdacht des Zusammenbruchs stand, 2 4 4 so 242

Das Verhältnis von Blick und Begehren ist ausgehend von Lacans Reformulierung der Theorie Freuds zu einem Markenzeichen psychoanalytischer Interpretation geworden dazu prädestiniert es die Doppelfunktion von ichkonstitutiven und objektbesetzenden Energien, an deren Ausgangspunkt das >Spiegelstadium< steht (vgl. dazu nur Lacan 1949/ 1 9 9 1 ; Lacan 1964/1987, S. 73 —126); eine Doppelfunktion, deren Implikationen, wie hier deutlich wird, Walsers Text präzise beschreibt.

243

Vgl. z.B. >Mamsell Miseel·, die »nicht übel gedichtet[e] Geschichte« (20, 336), deren natürlich glückliches - Ende folgendermaßen inszeniert wird: »Sie umarmen sich; es kommt zur Eheschließung, und wieder scheint eine Geschichte, die von Interessantheit strotzt, besprochen worden zu sein, ehe sie von mir vergessen wurde. Der Nennenswerte, dem das kleine Werk aus der Feder flöß und sproß, verzichtet aufs namhaft Hervorgehobenwerden. Ich finde dies nett von ihm, und ich glaube, der Leser dieser Kritik wird sich am Beifall, den ich ihm zolle, mit Vergnügen beteiligen« (20, 338f.).

244

»Ob wohl die Grundlagen, das Fundament, das Gerüst für den ruhigen und sorglosen

245

scheint dieser nun die »Anstrengung« heimzusuchen, die metonymisch für die Praxis und das Projekt des Schreibens (»die sich auf vorliegenden und folgenden Blättern abspielt«) gelesen werden kann. Allerdings stellt dieser Verdacht sowohl in seiner abstrakten Form wie im konkreten Bezug auf das >Liebeserlebnis< ein Produkt schreibender Imagination dar. Er verweist zwar als topisches Moment des Selbstzweifels auf die Gattungsgesetze des Tagebuchs und hält damit die Schreibbewegung in Gang. Die imaginierte Möglichkeit des Zweifels an einem Mißlingen der Liebeserzählung erweist sich beim näheren Hinsehen aber als Akzentuierung und Bestätigung der im zweiten Abschnitt gewählten Darstellungsweise: »[W]ie zittere ich beispielsweise vor Verachtung gegenüber mir selbst, wenn ich mir einbilde, es könnte möglich sein, daß mir die Schilderung des Liebeserlebnisses mißlänge«. In der Wortwahl — von »Verachtung« über »Schilderung« bis zum >Einbilden< — hallt die Semantik des Visuellen nach, die das zentrale Strukturelement nicht nur des »Liebeserlebnisses«, sondern der Artikulationsform des Begehrens überhaupt darstellt. 245 Das Gegen-Bild der Einbildung, daß das Bild des Erlebnisses mißlänge, wendet den Blick von letzterem ab und fuhrt zu einem oszillierenden >Zittern< zwischen den zwei Bildern. Erste Wiederholung: Die Verdoppelung der Szene. Im selben Zusammenhang wird am Anfang des fünften Abschnitts ein Gegen-, wenn nicht gar, auf den ersten Blick, Negativ-Bild der adäquaten Schilderung entworfen. Es macht auf das Zusammenspiel von »Vorsehung« und Vorsicht aufmerksam, das bei der Abstimmung von Darstellung und Darstellungsmodus im Dienst schriftstellerischen Gelingens unter den Bedingungen eines >Jetztzeitstils< notwendig wird, um für die vorliegenden »Zeilen« (295/I, 8) auf nachhaltiges Interesse hoffen zu können: Endlich bin ich da also sozusagen in mein eigentlichstes, mir iwz>wie von der Vorsehung vorbe>ah Turn | oder Tummelplatz vofbcst angewiesenes Gebiet hineingeraten, in dasjcn aus dem Bereich des/der | Phantastischen hinaus in dasjenige des Tatsächlichen. Nicht oft und nicht aufrichtig genug scheine ich mir hiezu | gratulieren zu können, denn wohin, in welche Lächerlichkeit hinab

245

Aufbau I dieser Geschichte schon vorhanden sein mögen. Ich stelle das mit unerhörtem M u t den Eventualitäten anheim. Bricht sie zusammen, so würde ich | mir halt ¿ >sogleich irgend etwas Anderes, etwas Neues vornehmen, da ich mich nie auf eine einzi[g]e Schaffensidee stütze« (296/I, 25 — 27). Die Grundbedeutung von >verachten< liegt in der Abwendung des Blicks, dem »nicht berücksichtigen, übersehen« (Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , X X V , Sp. 62Q; >Schilderung< bezeichnet in erster Linie eine »bildliche darstellung, gemälde, Zeichnung« (Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , X V , Sp. 131).

246

würde ich gelangen, wenn ich's mir in den Kopf | setzte, fortzufahren, G e schichten zu verfassen, die etwa mit den Worten anfingen: Die Portiere oder der Vorhang | flog zurück, und eine hochge> aufgerichtete hohe Frauengestalt zeigte sich in gebieterischer Haltung und ungefähr mit solcher Miene ihrem über einen so überwältigenden Anblick | in jeder Hinsicht und nach allen Richtungen hin tiefbenommenen, zugleich erschrockenen und entzückten Liebhaber, der selbstverständlich in seiner Freude, seine Geliebte wieder | zu sehen, körperlich sowohl wie seelisch zu schlottern begann.« Ei« > Momente lang herrschte peinliches Schweigen, bis sie mit einem prächtig Brustton sagte: » D u wagst I es dich überhaupt nochmals vor meinem dich mit gebührender Geringschätzung strafenden Antlitz blicken zu lassen? Entferne Dich!« W i e sähe es in einem Zeitalter, wie | es das unsrige ist, das an nüchternen und praktischen Einrichtungen und Meinungen nichts zu wünschen übrig läßt, aus, wenn sich ein Dichter oder Schriftsteller herausnehmen | wollte, sich von einer so überspannt = romantischen Seite zu zeigen. ( 3 1 0 / I ,

1-11)

Nicht Trugbilder, wie sie im »Bereich des Phantastischen« den Status des Sichtbaren erhalten und gerade dadurch den Riß im >Wirklichen< verstellen, dem sie entsprungen sind, sollen also vor Augen gestellt werden, sondern — entsprechend den »wahrheitsmäßigen Berichtablegungen« (299/I, i i f . ) — komponierte Bilder des »Tatsächlichen«. Die Lokalisierung des Schreibens im richtigen »Bereich« allein scheint die Vermeidung stilistischer »Lächerlichkeit« zu garantieren. Dieser Selbstversicherung ungeachtet liest sich das folgende GegenBild wie eine Wiederholung der im zweiten Abschnitt geschilderten »Erscheinung« (296/I, 4 1 ) . Die Theatralität der Szenerie, dort in der Lokalität der »Vergnügungshalle« und im Auftreten der Frau angezeigt, wird hier markiert durch die verdoppelte Rahmung durch die sich öffnende »Portiere oder d[en] Vorhang«. Das exhibitionistische Sich-Zeigen einer auffällig >phallisch< konnotierten » hochgi? > aufgerichtet [en] hoh[en] Frauengestalt« spiegelt die blendende Wirkung des Anblicks ebenso wie die Konstruktion der Schaulust, die bisher die Beschreibung des Liebesgeschehens organisiert hat. Ebenso korrespondiert die Überwältigung des »in jeder Hinsicht und nach allen Richtungen hin tiefbenommenen, zugleich erschrockenen und entzückten Liebhaber[s] « durch den Anblick der Gestalt in ihrer Wirkung mit dem Liebesgestammel, welches das Text-Ich beim Wahrnehmen der Erscheinung von sich gibt: »Bin ich bestraft oder belohnt, bereichert oder vollständig ein Ärmlicher« (296/I, 43f.). Alles in allem handelte es sich also um durchaus »entsprechend ähnliches Glücksgeflüster« (296/I, 46) — würde es dem Liebhaber hier nicht auch die Sprache noch verschlagen. Die Inszenierung ist aber, ungeachtet der ironischdistanzierenden Geste, die ihr vorangeht, in erster Linie eine >mise en abyme< der in dieser Wiederholung erst zum zitierbaren Text werdenden 2

47

Textur. Die zugleich beglückende und traumatische Wiederbegegnung mit der »Geliebt[en]«, die den Liebhaber »körperlich sowohl wie seelisch [...] schlottern« macht, spiegelt die Wiederholung des Geschriebenen in der Lektüre, die das Zittern des Text-Ichs vor dem Scheitern seines Vorhabens reaktiviert. Sie läßt als Wiederholung die Abgründe aufblitzen, über die das Schreiben bisher sich schwebend und mit Vergnügen hinweggesetzt hat (vgl. 299/I, 1 5 - 1 8 ) . Beim Wiedersehen mit dem Schriftbild und dem, was es zum Vorschein bringt, droht die Darstellung zu stocken, um nur noch eine >auktoriale< Außenstimme im fingierten Text sprechen zu lassen: »£;«>Momente lang herrschte peinliches Schweigen«. Denn die Sorge ums Gelingen gilt, wie die Textur betonen wird, vorrangig ihrem Erscheinungsbild und dem Modus ihrer Inszenierung: »Wie sähe es in einem Zeitalter, wie es das unsrige ist, [...] aus, wenn sich ein Dichter oder Schriftsteller herausnehmen wollte, sich von einer so überspannt-romantischen Seite zu zeigen« (Hervorhebungen SK). Das in der Wiederholung im Selbstzitat zum Vorschein kommende Dilemma hinsichtlich der Inszenierung des >Erlebnisses< droht die gesamte programmatische Differenzierung, die der Beschreibung vorangehen soll, in den Abgrund dieser >mise en abyme< zu ziehen. Was geschieht, wenn die Wirklichkeitsschilderung, um ihrem Anspruch auf ungeschminkte Wahrhaftigkeit zu genügen, sich liest wie eine »überspannt-romantisch[e]« »Novelle«? Die Entschärfung dieser Problematik, die sich im Fortgang der Textur als erneute Abschweifung manifestiert (vgl. 310/I, 2ifF.), besteht in einer Brechung des visuellen Dispositivs der Schaulust, als die sich die Liebesgeschichte des Text-Ichs bisher erwiesen hat. Denn während die Reziprozität der Blickverhältnisse in der Darstellung des Liebeserlebnisses weitgehend imaginär bleibt, auch wenn es das Text-Ich zum vom Homoioteleuton markierten Stottern bringt — »Bereits schien mich mein Ideal einigemal minimal beachtet zu haben« (296/I, 55) — , wird sie in der wiederholenden Übertragung explizit, allerdings mit einer konträren libidinösen Besetzung: »"Du wagst es dich überhaupt nochmals vor meinem dich mit gebührender Geringschätzung strafenden Antlitz blicken zu lassen? Entferne Dich!« Statt tangentieller Beachtung durch das vollkommene Bild des Ideals, das sich im Blick des Text-Ichs ereignet, erfährt die Textfigur des Liebhabers explizite Verachtung, die mit der Umkehr der Blickrichtung — betont durch die etymologische »Zweibedeutigkeit« (299/I, 37) von »Antlitz« 240 — zusammenfällt. Die Grenzziehung zwischen Text und Textur, die durch die zitierende Selbstwiederholung hier in den Schriftverlauf eingeführt wird, fordert in246

»Wörtlich ist Antlitz [ . . . ] das >EntgegenbIickende traf ich die Beiden auf der Straße, bald im Salönchen an, sie machten | den etwas etwas altvaterischen anmutenden Eindruck der schwesterlichen Unzertrennlichkeit, die mich ¿¿>wie 1 sich 1 dies ja gar nicht anders denken ließ, vorbehaltlos entzückte, denn wer mieli I mir lieb ist, an dem liebe ich eben einfach alles, seine Gepflogenheiten, Begleiterscheinungen usw., das dürfte ohne weiteres verständlich sein. (310/I, 4 5 - 4 9 ) Indem sich in der Wiederholung der Szene als gespiegeltes Gegen-Bild zugleich die Bedrohung des Schreibens und ihre Abwehr abgezeichnet hat, ist aus dem textproduzierenden Erlebnis, so scheint es, ein Gegenstand unter vielen geworden, über den das Text-Ich mit souveräner und spöttischer Verfügungsmacht herrscht. Erna und die Fortsetzung des Erlebnisses werden nicht mehr mit einer >schreiberotischen< Lust am Objekt erwartet, die sich in der Ungeduld ausdrückt, sie zum Vorschein zu bringen (vgl. 295/I, 42f.), sondern, noch im Schriftbild des Zeilensprungs sichtbar, warten gelassen. Doch während die Szene der Beobachtung bei Ernas Wiedererscheinen in der Textur aufrechterhalten wird, hat diese sich gleichsam verdoppelt; sie läßt »sich meistens in Gesellschaft einer Begleiterin blikken«, und nicht zwischen dem schauenden/begehrenden Text-Ich und ihr 249

entwickelt sich aus der visuellen Szene eine gegenseitige Kommunikation - wie es in der gespiegelten Szene der Fall ist —, sondern zwischen dessen verdoppeltem Objekt. Straße und Salon, die Räume des städtischen Flaneurs, bilden die Bühne für die »lebhaft eigentümlich[e]«, sprachloskörperliche Interaktion, in der die beiden Frauen in ihrer »schwesterlichen Unzertrennlichkeit« ein neues Blickobjekt konstituieren. Das Begehren bleibt dabei, der Ersetzung des Sehens in Zeile 47 durch das taktil konnotierte >antreffen< 247 zum Trotz, wie sich ebenfalls am Schriftverlauf zeigen läßt, einseitig, d. h. aufgehoben im bereits entfalteten Blickdispositiv. Das können auch Versatzstücke eines identifikatorischen Liebesdiskurses nicht verbergen, mit denen die Übertragung des Begehrens vom Objekt auf seine unmittelbare Umwelt erklärt werden soll — um so weniger, wenn die Geste ihres Vortrags sofort die visuelle Szene wiederholt, von der die konventionalisierte Liebessemantik ablenkt: »wer mich | mir lieb ist, an dem liebe ich eben einfach alles, seine Gepflogenheiten, Begleiterscheinungen usw., das dürfte ohne weiteres verständlich sein« (Hervorhebung SK). Diese Verdoppelung schlägt im folgenden auf das Text-Subjekt zurück, das sich durch Abspaltung eines Objekts seinerseits der Reziprozität des Blickdispositivs versichern will. Werde ich nach und nach etwas über meine | Gedichte mitzuteilen haben, die ich schon sehr früh, als ganz jugendlicher Mensch schrieb und die später vielleicht in einer etwas zu prunkvollen Ausgabe herauskamen und voft die es mir | jetzt einfiel, Erna als eine A r t von Huldigung zu übermitteln. Welch ein unüberlegter Streich das von mir. ( 3 1 0 / I , 4 9 - 5 1 )

Nicht das Text-Ich selbst soll dabei als Gegenstand Ernas Blicken unterworfen 2 4 8 werden, sondern das >Partialobjekt< seiner »Gedichte«. Der Fetischisierung der Schaulust, welche die Liebesgeschichte in Szene setzt, wird reziprok der >Fetisch< der »vielleicht [ . . . ] etwas zu prunkvoll[...]« ausgestatteten Gedichte gegenübergestellt und dem Objekt des eigenen Blicks als Blickobjekt angeboten. Ein Objekt allerdings, von dem sich das Text-Ich doppelt distanziert — weder repräsentiert es, als »schon sehr früh« Geschriebenes, dessen aktuelle Erscheinungsform, noch stimmt das -ichseinem Erscheinungsbild kritiklos zu. Als Abtrennung im Sinn eines geradezu körperlichen Einschnitts, wie die strategisch-gewalttätige Metaphorik des >Streichs< konnotiert, als Konstruktion eines Blick-Fangs erscheint

247

248

Vgl. Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , 1 , Sp. 503: »ANTREFFEN, nach der sinnlichen bedeutung von treffen [ . . . ] musz es ausdrücken an einen, an etwas treffen, wie anschlagen, anstoszen«. Vgl. zu dieser Konnotation von »Huldigung« Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , X , Sp. 1892.

250

deshalb diese »Huldigung« gleichzeitig unangemessen249 wie der inszenierten Struktur des Begehrens adäquat. Auf die Verdoppelung des Objekts und ihre Spiegelung in der Selbstabspaltung der vor Ernas Augen übermittelten Gedichte folgt, dieser Multiplikationsfigur entsprechend, die Verdoppelung des »Erlebnisses« selbst: »Leise tritt ein>anderseits die Verpflichtung nun an mich heran, | die Zweite vorstellig zu machen, nämlich diejenige, die ich ziemlich rasch nach und bald nach der Ernazuneigung liebte« (310/I, 5if.) — eine Verpflichtung übrigens, der sich das Schreiben entziehen wird. Umkehrungen und Spiegelungen: der Brief an Erna. Dennoch bleibt diese Strategie auch für die weitere Inszenierung des Verhältnisses zwischen dem Text-Ich und Erna nicht ohne Konsequenzen und stellt keineswegs den Ausgangspunkt fur eine gar definitive Verbannung des »Erlebnisses« aus dem Schreibprojekt dar, indem sie es bis zur Konturlosigkeit vervielfachte. Im Gegenteil: Das Verfahren der verdoppelnden Spiegelung der visuellen Szene des Begehrens und die Abtrennung eines Blickobjekts vom Text-Ich bildet die Grundlage fiir die >Abbildung< des Briefs an Erna ebenso wie fur deren Funktion innerhalb der Textur. Der Brief wird zum Funktionsäquivalent zu den Erna zugesandten Gedichten; während jene aber die Distanz zum Text-Ich auszeichnet — eine Distanz, die sich materiell in der Aufspaltung der Schreibszene widerspiegelt, auf der sich seit vermutlich eben dem Blatt 3 1 0 , das die Mitteilung über die Gedichte ankündigt, auch Gedichte finden, weniger als Füllmaterial für den freigelassenen Papierraum denn als Parodie und Ergänzung des Ausschließlichkeitsgestus dieses Tatsachenberichts2'0 - scheint dieser unvermittelt und distanzlos

249

250

Vgl. zu >streich< die Belege bei Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , X I X , Sp. 1 1 5 3 - 1 1 6 9 : »handlungen, die der Vernunft oder dem allgemeinen gesellschaftlichen empfinden zuwider laufen, werden als unüberlegt oder töricht ausgeführte dumme streiche betrachtet [...] in gesteigertem sinne fiir handlungen, die der sitte und moral widersprechen und als gesellschaftliche entgleisungen angesehen werden« (1169). Gedichte finden sich auf folgenden Blättern: 305, 308, 309 und 310. Zwar liegt in der immanenten Abfolge des Texts Blatt 308 (4. Abschnitt) vor der hier erwähnten Stelle, die dort notierten Gedichte stehen jedoch unter der Fortsetzung des im Anschluß an das Ende des Briefs an Erna (Bl. 305) angefangenen Prosastücks. Komplementär verhält sich das auf Blatt 3 1 0 angefugte Gedicht zum Prosatextblock, indem es sich dabei um ein Liebesgedicht handelt, das die Geliebe »Augenlicht« nennt, diese wiederum >visuelle< Inszenierung des Begehrens allerdings als abwesende thematisiert (»seit du mir entschwandest Licht meiner Seele«; 3io/II, io), sie ausfuhrlich mit den Beschwörungen der >akustischen< Dimensionen des Klangs, des Gesprächs und des Gehör-Schenkens. kontrastiert: »nicht o schließ dein Ohr vor dem, was ich dir sage hier / lispelnden Munds zu sagen wage / Warum bist du so stumm« (310/II, 2 7 - 2 9 ) .

251

so wiedergegeben zu sein, wie er vom Schreibtisch des -ich- vor Ernas Augen gelangt ist: nun löse ich vorläufig mein Versprechen in Bezug auf die Gedicht ί buch j einsendung an Erna Λ >tunlichst | Auskunft zu geben, ein «»¿/>dadurch, daß zur Mitteilung

gelangen

lasse, wie

ihr aus dem

Witwenmansärdchen

heraus

schrieb: Vollkommen verehrtes und hochgeachtetes Fräulein. Zunächst | dies: O wie sind Sie jung, lustig, drollig und daher für meine Sie vergötternde Seele ein Gegenstand der tiefstempfundenen Gerührtheit. Sie rühren mich deßhalb, weil ich Sie liebe, | und ich liebe Sie deßhalb, weil ich absolut nicht weiß, weßhalb ich's eigentlich tun muß, aber weil es der Fall, übersende ich Ihnen hier meine durch in der Leipziger Buchbinderei | und Buchdruckerei cingcbund gedruckt und eingebunden wordenen Verse, gleichsam als ein Zeichen meiner>daß es vielleicht das höchste G l ü c k ist, verliebt sein zu dürfen, -ff nicht nur dem Anschein | nach sondern wirklich in Wirklichkeit verliebt, wie es sich bei mir verhält. ( 4 2 6 / I , 4 3 - 4 8 )

Die Einlösung des Versprechens, das Schreiben selbst »zur Mitteilung gelangen« zu lassen, läßt das Schreiben ins Stocken geraten. Gleich doppelt vergißt sich dabei das Text-Ich - sowohl im Akt der »Mitteilung« als auch in dem des mitzuteilenden Schreibens: »daß zur Mitteilung gelangen lasse, wie ihr aus dem Witwenmansärdchen heraus schrieb«. Das zu beschreibende Schreiben wird, wie der in die >Gedichteinsendung< eingefügte Korpus des »[-]buch[-]« anzeigt, seinerseits durch einen zum materiellen Textobjekt gewordenen Schreibvorgang motiviert. Auf diese Verkörperlichung der Schrift legt, wie der Chiasmus zeigt, in dem die externe Produktionsgeschichte der »Verse« Gestalt annimmt, der Brief großen Wert. Gespiegelt durch das gestrichene »cingcbund«, das die Rhetorizität der Formulierung im Verlauf der Schrift erst ermöglicht, bildet die Wendung das Buch, das Verhältnis von Einband und Gedrucktem, gleichsam sprachlich ab: » . . .Buchbinderei und Buchdruckerei cingcbund gedruckt und eingebunden . . . «

Diese körperlich-materielle Verklammerung von Begehren und Schreiben erweist sich in der Fortsetzung des Briefs als Notwendigkeit. Denn die Kontingenz der >wirklichen< Verliebtheit sabotiert ihre kausale Erklärbarkeit. Die Begründungsversuche des Begehrens verstricken sich in einem geradezu schwindelerregenden Kreiseln: Das »[vjollkommen verehrt[e] und hochgeachtet[e] Fräulein« ist für die »Sie vergötternde Seele« des Text-Ichs »Gegenstand« der Rührung aufgrund seiner Jugend und Lustigkeit; gleichzeitig aber ist diese »Gerührtheit« ein Effekt der Liebe, die wiederum Bestand hat, gerade weil das Text-Ich »absolut nicht weiß, weßhalb ich's eigentlich tun muß«. Dieser Kontingenz dessen, was »der 252

Fall« — wie dem Ein-Fall des Namens fehlt dieser Wendung das >ist/ est< —, bietet den Anlaß zur Ubersendung der Gedichte. Als »Zeichen« für die Beglückung wirklicher Verliebtheit bannen sie in ihrer schieren Materialität die Kontingenz, indem sie von der für die Semantik der Herzenssprache höchst ambivalente Grundlosigkeit — genauer: Unbegründbarkeit liebender Objektwahl wegweisen. Denn kennt man die Programmatik der vorliegenden Schreibabsichten, wird man sich bei der Beteuerung, das Text-Ich sei »nicht nur dem Anschein nach sondern wirküeh in Wirklichkeit verliebt«, des Eindrucks der Doppeldeutigkeit in dieser Formulierung, die durch die Ersetzung noch betont wird, kaum erwehren können: »in Wirklichkeit verliebt« erscheint das Ich einer Textur, in der jene Wirklichkeiten, die dem Schreiben zugrunde liegen sollen, noch bis in die Wendung zum Paradox hin bekräftigt werden wollen. Das von der Text-Instanz abgespaltene Objekt wird — als Gegenstand von Ernas Blick, womit die Szene des Begehrens nun erfolgreich reziprok halluziniert werden kann — zum Träger einer ihrerseits prekären Liebesmetaphorik: Die Gedichte selbst glühen vor Glück, weil Ihre holden Augen, die groß wie Perlen sind, die in den Meerestiefen | unten wachsen, falls das nicht bloß poetisch sondern der Richtigkeit entsprechend gesagt ist, wahrgenommen, angeschaut zu werden, und meine Hände, die Ihnen diese Epistel schreibt, | zittert ganz poetenhandmäßig. (42 6/1, 4 8 - 5 0 )

Die Gedichte treten damit, konsequent der Anordnung des Blickdispositivs entsprechend, als synekdochische Stellvertreter des Text-Ichs in Erscheinung; 251 unter Ernas Augen zu geraten, entfacht in ihnen stellvertretend die Glut des Liebesglücks, die sich in jenem am Anblick Ernas entzündet hat, sie spiegeln die imaginierte Augenglut ihrer Betrachterin wider, die ihre »zu prunkvoll[e] Ausgabe« (310/I, 50) gleichsam erhitzt. Doch die Metaphorik, mit der die »holden Augen« Ernas — denen die »Huldigung« (310/I, 5 1 ) der »Gedichtbucheinsendung« (426/I, 43) gilt — in Beziehung gebracht wird, droht diese Glut zu kühlen, wenn nicht zu löschen. Dies nicht allein der »Meerestiefen« wegen, denen sie entsprungen ist. Denn obgleich die Perle als Metapher fur die Frau den

251

Damit zeigt sich einmal mehr, daß - und wie - Literatur der Psychoanalyse immer schon voraus ist: »[D]er Künstler sieht das Naturobjekt an, bearbeitet in seinem Innern das Bild, das er dabei gewann, und schafft dann daraus mit seiner künstlerischen Schöpferkraft das Werk. Handelt es sich dabei in seiner unbewußten Phantasie wirklich um Tötung und Wiederbelebung, so kann das Töten und Auffressen der Objekte, das im >Ausspucken< des Werks wieder gutgemacht werden soll, in nichts anderem bestehen als im ursprünglichen Ansehen der Objekte. Es ist bekannt, daß bildende Künstler einen besonders intensiven und sublimierbaren Schautrieb besitzen« (Fenichel 1 9 3 5 , S. 580).

253

Stellenwert einer (allerdings nicht nur schmeichelhaften) Redewendung erlangt hat, funktioniert der metaphorische Transfer von den Augen zur Perle nur bedingt — das heißt: er fuhrt, versucht man ihn zu rekonstruieren, auf Abwege. Denn zwar kennt etwa das >Deutsche Wörterbuch* den Ausdruck >Perlenauge< als Bezeichnung fur »eine vollkommen runde perle von reinem wasser«, 2 ' 2 doch scheint dieser Ausdruck seinerseits der metaphorischen Ersetzung von >Träne< durch >Perle< zu entstammen. Das Verhältnis von >Auge< und >Perle< durchzieht damit ein Riß; diese steht zu jenem in der verschiebenden Relation eines Sekrets, einer Abspaltung. Wo sich die Bezugspunkte dieser Verschiebung dennoch entsprechen, verirrt sich die figurale Beziehung in ganz andere Bereiche: >Perle< heißen »die groszen äugen der libelle, die darnach selbst die perle heiszt«. 2 5 3 Die Populärmythologie bringt diese synekdochisch hergeleitete Bezeichnung fur ein Insekt ihrerseits auf einem ganz anderen Weg in Beziehung zum Auge: »Ziemlich allgemein ist der Volksglaube verbreitet, die L[ibelle] habe es auf die Augen des Menschen abgesehen«. Sie heißt deshalb nicht nur >PerleLibelle< und den »Büchelchen« (295/1, 53) sei hier angedeutet. Dieses und die beiden vorangehenden Zitate nach Bächtold-Stäubli 1927 —1942, V, Sp. 1 2 3 2 ; 1 2 3 6 . Darauf weist eher ungebräuchliche Verwendung der Bezeichnung »Epistel« hin, die »nicht die Vorstellung des schreibens, nur des sendens, befehlens« in sich trägt und gleichzeitig sowohl einen »feierlichen, langen brief« wie dessen Umschlagen ins negativ konnotierte Geschwätzige benennen kann, wie die Belege im >Deutschen Wörterbuch* anzeigen (Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , III, Sp. 679).

254

derseits, in beiden Fällen also aus dem Umgang mit bereits Geschriebenem ergeben. Das Symptom des Zitterns, Zeichen für die Tätigkeit der >Poetenhandschön finden, derart, daß Sie fur mich die Schönste sind, obgleich Sie in Wirklichkeit vielleich nur die Dritt oder die Viertschönste sein mögen (426/I, 5of.)

Der Topos der Unbeschreibbarkeit, gewissermaßen das metaphorisch transponierte Nachwirken der zitternden Schreiberhände, wird hier durch die Notwendigkeit eines Selbstbild-Entwurfs um seine Wirkung gebracht. Dies umso mehr, indem er nicht etwa mit einer seine Zurücknahme erfordernden Gegengewalt konfrontiert, sondern von einer gleichsam ungezwungenen Form des Wiederfindens von Sprache abgelöst wird: dem >ErzählenVorstellung< nicht verhehlt. Dasselbe gilt für den Inhalt dieses Erzählens: Zwar wird hier noch die der Situation durchaus angemessene Ereignishaftigkeit der Überwältigung durch den ersten Blick zur Sprache gebracht, doch die Hypostasierung von Kontingenz zur Zwanghaftigkeit — »daß ich, seit ich Sie zum ersten Mal sah, nicht mehr anders kann als Sie schön finden« (Hervorhebung SK) — relativiert nicht nur die konkrete Aussage, sondern auch die rhetorische Wirkung dieser Mitteilung. Darüber hinaus sabotiert ihr Wahrhaftigkeitsgestus noch die dem narzißtischen Charakter der Liebesszenerie durchaus entsprechende Idealisierung des geliebten Objekts, indem die Verfahrensweise des psychischen Vorgangs schlicht benannt wird: »derart, daß Sie für mich die Schönste sind, obgleich Sie in Wirklichkeit vielleich nur die Dritt oder die Viertschönste 255

sein mögen«. Der Liebesbrief droht zu scheitern, wenn/indem er die Gesetze der Verliebtheit benennt. Dem Text-Ich bleibt angesichts solch buchstäblicher Verwirrung von Absichten und Wirkung allein, »Nachsicht« seitens der Geliebten einzufordern, »wozu ich Sie eigentlich nie und nimmer das Recht habe zu veranlassen« (426/I, 68). Gleichzeitig werden die »Zumutungen der Beseeltheit« (42 6/1, 69) noch gesteigert, indem die oben beschriebene Vervielfältigung der libidinösen Energie auch in die Inszenierung des Brieftexts eingeht. Der Geliebten werden damit explizit jene Nebenbuhlerinnen -

»Witwe« (426/I, 69) und

»Dienstmädchen« (426/I, 7 3 ) — zur Seite gestellt, welche die im zweiten Abschnitt angeführte Rahmung des >Erlebnisses< bilden (vgl. 296/I, 5 3 — 55). Während das Dienstmädchen, kontrastierend zur Liebeserklärung am Briefanfang, die durchaus ambivalente erotische Ungebundenheit des TextIchs andeutet, 2 5 7 wird die Beziehung zur Vermieterin, einer »Frau, die Witwe ist, [ . . . ] und die sich nun vielleicht fur mich, wie man sagt, ein bischen interessiert« (426/I, 69f.), als verzerrte Spiegelung jenes reziproken Verhältnisses von Blick und Bild inszeniert, das die Strategie gegenüber Erna motiviert. Einerseits ist die Witwe als »Inhaberin eines Damenhutgeschäftes oder weiblichen Kopfbedeckungssalons« (426/I, 82 —305/I, 1) gewissermaßen Garantin eines >vestimentären Codes< 258 der Zeichen- und Objekthaftigkeit weiblicher Schönheit, andererseits repräsentiert sie darüber hinaus den zu Ernas Erscheinung konträr erotisch besetzten Bereich der »Hausfrau« (426/I, 82) und die Qualität der zu deren eindrucksvollem Auftreten ebenfalls gegenläufigen Schüchternheit: Nun kann ich Ihnen versichern, | daß ihr gerade ihre Schüchternheit sehr niedlich zu Gesicht ji>und Betragen steht. Da sie mich schon ein paar mal, im Zustand recht einiger Herausgeputztheit, hat die Treppe herunter eilen | sehen, wobei sie vermuten durfte, daß ich im Sinn hätte, mich sehen zu lassen, irgendwie und wo »aufzutreten« so mag sie immerhin im Stillen von mir denken, ich wäre, was man | einen »Löwen« nennt. Sicher haben Sie bereits in Erfahrung zu bringen verstanden, sind in die Lage gekommen, sich sagen zu müssen, was ein Salonlöwe ist. (305/I, 5—8) Die Witwe bildet somit nicht nur ein Blickobjekt, das eine andere Ordnung visueller Faszination zum Vorschein bringt, sie vertritt darüber hinaus die Instanz, welche die Proliferation und Reziprozität der Beziehung 257

»Das Dienstmädchen dieser Witwe sagte mir, nebenbei angebracht, z«>bei irgend einer Gelegenheit, ich täte wahrscheinlich am Gescheitesten, Junggeselle zu bleiben, was ich fiir>als einen sowohl unklugen wie sicher ziemlich klugen Ausspruch aufzufassen versuchte« (426/I, 73Í.).

258

Vgl. Reinacher 1988.

256

von Sehen und Gesehener/Gesehenem in der Inszenierung des Begehrens in G a n g hält. Indem sie durch ihr Sehen das Text-Ich als O b j e k t des Sehens sich vorstellt, setzt sie dieses z u Erna in eine Relation struktureller Ä q u i v a l e n z — deren Status aber seinerseits zu schwanken beginnt. W i r d schon die überwältigende Erscheinung, für die das B i l d des »Löwen« noch als Metapher gelten könnte, durch die M a r k i e r u n g der Schrift relativiert, so ironisiert sie die Bezeichnung »Salonlöwe« e n d g ü l t i g , 2 5 9 w o m i t i m darüber hinaus der B e z u g auf Ernas und ihrer Begleiterin Erscheinungsort — A u s g a n g s p u n k t der Spiegel-Szenen in diesem Dispositiv des B l i c k s — wiederaufgenommen wird: »Bald sah> traf ich die Beiden auf der Straße, bald i m Salönchen an« (310/I, 47). D i e visuelle Szene, welche die A n s c h l u ß m ö g l i c h k e i t der erotischen Szenerien an den Bereich des bereits Geschriebenen, des materielles O b j e k t g e wordenen G e d i c h t - B u c h e s und an die Inszenierungen der Schrift garantiert, bleibt auch am Ende des Briefs an Erna, ja darüber hinaus, virulent. Wie ungalant es von mir ist, Ihre schönen Augen, die ich schon an und für sich anbetungswürdig finde dadurch zu einer ungebührlichen Anstrengung veranlassen I daß ich Ihnen so viel einen so umfangreichen Brief schreibe, was ich im Grund fttf gar nie fur möglich gehalten hätte. (305/I, I2f.) D i e A u g e n sind es, die sich — w e n i g überraschend — als libidinöser » G e genstand« der Erna »vergötternd[en] Seele« (305/I, 4 5 ) erweisen; die E n g fiihrung

von A u g e und A n b e t u n g rahmt so die Schrift des Briefes. Sie

verweist aber auch auf den »ungalant[en]« U m w e g , der die »ungebührlich[e] A n s t r e n g u n g « verlangt, indem nicht die liebende K o m m u n i k a t i o n von A u g e zu A u g e , sondern das — w o m ö g l i c h durch die Spuren zitternder H ä n d e erschwerte (vgl. 305/I, 49f.) — Entziffern von Schriftzügen die Reziprozität des verliebten B l i c k s ermöglichen soll. Spiegel der Seele wird also, was das Text-Ich betrifft, nicht das A u g e , sondern das Schriftbild — eine in jeder H i n s i c h t prekäre, da für T ä u s c h u n g e n und Verstellungen äußerst anfällige Ersetzung. 2 0 0 Folgerichtig entwirft der Brief, noch ein259

260

Der »Salonlöwe« steht, ins Programm der hier entfalteten Figuralität passend, für die Erscheinung des »elegantfen], gewandt[en] Mannfes], der aber oberflächlich ist u[nd] Wert darauf legt, in Gesellschaft der Mittelpunkt der (weiblichen) Aufmerksamkeit zu sein« (Drosdowski 1 9 9 3 - 1 9 9 5 , V I , Sp. 2849). Sie wird allerdings von der Psychoanalyse in ihrer Ersetzungsfunktion bestätigt werden. Fenichel teilt dazu folgenden Befund bei einer seiner Patientinnen mit, in deren Krankheitsbild sowohl »Leseleidenschaft:« wie »Bilderbuchphobie« eingehen: »Sie sah in den Buchstaben, bzw. in den Wartbildern Ersatzbildungen für die Gegenstände und für Figuren, die sie vorher im Bilderbuch gesehen hatte. (Dabei hatte sie ja auch objektiv recht.) Hatte sie früher ihren Trieb, gesehene Bilder körperlich werden zu lassen, um sie mit den A u g e n zu fressen, so sehr gefurchtet, so durfte sie ihn jetzt nach der Verschiebung

257

mal, eine Szene kommunikativer Reziprozität, die nun aber die visuelle Szene verläßt, scheinbar allein zu dem Zweck, ihre potentielle Unwahrhaftigkeit in den Blick zu rücken: Wollen Sie auch dies noch mitanhören, daß ich früher Bücher | schrieb oder verfaßte, worin ich mich gleichsam verkappt, maskiert habe, indem ieh da irgendwelche Ungenauigkeit bezüglich der W dessen, was man als »wahr« anerkennt, mitspielt | nämlich, daß sich der Verfasser etwas eitel in dem jedesmaligen Romanhelden abspiegelte, den er doch zum Teil erfand, dem er alluviel Schönes, Bedeutendes | andichtete, als wie es sich mit der Bescheidenheit, mit dem Mittelmaß, das ja eigentlich die Welt regiert, vertrug. Derlei Beschaffenheit, oder falls man sagen darf und will, | Machwerk oder romantische Fabrikation, derlei Verschönerung, die sich aus strengeren exakteren Grundsätzen nicht rechtfertigen ließ, derlei Aufbau von allzu rosigen und | angenehmen Erscheinunen, vor allem derlei Selbstverherrlichung, Selbstschmeichelei sind mir im Lauf der ¿ ¿ >Zeit von der Lesewelt teilweise arg übelgenommen worden, und wie ich f f I Ihnen> gerade Ihnen, mein Fräulein, auf s Aufrichtigste gestehen darf> muß, auch nicht ohne Begründetheit, also ganz einfach bis zu einer gewissen Grenze mit vollkommenstem Recht, aber ich liebe ja jetzt, doch | was werden Sie dazu sagen, daß Ich bin hierauf riesig gespannt. (305/I, 13 — 20)

Das Schreiben des Narziß? Sich »etwas eitel« in den Figuren seiner Textur abzuspiegeln, ihnen »all[z]uviel Schönes Bedeutendes« zuzuschreiben, erscheint unter der kritischen Oberfläche als nur bedingt verwerfliche, genauer: situativ zu bewertende Strategie. Abgesehen von der Reflexion auf die Bedingtheiten von Literaturproduktion akzentuiert diese letzte Abschweifung vor dem Schluß des Briefes die Techniken des Erscheinungsbilds, das in der Textur im Zentrum der erotischen Szenerie steht. Verkappung und Maskierung, der »Aufbau von allzu rosigen und angenehmen Erscheinun[g]en« erscheinen als Schreibtechniken, die dann allein redundant, d.h. narzißtische »Selbstverherrlichung, Selbstschmeichelei«, zu werden drohen, wenn durch sie der Objektbezug gestört wird — wenn die »Lesewelt« dem so gefertigten Produkt also kein Interesse mehr entgegenbringt. 261 Die verbal-akustische Rahmung dieser Reflexion markiert sie am neuen Objekte befriedigen. Buchstaben sind Gegenstandsersatz« (Fenichel 1935, S. 575; Hervorhebungen SK). 261

V g l . dazu die im Zusammenhang einer »Theorie« der Bildlichkeit stehende Entsprechung im vorangehenden Abschnitt: »Unter keinen Umständen irgendetwas vorgaukelnd oder vorschwindelnd, beispielsweise mehr aus dem Helden dieser Geschichte | nämlich aus mir selber gestalten wollend, als was ich mir den Eindruck mache, daß ich sei, hie und da womöglich eine örtliche oder zeitliche Veränderung im Interesse | der Lesbarkeit und des guten Geschmacks, gerade heraus gesprochen, vornehmend, was mir nicht rerk als in einem W i derspruch ¿ >zur Wirklichkeitstheorie stehend vorkommt | fange ich zunächst nochmals saftig und kräftig an inmitten i n s Herz oder Allerheiligste des Tempels der Theorie hineinzulustwandeln« (298/I, 1 6 - 1 9 ) .

258

dabei als weitere Spiegelung des Texturdispositivs. Innerhalb der Liebeserzählung erhält sie den dubiosen Stellenwert einer Korrektur der angemahnten Ungalantheit, die Geliebte lediglich in den Spiegel der Schrift blicken zu lassen. Sie gibt, brieflich, vor, nun vom Spiegel der Schrift hören zu lassen, mahnt dagegen eine unverstellte Erwiderung an: »aber ich liebe ja jetzt, doch was werden Sie dazu sagen, ebß Ich bin hierauf riesig gespannt.« Das Gespräch jedoch bleibt ein Versprechen; der Schluß des Briefes negiert und bestätigt zugleich die visuelle Szene: »O wie freue ich mich, Sie ja sicher bald, d.h. ziemlich gewiß schon heute wiederzusehen. Mehr darf ich Ihnen zu lesen t nicht f zutrauen« (305/I, 23). O b sich in diesem Wiedersehen die Möglichkeit eröffnet, das Lesen zu ersetzen und das Register der Kommunikation zu wechseln oder ob sich die Szenerie des verliebten Blicks am Lesen erschöpft, wird die Textur im Ungewissen lassen. In der über der Zeile eingefügten Verneinung des Begehrens, Erna »[m]ehr [...] lesen« zu lassen, zeigt sich auf jeden Fall noch einmal die Dominanz der visuellen Szene, die fïir das mitgeteilte Liebeserlebnis von Anfang an behauptet wird. Der Brief an Erna ist damit nicht vergessen. Im achten Abschnitt der Textur rekapituliert das Text-Ich Geste und Funktion der Einfügung seines Texts in das Schreiben: Ich meinte zwei Tage lang auf das Allerehrlichste, ich hätte den Brief, den ich seiner Zeit an Erna schrieb, vorenthalten, also nicht | veröffentlichen sollen, hielt also diese Bekanntmachung für einen Fehler und lief deßhalb in den>jenen entzückenden Uni>ruhigkeits und Untröstlichkeitswäldern herum, als | wenn ich Jagd auf mich selber würde haben machen wollen als wenn ich Jagender und Gejagter in ein und derseflbeti] Person gewesen wäre... Heute kommt mir zum Glück jener | Brief harmlos, demnach durchaus passabel oder anerkennenswert vor. Beweist er nicht unter anderem eine erstaunliche Trockenheit des Sehens, Denkens, Auffassens? Dieser | Brief stellt übrigens keineswegs ein photographisch getreu abgebildetes Stück Wirklichkeit dar sondern be>et beruht zum Teil auf immerhin vielleicht ganz hübschen Eingebildet|heiten. (309/I, 22 — 27)

Die Photographie, an ihren Anfängen die Illusion einer Licht-Schrift nach der Natur erzeugend, ist nicht nur ein — wenn auch schon im 19. Jahrhundert problematisches 202 — Aufzeichnungsmedium des Wirklichen, sie bie162

Hans Ulrich Gumbrecht hat auf die Verschiebung aufmerksam gemacht, die schon bald nach der Postulierung als »Verfahren der Wirklichkeitsdokumentation« in bezug auf die Photographie zum Tragen kommt: »[W]as das neue Medium verspricht, ist eine unmittelbare Abbildung der Welt auf der Filmplatte, eine Abbildung, welche Interferenzen der menschlichen Wahrnehmung und Körper ausschließt. Bald schon erweist sich jedoch diese Hoffnung als trügerisch. Jedes individuelle photographische Bild zeigt unvermeidlich Spuren der kontingenten Umstände seiner Herstellung - ob das nun der Aufnahme-

259

tet auch das Paradigma eines begehrenden, sich die Wirklichkeit einverleibenden Kamera-Auges, das damit aber nur eine Seite des hier inszenierten visuellen Dispositivs abzudecken vermag. 263 Doch nicht nur dadurch entspricht die Einfügung des Briefs in die Bleistift>zeichnung< der Textur nicht einfach dem »photographisch treu abgebildet [en] Stück Wirklichkeit«, die dieses Medium verspricht. Auf »Eingebildetheiten« beruht diese Transposition des vorgeblich bereits Geschriebenen in doppelter Hinsicht: Sie trägt, streng der Logik des visuellen Dispositivs folgend, in dem die Liebesgeschichte mitgeteilt wird, die Spuren einer kompositioneilen Imagination. Überdies ist ihr jene Bildhaftigkeit eingezeichnet, die fur das Skizzieren im Bleistiftgebiet gilt. Durch diese Figuren der Wiederholung und Permutation wird das erotische Erlebnis genauer konturiert und in die Struktur eines Begehrens eingebunden, die innerhalb einer Szenerie des Blicks erscheint. Seine >Übersetzung< in Schrift geht einher mit einer Reflexion über die Dynamik und Stockungen des Schreibens überhaupt, die scheinbar getreu das psychoanalytische Referenzschema referiert, gerade dadurch aber ad absurdum geführt wird. Denn während die libidinose Besetzung des Objekts ihm gemäß die Sublimation in Kulturarbeit verhindern soll, dient sie hier gleich mehrfach als Movens der Textproduktion: »Somit fahre ich gleichzeitig mit meiner vielleicht in mancher Hinsicht womöglich nur zu feurigen Phantasie auf den Meeren da draußen | und finde mich wieder durch die lieblichste und daher faßbarste Hemmung, d> nämlich durch meine Zuneigung zu Ihnen, auf heimatlichem Boden eingewurzelt« (305/I, 2if.). Der Aufschub der Beschreibung, die schreibende Entstellung des Erlebnisses an sich, die durch es hervorgerufenen Ich-Vergewisserungen stellen winkel ist, die untypische momentane Geste einer portraitierten Person oder ein Mangel des Filmmaterials« (Gumbrecht 1996, S. 26). - Es wäre höchst interessant, kann hier aber nicht weiter verfolgt werden, die Bildverfahren in Walsers Texten mit den zeitgenössischen Kontroversen über die Photographie in Beziehung zu bringen (vgl. etwa Benjamin, fur den die »flüchtig[en] und geheim[en] Bilder [ . . . ] im Betrachter den Assoziationsmechanismus zum Stehen bringen«, der in diesem »Chock« aber den Ausgangspunkt einer neuen »Literarisierung« sieht: »An dieser Stelle hat die Beschriftung einzusetzen, welche die Photographie der Literarisierung aller Lebensverhältnisse einbegreift, und ohne die alle photographische Konstruktion im Ungefähren stecken bleiben muß« (Benjamin I 9 3 i / i 9 7 2 f f . , I I . i , S. 385). Pessimistischer Kracauer 1927/1990, fur den die Photographie das schlechthin nicht- und anti-narrative Bildverfahren überhaupt darstellt: »Gespenst« und »Abfall« des »schlechthin Vergangene[n]« (91), das der produktiven Ambivalenz der Gedächtnisbilder gegenübersteht). 263

Cf. dazu den erwiesenermaßen nicht über die Materialität des Sichtbaren hinwegsehenden Aufsatz Fenichels: »Und schließlich ist zu sagen, daß die Technik ein solches >fressendes< Auge, dessen Blick sich die Außenwelt einverleibt, um sie später wieder zu projizieren, wirklich geschaffen hat: den photographischen Apparat« (Fenichel 1 9 3 5 , S. 582).

260

Verzweigungen dar, von denen aus sich das Schreiben in heterogene Richtungen bewegen kann. All das scheint in hohem Maße produktiv, ist nur eine Technik vorhanden, die den konkreten Schreibvorgang organisiert und in Gang hält. Zwischen Schwärmerei und Sublimierung entwirft der Schriftverlauf ein Tableau von Möglichkeiten, die auf jener grundlegenden Ambivalenz beruhen, sich aber nicht in ein Verhältnis der Negation zueinander setzen, welche die Identifikation mit einer >Extremlichkeit< vermeiden helfen: Was die Liebe betrifft, so ist dies eine Welt, die man ebenso gut geringschätzen | und als nebensächlich empfinden wie hochheben und als hauptsächlich hinstellen und pflanzen kann. W i e man sieht bin ich mir der Zweibedeutigkeit von etwas Schönem | und Gutem vollkommen bewußt, und ich bitte darf wohl bitten, mich weder für einen einseitig schwärmenden Schäfer noch für einen ausgemachten Zyniker und Verneiner | halten zu wollen, was Extremlichkeiten wären, die für mich nicht maßgebend sind. (299/I, 3 6 - 3 9 )

Was hier, genau in der Mitte des dritten Abschnitts, Eingestellt und gepflanzt wird, entwirft präzise die Funktion dieser textgenerierenden Ambivalenz: »Zweibedeutigkeit« zieht eben nicht nur die Möglichkeit einer doppelten Lektüre nach sich, die unter der Oberfläche des Sinns eine Reihe von Subtexten entdeckt. Im Gegenteil unterläuft sie eine Hierarchisierung von Textebenen, die auf der Basis von Haupt- und Nebenbedeutungen beruht. Was als »nebensächlich«, was als »hauptsächlich« geringgeschätzt oder emporgehoben werden kann, ist eine Frage der Entscheidung, von der die Ambivalenz des zu Bewertenden nicht betroffen ist. Der minimale signifikative Uberschuß, der die »Zweideutigkeit« von der bloßen Zweideutigkeit trennt, wendet den Blick weg von der Rezeptionsebene auf die Struktur von Produktivität. Das Begehren des Text-Ichs kommt nicht zum Stillstand — weder in einer endgültigen Fixierung noch in einer sublimierenden Überwindung. Was »Erna« aus der Textur vertreibt, ist weder das in Walsers Geschichten von der Liebe häufig genug am Ende erscheinende Eheglück, oft Frucht seiner >trivialauf dem Kopf stehende< (vgl. Blatt 309) Rekapitulation schaffen. Sie bildet ein stummes Spiegelbild der Textur und ihres Produktionsprinzips selbst: Schlichtes Auftreten setzt nämlich ein bischen Tapferkeit voraus | und ¿ ¿ >dieser Tapferkeit auf s Beste ausgestattet, bringe ich nun vor, ich hätte in diesen bereits mehrmals erwähnten paar Tagen, die soeben an meinem Ich | vorübergingen, indem sie Spuren, Falten, Einschnitte usw. in meinem Wesen hinterlassen zu haben scheinen, eine Frau kennen gelernt, die sich dadurch gleichsam reizend benahm, | daß sie sich bedeutender gegeben haben könnte, als es die Wirklichkeit zuließ. Die genaue Wirklichkeit runzelte gleichsam einige Male bezülich ihres Benehmens, das | etwas romantisch zu sein schien, die Stirne. Nicht ich runzelte über die Frau die Stirne sondern das Wirklichkeitsprinzip tat das, das mich all diese Zeit über | begreiflicherweise beherrscht, weil mich ¿ ¿ >eine Wirklichkeitsgeschichte beschäftigt, die gar nicht den Zweck verfolgt, besonders interessant zu sein, die vielmehr lediglich | wahr sein will. (309/I, 38-44)

8.2 Zweite Annäherung: Schriftbilder Die Dominanz des Visuellen, welche die Darstellung des >Erlebnisses< als Inszenierung erotischer Faszination auszeichnet, bildet in der Textur der Mikrogrammseiten eine Anschlußmöglichkeit fur weitere Schriftbilder. Dies gilt für die materiale Ebene der Schrift und für die Beschreibungsebene der Textur ebenso wie fur den reflexiven Gestus der Textualisierung. So wird einerseits etwa zu Beginn des sechsten Abschnitts jene Wechselseitigkeit des Blicks, welche die Inszenierung des Liebeserlebnisses über die Umwege kunstvoller Vermittlung zu konstruieren vermag, als Spiegelung von Aufgabe und Verfahren entworfen: »ich werde ja erleben, wie | sich dieser Spaziergang hinein ins Gebiet meines Erlebnisses hinein entwickeln wird, das mich problemhaft aus seinen mit den rätselhaften Augen des Unerlöstseins | anschaut, und das auch ich ähnlich anschaue« (298/I, 6—8). Hebt anderseits am Schluß der Textur die resümierende Reflexion auf die Textualisierung der Beziehung zwischen dem Text-Ich und Erna noch einmal die zentrale Bedeutung dieser Metaphorik der Bildlichkeit hervor, so steht schon am Beginn des Schreibens das Schriftbild des »nett[en] Mädchen[s]« (295/I, 2), das auf die Spannbreite der Bildlichkeitsebene in diesem Schreiben verweist. 204 In der Schrift-Bildlichkeit überlagern sich 264

Vgl. oben S. 2 2 1 .

262

nicht nur die Reflexionen zur M i m e s i s der Schrift an das W i r k l i c h e — das zentrale P r o g r a m m und Problem der Textur — m i t den Bildern, welche die sprachliche Produktion zur Erscheinung bringt. D a r ü b e r hinaus ist ihr die ikonische E b e n e des M e d i u m s Schrift, das G r a u auf W e i ß der Bleistiftzüge u n d ihre räumliche Disposition auf d e m Blatt, eingezeichnet, die ihrerseits und prinzipiell u n a b h ä n g i g von jedem >Lesen< den B l i c k anziehen und lenken. M o d e l l e zu einer >nicht-hermeneutischenLektüre< erfreuen

sich

im

Zug

der

kulturwissenschaftlichen

Entdeckung

der

Materialität des Zeichens einer gewissen B e l i e b t h e i t . 2 0 5 A l e i d a A s s m a n n etwa propagiert in diesem Sinn eine » w i l d e Semiose«, die » U n o r d n u n g i m bestehenden Beziehungssystem der Konventionen und Assoziationen« erzeugen und »neue unmittelbare B e d e u t u n g « hervorbringen s o l l . 2 0 6 A n die Stelle des schnell über die Oberfläche des Texts hinweggleitenden LeseBlicks tritt ein >langer BlickTextkritik< aufweisen, als das umgekehrt oft der Fall ist), gibt Gumbrecht 1999, S. 358f.: »With more intensity than Derrida himself, David Wellbery has unfolded some of the implications inherent to the deconstructive motif of >exterioritytext< and to find a >meaningthe samemedial[en]< Akt«, der das blickende Subjekt »im Zuge der Kontemplation« verändert. 2 6 8 Diese methodische Aufwertung des Materiellen ist als Ausgangspunkt gerade fur eine sich mit den Dokumenten der literarischen Arbeitsweise beschäftigende Analyse nicht zu unterschätzen - was hier als Lektüre von >Schrift-Bildern< in Hinsicht auf eine Ästhetik der Produktion beabsichtigt wird, setzt allerdings auf einer anderen Reflexionsebene an:

267

268

Assmann 1988, S. 2 4 1 . — Assmann hat an anderem Ort die Veränderungen systematisiert, die sich aus diesem »anderen Zugang zur Schrift« ergeben: »(1) Durchstreichung von Subjektivität zugunsten des Un- bzw. Überpersönlichen. [...] (2) Die Durchstreichung der Mimesis zugunsten der Konstruktivität. [...] (3) Die Durchstreichung der Semantik zugunsten des Unvorhersehbaren. [...] (4) Die Durchstreichung der Arbitrarität zugunsten energetischer Buchstaben. [...] (5) Die Durchstreichung der schöpferischen Gestalt zugunsten des automatischen Prozesses« (Assmann 1994, S. 334Í·). Assmann 1988, S. 24if. — Diese Veränderung des kontemplierenden Subjekts erklären Echte und Morlang mit der »erstaunlich schulbaren menschlichen Fähigkeit des GestaltErkennens, jenem Vermögen, aus einer Vielzahl theoretisch möglicher Varianten intuitiv die sinntragenden Zeichenkombinationen auszuwählen und auch dort noch Ganzheiten, d.h. in diesem Fall Silben und Wörter zu identifizieren, wo ein analytisches Vorgehen sich hoffnungslos in der unübersehbaren Vielfalt der Alternativen verirren würde« (BG 2 [Echte], 584). — Zweifellos ein Erklärungsansatz aus anderer Perspektive fur das — wie mir scheint — selbe Problem.

264

dort nämlich, wo die Materialität des Erscheinungsbilds von Schrift ihrerseits wieder reflektierter Gegenstand einer Textualisierungsarbeit und damit die semiotische Oberflächenebene mit der semantischen Textebene je neu vermittelt wird. Die Doppeldeutigkeit des Schrift-Bilds - als sprachliches Bild, welches das Schreiben erscheinen läßt und als Bild der Schrift selbst — bestimmt die Inszenierungen von Walsers Schreiben und zeigt die Ubergänge und Brüche an, die das Verhältnis von Bild und Textur strukturieren. »Schreiben, Schriftstellern scheint mir vom Zeichnen abzustammen« (BG 4, 410) — die Geste des Schreibens bestätigt, über die Reflexion seines Aufzeichnungssystems hinaus, dieses Verwandtschaftsverhältnis. Daß dabei die Konzepte von Bild und Bildlichkeit im poetischen und rhetorischen Traditionszusammenhang ihrerseits vielschichtig sind, unterstützt das Oszillieren dieser Reflexionsfigur zusätzlich. Im Begriff des >Bildes< öffnet sich der Abgrund der Rhetorizität von Sprache; er trägt in sich zugleich den Verweis auf Produkt und Verfahren sprachlicher Darstellung. Der Bezeichnung >Bild< liegt zunächst, so das >Deutsche Wörterbuchmemoria< kommt diese Vielschichtigkeit des Bildes zum Zug: Die >Rhetorica ad Herennium< (Buch III, § 36f.) etwa bemüht sich, ein Gleichgewicht der Gedächtnisbilder zu konstruieren, das sowohl dem mimetischen/repräsentierenden wie dem poietischen/(re)produzierenden Aspekt des Bildes Rechnung trägt. Es geht um die Frage, ob man sich gewöhnlicher oder außergewöhnlicher Bilder (>imaginesimaginesBild< überdies ihrerseits bildlich, übertragen und wiederholt damit ihr Doppelgesicht auf dieser neuen Ebene: Das Bild steht für »Verfahren (z.B. Metapher), die ein Bild« — als Abbildung, Vorstellung oder Repräsentation — »erzeugen oder enthalten,«271 Diese Heterogenität des Bild-Begriffs wird umso brisanter, seit, nach der Abkehr (norm-)poetischer Diskussionen von der Doktrin des >ut pictura poesisPoetische Mahlerey< (Breitinger) Repräsentationsfunktion für das nicht (mehr) Sichtbare übernehmen soll. Die Sprache wird zum Medium des Bilds überhaupt, was vor allen inhaltlichen Folgen eine strukturelle Verschiebung mit sich bringt: >Bild< bezeichnet nun nicht mehr nur die durch sprachliche Verfahren geweckten Vorstellungen, sondern — mittels Metonymie — zunehmend auch diese Verfahren selbst: zunächst die Hypotyposis, seit dem späten 1 8 . Jh. die Tropen, darunter besonders die Metapher, und schließlich im 19. J h . — als >Sinnbild< das Symbol,272

War bisher der Vergleich »das einzige sprachliche Mittel gewesen, das unstreitig als Bild bezeichnet werden konnte«, 273 so erhält der Begriff nun die Vielschichtigkeit und Unschärfe, damit aber auch die poetische Produktivität eines semantischen und diskursiven Felds, dessen spannungsgeladene Implikationen Texte je neu vermessen können. Gerade einem Schreibprogramm, das sich der Vorschrift unterzieht, »einer Kette von Erlebtheitserscheinungen den denkbar statthaftesten Ausdruck« (308/I, 5f.) zu verleihen, zeichnen sich solche Abgründe der Reflexion unweigerlich ein. Denn das dieser Absicht zugrunde liegende mimetische Programm — darum weiß das Text-Ich von Anbeginn — droht aufgrund der Erweiterung und Verschiebung des Bildbegriffs von der Arbeit der Sprache hintertrieben zu werden: Die Bildlichkeit der Sprache unterläuft ihre Abbildungsfunktion — wer sie und damit das »Flunkern« (295/I, 10) zu meiden sucht, läuft Gefahr, »oberflächlich« (295/I, 16) zu erscheinen, wer ihr nachgibt, riskiert die >Auslegung< dieser Sprachfiguren als »Verstiegenheit oder etwas dem Ahnlichen« (295/I, 22). Im Mikrogramm des >TagebuchWachstafel< bis zum >Haus des Gedächtnisses« (Groddeck 1995a, S. ii3f.). Asmuth 1994, S. 10 (Hervorhebung SK). Asmuth 1994, S. 18. Asmuth 1994, S. 18.

266

dieser Strategien des Bildlichen. Es findet sich dort die »Abbildung einer Gräfin« (296/I, 6), die als Fortsetzung und Ablenkung des Schreibens zugleich im Dienst jenes ausweichenden Umgangs mit dem erotischen Erlebnis steht, der bis zur Mitte des zweiten Abschnittes aufrechterhalten wird; sie präfiguriert aber ihrerseits das Dispositiv der Wahrnehmung und Beschreibung, das der sprachliche Darstellung der Liebesgeschichte zugrunde liegen wird. Ich I blätterte nämlich vor vielleicht vierzehn Tagen, mich auf dem Land aufhaltend, in einem Zeitschriftenjahrgang, worin ich diese Dame abgebildet | fand, die mir einen, ich möchte beinahe sagen unfaßbar feinen Eindruck machte, so einen Eindruck von außerordentlicher Zartheit und Milde | und vielleicht zugleich wieder von einer eigentümlichen und ungewöhnlichen Vulgarität, und das Bild stammte von einem Maler, Zeichner oder Meister | her, der zu seinen Lebzeiten, ein spindeldürres, kaum vor körperlicher Belanglosigkeit

kaum

wahrnehmbares, dabei aber sehr kluges, spirituelles | Männchen gewesen zu sein scheint, so eine A r t gutmütiges hochbegabtes Teufelchen, ein Zwergli und Beobachterlein je>von sozusagen höchster und bester | Qualität. (296/I, 6 - 1 2 )

An die Stelle des erotischen >Erlebnisses< tritt eine ikonische Frau, deren beschriebene Abbildung ihre Repräsentation doppelt bricht. Schrift-Bild eines Bildes, verursacht die »Gräfin« 274 einerseits einen »unfaßbar feinen Eindruck [...] von außerordentlicher Zartheit und Milde« und erinnert dadurch an das entsprechende Schrift-Bild des »Mädchen[s]« aus dem ersten Abschnitt. Die Mitteilung des bildlichen Eindrucks erinnert darüber hinaus in der Verbindung von Fragilität und »Vulgarität« wohl nicht zufällig an ikonographische Elemente der dekadenten >femme fatale< , 2 7 5 Andererseits spiegelt die Beschreibung des Bildurhebers zwar verschoben, aber dennoch erkennbar erneut die Szene des Schreibens. Das Verhältnis zwischen Zeichnen und Schreiben gehört zu den immer wieder auftretenden Grundfiguren von Walsers poetologischer Reflexion; dementsprechend liest sich das Suchbild des »Maler[s], Zeichner[s] oder Meister[s]« wie eine Rückübertragung des Schriftbilds auf den fiktionalen Urheber: »spindeldürr[...], kaum vor körperlicher Belanglosigkeit kaum wahrnehmbar[...]«. Der Vorgang des Schreibens — und insbesondere des Schreibens im Kleinen, wie es Walsers Bleistiftgebiet bestimmt - drängt seinen Urheber, den »Maler, Zeichner, Meister« an den Rand des körperlichen Verschwindens. Seine Körperlich-

274

275

Darauf, daß zwischen >Graf< und >Graph< nicht nur eine Homophonie, sondern — insbesondere in der Literatur der Romantik — auch eine funktionale Äquivalenz besteht, hat mich Florian Faller, Basel, aufmerksam gemacht. Ungeachtet aller Einwände gegen sein interpretatorisches Gerüst am erschöpfendsten katalogisiert ist diese Ikonographie nach wie vor bei Praz 1 9 4 8 / 1 9 8 1 .

267

keit, affiziert durch und reduziert auf die »spindeldürr[e]von sozusagen höchster und bester Qualität.« Ihnen folgend, wird die Lektüre unweigerlich dahin geführt, wo das >Spirituelle< dieser Erscheinung umschlägt ins Gespenstische, an den Ort der unheimlichen Selbstbegegnung des Schreibenden als Leser seiner eigenen Spuren. Die Materialität des Geschriebenen vermag die uneinholbare und unwiederholbare Singularität der Aufzeichnung, jene einzige Form von Präsenz, die Schrift zuläßt und die jeder Lektüre versperrt bleibt, allein in einer phantasmatischen Wiederbelebung zu erhalten, die zugleich ihre endgültige Tilgung darstellt. Bereits das Bild der Gräfin, ungeachtet seines ekphrastischen Charakters, markiert damit die Ambivalenz von Bildlichkeit in der Textur. Sie spaltet Produkt und Verfahren der schriftstellerischen Arbeit in ihre unmittelbar materielle und vermittelt sprachliche Ebene, in Semiotik von Schrift und Blatt und Semantik des Textualisierten. Dies gilt auch für die daran anschließende Präsentation des SchreibOrtes: Wie als Kontrast zu den vorangehenden poetologischen >Abschweifungen< fährt das Schreiben in gleichsam nüchternstem Berichterstatterton fort: Vor zirka fünf oder sechs Jahren langte ich in hiesiger Stadt an, die kein überaus großes, aber | dafür bildhaftes, ausdrucksreiches Städtegebilde ist. Es mag elegantere mondänere Städte geben als die unsrige, doch dafür genießt sie den | Vorzug des Ursprünglichen, des Kräftigen, Unangekränkelten, worüber ich übrigens nicht viel sagen möchte, da mir das ganz und gar nicht zusagte, denn | ich soll ja hier eine Geschichte, nicht einen Essay herstellen. (296/I, 2 2 - 2 5 )

Einerseits wird damit, wie schon mit der Erwähnung »hiesiger Stadt« (295/I, 1 1 ) im ersten Abschnitt, eine autobiographische Lektüre nahegelegt, die das schreibende Individuum mit dem Text-Ich zur Identifizierung bringen soll. Nicht nur entspricht die Beschreibung der Stadt ziemlich genau den anderen Prosastücken, die sich auf Bern, »dies[e] Stadt, worin ich mich nachgerade zu einer Art Journalist ausgewachsen zu haben scheine«, 270 beziehen lassen, sondern auch der inszenierte zeitliche Rahmen scheint ungefähr mit den >Tatsachen< übereinzustimmen: Walser ist 116

Unveröffentlichtes Mikrogramm (November 1925), zit. nach Morlang 1995, S. 85.

268

bekanntlich im Frühjahr 1 9 2 1 von Biel nach Bern gezogen. 277 Doch auch hier überlagert beim genaueren Hinsehen die Schriftbildlichkeit und damit die Autoreferentialität des Schreibvorgangs die referentielle Eindeutigkeit: Die »hiesig[e] Stadt« trägt keinen Namen, sie ist nicht identisch mit >Bernimago< im mnemonischen Sinn hin überschritten: Unsere Stadt zeichnet sich durch wäldliche Umrahmtheit aus. In | einem der Wäldchen oder Wäldern, die sich nach dieser oder jener Richtung hin ausdehnen, sah es gestern allerliebst und licht gleichsam licht, flattrig aus. Das Waldinnere I hatte irgend etwas Gesprenkeltes, lustig durch allerhand Lichterchen belebtes, Unterbrochenes, Beleuchtetes. Der Anblick besaß etwas feenhaftes, und wie ich so in diesem | reizenden Besp> Spitzen oder Garniturhaften umherging, fielen mir frühere Gänge durch andere Wälder ein, von denen ich vielleicht noch reden werde, sobald der passende | Anlaß da sein wird, was bald der Fall sein kann. (299/I, 2 9 - 3 3 )

Der Wald übernimmt als Rahmen des Städtebilds eine ergänzende Bildfunktion. Während die Stadt, zweimal markiert durch den Verweis auf die Übereinstimmung zwischen >beschriebenem< und Schreib-Ort (295/I, 1 1 ; 296/I, 22), als Szene der Präsenz erscheint und damit einen geschlossenen Bildraum darstellt, bildet der >rahmende< Wald den Ort der Digression — »nach dieser 211

278

Das heißt keineswegs, daß aufgrund dieser Stimmigkeit die autobiographische Lektüre als privilegiert gelten muß; sie ist eine Möglichkeit, der auf dieser Ebene des Texts und an dieser Stelle keine schwerwiegenden Hindernisse entgegentreten — was fur den gesamten Text wohl kaum gelten kann. Zu Walsers Städtebildern als theatralische Inszenierungen und dem Kontext zeitgenössischer Stadtdarstellungen vgl. Garloff 1996.

269

oder jener Richtung hin«: Einmal evoziert sein quasi impressionistisch oszillierendes Lichtspiel wie an der eben zitierten Stelle Erinnerungsbilder und stellt so »aus dem Gesichtskreis« (296/I, 35) Entschwundenes wieder vor Augen. Das damit konnotierte Schriftbild des Ornamentalen wird in dieser Wiederholungsstruktur zum Lektürebild: »wie ich so in diesem reizenden Besp>Spitzen oder Garniturhaften umherging, fielen mir frühere Gänge durch andere Wälder ein«. Dann übernimmt der Wald die Funktion einer Chiffre fiir die >mise en abyme< eines Erzähl-Bilds: »und nun spreche ich da plötzlich von einem vielleicht zweiunddreißig jährigen jungen Menschen, [ . . . ] mit dem ich auf die gesprächigste Art und Weise, uns über eine Menge von Gegenständen verbreitend, spaziergänglich in solch einem Wäldchen verlor« (296/I, 45 - 4 7 ) . Im letzten Abschnitt schließlich wird, was die Möglichkeit des Sich-Verlierens bereits angedeutet hat, der Wald Bild-Raum einer De- und Reterritorialisierung, in denen das Text-Ich sich nachjagt; eine Jagd, welche die Aufgabe des Schreibens unterbrochen und wieder in ihre Rechte gesetzt hat: W i e ein Reuiger, wie einer, der sozusagen die Flucht ergriff vor j>der | Pflicht ergriff, wie eine A r t wertvoll übrigens sicher sehr wertvoller verlorener Sohn kehre ich in vorliegendem Abschnitt, ich bin mir nicht bewußt der wievielte es I ist, zu dem übernommenen Auftrag zurück, ein Ichbuch zu schreiben. W i e mich mein Zurückgekehrtsein im heitersten Sinn anheimelt. Ich bin gleichsam während | dieser verflossenen paar Tage durch die braunen gelben W ä l d e r des Mein Meiner nicht sicher seins, des Unentschlossenseins gelaufen, herrliche, hohe, graziös gewölbte | Phantasie und Lustigkeitsbäume ragten über mir in die bläuliche, weißliche Höhe. Ist nicht jeder Baum ein Gedicht und gleicben>sind infolge dieser Vergleichung die | W ä l d e r nicht Gedichtsammlungen? Ich meinte zwei Tage lang auf das Allerehrlichste, ich hätte den Brief, den ich seiner Zeit an Erna schrieb, vorenthalten, also nicht | veröffentlichen sollen, hielt also diese Bekanntmachung für einen Fehler und lief deßhalb in den> jenen entzückenden Un/>ruhigkeits und Untröstlichkeitswäldern herum, als | wenn ich Jagd auf mich selber würde haben machen wollen als wenn ich Jagender und Gejagter in ein und derse Person gewesen wäre . . . (309/I, 17 — 24)

Als Digressionsraum steht der Wald — und das fuhrt zur Kartographie der Schriftbilder zurück — in einem expliziten und durch die Spuren der Uberschreibung (»gleicben>sind«) noch betonten Identitätsverhältnis zum Text. Damit wird einmal mehr die Differenz zwischen Schreiben und Text betont; bezüglich des Schreibens bilden die Geschlossenheit und die Entschiedenheit der Gedichte, »herrliche, hohe, graziös gewölbte Phantasie und Lustigkeitsbäume«, die über das Text-Ich hinaus in den weiß-blauen Poetenhimmel 2 7 9 streben, einen Faktor des »[Sjeiner nicht sicher seins«. 280 279 280

Zu diesem Bildbereich vgl. 296/I, 34ff. Zum Konzept des »Rahmens« und der »Rahmung« und seiner Beziehung zum »Werk«

270

N o c h e i n m a l w i r d i m V e r l a u f der T e x t u r eine Szene der B i l d l i c h k e i t e n t w o r f e n , die s o w o h l als strukturelles G e g e n s t ü c k zur textuellen V i s u a l i sierung des Erna->Erlebnisses< w i e auch als v o n der ironischen D i s t a n z der P e r s p e k t i v e unterstrichene R e f l e x i o n des Verhältnisses v o n Schreibprozeß u n d S c h r i f t b i l d dient; es handelt sich u m die A b s c h w e i f u n g über den »Schulkameraden]«

(298/I,

3 6 ) i m sechsten A b s c h n i t t . 2 8 1

Dieser setzt

ein m i t der W i e d e r a u f n a h m e u n d E x p l i z i e r u n g der » W i r k l i c h k e i t s t h e o r i e « ( 2 9 8 / I , 1 8 ) , die ihrerseits die R a h m u n g bildet f u r das v o n A n b e g i n n an vorgeschriebene V e r f a h r e n der B e r i c h t a b l e g u n g : » w e n n ich noch bis jetzt anscheinend z i e m l i c h | ¿¿¿ »theoretisiert« habe, so tat ich dies m i t v o l l e m B e w u ß t s e i n , n ä m l i c h u m m i r eine Basis oder eine A r t R a h m e n zu schaffen, in das ich nun dessen>das

G e m ä l d e dessen, w a s ich | i m eigentlichsten S i n n

zu bilden habe, in aller V e r g n ü g t h e i t w ü r d e h i n e i n m a l e n k ö n n e n . « ( 2 9 8 / I, 8 — 1 0 ) . In dieser zu einer abstrahierten F o r m der >Wesensschau
dem Gefühl des verfluchten, verabscheuungswürdigen Anstandes heraus säuberlich unterlasse. Es scheint mir /«>r/>> entsetzlich | zu sein, was ich fur ein hochanständiger Salonmensch geworden bin« (426/!, 7 — 10).

283

nen wird bereits durch die Riickübertragungen vorbereitet, die das Programm des >gegenwärtigen< Schreibens hinsichtlich seiner früheren Textarbeiten vorgenommen hat. Die schriftstellerischen Produktionen, von denen die Rede ist, werden dabei mit dem Maß gemessen, die sich das aktuelle »Journal«-Schreiben auferlegt: der Kongruenz zur > Wirklichkeit^ die weder romantische Ausschmückungen zuläßt noch gestattet, daß sich das »Verfasser«-Ich darin »gleichsam verkappt, maskiert« zeigt. Das gilt insbesondere für den vierten Abschnitt, in dem eine »Vorschrift« (308/I, 13) — die auffallenderweise hier zunächst auf den Modus angemessenen Sprechens bezogen i s t 2 " — zum ersten Mal explizit benannt wird. Er setzt ein mit einer Abgrenzung des Schreibprogramms vom »Roman«, dieser in der Berner Prosa unaufhörlich ironisierten regulativen Idee schriftstellerischer Tätigkeit, und kommt kurz darauf auf die »Art Roman« (308/I, 17) zu sprechen, die das Text-Ich damals stilgemäß »in einem Dachkämmerchen« (308/I, 16) verfertigt habe. Das damals verfertigte »Manuscript«, das im übrigen »nie gedruckt worden« ist, »weil es zahlreiche Fehler hinsichtlich der Wirklichkeit enthielt« (308/I, 26), wird einer regelrechten sonntäglichen Schreibtischpredigt 300 unterzogen: Unter | anderem phantasierte ich in jenem übrigens umfänglich nicht allzu starken Werk von einer Liebesszene, wobei der Held des Romans vor einer Frau von Welt in | die Knie sank. Wenn sich dies nun tatsächlich mit mir irgendeinmal ereignet hätte, so würde die Zärtl Beschreibung der Zärtlichkeit in Ordnung gewesen sein, da | sie sich aber auf Einb meine sogenannte dichterische Einbildung stützte, so wurde sie und das wohl mit Recht als wertlos taxiert, oder doch wenigstens, was | ihren Wert anbelangen mochte als anfechtbar taxiert. (308/I, 2 6 - 3 0 )

Es bleibt indes fraglich, ob man an die Stelle dieses »Romans« ohne weiteres Walsers eigene Versuche dieser Art aus der Berner Zeit — den verschollenen >Theodor< und/oder den nur im Mikrogramm vorliegenden titellosen >RäuberTheodorTheodorJournals< vorweg (vgl.

17,

35off.), als daß es Anlaß zu der Art von Kritik böte, die das Text-Ich hier über >seine< früheren Bemühungen äußert. Anders sieht es mit dem >RäuberRäuberwirklich< entspricht. Für die drei erwähnten Episoden — der Kniefall, die Banknotenepisode und die Droschkenfahrt — kann man durchaus Bezugspunkte im Roman auffinden: Der »Räuber« fällt sowohl für Wanda wie scheinbar vor Edith auf die Knie; 3 0 1 daß es »mit diesen sozusagen berühmten hundert Franken« im »Räuber«-Roman »nichts« ( B G 3, 1 1 ) geworden ist, hat sich nicht erst »neuerdings als Phantasiertheit ablehnenswertester Art entpuppt« (308/I, 3 1 ) , sondern steht bereits auf der ersten Seite des Roman-Manuskripts; der durch das »Edith-Geläute« liebestrunkene Räuber schließlich springt zwar nicht in eine »Kutsche oder Karosse« (308/I, 32), um die Angebetete seiner Liebe zu versichern, fährt aber immerhin Karussell. 302 301

»Er saß in besprochenem Garten lianenumwachsen, töneumschmetterlingelt und umschlingelt von den Schlingeleien seiner Liebe zur schönsten Herrentochter, die je aus den Himmeln der elterlichen Behütetheit in die Öffentlichkeit herabsprang, um das Herz eines Räubers mit ihren Reizen totzustechen. [ . . . ] Abends vor dem Zubettgehen kniete er in seiner unregelmäßig gebauten Mansarde auf dem Fußboden, um für sie und sich zu Gott zu beten« ( B G 3, 25) - dies in bezug auf Wanda, die als »Herrentocher« also durchaus einer «Frau von Welt« entsprechen kann. Hinsichtlich Ediths ist der Nachweis unsicherer: »Aber sie lächelte ihm damals zu, um ihm später entgegenzuwerfen: >Dummer Mensch, Sie, wollen Sie mich gefälligst nicht immer wieder stören. < Wenn ich mir ein derartiges Wort vergegenwärtige, so muß es mir schwerfallen, mich glauben zu machen, der Räuber habe ihre irgend etwas zu leid getan und müsse wegen seines Vergehens vor sie hinknien« (BG 3, 105).

302

»Es war damals ein wunder-wunderschöner Sonntag, als der Räuber unter Birnbäumen, neben wogendem Korn hinging, an Edith denkend, die ihm entwichen war. [ . . . ] Aber nach kurzer Zeit war wieder das aller-, allerschönste Wetter, man kann sagen, daß es jetzt noch schöner war als vorher. Ein glitzerndes Karussell lud ihn zum Chaisenfahren ein, und als er so in der sammetausgeschlagenen Chaise saß, d.h. eher ausgestreckt lag, glich [er] einer liederdichtenden Nonne, die die Leiden und das Weh der Erde und alles Schöne und alles Schmerzliche und Süße auf sich wirken ließ« (BG 3, 7 3 f ) . — Darüber hinaus finden sich im >RäuberSelbstkritik< des Text-Ichs dient, beginnt das Getriebe der Schreib» Vorschriften« zu knirschen. Der Held eines wirklich wertvollen Produkts der Literatur darf sich betragen, | daß er sich nicht in einem fort, in allem dem, was er spricht, mit dem Verfasser decken läßt: so und nicht anders lautet bemerkenswertesten | Vorschriften bezüglich der Büchermacherei, und derartiger aufmerksamer Kontrolle meinen ungeteilten Beifall (308/I,

nicht so tut und eine der ich zolle 38—40).

Die paraphrasierende Aneignung früherer Schreibtischtaten, die das aktuelle Text-Ich zeichnet, bringt fur den Moment des Schreibens »Held«

303

»Witwe«, die ein »Geschäft« (BG 3, 1 1 ) besitzt, »einen Modesalon, wo den ganzen Tag Hüte aufgesetzt und abgenommen wurden, nämlich Damenhüte« (BG 3, 34); die »Familie Stalder« mit den »zwei Töchtern« (BG 3, 41)); aber auch parallele >Kleinigkeiten< wie die Ernennung zum »Ehrenabonnenten« (BG 3, 17) von Zeitschriften und programmatische Analogien über das dort vorgenommene Schreibvorhaben (»Noch nie, so lange ich am Schreibtisch tätig bin, habe ich so kühn, so unerschrocken begonnen zu Schriftstellern«; BG 3, 28) sind auszumachen. Zu den Interferenzen zwischen dem >Räuberich< schreibt, gibt es nichts, was ihrer beider Identität garantiert. 305 Den Widerspruch zur Normativität eines solchen Programms hat bekanntlich schon Walsers letzte Buchveröffentlichung mit einem >Zükkerchen< aus lauter kleinen Echo-Effekten versüßt: »in einem Ichbuch sei womöglich das Ich bescheiden-figürlich, nicht autorlich« (8, 81). Novellen. Eine weitere Kontextualisierung der >VorschriftJournal< — der ersten beiden fortsetzt. Die Rückseite der Blatthälften (zusammen mit Blatt 308, welches das Schreibmaterial flir den folgenden vierten Abschnitt bildet) trägt Merksprüche »VON DER SEELE«, die den Prämissen des >TagebuchProgramme< für das sich in ihrem Rücken abspielende Schreiben gelten. Die Weisheiten Senecas — »Ich erkläre dich für unglücklich, weil du niemal|s unglücklich warst« und »Für etwas Großes halte es Einen Menschen darzustellen« — betreffen in ihrer betonten Rhetorizität resp. Emphase sowohl wie in ihrem Aussagewert die Verfahren einer programmatischen Selbstdarstellung.

304 305

Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , II, Sp. 4 7 3 ; Art. >BüchermacherJetztzeitstils< in Erscheinung: Die »Schilderung des Liebeserlebnisses« (299/I, 4) erweist sich dabei nicht als Notwendigkeit eines wie auch immer beschaffenen Bekenntnisdrangs, sondern als geschicktes, wenn auch nicht risikoloses3°6 Kalkül auf die Interessenlage der »friedensuchenden Nachkriegstag[e]« (299/I, 6): Nichtsdestoweniger fahre ich mit vielleicht überhaupt noch niedagewesener Unerschrockenheit im | Berichterstatten oder Erzählen fort und teile zunächst rein formal oder prinzipiell mit, es sei meine Meinung, daß eine Novelle eher in der Lage | sei, Einbildungshaftes, Erfundenes zu vertragen als ein Wirklichkeitsbericht, der seine Wirkungen von genauen und wahrheitstreuen Angaben herzu|beziehen habe. (299/I, 8 — 1 1 )

Mit der Unbestimmtheit und Anonymität des Referentiellen kontrastiert diese Programmatik auffallig. Mögen die »Angaben« des Textes wahrheitsgetreu sein — was gewisse Elemente nahezulegen scheinen —, >genau< sind sie in dem Sinn, daß sie zur Identifizierung von Ereignissen dienen könnten, keineswegs. Diese Unscharfe ist für Walsers Prosa nichts Ungewöhnliches; was die vorliegende Differenzierung betrifft, fallt dennoch eine gewissermaßen antinomische Grundsatzerklärung auf: Im Prosastück >Eine Art NovelleParallele< zum vorliegenden Text gelesen werden kann, wird scheinbar konsequent ausgerechnet die Ungenauigkeit jeglicher Daten wie »Jahreszeit usw.« hervorgehoben: Meiner Erfahrung, d.h. meinem Geschmack nach, dürfte es sich immer sehr empfehlen, beim Schriftstellern in bezug auf Örtlichkeit, Zeit, Geographik so ungenau wie möglich zu sein; denn ich finde, ein wirklich gebildeter Schreibender und Sprechender soll stets ohne solche Angaben auskommen. ( 1 9 , iyf.).

Erstaunlicherweise aber konvergieren die geschilderten Begebenheiten zu einem großen Teil exakt mit den im >Journal< Mitgeteilten: Über die Ausarbeitung eines Romans wird ebenso berichtet wie über die Ambivalenz von »Erfolg und Erfolglosigkeit« im Verfassen »klein[er] Artikel«; mit einer ganz ähnlichen Strategie der Verstellung wird, mit einem beinahe schon Kleist'schen Gedankenstrich markiert, das Liebeserlebnis angedeutet: »und dann erblickte ich ja auch dieses — zarte Gesicht«; sogar die Aussparung eines im >Tagebuch< auftretenden Gegenstands erscheint als Variation in der Wiederholung: »Wenn jetzt gewisse Interessenten däch306

»Nun können ja anderseits Liebesafiaren verhältnismäßig uninteressant ausfallen, ich bin überzeugt, daß es hier | eine derartige Möglichkeit, eine solche »Gefahr« für mich gibt« (299/I, 7 {.).

288

ten, es könnte mir einfallen, wieder einmal von nichts sonstigem als vom Wald anzufangen Mitteilung zu machen, oder sozusagen Nachricht abzustatten, so sehe ich mich zur sehr höflichen Erklärung genötigt, daß dies völlig ausgeschlossen ist. Wald bedeutet meinem Empfinden nach immer so eine Art Flucht aus den trockenen Alltäglichkeiten in irgend etwas recht sehr bequemes Poesieartiges« (19, 18). Während sich also die >Art Novelle< das >Poesieartige< des Waldes versagt, wird sich der Tatsachenbericht dagegen sogleich dahin begeben (vgl. 299/I, 29ff.) und damit einmal mehr die Eindeutigkeit und Zuordnungsmöglichkeit programmatischer Aussagen in Zweifel ziehen. Die Verflechtung von Schreiben und Leben — »gleichsam Hand in Hand« (296/I, 17) — die sich der vorliegende »Wirklichkeitsbericht« zum Ziel setzt, ist ein wiederholt geäußerter Grundsatz der Novellenproduktion: »>Eine Novelle muß erlebt seinWirklichkeitstheorie< also einen wesentlich vielschichtigeren Befund zu artikulieren, als es die einfache Gegenüberstellung von Fiktion und Realität erwarten ließe. Daß ausgerechnet die »Novelle« als Abgrenzungskategorie gegenüber der hier postulierten »Wirklichkeitsbericht«-Erstattung eingeführt wird, mag vor diesem Hintergrund zufällig scheinen. Betrachtet man aber auch in diesem Fall die gattungspoetischen Spezifika, so erweist sich die kom289

plexe A b g r e n z u n g weit weniger willkürlich. D e n n m i t d e m

»Journal«

hat die N o v e l l e nicht nur die D i m e n s i o n der Z e i t l i c h k e i t als »gerad[er] L ä n g s r i c h t u n g « 3 0 7 g e m e i n . D i e s e ist nach den Grundsätzen der G a t t u n g s poetik auf jene »unerhörte B e g e b e n h e i t « 3 0 8 fokussiert, die ihrerseits, als »Trieb, die W i r k l i c h k e i t zu erfassen, w o sie am auffälligsten 1st«, 3 0 9 den weiteren Verlauf des Erzählens antreibt. U m ein ebenso unerhörtes E r e i g nis zentriert sich, wie der Text betont, das i m » T a g e b u c h « M i t g e t e i l t e — unerhört in seiner Singularität ebenso w i e in seinen offensichtlich allen (Selbst-)Beschreibungen des Text-Ichs widersprechenden Folgen. D i e N o velle ist also schon von diesen strukturellen Voraussetzungen her die literarische G a t t u n g m i t der M i n i m a l d i f f e r e n z z u m hier aktualisierten Schreibprojekt.310 307 308

309 310

Und

»dem

Zwang,

in

beschränktem

Raum

das

Nötige

Kayser 1948/1959, S. 210. Die literarische Darstellung »einfer] sich ereignet [en], unerhörtfen] Begebenheit« verleiht - so teilt Eckermann Goethes Überlegungen vom 29. Januar 1827 zu seiner >Novelle< mit — Dichtern erst das Recht, ihre Novellen Novellen zu nennen (Eckermann 1 8 3 6 - 1 8 4 8 / 1 9 8 4 , S. I94f.) - Auch hier also steht im Zentrum der Bestimmung die Rekurrenz auf das >wirkliche< Ereignis. Klein 1954/1960, S. 4. Die Novellenform »erfaßt ein Geschehen als zunächst >reales< und einmaliges, das heißt örtlich und zeitlich genau festgelegtes Geschehen. Im weiteren erfaßt sie es als EREIGNIS, das heißt nicht als geradlinige Durchführung einer Absicht, sondern gerade als plötzliche, unerwartete Fügung, die die Absicht durchkreuzt. Überall gibt es solche seltsamen Punkte, die geheimnisvoll aufeinander bezogen sind, bis das Ereignis auf dem Höhepunkt wieder schicksalbestimmend ist« (Kayser 1948/1959, S. 355). — Z u den (medien-)historischen Konvergenzen zwischen »Journal« und »Novelle« vgl. Meyer 1987, S. 61: »Die Bedeutung von >Novelle< »verengert sich« nicht im Lauf des ausgehenden Jahrhunderts auf die »Neuigkeiten aus der Zeitung< [Zit. nach: Arnold Hirsch: Der Gattungsbegriff >NovelleNovellenRevolvernovelleJournal< ebenfalls die

hypothetische

Unbegrenzbarkeit313

der verhandelten

Gegen-

stände, die diese Szene zu supplementieren h a b e n . 3 1 4 Andererseits aber unterscheidet sich Walsers Schreiben durch den permanenten Gestus der Reflexion auf das eigene T u n in aller N a c h d r ü c k l i c h k e i t von der G e r a d l i -

311

312

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Musil 1914/1978, S. 1466. - In der selben Nummer der >Neuen Rundschau< folgt anschließend an den kleinen Essay über die »Novelle als Problem< Musils Rezension von Walsers >GeschichtenNovellenwut< verpönte, ist nicht nur die technische Entwicklung, die Entstehung einer Fülle literarischer Zeitschriften und ihre massenhafte Verbreitung die Ursache gewesen; den ökonomischen Vorteil aus dieser Chance mögen die Verleger kalkuliert haben. Die Autoren entwickelten Taktiken, die die Obszönität der Kernszene verschleierte [sie!], ohne daß ihr Reiz verlorengegangen wäre. Dabei nutzten sie freilich auch die Chancen der publizistischen Situation, die es ihnen erlaubte, viele Worte zu machen: sie betteten das sexuelle Ereignis, das sie [...] zuvor schon verdunkelt hatten, zusätzlich noch in eine Fülle von Beschreibungen und Nachrichten ein. [...] Das Publikum konnte sich also durch hochdramatische Liebesgeschichten unterhalten, die zudem ein modischen Ambiente umgab: denn die neuesten Erfahrungen des alltäglichen Lebens samt den Versuchen, sie zu verarbeiten, konnte die Novelle absorbieren; sie wurde zur Form der unbegrenzten Stoffwahl. [...] Die Novelle wird modebewußt und kommt immer im neuesten Kostüm daher« (Schlaffer 1993, S. 8of.).

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nigkeit novellistischen Erzählens. Die Erzählhaltung der Novelle wird darin nicht, wie etwa in den >Anti-Novellen< Stifters, 315 bis zur Unbeweglichkeit retardiert. Sie gerät vielmehr durch die Techniken erzählerischer Montage und durch die andauernde Ambivalenz seiner Referentialität in den Sog einer »mise en abymeunerhörten Begebenheit< fort, die den Tatsachencharakter des Gegenstands mit seiner Singularität und somit Unvertrautheit kombiniert. 318 Die Abgrenzung von der »Novelle« entspringt also weder einer naiven Entgegensetzung von >Literatur< und >WirklichkeitLiteratur< habe Abbildung von >Wirklichkeit< zu sein oder eine einfache Transformation von >Wirklichem< in >Text< zu leisten. Ein Text, »der seine Wirkungen von genauen und wahrheitstreuen Angaben herzu|beziehen« vorgibt — eben nur seine Wirkungen, nicht seine Gestalt —, verhält sich zur >Wirklichkeit seines Anlasses keineswegs mimetisch. Nun muß oder darf man nach meinem Dafürhalten auch mit den wahrheitsmäßigen I Berichtablegungen irgend etwas anzustellen wissen, d.h. irgend etwas 315 316

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Vgl. dazu Schlaffer 1993, S. 26j((. Dazu Groddeck 1997. - Die Unterscheidung von Text und Metatext, die in der WalserForschung immer wieder postuliert wird (vgl. v.a. Bleckmann 1994), hat in diesem Zusammenhang meines Erachtens nur beschränkten heuristischen Wert: Die Eigenheit der Walsers Prosa ist es, daß sie ihre Poetologie gewissermaßen im Vollzug des Schreibens mitentwirft, sie ist von ihm nicht zu trennen und liegt ihm schon gar nicht voraus. Metatexualität, genauer: die Möglichkeit, Textelemente als selbstbezügliche Reflexion auf das eigene Verfahren zu lesen, ist eine Funktion von Walsers Texten; Poetologie ihrerseits nicht an diese Funktion von Metatextualität gebunden. Sengle 1971—80, II, S. 836f. — Vgl. auch die Belege zum »Wahrheitssyndrom« der Novelle bei Meyer 1987, S. 7 1 - 8 5 . Vgl. Grimm 1 8 5 4 - 1 9 7 1 / 1 9 8 4 , I, Sp. 1 2 8 2 , wo »BEGEBENHEIT« definiert wird als »eventus, Vorfall, ereignis, geschichte«.

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Kompositionelles daraus zu machen bemüht sein, eine Aufgabe, der ich mich ¿;>anläßlich | dem, was hier vor sich geht, lebhaft unterziehe, indem ich etwas so Lesenswertes wie möglich hervorzubringen versuche. (299/I, 1 1 — 1 3 )

Das »Kompositionelle«, als Verfahren, die »wahrheitsmäßigen Berichtablegungen« im Dienst des lesenden Interesses in die Rhetorizität der literarischen Form zu überfuhren, tritt als »Aufgabe« des Schriftstellers in Erscheinung. Die Markierungen von Präsenz, die der Text an dieser Stelle setzt, verweisen deutlich darauf, daß der erste und vielleicht entscheidende Schritt dieser Komposition in der Bewegung der Schrift selbst besteht. Denn wenn die »gegenwärtigen Zeilen« der Maßgabe der im Verlauf des Schreibens skizzierten und einer permanenten Vergewisserung und Veränderung unterworfenen Programmatik entsprechen, muß nicht nur die statische Ordnung der Schrift, der sich das Text-Ich »hi[cr]« unterwirft, diesem Anspruch Genüge leisten. Den Anforderungen der selbstgesetzten Poetik soll vielmehr der Vorgang des Schreibens selbst gehorchen, der materielle Akt einer Bewegung oder Geste, deren Vollzug selbst das Text-Ich »dem, was hier vor sich geht«, in seiner ganzen Le(i)bhaftigkeit unterwirft. Zum Vorschein kommen dabei, nicht zufällig, Nachtgestalten. Eine Dimension der »Abgründigkeiten«, die das »Vergnügen« (299/I, 17) des Schreibens überbrückt, besteht in der »Schlucht des Lesens« ( 1 3 , 187). Ihr entspringen alle jene Anspielungen, Zitate, Reflexionen über die Möglichkeiten literarischer Reflexion, denen sich das Schreiben anzuverwandeln hat. Das »auserlesen[e]« Vergnügen stellt sich dabei — in der Verfahrensweise der beschriebenen >nächtlichen< Lektüre 319 — dann ein, wenn die Bedingungen seiner Er/ejwzheit vergessen und gleichzeitig die Abgründe im Erlesenen selbst aufgedeckt werden können. Vergangene Nacht kam mir Folgendes in den Sinn, das vielleicht etwas Belustigendes enthält: Was das Element des | Komischen betrifft, so kann man es ernst nehmen und was die Bedeutung des Ernsten oder Tragischen anbelangt, so kann man etwas Lustiges, Komisches darin | entdecken. (299/I, 1 8 — 20)

In der Tradition philosophischer Definitionsversuche liegt dem Komischen schon seit dem 18. Jahrhundert das Verhältnis der Inkongruenz zugrunde, 320 das Walsers scheinbare Paradoxie einer inkongruenten Wahrnehmung zur Autoreflexivität verabsolutiert. Der komische Akt »erschüttert [...] das überkommene kategoriale Ordnungsgefüge, den > Rahmen Meta-Komik< einer unangemessen komischen Entzifferung des Tragischen die Inkongruenz als Verfahren auf der Ebene der Wahrnehmung ebenso wiederholt wie die tragische Lektüre des Komischen und damit, wie das Komische überhaupt, »Erwartbarkeiten und >AnschlußfähigkeitenStruktur-Komik< der unangemessenen Wahrnehmung durch Umkehrung nicht aufgehoben werden. Das »Ernst[e] oder Tragisch[e]« verliert auf der strukturellen Ebene unweigerlich; es wird heimgesucht von der komischen Lektüre noch da, wo diese im Komischen Tragisches zu entdecken vorgibt. Exkurs zu Don Juan. Daß in diesem Zusammenhang ausgerechnet Mozarts >Don Giovanni< zur — von dem als Selbstzitat eines >angelesenen< Texts auftauchenden »Goldfabrikanten« einmal abgesehen — einzigen explizit benannten ästhetischen Vor-Schrift des Schreibens wird, mag überraschen: Was das Element des | Komischen betrifft, so kann man es ernst nehmen und was die Bedeutung des Ernsten oder Tragischen anbelangt, so kann man etwas Lustiges, Komisches darin | entdecken. Letzthin berührte mich beispielsweise anläßlich eines ¿ >Theaterabends das Finale der Mozartoper Don Juan beinah ein bischen belustigend, | was ich mich keinen Augenblick verhindern will, ehrlich herauszusagen. (299/I, 1 8 - 2 1 )

Der Hinweis auf Mozarts Oper ist bekanntlich in Walsers Texten nicht singulär. 323 Seine »Metamorphosen Don Juans« teilen mit allen literarischen Referenzspielen die Gemeinsamkeit, »daß sie das jeweils betrachtete Werk nicht wiedergeben, wie es ist, sondern es mehr oder weniger umschreiben.« 324 Als Besonderheit hält Borchmeyer fur diese Permutationen der Don Juan-Figur fest, daß ihre Bezugsgestalt Walser »im Grunde zuwider« sei und daß in den Prosastücken, die insbesondere auf Mozarts Bearbeitung Bezug nehmen, dieses Unbehagen Anlaß bilde für die vielfältigen Entfremdungen der Erzählung. 325 Doch an dieser Stelle, in dieser Textur bildet Mozarts beziehungsweise Da Pontes Bearbeitung der Figur nicht

321 322 323

324 325

Luthe 1992, S. 62. Luthe 1992, S. 62. Vgl. die Prosastücke >Über Mozarts »Don Juan«< ( 1 8 , 2 6 i f f . ) und >Glosse zu einer Premiere von Mozarts »Don Juan«< (18, 268ÍF.), deren Entstehung im selben zeitlichen Rahmen zu liegen kommt wie das sog. >TagebuchDon Giovanni Don Giov a n n i ist also in erster Linie auf der Ebene des Strukturzitats zu suchen; am deutlichsten wird das, berücksichtigt man einmal mehr das Programm der »Parallele«, welches das Text-Ich für seine Schreibarbeit aufstellt: Kann diese im »Zusammengehen verschiedener Absichten, Wünsche und Bestrebungen« (296/I, 29), also gerade durch den Verzicht auf das Festhalten an einer »einzi/g/e[n] Schaffensidee« (296/I, 27) in Gang gehalten werden, entspricht das der List Don Giovannis, seine Frauengeschichten als Ausdruck der einen Liebe, die man heute wohl Begehren nennen müßte, zu legitimieren: DON GIOVANNI: Lasciar le donne! Pazzo!

Lasciar le donne? Sai ch'elle per me Son necessarie più del pan che mangio, Più dell'aria che spiro! LEPORELLO:

E avete core

D'ingannarle poi tutte? DON GIOVANNI:

È tutto amore.

Chi a una sola è fedele Verso l'altre è crudele; Io, che in me sento Sì esteso sentimento, Vo'bene a tutte quante: Le donne, poi che calcolar non sanno, Il mio buon naturai chiamano inganno. 326

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Mozart/da Ponte 1 7 8 7 / 1 9 8 9 , S. 1 1 2 . -

Eine subtile U m k e h r u n g dieser Begehrenskon-

stellation des >Don Juan< enthält das kürzlich wiederentdeckte Prosastück >Der M a ß s t a b c »Sie w i l l mich und w e i ß nicht, daß ich anderwärts engagiert bin. M i c h wollen zehn. Was für Aussicht besteht da für die eine?« (Walser 1926).

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Kommt dort, wo das Begehren sich artikuliert, mit Lacan zu sprechen, die Frau im Singular nicht vor, 327 kann sich hier das Schreiben auf die Idee nicht verlassen. Noch die scheinbar paradoxen Ausführungen über das Verhältnis von Tragischem zu Komischem erschließen sich beim Rekurs auf diesen Bezugstext als wörtliche Übernahme: Sie entsprechen der Gattungsangabe des Librettos — »Dramma giocoso« — und zeugen so von einer durchaus adäquaten, nämlich buchstäblich vorgeschriebenen Rezeptionshaltung, welche die zwei »ebenso groß[en] Hälfte[n]« gleichberechtigt wahrnimmt. 328 Die Spannung zwischen ernsten und komischen Elementen, in Mozarts Oper garantiert durch die Figurenkonstellation Don Giovanni -Leporello (letzterer bricht durch seine kommentierende Verdoppelung des Komtur noch im fünfzehnten Auftritt des zweiten Aufzugs die Unheimlichkeit der Szene 329 ), erstreckt sich durchaus auch auf das Finale; man denke etwa an das Terzett Zerlinas, Masettos und Leporellos im letzten Auftritt: Resti dunque quel birbon Con Proserpina e Pluton. E noi tutti, o buona gente, 327

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»Die Frau, das kann sich schreiben nur indem Die gebarrt wird. Es gibt nicht Die Frau, bestimmter Artikel, um zu bezeichnen das Universale. Es g i b t nicht Die Frau, denn [ . . . ] ihrem Wesen nach ist sie nicht alle. [ . . . ] Das ist ein Signifikant, dieses die. Es ist durch dieses die, daß ich den Signifikanten symbolisiere, dessen Platz zu markieren unentbehrlich ist, der nicht leer gelassen werden kann. Dieses die ist ein Signifikant, dessen Eigentümliches ist, daß er der einzige ist, der nichts bedeuten kann, und zwar nur daraus, zu gründen das Statut von die Frau in dem, daß sie nicht alle ist. Was uns nicht erlaubt, zu sprechen von Die Frau« (Lacan 1 9 7 2 — 7 3 / 1 9 9 1 , S. 80). Gerade die kritische Auseinandersetzung mit Mozarts Oper im Prosastück >Über Mozarts »Don Juan«< bezieht sich explizit auf das Ungenügen einer allein tragischen Auffassung: »Tatsache schien mir zu sein, daß er [i.e. Mozart] die Kraft, die Wucht nicht aufzubringen vermochte, wo er musikalisch Rache zu nehmen hatte, wo er sich kompositorisch vor die Nötigung gestellt sah, zu vernichten. Für mich blieb keinen Augenblick zweifelhaft, daß er zu einem solchen >Geschäft< nicht genügend Haß, Verachtung, Härte in sich fand, in einem Gemüt, das ein lieber Freund und Diener war, ein in jeder Minute, möchte man sagen, bürgerlich besorgter, rücksichtnehmender Gatte. In der Oper, über die ich zu reden unternahm, gibt es eine Nebenfigur, ein Frauchen aus dem Volk, die ihren Mann vom Boden aufhebt, als er schwach hinfiel, und ihn nun begütigt und tröstet, treulich wiederaufrichtet, und ihm trotz allem, d. h. obwohl sie sich vielleicht hinsichtlich zu ihm Stehens einen kleinen Vorwurf zu machen haben könnte, ergeben ist, und diese Figur, dieses Figürchen, dem bestimmt ist, fröhlich zu bleiben, stattet er mit allem unglaublich anmutigen Liebreiz und mit einer aus allen hinreißenden Genialitäten zusammengewobenen Schönheit aus« (18, 267). V g l . Mozart/da Ponte 1787/1989, S. 182: IL COMMENDATORE: Pentiti./ DON GIOVANNI: N o ! / IL COMMENDATORE e LEPORELLO: Sì!/ DON GIOVANNI: N o ! / IL COMMENDATORE:

A h ! tempo più non v'è« (Hervorhebung SK). Damit wird das übernatürliche Strafgericht, das Don Giovanni zur Reue zwingen will, mit der weitaus trivialeren, ganz und gar weltlichen Ängstlichkeit verknüpft, von der Leporello seit der ersten Szene im Verlauf des »Dramma« öfters Zeugnis abgelegt hat.

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Ripetiam allegramente L'antichissima canzon. 330 Schon in der Titelerwähnung zeichnet sich eine, sowohl in der (deutschen) Rezeption des 1 9 . Jahrhunderts w i e in der Z e i t allerdings durchaus g e bräuchliche, Distanznahme zur konkreten historischen Erscheinungsform des D o n J u a n - S t o f f e s a b : 3 3 1 >Don Giovanni< dient hier über den konkreten A n l a ß des erwähnten »Theaterabends« hinaus als M o d e l l , an dessen R e z e p tion und literarischer W i r k u n g s g e s c h i c h t e die Struktur der vorliegenden Textur reflektiert werden kann. A u f die intertextuelle V e r f l e c h t u n g , die sich aus dieser Disposition ergibt, weist die W i e d e r a u f n a h m e der T h e m a tik a m E n d e des fünften A b s c h n i t t s hin: U m auf Mozarts Don Juan zurückzukommen, dessentwegen ich mich i>bereits einmal verlauten ließ, so fallt ohne Schwierigkeit auf, daß dieser Gestalt | jedenfalls das Verdienst beizumessen ist, viel von sich reden, mancherlei über sich denken, raisonieren gemacht zu haben. Don Juan ¿¿^stellt den Schlechten dar, über den so und so viele | Gute immerhin zu etwas wie zur Erquickung ehrlich haben erstaunen, an dessen Veranlagung und Auftreten sich die Erwähnten ein lebendiges Beispiel nehmen durften mahnendes Beispiel | haben nehmen dürfen, und dessen Figur zahlreiche Kunstbeflissene, wie Dichter, Maler oder Musik Komponisten zu Darstellungs 'odeH Symbolisierungsversuchen begeistert hat. Eine| derartige Tatsache, was die Belebung der Moral betrifft, wird man meiner Ansicht nach nicht außer Betracht eher Grund haben in Betracht zu ziehen als zu ignorieren, denn | von solcher Art von Sichbewußtwerden hängt gerade für eine allgemeine Entwicklung viel ab. Ich wünschte, daß sich die Schlechten nicht zu schlecht und die Guten ihrerseits nicht zu gut | vorkämen. (310/I, 56—62) I m Unterschied zu den beiden Prosastücken aus d e m J a h r 1 9 2 6 , die sich explizit auf eine A u f f ü h r u n g von Mozarts O p e r beziehen (deren ästhetische W i r k u n g dabei tatsächlich f r a g w ü r d i g e r s c h e i n t 3 3 2 ) , w i r d hier eine >mora530

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Mozart/da Ponte 1787/1989, S. 188. — Diese Spannung zwischen »opera seria« und >opera buffa< sieht Joseph Kerman bereits im ersten Auftritt figuralisiert: »There is one place of genuine engagement, to be sure, in the opera's indelible opening scene. Here Anna not only adresses Giovanni but engages with him physically, struggles with him. It is a problematic scene [...], and the problem is compounded by the shock of generic violation. The genres do not fuse, they fight« (Kerman 1990, S. 114). Die spanische Namensform des Titels scheint in der Rezeptionstradition sowohl historisch als auch literarisch üblich; das gilt für E. T. A. Hoffmanns Fantasiestück >Don Juan< wie für Mörikes Novelle >Mozart auf der Reise nach Prag< oder Kierkegaards »Entweder Odermoralisch< im Sinn der Inszenierung, die dem Ahnlichkeitsmodell der »Parallele« (296/I, 28) zugrunde liegt. Das »Verdienst« des exemplarischen Bösewichts Don Juan liegt dabei einerseits in den »Darstellungs oder Symbolisierungsversuchen«, zu denen die »Figur zahlreiche Kunstbeflissene, wie Dichter, Maler oder Musik Komponisten« motiviert hat; damit also in ihrem produktiv-poietischen Potential, wie die Ersetzung von »Musik[er]« durch »Komponisten« zwecks Vermeidung eines Kategorienfehlers noch unterstreicht. Anderseits veranlaßt diese künstlerische Wertschätzung eine Revision des Moralurteils: Die ästhetische Repräsentation — wie es der Schluß der zitierten Stelle nahelegt - übernimmt die Funktion, als »Art von Sichbewußtwerden« jenseits moralischer Kategorien »für eine allgemeine Entwicklung« relevant zu werden, die ihrerseits auf die Rolle moralischer Werturteile im allgemeinen und auf das Selbstverhältnis im besonderen rückübertragen werden kann. »Don Juan«, als Chiffre einer intertextuellen Konstellation von Figuren, Handlungsmustern und Textstrategien, bildet damit nicht nur eine Kippfigur für die Auseinandersetzung mit der erotischen Dimension, welche die Textur entfaltet, sondern darüber hinaus eine textuell besetzte Instanz, an der sich die Aufgabe des Aufschreibens von Erlebtem (was den Bezug zu >Don Giovanni< herstellt) mit den Vor-Schriften von Brief, Tagebuch und Erzählen sowie mit denen künstlerischer Inspiration (hier figurieren Don Juan-Texte der literarischen Tradition als Bezugspunkt 333 ) reflektieren kann.

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Distanzierung entspricht: »Ich befaßte mich von Akt zu Akt lebhafter mit dem Komponisten und kam zu einem für ihn nicht sonderlich günstigen Ergebnis. Beispielsweise sagte ich mir, daß die wahre Klage eher stumm als klang- und wortreich sei. Gewiß kann ein Komponist nicht verstummen, er kann einen Höhengrad des menschlichen Erlebens nicht dadurch kennzeichnen oder vergegenwärtigen, daß er >schweigsam< bleibt, aber er stand hier bezüglich des Problèmes der Demonstrierung der Klage, der Trauer scheinbar einfach vor einer fur seine Wesensart unlöslichen Aufgabe: dieser Eindruck war's, den er mir übermittelte, was ich selbstverständlich bedauerte, da es sich um einen von mir im übrigen geliebten und bewunderten Meister handelte. [ . . . ] Wo er die Strafe tonlich malen will, die über den Frauen- und Mädchenkränker und -ärgerer hereinbrechen soll, bricht ihm in der Tonaufwendung etwas entzwei. Noch nie, seit ich Theaterbesucher bin, unterlag ich einem überzeugenderen Ungenügendheitseindruck« (18, 265^). Borchmeyer hat darauf hingewiesen, daß diese Einschätzung durchaus der »bürgerlich-konventionellfen] Verniedlichung Mozarts« (Borchmeyer 1999, S. 225) entspricht. Der erste Gesichtspunkt verbindet Walsers Textur mit Ε. T. A. Hoffmanns >Don Juan. Eine fabelhafte Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen< ( 1 8 1 4 ; vgl. dazu Wellbery 1980); der zweite mit Mörikes Novelle »Mozart auf der Reise nach Prag< ( 1 8 5 5 ; dazu Brandstetter/Neumann 1 9 9 1 , S. 3 2 1 : Mörikes Text unterzieht

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Leporellos Aufschreibesystem produziert Klartext in jedem Sinn. Nicht nur fuhrt es getreu das Register der Eroberungen; während darum herum die Rhetoriken der Verführung und der Täuschung ebenso wie die Auslegung von Zeichen Verwirrung stiften, verzeichnet es schlicht und einfach und ohne jeden Schmuck in gleichsam polizeilicher Nüchternheit den Datenniederschlag von Don Giovannis Begehren. Es ist damit gerade aufgrund der Spaltung zwischen >Autor< und >SchreiberDon Giovanni < manifestiert. Die kontingenten Manifestationen des Begehrens in Schrift zu verwandeln, ist eine Aufgabe, die Leporello »beinahe« zum »Organ« 3 3 9 Don Juans werden läßt, zu einem Organ des Erzählens. Dennoch, und das ist der fur diesen Zusammenhang nicht unwesentliche Kniff von Kierkegaards Lektüre, ist der Diener näher am persönlichen Bewußtsein. Er brauchte sich lediglich seiner Relation zu Don Juan vergewissern zu können, um diesem — der Figuration »unmittelbaren] Leben[s] — als solches gegenübertreten zu können. Was ihn daran hindert, ist die nur durch die Musik erklärliche erotische Gewalt, mit der sein Herr ihn derart an sich bindet, daß er ganz und gar »durchsichtig«, ein Resonanzkörper für die Stimme seines Herrn bleibt. Eine Verstrickung, die sich auch in der schieren Nachträglichkeit seiner Aufgabe ausdrückt: Nicht nur die Gesetze des Katalogs zwingen Leporello dazu, dem Erleben Don Giovannis buchstäblich hinterherzulaufen. Dessen Ökonomie der Zeitlichkeit ist mit der Inszenierung des Festes bestimmt, das als reine Präsenz im Ausnahmezustand eines »hingerissene[n] Einge-

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Differenz benennt, die seine Schreibpraxis des reinen Zahlens von der ihrerseits codifizierten Sprache des Herzens trennt. Mozart/da Ponte 1 7 8 7 / 1 9 8 9 , S. i2off. Kierkegaard 1 8 4 3 / 1 9 5 0 - 1 9 7 4 , I, S. 86: »Entdeckung und Sieg sind hier eines; ja, in gewissem Sinne darf man sagen, er [Don J u a n ] vergesse die Entdeckung über dem Sieg, oder die Entdeckung liege hinter ihm, und er überlasse sie daher seinem Diener und Sekretär Leporello«. Diese und die folgenden Zitate nach Kierkegaard 1 8 4 3 / 1 9 5 0 - 1 9 7 4 , I, S. I35f.

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nommensein[s] vom Anblick« den Teilnehmerinnen die »positive Möglichkeit« bieten soll, »ganz bei etwas dabei zu sein« 340 — ein Ausnahmezustand, dessen verwirrendes und durch die strategische Vervielfachung der Rhythmen auf die Körper übergreifendes Potential der List des Verführers nicht verschlossen bleibt. 341 Leporello dagegen wird diesen Exzeß der Zeitlichkeit, das »Bild des sich ins Unendliche erstreckenden Augenblicks«, 342 im Nachhinein — »Doman mattina« 343 — wieder in die Chronologie des Katalogs zu überfuhren haben; Don Giovanni »nimmt sich des ganzen Kirchspiels an, und doch kostet es ihn vielleicht nicht so viel Zeit, als Leporello auf dem Kontor nötig hat.« 344 Die »epische Übersicht«, 345 die sich aus dieser nachträglichen Schriftlichkeit herstellen läßt, gehört einer anderen Ordnung der Zeit an als das (Er-)Leben, das sie darzustellen hat. Dieses Verhältnis ist es aber, das in Walsers Textur problematisiert wird. Denn die Spaltung in den erlebenden und schriftstellernden »Walser«, den etwa das Prosastück >Walser über Walser< akzentuiert hat, bleibt als Grunddisposition zwar bewahrt, die Zeitlichkeit des Schreibens aber erhält ihre eigene Gesetzmäßigkeit und befreit sich so aus dem Verhältnis nachträglicher Abhängigkeit. Nicht zufällig erscheint die Figur Don Juans hier unmittelbar anschließend an die Konzeption einer Erotik des Schreibens (vgl. 299/I, i5ff.) und nach der programmatischen Feststellung, auch anläßlich von »wahrheitsmäßigen Berichtablegungen« sei »irgend etwas Kompositionelles« (299/I, i i f . ) auf Seiten des Schreibens notwendig. Nach diesem Modell lassen sich keine Epen mehr erzählen; das Erlebnis ist >hinter< dem Geschriebenen und unabhängig davon nicht wiederzufinden. Was das Text-Ich, das »Journal« schreibt, vom »Expeditionssekretär« 346 Leporello und damit die Poetologie der vorliegenden Textur von einer bloßen Verzeichnung von Erlebnisdaten unterscheidet, ist diese Umkehrung im Verhältnis von Schreiben und Zeit ebenso wie die Umkehrung der Beziehung zwischen Erlebnis und Verschriftung. Kein Katalog mehr vermag die Manifestationen des Begehrens festzuhalten, zu ordnen, zählbar zu machen. Die Szene des Schreibens und die Funktion der Schrift selbst werden erotisch besetzt; das schreibende Ich hat sein Bewußtsein 340 341

342 343 344 345 346

Gadamer 1960, S. 1 1 8 . »La danza sia,/ Chi'l minuetto,/ Chi tanto,/ Dall'altro canto/ Con questa 1989, S. 78). Küchenhoff 1989, S. 1 1 6 . Mozart/da Ponte 1787/1989, S. 78. Kierkegaard 1 8 4 3 / 1 9 5 0 - 1 9 7 4 , I, S. Kierkegaard 1 8 4 3 / 1 9 5 0 - 1 9 7 4 , I, S. Schneider 1992, S. 360.

la follia,/ Chi l'alemanna/ Farai ballar./ Ed io frate quella/ Vo'amoreggiar« (Mozart/da Ponte 1787/

109. 143.

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erlangt u n d b e k r ä f t i g t nicht länger seine N a c h t r ä g l i c h k e i t als O r g a n erlebender S u b j e k t i v i t ä t — » H a n d in H a n d « ist das Schreiben m i t d e m L e b e n » v e r f l o c h t e n « ( 2 9 6 / I , 1 7 ) , u n d diese V e r f l e c h t u n g lenkt die » H ä n d e « , die »schreibt« ( 4 2 6 / 1 , 49). D a m i t sind auch die N o t w e n d i g k e i t e n , w e n n nicht M ö g l i c h k e i t e n jener R o l l e n v e r t e i l u n g h i n f ä l l i g g e w o r d e n , w e l c h e die literarischen Inszenierung e n des D o n J u a n - K o m p l e x e s als V e r h ä l t n i s zur S c h r i f t aufweisen. N o c h K i e r k e g a a r d , der die R e l a t i o n z w i s c h e n D o n G i o v a n n i u n d Leporello als in der B e g r i f f l i c h k e i t v o n S u b j e k t i v i t ä t n i c h t g a n z >entzweite< u n d u n t e r s c h w e l l i g narzißtische herausgestellt h a t , 3 4 7 stellt seiner eigenen literarischen B e a r b e i t u n g der P r o b l e m a t i k — i m >Tagebuch des Verfuhrers< m i t d e m intertextuell vorbelasteten N a m e n J o h a n n e s , der diese E n t z w e i u n g a u f h e b t — eine g a n z e Serie v o n Filtern voran, die allesamt das V e r h ä l t n i s des M i t g e t e i l t e n zur S c h r i f t betreffen. N i c h t g e n u g d a m i t , daß eine H e r a u s g e b e r f i g u r das Skandalöse der M i t t e i l u n g m i l d e r n soll, w i r d noch deren S c h r e i b - S z e n e v e r d o p p e l t (was dieses S e g m e n t v o n >Entweder — Odermise en abyme< des g a n z e n B u c h e s w e r d e n l ä ß t ) . 3 4 9 W a s w i r lesen, ist die W i e d e r g a b e einer » s o r g f ä l t i g [ e n ] R e i n s c h r i f t « , die » v o n der f l ü c h t i g e n A b s c h r i f t , die ich m i r 347

»Die wichtigste Person des Stücks nächst Don Juan ist offenbar Leporello. Das Verhältnis zu seinem Herrn wird eben durch die Musik erklärlich, ist ohne sie unerklärlich. Gesetzt Don Juan ist eine reflektierte Persönlichkeit, so wird Leporello beinahe ein noch größerer Schurke als er [Hervorhebung SK], und es wird unerklärlich, daß Don Juan so große Gewalt über ihn zu üben vermag [...]. Halten wir hingegen fest, daß Don Juan unmittelbares Leben ist, so ist es leicht zu verstehen, daß er entscheidenden Einfluß auf Leporello zu üben vermag, ihn sich assimiliert, derart, daß Leporello beinahe ein Organ Don Juans wird [Hervorhebung SK], Leporello ist in gewissem Sinne näher daran als Don Juan, ein persönliches Bewußtsein zu werden; um es aber zu werden, müßte er sich über sein Verhältnis zu diesem klar werden, doch dies vermag er nicht, er vermag den Zauber nicht zu brechen. Hier gilt wiederum: sobald Leporello sich in dramatischer Erwiderung ausspricht, muß er uns durchsichtig werden. Auch in Leporellos Verhältnis zu Don Juan ist etwas Erotisches; es ist da eine Gewalt, mit der Don Juan ihn verstrickt sogar gegen Leporellos Willen; in dieser Zweideutigkeit aber ist er musikalisch und Don Juan tönt fort und fort in ihm wider [Hervorhebung SK]« (Kierkegaard 1 8 4 3 / 1 9 5 0 - 1 9 7 4 , I, S. I34f.). 348 Craemer-Schroeder 1993, S. 90. 349 Vgl. das Vorwort von »Victor Eremita«, Kierkegaard 1 8 4 3 / 1 9 5 0 - 1 9 7 4 , 1 , S. 3 - 1 6 : Sowohl die von ihm herausgegebenen Papiere A's, der seinerseits als Herausgeber des >Tagebuchs< auftritt, werden in einem »Sekretär« gefunden. »Das letzte der Papiere von A ist eine Erzählung mit dem Titel: >Das Tagebuch des Verführersangestrebt sein, es ist dies für mich ein Evangelium, es ist dies für mich eine eiserne, eherne, steinerne oder marmorharte Vorschrift, | als wenn sie mir vom himmlischen Vater selbst erteilt worden wäre. Ein Zurück gibt es jetzt also nicht mehr sondern es existiert fur mich in dieser Beziehung bloß | noch ein befehlshaberisches, unweigerlichen Gehorsam als an der Tagesordnung ¿¿stehend erklärendes Vorwärts. O wie ungern ich dies alles einsehe, wie gern, mit | welch versilbertem oder vergoldetem oder vernickeltem Vergnügen ich gerade in diesem Augenblick, der mir um solchen lieben frommen Wunsches willen kostbar vorkommt, wieder solch | irgend eine vielleicht ganz einfältige, aber dafür vielleicht womöglich auch frohe lustige Geschichte erzählte, deren ich allerdings bei näherem Bedenken schon viele>sehr viele, vielleicht | überhaupt nur schon allzu viele verfaßt und in die weite Welt hinausgesandt habe, mir vermutlich meinen guten Ruf wenn nicht vollständig so doch zum Teil | verderbend. (426/I, 1 9 - 2 7 ) Die Kluft zwischen den gleichsam mosaischen Gesetzen, die eine »eiserne, eherne, steinerne oder marmorharte Vorschrift« für die Schriftstellerei postuliert, und dem verlockenden Glanz, der die Erzähllust mit »versilbertem oder vergoldetem oder vernickelten Vergnügen« ausstattet, ist eine stets neu zu überbrückende. Diese Aufgabe ist einfach nicht, und »deßwegen bebe ich ja so sehr und | bin um meiner geringen Kräfte willen in einem Meer von hin und herwogenden, wellenähnlichen Zweifeln, von denen ich h>nur hoffen kann, daß sie mich nicht verschlingen werden,

blick geschähe, mit solcher dramatischer Lebendigkeit, daß es einem unterweilen so ist, als ob alles unmittelbar vor den eignen Augen geschehe. Daß er das nun etwa getan hat, weil er mit diesem Tagebuch irgendeinen andern Zweck verfolgte, ist recht unwahrscheinlich; daß es fur ihn eine im strengsten Sinne rein persönliche Bedeutung gehabt hat, fallt in die Augen; und annehmen zu wollen, daß ich eine Dichtung vor mir habe, vielleicht sogar eine zum Druck bestimmte, verbietet sowohl das Ganze wie das Einzelne. Freilich hätte er bei der Herausgabe fur seine Person nichts zu befürchten brauchen; denn die meisten Namen sind so absonderlich, daß es nicht die geringste Wahrscheinlichkeit hat, daß sie etwa historisch seien; nur habe ich den Verdacht geschöpft, der Vorname möge historisch richtig sein, so, daß er selbst jederzeit sicher gewesen ist, die wirkliche Person wiederzuerkennen, wohingegen jeder Unbefugte durch den Familiennamen irregeführt werden mußte« (Kierkegaard 1 8 4 3 / 1 9 5 0 - 1 9 7 4 , I, S. 327).

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was ich für außerordentlich schade hielte« (299/I, 1 3 — 1 5 ) . Die Bedrohungen und Zweifel, die das Text-Ich dabei zum >Beben< bringen, bilden einmal mehr mimetisch die Bewegung des Schreibverlaufs ab. Das -ichsieht sich von den »Hand in Hand« (296/I, 1 7 ) mit dem Schreiben artikulierten Ansprüchen in ein »Meer von hin und herwogenden« - der horizontalen Linearität der Zeile folgenden — und »wellenähnlichen« — das vertikale Auf und A b der Buchstabenhöhen zur Erscheinung bringenden — »Zweifeln« in Frage gestellt, in denen es (sich) wahrnimmt und, nicht nur ironisch, bricht. In dieser Brechung, die nicht der Bewegung eines sich selbst gegenständlich werdenden Bewußtseins zu entsprechen scheint, wie es die Philosophie der Subjektivität spätestens seit Hegel verlangt, sondern einer gewissermaßen >fraktalen< Verschiebung der Perspektivität unterliegt, in dieser Brechung wiederholt sich das permanente Oszillieren einer Verdoppelung, die Poetik und Figuralität des Schreibvorgangs ebenso afïiziert wie das von ihm zum Erscheinen gebrachte Produkt: Schriftzug und Text. Der Riß, der sich dadurch im Vorgang des Schreibens, in seiner Doppelgestaltigkeit als materiale Geste und symbolische Produktion, abzuzeichnen beginnt, kann suspendiert werden dann, wenn dabei >an< ihn >vergessen< wird und das Schreiben so — als >libidinöses< Verhältnis zu sich selbst und dem in ihm Vergessenen — eine im Wortsinn schlafwandlerische Sicherheit erlangt: Walsers Entwurf einer Erotik des Schreibens, die mit ihren Bleistifttänzen auf dem »Schreibpapier« 354 das ehrfurchterheischende Monumentalgebäude der »Vorschriften« ebenso umzeichnet und umkritzelt wie den täuschenden Oberflächenglanz des reinen Vergnügens: A l l g e m e i n gesagt, glaube ich, daß derjenige Schriftstellersmann oder Bediente im I Dienste des Schriftwesens umso>am sichersten und unbefangensten schreibt, der es m i t Freuden, der es gerne und voller Lust und Liebe tut, dem das Schreiben das Schweben über die zahlreichen Schwierigkeiten hin, die man vielleicht m i t einer A r t von Abgründigkeiten vergleichen kann, ein Vergnügen, und zwar ein möglichst I auserlesenes, seltenes, bereitet. (299/I, 1 5 — 1 8 )

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»Prachtvoll, wie meine Dichterhand übers Schreibpapier hinfliegt, als gliche [sie] einem begeisterten Tänzer« (BG 4, 199). - Vgl. dazu Utz 1998, S. 4 6 1 - 4 7 3 .

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