Öffentliche Finanzen in der Demokratie: Eine Einführung in die Finanzwissenschaft 9783800653485, 3800653486

Dr. Charles B. Blankart ist Professor em. für öffentliche Finanzen an der Humboldt-Universität zu Berlin und Ständiger G

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Öffentliche Finanzen in der Demokratie: Eine Einführung in die Finanzwissenschaft
 9783800653485, 3800653486

Table of contents :
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Zum Inhalt / Zum Autor
Titel
Vorwort zur 9. Auflage
Vorwort zur 1. Auflage
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
Teil I: Ökonomische Theorie des Staates
1. Kapitel: Die Annahmen der Finanzwissenschaft
A. Homo oeconomicus oder Verhaltensökonomik?
B. Die Kernannahmen des Homo oeconomicus
1. Die Annahme des methodologischen Individualismus
2. Individuen maximieren ihren Nutzen
3. Die Annahme gegebener Präferenzen und veränderlicher Beschränkungen
4. Die Annahme der Existenz relevanter Alternativen
C. Versicherungen
D. Homo oeconomicus in der Politik: Ein praktisches Beispiel
1. Finanzwissenschaftliche Entscheidungsanalyse
2. Finanzwissenschaftliche Wirkungsanalyse
E. Grenzen des Modells vom Homo oeconomicus
1. Wo das ökonomische Verhaltensmodell versagt, obwohl es funktionieren sollte: Das Beispiel des AKW-Schutzes
2. Wo das ökonomische Verhaltensmodell funktioniert, obwohl es versagen sollte
F. Zusammenfassung des 1. Kapitels
Wichtige Begriffe des 1. Kapitels
Literatur zum 1. Kapitel
2. Kapitel: Finanzwissenschaftliche Theorien
A. Finanzwissenschaftliche Theorien früherer Jahrhunderte
1. Erwerb und Schutz
2. Die Macht der Römer
3. Das römische Verwaltungspaket
4. Privatisierung der Sicherheit im Mittelalter
5. Kriegerische Machtmonopole
6. Verfassungsvertrag und Kameralismus
B. Merkantilismus
C. Das große Schisma in der Finanzwissenschaft
1. England und das Zeitalter von Adam Smith
2. Die Theorie des gegebenen Staatshaushalts nach J. St. Mill
3. Verlagerung der Diskussion in die kontinentaleuropäische Diaspora
4. Das Problem der Nachfrage nach öffentlichen Gütern
D. Zusammenfassung des 2. Kapitels
Wichtige Begriffe des 2. Kapitels
Literatur zum 2. Kapitel
3. Kapitel: Die ökonomische Logik des Staates
A. Warum ist der Staat überhaupt notwendig?
B. Anarchie
C. Der Verfassungsvertrag
1. Der Rechtsstaat
2. Der Leistungsstaat
3. Verfassungsreform: Norm und Wirklichkeit
D. Ökonomische Theorie der Verfassung versus Theorie der sozioökonomischen Evolution
1. Einige kritische Bemerkungen zur ökonomischen Theorie des Verfassungsvertrags
2. F. A. v. Hayeks Theorie der sozioökonomischen Evolution
E. Wie Finanzpolitik von den Regeln abhängt: Ein Ausblick
F. Zusammenfassung des 3. Kapitels
Wichtige Begriffe des 3. Kapitels
Literatur zum 3. Kapitel
4. Kapitel: Wann handelt der Staat?
A. Die Marktversagenstheorie
1. Private Güter
2. Öffentliche Güter
3. Mautgüter und das Problem des natürlichen Monopols
4. Allmendegüter
5. Private Güter, öffentliche Güter, Mautgüter und Allmendegüter im Vergleich
6. Grenzen der Marktversagenstheorie
B. Eine Theorie der politischen Aktion
1. Marktversagen und kollektive Entscheidungen (Fall 1 und 2)
2. Marktversagen und kollektive Entscheidungen (Fall 3 und 4)
C. Meritorische und demeritorische Güter
D. Vorschläge zur Produktion öffentlicher Güter
E. Exkurs: Aspekte der Hochschulbildung
1. Hochschulbildung und externe Effekte
2. Hochschulbildung und Verteilung
3. Das Verteilungsproblem und die Politische Ökonomik der Hochschulpolitik
F. Zusammenfassung des 4. Kapitels
Wichtige Begriffe des 4. Kapitels
Literatur zum 4. Kapitel
5. Kapitel: Gerechtigkeit
A. Entscheidung über Regeln und Entscheidung innerhalb von Regeln
B. Umverteilung durch Mehrheitsbeschluss
C. Flüchtlinge
D. Die Kuznetskurve
E. Zusammenfassung des 5. Kapitels
Wichtige Begriffe des 5. Kapitels
Literatur zum 5. Kapitel
6. Kapitel: Was kosten öffentliche Güter?
A. Der Wert öffentlicher Güter
B. Opportunitätskosten bei gegebener Wertschätzung für öffentliche Güter
1. Partialanalytischer Ansatz
2. Allgemeiner Gleichgewichtsansatz
C. Gegebene Opportunitätskosten, unterschiedliche Präferenzen
D. Zusammenfassung des 6. Kapitels
Wichtige Begriffe des 6. Kapitels
Literatur zum 6. Kapitel
7. Kapitel: Wie kommen staatliche Budgetentscheidungen zustande?
A. Viele Entscheidungsträger – ein Budget
B. Verhandlungen, wenn nur wenige Individuen betroffen sind
C. Mehr Individuen: Der Fall der direkten Demokratie
1. Das Grundmodell
2. Mehrgipflige Präferenzen und Instabilität in der direkten Demokratie
3. Eine Einschätzung zyklischer Mehrheiten
D. Von Abstimmungen zu Wahlen. Von der direkten zur repräsentativen Demokratie
1. Der politische Unternehmer: Die Idee von A. Downs
2. Stabilität des politischen Wettbewerbs im Grundmodell von A. Downs
3. Mehrdimensionale Parteiprogramme
4. Feste Wahltermine führen zu politischen Konjunkturzyklen
5. Rationale Erwartungen im politischen Konjunkturzyklus
6. Politischer Konjunkturzyklus, Parteigänger-Theorie und Theorie rationaler Erwartungen im Vergleich
E. Wählen Wähler rational?
Wichtige Begriffe des 7. Kapitels
Literatur zum 7. Kapitel
8. Kapitel: Wie groß ist der Staat?
A. Adolf Wagner: ein großer Finanzwissenschaftler
B. Die Erfassung des Staates im Nationaleinkommen als Wohlfahrtsmaß
C. Die Erfassung des Staates im Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten als Leistungsmaß
D. Staatsquoten in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
E. Ist der Staat zu groß oder zu klein?
F. Zusammenfassung des 8. Kapitels
Wichtige Begriffe des 8. Kapitels
Literatur zum 8. Kapitel
9. Kapitel: Warum wächst der Staat?
A. Wagners Gesetz
B. Das Wachstum der Staatsausgaben in der direkten Demokratie
1. Die Einkommenselastizität der Nachfrage nach öffentlichen Leistungen
2. Die Steuerpreiselastizität der Nachfrage nach öffentlichen Leistungen
3. Das Bevölkerungswachstum
4. Umverteilung
5. Was sagen die Schätzergebnisse zum Medianwählermodell?
C. Erklärung des Staatsausgabenwachstums in einer repräsentativen Demokratie
1. Stimmentausch
2. Mancur Olsons Theorie der Interessengruppen
3. Amilcare Puviani und die Fiskalillusion als Beschleuniger der Staatsausgaben
4. Diäten und andere politische Einkommen
5. Gibt es ein Ende des Wachstums der Staatsausgaben?
D. Zusammenfassung des 9. Kapitels und Schlussfolgerungen
Wichtige Begriffe des 9. Kapitels
Literatur zum 9. Kapitel
Teil II: Steuern und Staatsschuld
10. Kapitel: Wie soll besteuert werden?
A. Besteuerungsprinzipien im Überblick
B. Das Äquivalenzprinzip
1. Gleiche Individuen
2. Individuen mit unterschiedlichen marginalen Zahlungsbereitschaften
3. Äquivalenzprinzip und Umverteilung
C. Das Leistungsfähigkeitsprinzip
D. Die politische Ökonomie der Steuervielfalt
E. Zusammenfassung des 10. Kapitels
Wichtige Begriffe des 10. Kapitels
Literatur zum 10. Kapitel
11. Kapitel: Ein ordentliches Steuersystem auf Wegen und Abwegen
A. Eckpfeiler eines guten Steuersystems
B. Die Wohlfahrtsökonomik der Besteuerung
1. Weinsteuer, Lohnsteuer und Subventionen
2. Lohnsteuern und Subventionen
3. Zweigütermodelle
4. Wenn nicht alle Güter besteuert werden können
5. Corlett-Hague-Regel
C. Wie viel Steuern nimmt sich der Staat?
1. Verführerische inverse Elastizitätsregel
2. Wie viele Bemessungsgrundlagen sollen einer Regierung zugebilligt werden?
D. Optionen für desillusionierte Bürger: Steuerhinterziehung und Schattenwirtschaft
1. Bürger weichen auf Steuerhinterziehung und Schattenwirtschaft aus
2. Steuerhinterziehung
3. Schattenwirtschaft
4. Steuerflucht
E. Die Eschatologie der Besteuerung
F. Zusammenfassung des 11. Kapitels
Wichtige Begriffe des 11. Kapitels
Literatur zum 11. Kapitel
12. Kapitel: Grundsteuer und Gewerbesteuer: Der Preis der Infrastruktur
A. Die Grundsteuer als Wettbewerbspreis
B. Steuerertragsmaximierung unter Wettbewerbsbedingungen
C. Grundsteuer als Alleinsteuer
D. Geschichte der Grundsteuer
E. Die funktionelle Einkommensverteilung unter der Grundsteuer
F. Eine Darstellung der Gewerbesteuer
1. Quantitative Regeln
2. Qualitative Regeln
G. Zusammenfassung: Grundsteuer und Gewerbesteuer
Wichtige Begriffe des 12. Kapitels
Literatur zum 12. Kapitel
13. Kapitel: Die Körperschaftsteuer
A. Hase und Igel
B. Die Wohlfahrtsökonomie der Körperschaftsteuer
1. Körperschaftssteuersysteme nach ihren Bemessungsgrundlagen
2. Körperschaftssteuersysteme nach ihren Steuersätzen
3. Wirkungen der Körperschaftsteuersysteme auf die Finanzplanung
4. Wirkungen der Körperschaftsbesteuerung auf die Kapitalallokation
5. Kein Sieger in der Schönheitskonkurrenz
C. Das Körperschaftsteuerspiel
1. Der Fiskus verdrängt die Arbitragefreiheit
2. Die Interventionsspirale: Ein Prozess ohne Ende?
D. Zusammenfassung des 13. Kapitels
Wichtige Begriffe des 13. Kapitels
Literatur zum 13. Kapitel
14. Kapitel: Die persönliche Einkommensteuer
A. Einkommensteuern im Rechtsstaat und in der Wettbewerbsdemokratie
B. Das Modell von W. Hettich und St. L. Winer (1997)
1. Besteuerung und Wählerzustimmung vom Wahlkampf her (von links nach rechts) betrachtet
2. Vom Ergebnis her (von rechts nach links) gesehen
C. Die Einkommensbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland
1. Die Einkommensteuergesetzgebung
2. Einkommensteuerreformen
D. Die Steuerreformbewegung in Deutschland
E. Geringverdiener und Sozialtransfers
1. Die frühere Sozialhilfe
2. Tobins Modell
3. Friedmans Modell
4. Das Modell Hartz IV
5. Zeitlich befristete und zeitlich unbefristete Einkommenszuschüsse
F. Familienbesteuerung
1. Ehegattenbesteuerung
2. Kinderlastenausgleich
G. Zusammenfassung des 14. Kapitels
Wichtige Begriffe des 14. Kapitels
Literatur zum 14. Kapitel
15. Kapitel: Konsumsteuern
A. Bird oder Becker?
B. Die relative Effizienz der Konsumsteuer
1. Eigenschaften der Konsumsteuer
2. Arten der Umsatzbesteuerung
3. Eigenschaften speziell der Mehrwertsteuer vom Konsumtyp
4. Wenn Steuern Leistungen ohne Gegenleistung sind
5. Wenn Steuern Leistungen für eine Gegenleistung darstellen
5. Mehrwertsteuerbetrug
C. Das internationale Mehrwertsteuerspiel
1. Wie die Mehrwertsteuer zur größten Steuer der Welt wurde
D. Zusammenfassung des 15. Kapitels
Wichtige Begriffe des 15. Kapitels
Literatur zum 15. Kapitel
16. Kapitel: Wer trägt die Steuern?
A. Was die Klassiker der Nationalökonomie sagen
B. Wunsch und Wirklichkeit der Steuerinzidenz
1. Nur Individuen können Steuern tragen
C. Steuerinzidenz im partiellen Gleichgewicht
2. Sozialversicherungsbeiträge: Eine Anwendung der Steuerinzidenztheorie
3. Produktsteuern im Monopol und Oligopol
4. Steuern auf Residualeinkommen
5. Besteuerung des mobilen Kapitals
D. Steuerinzidenz im allgemeinen Gleichgewicht
1. Die Annahmen des Modells von A. C. Harberger
2. Verschiedene Steuern und ihre Wirkungen
3. Das Harberger-Modell in der Empirie
E. Zusammenfassung des 16. Kapitels
Wichtige Begriffe des 16. Kapitels
Literatur zum 16. Kapitel
17. Kapitel: Was kosten Staatsschulden?
A. Die allgemeine Gleichgewichtstheorie des Zinses
1. Kapital ist knapp
2. Generationenbilanzen
3. Die kameralistische Buchführung
4. Wie viel Schulden kann ein Staat tragen: Das Problem der Schuldenklemme
5. Schuldenbremsen
6. Wie sollen neue und bestehende Staatsschulden bewältigt werden? Das Beispiel von England 1814/15
7. Unvollkommener Kapitalmarkt: Die Stellvertretertheorie
B. Ludwig von Mises’ Theorie der Staatsschuld
C. Temporale Staatsschuldentheorie
1. Hilberts Weltraum-Hotel
2. Dezentrale Altersvorsorge
3. Angebot und Nachfrage nach Kapital bei C. C. von Weizsäcker (2011, 2015)
4. Sparen und Investieren – Einst und jetzt
5. Helikoptergeld?
D. Schlussfolgerungen aus dem 17. Kapitel: Eine neue Schuldenbremse?
Wichtige Begriffe des 17. Kapitels
Literatur zum 17. Kapitel
18. Kapitel: Alterssicherung
A. Zwei Teile der sozialen Sicherung
B. Die Rentenversicherung kann eine ganz normale Versicherung sein
C. Wie entscheidet ein Wähler in einer direkten Demokratie über ein neu einzuführendes Rentenversicherungssystem?
1. Überlappende Generationen
2. Die Entscheidung eines jungen Erwerbstätigen
3. Die Entscheidung eines älteren Erwerbstätigen und Rentners
D. Rentenpolitik in einer repräsentativen Demokratie: Das Beispiel Deutschlands
1. Die Einführungsentscheidung
2. Die weitere Entwicklung der Rentenpolitik
E. Wieviel Rente steht einem Rentner zu?
1. Die Berechnung der Rente aus Entgeltpunkten und aktuellem Rentenwert
2. Wie soll der Finanzierungsengpass überwunden werden?
F. Eine politische Ökonomie der Rentenreform
G. Rentenbesteuerung
H. Schlussfolgerungen
Wichtige Begriffe des 18. Kapitels
Literatur zum 18. Kapitel
19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung
A. Gesundheit, ein fast ganz normales Gut
1. Die vier Probleme im Überblick
2. Die vier Probleme des Marktes für Gesundheit mehr im Detail betrachtet
B. Gesundheitsversorgung durch Versicherung zu risiko-orientierten Beiträgen
1. Wie kann Wettbewerb unter Krankenversicherungen funktionieren?
2. Überwindung der angebotsinduzierten Nachfrage durch Wettbewerb unter Sachwaltern
3. Armut und Krankheit bei risikoorientierten Beiträgen
4. Trittbrettfahrer
5. Transferierbare Altersrückstellungen: Ein Sonderproblem
6. Zusammenfassung: Krankenversicherung zu risikoorientierten Prämien
C. Krankenversicherung zu Festprämien
1. Die Grundidee von Festprämien im Vergleich zu risikoorientierten Beiträgen
2. Risikostrukturausgleich
3. Prämienverbilligungen in der Schweiz
D. Gesundheitsversorgung durch Versicherung zu arbeitseinkommensabhängigen Beiträgen
1. Die Idee des Solidargemeinschaft
2. Der Ausgleich von Angebot und Nachfrage
3. Das Gesetz der zunehmenden Staatseingriffe
4. Die Gesundheitsreformen von 2008/2015 und der Gesundheitsfonds
5. Weitere Gesundheitsreform
E. Politische Ökonomie einer Gesundheitsreform
1. Reformen in Markt und Politik: Die Bedeutung des Status quo
2. Politologen bringen Vetospieler in die Diskussion
F. Zusammenfassung des 19. Kapitels
Wichtige Begriffe des 19. Kapitels
Literaturverzeichnis
Teil III: Probleme der Finanzpolitik
20. Kapitel: Mehrheiten schmieden
A. Wann lohnt sich ein gemeinsames Vorhaben?
B. Zusammenfassung des 20. Kapitels
Wichtige Begriffe des 20. Kapitels
Literatur zum 20. Kapitel
21. Kapitel: Nutzen-Kosten-Analyse
A. Das Preissystem nachvollziehen
B. Der Beitrag der privatwirtschaftlichen Investitionsrechnung zur Nutzen-Kosten-Analyse
C. Die Bewertung der Erträge nach der marginalen Zahlungsbereitschaft
D. Ansatzpunkte zur Erfassung der marginalen Zahlungsbereitschaft
1. Spuren der marginalen Zahlungsbereitschaft
2. Überblick über die verschiedenen Ansatzpunkte zur Erfassung der Wertschätzung
E. Exkurs: Ermittlung der individuellen Wertschätzung aus Komplementaritätsbeziehungen
F. Das Problem der Diskontrate
1. Private oder soziale Diskontrate?
2. Was kostet eine öffentliche Investition?
G. Weitere Probleme
1. Ungenutzte Ressourcen
2. Verteilungserwägungen
3. Kosten-Wirksamkeits-Analyse
H. Eine politische Nutzen-Kosten-Analyse?
1. Nutzen-Kosten-Analyse und Politik
2. Verwissenschaftlichung von Nutzen-Kosten-Analysen
I. Zusammenfassung des 21. Kapitels
Wichtige Begriffe des 21. Kapitels
Literatur zum 21. Kapitel
22. Kapitel: Öffentliche Unternehmen
A. Wettbewerbliche Ausnahmebereiche
B. Fünf typische Fälle der Regulierung
1. Zunehmende Skalenerträge
2. Freier Marktein- und -austritt, verbundene Kosten
3. Exkurs: Spitzenlastpreise
4. Freier Markteintritt, verbundene Kosten, versunkene Kosten
5. Teilmonopol, verbundene Kosten
C. Zusammenfassung des 22. Kapitels
Wichtige Begriffe des 22. Kapitels
Literatur zum 22. Kapitel
23. Kapitel: Öffentliche Aufträge
A. Private Werte und gemeinsame Werte (Private Values und Common Values)
B. Probleme bei Common Value-Auktionen
1. Der Fluch des Gewinners
2. Selbstkostenerstattungspreise
3. Bieterkartelle
C. Die Regeln der Auftragsvergabe in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Wirkungen
1. Das Regelwerk im Überblick
2. Die Vergabekriterien
3. Kartellgewinne: Eine Fata Morgana
D. Vergabefremde Ziele
E. Alternative Bieterverfahren
1. Der Zuschlag zum zweitgünstigsten Preis
2. Lizitation
3. Anreizverträge
F. Public Private Partnership
G. Gute Rahmenbedingungen sind wichtig
H. Zusammenfassung: Public Value-Auktionen
Wichtige Begriffe des 23. Kapitels
Literatur zum 23. Kapitel
24. Kapitel: Die staatliche Bürokratie
A. Max Weber und Franz Kafka
B. Sind Bürokraten glücklich?
C. Wer wird Politiker?
D. Die Kontrolle der öffentlichen Verwaltung
1. Verwaltungsinterne Kontrollen
2. Verwaltungsexterne Kontrolle: Die Rechnungshöfe
3. Wie kann die Effizienz der Rechnungshöfe erhöht werden?
F. Zusammenfassung des 24. Kapitels
Wichtige Begriffe des 24. Kapitels
Literatur zum 24. Kapitel
25. Kapitel: Umwelt und Klima
A. Das Umweltproblem
1. Zwei Individuen/zwei Unternehmen
2. Haftungsregeln
3. Der Staat als Hebamme I
4. Der Staat als Hebamme II
5. Was ist besser: Der Standard-Preis-Ansatz oder der Preis-Standard-Ansatz?
6. Zweckbindung der Umweltabgaben?
7. Auflagen
B. Klima
C. Zusammenfassung des 25. Kapitels
Wichtige Begriffe des 25. Kapitels
Literatur zum 25. Kapitel
Teil IV: Föderale Staaten und Staatengemeinschaften
26. Kapitel: Theorie des Föderalismus
A. Normative Theorie: Zentralisierung oder Dezentralisierung?
1. Was spricht dafür, einen Staat zu dezentralisieren?
2. Warum Zentralisierung?
3. Mehrebenen-Föderalismus: Wer soll in einem föderalen Staat was tun? Das Subsidiaritätsprinzip
B. Das Prinzip der institutionellen Kongruenz
1. Institutionelle Kongruenz nach Coase
2. Ausführung der Bundesgesetze
3. Institutionelle Kongruenz und fiskalische Äquivalenz
4. Was kann bei institutioneller Inkongruenz getan werden? Die Antwort nach Pigou
5. Coasianer gegen Pigovianer: Ein Fazit
C. Positive Theorie des Föderalismus
1. Der Wettbewerbsföderalismus und Effizienz
2. Die Annahmen des Tiebout-Modells
3. Föderalismus und Wirtschaftswachstum
4. Stabilitätsbedingungen des Föderalismus
5. Föderalismus und Zentralisierung
D. Die Verfassung des Föderalismus: Staatenbund, Einheitsstaat oder Bundesstaat?
E. Zusammenfassung des 26. Kapitels
Wichtige Begriffe des 26. Kapitels
Literatur zum 26. Kapitel
27. Kapitel: Die Europäische Union
A. Wie die Europäische Union entstand
B. Die französische und die deutsche Sicht von Europa 1957
C. Die EU-Freihandelsunion
1. Die Voraussetzungen der europäischen Freihandelsunion
2. Wie die Freihandelsunion in der Bevölkerung aufgenommen wurde
2. Das Europäische Währungssystem EWS
3. Wie sich der Euro in der Politik durchsetzte
D. Der Maastricht-Vertrag
E. Die Aufhebung der Nichtbeistandsklausel (No-Bailout-Klausel)
F. Ein Fazit der Rettungspolitik
G. Die Bankenunion
1. Grundsatz: Die Trennung von Solvenzregulierung und Geldpolitik
2. Der Anlass zur EU-Bankenregulierung
3. Lehren aus dem politischen Prozess zur Bankenunion
H. Zusammenfassung des 27. Kapitels
Wichtige Begriffe des 27. Kapitels
Literatur zum 27. Kapitel
28. Kapitel: Die Finanzordnung der Bundesrepublik Deutschland
A. Das Grundgesetz
1. Das Grundgesetz, eine Verfassung für Deutschland
2. Die Stunde null
3. Der Herrenchiemseer Verfassungskonvent
4. Der Parlamentarische Rat: Länder haben nur Haushaltsautonomie. Für die Steuerbelastung ist der Bund zuständig
5. „Die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder“, Art. 30 GG
6. Rent-Seeking
B. Der Länder-Finanzausgleich
1. Ausgangspunkt des Finanzausgleichs: örtliches Aufkommen
2. Erste Stufe des Finanzausgleichs
3. Zweite Stufe des Finanzausgleichs
4. Dritte Stufe des Finanzausgleichs
5. Vierte Stufe des Finanzausgleichs
6. Gesamtwirkung des deutschen Finanzausgleichs
7. Reform des deutschen Finanzausgleichs ab 2020: Eine Symptomtherapie
8. Ein einfaches Modell des Finanzausgleichs
C. Zusammenfassung des 28. Kapitels
Wichtige Begriffe des 28. Kapitels
Literatur zum 28. Kapitel
29. Kapitel: Die Schweiz
A. Die politische Ökonomie der Schweiz in historischer Perspektive
B. Die direkte Demokratie kommt
C. Steuerwettbewerb: Das Baldwin-Krugmansche Gesetz
D. Weshalb überleben Gemeinden und Kantone?
E. Der Finanzausgleich in der Schweiz
1. Horizontaler Finanzausgleich
2. Vertikaler Finanzausgleich
3. Bundesbeiträge
4. Mehrheitsfähiger und anschlussfähiger Finanzausgleich
F. Zusammenfassung des 29. Kapitels
Literatur zum 29. Kapitel
30. Kapitel: US-Föderalismus und deutscher Föderalismus im Vergleich
A. Die Vereinigten Staaten und Deutschland: Zwei Bundesstaaten im Vergleich
B. Das Verwaltungsprinzip in Deutschland
C. Das Autonomieprinzip in den USA
D. Gemeinden
Literatur zum 30. Kapitel
31. Kapitel: Brauchen die Deutschen ein neues Grundgesetz?
Literatur zum 31. Kapitel
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
Impressum

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Dieses Buch umfasst in systematischer Darstellung die gesamte Finanzwissenschaft: Theorie des Staates, Staatsausgaben, Steuern, Staatsverschuldung, Finanzpolitik, Nutzen-KostenAnalyse, Bürokratie, Gesundheitswesen, öffentliche Aufträge, Umwelt und Klima, fiskalischer Föderalismus in Theorie und Praxis in Europa, Deutschland, der Schweiz und den USA. Stimmen zur 8. Auflage: „Ein großartiges Lehrbuch der Finanzwissenschaft. Es umfasst nicht nur alle wichtigen Themen des Faches, sondern ist auch mitreißend geschrieben, hochaktuell und unglaublich detailreich.“ (Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Werner Sinn, Ludwig-Maximilians-Universität München) „Auch die 8. Auflage dieses etablierten Lehrbuchs bringt Neues und Wichtiges. Besonders spannend für die heutige Zeit sind die Kapitel über die Staatsverschuldung und den Staatsbankrott sowie über Föderalismus und Staatengemeinschaften. Sehr empfehlenswert.“ (Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bruno S. Frey, Universität Zürich) „Zur 8. Auflage seiner Finanzwissenschaft kann man Charles Blankart nur gratulieren. Das Buch bringt nicht nur die traditionelle Finanzwissenschaft, sondern es führt weiter in die politische Ökonomie ein. Ein Buch, das man Studierenden und Fachleuten dringend zur Lektüre empfehlen kann.“ (Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Bernholz, Universität Basel)

Öffentliche Finanzen in der Demokratie  9. A.

Dr. Charles B. Blankart ist Professor em. für öffentliche Finanzen an der HumboldtUniversität zu Berlin und Ständiger Gastprofessor an der Universität Luzern. Er ist Autor zahlreicher Publikationen auf den Gebieten der Politischen Ökonomie und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft.

Blankart

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Charles B. Blankart Öffentliche Finanzen in der Demokratie

Eine Einführung in die Finanzwissenschaft

„Warum der Staat nicht nur Probleme löst, sondern auch Probleme schafft, wird in Blankarts Lehrbuch sehr anschaulich und überzeugend dargestellt. Eine Pflichtlektüre für kritisch denkende Menschen.“ (Prof. Dr. Dr. h.c. Carl Christian von Weizsäcker, Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, Bonn)

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Zum Autor: Dr. Charles B. Blankart ist Professor em. für öffentliche Finanzen an der Humboldt-Universität zu Berlin und Ständiger Gastprofessor an der Universität Luzern. Er ist Autor zahlreicher Publikationen auf den Gebieten der Politischen Ökonomie und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft.

Öffentliche Finanzen in der Demokratie Eine Einführung in die Finanzwissenschaft

von

Dr. Charles B. Blankart Professor em. an der Humboldt-Universität zu Berlin Ständiger Gastprofessor an der Universität Luzern

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Vorwort zur 9. Auflage Was das Buch enthält

Dieses Buch umfasst in systematischer Darstellung die gesamte Finanzwissenschaft, von der Theorie des Staates und der Staatsausgaben über Steuern und Staatsverschuldung zur Finanzpolitik mit Nutzen-Kosten-Analyse, Bürokratie, mit Gesundheitswesen, öffentlichen Aufträgen, Umwelt und Klima, fiskalischem Föderalismus in Theorie und Praxis, in Europa, in Deutschland, in der Schweiz und in den USA. Die Analyse mündet im 31. Kapitel in die Frage: „Brauchen die Deutschen ein neues Grundgesetz?“ Wie sich das Lehrbuch gebrauchen lässt

Lehrende können sich an die Systematik des Buches halten und mit den Studierenden Schritt für Schritt die gesamte Finanzwissenschaft erarbeiten. Alternativ können sie einzelne Themen herausgreifen und den Lehrbuchtext als Grundlage für Seminare verwenden. Die Studierenden schreiben dann Hausarbeiten zu den ausgewählten Themen und können hierfür Leistungsnachweise erwerben. Um die zweite, selektive Verwendung des Buches zu verdeutlichen, werden nachfolgend sechs mögliche Seminarthemen vorgestellt. Als erstes Seminarthema bietet sich die Theorie der Anarchie an, wie sie von Thomas Hobbes (1651) vorgestellt worden ist. Hobbes kannte aus eigener Erfahrung die Gräuel der Anarchie als Krieg jedes gegen jeden. Er empfahl daher alles zu tun, um die Anarchie zu vermeiden oder zu überwinden. Die Menschen sollten sich der ordnenden Gewalt eines absoluten Herrschers unterwerfen, der die Anarchie durch Ordnung überwindet. Die Herrschaft des absoluten Herrschers ist für Hobbes die Rettung aus der Anarchie (Kapitel 3). Ein zweites Seminar könnte den Titel „Öffentliche Güter“ tragen. Die Klassiker der Nationalökonomie von Adam Smith bis John St. Mill kannten die öffentlichen Güter noch nicht; denn sie leiteten den Wert von Gütern nach der Arbeitswertlehre aus der in ihnen steckenden Arbeit ab. Erst mit der neoklassischen Revolution von Carl Menger, William St. Jevons und Léon Walras (1870 bis 1874) setzte sich zunächst für die privaten Güter die Erkenntnis durch, dass sich ihr Wert aus dem Nutzen, den sie stiften, ableitet. Von da an brauchte es aber noch einmal 20 Jahre, bis der subjektive Wert auch der öffentlichen Güter entdeckt wurde und eine Theorie der öffentlichen Güter entstand. Der Schwede Knut Wicksell zeigte (1896), dass sich ein öffentliches Gut lohnt, wenn alle Beteiligten bereit sind, die Kostenbeiträge aufzubringen, die insgesamt ausreichen, um das Gut zu finanzieren. Ist dies nicht möglich, so lohnt sich das Gut aus Wicksells individualistischer Perspektive offenbar nicht. Erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts erkannte Paul A. Samuelson (1954/55), dass es kein individualistisches Verfahren als den Markt gibt, welches das Problem des Angebots öffentlicher Güter zu lösen vermag. Werden stattdessen kollektive Entscheidungsverfahren

VIII

Vorwort zur 9. Auflage (z. B. Abstimmungen) angewandt, so verstricken sich die Abstimmenden in Widersprüchen und gelangen, wie K. Arrow (1954/55) gezeigt hat, nicht zu einem eindeutigen Ergebnis. Die Gesellschaft ist nicht in der Lage zu bestimmen, was sie will (4. und 6. Kapitel). Ein drittes Seminar könnte das Thema der Einkommensteuer tragen. Die rechtsstaatlichen Besteuerungsprinzipien von Schanz, Haig und Simons (1896-1938) treten heute in den Hintergrund vor Prinzipien einer mehrheitsfähigen Einkommensteuer. Doch was mehrheitsfähig ist, wechselt je nach Koalition. Folglich stellt sich die Frage: Gibt es eine Einkommensteuer, die sowohl mehrheitsfähig wie stabil ist? (14. Kapitel) Die Mehrwertsteuer könnte den Gegenstand eines vierten Seminars bilden. Diese Steuer ist aus der alten Umsatzsteuer, die alle Produktionsstufen erfasst hat, hervorgegangen. In den 1950er und 1960er Jahren wurde sie in Deutschland dem französischen Vorbild folgend zur Mehrwertsteuer umgestaltet, wodurch sie einen beispiellosen Höhenflug erfuhr. Die politische Ökonomie, die zu diesem Aufschwung geführt hat, blieb weitgehend im Dunkeln. Ist die Mehrwertsteuer so ertragsreich, weil der Staat so viel Geld braucht, oder erhält der Staat so viel Geld, weil er über die so erfolgreiche Mehrwertsteuer verfügt? (15. Kapitel) Die Staatsschuld kann Gegenstand eines fünften Seminars bilden. Staatsschulden sind Steuern nicht unähnlich. Sie stellen in die Zukunft verschobene Steuern dar. Der Preis der Zahlungsverschiebung ist der Zinssatz. Folglich geht es darum zu erklären, wie der Zinssatz für Staatsschulden zustande kommt. Das Angebot an leihbaren Mitteln ergibt sich aus dem Alterssparen der Individuen, die immer mehr sparen, weil sie länger leben; die Nachfrage folgt dem Investitionsbedarf der Wirtschaft. Bei geringer Kapitalintensität der Wirtschaft ist der Kapitalbedarf der Wirtschaft gering und der Zins c. p. niedrig. Sollte der Kapitalbedarf der Wirtschaft einmal wieder ansteigen, so kann auch der Zinssatz wieder ansteigen. Hierzu gehen die Meinungen der Theorie auseinander (17. Kapitel). Als weiteres Seminarthema eignet sich sechstens der Föderalismus. Individuen versuchen gar nicht, ihre Präferenzen (wie im zweiten Seminarthema) umfassend zu aggregieren, sondern sie gruppieren sich in Gebietskörperschaften, welche sich ähnlich wie Unternehmen spezialisieren. Gebietskörperschaften sind nicht nur durch Steuern und Staatausgeben, sondern durch Kredite verknüpft. Es gibt drei Arten von Kreditverknüpfungen: Im „Integrationssystem“ bestimmt die übergeordnete Gebietskörperschaft, wie viel Kredite die untergeordnete Gebietskörperschaft aufnehmen darf. Die übergeordnete Ebene haftet für die Zahlung. Im „Autonomieprinzip“ entscheidet die untergeordnete Gebietskörperschaft selbst über den Umfang ihrer Verschuldung. Verschuldungsdisziplin wird durch den Kapitalmarkt durchgesetzt. Der Kapitalmarkt entscheidet über die Grenzen der Verschuldung. Im „Mischsystem“, z. B. dem Euro-System, sind die Verantwortlichkeiten verwischt, Kreditverträge lassen sich nicht durchsetzen. Der Föderalismus mündet in eine Transferunion, in der jeder für jeden haftet und das Kreditvolumen explodiert (Kapitel 26 bis 29).

Vorwort zur 9. Auflage Wie das Lehrbuch entstanden ist

Die vorliegende 9. Auflage sollte nach dem Wunsch des Verlags in einer gekürzten Version der 8. Auflage bestehen. Doch es stellte sich bald heraus, dass Kürzen nicht möglich ist, ohne das Buch neu zu schreiben. Dieses Vorhaben erforderte mehr Zeit als erwartet. Insbesondere die Teile über Steuern und Staatsverschuldung sowie der Föderalismus in der Europäischen Union, in Deutschland, in der Schweiz und in den USA wurden gänzlich neu verfasst. Allen Kapiteln vorangestellt ist die Geschichte der öffentlichen Finanzen sowie die Dogmengeschichte der Finanzwissenschaft. Diese Kapitel zeigen, weshalb wir heute im Modell des Homo oeconomicus denken und scheinbar attraktive Alternativen wie die des Homo psychologicus zurückstellen (1. und 2. Kapitel). Herrn Hermann Schenk vom Verlag Franz Vahlen gebührt großer Dank. Er hat mit unendlicher Geduld die immer wieder neuen Versionen der Kapitel gelesen und korrigiert. Das Buch stammt aus mehreren Vorlesungen an der Humboldt-Universität zu Berlin, an der Universität Luzern, an der Ludwig-Maxilimilians-Universität München und an der Bucerius Law School in Hamburg. Gedankt sei allen Studentinnen und Studenten, die durch beharrliche Fragen dazu beigetragen haben, den Problemen auf den Grund zu gehen. Gedankt sei auch den Kolleginnen und Kollegen im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium und im Finanzwissenschaftlichen Ausschuss des Vereins für Socialpolitik, insbesondere Carl Christian von Weizsäcker, Hans Werner Sinn, Peter Bernholz sowie Dennis C. Mueller, Bruno S. Frey sowie Gerrit Koester, Erik Fasten, Christoph Priesmeier, Florian Buck, Christian Müller, Wolf Schäfer, Niklas Potrafke, Christoph Schaltegger, Marc Winistörfer, David Stadelmann, Markus Höchstädter und Rudolf Blankart sowie Mats Geiden. Dank gebührt auch den Doktoranden und Tutoren David Ehmke, Christoph Schwarze, Konstantin Körner und Simon Lipot, Alexander Schley und Gregor Greiser und schließlich seinem früh und mitten in der Arbeit verstorbenen Kollegen Christian Kirchner. Alle ungelösten oder übersehenen Probleme gehen zu Lasten des Autors. Besonderen Dank möchte der Autor seiner lieben Frau Michaela Blankart aussprechen, die unzählige Stunden der Entbehrung mittragen musste, damit dieses Buch entstehen konnte. Ihr ist dieses Buch gewidmet. Stimmen zur vorangegangenen 8. Auflage

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Werner Sinn von der Ludwig-Maximilians-Universität und dem ifo-Institut München schreibt: „Ein großartiges Lehrbuch der Finanzwissenschaft. Es umfasst nicht nur alle wichtigen Themen des Faches, sondern ist auch mitreißend geschrieben, hochaktuell und unglaublich detailreich.“ Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bruno S. Frey scheibt: „Auch die [neue] Auflage dieses etablierten Lehrbuchs bringt Neues und Wichtiges. Besonders spannend für die heutige Zeit sind die Kapitel über Staatsverschuldung und Staatsbankrott sowie über Föderalismus und Staatengemeinschaften. Sehr empfehlenswert.“ Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Bernholz, Universität Basel, schreibt: „Zu seiner Finanzwissenschaft kann man Charles Blankart nur gratulieren. Das Buch bringt

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Vorwort zur 9. Auflage nicht nur die traditionelle Finanzwissenschaft, sondern es führt weiter in die politische Ökonomie ein, ohne die Staatsausgaben, Steuern, Defizitwirtschaft und Staatsschuldenkrise weder in Deutschland noch in Europa zu verstehen sind. Ein Buch, das man Studierenden und Fachleuten dringend zur Lektüre empfehlen kann.“ Prof. Dr. Dr. h.c. Carl Christian von Weizsäcker, Max-Plank-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern Bonn schreibt: „Warum der Staat nicht nur Probleme löst, sondern auch Probleme schafft, wird in Blankarts Lehrbuch sehr anschaulich und überzeugend dargestellt. Eine Pflichtlektüre für kritisch denkende Menschen.“ Auch die vorliegende 9. Auflage soll allen Leserinnen und Lesern eine inhaltsreiche und angenehme Lektüre sein. Berlin, den 24. Dezember 2016

Charles B. Blankart

Literatur K. Arrow, Social Choice and Individual Values (1951, 2nd ed. 1963) New York Wiley und Yale Univ. Pr. 1951, 2nd ed. 1963. R. M. Haig, The Concept of Income: Economic and Legal Aspects, in: R. M. Haig (Hrsg.), The Federal Income Tax, New York (Columbia Univ. Press) 1921. Th. Hobbes, Leviathan, ore the Matter, Forme & Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civill, 1651, lateinisch: Leviathan, Sive de materia, forma, et potestate civitatis ecclesiasticae et civilis, Amstelodami 1690, deutsch: Leviathan, hrsg. von I. Fetscher, Neuwied und Berlin (Luchterhand) 1966. W. St. Jevons (1871), The Theory of Political Economy, London: Macmillan. C. Menger (1871), Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, W. Braumüller, Wien. J. St. Mill (1863), Utilitarianism. Parker, Son, and Bourn: London. L. Walras (1874), Eléments d’économie politique pure ou théorie de la richesse sociale, Paris (Pichon et Duriaz-Anzias) 1874 to 1877, last ed. 1926. P. A. Samuelson (1954), The Pure Theory of Public Expenditure, in: Review of Economics and Statistics, 36, pp. 387-389. R. M. Haig, The Concept of Income: Economic and Legal Aspects, in: R. M. Haig (Hrsg.), The Federal Income Tax, New York (Columbia Univ. Press) 1921. G.  v.  Schanz, Der Einkommensbegriff und die Einkommensteuergesetze, Finanzarchiv, Bd. 13, 1896, S. 1–87. A. Smith (1776), The Wealth of Nations, Edinburgh: Peter Brown and Thomas Nelson 1836. K. Wicksell (1896, 1958), Finanztheoretische Untersuchungen nebst Darstellung und Kritik des Steuerwesens Schwedens, Jena (Gustav Fischer), teilweise übersetzt in: R. A. Musgrave and A. T. Peacock, Classics in the Theory of Public Finance, London: Macmillan pp. 72-118.

Vorwort zur 1. Auflage Ziel dieses Lehrbuchs ist eine methodisch geschlossene Darstellung der Finanzwissenschaft. Diese Disziplin umfasst im Wesentlichen zwei Elemente: die finanzwissenschaftliche Institutionenlehre und die wohlfahrtsökonomische Grammatik (von der Marktversagenslehre über die Stabilisierungspolitik bis zur optimalen Besteuerung). In der traditionellen Finanzwissenschaft führen diese beiden Teile zwei voneinander weitgehend unabhängige Eigenleben, so dass es den Studierenden oft schwer fällt, aus dem Dickicht der Institutionen den theoretischen Kern und umgekehrt aus der Theorie die Relevanz für die institutionelle Realität zu finden. Dieser Zwiespalt soll in dieser modernen Finanzwissenschaft überwunden werden. Als Brücke dient die Idee vom ökonomischen Rationalkalkül, die es konsequent auf die Institutionenlehre anzuwenden gilt. Das Buch bricht also nicht mit der traditionellen Lehre. Es gilt nur, bisher desintegrierte Teile zu einem geschlossenen Ganzen zusammenzubringen. Allerdings ergeben sich aus dieser Integration teilweise völlig neue Schlussfolgerungen. Es wird eine neue (wenn auch nicht die neue) Theorie entwickelt. Um dem Leser den Einstieg in die Materie zu erleichtern, wird jedes Kapitel als Problem aufgezogen und zu lösen versucht. Die Ergebnisse des neuen Ansatzes werden dabei jenen der traditionellen Finanzwissenschaft gegenübergestellt und miteinander verglichen. Das Buch versteht sich als praxisorientierte Theorie: Es soll gezeigt werden, wie der Staat in seinen Institutionen funktioniert. Angesprochen sind damit einmal die Studentinnen und Studenten der Finanzwissenschaft. Sie sollen in die Lage versetzt werden, sich in kritischer Distanz ein solides Fundament der herrschenden Lehre und ihrer wissenschaftlichen Neuinterpretation anzueignen. Zum anderen soll das Buch aber auch den Praktikern in Politik und Verwaltung dienen. Durch die ökonomische Durchleuchtung der Institutionen soll es ihnen den Zugang zum finanzwissenschaftlichen Denken erleichtern. Mein Dank gilt in erster Linie den Studentinnen und Studenten der Technischen Universität Berlin, die durch ihr kritisches Mitdenken und Fragen viel zur Gestaltung dieses Lehrbuchs beigetragen haben. Ferner danke ich meinen Mitarbeitern, Herrn Dr. Matthias W.Stoetzer, den Herren Dipl.-Volkswirten Pio Baake, Stefan Dolega und Oliver Perschau sowie Herrn cand. rer. pol. Rainald Borck für viele hilfreiche Gedanken. Sie haben die Entstehung des Werkes teilweise über viele Jahre begleitet und mit guten Ideen versehen. Wichtige konzeptionelle Fragen habe ich mit meinen Kollegen der Kirchberger Rencontres in verschiedenen Sitzungen besprochen. Mein Kollege Prof. Dr. Peter Zweifel hat sozusagen das ganze Manuskript in einer früheren Fassung gelesen und kommentiert. Ihm gebührt an dieser Stelle ganz besonderer Dank. Einzelne Kapitel wurden von den Kollegen Prof. Dr. Michael Adams, Jürgen Backhaus, Alfred Endres, Jörg Finsinger,

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Vorwort zur 1. Auflage Otto Gandenberger, Günter Knieps, Werner Pommerehne, Friedrich Schneider, HansWerner Sinn und Wolfgang Wiegard gelesen und mit Verbesserungsvorschlägen versehen. Herr Marcel Stutz M. A. hat dem Buch einige hilfreiche Gedanken zu den Anfangskapiteln beigefügt. Auch ihnen sei bestens gedankt. Noch verbleibende Mängel gehen jedoch ausschließlich zu meinen Lasten. Berlin, im Juli 1991

Charles B. Blankart

Inhaltsverzeichnis Vorwort zur 9. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Vorwort zur 1. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVII

Teil I: Ökonomische Theorie des Staates 1. Kapitel: Die Annahmen der Finanzwissenschaft A. Homo oeconomicus oder Verhaltensökonomik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Kernannahmen des Homo oeconomicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Annahme des methodologischen Individualismus . . . . . . . . . . . 2. Individuen maximieren ihren Nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Annahme gegebener Präferenzen und veränderlicher Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Annahme der Existenz relevanter Alternativen . . . . . . . . . . . . . . C. Versicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Homo oeconomicus in der Politik: Ein praktisches Beispiel . . . . . . . . . . 1. Finanzwissenschaftliche Entscheidungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Finanzwissenschaftliche Wirkungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Grenzen des Modells vom Homo oeconomicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wo das ökonomische Verhaltensmodell versagt, obwohl es funktionieren sollte: Das Beispiel des AKW-Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wo das ökonomische Verhaltensmodell funktioniert, obwohl es versagen sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Zusammenfassung des 1. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 1. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 1. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 4 4 4 6 7 8 10 10 11 12 12 13 13 14 14

2. Kapitel: Finanzwissenschaftliche Theorien A. Finanzwissenschaftliche Theorien früherer Jahrhunderte . . . . . . . . . . . 1. Erwerb und Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Macht der Römer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das römische Verwaltungspaket . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Privatisierung der Sicherheit im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kriegerische Machtmonopole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Verfassungsvertrag und Kameralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Merkantilismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Das große Schisma in der Finanzwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. England und das Zeitalter von Adam Smith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Theorie des gegebenen Staatshaushalts nach J. St. Mill . . . . . . . .

17 17 18 18 20 21 21 22 23 23 24

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Inhaltsverzeichnis 3. Verlagerung der Diskussion in die kontinentaleuropäische Diaspora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Problem der Nachfrage nach öffentlichen Gütern . . . . . . . . . . . . D. Zusammenfassung des 2. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 2. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 2. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25 26 27 28 28

3. Kapitel: Die ökonomische Logik des Staates A. Warum ist der Staat überhaupt notwendig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Anarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Der Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Leistungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfassungsreform: Norm und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Ökonomische Theorie der Verfassung versus Theorie der sozioökonomischen Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einige kritische Bemerkungen zur ökonomischen Theorie des Verfassungsvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. F. A. v. Hayeks Theorie der sozioökonomischen Evolution . . . . . . . . . E. Wie Finanzpolitik von den Regeln abhängt: Ein Ausblick . . . . . . . . . . . F. Zusammenfassung des 3. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 3. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 3. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Kapitel: Wann handelt der Staat? A. Die Marktversagenstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Private Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Öffentliche Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mautgüter und das Problem des natürlichen Monopols . . . . . . . . . . . 4. Allmendegüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Private Güter, öffentliche Güter, Mautgüter und Allmendegüter im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Grenzen der Marktversagenstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Eine Theorie der politischen Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Marktversagen und kollektive Entscheidungen (Fall 1 und 2) . . . . . . 2. Marktversagen und kollektive Entscheidungen (Fall 3 und 4) . . . . . . C. Meritorische und demeritorische Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Vorschläge zur Produktion öffentlicher Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Exkurs: Aspekte der Hochschulbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hochschulbildung und externe Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hochschulbildung und Verteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Verteilungsproblem und die Politische Ökonomik der Hochschulpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Zusammenfassung des 4. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 4. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 4. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47 47 48 49 52 54 54 55 55 57 57 58 59 59 61 63 64 65 65

Inhaltsverzeichnis

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5. Kapitel: Gerechtigkeit A. Entscheidung über Regeln und Entscheidung innerhalb von Regeln . . B. Umverteilung durch Mehrheitsbeschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Flüchtlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die Kuznetskurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Zusammenfassung des 5. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 5. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 5. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Kapitel: Was kosten öffentliche Güter? A. Der Wert öffentlicher Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Opportunitätskosten bei gegebener Wertschätzung für öffentliche Güter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Partialanalytischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeiner Gleichgewichtsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Gegebene Opportunitätskosten, unterschiedliche Präferenzen . . . . . . . D. Zusammenfassung des 6. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 6. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 6. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Kapitel: Wie kommen staatliche Budgetentscheidungen zustande? A. Viele Entscheidungsträger – ein Budget . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Verhandlungen, wenn nur wenige Individuen betroffen sind . . . . . . . . C. Mehr Individuen: Der Fall der direkten Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Grundmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mehrgipflige Präferenzen und Instabilität in der direkten Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eine Einschätzung zyklischer Mehrheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Von Abstimmungen zu Wahlen. Von der direkten zur repräsentativen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der politische Unternehmer: Die Idee von A. Downs . . . . . . . . . . . . . . 2. Stabilität des politischen Wettbewerbs im Grundmodell von A. Downs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mehrdimensionale Parteiprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Feste Wahltermine führen zu politischen Konjunkturzyklen . . . . . . 5. Rationale Erwartungen im politischen Konjunkturzyklus . . . . . . . . . 6. Politischer Konjunkturzyklus, Parteigänger-Theorie und Theorie rationaler Erwartungen im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Wählen Wähler rational? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 7. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 7. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Kapitel: Wie groß ist der Staat? A. Adolf Wagner: ein großer Finanzwissenschaftler . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 B. Die Erfassung des Staates im Nationaleinkommen als Wohlfahrtsmaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

XVI

Inhaltsverzeichnis C. Die Erfassung des Staates im Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten als Leistungsmaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Staatsquoten in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung . . . . . . . . . E. Ist der Staat zu groß oder zu klein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Zusammenfassung des 8. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 8. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 8. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110 112 114 115 115 116

9. Kapitel: Warum wächst der Staat? A. Wagners Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das Wachstum der Staatsausgaben in der direkten Demokratie . . . . . . 1. Die Einkommenselastizität der Nachfrage nach öffentlichen Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Steuerpreiselastizität der Nachfrage nach öffentlichen Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Bevölkerungswachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Umverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Was sagen die Schätzergebnisse zum Medianwählermodell? . . . . . . C. Erklärung des Staatsausgabenwachstums in einer repräsentativen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Stimmentausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mancur Olsons Theorie der Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Amilcare Puviani und die Fiskalillusion als Beschleuniger der Staatsausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Diäten und andere politische Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gibt es ein Ende des Wachstums der Staatsausgaben? . . . . . . . . . . . . D. Zusammenfassung des 9. Kapitels und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 9. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 9. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117 120 120 121 122 123 123 124 124 126 127 128 128 129 130 130

Teil II: Steuern und Staatsschuld 10. Kapitel: Wie soll besteuert werden? A. Besteuerungsprinzipien im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das Äquivalenzprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gleiche Individuen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Individuen mit unterschiedlichen marginalen Zahlungsbereitschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Äquivalenzprinzip und Umverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Das Leistungsfähigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die politische Ökonomie der Steuervielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Zusammenfassung des 10. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 10. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 10. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135 136 136 137 141 141 144 146 147 147

Inhaltsverzeichnis

XVII

11. Kapitel: Ein ordentliches Steuersystem auf Wegen und Abwegen A. Eckpfeiler eines guten Steuersystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Wohlfahrtsökonomik der Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Weinsteuer, Lohnsteuer und Subventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lohnsteuern und Subventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zweigütermodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wenn nicht alle Güter besteuert werden können . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Corlett-Hague-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Wie viel Steuern nimmt sich der Staat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verführerische inverse Elastizitätsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wie viele Bemessungsgrundlagen sollen einer Regierung zugebilligt werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Optionen für desillusionierte Bürger: Steuerhinterziehung und Schattenwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bürger weichen auf Steuerhinterziehung und Schattenwirtschaft aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerhinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schattenwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuerflucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Die Eschatologie der Besteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Zusammenfassung des 11. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 11. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 11. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149 150 150 152 155 159 162 164 164 164 166 166 166 169 173 173 175 176 176

12. Kapitel: Grundsteuer und Gewerbesteuer: Der Preis der Infrastruktur A. B. C. D. E. F.

Die Grundsteuer als Wettbewerbspreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuerertragsmaximierung unter Wettbewerbsbedingungen . . . . . . . . Grundsteuer als Alleinsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der Grundsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die funktionelle Einkommensverteilung unter der Grundsteuer . . . . . Eine Darstellung der Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quantitative Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Qualitative Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Zusammenfassung: Grundsteuer und Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 12. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 12. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180 181 182 183 183 184 184 185 186 186 187

13. Kapitel: Die Körperschaftsteuer A. Hase und Igel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Wohlfahrtsökonomie der Körperschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Körperschaftssteuersysteme nach ihren Bemessungsgrundlagen . . 2. Körperschaftssteuersysteme nach ihren Steuersätzen . . . . . . . . . . . . 3. Wirkungen der Körperschaftsteuersysteme auf die Finanzplanung 4. Wirkungen der Körperschaftsbesteuerung auf die Kapitalallokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kein Sieger in der Schönheitskonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XVIII

Inhaltsverzeichnis C. Das Körperschaftsteuerspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Fiskus verdrängt die Arbitragefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Interventionsspirale: Ein Prozess ohne Ende? . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zusammenfassung des 13. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 13. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 13. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

200 200 202 203 203 204

14. Kapitel: Die persönliche Einkommensteuer A. Einkommensteuern im Rechtsstaat und in der Wettbewerbsdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das Modell von W. Hettich und St. L. Winer (1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Besteuerung und Wählerzustimmung vom Wahlkampf her (von links nach rechts) betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vom Ergebnis her (von rechts nach links) gesehen . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Einkommensbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland . . . 1. Die Einkommensteuergesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einkommensteuerreformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die Steuerreformbewegung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Geringverdiener und Sozialtransfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die frühere Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tobins Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Friedmans Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Modell Hartz IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zeitlich befristete und zeitlich unbefristete Einkommenszuschüsse F. Familienbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ehegattenbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kinderlastenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Zusammenfassung des 14. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 14. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 14. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207 208 208 210 211 211 213 215 217 217 218 220 220 221 223 223 224 225 225 225

15. Kapitel: Konsumsteuern A. Bird oder Becker? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die relative Effizienz der Konsumsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eigenschaften der Konsumsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arten der Umsatzbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eigenschaften speziell der Mehrwertsteuer vom Konsumtyp . . . . . . 4. Wenn Steuern Leistungen ohne Gegenleistung sind . . . . . . . . . . . . . . 5. Wenn Steuern Leistungen für eine Gegenleistung darstellen . . . . . . 5. Mehrwertsteuerbetrug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Das internationale Mehrwertsteuerspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wie die Mehrwertsteuer zur größten Steuer der Welt wurde . . . . . . D. Zusammenfassung des 15. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 15. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 15. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227 228 228 232 233 234 235 236 239 239 241 241 242

Inhaltsverzeichnis

XIX

16. Kapitel: Wer trägt die Steuern? A. Was die Klassiker der Nationalökonomie sagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Wunsch und Wirklichkeit der Steuerinzidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nur Individuen können Steuern tragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Steuerinzidenz im partiellen Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sozialversicherungsbeiträge: Eine Anwendung der Steuerinzidenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Produktsteuern im Monopol und Oligopol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Steuern auf Residualeinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Besteuerung des mobilen Kapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Steuerinzidenz im allgemeinen Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Annahmen des Modells von A. C. Harberger . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verschiedene Steuern und ihre Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Harberger-Modell in der Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Zusammenfassung des 16. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 16. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 16. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245 246 246 247 251 253 255 256 258 258 259 261 262 262 262

17. Kapitel: Was kosten Staatsschulden? A. Die allgemeine Gleichgewichtstheorie des Zinses . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kapital ist knapp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Generationenbilanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die kameralistische Buchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wie viel Schulden kann ein Staat tragen: Das Problem der Schuldenklemme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Schuldenbremsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Wie sollen neue und bestehende Staatsschulden bewältigt werden? Das Beispiel von England 1814/15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Unvollkommener Kapitalmarkt: Die Stellvertretertheorie . . . . . . . . . B. Ludwig von Mises’ Theorie der Staatsschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Temporale Staatsschuldentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hilberts Weltraum-Hotel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dezentrale Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Angebot und Nachfrage nach Kapital bei C. C. von Weizsäcker (2011, 2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sparen und Investieren – Einst und jetzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Helikoptergeld? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Schlussfolgerungen aus dem 17. Kapitel: Eine neue Schuldenbremse? Wichtige Begriffe des 17. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 17. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265 265 266 267 268 269 272 273 274 276 276 277 277 280 280 282 282 283

18. Kapitel: Alterssicherung A. Zwei Teile der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 B. Die Rentenversicherung kann eine ganz normale Versicherung sein . . 287 C. Wie entscheidet ein Wähler in einer direkten Demokratie über ein neu einzuführendes Rentenversicherungssystem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

XX

Inhaltsverzeichnis 1. Überlappende Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Entscheidung eines jungen Erwerbstätigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Entscheidung eines älteren Erwerbstätigen und Rentners . . . . . D. Rentenpolitik in einer repräsentativen Demokratie: Das Beispiel Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Einführungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die weitere Entwicklung der Rentenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Wieviel Rente steht einem Rentner zu? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Berechnung der Rente aus Entgeltpunkten und aktuellem Rentenwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wie soll der Finanzierungsengpass überwunden werden? . . . . . . . . F. Eine politische Ökonomie der Rentenreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Rentenbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 18. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 18. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

290 291 292 292 293 293 296 296 300 300 301 303 303 303

19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung A. Gesundheit, ein fast ganz normales Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die vier Probleme im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die vier Probleme des Marktes für Gesundheit mehr im Detail betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Gesundheitsversorgung durch Versicherung zu risiko-orientierten Beiträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wie kann Wettbewerb unter Krankenversicherungen funktionieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überwindung der angebotsinduzierten Nachfrage durch Wettbewerb unter Sachwaltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Armut und Krankheit bei risikoorientierten Beiträgen . . . . . . . . . . . . 4. Trittbrettfahrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Transferierbare Altersrückstellungen: Ein Sonderproblem . . . . . . . . 6. Zusammenfassung: Krankenversicherung zu risikoorientierten Prämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Krankenversicherung zu Festprämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grundidee von Festprämien im Vergleich zu risikoorientierten Beiträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Risikostrukturausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prämienverbilligungen in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Gesundheitsversorgung durch Versicherung zu arbeitseinkommensabhängigen Beiträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Idee des Solidargemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Ausgleich von Angebot und Nachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Gesetz der zunehmenden Staatseingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Gesundheitsreformen von 2008/2015 und der Gesundheitsfonds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Weitere Gesundheitsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

307 307 308 312 313 313 315 316 316 319 319 319 320 322 323 323 324 325 326 329

Inhaltsverzeichnis E. Politische Ökonomie einer Gesundheitsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Reformen in Markt und Politik: Die Bedeutung des Status quo . . . . 2. Politologen bringen Vetospieler in die Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . F. Zusammenfassung des 19. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 19. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXI 330 330 330 332 333 333

Teil III: Probleme der Finanzpolitik 20. Kapitel: Mehrheiten schmieden A. Wann lohnt sich ein gemeinsames Vorhaben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Zusammenfassung des 20. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 20. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 20. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

337 338 339 339

21. Kapitel: Nutzen-Kosten-Analyse A. Das Preissystem nachvollziehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der Beitrag der privatwirtschaftlichen Investitionsrechnung zur Nutzen-Kosten-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Bewertung der Erträge nach der marginalen Zahlungsbereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Ansatzpunkte zur Erfassung der marginalen Zahlungsbereitschaft . . 1. Spuren der marginalen Zahlungsbereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überblick über die verschiedenen Ansatzpunkte zur Erfassung der Wertschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Exkurs: Ermittlung der individuellen Wertschätzung aus Komplementaritätsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Das Problem der Diskontrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Private oder soziale Diskontrate? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Was kostet eine öffentliche Investition? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Weitere Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ungenutzte Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verteilungserwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kosten-Wirksamkeits-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Eine politische Nutzen-Kosten-Analyse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nutzen-Kosten-Analyse und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verwissenschaftlichung von Nutzen-Kosten-Analysen . . . . . . . . . . . I. Zusammenfassung des 21. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 21. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 21. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

341 342 343 344 344 345 350 352 353 353 354 354 354 355 356 356 357 358 358 358

22. Kapitel: Öffentliche Unternehmen A. Wettbewerbliche Ausnahmebereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Fünf typische Fälle der Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zunehmende Skalenerträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freier Marktein- und -austritt, verbundene Kosten . . . . . . . . . . . . . . .

361 362 362 364

XXII

Inhaltsverzeichnis 3. Exkurs: Spitzenlastpreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Freier Markteintritt, verbundene Kosten, versunkene Kosten . . . . . . 5. Teilmonopol, verbundene Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Zusammenfassung des 22. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 22. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 22. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

366 369 370 371 371 372

23. Kapitel: Öffentliche Aufträge A. Private Werte und gemeinsame Werte (Private Values und Common Values) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Probleme bei Common Value-Auktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Fluch des Gewinners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstkostenerstattungspreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bieterkartelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Regeln der Auftragsvergabe in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Regelwerk im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vergabekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kartellgewinne: Eine Fata Morgana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Vergabefremde Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Alternative Bieterverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Zuschlag zum zweitgünstigsten Preis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lizitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anreizverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Public Private Partnership . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Gute Rahmenbedingungen sind wichtig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Zusammenfassung: Public Value-Auktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 23. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 23. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

373 374 374 376 377 377 377 379 381 382 384 384 387 388 389 391 391 392 392

24. Kapitel: Die staatliche Bürokratie A. B. C. D.

Max Weber und Franz Kafka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sind Bürokraten glücklich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer wird Politiker? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kontrolle der öffentlichen Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verwaltungsinterne Kontrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verwaltungsexterne Kontrolle: Die Rechnungshöfe . . . . . . . . . . . . . . 3. Wie kann die Effizienz der Rechnungshöfe erhöht werden? . . . . . . . F. Zusammenfassung des 24. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 24. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 24. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

395 396 397 397 398 398 399 401 401 401

25. Kapitel: Umwelt und Klima A. Das Umweltproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 1. Zwei Individuen/zwei Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 2. Haftungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

Inhaltsverzeichnis 3. Der Staat als Hebamme I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Staat als Hebamme II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Was ist besser: Der Standard-Preis-Ansatz oder der Preis-Standard-Ansatz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zweckbindung der Umweltabgaben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Auflagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Klima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Zusammenfassung des 25. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 25. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 25. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXIII 406 408 409 410 411 412 414 414 414

Teil IV: Föderale Staaten und Staatengemeinschaften 26. Kapitel: Theorie des Föderalismus A. Normative Theorie: Zentralisierung oder Dezentralisierung? . . . . . . . . 1. Was spricht dafür, einen Staat zu dezentralisieren? . . . . . . . . . . . . . . . 2. Warum Zentralisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mehrebenen-Föderalismus: Wer soll in einem föderalen Staat was tun? Das Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das Prinzip der institutionellen Kongruenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Institutionelle Kongruenz nach Coase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausführung der Bundesgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Institutionelle Kongruenz und fiskalische Äquivalenz . . . . . . . . . . . 4. Was kann bei institutioneller Inkongruenz getan werden? Die Antwort nach Pigou . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Coasianer gegen Pigovianer: Ein Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Positive Theorie des Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Wettbewerbsföderalismus und Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Annahmen des Tiebout-Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Föderalismus und Wirtschaftswachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Stabilitätsbedingungen des Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Föderalismus und Zentralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die Verfassung des Föderalismus: Staatenbund, Einheitsstaat oder Bundesstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Zusammenfassung des 26. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 26. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 26. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

419 419 423 428 431 431 433 434 435 437 438 438 440 443 443 444 445 446 448 448

27. Kapitel: Die Europäische Union A. Wie die Europäische Union entstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die französische und die deutsche Sicht von Europa 1957 . . . . . . . . . . . C. Die EU-Freihandelsunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Voraussetzungen der europäischen Freihandelsunion . . . . . . . . 2. Wie die Freihandelsunion in der Bevölkerung aufgenommen wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Europäische Währungssystem EWS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

451 453 454 454 456 457

XXIV

Inhaltsverzeichnis 3. Wie sich der Euro in der Politik durchsetzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Maastricht-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Aufhebung der Nichtbeistandsklausel (No-Bailout-Klausel) . . . . . Ein Fazit der Rettungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bankenunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsatz: Die Trennung von Solvenzregulierung und Geldpolitik 2. Der Anlass zur EU-Bankenregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Lehren aus dem politischen Prozess zur Bankenunion . . . . . . . . . . . H. Zusammenfassung des 27. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wichtige Begriffe des 27. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 27. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. E. F. G.

460 461 462 463 464 464 465 466 466 467 467

28. Kapitel: Die Finanzordnung der Bundesrepublik Deutschland A. Das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 1. Das Grundgesetz, eine Verfassung für Deutschland . . . . . . . . . . . . . . 471 2. Die Stunde null . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 3. Der Herrenchiemseer Verfassungskonvent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 4. Der Parlamentarische Rat: Länder haben nur Haushaltsautonomie. Für die Steuerbelastung ist der Bund zuständig . . . . . . . . . . . . . 472 5. „Die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder“, Art. 30 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 6. Rent-Seeking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 B. Der Länder-Finanzausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 1. Ausgangspunkt des Finanzausgleichs: örtliches Aufkommen . . . . . 476 2. Erste Stufe des Finanzausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 3. Zweite Stufe des Finanzausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 4. Dritte Stufe des Finanzausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 5. Vierte Stufe des Finanzausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 6. Gesamtwirkung des deutschen Finanzausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . 478 7. Reform des deutschen Finanzausgleichs ab 2020: Eine Symptomtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 8. Ein einfaches Modell des Finanzausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 C. Zusammenfassung des 28. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Wichtige Begriffe des 28. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Literatur zum 28. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 29. Kapitel: Die Schweiz A. B. C. D. E.

Die politische Ökonomie der Schweiz in historischer Perspektive . . . . Die direkte Demokratie kommt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuerwettbewerb: Das Baldwin-Krugmansche Gesetz . . . . . . . . . . . . . Weshalb überleben Gemeinden und Kantone? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Finanzausgleich in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Horizontaler Finanzausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertikaler Finanzausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bundesbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Mehrheitsfähiger und anschlussfähiger Finanzausgleich . . . . . . . . .

485 486 487 489 491 491 492 492 493

Inhaltsverzeichnis

XXV

F. Zusammenfassung des 29. Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 Literatur zum 29. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 30. Kapitel: US-Föderalismus und deutscher Föderalismus im Vergleich A. Die Vereinigten Staaten und Deutschland: Zwei Bundesstaaten im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das Verwaltungsprinzip in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Das Autonomieprinzip in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur zum 30. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

497 497 498 498 499

31. Kapitel: Brauchen die Deutschen ein neues Grundgesetz? Literatur zum 31. Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

507

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

511

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen Abbildung 1.1: Abbildung 1.2: Abbildung 1.3: Tabelle 2.1: Abbildung 2.1: Abbildung 3.1: Tabelle 3.1: Abbildung 4.1: Abbildung 4.2: Abbildung 4.3: Abbildung 4.4: Abbildung 4.5: Abbildung 4.6: Abbildung 5.1: Tabelle 5.1: Abbildung 5.2: Abbildung 6.1: Abbildung 6.2: Abbildung 6.3: Abbildung 7.1: Abbildung 7.2: Tabelle 7.1: Abbildung 7.3: Abbildung 7.4: Abbildung 7.5: Abbildung 7.6: Abbildung 7.7:

Altruisten, Egoisten und Bösartige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Wirtschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 AKW-Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Bevölkerung in Europa Jahr 1 bis 1820 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Optimale Steuern bei unterschiedlichen Staatsausgaben . . . 26 Konsens über Nichteinstimmigkeitsabstimmungen . . . . . . . 34 Eigenschaften von Entscheidungsregeln: Das Kalkül eines Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Möglichkeiten der Preisbildung im natürlichen Monopol . . 51 Die Ausbeutung einer natürlichen Ressource bei durchgesetzten Verfügungsrechten und als Allmendegut . . . . . . . 53 Ausschluss und Rivalität bei privaten Gütern, Mischgütern und öffentlichen Gütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Der Vorteil der kollektiven Aktion bei einem öffentlichen Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Produktivität von Investitionen in Bildung nach Lebensalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Produktivität von Investitionen in Bildung nach Familienhintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 (a) Umverteilungsbegünstigende Einkommensverteilung Ŷ < Ῡ und (b) Umverteilungsbegünstigende Lorenzkurve . 70 Umverteilung im Rahmen von Mehrheitskoalitionen . . . . . . 71 Die Kuznets-Kurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Das optimale Angebot privater und öffentlicher Güter partialanalytisch betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Das optimale Angebot öffentlicher und privater Güter . . . . 79 Nutzengrenzen und Entscheidungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . 81 Die Bereitstellung öffentlicher Güter durch Verhandlungen in kleinen Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Die Funktionsweise des Medianwählermodells . . . . . . . . . . 88 Präferenzrangfolgen bei drei Wählern und drei Vorlagen . . 90 Die Verteilung der Wählerpräferenzen und die Positionen der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Instabilität von Mehrheitsentscheidungen bei mehrdimensionalen Wahlprogrammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Koalitionswechsel bei Kipp-Punkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Konjunkturpolitik einer stimmenmaximierenden Regierung über den Wahlzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Budgetpolitik der Regierung in Abhängigkeit von Wahlterminen und wirtschaftlicher Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

XXVIII

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen Abbildung 8.1: Tabelle 8.1: Tabelle 8.2:

Abbildung 9.1: Tabelle 9.1: Abbildung 9.2: Abbildung 10.1: Abbildung 10.2: Tabelle 10.1: Abbildung 10.3: Tabelle 10.2: Abbildung 10.4: Abbildung 11.1: Abbildung 11.2: Abbildung 11.3: Abbildung 11.4: Abbildung 11.5: Abbildung 11.6: Abbildung 11.7: Tabelle 11.1: Abbildung 11. 8: Abbildung 11.9: Abbildung 11.10: Abbildung 11.11: Abbildung 11.12: Abbildung 11.13:

Das Nationaleinkommen als Wohlfahrtsmaß und als Leistungsmaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Konten des Staates in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für die Bundesrepublik Deutschland 2014 in Mrd. Euro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatsquoten nach der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für die Bundesrepublik Deutschland bezüglich des Bruttonationaleinkommens zu Marktpreisen 2014 in % . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung der Staatsausgaben in drei wesentlichen Industriestaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Anteil der Staatsausgaben am Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen (1950–2009) in Prozent . . . . . . . . . Wachstum der Staatsausgaben bei direkter und bei repräsentativer Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Besteuerung nach dem Äquivalenzprinzip bei gleichen Individuen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besteuerung nach dem Äquivalenzprinzip bei Individuen mit unterschiedlichen marginalen Zahlungsbereitschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einkommens- und Preiselastizitäten für öffentliche Dienstleistungen nach dem Medianwählermodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip bei gleichem absoluten, relativen und marginalen Opfer . . . . . . Die Opfer nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip . . . . . . . . . . Ansatzpunkte der Besteuerung in einem Kreislaufdiagramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überschussbelastung der Besteuerung auf einem Gütermarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überschussbelastung der Besteuerung auf dem Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überschussbelastung durch eine Subvention . . . . . . . . . . . . . Gute Zeiten, schlechte Zeiten sowie Pauschalsteuer . . . . . . . Allgemeine oder selektive Konsumsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . Konsumsteuer und Einkommensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeit und Freizeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wohlfahrtswirkungen von Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kosten von Steuern bei Steuerertragsmaximierung = (3/2) GK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der konstitutionelle Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die optimale Steuerhinterziehung aus der Sicht eines Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schattenwirtschaft international 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niveau der Schattenwirtschaft in den OECD-Staaten 2015 (im Verhältnis zum BIP). Angegeben ist das Verhältnis der Schattenwirtschaft zum offiziellen BIP . . . . . . . . . . . Die Lafferkurve und die Expansion von Staats- und Schattenwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110 113

114 118 119 124 137 138 140 142 144 145 151 153 154 155 156 157 158 159 165 165 168 172 172 175

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen Abbildung 12.1: Abbildung 12.2: Abbildung 13.1: Abbildung 13.2: Abbildung 13.3: Abbildung 13.4: Abbildung 14.1: Abbildung 14.2: Abbildung 14.3: Tabelle 14.1: Abbildung 14.4: Abbildung 14.5: Abbildung 14.6: Abbildung 14.7: Abbildung 14.8: Tabelle 15.1: Abbildung 15.1: Tabelle 15.2: Abbildung 15.2: Abbildung 16.1: Abbildung 16.2: Abbildung 16.3: Abbildung 16.4: Abbildung 16.5: Abbildung 16.6: Abbildung 16.7: Abbildung 17.1: Tabelle 17.1: Abbildung 17.2: Abbildung 17.3: Abbildung 17.4: Abbildung 17.5: Abbildung 17.6:

Modell des Gemeindesteuerwettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . Optimierung der Infrastrukturinvestitionen bei Maximierung der Grundstückswerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Investitionsverhalten ohne verzerrende Steuern . . . . . . . . . . Steuersätze bei unterschiedlichen Systemen der Kapitaleinkommensbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirkung einer Körperschaftsteuer bei Sofortabschreibung und Schuldzinsenabzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interventionsspirale als Folge der Körperschaftsteuer . . . . . Individuelle Laffer-Kurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steuerstruktur im politisch-ökonomischen Gleichgewicht . Die politisch optimale Steuerklassenbildung . . . . . . . . . . . . . Ermittlung des zu versteuernden Einkommens für einen privaten Haushalt in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indirekte Progression bei einer linearen Einkommensteuer (Flat Tax) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung des Grenzsteuersatzes bei der Einkommensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung der durchschnittlichen Einkommensbelastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alternative soziale Unterstützungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . Reservationslohn durch Arbeitslosengeld II und seine Wirkung auf die Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirkung von Konsum- und Einkommensteuer . . . . . . . Steuerzahlungen eines repräsentativen Individuums im Lebenszyklus unter einer Konsum- und einer Einkommensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorumsatzabzugsverfahren und Vorsteuerabzugsverfahren bei der Mehrwertsteuer (Beispiel) . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrwertsteuerbetrug durch Karussellgeschäfte . . . . . . . . . Inzidenz einer Mengen- und Wertsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . Inzidenz einer Produktsteuer bei unterschiedlichen Kombinationen von Angebots- und Nachfrageelastizitäten Die Inzidenz von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inzidenz einer Produktsteuer im Monopol . . . . . . . . . . . . . . . Inzidenz einer Gewinnsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inzidenz bei Besteuerung des mobilen Kapitals . . . . . . . . . . Inzidenz einer selektiven Faktorsteuer in einem Sektor . . . . Der aggregierte Kreditmarkt, wenn Kapital knapp ist . . . . . Nachhaltigkeitslücken in Generationenbilanzen 2014 . . . . . Die Vorliebe der Regierung einer repräsentativen Demokratie für eine zeitinkonsistente Politik im Vergleich zu individuellen Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wirkungsweise der Schuldenbremse in Deutschland und in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Boom und Bust im Vergleich zur Euro-Rettungspolitik . . . . Das Spardreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege . . . . . . . . . . .

XXIX 180 181 191 195 199 202 208 209 210 212 214 216 216 219 219 229 231 233 237 247 250 252 254 256 257 261 266 267 270 271 275 278 279

XXX

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen Abbildung 17.7: Abbildung 17.8: Abbildung 18.1: Abbildung 18.2: Abbildung 18.3: Abbildung 18.4: Abbildung 18.5: Abbildung 18.6: Tabelle 18.1: Abbildung 19.1: Abbildung 19.2: Abbildung 19.3: Abbildung 19.4: Abbildung 19.5: Abbildung 19.6: Abbildung 19.7: Abbildung 19.8: Abbildung 19.9: Abbildung 19.10: Abbildung 19.11: Abbildung 19.12: Abbildung 19.13: Abbildung 19.14: Tabelle 20.1: Tabelle 20.2: Tabelle 21.1: Abbildung 21.1: Tabelle 21.2: Abbildung 21.2: Abbildung 21.3: Abbildung 21.4:

Die bisherigen Kondratjew-Zyklen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wo sich Angebot und Nachfrage nach Ersparnissen einst und jetzt treffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umstellung vom Umlageverfahren auf das Kapitaldeckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren der Rentenversicherung in einem Dreigenerationenmodell . . . . . . . . . . . . . Durchschnittliche Kinderzahl pro Frau 1871–2009 . . . . . . . . Entwicklung des Rentnerquotienten seit dem Jahr 2000 . . . Auswirkungen von Reformmaßnahmen auf die Beitragsätze der gesetzlichen Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . Rentenreform an der Grenze der Zahlungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen der Altersrentenbesteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marktversagen im Versicherungsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Staatseingriff soll den Armen helfen . . . . . . . . . . . . . . . . . Brokerfunktion von Krankenversicherungen . . . . . . . . . . . . . Mindestversicherung für Minderbemittelte . . . . . . . . . . . . . . Beispiel der Bilanzveränderungen eines Versichertenwechsels für die Versicherungsunternehmen . . . . . . . . . . . . Modell eines Risikostrukturausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Risikostrukturausgleich zwischen Männern und Frauen in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Risikostrukturausgleich zwischen Jung und Alt in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schematische Darstellung der Quersubventionierung in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . Der Ausgleich von Angebot und Nachfrage in der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheitsreformgesetze 1977 bis 2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gesundheitsfonds (Statistische Angaben des Gesundheitsfonds für 2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwei Vetospieler und deren Winset (WS) . . . . . . . . . . . . . . . . Das Winset bei mehreren Vetospielern im Ein- und im Zweikammersystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einstimmigkeit nach der Wicksell-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . Stimmentausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitalwertberechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurve der marginalen Zahlungsbereitschaft für ein Individuum und Konsumentenrente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht über die Ansatzpunkte und Verfahren zur Erfassung der Präferenzen für öffentliche Güter . . . . . . . . . . Die Bewertung öffentlicher Güter, welche die private Unternehmungstätigkeit kostengünstiger gestalten . . . . . . . . . . Schätzung der Zahlungsbereitschaft nach einem öffentlichen Gut aus einer Komplementaritätsbeziehung zu einem privaten Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einfluss der Besteuerung auf die Wahl der Diskontrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

280 281 289 290 294 295 300 301 302 310 311 315 316 318 321 322 322 324 325 326 328 331 332 337 338 342 343 345 346 351 353

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen Tabelle 21.3: Tabelle 22.1:

Elemente einer politischen Nutzen-Kosten-Analyse . . . . . . . Daseinsvorsorge als wettbewerblicher Ausnahmebereich in Deutschland Stand 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 22.1: Grenzkostenpreise, Durchschnittskostenpreise und Ramsey-Preise in einem öffentlichen Zwei-ProduktUnternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 22.2: Kostenaufteilung in einem Omnibusnetz . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 22.2: Stabile und instabile Beitragskombinationen beim Betrieb eines Omnibusnetzes1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 22.3: Preisstabilität bei Spitzen- und Schwachlastnachfrage . . . . . Tabelle 22.3: Stabile und instabile Beitragskombinationen bei Spitzenund Schwachlastnachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 23.1: Verteilung der Gebote bi bei voneinander unabhängigen Schätzfehlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 23.2: Die Wirkung einer Anbieterkartellierung bei gegebenem Marktvolumen und freiem Marktzutritt . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 25.1: Die Internalisierung externer Kosten durch Pigou-Steuern Abbildung 25.2: Die Wirkungsweise einer Emissionsteuer im StandardPreis-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 26.1: Individuelle Präferenzen in einem föderalistischen und in einem zentralistischen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 26.1: Anpassung des Angebots öffentlicher Güter durch Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 26.2: Durchschnittskosten der Bereitstellung eines öffentlichen Gutes bei unterschiedlicher Gemeindegröße . . . . . . . . Abbildung 26.3: Versunkene Kosten und Messbarkeit der Qualität bei staatlichen Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 26.2: Durchschnittliche jährliche Kosten pro Haushalt in US Dollar für einen Reinhaltestandard von 10 μg/l nach Größe des Versorgungsgebiets 2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 26.4: Institutionelle Kongruenz: Der Kreis der Nutznießer deckt sich mit dem Kreis der Entscheidungsträger und dem Kreis der Steuerzahler bzw. Kostenträger; Institutionelle Inkongruenz: Die drei Kreise fallen auseinander. . . . Abbildung 26.5: Fälle institutioneller Inkongruenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 26.6: Die Wohlfahrtsökonomie des Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 26.6a: Die Wirkung von zweckgebundenen und nicht zweckgebundenen Subventionen auf das Ausgabenverhalten von Gebietskörperschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 26.6b: Die Wirkung einer zweckgebundenen Subvention, wenn die Preiselastizität der Nachfrage dem Betrag nach 1 beträgt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 26.7: Die Versorgung mit öffentlichen Gütern im TieboutModell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle 26.3: Drei Föderalismusmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 26.8: Einnahmenzentralisierung in 32 Industrie- und Entwicklungsländern 1935/1990er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 26.9: Staatenbildung durch Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXXI 356 361 363 364 365 367 368 375 381 407 408 420 421 424 427 429

431 433 436 436 436 439 444 445 446

XXXII

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen Tabelle 27.1: Abbildung 27.1: Abbildung 27.2: Tabelle 27.2: Tabelle 27.3: Abbildung 27.3: Abbildung 27.4: Abbildung 28.1: Tabelle 28.1: Abbildung 28.2: Tabelle 28.2: Tabelle 28.3: Abbildung 28.3: Tabelle 28.4: Abbildung 28.4: Abbildung 29.1: Abbildung 29.2:

Abbildung 29.3: Abbildung 29.4: Abbildung 29.5:

Die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Union im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Beliebtheit der EU nach EURAKTIV-Umfragen . . . . . . . Allmählich abnehmende Wechselkursschwankungen im Europäischen Währungssystem EWS 1979–1998 . . . . . . . . . . Frankreichs Instrumentaldoktrin der Währung . . . . . . . . . . Deutschlands Kapitalmarktdoktrin der Währung . . . . . . . . Der US$/ Euro-Wechselkurs 2008 bis 2017 . . . . . . . . . . . . . . . Die Bailout-Spirale 2010–2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rent-Seeking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verteilung der Gemeinschaftsteuern . . . . . . . . . . . . . . . . Beim Finanzausgleich im engeren Sinn wird der Finanzkraftunterschied bis zu 73 % links bzw. 75 % rechts ausgeglichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtergebnis des Finanzausgleichs in der Bundesrepublik Deutschland 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pro-Kopf-Finanzausstattung nach Finanzausgleich 2014a . . Gesamtwirkung des bundesdeutschen Finanzausgleichs 2013 in Mill. Euro bzw. Euro pro Einwohner . . . . . . . . . . . . . Koalitionen in Bundestag (BT) und Bundesrat . . . . . . . . . . . . Anreizkompatibler Finanzausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spitzensteuersätze in Kantonshauptorten für Doppelverdiener bei 1.000.000 CHF Einkommen in % 2014 . . . . . . . . . . Baldwin-Krugmansches Gesetz: Kantonale und (gewichtete) lokale Einkommensteuerbelastung für Verheiratete mit zwei Kindern bei einem Reineinkommen von einer Million Franken im Jahr 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefahren in den Budgets der Kantonalbanken . . . . . . . . . . . Finanzausgleich in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die politisch-ökonomische Balance des neuen Finanzausgleichs der Schweiz 2004/2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

451 456 458 458 458 459 463 475 476 477 478 478 479 480 481 488

489 491 493 494

I. Teil Ökonomische Theorie des Staates

Für den freien Bürger ist sein Land … die Sammlung der Individuen, die es bilden, nichts außerhalb oder gar über ihm Stehendes. Der freie Bürger ist zwar stolz auf das gemeinsame Erbe und loyal gegenüber gemeinsamen Traditionen. Doch den Staat betrachtet er nur als Mittel, als ein Instrument und nicht … als Herrn und Gott, dem er blind gehorchen und dienen muss. Er kann kein nationales Ziel anerkennen, es sei denn, es handelt sich um einen gemeinsam von allen einzeln gebildeten Konsensus. Milton Friedman (1962)

1. Kapitel Die Annahmen der Finanzwissenschaft A. Homo oeconomicus oder Verhaltensökonomik? Dieses Buch beginnt mit einer Kontroverse. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen in erster Linie Egoisten sind. Egoismus ist zwar keine Tugend, aber sie erlaubt es einer Gesellschaft von Menschen, sich zu verstehen und sich zu organisieren. Egoisten beginnen damit, dass sie sagen, was sie wollen. Das ist schon ein Vorteil gegenüber jeder anderen Gesellschaftsform. Menschen, die nicht sagen, was sie wollen, können nicht zusammenleben. Eine Gesellschaft uneigennütziger Individuen ist edel. Sie wird aber nie zu einer Entscheidung gelangen. Der schottische Moralphilosoph Adam Smith hat erkannt, dass Egoisten auf dem Markt tauschen und so gegenseitig an Wohlstand gewinnen. Darum trägt das Buch von Adam Smith den Titel: „Der Wohlstand der Nationen“ (1776). Seit einigen Jahren ist die Hypothese des Homo oeconomicus in Kritik geraten. Der Egoismus verdränge die Tugenden. Er verwende, wie R. H. Thaler (2016) schreibt, die gleiche Theorie, um das ökonomische Optimalverhalten wie das tatsächliche Verhalten zu beschreiben. Unumstritten gehört das Optimalverhalten zum Kern jeder ökonomischen Analyse. Dass das tatsächliche Verhalten vom Optimalverhalten manchmal abweicht, ist eigentlich gar nicht erstaunlich. Das kann verschiedene Gründe haben. Beispielsweise reichen die kognitiven Fähigkeiten der Menschen nicht immer aus, um das Optimum zu erkennen, auch wenn sie danach streben. Individuen sind nicht immer so schlau wie der schlaueste Ökonom. Im Großen und Ganzen ist es aber erstaunlich, wie gut der Homo oeconomicus die reale Welt beschreibt. Der Wohlstand von heute

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1. Kapitel: Die Annahmen der Finanzwissenschaft ist entstanden, weil die Individuen bessere Alternativen wahrgenommen und schlechtere fallen gelassen haben. Wenn das am Rand nicht immer stimmt, braucht damit der Homo oeconomicus noch nicht in Bausch und Bogen verworfen zu werden. Es gilt, das Wesentliche zu erkennen und dabei die Phänomene am Rand nicht zu vergessen, um in der Finanzwissenschaft zu einem realistischen Ganzen zu gelangen. Daher wird in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels zuerst der Ansatz des Homo oeconomicus erklärt, bevor am Ende des Kapitels auf abweichende Fälle eingegangen wird.

B. Die Kernannahmen des Homo oeconomicus Vier Axiome tragen das allgemeine ökonomische Verhaltensmodell (B. S. Frey, 1990): 1. die Annahme des methodologischen Individualismus, 2. die Eigennutzannahme, 3. die Annahme gegebener Präferenzen und veränderbarer Beschränkungen und 4. die Annahme der Existenz relevanter Alternativen.

1. Die Annahme des methodologischen Individualismus Der methodologische Individualismus erklärt das Individuum zur allein maßgebenden Handlungseinheit. Jedes Handeln ist individuelles Handeln. Das gilt im Markt wie im Staat. Insbesondere handelt der Staat nicht als Gesamtheit oder Organ, sondern er handelt aufgrund der Entscheidung eines oder mehrerer Individuen. Durch die Annahme des methodologischen Individualismus stellt sich das allgemeine ökonomische Verhaltensmodell in Gegensatz zu allen Formen organischer Staatsauffassungen, die davon ausgehen, dass der Staat als Einheit selbst handelt. Mit dem Bekenntnis zum methodologischen Individualismus stellen sich die Ökonomen unzweideutig hinter eine freiheitliche Gesellschaftsordnung. Organisches Handeln würde Zwang beinhalten, den die Ökonomen ablehnen. Ein Satz wie: „Der Straßenbau liegt im öffentlichen Interesse“, wird aus der Sicht des methodologischen Individualismus abgelehnt. Denn wer bestimmt, was das öffentliche Interesse ist? Dahinter stehen doch stets Individuen oder Gruppen von Individuen, die Eigeninteressen verfolgen und diese über den Staat durchsetzen möchten und sie (nicht selten aus genau diesem Grund) zu „öffentlichen“ Interessen erklären.

2. Individuen maximieren ihren Nutzen Die Eigennutzannahme besagt, dass die Individuen in der Regel nach ihrem eigenen Vorteil entscheiden. Altruistisches oder bösartiges Verhalten wird

B. Die Kernannahmen des Homo oeconomicus zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber es wird angenommen, dass in den meisten Fällen das egoistische, nutzenmaximierende Verhalten überwiegt. Menschen handeln weder durchwegs altruistisch noch durchwegs bösartig, sondern im Mittel als Egoisten. Dass Egoisten miteinander zusammenleben können, ohne einander zu schaden, verdanken sie dem Rechtsstaat. Dieser zwingt sie, ihre Interaktion in Verträgen zu vereinbaren. Bösartiges Entreißen wird mit Strafe bedroht, während altruistisches Verschenken nicht besonders belohnt wird.

Individuen

Altruisten

Egoisten

Bösartige

Abbildung 1.1: Altruisten, Egoisten und Bösartige

Aus der Sicht von Ökonomen charakterisiert die obige Häufigkeitsverteilung in Abbildung 1.1 das Gros der Menschen. Es ist für Ökonomen hinnehmbar, in ihren Modellen zunächst ausschließlich Egoisten zu betrachten und Altruisten und Bösartige vorerst beiseite zu lassen. Ökonomen wollen nur aufzeigen, was im Großen und Ganzen gilt. Sie wollen die Wirklichkeit im Wesentlichen verstehen. Ökonomen sagen: Wir können mit der Eigennutzannahme rund 60 Prozent des menschlichen Verhaltens erklären. Das ist schon ziemlich viel. Die Stärke der Annahme des Homo oeconomicus liegt in ihrer Anspruchslosigkeit und Allgemeinheit. Wenig reicht aus, um viel zu erklären. Was für Ökonomen zutrifft, braucht für andere Analytiker nicht zu gelten. Für einen Richter ist es nicht hilfreich zu wissen, dass die Menschen in der Regel keine Mörder sind. Er muss nicht herausfinden, was in der Regel gilt, sondern was im konkreten Einzelfall zutrifft. War der Beschuldigte ein Mörder oder war er es nicht? Vereinfachend gilt der Satz: Was der Ökonom im Allgemeinen sagt, ist für den Richter im Einzelfall unbedeutend. Was der Richter für den speziellen Fall sagt, ist für den Ökonomen unbedeutend. Die Egoisten der Ökonomik sind in der Regel friedfertig. Sie ziehen den Tausch vor, weil sie die Strafe fürchten. Friedfertig sind auch mildtätige Altruisten. Sie erdulden Ungerechtigkeiten heute, weil sie an eine ausgleichende Gerechtigkeit in einer späteren besseren Welt glauben und Ungerechtigkeiten des heutigen Rechts als vorläufig hinnehmen. Schlimmer sind die bösartigen Menschen. Sie möchten ihre Mitmenschen beherrschen, um sie in die Welt des Bösen zu ziehen. Umgekehrt wollen dogmatische Altruisten ihre Mitmenschen in die Welt des (aus ihrer Sicht) Guten ziehen, auch wenn diese dabei sterben müssen. Denn besser ist es, die Mitmenschen sterben, als dass sie Sünden im Sinne ihrer

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1. Kapitel: Die Annahmen der Finanzwissenschaft Mörder begehen. Deswegen sind die meisten Menschen glücklich, wenn sie in einem Rechtsstaat leben dürfen und von bösartigen Egoisten wie altruistischen Dogmatikern verschont bleiben.

3. Die Annahme gegebener Präferenzen und veränderlicher Beschränkungen Alle Mittel sind knapp. Daher müssen die Menschen wählen, was sie tun und was sie lassen. Individuen maximieren ihren Nutzen unter den gegebenen Beschränkungen. Erst werden die dringenden Präferenzen, dann die weniger dringenden Präferenzen, gemessen an Preisen, Kosten und Einkommen erfüllt. Typisch ist für die Ökonomik, dass die Präferenzen als gegeben und die Beschränkungen als veränderlich angesehen werden. Wenn sich also das individuelle Verhalten ändert, so wird die Ursache hierfür in einer Veränderung der Beschränkungen und nicht in einer Veränderung der Präferenzen gesehen. Das Individuum verändert sein Verhalten, weil sich seine äußeren Verhältnisse geändert haben, nicht, weil es ein anderer Mensch mit anderen Präferenzen geworden ist. Menschen haben ihre eigenen Präferenzen und verhalten sich nach diesen. Autonome Präferenzen widerspiegeln den Respekt der Ökonomik vor dem Willen der Menschen, autonome Präferenzen sind daher ein Bekenntnis zur Freiheit. Präferenzen sind Privatsache. Niemand soll den Individuen vorschreiben, welche Präferenzen sie als vorrangig und welche sie nachrangig ansehen sollen. Präferenzen liegen tief in den Menschen verwurzelt. Der Sozialismus hat in der DDR über 40 Jahre versucht, aus autonomen Menschen sozialistische Menschen zu machen und ist dabei gescheitert. Er konnte das Begehren nach Freiheit und nach Erfüllung der eigenen Konsum- und Lebensvorstellungen nicht aus den Köpfen der DDR-Bürger verdrängen. Auch wenn Präferenzen Privatsache sind, sind Präferenzen nicht notwendigerweise konstant. Was ein Individuum bevorzugt, ändert sich im Laufe der Zeit. Wir leben heute nicht mehr so, wie unsere Urgroßeltern gelebt haben. Dennoch sind wir frei, unsere Präferenzen selbst zu bestimmen. Die Ökonomie nimmt lediglich an, dass sich die Präferenzen nur sehr langsam ändern. Sie testen diese Hypothese fortwährend an den Voraussagen ihrer Modelle und revidieren, wo notwendig, ihre Theorie (C. C. von Weizsäcker 2014). Weiter gilt: Das Individuum passt sich mit seinen Präferenzen rational an sich verändernde Beschränkungen an. Das heißt, es versucht, seinen Möglichkeitsspielraum unter der Zielsetzung der Eigennutzmaximierung (Annahme 2) bestmöglich auszunutzen. Mit einem gegebenen Mitteleinsatz wird die maximale Bedürfnisbefriedigung bzw. mit einem minimalen Mitteleinsatz wird ein gegebenes Bedürfnisbefriedigungsniveau zu erreichen versucht. Das ist das sogenannte Rationalitätsprinzip. Ohne das Rationalitätsprinzip ist eine Erkenntnis der Wirklichkeit unmöglich. Beispielsweise wägt ein Individuum ab, ob es infolge der Terrorgefahr lieber in Paris oder auf dem Lande leben will. Es schätzt die Gefahr, Opfer eines Terroranschlags zu werden, z. B. mit 0,1 % ein und beschließt seinen Wohnsitz

B. Die Kernannahmen des Homo oeconomicus in Paris beizubehalten oder von Paris wegzuziehen (G. Weizsäcker 2015). Ein Homo oeconomicus wird die Risiken einschätzen und je nach Risikofreude oder Risikoaversion rational entscheiden.

4. Die Annahme der Existenz relevanter Alternativen Am 19. Mai 2010 erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel, ihre Entscheidung für den Euro-Rettungsschirm sei „alternativlos“. Einer solchen Betrachtungsweise widersprechen Ökonomen aufs Heftigste. Zu jeder Maßnahme gibt es Alternativen. Jedes Individuum kann wählen und sei sein Entscheidungsspielraum auch noch so klein. Darin liegt seine Freiheit. Darum fühlten sich Ökonomen bestätigt, als das Wort „alternativlos“ zum Jahreswechsel 2010/2011 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Unwort des Jahres erklärt wurde. Zu Recht wurde festgestellt, der Begriff sei dazu geeignet, den Blick auf Alternativen zu verstellen und die Freiheit der Individuen künstlich einzuengen. Ebenso widersprachen Ökonomen, als die Kanzlerin hinzufügte: „Die Währungsunion ist eine Schicksalsgemeinschaft“. Eine Schicksalsgemeinschaft bedeutet, dass sich die Menschen unter die höhere Macht des Schicksals unterordnen müssen. Auch das ist falsch. Der Staat ist kein Gott. Das Postulat einer Schicksalsgemeinschaft der Währungsunion beraubt den Menschen jeglicher Möglichkeiten, Alternativkonzepte ins Auge zu fassen und zu evaluieren, da nur deren Annahme, nicht aber deren Ablehnung offen steht. Aber es gibt stets Alternativen, zwischen denen die Bürgerinnen und Bürger oder die Politiker (stellvertretend für die Bürgerinnen und Bürger) wählen können, ja wählen sollen. Sie sollen die Dinge nicht fatalistisch hinnehmen, sondern ihre Freiheit dazu nützen, zu vergleichen und zu versuchen, stets das Bestmögliche aus einer Situation herauszuholen. Wenn es Alternativen gibt, so gibt es auch Substitution. Freilich verursacht die Substitution Kosten. Ob diese in Kauf genommen werden, unterliegt wiederum dem ökonomischen Kalkül der Eigennutzmaximierung und der Rationalität (vgl. 2. und 3. Annahme). Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass die Substitutionskosten langfristig niedriger sind als kurzfristig, weshalb Substitution vielfach längere Zeit erfordert. Substitution endet, wo diese keinen Zusatznutzen mehr stiftet, wo also von zwei Gütern jedes den gleichen Grenznutzen stiftet. Dort gilt H. H. Gossens Gesetz der Gleichwertigkeit zweier Güter „an der Grenze“. Indifferenz zeigt, dass das Individuum seinen Nutzen maximiert hat. Substitution wirkt in Richtung einer Stabilisierung sozialer Prozesse: Bessere Alternativen werden wahrgenommen, schlechtere fallen gelassen. Darin unterscheidet sich das ökonomische Verhaltensmodell von anderen sozialwissenschaftlichen, z. B. marxistischen Ansätzen, in denen diese Substitutionsmöglichkeiten geleugnet werden und soziale Prozesse immer in die gleiche Richtung voranschreiten, bis sie schließlich in Zusammenbruch oder Revolution enden.

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1. Kapitel: Die Annahmen der Finanzwissenschaft

C. Versicherungen Nutzenmaximierung bei unvollständiger Information: Adverse Selektion und moralisches Risiko

Ein wichtiges Element des allgemeinen ökonomischen Verhaltensmodells ist die Information. Entgegen einer häufig vertretenen Ansicht beruht das ökonomische Verhaltensmodell nicht auf der Annahme vollständiger Information. Es ist nicht erforderlich, dass die Individuen die ihnen zur Disposition stehenden Alternativen zu jedem Zeitpunkt vollständig kennen und auf dieser Basis ihre Nutzen und Kosten abzuschätzen vermögen. Der Mensch wird nicht als wandelnder Computer angesehen. Sicherlich vereinfacht die Annahme der vollständigen Information das ökonomische Denken, und deswegen wird vollständige Information in Lehrbuchmodellen gelegentlich als gegeben angenommen. Aber das ist nicht notwendig. Die Informationsökonomik geht im Allgemeinen von unvollständiger Information aus. Unvollständige Information bedeutet nicht, dass sich die Individuen irrational und sprunghaft verhalten und so ökonomische Voraussagen nicht mehr möglich wären. Vielmehr geht die Theorie unvollständiger Information davon aus, dass Informationen nur unter Kosten beschafft werden können. Ein rationales Individuum wird daher nur so lange zusätzliche Informationen sammeln, als sich dieser Aufwand voraussichtlich lohnt, d. h. solange Information mehr Zusatznutzen als Zusatzkosten erwarten lässt. Sind die beiden Größen einander gleich, so wird ein rationales Individuum die weitere Informationssuche einstellen. Bei welchem Niveau an Information dieses Gleichgewicht erreicht wird, lässt sich nicht genau sagen. Zu vermuten ist jedoch, dass sich das Informationsgleichgewicht für Anbieter und Nachfrager vielfach auf ungleichem Niveau einstellen wird. Es herrscht dann sogenannte asymmetrische Information vor Vertragsschluss. Betrachten wir einen kompetitiven privaten Markt für Krankenversicherungen ohne irgendwelche staatliche Eingriffe. Asymmetrische Information herrscht hier insofern, als die Nachfrager vor Vertragsschuss in der Regel besser über die zu versichernden Risiken informiert sind als die Anbieter – oder anders ausgedrückt: Die Kosten der Informationsbeschaffung sind für die Nachfrager niedriger als für die Anbieter. Die Kunden kennen ihren Gesundheitszustand aus ihrer Erfahrung, während die Versicherungsunternehmen diesen durch Beobachtung der einzelnen Kunden abschätzen müssen. Zu einer bestimmten Prämie, die vom Versicherungsunternehmen als Preis genannt wird, werden sich daher all jene versichern, die denken, dass die erwarteten Krankheitskosten für sie über dem Preis liegen. Nach der ersten Runde wird sich herausstellen, dass der gesetzte Preis nicht kostendeckend ist. Das Versicherungsunternehmen hat eine adverse Selektion mit zu vielen „schlechten Risiken“ getroffen. Daher wird es in der nächsten Runde die Prämie erhöhen. Zwar liegt der Preis für das Versicherungsunternehmen über den bisherigen Risikokosten, doch für die besten Risiken liegt dieser nun über ihren zu erwartenden Krankheitskosten. Folglich scheiden die besten Risiken aus ihrem Vertrag aus. Zurück bleiben die schlechten Risiken mit der Konsequenz, dass die nächste Runde wiederum

C. Versicherungen nicht kostendeckend ausgeht und die Prämie erneut angehoben werden muss. Dieser Prozess setzt sich fort, bis am Ende der Markt ausgetrocknet ist. Das ist das Problem der „adversen Selektion“. Soweit zur Entscheidungssituation vor Vertragsschluss. Asymmetrische Information wird einen Versicherungsvertrag aber auch nach dessen Abschluss gefährden. Denn das Versicherungsunternehmen ist nicht ohne Weiteres in der Lage, das Verhalten der Versicherten während der Vertragslaufzeit zu beobachten. Nehmen wir das Beispiel des Risikos von Sportunfällen mit nachfolgenden Heilungskosten. Vor dem Abschluss eines Versicherungsvertrags wird ein Individuum vorsichtig beurteilen, auf welche Sportarten es sich einlässt. Riskante Sportarten wie Klettern oder Wildwasser-Kanu-Fahren wird es meiden, denn es muss die vollen Heilungskosten selbst tragen. Nach Abschluss des Krankenversicherungsvertrags hat sich seine Kostensituation verändert. Es kann die Heilungskosten nach dem Unfall je nach Vertrag ganz oder teilweise auf das Versicherungsunternehmen abschieben und wird sich daher weniger vorsichtig verhalten. Das Versicherungsunternehmen trägt also neben dem vereinbarten Risiko noch ein so genanntes „moralisches Risiko“. Wiederum herrscht asymmetrische Information zwischen Versicherungsunternehmen und Versicherungsnehmer. Das Versicherungsunternehmen wird daher die Prämien an das gestiegene Durchschnittsrisiko anpassen und damit in der Tendenz die guten Risiken, die kein moralisches Risiko beinhalten, vom Markt verdrängen. Erneut trocknet der Markt aus. Aus diesen Beispielen von adverser Selektion und von moralischem Risiko lassen sich im Wesentlichen drei Erkenntnisse ableiten: •• Das ökonomische Verhaltensmodell wird durch unvollständige, in diesem Fall asymmetrische Information, nicht in Frage gestellt. Unvollständige Information führt im Marktmodell zu anderen Voraussagen als vollständige Information. Aber es lassen sich auch so testbare Hypothesen formulieren. •• Individuell rationales Verhalten kann, wie das vorstehende Beispiel zeigt, zu kollektiver Irrationalität führen: Obwohl alle betrachteten Individuen das Gut Versicherung als etwas an sich Vorteilhaftes ansehen und die Versicherungsunternehmen bereit wären, die geforderte Risikoabdeckung anzubieten, kommt das Angebot bei rein marktmäßiger Koordination nicht oder nicht im gewünschten Umfang zustande. •• Weil diese Situation für alle Beteiligten unbefriedigend ist, wird vielleicht der Staat eingreifen, eine Versicherungspflicht für alle Betroffenen vorschreiben und so die Wirkungen der asymmetrischen Information beseitigen (wenn auch nicht überwinden). •• Das ist jedoch nicht unbedingt erforderlich. Das Versicherungsunternehmen kann die Versicherten individuell binden, z. B. indem es Verpflichtungen vorschreibt und deren Einhaltung periodisch kontrolliert oder indem es die Prämien nach dem individuellen Risiko festsetzt. Es kann zudem die individuellen Prämien anheben bzw. senken, indem es Selbstbeteiligung und Bonusprämien einführt. Aus dem anfänglich anonymen Markt wird ein personalisierter Markt, in dem sich Anbieter und Nachfrager kennen.

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1. Kapitel: Die Annahmen der Finanzwissenschaft

D. Homo oeconomicus in der Politik: Ein praktisches Beispiel 1. Finanzwissenschaftliche Entscheidungsanalyse Das Rationalverhalten des Homo oeconomicus führt wie eingangs erwähnt im Markt zu Wohlstand, im Staat jedoch zu Verderben. Daher haben sich Ökonomen und Staatsrechtsphilosophen überlegt, wie sie die individuelle Nutzenmaximierung für den Staat nutzbar machen könnten. Ein Beispiel sind politische Wahlen. Wenn in einer Gemeinde darüber diskutiert wird, eine Brücke zu bauen, welche ökonomischen Motive sind dann dafür verantwortlich, dass das Projekt unternommen wird und dass es in einem bestimmten Umfang (100 Mio. Euro, 200 Mio. Euro, 500 Mio. Euro) beschlossen wird? Kurz: Was bringt die Gemeinde dazu, sich für oder gegen die Brücke zu entscheiden? Politikwissenschaftler sagen: Das ist eine Frage der Ideologie der Politiker. Politiker werben vor den Wählern, weil sie von der erwähnten Brücke überzeugt sind oder diese aus Überzeugung ablehnen. Ökonomen können nicht verstehen, warum sich Politiker um der Ideologie willen so sehr ins Zeug legen. Sie sagen: Es ist doch viel glaubwürdiger anzunehmen, dass Politiker durch den Eigennutz motiviert sind. Dazu schreibt der amerikanische Ökonom Anthony Downs (1957): Das eigentliche Ziel des Politikers ist die Macht. Diese kann er aber nur erreichen, wenn er von den Wählern gewählt wird. Politiker, die an die Macht wollen, müssen sich um die Stimmen der Wähler bemühen. Stellt der Bau der erwähnten Brücke einen Wunsch wichtiger Wählergruppen in der Gemeinde dar, so wird ein rationaler Politiker dieses Projekt in sein Wahlprogramm aufnehmen, ob er es selbst liebt oder nicht. Er maximiert damit seinen eigenen Nutzen, da er nur mit dem Projekt Chancen hat, gewählt zu werden. Wahlen stellen also eine Institution dar, wo also Eigennutzstreben auch im Staat zum Vorteil gereicht. So hat auch Adam Smith geschrieben: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen, sondern an ihre Eigenliebe …“ (A. Smith 1776, 1. Buch, 2. Kapitel, 2. Absatz). Genauso verhält es sich nach A. Downs in der Politik. Politiker sind ebenso wenig an der Brücke interessiert wie Bäcker am Brot. Hinter der Politik steht also der gleiche Eigennutz wie hinter der Marktökonomie. An die Stelle gewinnmaximierender Unternehmer treten stimmenmaximierende Politiker. Das Paradigma des Homo oeconomicus gilt daher auch in der Politik. Das ist alles korrekt. Dennoch ist Vorsicht angesagt. Im vorliegenden Fall geht es nur um die die zwei Alternativen „Brücke“ oder „Nicht-Brücke“. Es gibt klare Mehrheiten. Fragen wir indessen nach „Brücke“, „Nicht-Brücke“ oder „Krankenhaus“, so bleibt zwar das Stimmenmaximierungsverhalten der Politiker bestehen, aber das Ergebnis ist nicht mehr mit Sicherheit eindeutig. Zwei der drei Gruppen und ihre Politiker können sich im Kreis herum zusammentun

D. Homo oeconomicus in der Politik: Ein praktisches Beispiel und ein Ergebnis nach dem anderen kippen. Es entsteht ein Dilemma der Demokratie, s. 7. Kapitel.

2. Finanzwissenschaftliche Wirkungsanalyse Die Motive, nach denen Politiker Entscheidungen treffen, sind das eine. Doch ihre Entscheidungen haben auch Wirkungen. Viele Menschen werden glücklich, weil die diskutierte Brücke ihre täglichen Wege verkürzt. Aber das ist nicht alles, vielleicht nicht einmal das politisch Wesentliche. Glücklich über den Brückenbau ist die örtliche Bauwirtschaft, weil sie Aufträge erhält. Arbeitslose finden neue Jobs, Fuhrunternehmer versprechen sich aus dem Abtransport von Bauschutt und aus dem Hintransport von Zement lukrative Aufträge. Es wird ein lokaler Multiplikator ausgelöst. Wenn alles gut geht, steigt das örtliche BIP und damit die Popularität der Regierung, was ihre Chancen erhöht, auch die nachfolgenden Wahlen zu gewinnen. Umgekehrt sinkt die Popularität der Regierung, wenn als Folge des Brückenbaus die Gewerbesteuer angehoben werden muss, wenn bei wählerrelevanten Gruppen wegen des Lärms die Grundstückspreise fallen oder wenn das Projekt wegen mangelhafter Abschätzung der Finanzierung sogar zu einem politischen Desaster wird. Wirkungs- und Entscheidungsanalyse sind also miteinander verknüpft. Ökonomen untersuchen nicht nur die Motive der handelnden Politiker, sondern auch die konkreten Effekte ihrer Politiken (obere Schlaufe von Abbildung 1.2). Aus der Entscheidung resultiert die Politik, die die Zufriedenheit der Wähler bestimmt, die ihrerseits wieder auf die politischen Entscheidungen (in der unteren Schlaufe) zurückwirkt. Die politische Ökonomie betont die Interaktion zwischen Wirtschaft und Politik. Die Kunst des Regierens liegt darin, Entscheidungen und Wirkungen möglichst gut aufeinander abzustimmen.

Wirkungsanalyse

Politik

Wirtschaft

Entscheidungsanalyse

Abbildung 1.2: Die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Wirtschaft und Politik

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1. Kapitel: Die Annahmen der Finanzwissenschaft

E. Grenzen des Modells vom Homo oeconomicus Dass sich die Menschen im Alltag wie in schwierigen Situationen nach dem Nutzenprinzip des Homo oeconomicus verhalten, ist kaum zu widerlegen. Es ist schwer vorstellbar, was einen Menschen dazu bewegen könnte, einen Apfel statt einer Orange zu essen, wenn nicht sein Nutzen dafür stünde. Oder alternativ: Was wenn nicht der Nutzen könnte einen Autofahrer trotz Gefahr dazu bewegen, die zulässige Höchstgeschwindigkeit zu übertreten? Jedenfalls sieht die Welt so aus, als ob die Nutzenmaximierung ein dominantes menschliches Entscheidungsmotiv und daher einen nützlichen Ausgangspunkt für die Forschung darstellt. Es ist schwer, eine Verhaltenstheorie außerhalb der Nutzenmaximierung aufrechtzuerhalten. Selbst wenn das Prinzip der Nutzenmaximierung unerklärte weiße Flecken lässt (overconfidence des Autofahrers), ist das kein Grund, auf dieses Prinzip zu verzichten. Forschen ist nie am Ende, sondern Forschung stellt kontinuierliches Problemlösen dar (Karl Popper, 1994). Niemand hat behauptet, Forschen sei einfach. Aber das rechtfertigt noch nicht, eine Theorie aufzugeben und stattdessen nach ad-hoc-Lösungen zu greifen. Zum Schluss dieses Kapitels seien zwei Modelle angeführt: eines, in dem der Homo oeconomicus scheinbar versagt, obwohl er funktionieren sollte, und eines, in dem das Modell des Homo oeconomicus funktioniert, obwohl es versagen sollte.

1. Wo das ökonomische Verhaltensmodell versagt, obwohl es funktionieren sollte: Das Beispiel des AKW-Schutzes Das erste Modell betrifft den Fall von Unsicherheit, wo Risiken sehr groß werden. Ein solches Modell stammt von den Ökonomen-Psychologen D. Kahneman und A. Tversky (1978); es lässt sich auf das Problem der AKW-Sicherheit anwenden. Betrachtet wird in der Abbildung 1.3 die Unsicherheit eines Kernkraftwerks. Das Standardreferenzmodell besagt: Je mehr in Abbildung 1.3 von links nach rechts Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden, umso mehr nimmt die Standardsicherheit auf der vertikalen Achse zu, bis am Ende völlige Sicherheit erreicht ist. Vom Standardreferenzmodell unterscheidet sich die gefühlte Sicherheit, wie sie beispielsweise in Wahlen zum Ausdruck kommt. Sie folgt der geschwungenen Linie von links unten nach rechts oben. Am Anfang nimmt die gefühlte Sicherheit rasch zu. Schon kleine Maßnahmen erhöhen die gefühlte Sicherheit erheblich. Ganz rechts sieht es umgekehrt aus: Wenn die Standardsicherheit schon sehr hoch ist, führen weitere Verbesserungen dieser schon hohen Sicherheit zu einem immer stärkeren Wunsch nach gefühlter Sicherheit. Kernkraftwerke mögen nach dem Standardreferenzszenario schon fast ganz sicher sein. Doch die gefühlte Sicherheit der Wähler nimmt durch scheinbar belanglose Maßnahmen weiter stark zu. Darum sind Politiker mit der Zulassung von Kernkraftwerken extrem vorsichtig. Manche halten das für falsch, doch letztlich zählt, was die Wähler sagen.

F. Zusammenfassung des 1. Kapitels

100%

Standardsicherheit N und K P

gefühlte Sicherheit

0%

K N

Standardsicherheit

gefühlte Sicherheit

100%

Abbildung 1.3: AKW-Risiko Quelle: nach W. Krämer (2015) aus D. Kahneman und A. Tversky (1978)

2. Wo das ökonomische Verhaltensmodell funktioniert, obwohl es versagen sollte Es ist auch der umgekehrte Fall denkbar. Das ökonomische Verhaltensmodell funktioniert, obwohl es besser nicht funktionieren sollte. In Deutschland mussten im Jahr 2013 8356 Menschen, also 22 Menschen pro Tag, sterben, weil zu wenig Transplantationsorgane zur Verfügung standen, d. h. weil zu wenig Mitmenschen dazu bereit waren, nach ihrem Tod ihre Organe an Organkranke zu spenden. Öffentliche Aufrufe sollen die Menschen dazu bewegen, ihren Homo oeconomicus zu überwinden und sich bereit zu erklären, nach ihrem Tod ihre Organe für Organkranke zu spenden. Sie müssen keinerlei Kosten tragen, helfen aber einem Mitmenschen in Not. Die Wirklichkeit zeigt, dass selbst dieser Minimal-Altruismus verfehlt wird und stattdessen der illegale Organhandel des Homo oeconomicus floriert. Kritik am Modell des Homo oeconomicus reicht offenbar nicht aus, um diesen aus der realen Welt zu verdrängen.

F. Zusammenfassung des 1. Kapitels Grundlage dieses Buches ist das allgemeine ökonomische Verhaltensmodell des Homo oeconomicus. Es beinhaltet ein Set von einheitlichen Hypothesen, mit denen sich sowohl das individuelle Verhalten im Markt wie das im Staat erklären lässt. Es besteht eine klare Grenze zwischen der Privatökonomie der Märkte und der Finanzwissenschaft des Staates.

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1. Kapitel: Die Annahmen der Finanzwissenschaft Der Markt beruht auf den gleichen vier Axiomen wie der Staat: (1.) der Annahme des methodologischen Individualismus, (2.) der Eigennutzannahme, (3.) der Annahme gegebener Präferenzen und veränderlicher Beschränkungen und (4.)  der Annahme der Existenz relevanter Alternativen. Annahmen (2.) und (3.) implizieren zusammen das ökonomische Rationalprinzip, wonach sich Individuen bestmöglich an gegebene Beschränkungen anpassen. Die Ergebnisse unterscheiden sich im Markt und im Staat diametral. Im Markt müssen Individuen ihre Präferenzen offenbaren, um in den Genuss von Gütern zu gelangen. Im Staat können sie sich vor der Bezahlung drücken und sich als Freifahrer verhalten. Darum kommt die Ökonomik zum Ergebnis, dass der Markt, in dem es um private Güter geht, zu Prosperität und Wohlstand führt, während im Staat, wo öffentliche Güter und Freifahrerverhalten überwiegen, Versagen und Verderben resultieren. Im Rahmen des Homo oeconomicus sind Markt und Staat zu gleichen Teilen erforderlich, um menschliches Verhalten zu erklären: die Mikroökonomie für die Analyse von Märkten und die Finanzwissenschaft für die Analyse des Staates. Außerhalb des Homo oeconomicus, z. B. in der Verhaltensökonomik, verschwindet die Trennung zwischen Markt und Staat; denn das Verhalten der Individuen wird u. a. durch die Psychologie bestimmt. Sowohl Mikroökonomie als auch Finanzwissenschaft treten zurück. Es geht viel an analytischer Schärfe verloren, denn die Psychologie beruht auf verschiedenartigen Verhaltensannahmen und gelangt daher zu verschiedenartigen Hypothesen.

Wichtige Begriffe des 1. Kapitels Methodologischer Individualismus Verhaltensökonomik Eigennutzannahme Präferenzen und Beschränkungen Rationalprinzip Alternativen (Un-)vollständige, asymmetrische Information Finanzwissenschaftliche Entscheidungsanalyse Finanzwissenschaftliche Wirkungsanalyse Anomalien

Literatur zum 1. Kapitel Allgemeine Literatur: Homo oeconomicus und Verhaltensökonomie: E. Ackstaller, Rationales Herdenverhalten im Licht der Marktversagenstheorie. Europäi-

scher Verlag der Wissenschaften, Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 2005. A. Bandura, Social Learning Theory, Englewood Cliffs, N.J. (Prentice Hall) 1977. G. S. Becker, The Economic Approach to Human Behavior, Chicago, London (Univ. of Chicago Press) 1976, deutsch: Der ökonomische Ansatz zur Erklärung des menschlichen Verhaltens, Tübingen (Mohr) 1982. Ch. B. Blankart, Die Tragödie des Organmangels: Die vergessenen Dialysepatienten, Vortrag, Karlsruhe 2015.

F. Zusammenfassung des 1. Kapitels Th. Döring, Öffentliche Finanzen und Verhaltensökonomik: Zur Psychologie der budgetwirksamen Staatstätigkeit, Heidelberg (Springer) 2015. A. Downs, An Economic Theory of Democracy, New York (Harper and Row) 1957, deutsch: Eine ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen (Mohr) 1968. B. S. Frey, Eine Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, in: Kyklos, Vol. 31, Fasc. 2, 1978, S. 208–234. B. S. Frey, Ökonomie als Verhaltenswissenschaft, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Bd. 31, 1980, S. 21–35. B. S. Frey, Ökonomie ist Sozialwissenschaft, Die Anwendung der Ökonomie auf neue Gebiete, München (Vahlen) 1990. B. S. Frey und A. Stutzer, Happiness and Economics, (Princeton Univ. Pr.) 2002. D. Kahneman und A. Tversky, Prospect theory: An analysis of decision under risk, in: Econometrica, Vol. 47, No. 2, 1979, S. 263–291. G. Kirchgässner, Die neue Welt der Ökonomie, in: Analyse und Kritik, Vol. 10, 1988, S. 107–137. G. Kirchgässner, Homo Oeconomicus, Tübingen (Mohr) 4. Auflage 2013. G. Kirchgässner und W. W. Pommerehne, Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens: Implikationen für die Beurteilung staatlichen Handelns, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heft 3, 1988, S. 230–250. K.  R. Popper, Alles Leben ist Problemlösen: Über Erkenntnis, Geschichte und Politik, München/Zürich (Piper) 1994. G. Schmoller, Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Leipzig, Duncker & Humblot 1900. T. Singer in: Annika Reich, Abschied vom Homo Oeconomicus, Die Zeit 20.8.2015. J. Schnellenbach, Neuer Paternalismus und individuelle Rationalität. Eine ordnungspolitische Perspektive, List Forum, 2014 Sonderheft, S. 239–257. B. Siebenhüner, Homo sustinens als Menschenbild für eine nachhaltige Ökonomie, http:// www.sowi-onlinejournal.de/nachhaltigkeit/siebenhuener.htm Veröffentlichungsdatum: 27.11.2000. H. A. Simon, A Behavioral Model of Rational Choice, in: Quarterly Journal of Economics, vol. 69, S. 99–188. G. J. Stigler, The Economics of Information, in: Journal of Political Economy, Vol. 69, 1961, S. 213–225. G. Stigler und G. S. Becker, De Gustibus Non Est Disputandum, in: American Economic Review, Vol. 67, No. 2, 1977, S. 76–90. C. C. von Weizsäcker, Die Welt aus der Sicht des Ökonomen, in: H. Körner, P. Meyer-Dohm, E. Tuchtfeldt, Hrsg., Wirtschaftspolitik und Wissenschaft, Festschrift zum 65. Geburtstag von Karl Schiller, Bern, Stuttgart (Haupt) 1976, S. 67–83. C. C. von Weizsäcker, Konsumentensouveränität und beeinflussbare Präferenzen. Ist Laissez Faire bei der Werbung das Richtige?, List Forum, Sonderheft 2014, S. 258–273. C. C. von Weizsäcker, Logik der Globalisierung, Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 3. Auflage 1999. G. Weizsäcker, Verhaltensökonomische Ansätze in der Diskussion, in: ifo-Schnelldienst, 66. Jg. Nr. 24, 2015, S. 3–8. Allgemeine Lehrbücher: G. Brosio, Economia e Finanza Pubblica, Rom (La Nuova Italia Scientifica) 1986. E. K. Browning und J. M. Browning, Public Finance and the Price System, New York (Mac-

millan) 4. Auflage 1994. J. M. Buchanan und M. R. Flowers, The public finances, an introductory textbook, Homewood, Ill. (Irwin) 4. Auflage 1975. J. Cullis und Ph. Jones, Public Finance and Public Choice. Analytical Perspectives, London (McGraw-Hill) 2. Auflage 1998. F. Forte, Princìpi di Economia Finanziaria, 2 Bände, Mailand (Giuffè Editore) 2. Auflage 1988. D. Kahneman and A. Tversky, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, in: Econometrica, 47(2), S. 263–291, März 1979.

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1. Kapitel: Die Annahmen der Finanzwissenschaft F. Knight, Risk, Uncertainty and Profit, Boston and New York (Houghton Mifflin) 1921. A. Hilman, Public Finance and Public Policy, Responsibilities and Limitations of Government, Cambridge (Cambridge University Press) 2. Auflage 2009. R. E. Wagner, Public Finance, Revenues and Expenditures in a Democratic Society, Boston, Toronto (Little, Brown) 1983. Lehrbücher mit mehr wohlfahrtsökonomischer Ausrichtung: N. Andel, Finanzwissenschaft, Tübingen (Mohr) 1998. S. Connolly und A. Munro, Economics of the Public Sector, London et al. (Prentice Hall

Europe) 1999. G. Corneo, Öffentliche Finanzen: Ausgabenpolitik, Tübingen (Mohr) 3. Auflage 2009. D. Brümmerhoff, Finanzwissenschaft, München (Oldenbourg) 9. Auflage 2007. R. A. und P. B. Musgrave, Public Finance in Theory and Practice, New York et al. 5. Auflage 1989. H. S. Rosen, Public Finance, Boston et al. (McGraw-Hill) 6. Auflage 2002. H. S. Rosen und T. Gayer, Public Finance, New York (McGraw-Hill) 9. Auflage 2010. J. E. Stiglitz, Economics of the Public Sector, New York und London (Norton) 3. Auflage 2000. D. Wellisch, Finanzwissenschaft, Band 1, 2 und 3, München (Vahlen) versch. Jg. H. Zimmermann, K.-D. Henke und M. Broer, Finanzwissenschaft, München (Vahlen) 10. Auflage 2009.

It would be interesting to speculate on the reasons for the neglect of these [European continental] writers in the English speaking world R. A. Musgrave und A. T. Peacock (1958)

2. Kapitel Finanzwissenschaftliche Theorien A. Finanzwissenschaftliche Theorien früherer Jahrhunderte1 1. Erwerb und Schutz Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die ersten Staaten der Welt durch Arbeitsteilung entstanden sind. Eine Geschichte der Finanzwissenschaft als Geschichte von Staaten könnte mit der neolithischen Landnahme vor etwa 9.000 Jahren beginnen. Vor dieser Zeit fristeten die Menschen ihr Leben als Sammler und Jäger. Sie bemühten sich um ihre Ernährung und schützten sich gleichzeitig vor feindlichen Übergriffen. Allmählich erkannten die Menschen den Vorteil einer Trennung von Erwerb und Schutz: Erwerbende wurden sesshaft und übertrugen den Schutz gegen Entgelt an hierfür spezialisierte Beschützer. Das war der Anfang der Arbeitsteilung. Doch Erwerb und Schutz hatten ungleiche Produktionseigenschaften. Erwerb hatte eher konstante, Schutz eher zunehmende Skalenerträge. Darum lohnte es sich für einen Beschützer, gleich mehrere Erwerbende zu beschützen und deren Schutz als Monopolist bereitzustellen. Dadurch entstand eine Urform des Staates als Gewaltmonopol im Sinne von Max Weber (1919). Die ungleichen Produktionsbedingungen von Erwerb und Schutz waren unbedeutend, solange die Erwerbtreibenden bei mangelhaftem Schutz durch die Beschützer wieder ins Sammler- und Jägerdasein zurückkehren konnten. Das Monopol des Staates war „bestreitbar“ (contestable). Dieses Monopol verfestigte sich jedoch, je mehr die Erwerbstreibenden ihren Boden urbar machten. Dadurch stieg ihre Produktivität, aber ihre Mobilität ging zurück. Sie konnten ihren Beschützern nicht mehr so leicht entkommen, ohne das ortsgebundene Kapital zurückzulassen, und sie waren daher der Gefahr ausgesetzt, von den Beschützern ausgebeutet zu werden. Die Beschützer wurden zu Herren, die Erwerbtreibenden zu abhängigen Bauern. In einem nächsten 1

In Anlehnung an Ch. B. Blankart (2015).

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2. Kapitel: Finanzwissenschaftliche Theorien Schritt weckte der Mehrertrag der Bauern unter auswärtigen Beschützern die Begierde, sich die ertragreichen Territorien kriegerisch zu unterwerfen und sich deren Mehrwert zu anzueignen. So entstand ein Zyklus von Sesshaftigkeit, Wirtschaftswachstum, Besteuerung und Eroberung. Im Mittelmeerraum ist diese Geschichte gut dokumentiert. Erst traten die Ägypter, dann die Assyrer, die Phönikier und später die Perser und Makedonier als Mächte auf, die sich Territorien unterwarfen. Sie alle scheiterten schließlich am Emporkommen der Macht der Römer. Der Erfolg der Römer beruhte im Wesentlichen auf vier Faktoren: Demokratie im Inneren, militärischer Organisationsfähigkeit, soldatischem Drill und Sklavenwirtschaft. Die anderen Mächte scheiterten, weil ihnen meist einer dieser Faktoren fehlte.

2. Die Macht der Römer Mit diesen Faktoren gelang der römischen Republik eine einzigartige Folge von Eroberungen des gesamten Mittelmeerraumes. Diese Erfolgsserie fand ihren vorläufigen Höhepunkt mit dem Sieg Octavians (des späteren Augustus) über seinen Gegner Marcus Antonius bei Actium 31 v. Chr. Mit diesem Sieg war die römische Republik endgültig untergegangen. Das Kaiserreich begann. Hierzu bemerkt der berühmte Historiker Edward Gibbon: „[B]ald entdeckte er [der Kaiser], dass Rom bei seiner gegenwärtigen Größe vom Kriegsglück bedeutend weniger zu erhoffen als zu befürchten habe; und dass in auswärtigen Kriegen die Operationen täglich schwieriger, ihr Ausgang zweifelhafter, die Erwerbungen unsicherer und weniger segensreich würden.“ (E. Gibbon, 1788, 1. Band, Kapitel 2) Die Fähigkeit des Eroberns trat in den Hintergrund. Dafür war die Fähigkeit des Herrschens gefragt. Die römischen Kaiser mussten ein enormes, bis heute nie wiederentstandenes Reich beherrschen. Es reichte von den Säulen des Hercules bei Gibraltar im Westen bis ins Zweistromland von Euphrat und Tigris im Osten, vom Hadrianswall an der Grenze zwischen England und Schottland im Norden bis zum Roten Meer im Süden.

3. Das römische Verwaltungspaket Die römische Verwaltung bestand aus einem Verwaltungspaket mit einer Sollund einer Habenseite. Auf der Soll-Seite standen Roms Ansprüche aus der Anerkennung seiner militärischen Herrschaft, aus der Kapitalgerichtsbarkeit und der Steuerpflicht. Auf der Haben-Seite standen die freie Verwaltung der Untertanen in eigenen Angelegenheiten, die Befreiung von der Pflicht, selbst Wehrdienst leisten zu müssen, der Freihandel im römischen Reich, ferner freie Nutzung gesicherter Straßen, ein einheitliches Geldwesen (in Silber und Gold, in Denar und Aureus), der Schriftverkehr und die gemeinsame lateinische Sprache als lingua franca. Die den Provinzen gewährten Rechte waren großzügig, aber nicht konstitutionell. Denn das römische Reich war nicht ein Föderalstaat, sondern eine Gover-

A. Finanzwissenschaftliche Theorien früherer Jahrhunderte nance. Rechte der Untertanen konnten bei tatsächlichem oder behauptetem Ungehorsam jederzeit entzogen werden. Die Menschen mussten stets fürchten, in einer Strafaktion in die Sklaverei verkauft, in einem spanischen Silberbergwerk zu Tode geschunden, als Schlachtopfer zu einem Zirkusspiel deportiert oder als Geisel nach Rom verschleppt zu werden. Vor dieser Unsicherheit bestand wenig Anreiz, lokale Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen. Im Kräfteverhältnis zwischen Zentralstaat und den Provinzen war der Zentralstaat in Rom der stärkere Part. Vom Zentralstaat begangene Fehler konnten in die Provinzen abgeschoben werden, die Provinzen konnten ihrerseits ihre Fehler schwerlich an den Zentralstaat abschieben. Provinzen konnten sich nicht wie die Bundesländer eines heutigen Bundesstaates auf eine Überlebensgarantie des Zentralstaates verlassen. Eher wurde eine Provinz aufgegeben (wie z. B. die Provinz Judäa nach dem Aufstand der Juden im Jahr 70 der Provinz Syria zugeschlagen wurde), als dass sie sich dem Befehl Roms widersetzen konnte. Zu einem Versagen des Zentralstaates kam es im römischen Reich in der Zeit der Soldatenkaiser. In den 60 Jahren von 215 bis 285 herrschten nicht weniger als 48 Soldatenkaiser, viele von ihnen weniger als ein Jahr. Bei so kurzen Amtszeiten kann es nicht verwundern, dass den Soldatenkaisern mehr an ihrem eigenen kurzfristigen Wohlergehen als an der langfristigen Zukunft des Reichs lag. So wird auch von heutigen demokratischen Regierungen gesagt, dass sie in erster Linie ihren eigenen kurzfristigen Nutzen maximieren und Ziele jenseits ihrer Amtsdauer vernachlässigen. Ihren Niederschlag fand die Kurzfristpolitik in den damaligen Münzverschlechterungen. Diese gingen vom Zentralstaat in Rom aus, der die Münzhoheit besaß. Münzverschlechterungen waren notwendig, weil die Steuereinnahmen der Soldatenkaiser nicht ausreichten, um die Ausgaben zu finanzieren, und weil der Staatskredit noch nicht existierte. Noch bis in die Zeit von Kaiser Nero (54–68) wiesen Denar und Aureus den vollen Silber- und Goldgehalt auf. Dann aber begann die Zeit der Münzverschlechterung, bis die Münzen zur Zeit des Soldatenkaisers Aurelian (270–275) nur noch 2 % ihres ursprünglichen vollen Werts enthielten. Durch Münzverschlechterungen wurde der Zentralstaat auf Kosten der Provinzen begünstigt. Dieser verfügte über augenblickliche und zusätzliche Binnenkaufkraft, um den eigenen Konsum zu steigern, während sich der Kaufkraftverlust erst später in den Provinzen niederschlug, wo auswärtige Händler immer weniger bereit waren, die verdünnten römischen Münzen in Zahlung zu nehmen. Infolgedessen schrumpfte der Außenhandel. Jedermann versuchte, mit dem schlechten Geld zu bezahlen, während das gute Geld der alten Münzen nach Byzanz exportiert wurde. Es trat das Greshamsche Gesetz ein, demzufolge das schlechte Geld das gute Geld verdrängt. Die Inflation verbreitete sich über das ganze Reich. Unvermeidlich folgten Steuererhöhungen und sogar Preiskontrollen mit Mengenbeschränkungen. Bald reichte auch das verdünnte Geld nicht mehr aus, um die Truppen zu bezahlen und die Einfälle der Barbaren abzuwehren. Damit verminderte sich für die Bevölkerung in den Provinzen der Vorteil des genannten Verwaltungspakets von Steuern gegen öffentliche Güter sowie Selbstverwaltung. Allmählich erkannten die Provinzeinwohner, dass sie aus der Teilhabe am römischen Reich

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2. Kapitel: Finanzwissenschaftliche Theorien keinen besonderen Vorteil mehr zogen (A. Demandt 2007). Sie gaben auf und arrangierten sich mit den Barbaren. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die römische Herrschaft am Anfang sehr erfolgreich war. Kaiser Augustus realisierte eine subtile Balance zwischen Durchgreifen und Nachgeben. Im Ganzen ein gutes Verwaltungspaket. Aber dabei blieb es. Die römische Herrschaft war ein Befehlssystem von oben nach unten. Von ihr gingen keine Anreize zu Reformen auf der Basis aus. Auch der Zentralstaat hatte keine Anreize, sich zu reformieren, weil er auf Kosten der Provinzen leben konnte, und die Provinzen hatten keine Anreize, sich selbst voranzubringen, weil sie die Zentrale unterhalten mussten und keine wirkliche Eigenständigkeit erlangen konnten. Daher verlor die römische Herrschaft in den späteren Jahrhunderten zunehmend an Effizienz. Vergleichsweise hätte ein konstitutioneller Föderalismus Erneuerungsanreize an der Spitze wie an der Basis generiert. Beide hätten sich bemüht zu überleben. Was jedoch die römische Herrschaft am Schluss in Westeuropa zurückließ, war ein Vakuum ohne Institutionen. Der Erfolg der römischen Herrschaft war am Anfang groß, nahm dann kontinuierlich ab und erreichte im Jahr 476 beim Untergang des römischen Reiches die Null-Linie eines institutionellen Vakuums.

4. Privatisierung der Sicherheit im Mittelalter Wahrscheinlich wäre das römische Reich auch unter einem anderen Regime untergegangen, aber es wäre weniger ein Vakuum zurückgeblieben. Eben dieses Vakuum charakterisierte das auf die Römerherrschaft folgende Mittelalter. Was von Westeuropa blieb, war ein Raum von Chaos und Anarchie. Die Bevölkerung Europas ging um etwa 30 % und von 18 Millionen im Jahr 1 auf 17 Millionen um 400, auf 13 Millionen um 600 zurück. Was sollte die geplagte Bevölkerung tun? Wie konnten die Menschen in einer Welt ohne Staat, ohne Geld und ohne Schrift zu Sicherheit gelangen? Sie brauchten örtlichen Schutz vor kleineren Übergriffen und überörtlichen Schutz vor größeren Konflikten. Zur Staatenbildung kam es nicht; denn es fehlte eine unumstrittene Macht, die ein Machtmonopol im Sinne von Max Weber (1919) hätte ausüben können. Es traten private Verträge an die Stelle von Staaten: das Lehnswesen. Vasallen boten den Bauern Schutz vor örtlichen Übergriffen, wofür diese sich durch Fronarbeit bezahlen ließen. Diese wiederum traten für den Fall größerer Konflikte in Rückversicherungsverträge auf Gegenseitigkeit mit den Lehnsherren (dem König oder Kaiser). Das Lehnswesen war kompetitiv, weil jede der Parteien (auch die Bauern) mobil war und ihren Marktpartner wechseln konnte. Typisch waren Verträge zwischen zweien (eins zu eins) mit freiem Ein- und Austritt.2 Dieses Vertragsnetz ohne Geld überdauerte das ganze Frühmittelalter. Als dann mit Otto I (Kaiser von 936 bis 973) Geld und die Schrift allmählich wieder aufkamen, wurden außer bilateralen Verträgen auch Vertragskoalitionen möglich. Es gelang den Lehnsherren und Vasallen in den folgenden Jahrhun2

Die Erblichkeit der Lehen tat dem keinen Abbruch.

A. Finanzwissenschaftliche Theorien früherer Jahrhunderte derten, sich zu einer Koalition unter Ausschluss der Bauern zu vereinigen und eine Zwei-zu-eins-Situation herzustellen. Die Bauern waren durch vermehrte Investitionen, z. B. durch Urbarmachung, in örtliches Kapital zwar produktiver, aber auch sesshafter geworden und konnten daher den Vasallen nicht mehr mit ihrer Auswanderung drohen.

5. Kriegerische Machtmonopole Aus der Koalition von Vasallen und Lehnsherren unter Ausschluss der Bauern entstanden langsam Strukturen von Staaten, die auf einem Machtmonopol beruhten und die von den Bauern Abgaben gegen Sicherheitsleistungen eintreiben konnten. Wo die Lehnsherren den Vasallen einen hinreichenden Preis nicht bieten konnten, da verselbstständigten sich diese zu autonomen Reichsfürsten3 (Volckart, 2002, S. 154 f.). Die neuen regionalen Machthaber garantierten (wie einst die Vasallen) Sicherheit im Inneren ihres Machtbereichs. Das war ein Fortschritt. Kultureller Wettbewerb in Wissenschaft und Kunst mit Musik, Malerei und Architektur ging von den neuen Staaten aus. Destruktiv war das Bestreben der Machthaber, ihren Machtbereich auf Kosten anderer Staaten auszudehnen. Der Kaiser, der als Lehnsherr den destruktiven Wettbewerb unterbinden sollte, war unglaubwürdig und unzuverlässig geworden, zumal er ja zuvor selbst im Verein mit den Reichsfürsten das Lehnswesen ausgehöhlt hatte. Die Fürsten trauten einander nicht. Es herrschte die Situation eines Gefangenendilemmas. Deswegen war Krieg eine unmittelbare Reaktion. Besonders tragisch war der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 mit seinen großen Verwüstungen in ganz Deutschland. Schätzungen zufolge bewirkte er einen Bevölkerungsrückgang von 16,5 Millionen im Jahr 1618 auf 10,5 Millionen im Jahr 1648, also um etwa 36 %.4 Am Ende des Krieges waren die Parteien so erschöpft, dass keine von ihnen mehr einen Vorteil aus der kriegerischen Nichtkooperation herausholen konnte.

6. Verfassungsvertrag und Kameralismus Aus den Leiden der Anarchie des Dreißigjährigen Krieges entstand im Jahr 1648 der Vertrag des Westfälischen Friedens. Interessant ist die im Westfälischen Frieden gefundene Verfassungsformel. Die Fürsten einigten sich auf vier Kriterien: 1. Alle Staaten sind souverän. Sie besitzen das fundamentale Recht politischer Selbstbestimmung. 2. Alle Staaten sind rechtlich gleichgestellt. 3. Alle Staaten sind autonom, ihre inneren Angelegenheiten ohne Einmischung anderer Staaten zu regeln.

3 4

In Vertretung des Kaisers. Geschichts- und Kulturverein München e.V. http://geschichtsverein-koengen.de/ DreissigKrieg.htm (22.8.2015).

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22

2. Kapitel: Finanzwissenschaftliche Theorien 4. Alle zwischenstaatlichen Vereinbarungen bedürfen der Zustimmung aller und sind daher freiwillig. Diese Grundsätze sind heute noch von immenser Bedeutung. Sie sind im Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge 1969 neu verankert worden. Der Westfälische Frieden schuf eine Friedensordnung für 300 souveräne Territorien. Er etablierte ein kooperatives Wettbewerbssystem, das insbesondere kleinen Staaten wie den freien Reichsstädten ein Überleben ermöglichte.5 Die Stabilität des Westfälischen Friedens veränderte das Verhalten der Fürsten. Eigennutzmaximierung blieb ihr primäres Ziel. Doch diese fand nicht mehr im Gefangenendilemma der Anarchie statt, sondern unter einem von den Staaten und von den Großmächten garantierten Vertrag. G. Brennan und J. M Buchanan bezeichnen diese Situation als „Choice within Rules“ (1993, S. 1–42). Regeln erwiesen sich als großer Vorteil der Ordnung gegenüber der Anarchie. Anstatt nur ihren Konsum zu steigern, erkannten die Fürsten jetzt den Vorteil, durch sorgfältige Bewirtschaftung der eigenen Ressourcen ihren späteren Wohlstand zu erhöhen. Hierzu heuerten Fürsten die Kameralisten an, d. h. Finanzwissenschaftler, die sich im Dienste ihrer Fürsten für eine Gesundung der Staatsfinanzen einsetzten. (K. Klock, 1651, nach B. Schefold, 2014). Der Erfolg der Kameralisten zeigte sich in den Einwanderungszahlen. Schätzungsweise 250.000 Hugenotten, denen die Ausübung ihrer Religion in Frankreich verboten war, wählten Deutschland als neues Heimatland (M. Lausberg, 2007).

B. Merkantilismus Der Kameralismus war im Ganzen erfolgreich, daher wurde er von Deutschland aus auf Europa ausgedehnt. Auch in Frankreich wurde er übernommen. Er erhielt dort den Namen Merkantilismus. Doch Frankreich war ein fruchtbares und daher reiches Land. Es war weit weniger als die deutschen Fürstentümer dem zwischenstaatlichen Wettbewerb ausgesetzt. Der Kameralismus war in Deutschland eine wettbewerbliche Überlebensstrategie, in Frankreich wurde der Merkantilismus zur Ressourcen-Ausbeutungsstrategie. Alle Mittel des Landes wurden in den Dienst des Staates, d. h. des königlichen Reichtums, gestellt. Diese Planwirtschaft war anfänglich erfolgreich. Dann aber stellte sich heraus, dass der Merkantilismus keine Wachstumsstrategie beinhaltete, sondern allein auf den Konsum ausgerichtet war. Ihm fehlte das freie Unternehmertum. Der Merkantilismus brachte daher langfristig nicht den Ertrag, den die Herrscher von ihm erwarteten. Frankreichs Staatsfinanzen wurden im 18. Jahrhundert infolge des Merkantilismus immer prekärer und die Staatsverschuldung immer größer. Um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden, berief der König Ludwig XVI in letzter Not die Generalstände, eine Art Ständeparlament, nach Versailles ein, um 5

Große Staaten verblieben dagegen in einem oligopolistischen, kriegerischen Wettbewerb.

C. Das große Schisma in der Finanzwissenschaft von diesem höhere Steuerzahlungen zu erbitten. Doch es war zu spät. Der Merkantilismus wurde von den Generalständen nicht mehr länger akzeptiert. Die Generalstände (genauer ihr bürgerliches Lager) wurden zur Opposition. Sie organisierten sich 1789 in der Nationalversammlung zur Speerspitze der französischen Revolution. Tabelle 2.1 enthält eine Zwischenbilanz. Sie zeigt anhand der Bevölkerungsentwicklung, wie viel Freud und Leid die Finanzwissenschaft und die hinter ihr stehenden politischen Regime in Europa verursacht haben. Die Daten sind unvollständig und bedürfen der Interpolation zwischen den Zeilen. Dennoch belegen sie zwei große Linien: Unspektakuläre Zeiten wie der Anfang der römischen Herrschaft und der deutsche Kameralismus schneiden relativ günstig ab. Die anderen Perioden sind meist durch endlose Kriege, durch wirtschaftliche Stagnation oder sogar Kontraktion gekennzeichnet. Tabelle 2.1: Bevölkerung in Europa Jahr 1 bis 1820 Bevölkerung Mill.

Bevölkerungsveränderung absolut in Mill.

Bevölkerungsveränderung %

1. Römisches Altertum (Jahr 1)

18

2. Frühes Mittelalter

13

–5

–30

3. Kriegerische Macht­ monopole

16,5

–10,5

–36

4. Kameralismus in Deutschland

10,5

+0,25

+2,3

5. Merkantilismus und Franz. Revolutionskriege

130

–4,0

–3

Quellen: OECD und eigene Zusammenstellungen, vgl. Text.

C. Das große Schisma in der Finanzwissenschaft Die Gegenwart beginnt in der Ökonomik und in der Finanzwissenschaft mit Adam Smith (1776), dem Vater der Nationalökonomie.

1. England und das Zeitalter von Adam Smith Weit weniger dramatisch als in Frankreich wurde der Absolutismus in England beseitigt. Dies geschah schon 1688 in der Glorious Revolution. Meinungsäußerungsfreiheit wurde in einer kurzen Revolution ohne wesentliches Blutvergießen eingeführt. Die mit der Glorious Revolution erzielten Freiheiten erlaubten dem schottischen Moralphilosophen Adam Smith, einem Parteigänger der

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2. Kapitel: Finanzwissenschaftliche Theorien Whigs, in seinem Buch „Der Wohlstand der Nationen“ (1776) den herrschenden Merkantilismus anzugreifen und für Freiheit der Märkte einzutreten. Das war ein großer Erfolg. Doch nicht alle Theorien von A. Smith waren gleich erfolgreich. A. Smith glaubte wie die meisten Ökonomen von damals an die Arbeitswertlehre, wonach sich die Marktpreise aus der in einem Gut steckenden Arbeit erklären. „What every thing really costs to the man who wants to acquire it, is the toil and trouble of acquiring it“ (A. Smith, 1776). Die Arbeitswertlehre stammt vom früheren englischen Merkantilisten Sir William Petty (1662), der die Preise aus einer Art Buchhaltung der Produktionsfaktoren erklären wollte. Diese fragwürdige Theorie blieb solange bedeutungslos, als sich die tatsächlichen Preise auf dem freien Markt bildeten, wo die Individuen den Preis bezahlten, der das Gut ihnen persönlich wert war. Von Bedeutung wird die Begründung von Preisen jedoch, sobald diese erklären sollen, was ein Individuum zur Aufrechterhaltung des Staates beiträgt oder beitragen soll. Der Staatsphilosoph John Stuart Mill dachte zuerst, die Preise für den Staat müssten sich (wie die Preise für private Güter) aus dem Arbeitswert ableiten lassen. Dann aber erkannte er, dass dies nicht zutreffen kann, weil staatliche Dienstleistungen gemeinsam konsumiert werden: „The same judges, soldiers, and sailors who protect the one protect the other“ (J. St. Mill, 1848). Folglich ist unklar, wieviel davon auf den Einzelnen entfällt.

2. Die Theorie des gegebenen Staatshaushalts nach J. St. Mill Doch J. St. Mill scheiterte mit seinem Bestreben, die Preise des Einzelnen zum Staat mittels der Arbeitswertlehre zu bestimmen. Um dennoch zu ermitteln, wie viel ein Individuum zum Staat beitragen soll, machte er einen bedeutsamen Schritt: Er erklärte den Staatshaushalt für exogen gegeben und teilte die Gesamtausgaben nach der von ihm vermuteten individuellen Leistungsfähigkeit auf die einzelnen Steuerzahler auf.6 Damit beendete J. St. Mill den Versuch, den Staathaushalt als Wahlhandlung („Choice“) zu betrachten. Er verbannte die individuellen Entscheidungen (die bei Adam Smith noch die Essenz freier Märkte bildeten) aus den Staatsausgaben. Die Individuen hatten sich dem Staatshaushalt zu unterwerfen, wo es doch sinnvoller wäre, die Staatsausgaben den Individuen zu unterwerfen. Es lässt sich auch sagen: Bei J. St. Mill ist das Staatsbudget exogen und damit als Wahlhandlung unbestimmt.

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„Der Staat muss als eine alles andere so überragende Zusammenfassung aller angesehen werden, dass der Maßstab, wer an ihm am meisten interessiert ist, tatsächlich bedeutungslos wird. Hat eine Person oder Personenklasse an seinen Wohltaten so wenig Anteil, dass sich diese Frage mit der Notwendigkeit erhebt, so liegt der Fehler nicht in der Besteuerung, sondern in etwas anderem, und was erforderlich ist, ist, den Fehler zu beseitigen, anstatt ihn als Grundlage für eine Steuerherabsetzung anzusehen und als solchen zu verwerten.“ (J. St. Mill 1848, Buch V, II. Kapitel, § 2, 1848, 1921, S. 471).

C. Das große Schisma in der Finanzwissenschaft

3. Verlagerung der Diskussion in die kontinentaleuropäische Diaspora Im Eingangszitat zu diesem Kapitel stellen R. A. Musgrave und A. T. Peacock (1958) fest: Es wäre interessant darüber nachzudenken, warum sich zum Ende des 19. Jahrhunderts so viele Finanzwissenschaftler vom britischen Mekka abgewandt und dem europäischen Kontinent zugewandt haben. Eine Erklärung mag in der Stagnation des finanzwissenschaftlichen Denkens liegen, das von J. St. Mill ausging, J. St. Mill leugnete (wie dargelegt) die subjektive Wertlehre. Er verbaute damit den Weg zur Bewertung öffentlicher Güter. Nicht wenige Finanzwissenschaftler waren darüber enttäuscht. Sie wandten sich ab von England und schauten sich anderweitig um. Auf dem europäischen Kontinent fanden sie ein offenes, vorurteilsloses Diskussionsklima. Sie profitierten von der eben stattgefundenen, auf der subjektiven Wertlehre beruhenden „neoklassischen Gleichgewichtstheorie privater Güter“ von C. Menger (1871), W. St. Jevons (1871) und L. Walras (1874) und glaubten fest an das Ziel, diese Theorie auf öffentliche Güter anwenden zu können. Sie sagten sich: Was für private Güter des Marktes gezeigt werden kann, muss doch auch für die öffentlichen Güter des Staates gelingen. Die Frage ist nicht, „dass“ das gelingt, sondern „wie“. Der Schwede K. Wicksell (1896, S. 100) gab zu bedenken: „Wenn der Einzelne sein Geld so für private und öffentliche Ausgaben verwenden soll, dass für ihn die persönlich größtmögliche Befriedigung [der größtmögliche subjektive Nutzen] entsteht, so wird er für die öffentlichen Zwecke […] offenbar keinen Deut zahlen. Denn ob er viel oder wenig zahlt, das wird meistens auf den Umfang der Staatsleistungen einen so geringen Einfluss haben, dass er selbst davon so gut wie gar nichts verspüren wird.“ K. Wicksell erklärte, dass der Wert öffentlicher Güter dann richtig zum Ausdruck käme, wenn sich die Bürger, bzw. deren Vertreter im Parlament, zu einem einstimmigen Beschluss durchringen (K. Wicksell, 1896). Erst sollte das allgemeine Wahlrecht eingeführt werden, sodass reiche wie arme Bürger proportional im Parlament vertreten sind. Damit aber die (vielen) Armen die (wenigen) Reichen nicht überstimmen, sollten Beschlüsse einstimmig (oder fast-einstimmig) getroffen werden. Wenn die wenigen Reichen etwas durchsetzen wollen, so müssen sie hierfür so viel von den Kosten übernehmen, dass auch die (vielen) Armen bei entsprechend geringerem Kostenanteil zustimmen. Umgekehrt verhält es sich, wenn die Armen etwas gegen die Reichen durchsetzen wollen. Niemand kann gegen seinen Willen zur Zahlung verpflichtet werden. Dem steht das Einstimmigkeitsprinzip entgegen. Wer unaufrichtig verhandelt und stimmt, vergibt eine Chance, das Gut zu erhalten, oder er bezahlt einen höheren Kostenbeitrag, als ihm das Gut wert ist. Unter Wicksells Prinzip bleiben die persönlichen Präferenzen individuell. Niemand muss sich nicht fügen, sondern jede(r) kann jederzeit ihr/sein Veto einlegen. Es gibt keine Gesamtpräferenz. Jeder Versuch, eine Gesamtpräferenz zu ermitteln, landet entweder in der Diktatur oder er erweist sich als instabil. Wie J. Buchanan und G. Tullock (1962) später darlegen, ist der Gedanke Wicksells auch mit weniger als Einstimmigkeit vorstellbar, wenn sich zuvor eine Verfas-

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2. Kapitel: Finanzwissenschaftliche Theorien sungsversammlung einstimmig auf eine Nichteinstimmigkeitsregel geeinigt hat. Jede(r) weiß dann, worauf sie oder er sich einlässt. Die Konsequenz der Nichteinstimmigkeit ist abschätzbar und legitim, solange die einstimmig vereinbarten Regeln nicht gebrochen werden.

4. Das Problem der Nachfrage nach öffentlichen Gütern Die britische Schule der Finanzwissenschaft von J. St. Mill und den meisten seiner Nachfolger hat den methodologischen Quantensprung zur Wertschätzung öffentlicher Güter auch später nie nachzuvollziehen vermocht. Die bekannten Finanzwissenschaftler P. A. Diamond und J. Mirrlees betrachten Staatsausgaben als exogen, als Beschränkung (constraint), die ein gesellschaftlicher Planer zu berücksichtigen hat. Dass öffentliche Güter ein Entscheidungsproblem darstellen, taucht bei ihnen nicht auf. Öffentliche Güter sind gegeben und nicht eine Frage von Choice (P. Diamond und J. Mirrlees, 1971).7 Höhere (exogene) Staatsausgaben erfordern höhere Steuern, wie es in Abbildung 2.1 ausgedrückt ist. Aber welche Staatsausgaben gewählt werden sollen, ob G1, G2, G3 oder G4, sagen P. Diamond und J. Mirrlees nicht. Für jedes Ausgabenniveau lassen sich optimale (d. h. minimal verzerrende Steuern) berechnen. Doch die politische Frage, wie viel ausgegeben werden soll, bleibt unbeantwortet.

Staatsausgaben, Steuervolumen

G4 G3 G1

G2

Die optimalen Steuern Ti sind eine Funktion der Höhe der (exogenen) Staatsausgaben Gi

Exogene Staatsausgaben Gi Staatsausgaben

Abbildung 2.1: Optimale Steuern bei unterschiedlichen Staatsausgaben

Sich nur mit den Steuern zu befassen, ist eine sehr gefährliche Theorie. Sie erweckt den Eindruck, dass alles, was finanziert werden kann, auch anzuschaffen ist. Grafisch ausgedrückt heißt das, dass alle Güter mit Staatsausgaben G1 bis G4 in Abbildung 2.1 durch sogenannte optimale Steuern finanzierbar sind und daher auch angeschafft werden können und vielleicht auch sollten. Ebenso erscheint jede Steuer nützlich, die den Finanzierungsspielraum des Staates vergrößert. Doch eine reine Kostentheorie der Besteuerung reicht nicht aus: Öffentliche Güter entstehen aus Angebot und Nachfrage. Was nützen hohe Steuern, wenn die Bevölkerung nichts zum Essen hat? Es bedarf eines Tests, ob das, was finanziert werden kann, auch finanziert werden soll. Auf Märkten für private 7

„[T]he government might need to raise revenue to cover losses if there are increasing returns to scale or if there are fixed expenditures (such as defense) and constant returns to scale.“ Mit „defense“ deuten P. A. Diamond und J. Mirrlees an, dass es öffentliche Güter gibt.

D. Zusammenfassung des 2. Kapitels Güter beantwortet der (aus der Mikroökonomie bekannte) Gossen-Test diese Frage. Er besagt, dass die persönlichen Ausgaben solange gesteigert werden, bis der letzte Euro in allen Verwendungen den gleichen Grenznutzen bringt. Wie dieses Problem bei öffentlichen Gütern zu lösen ist, bleibt unbeantwortet.

D. Zusammenfassung des 2. Kapitels Finanzwissenschaftliche Theorien kommen und gehen. Die einen sind erfolgreich und tragen zur Prosperität bei, die anderen führen zu Elend und Not. Die Zahlen in Tabelle 2.1 dokumentieren Erfolge wie Misserfolge. •• Die Finanzwissenschaft des römischen Kaiserreichs war anfänglich erfolgreich. Sie brachte über 200 Jahre Frieden und Prosperität, aber sie war letztlich zentralistisch. Haupt und Glieder bildeten eine Einheit. Wenn das Haupt versagte, so litten auch die Glieder und umgekehrt. Eine Reform war nicht möglich. •• Deswegen brachen im Jahr 476 mit dem Haupt des römischen Reiches auch die Glieder in den Provinzen zusammen. Es blieb nach dem Zusammenbruch Roms an staatlichen Institutionen nichts mehr übrig. Die Folge waren 300 Jahre Anarchie in Mitteleuropa, aus der sich im Laufe des Mittelalters das Lehnswesen als privates Vertragssystem als Ersatz für den Staat herausbildete. •• Das Wiederaufkommen von Schrift und Geld um die Jahrtausendwende erlaubte Verträge und damit das allmähliche Wiederentstehen des Staates mit Verträgen von nunmehr (2:1) der Lehnsherren und Vasallen gegenüber den Bauern, statt bisher (1:1) zwischen Lehnsherren und Vasallen, bzw. Vasallen und Bauern. Langsam entstanden Staaten als Machtmonopole. Anfängliche Staaten standen in einem gegenseitigen Zerstörungswettbewerb, der im Dreißigjährigen Krieg seinen traurigen Höhepunkt fand. Als Erlösung von den Schrecken und Gräueltaten des Dreißigjährigen Krieges wurde 1648 der Vertrag des Westfälischen Friedens geschlossen. •• In der Folge stabilisierten Kameralisten die öffentlichen Finanzen der Staaten Deutschlands. Deutsche Staaten befanden sich nunmehr in einem konstruktiven Systemwettbewerb um Wachstum und Besteuerung. •• In Frankreich wurde die Lehre des Kameralismus zum Merkantilismus. Doch Frankreich war ein großes zentralistisches Land, seine Teile standen nicht in einem Systemwettbewerb untereinander. Daher wurde der Merkantilismus zu einer ausbeuterischen Planwirtschaft. Merkantilismus führte zum Raubbau an den Ressourcen und dieser bewirkte einen Niedergang der Staatsfinanzen. Der Merkantilismus endete in der französischen Revolution von 1789, welche die Revolutionskriege von 1792 bis 1815 nach sich zog. •• Während der dunklen Zeiten der französischen Revolution herrschte in England schon ein freiheitliches Regime. Dieses erlaubte Adam Smith, in seinem Buch „Der Wohlstand der Nationen“ (1776) ein Plädoyer gegen den Merkantilismus und für den Freihandel zu schreiben. Smiths Theorie, wonach sich die Güterpreise aus der in ihnen steckenden Arbeit erklären, die

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2. Kapitel: Finanzwissenschaftliche Theorien sogenannte Arbeitswertlehre, ist leider falsch. Sie brachte in der Folge mehr Verwirrung als Klarheit. •• J. St. Mill wollte die Steuern des Staates zunächst auch aus der Arbeitswertlehre erklären. Doch er scheiterte am Problem der Zuordnung von Staatsausgaben auf die Individuen. Daher postulierte er ein festes Budget, dessen Steuerlast nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip auf die Individuen aufgeteilt werden sollte. J. St. Mill wollte nicht einsehen, dass öffentliche Güter nach der subjektiven Wertschätzung bewertet werden und daher Objekt subjektiver Entscheidungen bilden. Damit verbaute er die Verbreitung der subjektiven Wertlehre in England. •• Nicht wenige Finanzwissenschaftler wandten sich ab vom ökonomischen Mekka in England (London). Sie forschten in der Diaspora des europäischen Kontinents und stießen in dieser Umgebung auf eine auf individuellen Präferenzen beruhende Erklärung des Angebots öffentlicher Güter. Das Eingangszitat von R. A. Musgrave und A. T. Peacock zu diesem Kapitel belegt diesen Exodus. •• Infolge des Dissenses zwischen Ökonomen in Großbritannien und auf dem Kontinent gibt es heute zwei Finanzwissenschaften: – die „wohlfahrtorientierte Finanzwissenschaft“ mit exogenem Staatshaushalt britischen Ursprungs und – die entscheidungsorientierte „Public Choice-Finanzwissenschaft“ mit endogenem Staatshaushalt, deren Ursprung auf dem europäischen Kontinent liegt.

Wichtige Begriffe des 2. Kapitels Kameralisten Neoklassische Revolution Angelsächsische Lehre Kontinentaleuropäische Lehre Italienische Schule der Finanzwissenschaft

Literatur zum 2. Kapitel K. Arrow, Social Choice and Individual Values, New York Wiley und Yale Univ. Pr. 1951, 2nd ed., 1963. Ch. B. Blankart, Politische Folgen finanzwissenschaftlicher Konzepte, Ordo, Bd. 66 2015, S. 61–79. Ch. B. Blankart, Knut Wicksells Finanztheoretische Untersuchungen 1896–1996. Ihre Bedeutung für die moderne Finanzwissenschaft, in: Finanzarchiv 52, Heft 4, S. 437–459. Ch. B. Blankart und E. R. Fasten, Knut Wicksell’s Principle of Just Taxation Revisited in: V. Caspari Hrsg.: The Evolution of Economic Theory: Essays in Honour of Bertram Schefold, London: Routledge, 2011. Ch. B. Blankart, Land, men and taxation: an application to pre-modern China and Europe Erik Jones’ European Miracle Revisited. Const. Polit. Econ. 2014. Ch. B. Blankart, Public Choice, in: G. Faccarello und H. D. Kurz, Handbook on the History of Economic Analysis, Schools of Thought in Economics, Cheltenham: Elgar 2016, S. 401–415. M. Blaug, Economic Theory in Retrospect, Cambridge: Cambridge Univ. Press 1978.

D. Zusammenfassung des 2. Kapitels R. Blomert, Adam Smiths Reise nach Frankreich oder die Entstehung der Nationalökonomie. Berlin. Die Andere Bibliothek, 2012. J. M. Buchanan, “La Scienza delle Finanze: The Italian Tradition in Fiscal Theory”, Fiscal Theory and Political Economy, Chapel Hill: University of North Carolina Press 1960, S. 24–74. J. M. Buchanan, The Limits of Liberty, Between Anarchy and Leviathan, Chicago, London (Univ. of Chicago Press) 1975, deutsch: Grenzen der Freiheit, Zwischen Anarchie und Leviathan, Tübingen (Mohr) 1984. J. M. Buchanan und R. A. Musgrave, Public Finance and Public Choice: Two Contrasting Visions of the State, Sinn, H.W. (ed.) MIT Press, Cambridge, Mass. 2000. J. M. Buchanan und G. Tullock, The Calculus of Consent, Ann Arbor (Univ. of Michigan Press) 1962. A. De Viti De Marco, Il carattere teorico dell’economia finanziaria, Rom: Pasqualucci 1888. P. A. Diamond und J. A. Mirrlees, Optimal Taxation and Public Production I: Production Efficiency, and Optimal Taxation and Public Production II: Tax Rules, in: American Economic Review, Vol. 61, No. 1 und 2, 1971: 8–27 und 261–278. E. Gibbon, Verfall und Untergang des Römischen Reiches, 1788, Gutenberg online 2012. H. H. Gossen, Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln, Braunschweig 1854. A. O. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States. Cambridge, MA: Harvard University Press. 1970. W. St. Jevons, The Theory of Political Economy, London: Macmillan1871. J. St. Mill, Principles of Political Economy with some of their Applications to Social Philosophy, Book V, Chapter II, On the General Principles of Taxation; London; Longmans, Green and Co. 1848, deutsch: Grundsätze der politischen Ökonomie mit einigen Anwendungen auf die Sozialphilosophie, Verlag Gustav Fischer, Jena, 1921–1924. J. St. Mill, Utilitarianism. Parker, Son, and Bourn: London 1863. J. A. Mirrlees, An Exploration in the Theory of Optimal Income Taxation, in: Review of Economic Studies, Vol. 38, 1971, S. 175–208. J. Mirrlees, S. Adam, T. Besley, R. Blundell, S. Bond, R. Chote, M. Gammie, P. Johnson, G. Myles, J. Poterba, Dimensions of Tax Design, Oxford University Press 2010. J. Mirrlees, S. Adam, T. Besley, R. Blundell, S. Bond, R. Chote, M. Gammie, P. Johnson, G. Myles, J. Poterba, Tax by Design, Oxford University Press 2011. R. A. Musgrave, und A. T. Peacock, Classics in the Theory of Public Finance, Macmillan, London 1958. P. A. Samuelson, The Pure Theory of Public Expenditure, in: Review of Economics and Statistics, 36, 1954, S. 387–389. E. Sax, Grundlegung der theoretischen Staatswirtschaft, Hölder, Wien 1887. A. Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, 1776, ins Deutsche übertragen und herausgegeben von H. C. Recktenwald, München (Beck) 1974. O. Volckart, Wettbewerb und Wettbewerbsbeschränkung im vormodernen Deutschland 1000–1800, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2002. K. Wicksell, Finanztheoretische Untersuchungen nebst Darstellung und Kritik des Steuerwesens Schwedens, Jena (Gustav Fischer) 1896, teilweise übersetzt in: R. A. Musgrave und A. T. Peacock, Classics in the Theory of Public Finance, London: Macmillan 1958, S. 72–118.

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Homo homini lupus T. M. Plautus 254–184 v. Chr.

3. Kapitel Die ökonomische Logik des Staates A. Warum ist der Staat überhaupt notwendig? Warum existiert der Staat? Die traditionelle Finanzwissenschaft sieht den Staat als gegeben an. Dies ist jedoch unbefriedigend. Denn eine Disziplin, die sich den Staat zum Gegenstand auswählt, sollte versuchen zu verstehen, warum es den Staat gibt. Ohne Beantwortung der Existenzfrage hängen alle weiteren Fragen der Finanzwissenschaft sowie dieses Buch in der Luft. Beispielsweise lässt sich nicht beantworten, warum es Staatsausgaben und Steuern braucht, solange ungeklärt ist, warum es den Staat braucht. Im vorangegangen zweiten Kapitel ist der Staat aus der Arbeitsteilung zwischen Produktion und Schutz erklärt worden. Das ist eine hilfreiche Erklärung. Doch Philosophen haben sich damit nicht zufrieden gegeben. Sie haben gefragt: Ist ein Staat legitim? Um legitim zu sein, muss ein Staat den Interessen der Bürgerinnen und Bürger dienen. Jedes staatliche Handeln findet im Dienst am Bürger seine Rechtfertigung. Dies ist auf zwei Wegen möglich: auf einem vertragstheoretischen (Abschnitt B und C) und auf einem evolutorischen Weg (Abschnitt  D). Ein angewandtes Beispiel soll dieses Denken am Schluss des Kapitels illustrieren (Abschnitt E). Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung (Abschnitt F).

B. Anarchie Man könnte zuerst einmal die Gegenposition einnehmen und behaupten, die Existenz des Staates lasse sich aus dem ökonomischen Eigeninteresse nicht erklären. Vielmehr stelle die Anarchie, also der staatslose Zustand, für einen freiheitlich denkenden Menschen das Ideal dar. In der Anarchie gibt es keine Institution, die den Menschen Handlungsbeschränkungen in der Form von Gesetzen auferlegt. Es wird auch nichts gemeinsam beschlossen und durchgesetzt. Jeder kann seine Angelegenheiten nach eigenem Gutdünken regeln, auch wenn alle anderen seine Entscheidungen als unrichtig ansehen. Niemand kann ihn daran hindern, seine Haustür grün anzustreichen, selbst wenn die

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3. Kapitel: Die ökonomische Logik des Staates anderen Menschen rot für schöner halten. Anarchie scheint also ein Maximum an Freiheit zu bringen. Eine anarchische Gesellschaft mag befürwortet oder abgelehnt werden. Aus ökonomischer Sicht ergeben sich aus der Nichtexistenz des Staates vor allem zwei Nachteile: 1. Weil der Staat fehlt, gibt es zwar keine expliziten Grenzen der Freiheit. Aber es besteht auch keine Institution, die den eigenen Freiheitsbereich vor den Übergriffen anderer schützt. Wenn die individuellen Freiheitsspielräume nicht voneinander abgegrenzt werden, dann sind letztlich auch die Freiheiten jedes Einzelnen gering. Der englische Philosoph Thomas Hobbes hat als Erster dieses Dilemma erkannt; er schreibt: „Daraus ergibt sich klar, dass die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden.“ (1651, 1966, S. 96) 2. Im Weiteren können in einer solchen Gesellschaft auch keine gemeinsamen Anliegen verwirklicht werden, d. h. es lassen sich alle jene Ziele nicht realisieren, die allein zu erreichen einen zu hohen Aufwand erforderten: Landesverteidigung, Seuchenbekämpfung, Hochwasserschutz, Feuerwehr usw., die sich aber bei gemeinschaftlichem Vorgehen erreichen lassen. Dieser Mangel der Anarchie besteht ganz unabhängig von den oben erwähnten zwischenmenschlichen Feindseligkeiten. Oft ist es für die Menschen ohne Staat einfach zu schwierig und zu aufwendig, sich zu einem gemeinsamen Vorgehen zusammenzufinden. Denn bei jeder gemeinsamen Aktion besteht die Gefahr, dass einige es vorziehen, Außenseiter zu bleiben, um auch ohne eigenen Kostenbeitrag an den Leistungen zu partizipieren. Aus beiden genannten Gründen können daher alle Individuen ihre Lage verbessern, wenn sie einen Staat bilden.

C. Der Verfassungsvertrag Aber wie kommt es zur Staatsgründung? Th. Hobbes sieht die Staatsgründung in einem Unterwerfungsvertrag unter den absoluten Herrscher. Das Individuum gibt seine gesamte eigene Freiheit auf. Es unterwirft sich dem „Leviathan“, dem versinnbildlichten Staat.1 1

„Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, dass sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen […]. Dies ist mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung: Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, dass du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. Ist dies geschehen, so nennt

C. Der Verfassungsvertrag Wie kam Hobbes zum Leviathan? Thomas Hobbes war Zeitzeuge der Gräuel des englischen Bürgerkrieges der Jahre 1642 bis 1651, in dessen Höhepunkt im Jahr 1649 König Karl I. enthauptet wurde. Unter diesem Eindruck verfasste Th. Hobbes in seinem Exil in Paris sein großes Werk „Leviathan“. Seiner Meinung nach ließ sich ein Bürgerkrieg, d. h. ein Krieg jedes gegen jeden (bellum omnium contra omnes) nur dann verhindern, wenn sich alle Menschen dem „sterblichen Gott“ des Leviathan, d. h. dem absolutisti­ schen Herrscher, unterwerfen. Der Leviathan ist also ein abstraktes Wesen: „ein sterblicher Gott“.

Th. Hobbes war ein Anhänger des Absolutismus, weil er dachte, nur der Absolutismus könne den Kriegszustand der Anarchie überwinden. Ein heutiger Zeitgenosse wird fragen, ob es denn nicht auch weniger absolutistische Formen des Verfassungsvertrags gibt, um die Anarchie zu überwinden. J. M. Buchanan und G. Tullock schlagen in ihrem Buch The Calculus of Consent (1962) die rechtsstaatliche Demokratie vor. Die Autoren präzisieren ihre Überlegungen anhand der beiden Begriffe Rechtsstaat und Leistungsstaat.

1. Der Rechtsstaat Ein Konsens muss zunächst einmal über den Rechtsstaat erzielt werden. Im Rechtsstaat (rule of law) werden die Freiheitsspielräume der Individuen gegeneinander abgegrenzt. Dies geschieht durch Zuweisung von exklusiven Verfügungsrechten über knappe Ressourcen im Verfassungsvertrag. Hinsichtlich dieser Ressourcen besteht uneingeschränkte Verfügungsfreiheit des Eigentümers, d. h. Freiheit, sie zu nutzen und zu veräußern. Verbindet man die Freiheit der Veräußerung, d. h. die Vertragsfreiheit, mit der Hypothese nutzenmaximierenden Verhaltens, so wird deutlich, dass der Rechtsstaat das Tauschsystem des Marktes impliziert. In der Wirklichkeit des Rechtsstaates ist allerdings die uneingeschränkte Vertragsfreiheit nicht für alle Rechte gegeben. So sind namentlich die Freiheitsrechte unveräußerlich. Diese Einschränkung der Vertragsfreiheit ist im Hinblick auf den Bestand einer freiheitlichen Gesellschaft erforderlich. Wäre es erlaubt, persönliche Freiheitsrechte zu verkaufen, so könnte die freie Gesellschaft zu einer Sklavengesellschaft degenerieren. Zu den Institutionen des Rechtsstaates gehören in erster Linie Gerichte, Polizei und Streitkräfte. Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die den Individuen gehörenden Rechte nicht durch Außenstehende in Frage gestellt werden, m. a. W: dass es nicht zu einem Rückfall in die Anarchie kommt. In zweiter Linie gehören zum Rechtsstaat auch Verständigungsnormen, wie Rechts- oder Linksfahren, Maß und Gewicht, Grundbuch und Handelsregister. Sie müssen einmal festgelegt werden und sind dann für alle Menschen maßgebend. man diese zu einer Person vereinte Menge Staat, auf lateinisch civitas. Dies ist die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken […]. Wer diese Person verkörpert, wird Souverän genannt und besitzt, wie man sagt, höchste Gewalt, und jeder andere daneben ist sein Untertan.“ Th. Hobbes, 1 (1651, 1966, S. 134 f. Hervorhebungen im Original)

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3. Kapitel: Die ökonomische Logik des Staates

2. Der Leistungsstaat Im reinen Rechtsstaat gibt es zunächst noch keine Regierung; denn es gibt ja nichts zu beschließen. Alles Notwendige ist in der Verfassung geregelt. Kollektive Entscheidungen sind allerdings erforderlich, wenn über öffentliche Güter entschieden werden soll (deren Beurteilung im Verfassungsvertrag noch offen geblieben ist). Solche Entscheidungen sind K. Wicksell (1896) zufolge einstimmig zu fällen. Denn unverzerrte Präferenzäußerungen sind nur zu erwarten, wenn nach Wicksells Prinzipien jedes Individuum seine Überzeugung einbringen bzw. wenn es sein Veto einlegen kann. Die Anreize, in strategischer Opposition zu verharren, sind groß. Aber letztlich ist das unproduktiv. Wenn sich das Gut lohnt, so muss es auch eine Lösung geben, der alle zustimmen können. Doch wie kann einstimmig über öffentliche Güter wie Landesverteidigung, Außenpolitik, Seuchenbekämpfung, Straßenbau, Hochwasserschutz, Feuerwehr usw. entschieden werden? Das scheint unpraktikabel. J. M. Buchanan und G. Tullock (1962) sehen das auch. Ihr Vorschlag besteht in einem zweistufigen Entscheidungsprozess. Erst werden Problemklassen von wichtigen und weniger wichtigen Entscheidungen über öffentliche Güter gebildet. Es wird einstimmig beschlossen, dass über wichtige Entscheidungen einstimmig oder mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird. Für weniger wichtige Fragen wie die Müllabfuhr wird im Konsens beschlossen, auch die Mehrheitsabstimmung zuzulassen. Dadurch bleibt das Einstimmigkeitsprinzip im Ganzen gewahrt. Es wird auf Verfassungsebene einstimmig darüber beschlossen, auf der Nach-Verfassungsebene das Nichteinstimmigkeitsprinzip anzuwenden. Zwei Entscheidungen sind zu unterscheiden: Die erste, d. h. die konstitutionelle Entscheidung, besteht in einer einstimmigen Entscheidung über Regeln (decision on rules). Erst auf der zweiten Ebene geht es um die Entscheidung innerhalb von Regeln unter Anwendung der zuvor vereinbarten Regeln (decision within rules). Diese geniale Idee der beiden Autoren wurde später, im Jahr 1986, mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. In der zweistufigen Betrachtung liegt die besondere

Σ beider Kosten

Kosten

Entscheidungskosten externe Kosten 0

L

100% der Bürgerschaft

Abbildung 3.1: Konsens über Nichteinstimmigkeitsabstimmungen Quelle: Nach Buchanan und Tullock (1962)

C. Der Verfassungsvertrag Leistung des Ansatzes von Buchanan und Tullock. Sie lässt sich grafisch in Abbildung 3.1 veranschaulichen. Die Teilnehmer am Verfassungsvertrag wissen, dass sie langfristig entscheiden. Sie treten daher (so J. M. Buchanan und G. Tullock) hinter ihr nahes Selbstinteresse, hinter John Rawls’ „Schleier der Unwissenheit“ über ihre konkreten Interessen, zurück und betrachten in Abbildung 3.1 langfristig die pure Eigenschaft der Regel, ein Problem zu lösen: Mit jeder Abweichung von der Einstimmigkeit, d. h. von 100 % nach links in Abbildung 3.1, nehmen die externen Kosten, d. h. die Nachteile eines eventuellen Überstimmtwerdens, zu. Umgekehrt nehmen die Entscheidungskosten, d. h. der Aufwand, um zu einer Entscheidung zu kommen, ab. Am Minimum der Summe der beiden Kosten bei L befindet sich die optimale Entscheidungsregel für eine bestimmte Gruppe von Entscheidungen. Tabelle 3.1 veranschaulicht die vorherige grafische Überlegung. Tabelle 3.1: Eigenschaften von Entscheidungsregeln: Das Kalkül eines Individuums Zustimmungserfordernis 1. Einstimmigkeitsregel 2. Einpersonenregel 3. Nichteinstimmigkeitsregel

Schwerfälligkeit (Kosten)

Willkür (Kosten)

alle

viel

wenig

eine(r)

wenig

viel

mehrere

von beiden etwas

Eine Gegenüberstellung der externen Kosten und der Entscheidungskosten befindet sich in Tabelle 3.1. In Zeile 1 steht die Einstimmigkeitsregel. Sie verlangt die Zustimmung aller, bevor ein Antrag verwirklicht wird. In Zeile 2 folgt die Einpersonenregel. Nach dieser Regel braucht ein eingebrachter Antrag von nur einem Individuum (wer dies auch immer sei) unterstützt zu werden, damit er in die Tat umgesetzt wird.2 Die erste Variante scheitert an den unendlich hohen Verhandlungskosten, die zweite an der Willkür der Ergebnisse oder den „externen Kosten“ in Tabelle 3.1.3 Um dem Dilemma zwischen diesen beiden Kosten zu entgehen, werden die Individuen eine Nichteinstimmigkeitsregel in 2

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Die Einpersonenregel wird hier als Entscheidungsregel ohne Vetorecht verstanden. Hätte im Rahmen der Einpersonenregel jedermann das Vetorecht, so liefe diese Regel auf die Einstimmigkeitsregel hinaus. Es könnten nur Maßnahmen durchgesetzt werden, gegen die niemand das Veto einlegen würde. Um die beiden Extreme der Beschlussfassung einander sinnvoll gegenüberstellen zu können, ist daher von einer Einpersonenregel ohne Vetorecht auszugehen. Es ist jedoch zu beachten, dass diese externen Kosten nur dann eine Rolle spielen, wenn wirklich gemeinsam zu regelnde Anliegen zur Diskussion stehen. Bei privaten Gütern, z. B. beim Kauf von Schuhen für sich selbst, entscheidet ein Individuum bindend für die gesamte Gesellschaft. Es wird die Einpersonenregel angewandt, weil die externen Kosten (Willkür) belanglos sind. Wird jedoch der Kauf von Schuhen zu einem gemeinsamen Problem erhoben, z. B. nur grüne Schuhe sind zulässig, dann sind die externen Kosten sehr hoch. Ein gemeinsamer Beschluss mag dann nur mit Einstimmigkeit geduldet werden.

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3. Kapitel: Die ökonomische Logik des Staates der Mitte zwischen Einstimmigkeits- und Einpersonenregel vereinbaren. Auf diese Weise wird ein Kompromiss zwischen der Schwerfälligkeit der Ersteren und der Willkür der Letzteren realisiert. In Abbildung  3.1 entspricht dieser Kompromiss dem Minimum der Summenkurve aus externen Kosten und Entscheidungskosten. Aber welcher Grad von Nichteinstimmigkeit wird denn vereinbart werden? Das hängt von der oben genannten Problemklasse ab. Sind Grundrechte berührt, so wird ein höheres Zustimmungserfordernis gewünscht werden, als wenn es nur um Sicherheitsstandards im Bauwesen geht. Die Bürger können jeder Problemklasse eine Abstimmungsregel zuordnen und damit eine ihnen problemgerecht scheinende Abwägung zwischen Verhandlungskosten und Willkür vornehmen. Über so formulierte Abstimmungsregeln ist dann hinter dem genannten Schleier der Unwissenheit ein Konsens grundsätzlich denkbar. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen: a) Nehmen wir einmal an, die Bürger stimmen in Volksabstimmungen selbst über die Vorlagen ab. Sie werden dann aus verschiedenen Nichteinstimmigkeitsregeln für jede Problemklasse eine auswählen. Besonders bekannt und beliebt ist die einfache Mehrheitsregel, bei der wenigstens 0,5 · n  +  1 der n Abstimmenden eine Vorlage billigen müssen, damit sie realisiert wird. Aber es gibt auch qualifizierte Mehrheitsregeln, z. B. die Zwei-Drittel-Regel, die für die Annahme eines Vorschlags 0,667 · n Stimmen verlangt. Je wichtiger die Problemklasse ist, desto näher werden die Bürger an die Einstimmigkeitsregel herangehen. Für Problemklassen von sehr hoher Bedeutung könnte eine Beinahe-Einstimmigkeitsregel von z. B. 0,95 · n (95 Prozent-Regel wie bei K. Wicksell) vereinbart werden.4, 5 b) Eine andere Möglichkeit, von der Einstimmigkeit abzuweichen, besteht in der Delegation von Entscheidungsbefugnissen an gewählte Vertreter: an ein 4 5

K. Wicksell spricht in diesem Fall von „relativer Einstimmigkeit“, vgl. 2. Kapitel, ohne allerdings den Bezug zur Verfassungsebene herzustellen. Liegt der erforderliche Stimmenanteil unter 50 %, d. h. gilt nicht die einfache (absolute) Mehrheit, sondern nur die relative Mehrheit, so besteht die Gefahr, dass ein einmal gefasster Beschluss durch eine ebenso große relative Gegenmehrheit wieder umgekippt wird. Aus einem solchen Gruppenveto kann dann ein langes politisches Hick-Hack entstehen. Daher ist die relative Mehrheitsregel vor allem dort zu erwarten, wo von zersplitterten Interessen ausgegangen werden muss, so z. B. bei zweiten Wahlgängen einer Kandidatenwahl, wenn vorher keiner der Vorgeschlagenen die absolute Mehrheit erlangt hat. Dem Problem des Gruppenvetos kann zuvorgekommen werden, wenn ein solches a priori ausgeschlossen wird (ähnlich dem oben erwähnten Vetoverbot bei der Einpersonenregel). Weil aber auch diese Regelung Nachteile hat, könnte man die relative Mehrheitsregel mit der Möglichkeit des Gruppenvetos einfach belassen. Interessengruppen, die einen Beschluss durchsetzen wollen, würden dann u. U. lernen, ihre Vorlagen aus eigenem Antrieb so zu gestalten, dass sie wenigstens von einer absoluten Mehrheit gestützt werden. Dann hat sich das Problem des Gruppenvetos von selbst erledigt. Faktisch wird dann die einfache Mehrheitsregel angewandt, obwohl die relative Mehrheit zugelassen ist. Aus solchen Überlegungen lässt sich erkennen, warum sich die einfache Mehrheitsregel so großer Beliebtheit erfreut. Sie stellt die Regel mit dem geringsten Zustimmungserfordernis dar, bei dem das Problem des Gruppenvetos nicht auftritt. Wie im 7. Kapitel noch näher zu zeigen ist, ist jedoch auch diese Stabilität nicht immer gegeben.

C. Der Verfassungsvertrag Parlament. Wenn sich z. B. nur noch 50 Vertreter statt 50 Millionen Wähler

c) d)

e)

f)

über ihre Anliegen einigen müssen, so werden die Verhandlungskosten drastisch gesenkt. Größere Zustimmungserfordernisse sind wieder möglich. Auch in diesem Fall ist eine Unterteilung der Zustimmungsanforderungen nach Problemklassen denkbar. Bei wichtigen Problemklassen kann für das Vertretergremium eine höhere Zustimmung vereinbart werden als bei Routineangelegenheiten. Noch weiter geht die Abweichung von der ursprünglichen Einstimmigkeit, wenn alle laufenden Geschäfte an ein Exekutivgremium, die Regierung, delegiert werden. Eine Verringerung der Verhandlungskosten lässt sich ferner durch eine Föderalisierung der Entscheidungen erreichen. Klassen von Problemen, die von vorwiegend regionaler oder lokaler und von geringer nationaler Bedeutung sind, werden den nachgeordneten bundesstaatlichen Ebenen der Länder, Landkreise und Gemeinden zur Entscheidung zugeordnet. Jede Gebietskörperschaft kann dann auf ein anderes Leistungsbündel beschließen. Im Gesamtstaat wird dann nur noch über die nationalen Probleme abgestimmt (vgl. 26. Kapitel). Alle hier erwähnten Abstimmungsverfahren gewähren der Willkür von Nichteinstimmigkeitsbeschlüssen etwas, aber nicht allzu viel freien Lauf. Man kann natürlich bei der Abweichung von der Einstimmigkeit auch großzügiger sein und dafür andere Regelungen des Schutzes vor zufälligen Mehrheiten vorsehen. So wird beispielsweise bei Abstimmungen die „Einheit der Materie“ verlangt, d. h. es wird verboten, mehrere Vorlagen miteinander zu verbinden, um die notwendige Mehrheit zu erhalten. Von besonderer Bedeutung für den Minderheitenschutz ist schließlich die Festlegung einer Steuerverfassung. Wenn neue Ausgaben beschlossen werden, so dürfen die hierfür notwendigen Steuern nicht einer x-beliebigen Minderheit überbürdet werden. Sonst wäre der Willkür und der Ausdehnung der Staatstätigkeit keine Grenze gesetzt. Genau deshalb lehnt ja K. Wicksell (1896), wie im 2. Kapitel dargelegt, die Mehrheitsregel ab. Doch was tun, wenn sich die Einstimmigkeitsregel als zu komplex erweist? Es müssen die Grundsätze der Besteuerung in der Verfassung, d. h. losgelöst von konkreten Ausgabenvorhaben, verankert werden. In der Verfassung ist festzulegen, ob beispielsweise eine Einkommensteuer erhoben werden soll, ob deren Sätze progressiv ausgestaltet sein und welche Einkommensbestandteile ihr unterworfen werden sollen. Dann wird die Finanzierung der Staatstätigkeit für alle berechenbar. Übermäßige Belastungen haben zur Folge, dass die Steuerzahler auswandern.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der Leistungsstaat, in dem über laufende Fragen entschieden wird, besteht selbst aus einer Reihe von Regeln, die ihrerseits einen Teil des Verfassungsvertrags darstellen und daher als solche der Einstimmigkeit bedürfen.

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3. Kapitel: Die ökonomische Logik des Staates

3. Verfassungsreform: Norm und Wirklichkeit Notwendig ist es ferner, jede Verfassung mit einer Reformklausel zu versehen. Denn wenn sich die Welt grundlegend verändert, muss es auch möglich sein, die Verfassung zu verändern. Die Reformklausel muss es erlauben, die anfängliche Zuteilung der Rechte und die Entscheidungsregeln neu zu diskutieren. Die Frage ist einmal, welches Zustimmungserfordernis für eine Verfassungsreform vorgesehen werden soll. Dieses müsste wohl ähnlich lauten wie jenes für die Verfassung selbst. Denn wenn Rechte und Regeln zuerst im Konsensverfahren festgelegt werden, wäre es sinnlos, sie nachher über die Reformklausel nur z. B. der einfachen Mehrheitsregel zu unterwerfen. Wenig hinterfragt wird in der Praxis leider die weitere Frage, wer in einem Staat die Kompetenzkompetenz, d. h. die Kompetenz die Verfassung zu ändern, haben soll. Aus der hier zugrunde gelegten individualistischen Logik ergibt sich, dass die Kompetenzkompetenz bei den Bürgern verbleiben soll. Regierung und Parlament stützen sich nur auf an sie delegierte Kompetenzen. Sie sind Agenten, Prinzipale sind nur die Bürger. Daher genügt auch qualifizierte Mehrheit von Regierung und Parlament nicht, um die Verfassung zu ändern. Wenn die Bürger ihre Kompetenzkompetenz an Regierung und Parlament delegieren, dann haben sie ihre Souveränität preisgegeben. Sie können letztlich nicht verhindern, dass sich ihre Agenten verselbstständigen. Diese These steht im Gegensatz zur umfassenden Kompetenzkompetenz, die heute insbesondere den Parlamenten zugebilligt wird. Beispielsweise dürfen Bundestag und Bundesrat, also Agenten der Bürger, mit qualifizierter Mehrheit über Verfassungsänderungen abstimmen. Zwar wird die Gefahr der Verselbstständigung dieser Agenten durch eine Reihe von Vorkehrungen eingeschränkt (z. B. durch unabänderbare Verfassungsartikel (Art. 1 bis 20 GG), durch Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht usw.). Doch wer zweifelt, ob Regierung und Parlament ausschließlich im Auftrag der Bürger handeln, wird gegenüber einer solchen Aufgabe grundsätzlicher Souveränitätsrechte skeptisch eingestellt sein. Er wird zum Schluss kommen, dass Verfassungsänderungen letztlich der direkten Zustimmung durch die Bürgerinnen und Bürger bedürfen.6 Wie soll über Grundrechte entschieden werden? Ein Beispiel Im Fall einer Festnahme muss der Beschuldigte nach § 128 Strafprozessordnung spätestens 48 Stunden nach der Festnahme einem Richter vorgeführt werden. Soll dies unverrückbar gelten oder wäre ein Gesetz denkbar, in dem diese Frist auf sagen wir 6 Monate oder noch darüber hinaus ausgedehnt wird? Könnte der zunehmende Terrorismus einen solchen Schritt rechtfertigen? Die Organe, die für die Sicherheit der Bürger verantwortlich sind, stehen solchen Vorschlägen oft 6

Völlig vor Missbrauch gesichert ist auch eine solche Verfassung nicht. Es kann durchaus sein und kommt auch vor, dass Regierungen die Verfassung einfach missachten oder Notklauseln so deuten, dass sie ihre Ziele durchsetzen können. In der Europäischen Union ist beispielsweise das im Lissaboner Vertrag niedergelegte Verbot, in Finanznot geratene Staaten durch Hilfszahlungen zu retten, auf diese Weise über Bord geworfen worden (Art. 125 AEUV).

D. Ökonomische Theorie der Verfassung positiv gegenüber. Das ist verständlich. Sie sehen den β­Fehler: Ein Terrorist wird nach 48 Stunden aus der Haft entlassen und verübt einen Anschlag, der mehrere Todesopfer verursacht, was bei längerer Haftdauer u. U. hätte vermieden werden können. Allerdings gilt es aber auch, den umgekehrten Fall eines möglichen α­Fehlers zu beachten: Ein Unschuldiger bleibt zu lange in Haft. Auch das ist nachteilig. Wie soll also zwischen den beiden Nachteilen entschieden werden. Soll der Staat eine Nutzen­Kosten­Analyse durchführen und daraus die optimale Haftdauer ableiten? Weil aber der Staat die individuellen Präferenzen nicht messen kann, ist eine solche Nutzen­Kosten­Analyse mit großer Wahrscheinlichkeit willkürlich. Dieses Problem lässt sich vermeiden, wenn die Individuen als Prinzipale in einer Abstimmung befragt werden. Vorab wäre festzulegen, wie hoch das Mehrheits­ erfordernis die vorgeschlagene Haftverlängerung sein soll, damit sie durchge­ führt wird. Die Bürgerinnen und Bürger befinden sich so gesehen (annähernd) hinter dem Schleier der Ungewissheit. In der Abstimmung stellt sich ein Individu­ um simultan zwei Fragen: Was ist für mich besser: Durch die Haftverlängerung nimmt für mich einerseits die Wahrscheinlichkeit ab, dass ich Opfer eines Terror­ anschlags werde. Anderseits steigt für mich die Wahrscheinlichkeit, dass ich als Unschuldiger längere Zeit in Haft bleibe. Die geäußerten Ja­ und Nein­Stimmen geben die risikogewichteten Nettopräfe­ renzen zwischen den beiden Wahrscheinlichkeiten wieder und können nach dem beschriebenen Verfahren dazu dienen, die Haftdauer bis zur Vorführung vor den Richter zu verlängern oder zu verkürzen. Allgemeine Literatur: D. C. Mueller (2004, 2007).

D. Ökonomische Theorie der Verfassung versus Theorie der sozioökonomischen Evolution 1. Einige kritische Bemerkungen zur ökonomischen Theorie des Verfassungsvertrags a) Im Verfassungsvertrag nach J. M. Buchanan und G. Tullock wird Einstimmigkeit mit Hilfe des „Schleiers der Ungewissheit“ erreicht,7 in dem persönliche Ansichten zurücktreten und nur die Eigenschaften des Entscheidungsverfahrens selbst in das Kalkül des Einzelnen eingehen. b) Alternativ lässt sich Einstimmigkeit auch aus der Anarchie erreichen, wenn sich alle Menschen (weil die Anarchie so schlecht ist) dem Leviathan unterwerfen. In seinem Buch Limits of Liberty geht J. M. Buchanan von einer solchen Situation aus (1975). c) Doch wie steht es mit dem Vertrag überhaupt? Bei J. M. Buchanan und G. Tullock (1962) steht der Vertrag im Zentrum der gesellschaftlichen Ordnung. 7

„Es scheint zwecklos, eine Theorie der Verfassungen für freie Gesellschaften unter anderen Annahmen als diesen [der Einstimmigkeit] zu diskutieren. Wenn die Parteien sich nicht bereit finden, auf diese Weise an der grundlegenden konstitutionellen Debatte teilzunehmen und nach den Kompromissen zu suchen, die erforderlich sind, um allgemeine Übereinstimmung zu erlangen, dann lässt sich keine wirkliche Verfassung machen.“ (J. M. Buchanan und G. Tullock, 1962, S. 15, übers. v. Verfasser)

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3. Kapitel: Die ökonomische Logik des Staates Doch es gibt auch Zweifel. Bestehen denn nicht in jeder Gesellschaft Kräfte, die zu einer Wandlung der Ordnung selbst drängen? Könnte die Verfassung auch als laufender Prozess verstanden werden? Diese Frage dient zum Anlass, alternative Theorien gesellschaftlicher Ordnung zu untersuchen.

2. F. A. v. Hayeks Theorie der sozioökonomischen Evolution Von einer evolutorischen Theorie der Verfassung geht der österreichisch-deutsche Ökonom F. A. v. Hayek (1980, 1981) aus. Seine Theorie beruht ebenso wie die Vertragstheorie auf der Grundlage des ökonomischen Rationalverhaltens. Weil F. A. v. Hayek aber nicht vom Verfassungsvertrag, sondern von der Evolution ausgeht, gelangt er zu anderen Ergebnissen über die Entstehung von sozialen Ordnungen (vgl. V. Vanberg 1981, U. Witt 1989). Um F. A. v. Hayeks Theorie zu verstehen, ist es wichtig, zwei Begriffe zu unterscheiden: die spontane Ordnung und die abstrakten Regeln. Die spontane Ordnung ist das Ergebnis der Interaktion zwischen dezentral entscheidenden Individuen. Sie entsteht nicht durch bewusste Orga nisation, sondern endogen aus der gegenseitigen Anpassung der Akteure. Typischerweise stellt sie kein Chaos dar, sondern eine wirkungsvolle Koordination menschlicher Tätigkeiten. So kommt beispielsweise der Markt nicht aus dem planenden Willen der Individuen zustande, vielmehr ergibt er sich aus einer Folge individueller Angebots- und Nachfrageentscheidungen. Eine spontane Ordnung ergibt sich bei F. A. v. Hayek nicht voraussetzungslos, sondern sie entsteht innerhalb abstrakter Regeln (meist allgemeiner Verbote). Hinter dem Markt befinden sich beispielsweise die marktlichen Rahmenbedingungen wie das Eigentums- und das Wettbewerbsrecht. Diese abstrakten Regeln stellen die Rahmenbedingungen dar, innerhalb derer die marktliche Evolution abläuft. Anders als bei J. M. Buchanan und G. Tullock (1962) entstehen bei F. A. v. Hayek auch die abstrakten Regeln evolutorisch. Regeln einer Gruppe werden mehr oder weniger zufällig gefunden. Aber nur jene setzen sich durch, die sich besser dazu eignen, eine wachsende Zahl von Menschen einer Gruppe überleben zu lassen. Es kommt also zu einem Selektionsprozess unter den Regeln. Ein ähnlicher Selektionsprozess findet auch zwischen Gruppen statt. Gruppen, die in der Lage sind, überlegene Regeln zu entwickeln, werden besser überleben, haben größere Chancen, weitere Mitglieder zu integrieren, und werden daher rascher wachsen als solche, die weniger gute Regeln finden und adoptieren. Es ergibt sich also eine Art sozialdarwinistische Gruppenselektion. F. A. v. Hayek wendet sich insbesondere gegen die Konstruktion abstrakter Regeln. Von Menschen konstruierte Rechtssysteme seien nur beschränkt in der Lage die zahlreichen Informationen bereitzustellen, um die vielfältigen Transaktionswünsche der Bevölkerung zu ermöglichen. Ein solcher Konstruktivismus sei, so F. A. v. Hayek, zum Scheitern verurteilt. In konstruierte Regelwerke würden stets weniger Informationen eingehen als in evolutorisch gewachsene Systeme. Daher würden konstruierte Wirtschaftssysteme im Evolutionsprozess

D. Ökonomische Theorie der Verfassung zurückfallen und möglicherweise ganz verschwinden. Sie stellten eine maßlose Selbstüberschätzung des menschlichen Könnens dar.8 D. C. North und R. P. Thomas (1973) haben diese Theorie anhand der wirtschaftlichen Entwicklung von Frankreich und Spanien zwischen 1500 und 1700 einerseits und England und den Niederlanden im gleichen Zeitraum anderseits zu testen versucht. Sie fanden, dass sich die letzteren beiden Staaten rascher entwickelten, weil sie in der Lage waren, ein System dezentraler Eigentumsrechte an Grund und Boden zu installieren und so eine raschere Entwicklung der Märkte zu realisieren als die ersteren beiden, die ein System zentralstaatlicher Eigentumsrechte mit königlichen Privilegien praktizierten. Eine Kritik an F. A. v. Hayeks Theorie liegt in dem nur andeutungsweise ausgearbeiteten Rationalkalkül, das seinem Selektionsprozess zugrunde liegt. Dies gilt sowohl für die Selektion zwischen Regeln im bilateralen Bereich als auch besonders für die Gruppenselektion auf der kollektiven Ebene. Selbst im bilateralen Bereich hat das Abwägen von Vor- und Nachteilen und das Ausdenken neuer Arrangements immer auch etwas Planendes in sich. Es besteht ein fließender Übergang zwischen der evolutorischen Anpassung durch Imitation und Lernen einerseits und dem Planen und Konstruieren andererseits. Ohne eine nähere Spezifizierung dieser Verhaltensweisen lässt sich aber die These der evolutorischen Anpassung nur schwer gegenüber der Vertragstheorie von J. M. Buchanan und G. Tullock abgrenzen und testen. Dies gilt noch mehr im Bereich der Gruppenselektion. Während im bilateralen Bereich Imitieren, Lernen und selbst Planen zu immer besseren Ergebnissen führen mögen, braucht dies auf der Ebene der Gruppen nicht zuzutreffen. Wie am Beispiel der adversen Selektion im 1. Kapitel schon gezeigt wurde und wie am Beispiel der öffentlichen Güter im 7. Kapitel noch ersichtlich werden wird, gibt es eine ganze Klasse von Aktivitäten, bei denen die Individuen durch individuell rationales Verhalten sich gegenseitig schädigen. Es kommt zu sozialen Dilemmas, die durch individuelle Anpassung gerade nicht überwunden werden. Vielmehr ist planmäßiges Nachdenken über bessere Arrangements hier dringend erforderlich. Reiner Attentismus könnte zu Niedergang und Krise führen, die sicherlich nicht wünschenswert wären. Als Fazit lässt sich also festhalten: Wenn Arrangements geplant werden müssen, bevor sie bilateral (im individuellen Bereich) oder multilateral (im Bereich der Gruppen) angenommen werden, so befinden wir uns nicht mehr weit von der Vertragstheorie der Verfassung entfernt. Denn auch eine Verfassung stellt ein solches Arrangement dar. Ob es nun angenommen wird wie im Falle von F. A. v. Hayek oder im Konsens festgelegt wird wie bei J. M. Buchanan und G. Tullock, läuft dann nicht mehr auf einen grundsätzlichen Unterschied hinaus. Was wir heute als Systemwettbewerb beobachten, lässt sich im Wesentlichen als Kombination von Verfassungsvertrag und Evolution interpretieren. Auf internationaler Ebene stehen Staaten, auf nationaler Ebene Gebietskörperschaften untereinander im Wettbewerb um Regeln. Staaten und Gebietskörperschaften mit vorteilhafteren Regeln ziehen Arbeit und Kapital an. Sie verstehen es, durch 8

F. A. v. Hayek (1974).

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3. Kapitel: Die ökonomische Logik des Staates ihre Regeln attraktive Leistungspakete von Rechtsstaatlichkeit, Verlässlichkeit in staatlichen Entscheidungen, Infrastruktur, Steuern usw. anzubieten, während andere ihre Regeln vernachlässigen und damit im Systemwettbewerb zurückfallen. Auch empirische Studien zeigen, dass beide Mechanismen der Verfassungsbildung wirken: dezentrales Anpassen durch Wanderungen von Arbeit und Kapital nach den von ihnen präferierten Standorten als auch innovatives Suchen nach neuen Regeln, die solche Wanderungen anziehen.9

E. Wie Finanzpolitik von den Regeln abhängt: Ein Ausblick Unabhängig davon, ob das Planungs- oder Anpassungsverhalten überwiegt, beiden Ansätzen, dem von J. M. Buchanan und G. Tullock wie dem von F. A. v. Hayek, gemeinsam ist die Betonung von Regeln. Regeln lenken die Entscheidungen von Individuen wie Politikern. Wie dies funktioniert, lässt sich in einem Modellfall anhand der Abstimmungsregeln im Leistungsstaat illustrieren. Als extreme Regeln des Leistungsstaates haben wir die Einstimmigkeits- und die Einpersonenregel kennengelernt. Was lässt sich über die Staatsaktivität unter jeder dieser Regeln aussagen? Angenommen von zwei völlig gleichen Gemeinden mit dem gleichen Steuersystem hat sich die eine für die Einstimmigkeitsregel und die andere für die Einpersonenregel10 entschieden. Die Gemeindebürger stimmen selbst über ihre gemeinsamen Anliegen ab und sie nehmen dieses Recht auch wahr. Unter diesen Bedingungen ist zu erwarten, dass die Staatsaktivität in der Gemeinde mit der Einstimmigkeitsregel niedriger ist als in der Gemeinde mit der Einpersonenregel. Denn unter der Einstimmigkeitsregel ist es sehr viel schwieriger, die Stimmbürger auf ein gemeinsames Programm zu vereinigen und damit einen gemeinsamen Beschluss zu fassen, als unter der Einpersonenregel. Unter der letzteren Regel braucht eine solche Koordination im Endeffekt gar nicht stattzufinden. Jedermann kann Forderungen aufstellen und sie durchsetzen. Diese beiden Extremfälle sind natürlich trivial. Aber wir können uns die Entscheidungsregeln auf einer Skala vorstellen und sagen, dass die Staatsaktivität umso mehr zunimmt, je mehr wir von der Einstimmigkeitsregel zur Einpersonenregel übergehen und vice versa. Finden wir beispielsweise zwei Gebietskörperschaften mit unterschiedlich hohen Staatsausgaben vor, so braucht diese Beobachtung nicht auf Unterschiede in den Präferenzen und damit auf eine schwer erklärbare Größe zurückgeführt zu werden. Vielmehr können Unterschiede in den Entscheidungsregeln die Divergenz verursacht haben. Wir haben dann die Staatsaktivität endogen aus dem ökonomischen Verhaltensmodell heraus erklärt und dabei Spekulationen über soziologisch bestimmte Präferenzunterschiede vermieden. 9

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Zum Systemwettbewerb vgl. V. Vanberg und W. Kerber (1994). Chr. Schaltegger und D. Küttel (2002) haben in einer interessanten Arbeit das Nachahmen von Politiken im Wettbewerb unter Gebietskörperschaften empirisch bestätigt gefunden. Eine eher skeptische Gegenposition findet sich bei H. W. Sinn (2003). Wiederum ohne Vetorecht des Einzelnen, siehe oben Unterabschnitt C.2.

F. Zusammenfassung des 3. Kapitels Gehen wir umgekehrt von zur Disposition stehenden Entscheidungsregeln aus, so stellt sich deduktiv die Frage, welche Entscheidungsregel die Individuen sich geben wollen. Diese Entscheidung wird von ihrem Optimierungskalkül zwischen Schwerfälligkeit und Willkür abhängen (siehe oben C.2). Sie impliziert aber auch Vorstellungen über das wünschenswerte Niveau der Staatstätigkeit. Individuen, die staatliche Aktivität als im Allgemeinen vorteilhaft ansehen, z. B. weil sie ihrer Ansicht nach soziale Spannungen zu überwinden vermag, werden Regeln mit niedrigerem Zustimmungserfordernis vereinbaren als Individuen, die der Meinung sind, die Bürger sollten über ihre Angelegenheiten weitgehend selbst entscheiden. Diese einfachen Überlegungen dienen dazu, einige grundsätzliche Zusammenhänge zwischen Entscheidungsregeln und Staatstätigkeit verstehen zu lernen. Von hier bis zur Erklärung der Finanzpolitik in modernen Demokratien ist natürlich noch ein weiter Weg. Denn Entscheidungsregeln lassen sich nicht nur hinsichtlich des Zustimmungserfordernisses variieren. Es kommt auch noch darauf an, worüber, auf welcher Ebene, durch wen usw. entschieden wird. Diese weiteren Probleme sind schrittweise in die Analyse einzubauen. Doch fürs Erste ist es einmal wichtig, in Erinnerung zu behalten, dass der Umfang der Staatstätigkeit von den Entscheidungsregeln abhängen kann.

F. Zusammenfassung des 3. Kapitels Eine Finanzwissenschaft muss als Lehre des Staates zu allererst versuchen zu erklären, warum der Staat existiert. Andernfalls fehlt ihr die Grundlage, auf der sie das weitere Theoriegebäude aufbaut. Es lässt sich zeigen, dass sich viele Institutionen moderner demokratischer Staaten aus dem ökonomischen Rationalkalkül heraus verstehen lassen. Dies gilt insbesondere für den Rechtsstaat (der die Anarchie überwindet und Rechtssicherheit schafft) sowie für den Leistungsstaat (der die Regeln der kollektiven Entscheidungsfindung enthält). Hinsichtlich der Entstehung der Institutionen des Staates gibt es u. a. zwei konkurrierende Theorien, die Vertragstheorie und die Theorie der sozioökonomischen Evolution. Während die erstere von einer festen, nur in längeren Abständen sich verändernden Verfassung ausgeht, betrachtet die letztere die soziale Ordnung als ein kontinuierlich sich entwickelndes Netz von Arrangements. Beide Theorien betonen die Bedeutung von Regeln zur Erklärung individueller Entscheidungen. Von den Regeln des Staates erweisen sich insbesondere die Abstimmungsregeln als wichtig. Aus ihrer Ausgestaltung lassen sich erste Hypothesen über den Umfang der Staatstätigkeit in einer Demokratie formulieren. Die Staatstätigkeit ist z. B. ceteris paribus umso größer, je mehr von der Einstimmigkeits- zur einfachen Mehrheitsregel bzw. sogar zur Einpersonenregel übergegangen wird und vice versa. Welche Abstimmungsregel Individuen wählen, wird daher auch davon abhängen, ob sie einen großen oder einen kleinen Staatssektor wünschen.

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3. Kapitel: Die ökonomische Logik des Staates

Wichtige Begriffe des 3. Kapitels Verfassungsvertrag (Geordnete) Anarchie Rechtsstaat Leistungsstaat Konstitutionelle Ebene und nachkonstitutionelle Ebene Einstimmigkeitsregel, Einpersonenregel Nichteinstimmigkeitsregel Einfache Mehrheitsregel Kompetenzkompetenz Spontane Ordnung Abstrakte Regeln Evolution Entscheidungsregeln und Staatsaktivität Systemwettbewerb

Literatur zum 3. Kapitel P. Bernholz und F. Breyer, Grundlagen der Politischen Ökonomie, Tübingen (Mohr) 3. Aufl. 1993/94, insbesondere Band 2. Ch. B. Blankart, A Public Choice View of Swiss Liberty, in: Publius: The Journal of Federalism, Vol. 23., No. 2, 1993, S. 83–95. K. Borchardt, Der „Property-Rights-Ansatz“ in der Wirtschaftsgeschichte – Zeichen für eine systematische Neuordnung des Faches?, in: J. Kocka, Hrsg., Theorien in der Praxis des Historikers, Sonderheft 3 von Geschichte und Gesellschaft, Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 1977, S. 140–156. G. Brennan und J. M. Buchanan, The Reason of Rules: Constitutional Political Economy, London, New York etc. (Cambridge Univ. Press) 1985. J. M. Buchanan, The Limits of Liberty, Between Anarchy and Leviathan, Chicago, London (Univ. of Chicago Press) 1975, deutsch: Grenzen der Freiheit, Zwischen Anarchie und Leviathan, Tübingen (Mohr) 1984. J. M. Buchanan und G. Tullock, The Calculus of Consent, Ann Arbor (Univ. of Michigan Press) 1962. G. Gäfgen, Institutioneller Wandel und ökonomische Erklärung, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, 2. Band, 1983, S. 19–49. F. A. v. Hayek, Law, Legislation and Liberty, The Political Order of a Free People; deutsch: Recht, Gesetz und Freiheit, Vol. 1: Rules and Order, London (Routledge & Kegan Paul) 1973; deutsch: Regeln und Ordnung, München, Landsberg L. (Verlag Moderne Industrie) 1980. Vol. 2: The Mirage of Social Justice, London (Routledge & Kegan Paul) 1976; deutsch: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, München, Landsberg L. (Verlag Moderne Industrie) 1981. Vol. 3: The Political Order of a Free People, London (Routledge & Kegan Paul) 1979; deutsch: Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen, München, Landsberg L. (Verlag Moderne Industrie) 1981. F. A. v. Hayek, Friedrich August von Hayek – Prize Lecture, Lecture to the memory of Alfred Nobel, December 11, 1974, The Pretence of Knowledge, in: A. Lindbeck, ed., Nobel Lectures, Economics, 1969–1980, Singapore (World Scientific Publishing Co.) 1992. F. A. v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen (Mohr) 3. Aufl. 1991. Th. Hobbes, Leviathan, or the Matter, Forme & Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil, 1651, lateinisch: Leviathan, Sive De materia, forma, et potestate civitatis ec-

F. Zusammenfassung des 3. Kapitels clesiasticae et civilis, Amstelodami 1690, deutsch: Leviathan, herausgeg. von I. Fetscher, Neuwied und Berlin (Luchterhand) 1966. D. C. Mueller, Public Choice III, Cambridge (Cambridge University Press) 2003. D.  C.  Mueller, Rights and Citizenschip in the European Union, in Ch. B. Blankart und D. C. Mueller, A Constitution for the European Union, Cambridge (MIT Press), 2004, S. 61–84. D. C. Mueller, Rights and Wrongs, in: P. Baake und R. Borck, Hrsg., Public Economics and Public Choice, Berlin und Heidelberg (Springer-Verlag) 2007, S. 1–18. D. C. North und R. P. Thomas, The Rise of the Western World, A New Economic History, Cambridge (Cambridge Univ. Press) 1973. K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I und II, 7. Aufl. Tübingen (Mohr) 1992. R. A. Radford, The Economic Organisation of a P.O.W. Camp, Economica, New Series, Vol. 12, No. 48, 1945, S. 189–201. Chr. Schaltegger und D. Küttel, Exit, voice, and mimicking behavior: evidence from Swiss cantons, in: Public Choice, Vol. 113, 2002, S. 1–23. H. W. Sinn, The New Systems Competition, Yrjö-Johansson Lectures, Oxford (Basil Blackwell) 2003. V. Vanberg, Liberaler Evolutionismus oder vertragstheoretischer Konstitutionalismus? Zum Problem institutioneller Reformen bei F. A. von Hayek und J. M. Buchanan, Tübingen (Mohr) 1981. V. Vanberg und W. Kerber, Institutional Competition among Jurisdictions: An Evolutionary Approach, in: Constitutional Political Economy, Vol. 5, 1994, S. 193–219. St. Voigt, Die konstitutionelle Ökonomik als Herausforderung für die Theorie der Wirtschaftspolitik – zugleich Skizze zur Weiterentwicklung einer ökonomischen Theorie der Verfassung, in: I. Pies und M. Leschke, Hrsg., James Buchanans konstitutionelle Ökonomik, Tübingen (Mohr) 1996, S. 159–183. U. Witt, Bemerkungen zu Hayeks Theorie sozioökonomischer Evolution, in: Wirtschaftspolitische Blätter, Nr. 2, 1989, S. 140–148.

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Il est de l’essence même des gouvernements démocratiques que l’empire de la majorité y soit absolu; car en dehors de la majorité, dans les démocraties, il n’y a rien qui résiste. A. de Tocqueville (1835)

4. Kapitel Wann handelt der Staat? Zwei Theorien stehen miteinander in Konkurrenz. Die Marktversagenstheorie besagt: Der Staat wird aktiv, wo der Markt versagt (Abschnitt A). Die politische Ökonomie sagt: Eine Regierung wird aktiv, wo sich eine politische Koalition durchsetzen kann (Abschnitte B und C). Die Frage der materiellen Produktion öffentlicher Güter folgt in Abschnitt D. Einen Exkurs in Aspekte der Hochschulbildung bringt Abschnitt E.

A. Die Marktversagenstheorie 1. Private Güter Rechtswissenschaftler betrachten ein einzelnes Individuum und fragen: Ist sein Verhalten rechtmäßig oder nicht? Ökonomen gehen von mindestens zwei Individuen aus. Sie fragen: Werden die Individuen tauschen oder nicht? Bei unterschiedlichen Präferenzen und Güterausstattungen ist Tausch der Regelfall. Äpfel werden gegen Bananen getauscht oder umgekehrt. Tausch erfordert, dass die Güter private Güter sind. Sie müssen ausschließbar sein und/oder Rivalität zulassen. Ausschließbarkeit erfordert, dass der Eigentümer eines Gutes Außenstehende

davon abhalten kann, dieses Gut ebenfalls zu nutzen, B kann daran gehindert werden, in die Schuhe des A zu schlüpfen. Rivalität herrscht, wo ein Gut dem Individuum B gar nicht mehr zur Verfügung steht, weil es von A konsumiert wird. Beispiel: B kann ein Brötchen nicht essen, das von A gerade verzehrt wird. Tausch ist jedoch möglich, wenn zuvor eine Zahlung vereinbart wird, die den einen dazu veranlasst, zugunsten des anderen zu verzichten.

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4. Kapitel: Wann handelt der Staat?

2. Öffentliche Güter Das Umgekehrte gilt bei öffentlichen Gütern: Bei ihnen ist Ausschluss unerwünscht oder nicht möglich und/oder Rivalität ist nicht gegeben. Von Hochwasserschutzmaßnahmen profitiert jeder, der von einem Damm geschützt wird, weil er im Hochwasserschutzgebiet wohnt oder sich gerade dort aufhält, unabhängig davon, ob er einen Kostenbeitrag zu dessen Erstellung bezahlt hat oder nicht. Es gilt das Nichtausschlussprinzip. Häufig ist Nichtausschluss mit Nichtrivalität verbunden. Ob sich zehn oder hundert Menschen hinter dem Damm aufhalten, ist irrelevant. Sie werden alle geschützt. Es überwiegt die Nichtrivalität, d. h. der Konsum durch A vermindert nicht den Konsum durch B. Zu unterscheiden sind schon vorhandene von neu zu erstellenden öffentlichen Gütern. Die Nutzung vorhandener öffentlicher Güter

Wenn öffentliche Güter schon vorhanden sind, so soll der Marktpreis für ihre Inanspruchnahme null betragen. Denn unter der bei öffentlichen Gütern gegebenen Nichtrivalität können beliebig viele zusätzliche Nachfrager bedient werden, ohne dass irgendein Individuum in seiner Nutzung eingeschränkt wird. Der Genuss des Sonnenuntergangs am Strande der Insel Capri muss unentgeltlich sein, weil die Grenzkosten der Nutzung null sind. Ausschluss wäre (auch wenn er durchgeführt werden könnte) gar nicht effizient. Insofern erscheint die Nichtanwendbarkeit des Ausschlussprinzips nicht als Nachteil, sondern als konsequente Ergänzung der Nichtrivalität. Nichtrivalität impliziert ferner auch Unteilbarkeit oder Kollektivkonsum (joint consumption). Der überzeugte Pazifist konsumiert (wie jeder andere Bürger) das öffentliche Gut der Landesverteidigung selbst dann, wenn er diese ablehnt. Kollektivkonsum bedeutet aber nicht, dass der Staat als solcher die öffentlichen Güter konsumiert – dies käme einer organischen Staatsauffassung gleich –, sondern nur, dass die Individuen das Gut gemeinsam nutzen. Über die Höhe des Nutzens, den die Individuen dabei erzielen, sagt die Kollektiveigenschaft des Konsums nichts aus. Der Nutzen wird bei jedem Individuum eine unterschiedliche Höhe haben. Er kann – wie beim erwähnten Pazifisten – u. U. sogar negativ sein. Aber jeder konsumiert das öffentliche Gut als Ganzes. Die Bereitstellung neuer öffentlicher Güter

Geht es jedoch um die Bereitstellung neuer öffentlicher Güter, so wirft der Nullpreis Schwierigkeiten auf. Denn ein Unternehmen, das öffentliche Güter produziert, hat Kosten. Sein Angebotspreis ist daher größer als null. In einem Marktsystem, das auf freiwilligem Tausch beruht, kann aber der Anbieterpreis nicht größer als null und der Nachfragerpreis gleichzeitig null sein. Die beiden Tauschpartner würden sich nicht finden. Aus dieser logischen Unmöglichkeit heraus kann der Tausch bei öffentlichen Gütern nicht funktionieren.1 1

Auf diesen Punkt verweisen u. a. W. J. Baumol und W. E. Oates (1975) Kap. 3.

A. Die Marktversagenstheorie Verdeutlichen lässt sich das Problem der privaten und öffentlichen Güter am Vielpersonen-Fall: Betrachten wir zunächst den Markt für private Güter. Hier ist es die Vielzahl der Beteiligten auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite, die zum Zustandekommen des Marktpreises führt. Jeder der vielen Anbieter wird durch den Wettbewerb gezwungen, höchstens zu seinen Grenzkosten anzubieten, und jeder der nutzenmaximierenden Nachfrager muss mindestens diesen Angebotspreis bezahlen.2 Die Allokation oder Güterverwendung ist „paretooptimal“; keiner kann besser gestellt werden, ohne dass der andere schlechter gestellt wird. Der Markt funktioniert.3 Bei öffentlichen Gütern verhält es sich gerade umgekehrt. Hier ist die Vielzahl der Individuen dafür verantwortlich, dass das Marktangebot zusammenbricht. Wenn eine Vielzahl von Individuen ein öffentliches Gut wünscht, so hat es für das einzelne Individuum keine spürbaren Rückwirkungen, wenn es aus der Finanzierungsgemeinschaft ausschert. Sein Beitrag ist verschwindend klein im Vergleich zum Beitrag aller anderen zusammen. Infolgedessen wird sich der Umfang des Angebots (von dem es annahmegemäß nicht ausgeschlossen werden kann) durch sein alleiniges Ausscheren aus der Beitragsgemeinschaft kaum verändern. Unter dem Gesichtspunkt der Eigen nutzmaximierung wird es daher starke Anreize haben, sich an der Finanzierung des öffentlichen Gutes nicht zu beteiligten, seine wahren Präferenzen zu verhüllen und sich als sogenannter Freifahrer („free rider“) zu verhalten. Weil sich aber alle Individuen vor der gleichen Situation sehen, werden auch sie sich nicht bereitfinden, einen Beitrag zu bezahlen. Vielmehr werden sie durch ihr gleichgerichtetes Verhalten die Bereitstellung des öffentlichen Gutes verunmöglichen. Der Markt funktioniert nicht: Es kommt zu Marktversagen. Individuell rationales Verhalten führt zu kollektiver Irrationalität. Angebot und Nachfrage wären zwar vorhanden, aber der Markt vermag sie nicht zusammenzubringen. Was wird also geschehen? Die Marktversagenstheorie besagt, dass der Staat in die Bresche springt und das Marktversagen beseitigt.

3. Mautgüter und das Problem des natürlichen Monopols Nach dem bisher Dargelegten sind zwei Kriterien konstitutiv für Marktversagen, nämlich Nichtausschließbarkeit und Nichtrivalität. In diesem und im nächsten Unterabschnitt soll analysiert werden, wie sich das Marktversagen ausdrückt, wenn nur eines der beiden Kriterien auftritt. Man spricht dann im Gegensatz zu den bisher betrachteten reinen öffentlichen Gütern von sogenannten Mischgütern. In diesem Unterabschnitt sei zunächst einmal der Fall betrachtet, dass zwar das Ausschlussprinzip anwendbar ist, dass aber (über weite Bereiche) keine Rivalität 2

3

Die Grundlagen zu diesen Überlegungen lassen sich in den einschlägigen Lehrbüchern der Mikroökonomie nachlesen, vgl. z. B. J. Hirshleifer (1980), H. Herberg (1985), N. G. Mankiw und M. P. Taylor (2008). Infolge der großen Zahl an Marktteilnehmern lassen sich Absprachen ausschließen.

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4. Kapitel: Wann handelt der Staat? herrscht, d. h. dass alle zum Konsum Zugelassenen das Gut nutzen können, ohne einander zu stören. Ein Beispiel hierfür ist das oft über Gemeinschaftsantennen verbreitete Kabelfernsehen: An einen gegebenen Strang eines Kabelverteilnetzes können sich beliebig viele Haushalte anschließen, ohne dass es zu Qualitätseinbußen für die Teilnehmer kommt. Insofern herrscht also Nichtrivalität. Für den einzelnen Nutzer entstehen nur die Anschlusskosten, jedoch keine Grenzkosten für die Nutzung des Kabels als solches. Ausschluss wird indessen praktiziert, weil die Kabelgesellschaft ausschließlich über den Zugang zur Leitung verfügt. Die Leistung lässt sich damit zu direktem Entgelt (zu Preisen) anbieten. Ähnlich muss gelegentlich auch für die Benutzung einer Autobahn oder einer Pass-Straße eine Maut entrichtet werden, auch wenn auf der Straße gerade keine Rivalität herrscht. Ausschluss kann auch bei Theatern, Fußballstadien, Konzerthallen usw. durchgesetzt werden. Wenn das Spiel schlecht ist und nur wenig Besucher kommen, so können bis zur Kapazitätsgrenze zusätzliche Zuschauer zugelassen werden, ohne dass die Qualität abnimmt oder dass zusätzliche Kosten entstehen. Güter, die durch diese Kombination von Ausschließbarkeit und Nichtrivalität gekennzeichnet sind, werden als Mautgüter (im Englischen toll goods) bezeich net. Die Beispiele zeigen aber auch, dass die meisten Mautgüter eine Kapazitätsgrenze haben, an der die Nichtrivalität aufhört und wo die Güter dann Privatguteigenschaften annehmen. In ordnungspolitischer Hinsicht spricht die Tatsache, dass Mautgüter zu positiven Preisen angeboten werden können, zunächst für private Märkte. Staatliche Vermittlung scheint hier nicht erforderlich. Ob und inwiefern dies der Fall ist, lässt sich am Beispiel des Kabelfernsehens überlegen. In Abbildung 4.1 sind die Nachfrage N, die Durchschnitts- und die Grenzkosten, DTK und GK, sowie der Grenzumsatz GU auf dem Markt für Kabelfernsehen abgetragen. Weil zur Bedienung eines zusätzlichen Nutzers nur Anschlusskosten anfallen, liegen die Grenzkosten auf einem sehr niedrigen Niveau (bei einem reinen Mautgut ohne jede Rivalität wären die Grenzkosten sogar null). Entsprechend fallen die Durchschnittskosten, die im Wesentlichen die anfänglichen Investitionskosten umfassen, über den ganzen Outputbereich. Dies bedeutet, dass ein einziger Produzent den Markt kostengünstiger beliefern kann als mehrere. Es liegt ein sogenanntes natürliches Monopol vor.4, 5 Wie würde der Markt unter einem natürlichen Monopol funktionieren? Zunächst könnte sich der natürliche Monopolist wie ein normaler Monopolist verhalten, bei der Menge von Grenzumsatz gleich Grenzkosten produzieren 4

5

Hier wird nur ein sehr einfacher Fall eines natürlichen Monopols betrachtet. Es wird von einem Einproduktunternehmen ausgegangen. Im Falle eines Mehrproduktunternehmens sind komplexere Modelle anzuwenden, vgl. J. Borrmann und J. Finsinger (1999). In der Telekommunikation kann für die vergangenen Jahrzehnte beobachtet werden, dass der natürliche Monopol-Anteil mancher Dienstleistungen immer mehr zusammenschrumpft. Wurde einst die gesamte Dienstleistung „Ende zu Ende“ als Monopol betrachtet, so war es sodann nur noch das Netz und dann nur noch die letzte Meile des Netzes. Entsprechend geht das Marktversagen zurück und der Wettbewerbsanteil nimmt zu (vgl. Ch. B. Blankart, G. Knieps und P. Zenhäusern, 2007). Ähnliches gilt für andere Netzdienstleistungen wie Elektrizität, Gas, Wasser, Eisenbahnen, wenngleich in geringerem Ausmaß.

A. Die Marktversagenstheorie und dabei den Preis p1 realisieren. Langfristig ist es jedoch fraglich, ob sich der Monopolpreis p1 durchsetzen lässt. Dieser Preis wird Wettbewerber anlocken, welche den Marktpreis im Idealfall bis auf p2 drücken. Unterhalb von p2 lassen sich die Kosten nicht mehr decken. Daher stellt p2 eine langfristige Untergrenze dar. Das Besondere beim Wettbewerb im natürlichen Monopol ist, dass im Endeffekt wiederum nur ein Anbieter übrig bleibt, dass dieser aber nicht in der Lage ist, einen Monopolpreis durchzusetzen. Im Weiteren braucht der Wettbewerb auch nicht tatsächlich stattzufinden. Es genügt die Drohung des potentiellen Wettbewerbs von Marktzutrittswilligen, um die etablierte Firma zu veranlassen, zum Preis p2 anzubieten. Der Markt ist dann „angreifbar“ (contestable).

Abbildung 4.1: Möglichkeiten der Preisbildung im natürlichen Monopol

Ein weiteres Problem liegt in den versunkenen Kosten (sunk costs); sie sind im Falle eines Marktaustritts nicht mehr „rückholbar“. Im Konkurrenzkampf sind dann für das etablierte Unternehmen nur noch die Grenzkosten entscheidungsrelevant. D. h. es kann drohen, seine Preise bei Markteintritt eines anderen Anbieters bis auf die Grenzkosten zu senken. Für den potentiellen Wettbewerber sind aber die gesamten Kosten entscheidungsrelevant. Diese Asymmetrie kann potentielle Wettbewerber abschrecken, sodass das etablierte Unternehmen bestehen bleibt und letztlich doch einen höheren Preis als p2 durchsetzt. Wiederum könnte ein Staatseingriff erwogen werden mit dem Ziel, das Marktversagen zu überwinden. Der Staat kann das natürliche Monopol regulieren oder es in eigener Regie als öffentliches Unternehmen betreiben, um so die Monopolmacht politisch zu kontrollieren.

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4. Kapitel: Wann handelt der Staat? Ein anderer Grund für einen Staatseingriff kann darin liegen, dass selbst p2 noch nicht den aus ökonomischer Sicht bestmöglichen Preis darstellt. p2 entspricht den Durchschnittskosten, d. h. es könnten noch zusätzliche Nachfrager bedient werden, die bereit wären, zwar etwas weniger als p2, aber doch mehr als die Grenzkosten zu bezahlen. Ein effizienter Output ist erst bei der Menge X3 und dem Preis p3 erreicht, weil dort die Nachfrager die von ihnen verursachten Grenzkosten gerade noch zu decken bereit sind. Aber das Unternehmen erzielt an diesem Punkt keine Deckung der Durchschnittskosten mehr, sondern einen Verlust. Die Kombination X3, p3 ist nur zu verwirklichen, wenn der Staat das anfallende Defizit von ABCp3 übernimmt, bzw. wenn alternative Kostendeckungsregeln gefunden werden.6 Doch weshalb sollte der Staat das Defizit übernehmen? Erstens müssen die Subventionen durch Steuern aufgebracht werden und zweitens erzeugen sie beim Empfänger eine Subventionsmentalität und damit eine Tendenz zu überhöhten Kosten. Drittens halten viele Monopole nicht in alle Ewigkeit. Wenn Monopole nicht vom Staat künstlich geschützt werden, werden im Laufe der Zeit Wettbewerber mit ganz anderen Technologien auftreten, die zunehmenden Skalenerträge des bestehenden Unternehmens überwinden und das Gut als normales privates Gut anbieten. Auch der oben angeführte Fall von Kabelfernsehen durch eine Gemeinschaftsantenne hat viel von seiner Monopolmacht verloren, seit die Möglichkeit des individuellen Satellitenempfangs offensteht. In solchen Fällen sind Ökonomen gefordert, Wettbewerb, Regulierung und u. U. Subventionierung so gut wie möglich zu kombinieren.

4. Allmendegüter Eine andere Art gemischter öffentlicher Güter stellen die Allmendegüter dar. Sie werden auch die Common pool-Güter oder Gemeinschaftsgüter genannt. Stets geht es um natürliche Ressourcen. Aber nicht alle natürlichen Ressourcen sind Allmendegüter. In Abbildung 4.2 werden drei Fälle unterschieden. a. Der britische Ökonom David Ricardo (1772–1823) betrachtete Großbritannien als eine „Insel“ mit fruchtbaren Böden (Ressourcen) im Süden Englands und kargen Böden im Norden Schottlands. Aus diesem Unterschied leitete Ricardo die Einkommensverteilung zwischen Grundbesitzern und Arbeitern (noch ohne Kapital) ab. Die Grundbesitzer stellen Landarbeiter L ein, bis der Grenzertrag GE des letzten Arbeiters seinem Lohnsatz entspricht. Der Gesamtertrag aller Böden in Großbritannien beträgt dann 0ACL1. Davon geht die Lohnsumme 0BCL1 in Abzug. Folglich verdienen die Grundbesitzer den Rest BAC, wovon die Grundbesitzer im fruchtbaren Süden Englands den 6

Eine alternative Lösung des Defizitproblems könnte in der Preisdiskriminierung zwischen den Nachfragern liegen. Es entspricht dann nur noch der marginale Preis den Grenzkosten. Nachfrager, die eine höhere Zahlungsbereitschaft haben, bezahlen mehr. Die Schwierigkeit liegt hierbei in der Marktspaltung zwischen marginalen und höher belasteten inframarginalen Nachfragern. Zum einen ist es schwierig herauszufinden, wer überhaupt ein inframarginaler Nachfrager ist, und zum anderen werden unterschiedliche Preise wo immer möglich durch Arbitrage unterwandert.

A. Die Marktversagenstheorie größten Teil und die im kargen nördlichen Schottland fast nichts erhalten. Die Arbeiter stehen untereinander im Wettbewerb und erhalten unabhängig vom Grundstück jeder den Existenzminimum-Lohnsatz w. Dieser Lohnsatz konnte nicht unter w fallen, weil die Arbeiter sonst verhungert wären, aber auch nicht über w steigen, oder weil sonst die Bevölkerungszahl infolge besserer Ernährung zugenommen hätte. Ricardos Äcker waren private Ressourcen. Diese Eigenschaft gewährleistete Effizienz. Sie bewirkte, dass nicht mehr und nicht weniger Arbeiter eingesetzt wurden, als bis der letzte von ihnen gerade noch das Grenzprodukt C des letzten Ackers erwirtschaftete. b. In dem nunmehr zu diskutierenden „Allmendemodell“ sollen die Kurven GE und DE Fischgründe auf hoher See darstellen. Eigentlich sollten sich die Fischfangunternehmen analog verhalten wie Ricardos Grundbesitzer. Doch bei Ricardo war klar, welcher Acker wem gehört. Dessen Grenzproduktivität entschied über den Einsatz. Im Fischereimodell könnte das Eigentum an Meeresflächen (mit hinreichendem Vermessungsaufwand) genauso festgelegt werden wie bei Ricardo das Eigentum an Ackerflächen. Aber die Fische halten sich nicht an die Meeresgrenzen. Daher nutzen die Fischer die Ressource nicht nach dem Grenzertrag ihrer Parzelle, sondern nach dem Durchschnittsertrag des gesamten Fischgrundes. Jeder Fischer hat die gleiche Chance, zuweilen einen großen Fischzug zu machen oder aber ohne Fischfang zurückzukehren. Das hängt vom Zufall ab. Bei ihrem Entscheid zu fischen oder nicht zu fischen, richten sich daher die Fischer nach der Durchschnittsertragskurve DE und nicht (wie bei Ricardo) nach der Grenzertragskurve GE. Es wird zu viel Arbeit eingesetzt. Mehr noch: Es kommt zu einer Übernutzung des Fischgrundes bei L2. Der Fischgrund wird überfischt. Der Output bei L2 ist größer als bei der optimalen Nutzung L1. Infolge der Übernutzung unterbleibt die Regeneration des Fischgrundes. Der Fischgrund wird überfischt. Daher sind bei manchen Fischarten, z. B. bei Walen, die Bestände weltweit in Gefahr. Was lässt sich tun, um das Problem zu bewältigen? Der Staat kann eine Steuer in der Höhe des Steuersatzes t erheben und damit die Nutzung der

Durchschnittsertrag DE

A

w+t w

0

Grenzertrag GE

B

C

L1

L2 Arbeitskräfte L

Abbildung 4.2: Die Ausbeutung einer natürlichen Ressource bei durchgesetzten Verfügungsrechten und als Allmendegut

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4. Kapitel: Wann handelt der Staat? Ressource bis L1 zurückdrängen. Auch eine Festlegung der maximalen Fangmengen könnte helfen. Doch Mengenrestriktionen stellen für die Fischer eine Einladung dar, ein Kartell zu schließen. Weniger Angebot beschert ihnen höhere Preise und einen höheren Gewinn. Es gibt aber auch andere Allmendegüter. Die amerikanische Ökonomin Elinor Ostrom (1990) hat gezeigt, dass die Alpen vielerorts ein Allmendegut darstellen. Seit Jahrhunderten organisieren Alpgenossenschaften die Nutzung der Alpen und haben seither eine Übernutzung vermieden.

5. Private Güter, öffentliche Güter, Mautgüter und Allmendegüter im Vergleich Aus den beiden Kriterien Ausschließbarkeit und Rivalität ergeben sich vier Güterkombinationen, die in den vorangegangenen vier Unterabschnitten 1 bis 4 dieses Kapitels behandelt worden sind. Sie lassen sich in Abbildung 4.3 zusammenfassend veranschaulichen: Sind Ausschließbarkeit und Rivalität gegeben, so liegen private Güter vor, die über den Markt angeboten werden können (Feld 1). Trifft nur eines der beiden Kriterien zu, so spricht man von Maut- oder Allmendegütern (Feld 2 oder 3). Reine öffentliche Güter zeichnen sich demgegenüber dadurch aus, dass weder Ausschließbarkeit noch Rivalität gegeben sind (Feld 4). Die in der Abbildung angeführten Beispiele verharren nicht naturgegeben für alle Zeiten in den gleichen Feldern. Durch eine Zunahme der Nachfrage kann ein bisher öffentliches Gut in ein Allmendegut verwandeln. Ein öffentliches Gut kann bei einer Verbesserung der Ausschlussmöglichkeiten zu einem Mautgut werden oder, wenn gleichzeitig noch Rivalität auftritt, sich zu einem privaten Gut verändern. Die Leserinnen und Leser können sich weitere Fälle ausdenken.

ja

Ausschluss

Private Güter (1) ja z.B. Wohnen, Essen nein Allmendegüter (3) z.B. Hochseefischgründe, Innenstadtstraßen, öffentliche Sicherheit

Rivalität nein Mautgüter (2) z.B. Kabelfernsehen, Autobahnen reine öffentliche Güter (4) z.B. Außenpolitik, öffentliche Kunstdenkmäler

Abbildung 4.3: Ausschluss und Rivalität bei privaten Gütern, Mischgütern und öffentlichen Gütern

6. Grenzen der Marktversagenstheorie Die Marktversagenstheorie wäre zuverlässig, wenn Markversagen und Staatsaktivität stets gleichlaufend, nämlich wie folgt, auftreten: Fall 1: Marktversagen liegt vor, Staatseingriff findet statt (öffentliche Güter).

B. Eine Theorie der politischen Aktion Fall  2: Marktversagen liegt nicht vor, Staatseingriff findet nicht statt (private Güter).

Lägen in der Wirklichkeit stets Fall 1 oder Fall 2 vor, so bestünden keine Probleme mit der Marktversagenstheorie. Ihre Voraussagen wären stets richtig. Tatsächlich beobachten wir aber auch die quer liegenden Fälle 3 und 4: Fall 3: Marktversagen liegt vor, Staatseingriff findet nicht statt. Fall 4: Marktversagen liegt nicht vor, Staatseingriff findet statt.

Beispielsweise werden viele Städte Deutschlands von Kleinkriminalität heimgesucht. Diese hat die gleichen Eigenschaften wie ein öffentliches Gut, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Niemand kann sich vor ihr ausschließen. Es gilt das Nichtausschlussprinzip. Marktversagen sollte eigentlich zu einem Staatseingriff führen. Aber der findet nicht statt (jedenfalls nicht in hinreichendem Ausmaß). Eine offensichtliche Fehlprognose der Marktversagenstheorie. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall von Staatseingriff ohne Marktversagen. In der Landwirtschaft werden vorwiegend private Güter produziert. Obwohl ein Marktversagen nicht vorliegt, gibt es umfangreiche Staatseingriffe. Feld 4 von Abbildung 4.3 ist nicht leer wie es sein sollte, sondern mit zahlreichen Staatseingriffen übersät. Wiederum eine Fehlprognose der Marktversagenstheorie. Was also bewegt die Politiker? Wir benötigen eine Theorie der politischen Aktion, die erklärt, was Politiker dazu bewegt den Staat zu aktivieren und damit zu zeigen, wie Staatseingriffe (mit oder ohne Marktversagen) zustande kommen.

B. Eine Theorie der politischen Aktion Allgemein gilt: Je ähnlicher die Präferenzen und je schlechter die aktuelle Ausgangslage ist, umso eher wird eine politische Aktion unterstützt. Doch diese allgemeine Aussage lässt sich präzisieren.

1. Marktversagen und kollektive Entscheidungen (Fall 1 und 2) Fall 1: Öffentliches Gut: Marktversagen liegt vor, Staatseingriff findet statt:

Angenommen, in einem Dorf wohnen 10 000 Einwohner, die von einer Schädlingsplage heimgesucht sind.7 Die Schädlinge (Maikäfer, Heuschrecken u. Ä.) lassen sich in den Obstbäumen und Gemüsepflanzungen der Anwohner nieder und zerstören die Ernten, sie dringen in die Wohnungen ein und belästigen dort die Menschen. Nach Abbildung 4.4 besitzt jeder Einwohner eine gleiche preisabhängige Nachfrage N nach Schädlingsbeseitigung (gleiche Präferenzen).8 Die Nachfrage 7 8

Es handelt sich um eine stark modifizierte Version und Weiterentwicklung eines auf G. Tullock (1969) zurückgehenden Modells. Diese Nachfrage nehme nur einen kleinen Teil des Einkommens des betrachteten Individuums in Anspruch, so dass Einkommenseffekte von Preisänderungen vernachlässigt werden können.

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4. Kapitel: Wann handelt der Staat? befriedigt er privat, indem er eine Spraydose kauft und damit die Schädlinge in seiner näheren Umgebung bekämpft. Die Beseitigung „einer Einheit“ Schädlinge koste bei dieser Beseitigungstechnik 1 Euro. Bei diesem Preis fragt er A Einheiten nach. Diese Methode der Schädlingsbekämpfung ist bis dahin effizient. Das steht außer Frage. Jetzt heuert der Bürgermeister ein Flugzeug an. Der Eigentümer des Flugzeugs ist bereit, für 1000 Euro die Schädlinge aus der Luft in der ganzen Gemeinde zu bekämpfen. Jeder Einwohner muss 0,1 Euro beitragen. Es droht das Freifahrerproblem. Da aber angenommen wurde, dass alle Einwohner gleiche Präferenzen haben und das voneinander wissen (siehe oben), kann niemand schummeln. Einstimmigkeit wird erreicht. Jeder bezahlt den geforderten Betrag, das Flugzeug startet und beseitigt die Plage. In Abbildung 4.4 gewinnt jeder Einwohner eine Konsumentenrente vom Umfang CDEF. Dies stellt denn auch den Anreiz dar, sich an der kollektiven Bekämpfung aus der Luft zu beteiligen (Schummeln ist wie erwähnt ausgeschlossen).

Abbildung 4.4: Der Vorteil der kollektiven Aktion bei einem öffentlichen Gut

C. Meritorische und demeritorische Güter Fall 2: Privates Gut: Marktversagen liegt nicht vor, Staatseingriff findet nicht statt: Der Vorteil CDEF wird kleiner und verschwindet schließlich, wenn die

Individuen weit auseinander wohnen und die genannten Skalenvorteile in der Nutzung nicht mehr realisiert werden. Die schraffierte Konsumentenrente schrumpft dann zusammen. Die Kosten der Beseitigung aus der Luft steigen dann von 0,10 Euro in Richtung von 1 Euro pro Einheit, wo die Beseitigung aus der Luft eingestellt und zur privaten Beseitigung mittels Spraydose zurückgekehrt wird. Marktversagen liegt nicht vor, Staatseingriff findet nicht statt.

2. Marktversagen und kollektive Entscheidungen (Fall 3 und 4) Wie lassen sich die Fälle 3 und 4 erklären?

Unsere Theorie der politischen Aktion kann auch die Fälle 3 und 4 erklären. Bei unterschiedlichen Präferenzen, kann Einstimmigkeit in der Regel nicht mehr erzielt werden. Es muss von der einfachen Mehrheitsregel ausgegangen werden. Die Bekämpfung aus der Luft findet nur statt, wenn eine Mehrheit (mindestens die Hälfte der Stimmberechtigten) zustimmt. Es kann dann sein, dass die Mehrheit nicht zustande kommt, das Marktversagen also nicht beseitigt wird (Fall 3). Umgekehrt kann eine Stimmenmehrheit zustande kommen, obwohl private Beseitigung insgesamt geringere Kosten verursachen würde (Fall 4). Fazit: Diese Überlegungen belegen, dass es auf die institutionelle Organisation

der Demokratie (Einstimmigkeit oder Mehrheitsbeschluss) ankommt, welche Ergebnisse zustande kommen.

C. Meritorische und demeritorische Güter Der Analytiker sagt: Was gehen mich die privaten Güter an? Welche Bilder mein Nachbar in seiner Wohnung aufhängt, ist dessen Privatsache. Der Homo oeconomicus ist kein Schnüffler. Die Zuständigkeiten von A und B enden an deren Wohnungstüren. Jedes weitere Einmischen ist nicht legitim und sollte vom Rechtsstaat verhindert werden. Dennoch sind viele Menschen intolerant. Sie versuchen den Staat zu aktivieren, um ihre Mitmenschen „zur Raison“ zu bringen. Nicht selten schaffen sie es, hierzu eine hinreichend große Mehrheit (s. oben Fall 4) zusammenzubringen. Viele Menschen essen Süßigkeiten, obwohl sie wissen, dass sie dadurch übergewichtig werden. Die Zahl der Adipösen soll mittlerweile 20 % der Bevölkerung betragen. Zweifellos ist Adipositas ein privates Gut, das viele Menschen unglücklich macht. Sollte der Staat diese Menschen zu ihrem Glück zwingen? Neuere Forschungen zeigen, dass eine solche Unterwerfung unter Meinungsführer nicht zwingend erforderlich ist. Ein Mensch kann sich selbst vertraglich binden. Der amerikanische Ökonom Ian Ayres hat eine Internetplattform geschaffen, auf der man bindende Verträge mit sich selbst abschließen (z. B. keine Süßigkeiten mehr zu essen) und sich einem Kontrollmechanismus unterwerfen kann (J. Schnellenbach 2014).

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4. Kapitel: Wann handelt der Staat? Es gibt auch Fälle von zu viel Markt. Nicht wenige Unternehmen leben von unzulässigen Tricksereien. Sie nützen den Markt, um Konsumenten irrezuführen. Die beiden Ökonomen G. A. Akerlof und R. J. Shiller (2016) geben zu bedenken, dass der Reputationsmechanismus nicht immer stark genug ist, um dieses Marktversagen zu verhindern. Liegt hier ein Fall für Staatseingriffe vor? Die Autoren befürchten, dass dieses Problem immer wichtiger werden könnte. Ob der Staat solche Phänomene beseitigen könnte? Die Ökonomie hält bislang keine Antwort bereit.

D. Vorschläge zur Produktion öffentlicher Güter Zweifelsfrei muss sich der Staat um öffentliche Güter kümmern, die die Bürger wünschen, obwohl eine effektive Marktnachfrage nicht existiert. Doch es ist zwischen Bereitstellung und Produktion zu unterscheiden. Die Bereitstellung umfasst die Ermittlung der Präferenzen und die Sicherstellung des Angebots. Produktion betrifft demgegenüber die physische Herstellung des gewünschten Gutes. Für letztere wird häufig der private Sektor in Anspruch genommen. Verschiedene Möglichkeiten sind denkbar: a. Dienstverpflichtung: Statt das öffentliche Gut selbst herzustellen, kann der Staat die Bürger dazu verpflichten, das Gut zu produzieren. Als Beispiel sei die Pflicht der Anwohner zur Schneeräumung auf dem Gehweg vor ihrem Haus zu nennen. Verbreitet ist auch die Dienstverpflichtung von Bürgern zur Erstellung von Leistungen unter staatlicher Regie, so z. B. das gelegentliche Heranziehen von Gemeindebürgern zur Auszählung von Stimmzetteln bei Abstimmungen und Wahlen. In diese Kategorie gehört auch die (frühere) Pflicht zur Ableistung von Wehr- oder Zivildienst. Hierfür bezahlt der Staat den Dienstverpflichteten ein Arbeitsentgelt, das für viele von ihnen unter dem Gehalt liegt, das sie auf dem privaten Markt erzielen könnten. b. Bei Kontrakten9 bezieht der Staat den Dienst von privaten Anbietern. Eine unternehmerische Leistung wird seitens des Staates nicht erbracht. Im Rahmen der Privatisierungsdiskussion (Entstaatlichungsdebatte) wird vielfach gefordert, mehr Kontrakte zu benützen, z. B. eine Kontrakt-Müllabfuhr statt einer staatlichen Müllabfuhr zu betreiben. Der Staat könne so den Wettbewerb im Vergabewesen nutzen, um damit zu einer kostengünstigeren Leistungserstellung zu gelangen. Zu unterscheiden ist in diesem Fall zwischen kollektiven und individuellen Kontrakten. Bei der Müllabfuhr wird die Gemeinde gewöhnlich einen kollektiven Vertrag für alle Anwohner eines Abfuhrbezirks abschließen. Denkbar sind auch individuelle Verträge. Hierbei gibt der Staat steuerfinanzierte Gutscheine über eine bestimmte Summe Geld an die Einwohner mit der Auflage, diese zum Abschluss eines individuellen Kontrakts mit dem Lieferunternehmen zu verwenden. c. Alles in allem betrachtet werden öffentliche Güter zu etwa zwei Dritteln durch staatliche Eigenproduktion und zu einem Drittel über Kontrakte bereitgestellt. Zur staatlichen Eigenproduktion gehören die gesamte Re9

Vgl. auch 23. und 27. Kapitel.

E. Exkurs: Aspekte der Hochschulbildung gierungstätigkeit, ferner verschiedene Ämter, Anstalten und dergl. wie Standesämter, Grundbuchämter, Finanzämter und Schulen. Zu Aufträgen gehören deren Hilfsmittel, das gesamte Bauwesen, die militärische Beschaffung u. a. m. Mit diesem großen Bereich befasst sich das 23. Kapitel. Es werden dort verschiedene Organisationsformen des Wettbewerbs betrachtet, wie Einzelvergabe durch Ausschreibung oder Private-Public-Partnership einschließlich deren Kontrolle. M. Friedman (1962) hat beispielsweise vorgeschlagen, der Staat solle Gutscheine an Eltern schulpflichtiger Kinder abgeben, damit diese mit öffentlichen oder privaten Schulen Kontrakte über die Schulausbildung ihrer Kinder abschließen können. Mit diesem sogenannten Gutscheinsystem könne ein Wettbewerb zwischen öffentlichen und privaten Schulen in Gang gesetzt werden.

E. Exkurs: Aspekte der Hochschulbildung 1. Hochschulbildung und externe Effekte Ist Hochschulbildung ein öffentliches Gut? Nein. Im Wesentlichen ist Hochschulbildung ein privates Gut. Hochschulbildung kann ein Konsumgut sein, z. B. wenn sich Privatpersonen an einer Universität Vorträge großer Gelehrter anhören. Hochschulbildung ist aber vor allem ein Investitionsgut, in das die Studierenden investieren. Sie verzichten auf Einkommen heute, sie bilden Humankapital, um in Zukunft (bei einer in der Regel interessanteren Arbeit) mehr zu verdienen. Obwohl also Hochschulbildung ein privates Gut ist, wird sie (aus noch zu erläuternden Gründen) im Wesentlichen öffentlich finanziert. Auch externe Effekte treten auf. Sie entstehen aber nicht aus der Hochschulbildung selbst, sondern aus der Einheit von Hochschulbildung und Forschung und vor allem, wenn der Staat separat Forschungseinrichtungen subventioniert und daraus allgemein verwertbare Erkenntnisse entstehen. In einer frühen Studie hat Jacob Mincer (1974) (ähnlich wie Gary S. Becker, 1964) die Ertragsraten einer Investition in Humankapital (in Schule und Hochschule) zu messen versucht. In seiner typischen Gleichung wird die Lohnhöhe Wi durch die Ausbildungsjahre Si und Berufserfahrung Xi und X i2 (4.1)

ln Wi = α 0 + α1S i + α 2 X i (i) + α 3 X i2 + εi

erfasst und daraus die Bildungsrendite berechnet. Dahinter steht die Annahme, dass die Individuen ihr Einkommen maximieren.10 Wiederum ist Hochschulbildung ein privates Gut. Für die diskontierten Erträge und Kosten der Hochschulbildung gilt an der Grenze die folgende Gleichung: (4.2)

10

Private Erträge Gesellschaftliche Erträge = = Marktzinssatz Private Kosten Gesellschaftliche Kosten

Auch Nutzenmaximierung ist denkbar, Richter (2011).

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4. Kapitel: Wann handelt der Staat? Hierbei gilt: Private Erträge der Hochschulbildung = Zusätzliche Arbeitseinkommen nach Steuern unter Berücksichtigung höherer Beschäftigungswahrscheinlichkeiten minus gegebenenfalls Rückzahlung von öffentlichen Studiendarlehen, die sich aus einer Erhöhung der Zahl der Akademiker ergeben. Private Kosten der Hochschulbildung = Studiengebühren plus entgangene Arbeitsverdienste nach Steuern (korrigiert um ev. Arbeitslosigkeit) minus Stipendien und Darlehen der Studierenden. Gesellschaftliche Erträge der Hochschulbildung = bundesweite Produktivitätssteigerungen aus Investitionen in Hochschulbildung plus andere Effekte, wie Vorteile aus geringerer bundesweiter Kriminalität, besserer Gesundheit, engerem sozialem Netz und besser informierten Bürgern mit mehr Bürgersinn. Gesellschaftliche Kosten der Hochschulbildung = Direkte gesellschaftliche Zusatzkosten, bestehend aus Opportunitätskosten der Studierenden, die anfallen, weil sie oder er nicht zur Produktion beiträgt, plus die vollen Produktionskosten der Bildung (die in der Regel über die Kosten des Studierenden hinausgehen) plus die Wohlfahrtskosten, die infolge der Finanzierung der öffentlichen Bildung über Steuern entstehen.11 Von Ungleichgewichtssituationen abgesehen, werden private Ertrags-KostenDifferenzen an der Grenze zum Ausgleich tendieren. Für die gesellschaftlichen Nutzen-Kosten-Differenzen braucht dies nicht zuzutreffen. Externe Effekte können dem entgegenstehen. Beispielsweise mögen im Bereich der Schule die gesellschaftlichen Kosten unter den gesellschaftlichen Erträgen liegen, wenn die Jugendlichen verfrüht aus der Schule aussteigen und dann vermehrt kriminellen Aktivitäten nachgehen. Folglich können positive externe Effekte entstehen, wenn Jugendliche länger in die Schule gehen. Die Ökonomen L. Lochner und E. Moretti (2004) haben untersucht, ob eine Steigerung der Zahl der High-School-Absolventen in den US-Bundesstaaten einen solchen positiven externen Effekt hervorruft und die Rate der Kriminalität dort in der Folge zurückgeht. Vor dem Hintergrund der beträchtlichen gesellschaftlichen Kosten der Kriminalität in den USA kommt dieser Frage eine hohe Bedeutung zu. Mit mehr Bildung – so wird vermutet – steigen für das einzelne Individuum die Opportunitätskosten kriminellen Handelns, sodass seine kriminellen Aktivitäten und mithin die externen Effekte zurückgehen werden. Die Autoren finden heraus, dass eine Steigerung der Rate der High-SchoolAbsolventen um ein Prozent die gesellschaftlichen Schäden der Kriminalität in den US-Bundesstaaten in der Höhe von 14 bis 26 Prozent des privaten Ertrages dieser Ausbildung reduzieren. Was für High-School-Absolventen nahe liegt, braucht für Hochschulabsolventen nicht zwangsläufig zuzutreffen. Es ist nicht ohne Weiteres zu erwarten, dass eine Zunahme der Hochschulabsolventen zu weniger Kriminalität führt und somit die gesellschaftlichen Grenzerträge über den privaten Grenzerträgen liegen. Es verhält sich vielleicht sogar umgekehrt: Die gemessenen privaten Ertragsraten der Hochschulausbildung scheinen wesentlich über den gesellschaft11

Zu den Wohlfahrtskosten der Besteuerung vgl. 11. Kapitel.

E. Exkurs: Aspekte der Hochschulbildung lichen Ertragsraten zu liegen. Für eine Gruppe von OECD-Staaten berechnen S. Blöndal, S. Field und N. Girouard (2002) eine durchschnittliche private Ertragsrate von 11,7 Prozent bei den Männern, wobei Deutschland mit 9,1 Prozent etwas darunter liegt (S. 21). Die gesellschaftlichen Ertragsraten liegen der gleichen Quelle zufolge für Männer im Durchschnitt der Gruppe von OECD Staaten bei 9,5 Prozent und in Deutschland bei 6,5 Prozent (alle Angaben 1999/2000). Für Frauen sind die Ergebnisse qualitativ nicht wesentlich anders. Die gesellschaftlichen Ertragsraten liegen durchwegs niedriger, was darauf hindeutet, dass der Staat eher zu viel in die Hochschulbildung investiert. Hier ist jedoch Vorsicht geboten. Zum einen wird nicht zwischen Fachrichtungen unterschieden. So kann es durchaus sein, dass durch Interessenpolitik bestimmte „Orchideenfächer“ erhalten werden, obwohl dort kaum Studenten eingeschrieben sind. Zum anderen werden in den genannten Studien Durchschnittserträge genannt. Diese können über oder unter den zugehörigen individuellen gesellschaftlichen Grenzerträgen liegen. Ob also zusätzliche staatliche Bildungsinvestitionen schon jenseits des Optimums liegen, ist schwer zu beurteilen.

2. Hochschulbildung und Verteilung Was allokativ möglicherweise fragwürdig ist, lässt sich aber u. U. verteilungspolitisch rechtfertigen. Wo Bildungsausgaben die höchste verteilungspolitische Wirkung entfalten, haben F. Cunha et al. (2006) eingehend untersucht. Anhand des erwähnten Ansatzes von J.  Mincer berechnen sie, in welchem Lebensabschnitt eine gegebene Investitionssumme den höchsten Ertrag generiert. Demzufolge ergibt sich über vier Lebensabschnitte folgendes Bild: Frühkindliche Programme entfalten eine wesentlich höhere Produktivität als Programme in späteren Lebensabschnitten (vgl. Abbildung 4.5). Wenn also der Staat für die Bildung Mittel einsetzen will, dann sollte er es am ehesten für Kinder in frühen

Ertragsrate von Investitionen

Frühkindliche Programme

Vorschulprogramme Schulische Bildung Nachschulbildung 0–3 4 –5

Schulzeit

Nachschulphase on the job Alter

Abbildung 4.5: Produktivität von Investitionen in Bildung nach Lebensalter Quelle: Nach J. J. Heckman (2008), S. 5

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4. Kapitel: Wann handelt der Staat? Lebensabschnitten tun. Hierfür sind zwei Gründe maßgebend: Einmal haben Bildungsinvestitionen im frühkindlichen Alter eine längere Wirkungsdauer. Zum anderen generieren sie einen positiven Produktivitätseffekt auf spätere Bildungsinvestitionen. Es wird von einem sogenannten „Selbstproduktivitätseffekt“ gesprochen.12

Ertragsraten von Investitionen in Humankapital

Die Autoren stellen außerdem fest, dass Investitionen in Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien während der frühkindlichen Lebensphase relativ höhere Renditen einbringen als Investitionen in Kinder aus sozioökonomisch starken Familien. Im weiteren Verlauf nehmen die Renditen in beiden Gruppen ab. Doch gegen Ende der Sekundarstufe dreht sich das Verhältnis um. Es wird ertragsreicher, in die Fähigsten zu investieren, die traditionellerweise aus sozioökonomisch starken Schichten kommen (vgl. Abbildung 4.6). In diesem Bereich, der vor allem die Hochschulen umfasst, besteht also ein Dilemma (ein „Trade-off“) zwischen Effizienz und Verteilungszielen der Hochschulpolitik. Wer mehr Effizienz und Wirtschaftswachstum möchte, muss in der Verteilung zurückstecken, es sei denn, das Wirtschaftswachstum kommt, wie D. Dollar und A. Kraay (2002) argumentieren, auch den Armen zugute, ja stellt sogar vor der Bildung (was nicht unumstritten ist) die prominente Methode zur Bekämpfung der Armut dar.13

Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien

Kinder aus sozioökonimisch starken Familien

Alter

Abbildung 4.6: Produktivität von Investitionen in Bildung nach Familienhintergrund Quelle: L. Wössmann (2009)

12 13

Nähere Darstellung bei L. P. Kremkow (2009). Zur Kritik, siehe E. Gundlach und L. Wössmann (2004).

E. Exkurs: Aspekte der Hochschulbildung

3. Das Verteilungsproblem und die Politische Ökonomik der Hochschulpolitik Traditionell war die Hochschulbildung in deutschsprachigen Staaten unentgeltlich. Viele Politiker lehnen Studiengebühren auch heute noch ab. Sie führen verteilungspolitische Gründe an. Müssten die Studierenden ihre Hochschulbildung selbst bezahlen – so wird argumentiert –, könnten die Kinder armer Eltern keine Hochschulbildung oder weniger davon erwerben als die Kinder wohlhabender Eltern. Dies sei ungerecht; es widerspreche dem Prinzip der Chancengleichheit. Daher müsse der Hochschulzugang unentgeltlich sein. Dem wird allerdings entgegengehalten, auch Unentgeltlichkeit sei nicht gerecht. Sie käme in erster Linie den Kindern reicher Eltern zugute, solange vor allem sie die Hochschulen besuchen. Überhaupt würden durch die Unentgeltlichkeit Menschen subventioniert, die später einmal überdurchschnittlich viel verdienen. Studierende würden durch Nichtstudierende unterstützt, was ebenfalls nicht gerecht sei. Richtigerweise müsste gelten, dass all jene, deren Investition in das Studium einen positiven diskontierten Nettoertrag verspricht, auch studieren sollten, gleichgültig, ob sie über die Mittel verfügen, ein Studium selbst zu finanzieren oder nicht. Im Prinzip lässt sich dieser Anspruch über den Markt lösen. Studienwillige, denen die Mittel zum Studium fehlen, nehmen Studienkredite auf, die sie dann später aus ihrem (höheren) Einkommen zurückbezahlen. Allerdings sind solche Kredite nicht ohne Weiteres zu erhalten. Kredit von einer Bank erhält nur, wer entsprechende Sicherheiten beibringen kann, und gerade daran fehlt es diesen Studienwilligen. Sie haben außer ihrem potentiellen Humankapital nichts anzubieten. Für die Banken birgt die Gewährung von Studienkrediten daher ein erhebliches Risiko. Von Banken wurden seit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 2005 zu Studiengebühren14 zwei Modelle entwickelt, durch die versucht wird, dieses Risikoproblem zu lösen. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau, ein staatliches Unternehmen, verfolgt ein Darlehensmodell für alle Studierenden unabhängig vom Studienfach mit einkommensabhängiger Rückzahlung. Das Institut verzichtet also auf Risikoauswahl. Adverse Selektion (z. B. durch die Unterstützung von Studienentscheidungen mit „brotloser Perspektive“) wird ebenso hingenommen wie das moralische Risiko jener, die sich aus dem Staub machen, wenn sie nach dem Studium den Kredit zurückzahlen sollten. Private Institute ohne staatliche Garantie können sich eine so großzügige Kreditgewährung nicht ohne Weiteres leisten. Soweit sie sich überhaupt auf solche Geschäfte einlassen, müssen sie auf die Art der Risiken achten (Risiken selektionieren). Ein solches Privatunternehmen ist Career Concept. Es will einen Fonds aus privaten Anlagemitteln zur Zeichnung auflegen und daraus in Zusammenarbeit mit der Sparkasse Leipzig (einem staatlichen Institut) gezielt ausgewählte Studienwillige mit Krediten unterstützen. Auf diese Weise soll die Gefahr, Darlehen an Studienabbrecher und später Ausfallende zu gewähren, minimiert werden. 14

Bundesverfassungsgericht Urteil vom 26. Januar 2005 – 2 BvF 1/03 –

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4. Kapitel: Wann handelt der Staat? Die Beispiele zeigen, dass das Problem des Risikos für Studienkredite nicht von der Hand zu weisen ist. Als Alternative bieten sich daher auch staatlich finanzierte Studiengutscheine an, die ähnlich den Friedmanschen Schulgutscheinen ohne Rückzahlungsauflagen an Studienwillige verteilt werden. Die Lösung von Studiengutscheinen liegt auf den ersten Blick schon sehr nahe bei der traditionellen budgetfinanzierten Hochschulbildung aus Steuermitteln. Aber doch besteht ein wichtiger Unterschied. Bei Studiengutscheinen wird eine Subjektfinanzierung und nicht mehr eine allgemeine Objektfinanzierung betrieben. Die Studienwilligen können wählen, welchen Anbieter sie vorziehen. Wettbewerb ist also möglich. Demgemäß sollten die Gebühren an die kleinstmögliche Einheit – die Fakultät oder den Studienganganbieter – entrichtet werden. Ginge die Gebühr wie im Falle einer Objektfinanzierung an die Hochschule oder – noch fragwürdiger – an den Landeshaushalt, so verlöre das Instrument der Studiengebühren teilweise seine steuernde Wirkung und angebotsseitig bliebe alles beim Alten. Wettbewerb wird nur erreicht, wenn derjenige mehr Einnahmen erzielen kann, der das bessere Produkt anbietet. Desgleichen müssten privat aufgebrachte Gebührenzahlungen an die Fakultät oder den Studienganganbieter gehen. Andernfalls versickern die Gelder in der Interessenpolitik der Universität.

F. Zusammenfassung des 4. Kapitels Dieses Kapitel steht unter der Fragestellung: „Wann handelt der Staat?“ In der Wohlfahrtsökonomie ist der Staat ein wohlwollender Tyrann. Er handelt, wenn die ihn umgebenden Ökonomen ihm empfehlen, Marktversagen zu beseitigen. Public Choice-Ökonomen gehen davon aus, dass der Staat eine Demokratie ist. Sie fragen, wie müsste diese organisiert sein, um Marktversagen genau zu erkennen und zu beseitigen? Hierfür wird an vier Fällen untersucht, welche der beiden Theorien die treffenden Empfehlungen abgibt: Fall 1: Marktversagen liegt vor, Staatseingriff findet statt. Fall 2: Marktversagen liegt nicht vor, Staatseingriff findet nicht statt. Fall 3: Marktversagen liegt nicht vor, Staatseingriff findet statt. Fall 4: Marktversagen liegt vor, Staatseingriff findet nicht statt. Die Wohlfahrtsökonomie kann die Fälle 3 und 4 häufig nicht ausschließen. Dieser Mangel lässt sich durch die politische Ökonomie überwinden. Diese Theorie zeigt, wann durch Koalitionen politische Aktionen zustande kommen. Sie schließt auch die Fälle 3 und 4 ein. Einen Anwendungsfall der Theorie öffentlicher Güter stellt die Bildung dar. Bildung, insbesondere Hochschulbildung, ist zwar ein privates Gut, das grundsätzlich keiner staatlichen Steuerung bedarf. Aber Bildung, insbesondere Hochschulbildung, spielt im Staatshaushalt eine immer wichtigere Rolle. Daher ist der Hochschulbildung ein Anhang zu diesem Kapitel gewidmet. Im Gesamt-

F. Zusammenfassung des 4. Kapitels kontext der Bildungsdiskussion treten frühkindliche Bildung und Bildung als Verteilungsgut zunehmend in den Vordergrund.

Wichtige Begriffe des 4. Kapitels Wohlfahrtsökonomie Wohlwollender Diktator Public Choice Marktversagen Öffentliche Güter Ausschlussprinzip Rivalität Kollektivkonsum Individuelle Rationalität – kollektive Irrationalität Mautgüter Natürliches Monopol Allmendegüter Externe Effekte Externe Kosten Staatsversagen Marktversagen und Mehrheitsbeschluss Umverteilungskoalitionen Selbstorganisation von Gruppen Staatliche Kontrakte Gutscheinsystem Studiengebühren

Literatur zum 4. Kapitel G. A. Akerlof und R. J. Shiller, Phishing for Phools: The Economics of Manipulation and Deception, Princeton, Princeton University Press 2016. S. Blöndal, S. Field und N. Girouard, Investment in Human Capital Through Upper-Secondary and tertiary Education, in: OECD Economic Studies, No. 34, 2002, 49/1, S. 41–89. W. Blümel, R. Pethig und O. von dem Hagen, The theory of public goods: A survey of recent issues, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Vol. 142, 1986, S. 241–309. M. Fritsch, Th. Wein und H. J. Ewers, Marktversagen und Wirtschaftspolitik, München, Vahlen, 6. Aufl. 2005. R. A. Musgrave, The Theory of Public Finance, New York u. a. (McGraw Hill) 1959, deutsch: Finanztheorie, Tübingen (Mohr) 1966. G. Tullock, Social Cost and Government Action, in: American Economic Review, Vol. 59, No. 2, 1969, S. 189–197. Wohlfahrtsökonomische Grundlagenliteratur J. Hirshleifer, Price Theory and Applications, London u. a. (Prentice Hall) 2. Aufl. 1980. H. Herberg, Preistheorie: eine Einführung, Stuttgart u. a. (Kohlhammer) 1985. N. G. Mankiw und M. P. Taylor, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, Stuttgart (Schäffer-

Poeschel) 4. Aufl. 2008.

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4. Kapitel: Wann handelt der Staat? Zur Theorie der Mautgüter und Allmendegüter W. J. Baumol und W. E. Oates, The Theory of Environmental policy; externalties, public outlays, and the quality of life, London u. a. (Prentice Hall) 1975, 2. Aufl., Cambridge

(Cambridge Univ. Pr.) 1988. Ch. B. Blankart, Ökonomie der öffentlichen Unternehmen, München (Vahlen) 1980.

Arrangements zur Überwindung des Marktversagens G. S. Becker, Human Capital: A Theoretical and Empirical Analysis with Special Reference to Education, New York: National Bureau of Economic Research 1964.

Ch. B. Blankart, W. W. Pommerehne, F. Schneider, Warum nicht reprivatisieren? in: M. Neumann, Hrsg., Ansprüche, Eigentums- und Verfügungsrechte, Schriften des Vereins für Socialpolitik, Berlin (Duncker und Humblot) 1984, S. 221–246. Ch. B. Blankart und G. Krause, Bildungskredite, Akademikersteuer und Gutscheine: Drei Instrumente der staatlichen Studienförderung, in: Wirtschaftsdienst, Nr. VI, 1999, S. 351–358. Ch. B. Blankart und G. B. Koester, Schulen im Wettbewerb, „Die Ordnung der Wirtschaft“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 207, 6.9.2003, S. 13. Ch. B. Blankart, G. B. Koester und S. G. Wolf, Studiengebühren: Ein Weg aus der Bildungskrise?, in: Wirtschaftsdienst, 85. Jg., Nr. 2, 2005, S. 93–101. D. Dollar und A. Kraay, Growth Is Good for the Poor, in: Journal of Economic Growth 7 (3), 2002, S. 195–225. M. Friedman, Capitalism and Freedom, Chicago und London (Univ. of Chicago Press) 1962, deutsch: Kapitalismus und Freiheit, Stuttgart (Seewald) 1971. E. Gundlach und L. Wössmann, Bildungsressourcen, Bildungsinstitutionen und Bildungsqualität: Makroökonomische Relevanz und mikroökonomische Evidenz, in: U. BackesGellner und P. Moog, Hrsg., Ökonomie der Evaluation von Schulen und Hochschulen. Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. 302, Duncker & Humblot, Berlin, 2004, S. 15–52. J. J. Heckman, Early Childhood Education and Care, in: CESifo DICE Report 2/2008, S. 3–8. L. P. Kremkow, Politökonomische Aspekte des bildungsökonomischen Lebenszyklusansatzes von Heckman et al., Berlin (Humboldt Universität zu Berlin) 2009. L. Lochner und E. Moretti, The Effect of Education on Crime: Evidence from Prison Inmates, Arrests, and Self-Reports, in: American Economic Review; Vol. 94, No. 1, 2004, S. 155–189. J. Mincer, Schooling, Experience and Earnings, New York: National Bureau of Economic Research, 1974. D. C. Mueller, Rational egoism versus adaptive egoism as fundamental postulate for a descriptive theory of human behavior, in: Public Choice, Vol. 51, No. 1, 1986, S. 3–23. A. Ostmann, W. W. Pommerehne, L. P. Feld und A. Hart, Umweltgemeingüter, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 117. Jg., Heft 1, 1997, S. 107–144. E. Ostrom, Governing the commons. The evolution of institutions for collective action, Cambridge (Cambridge University Press) 1990. Deutsch: Die Verfassung der Allmende: jenseits von Staat und Markt, Tübingen (Mohr) 1999. D. Ricardo, The Works and Correspondence of David Ricardo, 11 Vols. Edited by P. Sraffa with the Collaboration of M. H. Dobb., Cambridge et al. 1821/1951–1973. W. F. Richter, Mincer Equation, Power Law of Learning, and Efficient Education Policy, TU Dortmund 2011. A. M. Rivlin, Economics and the Political Process, in: American Economic Review, Vol. 77, No. 1, 1987, S. 1–10. E. S. Savas, Privatization, The Key to Better Government, Chatham N. J. (Chatham House) 1987. L. Wößmann, Efficiency and Equity of European Education and Training Policies, in: CESifo Working Paper No. 1779, August 2006.

Our specific claim is that justice Takes its meaning from the rules of the social order within which notions of justice are to be applied. To appeal to considerations of justice is to appeal to relevant rules. Talk of justice without reference to those rules is meaningless. G. Brennan und J. M. Buchanan (1985)

5. Kapitel Gerechtigkeit Wie lässt sich ermitteln, ob ein Staat gerecht ist? Diese Frage wird in diesem Kapitel aus den Spielregeln der Verteilung diskutiert: Erst werden in Abschnitt A Entscheidungen über Regeln und Entscheidungen innerhalb von Regeln betrachtet, dann in Abschnitt B die Entscheidungen mittels Mehrheit. Schließlich wird in Abschnitt C das theoretische Instrumentarium auf die Flüchtlingspolitik angewandt. Entwicklungen der Profitrate werden in Abschnitt D behandelt.

A. Entscheidung über Regeln und Entscheidung innerhalb von Regeln Ein junger Mensch hat einmal in seinem Leben die Wahl, in welchem System von Allokation und Verteilung er leben möchte. Er tritt gleichsam in einen Saal, in dem an mehreren Tischen Gruppen von Menschen Karten spielen. Er geht von Tisch zu Tisch, beobachtet und beurteilt die Eigenschaften der dort gespielten Spiele. Dann trifft er seine Wahl zwischen Spielen (Choice among rules).1 Er wählt für sich einen Tisch und akzeptiert damit die dort geltenden Regeln. Die Karten werden verteilt, sind aber noch verdeckt. Noch gilt die Wahl zwischen Regeln. Dann nehmen die Spieler die Karten auf und sichten sie. Mit den erhaltenen Karten ist für den betrachteten Spieler vieles vorbestimmt. Aber er kann immer noch wählen, mit den erhaltenen Karten so gut wie möglich zu spielen. Er trifft eine Wahl innerhalb von Regeln (Choice within rules). Ob der Spieler gewinnt oder verliert, ergibt sich (a) aus der Wahl des Spiels und (b) aus seiner Entscheidung innerhalb des gewählten Spiels. 1

J. M. Buchanan und G. Tullock (1962).

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5. Kapitel: Gerechtigkeit Die Frage lautet: Ist dieses Set von Regeln gerecht? Es ist vielleicht chancengerecht. Doch reicht das aus? Das ist schwer zu sagen. Besser lässt sich umgekehrt beurteilen, wann ein Spiel ungerecht ist. Ungerecht wäre es, die vereinbarten Regeln des Spiels nachträglich zu verändern, z. B. das Spiel zusammenzuwerfen oder einem Mitspieler die Karten zu entreißen. Ungerechtigkeit wird vermieden, wenn das Spiel so gespielt wird, wie die Regeln vereinbart worden sind. Daher lässt sich sagen: Gerechtigkeit gibt es nur innerhalb von Regeln. Von Gerechtigkeit ohne Regeln zu sprechen, wäre sinnlos.

Gerecht ist ferner, wenn am Schluss des Spiels der siegreiche Spieler den Preis erhält. Ungerecht wäre es, wenn der Schiedsrichter aus purer Willkür den Preis dem vierten Spieler geben würde. Denn der Gewinner konnte legitimerweise erwarten, dass nach den Regeln er und nicht ein anderer Spieler den Preis erhält. Deswegen ist die Einhaltung von Regeln eine wichtige Voraussetzung für Gerechtigkeit. Ungerecht wäre es auch, die Verteilung der vereinbarten Auszahlungen im Nachhinein zu verändern. Wenn eine Umverteilung ex post erfolgen soll, so muss diese freiwillig sein. Geber und Nehmer müssen zustimmen. H. Hochman und J. D. Rodgers (1969) haben für die freiwillige Umverteilung den Begriff der Pareto-optimalen Umverteilung geprägt. Die Geber haben eine Affektion (Nutzeninterdependenz) zugunsten der Nutzen der Empfänger und sind so gesehen wohltätig.2 Th. R. Ireland und D. B. Johnson (1970) haben indessen berechnet, dass 2

Nutzeninterdependenzen können verschiedene Formen aufweisen, z. B. (5.1) UA = fA (CA, CB) (5.2) UB = fB (CB) mit ∂UA/∂CB > 0, solange CB < CA. Das heißt, der Wohlhabende A zieht einen Nutzen UA daraus, dass der Konsum CB des Armen B und damit dessen Nutzen UB steigen. Dies dürfte allerdings nur so lange zu erwarten sein, als der Konsum von B niedriger ist als jener von A. Liegen Nutzeninterdependenzen dieser Art vor, so wird der Wohlhabende einen Einkommenstransfer (ohne Verwendungsauflage) leisten, um die Lage des Armen zu verbessern. Alternativ kann auch der Konsum eines bestimmten Gutes X durch den armen Menschen in die Nutzenfunktion des reichen Menschen eingehen. Dieser möchte z. B., dass besonders sichtbare Zeichen der Armut beseitigt werden wie Obdachlosigkeit, Kälte, Hunger usw. Daher soll besonders der Konsum dieses sozial wichtigen Gutes steigen. In diesem Fall gilt: (5.3) UA = gA (CA, XB) (5.4) UB = gB (XB, …) mit ∂UA/∂XB > 0. Als Leistung des Wohlhabenden kommt dann ein Sachtransfer bzw. ein Geldtransfer mit Verwendungsauflage in Frage, z. B. Wohngeld, Heizkostenzulage oder Essensmarken. Anders als bei den zuvor behandelten Abhängigkeiten (5.1) und (5.2) kann hier XB > XA gelten. Solange XB ein inferiores Gut ist (z. B. Kartoffeln), wird A dem B mehr zugestehen wollen, als er selbst davon konsumiert. Wenn es ein superiores Gut ist, wird er dem Armen möglicherweise nur eine bestimmte Menge davon subventionieren wollen, weil er mehr davon als Luxus ansieht. Die subventionierte Menge XB wird dann stets kleiner sein als XA. Entgegen dem üblichen Urteil der Theorie stellt eine Verwendungsauflage nicht notwendigerweise ein Zeichen der Ineffizienz dar. Wohl ist der Empfänger bei einem Transfer mit Auflage (unter Umständen) weniger gut gestellt als bei einem Transfer ohne Auflage. Wenn aber der Geber gar nicht bereit ist, einen ungebundenen Transfer

B. Umverteilung durch Mehrheitsbeschluss die Amerikaner nicht mehr als 1 % ihres Einkommens für freiwillige (Paretooptimale) Umverteilung auszugeben bereit sind. Viele Menschen spenden für die Armen in ihrer Umgebung, z. B. ihrer Stadt oder ihres Landes. Auch dies ist eine Form der Pareto-optimalen Umverteilung (M. V. Pauly, 1974). Empirisch lässt sich feststellen, dass Spenden für die nähere Umgebung häufiger und größer sind als Spenden für Menschen in weiterer Entfernung. Spenden ist entfernungsabhängig. Auf größere Distanz nimmt die Spendenbereitschaft rapide ab. Deswegen ist es für arme Menschen besonders nachteilig, fern von wohlhabenden Menschen zu wohnen. Entfernt lebende Arme haben kaum Chancen, karitative Leistungen von den Wohlhabenden zu erhalten. Ein Beispiel: Deutschland hatte im Jahr 2007 ein Pro-Kopfeinkommen von 39 979  Euro, Burundi ein solches von 119  Euro. Unabhängig von dem großen Unterschied, suspendierte das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Jahr 2015 die Entwicklungshilfe für dieses Land. G. Brennan (1973) argumentiert, Umverteilung könne auch unter dem Aspekt der Sicherung vor sozialen Unruhen und vor Kriminalisierung sozialer Randgruppen betrachtet werden. Wenn eine Gruppe von Menschen eine Verfassung beschlossen hat, so seien deren Individuen in erster Linie an Ruhe und Ordnung, d. h. an der Beendigung der Anarchie interessiert. Hierfür schaffen sie den Rechtsstaat. Doch dieser ist vielleicht nicht in der Lage, die verfassungsmäßige Ordnung auf Biegen und Brechen durchzusetzen. Bloße Repressionen gegen jene, die gegen die Verfassung (der sie ursprünglich zugestimmt haben mögen) verstoßen, wird unter Umständen nicht genügen oder auch allein nicht als angemessen angesehen. Für solche Eventualitäten können schon auf der Verfassungsebene steuerfinanzierte Transferzahlungen vorgesehen werden, bzw. es können Institutionen eingerichtet werden, die solche Transfers vornehmen und damit die Gefahr von Unruhen und Kriminalität eindämmen. Die Spieler können auch Spielregeln vorsehen, die Umverteilung beinhalten. Ein Spieler wählt beispielsweise zwischen Spielen mit und Spielen ohne Einkommensteuer. Die Einkommensteuer belastet die Reichen und begünstigt die Armen. Sie kann daher als Versicherung gegen ungleiche Spielausgänge angesehen werden. Die Regel gilt als vorvereinbarte Regel (choice among rules), selbst wenn sie im Nachhinein von einigen Spielern abgelehnt und gegen deren Willen durchgesetzt wird.

B. Umverteilung durch Mehrheitsbeschluss Die Wirklichkeit folgt nicht immer diesen Regeln. Wenn die Spielregeln einmal festgelegt sind, muss ein nachträglicher, ad hoc definierter Eingriff in diese Regeln als ungerecht bezeichnet werden. Denn ohne Regeln gibt es nur Anarchie zu leisten, stellt sich der Empfänger so immer noch besser. Mit anderen Worten, es kommt auf die Nutzen von Geber und Empfänger an, und diese werden beide nur dann steigen, wenn es sich um ein freiwilliges Arrangement handelt. Freiwilligkeit ist aber möglicherweise nur bei einer Auflage erreichbar.

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5. Kapitel: Gerechtigkeit und daher keine Gerechtigkeit. Trotzdem gibt es in allen heute bekannten Gesellschaften Umverteilungen ex post nach Festlegung Spielregeln. Die Auszahlungen des Spiels werden, nachdem die Ergebnisse bekannt sind, noch einmal ad hoc, ohne Rücksicht auf die Spielregeln durch einfache Mehrheiten (auch gegen die ursprünglich vereinbarten Spielregeln) geändert. Die Mehrheitsregel ist wie eine Versicherung, der man beitreten kann, nachdem der Schadensfall eingetreten ist. Eine solche Versicherung ist nicht nur ungerecht. Sie hat vor allem keinen Bestand. Eine nachträgliche Umverteilungsmehrheit ad hoc kommt immer zustande, wenn der Medianwähler Ŷ ein geringeres Einkommen erzielt als der Wähler Ῡ im Durchschnitt der Einkommenspyramide. Alle Einkommensverteilungen der realen Welt sind durch Ῡ > Ŷ Abbildung (5.1 (a)) gekennzeichnet, geben also Anlass zu Mehrheits-Umverteilungskoalitionen. Ein Umverteilungspotential zeigt auch die in Abbildung 5.1 (b) dargestellte „Lorenzkurve“. Je größer die blau getönte Fläche ist, desto ungleicher ist die Einkommensverteilung und umso eher werden Umverteilungskoalitionen zustande kommen.

Ŷ

Ȳ

Häufigkeit der Wähler

Einkommen von 0 bis 100%

Einkommen der Wähler (a)

Personen 0 bis 100% (b)

Abbildung 5.1: (a) Umverteilungsbegünstigende Einkommensverteilung Ŷ < Ῡ und (b) Umverteilungsbegünstigende Lorenzkurve

An Umverteilungen durch Mehrheitsbeschluss werden in allen modernen Demokratien große Erwartungen gestellt. Sie stellen für viele den Inbegriff der sozialen Marktwirtschaft dar. Für die soziale Marktwirtschaft steht der Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes. Dort heißt es: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Die Bundesregierung hat den Auftrag, alles zu tun, was dem Sozialstaatsgebot dienlich ist. Konkrete Maßnahmen werden im Grundgesetz nicht genannt. Das soll der Gesetzgeber mit Mehrheit beschließen. Das jedoch ist ein Widerspruch in sich selbst, was sich an folgendem Beispiel ersehen lässt. Im einfachsten Fall stehe die Frage zur Diskussion, wie das BIP von 100  GE (Geldeinheiten) auf die drei bestehenden gleich großen Gruppen A, B und C aufzuteilen ist. Um zu einer Entscheidung zu gelangen, wird, wie in Tabelle 5.1 dargestellt, zunächst ein (beliebiger) Vorschlag 1 unterbreitet. Dieser sieht z. B.

C. Flüchtlinge eine Gleichverteilung unter den drei Gruppen A, B und C vor. Jede Gruppe erhält also ein Drittel des BIP.3 Gilt die einfache Mehrheitsregel, so zeigt sich, dass Vorschlag 1 nicht aufrechterhalten werden kann. Noch ehe er zur Abstimmung kommt, wird sich eine Koalition von zwei Gruppen, z. B. A und B, bilden, die sich den Löwenanteil von angenommen je 50 GE zuschanzen und der Minderheit 0 GE belassen möchte. Diese neue Aufteilung ist in Tabelle 5.1 als Vorschlag 2 dargestellt. Die fett gedruckten Zahlen zeigen an, welche Gruppen der Mehrheitskoalition angehören. Mit dem Vorschlag 2 wird Gruppe C allerdings nicht einverstanden sein. Sie wird z. B. an Gruppe B herantreten und ihr einen noch größeren Anteil als in Vorschlag 2 anbieten und sich selbst dabei auf Kosten von A ebenfalls besser stellen. Vorschlag 3 lautet dann z. B. 60 GE für B, 39 GE für C und 1 GE für A. In der 4. Runde wird Gruppe A an Gruppe C herantreten und vorschlagen, sich selbst und der Gruppe C z. B. je 45  GE zuzuteilen, der Gruppe B jedoch nur 10 GE zu belassen. Dieser Vorschlag kann wiederum von Gruppe B mit Vorschlag 5 umgestoßen werden usw. Tabelle 5.1: Umverteilung im Rahmen von Mehrheitskoalitionen Gruppen

Geldeinheiten 1

A B C

33,3 33,3 33,3

50,0 50,0 0

1,0 60,0 39,0

45,0 10,0 45,0

75,0 25,0 0

99,9

100,0

100,0

100,0

100,0

2

3

4

5

Fazit: Wenn Gerechtigkeit von Regeln eine praktische Bedeutung haben soll,

dann müssen diese Regeln schon vorher in der Verfassung näher konkretisiert werden. Es genügt nicht, in der Verfassung Gerechtigkeit zu postulieren, ihren Inhalt aber dem Gesetzgeber zu überlassen. Das führt unausweichlich zu widersprüchlichen Entscheidungen. Der Gesetzgeber kann nicht mehrheitlich entscheiden, was gerecht ist. Er verstrickt sich unwillkürlich in Widersprüche.

C. Flüchtlinge Flüchtlinge, die aus Asien und Afrika nach Deutschland kommen, haben ihre Wahl getroffen, an welchem „Spiel“ sie teilnehmen. Sie habe ihren Unrechtsstaat hinter sich gelassen und sich für Deutschland entschieden. Was Deutschland ihnen bieten kann, ist in erster Linie die Teilhabe am Rechtsstaat, nicht jedoch die Befriedigung von Ansprüchen auf materielle, private Güter. Denn bei einem Preis von null ist die Nachfrage unendlich. Das kann der Staat nur bei öffentlichen Gütern, die keine Kapazitätsgrenze haben, leisten. Bei priva3

Dies bedeutet: Würde dieser Vorschlag angenommen, so müsste das Primäreinkommen dergestalt umverteilt werden, dass das Sekundäreinkommen jeder Gruppe nach erfolgter Umverteilung je 33,3 GE beträgt.

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5. Kapitel: Gerechtigkeit ten Gütern ist das unmöglich. Deswegen kann Deutschland den Flüchtlingen Teilhaberechte an öffentlichen Gütern wie dem Rechtsstaat anbieten, nicht aber Anspruchsrechte auf private Güter gewähren. In den Vereinigten Staaten erhalten Flüchtlinge – meist illegale Einwanderer aus Mexiko – bei ihrer Einwanderung bislang nur eine Sozialversicherungsnummer, aufgrund derer sie sich eine Existenz aufbauen können. Dieses Zertifikat ist ein unbeschränkt vermehrbares öffentliches Gut. Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten lehren, dass die Gewährung solcher „Teilhaberrechte“ meist positiv verläuft. Flüchtlinge beginnen zwar auf einem tieferen Ausgangsniveau als legale Einwanderer. Sie haben geringere Sprachkenntnisse sowie niedrigere Erwerbsquoten und niedrigere Löhne als legal eingewanderte Ausländer. Doch sie haben teil am Rechtsstaat. Dieser eröffnet ihnen Chancen und erlaubt ihnen allmählich gegenüber den anderen Einwanderern aufzuholen: Bei solchen Flüchtlingen sind die Erwerbsquoten, Löhne und Sprachkenntnisse am Anfang niedrig, steigen aber dann rascher an als bei anderen Einwanderern vergleichbarer Herkunft. Damit sind in der langen Frist Flüchtlinge ökonomisch sogar besser integriert als legale Einwanderer.

D. Die Kuznetskurve Dem amerikanischen Statistiker Simon Kuznets zufolge hat sich die Einkommensungleichheit im Zuge der Industrialisierung in den USA zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert in der Form eines umgekehrten U entwickelt. Mit der Abwanderung der Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft in die besser bezahlte Fabrikarbeit nahm die Einkommensungleichheit erst zu (links in Abbildung 5.2). Doch dadurch wurden die Arbeitskräfte in der Landwirtschaft knapp, die landwirtschaftlichen Löhne stiegen und leiteten eine umgekehrte Entwicklung ein (rechts in Abbildung 5.2). Die Einkommensungleichheit nahm mit steigendem Durchschnittseinkommen wieder ab. Der Franzose Th. Piketty machte aus Kuznets’ Theorie eine Theorie der Verteilung zwischen Löhnen, Gewinnen und Volkseinkommen. Seit dem Ersten Weltkrieg sei die Vorsteuer-Profitquote zuerst zurückgegangen. Seit den 1970er-

Einkommensungleichheit

Pro-Kopf-Einkommen Abbildung 5.2: Die Kuznets-Kurve

E. Zusammenfassung des 5. Kapitels Jahren habe sie wieder zugenommen. Daraus leitet Piketty die umstrittene Ungleichung von r > g ab, wobei r die Kapitalrendite bezeichnet und g für das Wirtschaftswachstum steht. Diese Ungleichung kann jedoch angesichts der seit mehreren Jahren anhaltenden Niedrigzinsen mit g > r (17. Kapitel) nicht recht überzeugen.

E. Zusammenfassung des 5. Kapitels In der Anarchie gibt es keine Regeln und daher auch keine Gerechtigkeit. Erst Regeln etablieren Gerechtigkeit. Regeln schaffen die Erwartung, dass sie auch angewandt werden. Der Bruch von Regeln zerstört diese Erwartungen und ist in diesem Sinn ungerecht. Das Sozialstaatsprinzip besagt, die Bundesrepublik Deutschland soll ein sozialer Bundesstaat sein. Doch was dieses Postulat beinhaltet, kann nicht aus der Demokratie abgeleitet werden. Demokratische Beschlüsse über Umverteilungen sind zirkulär. Es muss erst festgelegt werden, was Gerechtigkeit bedeuten soll. Erst daraus lässt sich feststellen, ob eine Ordnung gerecht ist.

Wichtige Begriffe des 5. Kapitels Wahl zwischen Regeln, Wahl innerhalb von Regeln Konstitutionelle Umverteilung Pareto-optimale Umverteilung Versicherungsmotiv Selbstschutzmotiv Sozialstaatsprinzip Reine Mehrheitsdemokratie Umverteilungskoalitionen Besteuerung der Superreichen

Literatur zum 5. Kapitel G. Brennan, Pareto Desirable Redistribution: The Non-Altruistic Dimension, in: Public Choice, Vol. 14, Spring 1973, S. 43–67. G. Brennan und J. M. Buchanan, The Reason of Rules, Constitutional Political Economy, Cambridge u. a. (Cambridge Univ. Press) 1985, deutsch: Die Begründung von Regeln. Konstitutionelle Politische Ökonomie, Tübingen (Mohr) 1993. J. M. Buchanan und G. Tullock, The Calculus of Consent, Logical Foundations of Constitutional Democracy, Ann Arbor (Univ. of Michigan Press) 1962. H. M. Hochman und J. D. Rodgers, Pareto Optimal Redistribution, in: American Economic Review, Vol. 59, No. 3, 1969, S. 542–557. Th. R. Ireland und D. B. Johnson, The Economics of Charity, Blacksburg Va. (Virginia Polytechnic Institute) 1970. K. Marx, Kritik des Gothaer Programms (1890–91), in: K. Marx, Fr. Engels, Werke, Berlin (Dietz Verlag) 1969, Bd. 19. A. M. Okun, Equality and Efficiency, The Big Tradeoff, Washington, D. C. (Brookings) 1975.

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5. Kapitel: Gerechtigkeit M.  V. Pauly, Income Redistribution as a Local Public Good, in: Journal of Public Economics, Vol. 2, 1973, S. 35–58. Th. Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München (Beck) 2014. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, München (Beck) 1. Aufl. 1977, 2. Aufl. 1984. D. Witman, Why Democracies Produce Efficient Results, in: Journal of Political Economy, Vol. 97, no. 6, 1989, S. 1395–1424.

Doctrinal history shows that theoretical insight often comes from considering strong or extreme cases. P. A. Samuelson (1955)

6. Kapitel Was kosten öffentliche Güter? A. Der Wert öffentlicher Güter Finanzwissenschaftler des 19. Jahrhunderts stritten sich über den Wert der öffentlichen Güter. Die älteren scharten sich um den angesehenen Engländer J. St. Mill. Sie glaubten, der Wert öffentlicher Güter sei durch deren Kosten bestimmt. Die jüngeren unter ihnen, wie W. St. Jevons, lehnten das ab. Sie bestritten, dass die Kosten von Kanonen und von Universitäten etwas über den Wert von Kanonen und Universitäten aussagten. Werte von öffentlichen Gütern entstammten der subjektiven Einschätzung durch die Individuen. Das war zunächst eine kühne Behauptung. Denn die jungen Finanzwissenschaftler von damals wussten noch nicht, wie sie den subjektiven Wert der öffentlichen Güter bestimmen sollten. Nur über eines waren sie sich im Klaren: Wir konsumieren die öffentlichen Güter gemeinsam und finanzieren sie daher anteilig. Von einem öffentlichen Museum (dessen Wert noch unbekannt ist) erhält jeder Mensch das ganze Gut, aber er muss nur einen Teil als Kostenbeitrag bezahlen. An diesem Punkt kann also in diesem Kapitel erst einmal angesetzt werden.

B. Opportunitätskosten bei gegebener Wertschätzung für öffentliche Güter 1. Partialanalytischer Ansatz Am Anfang soll der Unterschied zwischen privaten und öffentlichen Gütern stehen, wie ihn H. R. Bowen (1943) und R. A. Musgrave (1959, 1989) herausgearbeitet haben. Wir beginnen mit den privaten Gütern in Abbildung 6.1 links.

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6. Kapitel: Was kosten öffentliche Güter?

Abbildung 6.1: Das optimale Angebot privater und öffentlicher Güter partialanalytisch betrachtet

Diese Abbildung zeigt Angebot und Nachfrage für ein privates Gut Xpr. GKpr stellt die Grenzkosten- bzw. Angebotskurve dar.1 NA und NB sind die Nachfragekurven zweier Individuen A und B für das private Gut Xpr bei gegebenen Preisen aller anderen Güter. Die Gesamt nachfrage N(A+B) ergibt sich durch horizontale Addition von NA und NB, denn jede Einheit von Xpr, welche von A oder B nachgefragt wird, muss für jedes der beiden Individuen separat produziert und angeboten werden. Unter diesen Bedingungen liegt das Marktgleichgewicht im Schnittpunkt von Angebots- und Gesamtnachfragekurve bei E. Der Marktpreis beträgt dort ppr und die angebotene und nachgefragte Menge Xpr,3. Individuum A konsumiert die Menge Xpr,1 und Individuum B die Menge Xpr,2, wobei Xpr,1 + Xpr,2 = Xpr,3. Jedes Individuum bezahlt den gleichen Preis (pApr = pBpr). Bei öffentlichen Gütern gibt es keinen Markt und daher keine Marktnachfragekurven. Die Individuen haben stattdessen Kurven der marginalen Zahlungsbereitschaft, sogenannte Pseudonachfragekurven für ein öffentliches Gut. In dem Koordinatensystem rechts in Abbildung 6.1 werden diese Kurven als bekannt vorausgesetzt und für zwei Individuen durch MZBA und MZBB dargestellt. MZBA und MZBB zeigen, wie viel ein Individuum für alternative Mengen von Xö zu bezahlen bereit ist, wenn es seine Präferenzen unverzerrt offenbart. Wegen der Nichtrivalität und der Nichtanwendung des Ausschlussprinzips steht die für Individuum A bereitgestellte Menge des öffentlichen Gutes auch dem Individuum B zur Verfügung. Die beiden können sich infolgedessen zusammentun und brauchen das öffentliche Gut nur einmal bereitzustellen. Dies bedeutet, dass ihre marginalen Zahlungsbereitschaften zusammengezählt werden müssen, um zur gesamten Wertschätzung des öffentlichen Gutes durch beide Individuen zu kommen. Dies ist in Abbildung 6.1 auf der rechten Seite geschehen. 1

Die Angebotskurve ergibt sich aus der horizontalen Addition der Grenzkostenkurven der einzelnen Anbieter.

B. Opportunitätskosten bei gegebener Wertschätzung Dort werden die MZBA- und die MZBB-Kurve (anders als im Fall der privaten Güter) vertikal addiert. Daraus entsteht die Kurve der gesamten marginalen Zahlungsbereitschaft MZB(A+B), die jetzt der Angebots- oder Grenzkostenkurve GKö gegenüberzustellen ist. Das Optimum ergibt sich aus dem Schnittpunkt der beiden Kurven bei E und der Menge Xö. Bei öffentlichen Gütern hat ferner der vom Individuum entrichtete Preis eine andere Funktion als bei privaten Gütern. Bei privaten Gütern ist der Preis Ausdruck für die in Anspruch genommenen Ressourcen. Im Wettbewerbsfall entspricht er den Grenzkosten und ist für alle Individuen gleich. Bei den ersteren stellt er demgegenüber nur einen Kostenbeitrag dar. Dieser kann für alle Individuen gleich oder ungleich sein – für die Allokation ist nur von Bedeutung, dass die Summe der Preise (Kostenbeiträge) gerade gleich den Grenzkosten ist, d. h. dass die Nutzer insgesamt die Grenzkosten decken (Budgetausgleich) und damit die Ressourcen effizient einsetzen. Die interne Aufteilung dieser Beiträge stellt ein reines Verteilungsproblem dar.2 In Abbildung 6.1 ist der spezielle Fall gezeichnet, bei dem jedes der beiden Individuen den seiner marginalen Zahlungsbereitschaft entsprechenden Preis pAö bzw. pBö bezahlt. Diese Aufteilung hat – wie wir später sehen werden – eine wichtige Bedeutung. Denn sie ist mit Freiwilligkeit vereinbar und genügt somit dem Einstimmigkeitskriterium. Keiner muss mehr für das Gut bezahlen, als ihm dieses Wert ist (vgl. 10. Kapitel). Vorerst interessiert aber hier nur die Summe aus pAö und pBö. Für unser Zweipersonenmodell lässt sich also noch einmal Folgendes festhalten. Optimalität des Angebots privater Güter erfordert: (6.1)

ppr = pApr = pBpr = GKpr.

Der in Gleichung (6.1) zum Ausdruck kommenden Preisgleichheit entsprechen individuell unterschiedliche in Anspruch genommene Mengen des Gutes Xpr. Demgegenüber gilt für öffentliche Güter: (6.2)

pAö + pBö = MZBA + MZBB = GKö,

d. h. die Summe der Preise, die A und B bezahlen, muss den Grenzkosten GKö entsprechen. Weil die einzelnen Preise pAö und pBö im Allgemeinen differieren werden, lässt sich auch sagen, dass hier gerade umgekehrt als bei privaten Gütern die Mengen gleich, aber die Preise verschieden sind. Damit ist auch die eingangs gestellte Frage „Wie viel öffentliche Güter will eine Gesellschaft?“ einer Antwort näher gebracht. Das Angebot soll nämlich so weit ausgedehnt werden, bis die Summe der marginalen Wertschätzungen der Individuen den Grenzkosten entspricht.

2. Allgemeiner Gleichgewichtsansatz Das optimale Angebot öffentlicher Güter lässt sich auch gleichzeitig mit dem optimalen Angebot privater Güter bestimmen. Die Darstellung dieses Problems 2

Die Beiträge selbst sind als Pauschalsteuer zu verstehen, d. h. von ihrer Erhebung gehen keine Anreizwirkungen aus, vgl. 11. Kapitel.

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6. Kapitel: Was kosten öffentliche Güter? geht auf P. A. Samuelson (1955) zurück. Ausgangspunkt der Überlegung bildet die im obersten Teil von Abbildung 6.2. dargestellte volkswirtschaftliche Produktionsmöglichkeitenkurve CD für ein öffentliches Gut Xö und ein privates Gut Xpr. Der mittlere Teil dieser Abbildung zeigt die von Individuum A konsumierten Mengen der beiden Güter, der unterste Teil entsprechend die vom Individuum B konsumierten Mengen. Weil keine Rivalität herrscht, können beide Individuen die gleiche Menge von Xö gleichzeitig konsumieren. Xpr hingegen muss für beide separat hergestellt werden. Ferner ist es erforderlich, dass der gesamte Konsum innerhalb oder auf der Produktionsmöglichkeitskurve CD liegt. Wenn sich Individuum A im Punkt G befindet, also Xö,2 Einheiten des öffentlichen Gutes und XApr,2 Einheiten des privaten Gutes konsumiert, so stehen dem Individuum B ebenfalls Xö,2 vom öffentlichen Gut zur Verfügung. Vom privaten Gut bleiben ihm XBpr,3 = Xpr,2 – XApr,2. D. h. Individuum B konsumiert den Rest der durch die Produktionsmöglichkeitskurve CD und den Konsum von A XApr,2 noch verbleibenden Menge an Xpr. Ausgehend von G können wir auf der Indifferenzkurve IA2 nach links oder rechts wandern, d. h. den Wohlstand von A bei veränderter Güterkombination unverändert lassen. Dabei verändert sich aber der Wohlstand von Individuum B. Es konsumiert zwar immer die gleiche Menge vom öffentlichen Gut wie A, erhält aber unterschiedliche Mengen vom privaten Gut – je nachdem, wie viel für dieses noch übrig bleibt, wenn das Wohlfahrtsniveau von A konstant gehalten wird. Bei XApr,3 und Xö,1 für A ergibt sich beispielsweise XBpr,2 und Xö,1 für B, bei XApr,1 und Xö,3 für A entsprechend XBpr,1 und Xö,3 für B. Aus der Gesamtheit dieser Mengenkombination lässt sich die „Restkurve“ KLU für B herleiten. Weil alle Punkte auf der KLU-Kurve den gleichen Wohlstand für A beinhalten, wird die Wohlfahrt für beide Individuen dort maximiert, wo sich B am besten stellt, d. h. wo es die höchst mögliche seiner Indifferenzkurven erreicht. Dies ist beim Punkt L der Fall. An diesem Punkt kann die Lage von B nicht mehr verbessert werden, ohne dass sich der Wohlstand von A verschlechtert. Diese Kombination von öffentlichen und privaten Gütern ist also pareto-optimal. Gesamtgesellschaftlich gesehen ist die Wohlfahrt bei einer Produktion von Xö,2 Einheiten des öffentlichen und Xpr,2 Einheiten des privaten Gutes bei gegebenem Nutzenniveau von Individuum A maximiert, wobei die privaten Güter im Verhältnis von XApr,2 und XBpr,3 auf die beiden Individuen aufgeteilt werden. Die Gesellschaft verzichtet im Umfang C-Xpr,2 auf private Güter, um öffentliche Güter im Umfang Xö,2 konsumieren zu können. Die für die Ressourcenumlenkung an den Staat erforderlichen Steuern sollen so erhoben werden, dass sich die Dispositionen der Individuen nicht verändern.3 Das hier gefundene Ergebnis lässt sich wie beim partialanalytischen Fall in Gleichungsform umsetzen. Die Steigungen der Indifferenzkurven und der Transformationskurve in Abbildung 6.2 stellen die Grenzraten der Substitution GRS(Xpr,Xö), bzw. die Grenzrate der Transformation GRT(Xpr,Xö) zwischen dem öffentlichen und privaten Gut dar. Das Optimum bei Xö,2 ist gekennzeichnet durch die Beziehung (6.3) 3

GRSA(Xpr,Xö) + GRSB(Xpr,Xö) = GRT(Xpr,Xö).

Es handele sich also um sogenannte Pauschalsteuern, vgl. 11. Kapitel, Unterabschnitte B.3 und F.2.

B. Opportunitätskosten bei gegebener Wertschätzung Das Optimum, die sogenannte Samuelson-Bedingung, erfordert also (analog zum partialanalytischen Fall), dass die Summe der Grenzraten der Substitution der Grenzrate der Transformation entspricht.

Abbildung 6.2: Das optimale Angebot öffentlicher und privater Güter

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6. Kapitel: Was kosten öffentliche Güter? Zum Vergleich lässt sich jetzt fragen, wie in Analogie zu Gleichung (6.1) die Optimalbedingung für private Güter im allgemeinen Gleichgewicht lautet. Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen,4 kann vereinfachend von der Überlegung ausgegangen werden, dass die Individuen private Güter und Faktoren so lange gegeneinander tauschen, bis die Grenzrate der Substitution gleich der Grenzrate der Transformation ist. Somit muss gelten: (6.4)

GRSA(Xpr1,Xpr2) = GRSB(Xpr1,Xpr2) = GRT(Xpr1,Xpr2).

Im Fall eines öffentlichen Gutes kann das in Abbildung 6.2 dargestellte Verfahren jetzt für weitere Nutzenniveaus von Individuum A, z. B. IA1 oder IA3 wiederholt werden. Es ergeben sich dann neue Restkurven entsprechend KLU und neue Pareto-Optima entsprechend L. Auch sie stellen bestmögliche Konsumkombinationen dar. Sie unterscheiden sich aber hinsichtlich der Ausgangsverteilung von A und B.

C. Gegebene Opportunitätskosten, unterschiedliche Präferenzen Der nächste Schritt besteht darin, die verschiedenen Pareto-Optima durch grafische Darstellung zusammenzubringen. Dies ist in Abbildung 6.3 geschehen. Auf den Achsen des dort gezeichneten Koordinatensystems sind die Nutzen von Individuum A und B in ordinalen Indizes UA und UB abgetragen. Unter den verschiedenen oben erörterten Pareto-Optima gibt es solche, bei denen das anfängliche Nutzenniveau für A höher ist, und solche, bei denen das für B höher liegt. Jede Ausgangsverteilung impliziert also (nach Erreichen der jeweils bestmöglichen Güterallokation) ein anderes Nutzenniveau für A und B.5 Werden alle diese Pareto-Optima in das Koordinatensystem eingetragen und miteinander verbunden, so entsteht die Nutzengrenze XYZW.6 Wie man durch Public Choice in Richtung Pareto-Optimum gelangt

Auf jedem Punkt von XYZW ist die Bedingung 6.3 mit GRSA + GRSB = GRT für gegebene Präferenzen erfüllt. Weniger ambitiös lässt sich eine Nutzengrenze TEV konstruieren, die lediglich der Bedingung 6.4 (unter Ausschluss öffentlicher Güter) genügt. Sie liegt weiter innen als XYZW, weil sie noch nicht die Wohlfahrtssteigerungen aus gemeinsam bereitgestellten öffentlichen Gütern enthält. Bis zur Nutzengrenze TEV reicht der Marktmechanismus aus, weil es noch keine öffentlichen Güter gibt. Um aber von TEV zu XYZW zu gelangen, reicht der Marktmechanismus nicht mehr. Ein kollektives Entscheidungssystem ist unumgänglich.

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Eine ausführliche Behandlung dieser Probleme findet der Leser in den einschlägigen Lehrbüchern der Mikroökonomie, wie z. B. H. Herberg (1985) und J. Hirshleifer (1980). Man kann auch sagen: ein anderes Indifferenzkurvenniveau für A und B in Abbildung 6.2. Für diese Darstellung und die folgende Argumentation vgl. D. C. Mueller (2003, S. 79 f.).

C. Gegebene Opportunitätskosten, unterschiedliche Präferenzen

Abbildung 6.3: Nutzengrenzen und Entscheidungsregeln

Folgende Entscheidungssysteme lassen sich denken: a) Die Einstimmigkeitsregel führt zu Verbesserungen vom Ausgangspunk E in Richtung YZ. Nur Wohlfahrtspositionen „nordöstlich“ von E sind mit Einstimmigkeit vereinbar. Inwieweit die Gesellschaft tatsächlich in diese Richtung vorzudringen vermag, ist jedoch offen. Denn bei den Verhandlungen über solche Vorschläge kann strategisches Verhalten der Beteiligten das tatsächliche Erreichen der Nutzengrenze verzögern oder letztlich sogar verunmöglichen. Dies gilt besonders dann, wenn die Zahl der Beteiligten wächst. Aber immerhin ist ein Konsens jedenfalls im Prinzip möglich. b) Anders stellt sich die kollektive Entscheidung bei Geltung einer Mehrheitsregel dar. Hierzu sei zweckmäßigerweise unterstellt, dass A und B zwei Gruppen von unter sich gleichen Individuen repräsentieren. Wenn die A-Gruppe die Mehrheit besitzt, wird sie Vorschläge durchsetzen, welche die Gesellschaft von E aus in Richtung X bringen.7 Wenn umgekehrt die B-Gruppe in der Mehrheit ist, so wird sie Beschlüsse durchsetzen, die in Richtung W führen. Inwiefern X bzw. W tatsächlich erreicht werden, hängt u. a. von der Ausgestaltung des Minderheitenschutzes in der Verfassung ab. Denn Nutzenkombinationen in der Nähe von X und W dürften eine beträchtliche vorherige Umverteilung der Rechte erfordern, also den Grundkonsens berühren, auf dem die Verfassung der Gesellschaft beruht. Es lässt sich nur sagen, dass eine nutzenmaximierende Mehrheit nicht an Beschlüssen interessiert ist, die im Bereich EYZ liegen, wenn diese durch eine Neuformulierung von E aus in Richtung X bzw. W gebracht werden könnten (J. R. Davis, 1970). Denn Maßnahmen, die die Lage 7

Koalitionen zwischen Teilmengen von A und B sind bei homogenen Präferenzen der Mehrheit ausgeschlossen (vgl. G. Kramer, 1973).

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6. Kapitel: Was kosten öffentliche Güter? aller beteiligten Individuen verbessern, lassen sich in einer Mehrheitsdemokratie stets so umformulieren, dass sie die Mehrheit auf Kosten der Minderheit zusätzlich besser stellen. Public Choice zeigt also, wie Gruppen von Individuen je nach der kollektiven Entscheidungsregel ihre Situation mehr oder weniger zu ihren Gunsten verbessern können.

D. Zusammenfassung des 6. Kapitels Öffentliche Güter werden gemeinsam konsumiert Daher hat jeder Konsument ein Interesse, seine Präferenzen zu verschleiern. Er kann das öffentliche Gut auch konsumieren, wenn er keinen Kostenbeitrag geleistet hat. Daher kommt P.  A. Samuelson zum Schluss, dass öffentliche Güter nicht über den Markt, sondern nur über ein kollektives Entscheidungssystem bereitgestellt werden können (P. A. Samuelson, 1954).

Wichtige Begriffe des 6. Kapitels Horizontale, vertikale Addition von Nachfragekurven Pareto-Optimum bei öffentlichen Gütern Samuelson-Bedingung Nutzengrenze Annäherung an die Nutzengrenze über kollektive Entscheidungen

Literatur zum 6. Kapitel H. R. Bowen, The Interpretation of Voting in the Allocation of Economic Resources, in: Quarterly Journal of Economics, Vol. 58, 1943, S. 27–48. J. R. Davis, On the Incidence of Income Redistribution, in: Public Choice, Vol. 8, Spring 1970, S. 63–74. H. Herberg, Preistheorie: eine Einführung, Stuttgart u. a. (Kohlhammer) 1985. J. Hirshleifer, Price Theory and Applications, London u. a. (Prentice Hall) 2. Aufl. 1980. G. H. Kramer, On a Class of Equilibrium Conditions for Majority Rule, in: Econometrica, Vol. 41, March 1973, S. 285–297. K. Mackscheidt, Zur Theorie des optimalen Budgets, Tübingen u. Zürich (Mohr u. Schulthess) 1973. D. C. Mueller, Public Choice III, Cambridge u. a. (Cambridge Univ. Press) 2003, insbes. Kapitel 5. R. A. Musgrave, The Theory of Public Finance, New York u. a. (McGraw Hill) 1959, deutsch: Finanztheorie, Tübingen (Mohr) 1966. R. A. Musgrave und P. B. Musgrave, Public Finance in Theory and Practice, New York u. a. (McGraw Hill) 4. Aufl. 1984 und 5. Aufl. 1989. P. A. Samuelson, Diagrammatic Exposition of a Theory of Public Expenditure, in: Review of Economics and Statistics, Vol. 37, November 1955, S. 350–356.

Der unerhörte Vorteil der grundsätzlichen Anerkennung der Demokratie ist, dass mir eigentlich eine überstarke Demokratie lieber ist als gar keine. Die Demokratie ist das einzig anerkannte Mittel, durch das wir eine verhasste Regierung wieder loswerden können. Das heißt aber nicht, wie vielfach angenommen wird, dass – weil Demokratie gut ist – mehr Demokratie notwendig besser ist. Mehr Demokratie bedeutet auch fast immer mehr Staat, mehr Zwang. Mehr Dinge, in denen alles einheitlich geregelt ist, mehr Unterwerfung unter jene Ziele, die die Mehrheit bestimmt und die ihr wünschenswert erscheinen. Das zentrale Problem ist nicht, ob die Mehrheit die Macht haben soll – und zwar die einzige Macht –, sondern wie viel Macht sie haben soll. F. A. v. Hayek (1989)

7. Kapitel Wie kommen staatliche Budgetentscheidungen zustande? A. Viele Entscheidungsträger – ein Budget Im 6. Kapitel haben die Leserinnen und Leser die Eigenschaften öffentliche Güter, insbesondere die gemeinsame Nutzung und die gemeinsame Finanzierung der öffentlichen Güter kennengelernt. Der eigentliche Knackpunkt liegt aber in den Präferenzen für öffentliche Güter. Ob sich eine Gesellschaft viel oder wenig öffentliche Güter leisten will oder kann, hängt von ihren Präferenzen ab. Öffentliche Güter können (wie P. A. Samuelson (1954) gezeigt hat, s. 6. Kapitel) nur gemeinsam beschlossen und konsumiert werden. Deswegen müssen sich die Individuen auf einziges gemeinsames Budget einigen. Sind nur wenige Individuen betroffen, so können sie sich in Verhandlungen einigen (Abschnitt B). Sind es mehr, so können sie demokratisch abstimmen (Abschnitt C). Sollen sich die Menschen ganzer Länder oder Nationen auf ein Budget einigen, so bieten sich Wahlen an (Abschnitt D und E).

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7. Kapitel: Wie kommen staatliche Budgetentscheidungen zustande?

B. Verhandlungen, wenn nur wenige Individuen betroffen sind1 In Abbildung 7.1 werden zwei Nachbarn betrachtet, die beide das Problem der Müllabfuhr zu lösen haben. Ihre marginalen Zahlungsbereitschaften (Präferenzen) sind durch MZBA und MZBB dargestellt. Es wird angenommen, Müllabfuhr könne als öffentliches Gut aufgefasst werden, weil (angenommen) keine zusätzlichen Kosten entstehen, wenn das von einem Haushalt beauftragte Müllabfuhrunternehmen auch noch die Müllsäcke des anderen Haushalts mitnimmt, d. h. wenn kein Ausschluss praktiziert wird. Wären die individuellen Präferenzen bekannt, so würde die Bestimmung des optimalen Angebots keinerlei Schwierigkeiten bereiten. Es wäre lediglich die Summe der marginalen Zahlungsbereitschaften MZB(A+B) zu bilden und diese den Grenzkosten GK gegenüberzustellen, woraus sich bei X3 die optimale Menge bzw. die optimale Häufigkeit der Müllabfuhr pro Monat ergibt. Die Frage ist aber, ob diese Lösung auch entsteht, wenn sich die Individuen in einem Verhandlungsspiel befinden, in dem jedes die Präferenzen des anderen nicht kennt. Vier Unterfälle sind zu unterscheiden: 1. Zunächst einmal könnte man sich vorstellen, dass die Individuen A und B unabhängig voneinander handeln und beide ihren Bedarf an Müllabfuhr selbst decken. Individuum A stellt die Menge X1 und Individuum B die Menge X2 bereit. Ist diese Situation gegeben, so wird sich A sagen: Wenn B X2 bereitstellt, ist meine Bereitstellung von Müllabfuhr bis X1 ist eigentlich nicht erforderlich. A wird sein eigenes Angebot einstellen, da es von B’s Bereitstellung als Freifahrer partizipieren kann. Die Zweipersonengesellschaft konsumiert also Müllabfuhr in der Menge bzw. Häufigkeit X2. Die Bereitstellung würde an dieser Stelle verbleiben, gäbe es nicht Verhandlungsmöglichkeiten, über welche die Müllabfuhr zu beiderseitigem Vorteil ausgedehnt werden könnte. 2. Dabei kommt die oben angeführte Kooperationsbereitschaft in der kleinen Gruppe zum Tragen; denn in der kleinen Gruppe weiß jeder, dass sein Beitrag für das Gesamtergebnis, von dem er selbst profitiert, nicht unerheblich ist. Beide Individuen sind geneigt, einer häufigeren Müllabfuhr zuzustimmen und hierfür einen Teil der Zusatzkosten zu übernehmen; denn ihr Beitrag hat einen fühlbaren Einfluss auf das Gesamtergebnis.2 B wäre an einer häufigeren Bedienung interessiert, aber nur, wenn A auch etwas dazu beiträgt. B wird daher für die zusätzlich bereitzustellende Menge von X einen Preis (Kostenbeitrag) von A verlangen, der mit dem Abfallen seiner MZB-Kurve so ansteigt, dass die Finanzierungslücke zu den Grenzkosten gerade gedeckt wird. Die sich daraus ergebenden Angebotspreise lassen sich zu einer Angebotskurve des B gegenüber A verbinden. Diese verläuft von X2 1 2

Die Darstellung geht auf J. M. Buchanan (1968) ergänzt durch R. A. und P. B. Musgrave (1989, Kap. 4) zurück. Dies gilt freilich nur dann, wenn die Kurven der marginalen Zahlungsbereitschaft der beiden Individuen nicht allzu weit auseinander liegen.

B. Verhandlungen, wenn nur wenige Individuen betroffen sind

Abbildung 7.1: Die Bereitstellung öffentlicher Güter durch Verhandlungen in kleinen Gruppen

nach J. A wird bis zum Punkt K auf die Angebote des B eingehen, weil in K der von A zu bezahlende Preis dort genau seiner marginalen Zahlungsbereitschaft entspricht. Die entsprechende Menge X3 ist gleich der effizienten Bereitstellung (wie im Falle bekannter Präferenzen). So gesehen kann sich in Verhandlungen ein Pareto-optimales Ergebnis einstellen. Das ist ein wichtiges Ergebnis. In kleinen Gruppen wird damit möglich, was in großen Gruppen unerreichbar ist. Die Effizienz dieses Ergebnisses darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kostenverteilung auf A und B sehr einseitig ist. Im Extremfall wird A für die ganze Menge X3 des öffentlichen Gutes nur einen Kostenbeitrag entsprechend der Fläche des Dreiecks X2 KX3 bezahlen. Der Löwenanteil, nämlich OLMNX3, wird von B beglichen. Das Ergebnis ist effizient, aber es mag je nach Standpunkt als nicht „gerecht“ empfunden werden. 3. Auch B mag das Ergebnis bei X3 als ungerecht ansehen. Was kann B tun? Er wird sich möglicherweise stur stellen und behaupten, gar nichts bereitstellen zu wollen, weil er als Freifahrer von A’s Angebot profitieren möchte. Er realisiert dann einen Gewinn an Konsumentenrente im Umfang OQPX1, der höher ist, als wenn es für sich selbst X2 bereitstellen und nur LQM an Konsumentenrente gewinnen würde. 4. Umgekehrt wird A von sich aus nicht unmittelbar X1 bereitstellen wollen, weil es sonst B davon abhalten könnte, kooperativ X3 anzubieten, was ihm (A) einen Gewinn an Konsumentenrente vom Umfang ORGX2 bringen würde, statt nur LRS bei individueller Bereitstellung von X1.

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7. Kapitel: Wie kommen staatliche Budgetentscheidungen zustande? 5. Also werden beide zögern, ihre eigene Zahlungsbereitschaft in den Verhandlungen zu offenbaren. Denn jeder von ihnen befürchtet, die Hauptlast einer solchen Ausdehnung der Menge tragen zu müssen. Dennoch sehen beide, dass Kooperation bei X3 vorteilhaft wäre, weil sie beiden ein höheres Versorgungsniveau brächte. Insgesamt gesehen besteht also in kleinen Gruppen ein Anreiz, über Verhandlungen zu einer Pareto-optimalen Bereitstellung öffentlicher Güter zu gelangen. Das für große Gruppen typische Freifahrerverhalten tritt in den Hintergrund. Allerdings wird dieser Optimismus durch den Anreiz zu strategischem Verhalten teilweise wieder getrübt. Der Umfang der Leistungserstellung kann hinter der Pareto-optimalen Bereitstellung zurückbleiben. Gleichgewichte können auftreten, brauchen aber weder stabil noch Pareto-optimal zu sein. Der Fall von Verhandlungen über öffentliche Güter in kleinen Gruppen gleicht somit dem des Oligopols bei privaten Gütern, bei dem nähere Aussagen über das Gleichgewicht auch nur unter einschränkenden Verhaltensannahmen möglich sind.3

C. Mehr Individuen: Der Fall der direkten Demokratie 1. Das Grundmodell In kleinen Gruppen mag also Konsens durch Verhandlungen noch erreichbar sein. In größeren Gruppen wird dies jedoch kaum gelingen. Zu groß sind die Verlockungen des strategischen Verhaltens und damit die Entscheidungskosten. Das Einstimmigkeitserfordernis muss also aufgegeben werden. Allerdings darf ein solcher Schritt nur nach genau festgelegten Regeln erfolgen. Sonst wächst mit der Einsparung an Entscheidungskosten die Willkür. Das wurde im 3. Kapitel ausführlich behandelt. Nur bei Abweichung nach vorher festgelegten Regeln lässt sich die nichteinstimmigen Entscheidungen inhärente Willkür in Grenzen halten, Im Folgenden wird angenommen, dass kollektive Entscheidungen in einer direkten Demokratie nach der einfachen Mehrheitsregel gefällt werden.4 Dies impliziert folgende Annahmen: a) Die Wahlberechtigten sind gleichzeitig Konsumenten der öffentlichen Güter und Steuerzahler. Es herrscht also institutionelle Kongruenz. D. h. der Kreis der Nutznießer deckt sich mit dem Kreis der Entscheidungsträger und dem der Steuerzahler.5 Alle Wahlberechtigten stimmen ab.

3

4 5

Die Verwirklichung von X3 lässt sich auch als Annäherungsprozess darstellen, bei welchem die Individuen mit alternativen Kostenteilungsgeboten aufeinander zugehen. Das daraus entstehende Gleichgewicht (X3) stellt dann ein Paretooptimum dar. Die erste Analyse dieser Art geht auf den schwedischen Ökonomen E. Lindahl (1919) zurück. Man nennt dieses Gleichgewicht daher auch Lindahl-Gleichgewicht und die ausgehandelten Kostenbeteiligungen Lindahl-Preise. Näheres siehe in A. B. Atkinson und J. E. Stiglitz (1980; Lecture 16). Vgl. J. M. Buchanan (1967), Kap. 11. Vgl. oben 2. Kapitel, Abschnitt D.

C. Mehr Individuen: Der Fall der direkten Demokratie b) Der Kostenaufteilungsschlüssel zur Finanzierung der öffentlichen Güter wird generell, d. h. unabhängig vom konkret zur Diskussion stehenden Projekt festgelegt.6 c) Budgetdeckung ist vorgeschrieben. d) Es wird über jede Vorlage separat abgestimmt. Ein Verbund mit anderen Projekten ist unzulässig. e) Die Präferenzordnungen sind eingipflig. Diese Annahme beinhaltet eine Einschränkung in den überhaupt zugelassenen Präferenzen, auf deren nähere Definition und Bedeutung in Unterabschnitt 2 noch eingegangen wird. f) Als angenommen gilt ein Projekt, wenn es wenigstens von der einfachen Mehrheit, d. h. von 0,5 n + 1 der n Abstimmenden gutgeheißen worden ist. g) Koalitionen unter den Wählern werden wegen zu hoher Verhandlungskosten als unmöglich betrachtet. Zu welchen Ergebnissen die einfache Mehrheitsregel in der direkten Demokratie führt, lässt sich am folgenden Modell, dem so genannten Medianwählermodell, darstellen, vgl. Abbildung 7.2. Zur Diskussion stehe wiederum die Müllabfuhr als öffentliches Gut X. Die Kurven der marginalen Zahlungsbereitschaft für X von (einfachheitshalber) drei Individuen (bzw. Gruppen) A, B und C lassen sich durch MZBA, MZBB und MZBC darstellen. GK sind die Grenzkosten zur Erhöhung des Umfangs der Müllabfuhr (z. B. durch häufigere Bedienung). Die (fest vorgegebene) Steueraufteilungsregel sieht vor, dass jeder der drei Wähler 1 ⁄3 der Grenzkosten des öffentlichen Gutes, hier also der Müllabfuhr, trägt. Man sagt auch, jeder Wähler entrichtet einen Steuerpreis tp von (1⁄3) GK. In der direkten Demokratie stimmen die Wähler in der Gemeindeversammlung über alternative Mengen von X ab. Ein Vorschlag, die Menge X1 bereitzustellen, wird von allen Wählern oppositionslos akzeptiert werden. Denn bis X1 ist die marginale Zahlungsbereitschaft für jeden Wähler größer oder gerade gleich groß wie sein Steuerpreis tp, d. h. wie sein Beitrag, den er für zusätzliche Einheiten von X leisten muss. Über X1 hinausgehende Vorschläge werden von Wähler A nicht mehr gutgeheißen. Sie werden aber zunächst immer noch von B und C gebilligt, genügen also dem Kriterium der einfachen Mehrheitsregel. Der umfangreichste von B gerade noch gebilligte Vorschlag liegt bei X3. Darüber hinausgehende Mengen (z. B. X4) werden höchstens noch von C akzeptiert. Sie erreichen also keine Mehrheit mehr. Weil die Nutzen-Kosten-Relation für die Mehrheit der Wähler bis X3 positiv ist, lässt sich voraussagen, dass bei sukzessiven Abstimmungen dieser Umfang auch beschlossen werden wird. Der entscheidende Wähler in diesem Verfahren ist also der mittlere Wähler, der genau gleich viel Stimmen über wie unter sich hat. Er ist der Medianwähler und gibt als solcher den Ausschlag über die bereitzustellende Menge des öffentlichen Gutes und die Höhe des Budgets. X3 stellt daher das Medianwählergleichgewicht dar. Drei Besonderheiten des Medianwählermodells seien hervorgehoben: a) Das Medianwählergleichgewicht ist im Allgemeinen kein Pareto-Optimum. Dies lässt sich aus Abbildung 7.2 ersehen. Die Pareto-optimale Bereitstellung 6

D. h. es wird von einer vorher konstitutionell festgelegten Steuerverfassung ausgegangen (vgl. 3. Kapitel).

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7. Kapitel: Wie kommen staatliche Budgetentscheidungen zustande? kann aus dem Schnittpunkt der Grenzkostenkurve mit der Kurve der gesamten marginalen Zahlungsbereitschaft aller drei Individuen MZB(A+B+C) abgelesen werden. Dort entspricht die Summe der marginalen Zahlungsbereitschaften den Grenzkosten GK. Sie liegt bei der Menge X2, ist also unter den hier gegebenen Bedingungen niedriger als die beschlossene Menge X3. Bei anderen Präferenzen und Kostenaufteilungen kann die Menge auch darüber liegen. Die effiziente Menge X2 ergäbe sich also nur zufällig. b) Stabile Mehrheiten können in diesem Modell auch unter einer anderen Mehrheitsregel zustande kommen. Nicht betrachtet werden, z. B. eine 2⁄3oder 3⁄4-Regel. Aber die beschlossenen Mengen sind unterschiedlich. c) Schließlich sei noch einmal betont, dass die Ergebnisse des Medianwählermodells nur unter den oben angeführten Bedingungen der direkten Demokratie gelten. So führt beispielsweise die repräsentative Demokratie (vgl. Abschnitt C) in der Regel zu anderen Resultaten, auch wenn dort ebenfalls die einfache Mehrheitsregel angewandt wird. Modifikationen ergeben sich

Abbildung 7.2: Die Funktionsweise des Medianwählermodells

C. Mehr Individuen: Der Fall der direkten Demokratie auch, wenn die Annahme der eingipfligen Präferenzen aufgehoben wird. Darauf soll im Folgenden näher eingegangen werden.7

2. Mehrgipflige Präferenzen und Instabilität in der direkten Demokratie Um die Bedeutung der Eingipfligkeitsannahme zu ersehen, ist erst einmal näher zu definieren, was unter eingipfligen Präferenzen zu verstehen ist: Eingipfligkeit bedeutet, dass für jedes Individuum die Alternativen auf einer eindimensionalen Skala so angeordnet werden können, dass dessen Präferenzen ausgehend von der besten Alternative (d. h. ihrem Präferenzgipfel) nach beiden Seiten hin monoton abfallen. Solche Präferenzordnungen sind im Modell von Abbildung  7.2 gegeben. Je weiter die Bereitstellung von der vom jeweiligen Individuum präferierten Menge (X1, X3 oder X4) abweicht, desto schlechter die Situation für das Individuum. Im unteren Teil der gleichen Abbildung sind diese Präferenzordnungen als Kurven pA, pB und pC gezeichnet. Sie verdeutlichen den Begriff der Eingipfligkeit in graphischer Form. Weshalb diese Annahmen so wichtig sind, kommt zum Ausdruck, wenn wir die Entscheidungssituation nur ein wenig verändern. Angenommen, die oben betrachtete Dienstleistung der Müllabfuhr könne in drei Varianten angeboten werden: häufig H = 2-mal wöchentlich mittel M = 1-mal wöchentlich wenig W = 1-mal alle 14 Tage. Die Wähler A, B, C haben unterschiedliche Präferenzen, die sich in verschiedenen Rangfolgen ausdrücken. Anders als im vorherigen Beispiel sind die Präferenzen wie folgt verteilt: A liebt die Reinlichkeit und hat daher eine Präferenzordnung H > M > W. B ist mittelmäßig interessiert. Seine Präferenzordnung lautet M > W > H. C möchte am liebsten möglichst wenig Müllabfuhr. Aber wenn dies nicht durchsetzbar sein sollte, dann würde er es doch vorziehen, wenn die Müllabfuhr perfekt durchgeführt würde. Seine Präferenzordnung hat daher die Reihenfolge W > H > M. Zur Verdeutlichung sind diese Rangfolgen in Tabelle 7.1 für die drei Wähler A, B und C tabellarisch und grafisch nochmals dargestellt. Wird über die verschiedenen Varianten abgestimmt, so ergibt sich folgende Situation: (1) (2) (3)

H gegen M M gegen W W gegen H

2:1; H > M 2:1; M > W 2:1; W > H

H > M > W > H

Bei sukzessiven Abstimmungen schlägt jede Alternative die nächstfolgende. Werden alle kollektiven Willensäußerungen miteinander verknüpft, so entsteht ein Zyklus H > M > W > H. Die Gesellschaft der hier betrachteten drei Individu7

Die Bedeutung der Eingipfligkeitsannahme für das Abstimmungsgleichgewicht hat als Erster D. Black (1958) erkannt.

89

90

7. Kapitel: Wie kommen staatliche Budgetentscheidungen zustande? en ist also bei Mehrheitsabstimmung nicht in der Lage, zu einer stabilen Rangfolge der Alternativen zu gelangen. Jede Mehrheitsentscheidung unterliegt der Gefahr, von einer anderen Mehrheit angegriffen und umgeworfen zu werden. Aus individuellen Präferenzrangfolgen lässt sich eine stabile gesellschaftliche Rangfolge nicht ableiten. Dieses für jede Gesellschaft geltende fundamentale Theorem ist nach K. J. Arrow (1951/1963) unter dem Namen Arrow-Paradoxon in die Ökonomie eingegangen. K. J. Arrow (1951, 1963) stellte fest: Es ist unmöglich aus individuellen Präferenzrangfolgen (z. B. durch Abstimmung) eine einzige gesellschaftliche Rangfolge zu ermitteln. Eine solche ist entweder uneindeutig oder diktatorisch. Was immer

Finanzwissenschaftler an Politikmaßnahmen vorschlagen, ihre Vorschläge sind von K. J. Arrows Unmöglichkeitstheorem bedroht, es sei denn, beruhten auf Einstimmigkeit. Bei Einstimmigkeit werden nämlich Präferenzen nicht wirklich aggregiert. Sie werden nur nebeneinander gestellt und erlauben jedem Gesellschaftsmitglied jederzeit, sein Veto einzulegen. So ist es auch verständlich, dass K. Wicksells Einstimmigkeitsregel (K. Wicksell 1896), vgl. 2. Kapitel, dem Arrowschen Unmöglichkeitstheorem nicht widerspricht. Tabelle 7.1: Präferenzrangfolgen bei drei Wählern und drei Vorlagen Wähler

B

C

C*

Rangfolge I H II M III W

M W H

W H M

W M H

Variante häufig

mittel

wenig

(H)

(M)

(W)

A

B

C*

I

A

II III

C

In der Praxis von Mehrheitsabstimmungen wird das Arrow-Paradoxon nicht immer gleich sichtbar, weil über drei Vorlagen meist nur zweimal abgestimmt wird (bzw. über vier nur dreimal etc.). Die paarweisen Ergebnisse werden dann aneinander gehängt, z. B. wenn H  >  M und M  >  W, dann gilt auch H  >  W. Es wird von der so genannten Transitivitätsannahme ausgegangen. Solche paarweise Vergleiche sind in der Politik schier unumgänglich. Es ist unmöglich, beim Auftreten neuer Fragen alle vorangegangenen Entscheidungen noch einmal neu aufzurollen, d. h. die letzte Vorlage wieder mit der ersten zu konfrontieren. Eine solche Kontrollabstimmung unterbleibt. Damit gelangt die Gesellschaft zu einem scheinbar eindeutigen Ergebnis. Doch dieses hängt

C. Mehr Individuen: Der Fall der direkten Demokratie in der Luft; denn es hätte eine Gegenkoalition aufkommen und das erreichte Ergebnis wieder umstürzen können. Die äußerliche Eindeutigkeit hängt von der Reihenfolge der Abstimmungen ab. Wird die obige Dreiervorlage mit nur zwei Abstimmungen verknüpft, so kann es zu folgenden Ergebnissen kommen: Vorlage

kollektive Rangfolge

H gegen M und M gegen W M gegen W und W gegen H W gegen H und H gegen M

H > M > W M > W > H W > H > M

Je nachdem, über welche Vorlage der Vorsitzende (der „Agenda Setter“) zuerst abstimmen lässt, folgt ein anderes Ergebnis. Durch ein schlaues Vorgehen hat er es also in der Hand, das Abstimmungsergebnis nach seinem Willen zu beeinflussen, vorausgesetzt, die unterlegenen Gruppen wehren sich nicht. Wodurch wird aber der Zyklus erzeugt? Der Grund für den Zyklus liegt darin, dass die Einstimmigkeit verfehlt worden ist. Einstimmigkeit heißt: Es wird verhandelt, und wenn sich beide Seiten oder alle Beteiligten geeinigt haben, dann werden die Unterschriften unter das Dokument gesetzt und der Vertrag ist zustande gekommen. Es mag sehr viel Zeit erfordern, bis Einstimmigkeit erzielt wird. Doch ist sie einmal erreicht, ist sie stabil, weil sie nur durch eine neue Einstimmigkeit (also durch einen für alle besseren Vorschlag) ersetzt werden kann. Eine Mehrheitsabstimmung würde demgegenüber vielleicht rascher zu einem Ergebnis führen. Aber dieses wäre instabil, weil es durch neu formierte Mehrheiten umgekippt werden könnte, wodurch nichts gewonnen wäre. Je ähnlicher die Präferenzen einander sind, desto weniger fällt es ins Gewicht, wenn nicht einstimmig entschieden wird. Eine besondere Art ähnlicher Präferenzen sind eingipflige Präferenzen (Abbildung 7.2). Sie gewährleisten konsistente kollektive Entscheidungen, auch wenn mehrheitlich entschieden worden ist. Liegt Eingipfligkeit jedoch nicht vor, so muss mit inkonsistenten kollektiven Entscheidungen gerechnet werden. Dass die Konsistenz der Abstimmungsergebnisse an der Eingipfligkeit hängt, lässt sich aus der unteren Teil der Tabelle 7.1 erkennen. Dort ist die Präferenzordnung des Wählers C nicht eingipflig, sondern zweigipflig; sie enthält zwei Maxima. Es kommt zu einem Zyklus. Bestünde diese Schwierigkeit nicht, verliefe die Präferenzordnung stattdessen z. B. wie C* in Tabelle 7.1, also eingipflig, so käme es nicht zu einem Zyklus. Dies lässt sich aus der folgenden Übersicht ersehen: Vorlage

kollektive Rangfolge

(1) M gegen W (2) W gegen H (3) H gegen M

2:1; 2:1; 1:2;

M > W W > H M > H

M > W > H ⇒ M > H

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7. Kapitel: Wie kommen staatliche Budgetentscheidungen zustande? Die Verknüpfung der Ergebnisse von Abstimmung (1) und (2) ergeben die kollektive Rangfolge M > W > H bzw. M > H. Aber auch die Kontrollabstimmung (3) über die Vorlage führt zu einem konsistenten (transitiven) Ergebnis, nämlich M > H.

3. Eine Einschätzung zyklischer Mehrheiten Das Fazit lässt sich wie folgt ziehen: Zyklische Mehrheiten lassen sich ausschließen, wenn eingipflige Präferenzen vorliegen. Dass dies eine sehr restriktive Annahme ist, lässt sich ersehen, sobald vom ein- auf den mehrdimensionalen Fall übergegangen wird. Drei Fragen stehen zur Diskussion: Mehr Fußballplätze, mehr Wohnungen oder mehr Biotope. Zwar mag jeder Bürger bezüglich der Zahl von Fußballplätzen, Wohnungsbaugrundstücken und Biotopen eingipflige Präferenzordnungen haben. Ob ein, zwei oder drei Fußballplätze gebaut werden sollen, mag sich in Präferenzen von der Form wie jener in Abbildung 7.2 darstellen lassen. Eine stabile Mehrheit ist möglich. Aber wenn über die Verwendung des einen (letzten) Grundstücks entschieden werden muss (ob Fußballplatz, Wohnungen oder Biotop), braucht Eingipfligkeit nicht mehr zu bestehen. Im Gegenteil, Eingipfligkeit wäre sogar sehr unwahrscheinlich8 (Leserinnen und Leser können sich das an einer Überlegungsskizze wie jener in Tabelle 7.1 selbst veranschaulichen). Zyklische Entscheidungen aus der einfachen Mehrheitsregel werden dann sehr nahe liegend. Umgekehrt könnte das Auftreten von Zyklen nur dann ausgeschlossen werden, wenn die Präferenzordnungen hinsichtlich der Verwendung des letzten Grundstücks eingipflig wären. Im hier betrachteten mehrdimensionalen Fall bedeutet dies, dass sich die Indifferenzkurven zweier oder mehrerer Individuen nicht schneiden dürfen, d. h. sie müssten homogen sein. Was eine Person bevorzugt, wird dann auch von allen anderen gebilligt. Das ist interpersonell sehr unwahrscheinlich. Wir sind zurück in der Welt der Einstimmigkeit (G. H. Kramer, 1973).9

D. Von Abstimmungen zu Wahlen. Von der direkten zur repräsentativen Demokratie 1. Der politische Unternehmer: Die Idee von A. Downs Bis dahin konnten die Entscheidungskosten dadurch gesenkt werden, dass von der Einstimmigkeit zur direkten Mehrheitsdemokratie übergegangen wurde. Ein weiterer Schritt zur Senkung der Entscheidungskosten wird durch den 8 9

Beispiel aus D. C. Mueller (2003, Kap. 5) Es geht hier notabene nicht um sich nicht schneidende Indifferenzkurven innerhalb eines einzelnen Individuums, einer Fundamentalvoraussetzung rationalen Verhaltens in der Mikroökonomie, sondern es geht darum, dass sich die Präferenzen zwischen mehreren Individuen nicht schneiden dürfen, was impliziert, dass die betrachteten Individuen untereinander völlig homogene Präferenzen haben und folglich unter ihnen Einstimmigkeit herrscht.

D. Von Abstimmungen zu Wahlen Übergang von der direkten Mehrheitsdemokratie zur repräsentativen Demokratie möglich. Die Entscheidungsfindung erfolgt dann zweistufig. Erst wählen die die Bürgerinnen und Bürger die Abgeordneten. Dann stimmen diese nach der Mehrheitsregel über die Sachfragen ab. Doch wie wird sichergestellt, dass die Wählerpräfenzen in der repräsentativen Demokratie auf dem Weg zur Politik nicht verlorengehen? Die Antwort lautet:

durch den Wählerstimmenwettbewerb. Antony Downs (1957) hat die Theorie aufgestellt, dass die Parteiführer politische Unternehmer sind, die ihre Wahlprogramme so aufstellen, dass sie die Stimmen ihrer Wähler maximieren (ähnlich wie im 1. Kapitel). A. Downs zeigt in seinem wegleitenden Buch, An Economic Theory of Democracy (1957), dass die politischen Unternehmer diese Verbindung herstellen. Sie entwerfen ein politisches Programm mit einem Bündel von Zielen. Dabei handeln sie eigennützig. Am vorzugswürdigsten sind ihnen ihre eigenen Ziele. Doch darin sind sie nicht frei. Sie stehen untereinander im Wettbewerb um die Gunst der Wähler. Diese werden ihrerseits ihre Stimme jenem Wahlprogramm geben, das ihnen den größten Wahlerfolg zu bringen verspricht. Daher müssen die politischen Unternehmer ihre Ideologien zurückstellen und auf die Wünsche der Wähler eingehen, wenn sie überhaupt an die Macht kommen wollen.

Der politische Wettbewerbsmechanismus der repräsentativen Demokratie sieht auf den ersten Blick ganz ähnlich aus wie der Wettbewerbsmechanismus auf dem privaten Markt. Auch im Markt gilt das Eigennutzaxiom. Die Menschen werden, wie Adam Smith schreibt, nicht mit Brot versorgt, weil die Bäcker den Menschen Gutes tun wollen, sondern weil diese ihren eigenen Nutzen maximieren. Politiker kommen nicht an die Macht, weil sie der Gesellschaft eine gute Politik anbieten wollen, sondern weil sie nach ihrem eigenen Vorteil streben und dieses Ziel unter Wettbewerbsbedingungen nur erreichen können, wenn sie eine Politik anbieten, die den Wählern dient (vgl. 1. Kapitel). Die Mechanismen von Markt und Staat sind aber nur teilweise vergleichbar. Im Markt erzeugt das Eigennutzstreben eine Tendenz zu einem stabilen Gleichgewicht. Es wird gehandelt, bis die Preise den die Preise den Grenzkosten entsprechen. In der repräsentativen Demokratie ist ein Gleichgewicht nur zu erwarten, wenn sich die unterlegenen Minderheiten nicht zu neuen Mehrheiten zusammenschließen. Nur dann lässt sich voraussagen, was das Ergebnis der Politik sein wird.

2. Stabilität des politischen Wettbewerbs im Grundmodell von A. Downs Um Stabilität zu gewährleisten ist eine Reihe restriktiver Bedingungen erforderlich (D. C. Mueller 2003). Sie haben alle den Zweck zu stabilen Mehrheiten zu gelangen und die Gefahr von destabilisierenden Gegenkoalitionen auszuschließen. Denn nur bei Stabilität lässt sich überhaupt voraussagen, was das Ergebnis der Politik sein wird. Sechs Bedingungen sind notwendig.

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94

7. Kapitel: Wie kommen staatliche Budgetentscheidungen zustande? 1. Es gibt zwei politische Parteien, die ihr Parteiprogramm im Wettbewerb anbieten. 2. Die Wähler wählen das Parteiprogramm, das ihren Nutzen maximiert. Die Wahlbeteiligung beträgt 100 Prozent. 3. Die Politiker richten Ihr Parteiprogramm danach aus, dass sie die Stimmen maximieren. 4. Der Inhalt aller Parteiprogramme kann auf eine einzigen Dimension: linke versus rechte Politik zusammengeschmolzen werden. Bezüglich dieser Politik herrschen eingipflige Präferenzordnungen. 5. Wähler und die Politiker sind über die Programme vollständig informiert. 6. Wahlen finden permanent statt, so dass der Zeitfaktor vernachlässigt werden kann. In Abbildung 7.3 lässt sich ersehen, wohin der politische Prozess unter diesen Annahmen konvergiert. Man könnte zunächst glauben, dass jede der beiden Parteien Positionen wie L oder R einnimmt, um die herum sich ihre Anhänger scharen. D. h. die Parteien seien bestrebt, die absolute ideologische Distanz zu ihren Anhängern zu minimieren. Doch diese Hypothese ist mit der Stimmenmaximierungsannahme nicht vereinbar. L und R stellen keine Gleichgewichte dar. Vielmehr kann jede der beiden Parteien Stimmen gewinnen, wenn sie sich zur Mitte hin bewegt. Die linke Partei versucht auf diese Weise der rechten Partei Stimmen abspenstig zu machen und vice versa. Das Gleichgewicht ist erreicht, wenn sich beide Parteien in der Medianposition befinden. Dort bieten sie beide das gleiche Programm an, das je gleich viel Stimmen in sich vereinigt. Es lohnt sich weder für die linke Partei über die Medianposition nach rechts zu gehen, noch für die rechte Partei entsprechend nach links zu gehen. Sie würde dann von der jeweils anderen Partei übersprungen, die mit ihrem Parteiprogramm den ideologischen Stammbereich der Wähler der gegnerischen Partei übernehmen würde.

linke Partei

Häufigkeit in %

links

L

rechte Partei

Median

R

rechts

Ideologiepositionen

Abbildung 7.3: Die Verteilung der Wählerpräferenzen und die Positionen der Parteien

D. Von Abstimmungen zu Wahlen Die zentrale Aussage des Modells der Zweiparteienkonkurrenz lässt sich wie folgt zusammenfassen: Es existiert ein stabiles Gleichgewicht, bei dem jede Partei gleich viele Stimmen erzielt, gleich hohe Chancen hat, an die Macht zu kommen, und das gleiche Programm (das Medianwählerprogramm) anbietet.

3. Mehrdimensionale Parteiprogramme

Krankenhäuser K

Instabilität kann entstehen, wenn die Politik aus mehr als den zwei Dimensionen von Links und Rechts besteht. In Abbildung 7.4 geht es um zwei politische Fragen: Schulen S und Krankenhäuser K. Drei gleich große, in sich homogene Wählergruppen präferieren unterschiedliche Kombinationen der beiden öffentlichen Dienstleistungen. Sie haben ihre Idealpunkte in A, B und C. Indifferenzkurven wie UA, UB und UC stellen Punkte gleichen Nutzenniveaus in der Umgebung von A, B und C dar. Die das Dreieck ABC bildenden Geraden lassen sich als Kontraktkurven zwischen je zwei Wählergruppen AB, BC und CA verstehen. Alle Punkte außerhalb des Dreiecks sind Pareto-inferior. Sie erlauben

Uc

C

UB

R

UA

Q M

U´A

B A

N

Schulen S

Abbildung 7.4: Instabilität von Mehrheitsentscheidungen bei mehrdimensionalen Wahlprogrammen

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96

7. Kapitel: Wie kommen staatliche Budgetentscheidungen zustande? Veränderungen des politischen Programms von Schulen und Krankenhäusern S und K, die alle Wähler gleich gut oder besser stellen. Die Punkte in und auf dem Dreieck ABC stellen das Pareto-Set dar: Durch deren Veränderung kann kein Wähler besser gestellt werden, ohne dass ein anderer schlechter gestellt wird. Unter der Einstimmigkeitsregel würde einer dieser Punkte wie z. B. M gegenüber einem Punkt außerhalb des Dreiecks vorgezogen. Ist dies der Fall, so bildet der gewählte Punkt einen unveränderlichen Status quo. Jeder Vorschlag, davon abzuweichen, würde die Einstimmigkeit verfehlen und abgelehnt (D. C. Mueller 2003, S. 249–252). Anders verhält es sich unter der einfachen Mehrheitsregel und Parteienkonkurrenz zwischen Partei 1 und 2. Das Programm M ist jetzt nicht mehr stabil, weil Partei 1 z. B. das Programm Q, das A und C besser stellt, vorschlagen kann und damit die Wahlen gewinnen wird. Doch Q ist auch nicht stabil; denn Partei 2 wird die Mehrheit gewinnen, wenn sie Programm N anbietet. Dem kann Partei 1 entgegentreten und mit dem Programm R die Wahlen gewinnen (wobei für die Mehrheit R≥N gilt). R wiederum wird gegenüber einem Programm wie Q unterliegen usw. Die Zyklik entsteht, weil die Mehrheiten an Sprungstellen schlagartig umkippen. In Abbildung 7.5 ist das etwas größer gezeichnet. Angenommen, Partei 1 ist mit Programm Q an der Macht. Dann wird Partei 2 an die Wählergruppe B herantreten und ihr entlang der gestrichelten Linie sukzessive Abstriche von ihrem Idealprogramm vorschlagen, bis beim Punkt N die Indifferenzkurve U’A überschritten ist. Dort werden die A-Wähler zu Partei 2 umschwenken und einen Regierungswechsel herbeiführen. Solche Sprungstellen lassen sich beim hier angenommenen deterministischen Wählerverhalten nicht vermeiden. Wir werden in Unterabschnitt 5 darauf zurückkommen und eine mögliche Lösung aufzeigen.10 Das bisherige Bild der politischen Ökonomie von der Budgetentscheidung ist pessimistisch. Einstimmigkeit ist bei kollektiven Entscheidungen kaum zu erreichen. Wird stattdessen zu Mehrheitsentscheidungen gegriffen, so handelt man sich dafür die Instabilität demokratischer Entscheidungen ein. Zur Verdeutlichung mögen sich Leserinnen und Leser das Zustandekommen von Sprungstellen noch einmal anhand von Abbildung 7.5 vergegenwärtigen. Wenn sich die Partei 2 den Präferenzen des Wählers A nähert, kippt der Wähler A um, sobald diese Partei mit ihrem Programm beim Kipp-Punkt Q die Höhenlinie des Wohlfahrtsgebirges von Wähler A überschreitet. Eine infinitesimale Änderung führt dann zu einer mehr als infinitesimalen Änderung des Wählerverhaltens. Weil jede Partei eine solche Annäherung betreiben kann, werden bei jeder Partei solche Kipp-Punkte erreicht und überschritten, sodass jede für die Auslösung von Zyklen verantwortlich ist. Solange es Kipp-Punkte gibt, solange gibt es auch keine Stabilität in der Demokratie. Lässt sich überzeugend begründen, dass Kipp-Punkte in der Wirklichkeit sanft sind, also im Endeffekt nicht existieren, können Parteien eine stabile Strategie verfolgen und zu einem Gleichgewicht gelangen. Das Element, das KippPunkte eliminiert und Strategien stabilisiert, ist die Unsicherheit. Unsicherheit 10

Für alternative Analysen des Mehrparteienfalls vgl. M. Holler (1979), P. Bernholz, Fr. B. Breyer (1994, Kap. 14.4). Vgl. auch die Arbeit von P. Moser (2000).

D. Von Abstimmungen zu Wahlen Partei 1 Y

P Z Q

A

X

Abbildung 7.5: Koalitionswechsel bei Kipp-Punkten Quelle: nach D. C. Mueller (2003)

der Wähler über die Politiken der Parteien und der Parteien über das Verhalten der Wähler erlaubt den Parteien, sich schrittwese an die Position der Konkurrenzpartei anzunähern, wobei mit jeder Annäherung die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sich Wähler von einen Partei lösen und sich zur Konkurrenzpartei begeben, ohne dass die jemals ganz sicher ist, ob sie dies tun und daher ein Kipp-Punkt eintritt. Fachsprachlich ausgedrückt: Die Parteien betreiben eine Politik der probabilistischen Stimmenmaximierung (P. Coughlin und S. Nitzan, 1981). Sie maximieren die Wahrscheinlichkeit π der Wählerstimmenunterstützung. Wähler i stimmt mit der Wahrscheinlichkeit π1i für Partei 1 und mit der Wahrscheinlichkeit π2i = 1 – π1i für Partei 2. Die Wahlwahrscheinlichkeit wird hierbei als eine Funktion fi der Differenz aus den Nutzen Ui der unterschiedlichen Wahlprogramme beschrieben (vgl. D. C. Mueller, 2003, S. 252–254). (7.1)

π1i = fi (U1i – U2i)

Gedacht ist, dass die Parteien eine gegebene Summe Geld Y so unter die Wähler verteilen, dass der Erwartungswert der Stimmen EV1 maximiert wird. Der Nutzen des Wählers wird durch die individuellen Zahlungen yi bestimmt. (7.2)

EV1 =

n

n

∑ π = ∑ f (U (y

li i =i 1=i 1

i

n

li

) − U i (y 2i )) + λ(Y − ∑ y li ), i =1

wobei Ui den Nutzen des Wählers i und yi den Transfer darstellt, den Individuum i erhält. Partei 2 wählt die komplementäre Strategie 1 – EV1. Unter der Annahme, dass f (.) und U (.) kontinuierlich und konkav bezüglich der Nutzendifferenzen sind, verfolgen beide Parteien das gleiche stabile Wahlprogramm, das folgenden Bedingungen erster Ordnung entspricht: (7.3)

f’i U’i = λ = f’j U’j , i, j = 1, n,.

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98

7. Kapitel: Wie kommen staatliche Budgetentscheidungen zustande? Die Funktionen f’ stehen für die Reaktionen auf Nutzendifferenzen, die in den Wahlprogrammen der beiden Parteien versprochen werden. Wenn diese Reaktionen für alle Individuen gleich stark sind, dann kann Gleichung (2) in Gleichung (3) umgewandelt werden (7.4)

U’i = U’j für alle i, j = 1, n,

die einer Benthamschen sozialen Wohlfahrtsfunktion W entspricht: (7.5)

W = U1 + U2 + U3 + …. Ui + …. Un.

Folgende Schlussfolgerungen ergeben sich: 1. Die politische Strategie der erwarteten Stimmenmaximierung führt im Zweiparteiensystem endogen zu einem stabilen Gleichgewicht. 2. Das Gleichgewicht liegt im Pareto-Set, d. h. im Dreieck der Abbildung 7.4. Beim Wahlprogramm Ui’ = Uj’ kann kein Individuum besser gestellt werden, ohne dass ein anderes schlechter gestellt wird. 3. Die attraktiven wohlfahrtsökonomischen Eigenschaften dieses Ergebnisses folgen aus der erwarteten Stimmenmaximierung, d. h. endogen. Sie werden anders als in der Wohlfahrtsökonomik nicht einfach als soziale Wohlfahrtsfunktion postuliert. 4. Das Gleichgewicht ist durch differenzierte Transfers gekennzeichnet. Dies ist auch gerechtfertigt, denn jeder Wähler hat etwas andere Präferenzen. 5. Das Gegenstück zu differenzierten Transfers sind differenzierte Steuern. Schon jetzt lässt sich erkennen, dass auch das Steuersystem differenziert sein muss, wenn es im Parteienwettbewerb Bestand haben soll (14. Kapitel).

4. Feste Wahltermine führen zu politischen Konjunkturzyklen Der vorherige Unterabschnitt 3 hat gezeigt: Der Zweiparteienwettbewerb zwischen zwei Zielen S und K kann zu einem Gleichgewicht führen, wenn die Wähler mit immer größerer Wahrscheinlichkeit für die präferierte Partei stimmen, je mehr sich diese an den Idealpunkt A, B oder C der Wähler annähert (Abbildung 7.5). Mehr als zwei Ziele sind also mit Stabilität des Zweiparteienwettbewerbs verträglich. Anders verhält es sich in zeitlicher Hinsicht. Vorgegebene, feste Wahltermine stellen eine Restriktion dar, zwischen der die Parteien nicht mehr substituieren können. Daher stellen Parteien Wahltermine in den Dienst der Stimmenmaximierung und erzeugen dadurch politische Konjunkturzyklen. In Bezug auf die Wahlperioden kann eine Regierung zwei Outputs produzieren: Vollbeschäftigung und Preisstabilität, bzw. sie muss zwei Ungüter vermeiden: Arbeitslosigkeit und Inflation. Je höher Arbeitslosigkeit und Inflation, als desto unfähiger betrachten die Wähler die Regierung und desto weniger Stimmen wird sie erhalten. Aber es kommt auch auf die Zeitdauer an. Die Wähler diskontieren die vergangenen Leistungen der Regierung, d. h. sie vergessen deren gute und deren schlechte Taten, je weiter diese zurückliegen. Diese Umstände versetzen die Regierung in eine strategisch günstige Position. Sie kann ihr

D. Von Abstimmungen zu Wahlen temporäres Monopol über den Wahlzyklus so ausnützen, dass die Indikatoren, nach denen sie von den Wählern beurteilt wird, zum Wahlzeitpunkt für sie möglichst gute Werte annehmen. Weiter zurückliegende Indikatorwerte spielen wegen der Vergesslichkeit der Wähler eine geringere Rolle. Die Regierung wird daher ihre finanzpolitischen Instrumente nicht gleichmäßig, sondern wahlzyklisch einsetzen. W. D. Nordhaus (1975) hat die für die Regierung optimale zyklische Politik modellmäßig zu berechnen versucht. Hinter seinem Modell steht die Idee einer Phillips-Kurve.11 Die Regierung kann die wahlwirksamen Indikatoren Arbeitslosigkeit und Inflation nicht gleichzeitig minimieren, sondern sie muss die bestmögliche Kombination zwischen den beiden Indikatoren wählen. Es zeigt sich, dass es für die Regierung am besten ist, gleich nach der Wahl die Arbeitslosenrate durch eine restriktive Staatsausgaben- und Steuerpolitik hochzufahren, um die Inflationsrate und die Inflationserwartungen zu dämpfen, und danach, wenn die nächste Wahl in Sicht ist, auf eine expansive Ausgaben- und Steuerpolitik umzustellen. Dadurch nimmt die Arbeitslosenrate allmählich wieder ab; die Inflationsrate steigt – in manchen Modellen mit Verzögerung – wieder an. Den Wählern erscheint die Politik der Regierung in einem positiven Licht, insbesondere wenn diese in ihren Wahlentscheidungen die Arbeitslosigkeit stärker gewichten als die Inflation. Dies ist im Modell von W. Nordhaus durch die Form der Wahlfunktion (7.6)

g(U, P) = –U2 – β P

gegeben, wobei U die Arbeitslosigkeit und P die Inflationsrate darstellt. Im Zeitablauf ergibt sich daraus ein Sägemuster der Werte von Arbeitslosigkeit und Inflation, wie es in der Abbildung 7.6 dargestellt ist. Entsprechend schwankt das Sozialprodukt. Es liegt ein politischer Konjunkturzyklus vor. Diese Überlegungen stehen in diametralem Gegensatz zum traditionellen konjunkturpolitischen Paradigma: Während in der traditionellen Finanzwissenschaft davon ausgegangen wird, dass die Regierung ihre Ausgaben und Einnahmen so steuert, dass die Ausschläge des Wirtschaftsablaufs gedämpft werden (antizyklische Konjunkturpolitik), kommt W. D. Nordhaus in seinem 11

In der wirtschaftspolitischen Diskussion wird unter dem Begriff der modifizierten Phillips-Kurve die P R Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation verstanden (vgl. Kurve P in der nebenstehenden Abbildung). Aus der negativen Neigung dieser Kurve ergibt sich die im Text erwähnte Austauschbeziehung zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation. Diese Überlegung liegt (mit einigen Modifikationen) auch dem Modell von + Arbeitslosen- W. D. Nordhaus zugrunde. Indessen fehlt dem PhillipsKurvenkonzept (worauf nachfolgend noch eingeganquote gen wird) die mikroökonomische Fundierung. Die – Vertreter der Theorie der rationalen Erwartungen argumentieren daher, dass die Individuen nicht bereit seien, den von der Phillips-Kurve suggerierten Austausch zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation mitzumachen. Dies widerspreche deren Rationalkalkül. Vielmehr stelle die Phillips-Kurve (insbesondere langfristig) eine senkrechte Gerade wie z. B. R dar. Inflationsrate

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7. Kapitel: Wie kommen staatliche Budgetentscheidungen zustande? Inflation, Arbeitslosigkeit in %

Inflation

Arbeitslosigkeit 0

1

2

3

4 1 Wahltermin

2

3

4 1 Wahltermin

2

3

4 Wahltermin

Jahr

Abbildung 7.6: Konjunkturpolitik einer stimmenmaximierenden Regierung über den Wahlzyklus Quelle: Nach W. D. Nordhaus (1975) und B. S. Frey (1977)

Modell zu dem Schluss, dass die Regierung Anreize hat, Konjunkturschwankungen gerade zu erzeugen. M. a. W. würde der private Sektor der Volkswirtschaft aus sich selbst heraus keinerlei Schwankungen generieren, so würde doch die Regierung einer repräsentativen Demokratie, die periodisch wiedergewählt werden muss, solche Konjunkturschwankungen endogen verursachen. Die Aufmerksamkeit der Finanzwissenschaftler sollte sich daher nach W. D. Nordhaus weniger auf die regierungsexogenen Zyklen und deren Bekämpfung als vielmehr auf die regierungsendogenen Zyklen richten.

5. Rationale Erwartungen im politischen Konjunkturzyklus Zum Modell von W. D. Nordhaus ist in der Folge eine intensive Diskussion entbrannt. Wir wollen hier drei wichtige Alternativ-Ansätze betrachten: die Parteigänger-Theorie von D. A. Hibbs (1977), die Theorie rationaler Erwartungen von A. Alesina (1987) und die vermittelnde Theorie von B. S. Frey und F. Schneider (1978 a, b). a) D. A. Hibbs verfolgt einen politikwissenschaftlichen Ansatz und entwickelt daraus die so genannte Parteigänger-Theorie. D.  A.  Hibbs’ Parteien haben Gefolgsleute (partisans), und für diese setzt sich die Partei ein, wenn sie an die Macht kommt.12 Entsprechend der Phillips-Kurve betreiben Linksparteien eine expansive, inflationäre Arbeitsmarktpolitik für ihre Klientel, die 12

D. A. Hibbs folgt also nicht der oben erörterten Downsianischen Hypothese, nach der die Parteien ihr Parteiprogramm ideologieunabhängig allein auf die Wählerstimmen-

D. Von Abstimmungen zu Wahlen ärmeren Schichten abwärts der unteren Mittelklasse. Sie nehmen Inflation in Kauf und setzen damit auf niedrigere Arbeitslosigkeit. Rechtsparteien betreiben eine entgegengesetzte Politik für ihre Klientel, aufwärts der oberen Mittelklasse. Infolgedessen prognostiziert D. A. Hibbs einen politischen Konjunkturzykus mit dem Wechsel der Regierungspartei unter der Voraussetzung, dass die Phillips-Kurve wenigstens kurzfristig stabil ist. b) A. Alesina (1987) und andere Vertreter der Political Economics Schule sind mit der Theorie des politischen Konjunkturzyklus von W. D. Nordhaus, den sie der Public Choice Schule zuschlagen, besonders scharf ins Gericht gegangen. Diese Theorie widerspreche dem Theorem rationaler Erwartungen.13 Eine Regierung, die sich nach dem Modell von W. D. Nordhaus verhält, täusche systematisch die Wähler, und die Wähler ließen sich von der Regierung permanent täuschen. Wenn die Regierung z. B. eine Inflationspolitik betreibt, um die Arbeitslosigkeit zu senken, so wird angenommen, dass die Arbeitskräfte nicht merken, dass mit dieser Politik gleichzeitig der Reallohn zurückgeht. Denn nur unter dieser Illusion werden sie bereit sein, mehr zu arbeiten. Nur dann ist für die Regierung eine Wanderung auf der Phillips-Kurve möglich. Werden dagegen rationale Erwartungen unterstellt, so beurteilen die Individuen ihre Regierung nicht aufgrund der in der abgelaufenen Legislaturperiode erbrachten Leistungen, sondern aufgrund der Wirkungen, die die Regierungsmaßnahmen in der Zukunft auslösen sollen. Die Individuen durchschauen die Absichten der Regierung, treffen entsprechende Dispositionen und vereiteln damit ihre Wirkung. Beispielsweise werden die Gewerkschaften die Inflationswirkungen einer expansiven Steuer- und Ausgabenpolitik der Regierung vorausahnen. Sie werden die Reallohnsenkungen nicht hinnehmen wollen und entsprechend höhere Löhne fordern. Ein positiver Beschäftigungseffekt wird dann nicht ausgelöst, und es gibt keinen politischen Konjunkturzyklus. Unter diesen Bedingungen ist auch nicht mehr einzusehen, warum eine Regierung versuchen sollte, mit ihrer Budgetpolitik politische Konjunkturzyklen zu erzeugen. Eine politische Beeinflussung der Konjunktur muss – wenn sie vermutet wird – anders begründet werden. A. Alesina (1987) geht von der Hibbs’schen Parteigänger-Theorie aus und führt die Annahme eines unsicheren Wahlausgangs ein. Vor der Wahl wissen die Wähler nicht genau, ob eine linke Partei mit einer Präferenz für einen expansiven Staatshaushalt oder eine rechte Partei, die ein kontraktives Budget bevorzugt, an die Macht kommen wird. Die Bürger werden sich daher in ihrer Funktion als Arbeitnehmer und Tarifpartner vorsichtig verhalten. Sie werden in ihren Lohnforderungen – wenn die Tarifverträge über die Wahltermine hinaus gelten – von einer „mittleren Budgetpolitik“ ausgehen. Gelangt dann eine der beiden Parteien an die Macht, so wird es Überraschungen und damit reale (expansive oder kontraktive) Effekte geben. So gesehen behält die Politik ihren Einfluss auf die Wirtschaft. Offen bleibt allerdings, warum Arbeitnehmer mit rationalen Erwartungen ihre

13

maximierung ausrichten. Vielmehr versuchen sie in politikwissenschaftlicher Tradition mit der Ideologie ihrer Parteigänger die Macht zu gewinnen. Vgl. Ch. B. Blankart und G. B. Koester (2006) für eine Charakterisierung dieses Ansatzes im Vergleich zur Public Choice-Schule.

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7. Kapitel: Wie kommen staatliche Budgetentscheidungen zustande? Tarifverträge nicht an die Wahltermine anpassen. Sie könnten dann Überraschungen des Wahlausgangs teilweise vermeiden. Dann gäbe es auch keine politischen Konjunkturzyklen. Möglicherweise liegen eben doch nicht völlig rationale Erwartungen vor.

6. Politischer Konjunkturzyklus, Parteigänger-Theorie und Theorie rationaler Erwartungen im Vergleich D. Mueller (2003, Kap. 19) hat die verschiedenen Modelle auf den Prüfstand gestellt und untersucht, welches von ihnen die US-Konjunkturzyklen zwischen den Jahren 1949 bis 2000 besser erklärt. Am besten schneidet die ParteigängerTheorie von D. A. Hibbs ab. Wenn Demokraten den Präsidenten stellen, fällt die Arbeitslosigkeit, sie steigt demgegenüber, wenn der Präsident ein Republikaner ist. Etwas schlechter schneiden die Theorien des politischen Konjunkturzyklen von W.  D. Nordhaus ab und noch schlechter die theoretisch ambitiösen Modelle von Alesina (in A.  Alesina und H. Rosenthal, 1995). Für Deutschland hat G. B. Koester (2007) gezeigt, dass entgegen der Parteigängerhypothese SPDgeführte Regierungen im Zeitraum von 1994 bis 2004 die progressive Einkommensteuer eher gesenkt und die eher regressive Umsatzsteuer angehoben haben, während CDU-CSU-dominierte Regierungen sich gerade umgekehrt verhalten haben. Einen vermittelnden Ansatz haben B. S. Frey und F. Schneider entwickelt. Ihrer Meinung nach hängen die Anreize der Regierung, budgetpolitisch aktiv zu werden, von der wahlpolitischen Notwendigkeit ab. Eine solche ist gegeben, wenn Wahlen nahe bevorstehen und die wirtschaftliche Lage schlecht ist. Bei schlechter Wirtschaftslage, d. h. hoher Arbeitslosigkeit oder hoher Inflation, ist nämlich regelmäßig die in Meinungsumfragen gemessene Popularität der Regierung niedrig. Infolge der nahen Wahlen sieht sich die Regierung dann gezwungen, budgetpolitische Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Sie wird im Falle von Arbeitslosigkeit die Staatsausgaben (insbesondere die Transferzahlungen) erhöhen und die Steuern senken, bzw. im Falle von Inflation die Staatsausgaben für Güter und Dienste senken und u. U. die Steuern erhöhen. Auf diese Weise hofft sie, die verlorene Popularität zurück zu gewinnen und eine Wahlniederlage zu vermeiden. Dieser Fall ist im oberen linken Feld von Abbildung 7.7 dargestellt. In allen anderen Fällen, in denen entweder die wirtschaftliche Lage gut und die Popularität hoch sind oder keine Wahlen vor der Tür stehen, braucht die Regierung nicht budgetpolitisch aktiv zu werden. Sie kann ihre Einnahmen- und Ausgabenpolitik langfristig nach der Parteiideologie gestalten und braucht auf die Wählerinteressen keine unmittelbare Rücksicht zu nehmen.14 Der Ansatz von B. S. Frey und F. Schneider ist für verschiedene Staaten mit Erfolg getestet worden (1978 a, b).

14

Bei W. D. Nordhaus wird demgegenüber stets eine stimmenmaximierende Politik unterstellt, weshalb vor den Wahlen eine aktive Konjunkturpolitik auch dann betrieben wird, wenn die Popularität der Regierung für eine Wiederwahl ausreichen würde.

E. Wählen Wähler rational? bevorstehende Wahlen

nicht bevorstehende Wahlen

Wirtschaftslage schlecht, Popularität tief

aktive antizyklische Budgetpolitik

ideologiebestimmte Budgetpolitik

Wirtschaftslage gut, Popularität hoch

ideologiebestimmte Budgetpolitik

ideologiebestimmte Budgetpolitik

Abbildung 7.7: Budgetpolitik der Regierung in Abhängigkeit von Wahlterminen und wirtschaftlicher Lage Quelle: Nach Frey und Schneider (1978 a, b)

Aus dieser Perspektive wird auch verständlich, warum das deutsche Stabilitätsgesetz, das der Regierung die Vollmacht gibt, zur Steuerung der Konjunktur auch unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen, letztlich wirkungslos geblieben ist: Konjunkturstabilisierung ist kein Ziel an sich. Maßnahmen werden an der Wählerpopularität ausgerichtet.

E. Wählen Wähler rational? Die traditionelle Public Choice-Theorie geht von der Annahme des instrumentellen Wählens aus. Bürgerinnen und Bürger gehen zur Wahl, weil sie erreichen möchten, dass die von ihnen präferierte Politik durchgesetzt wird. Sie rechnen sich aus, dass: (7.7)

W = PB + D + C > 0

der Vorteil aus der gewünschten Politik B mal der Wahrscheinlichkeit P, dass die eigene Stimme wahlentscheidend ist plus dem Nutzen am Wahlakt D minus den Kosten zur Wahl zu gehen gleich und W > 0 ist. Weil aber PB sehr klein ist und D oft weggelassen wird, bleibt nur noch C, das zweifellos negativ zu Buche schlägt. Damit ist W < 0, was bedeutet, dass niemand zur Wahl geht. Public Choice-Ökonomen pflegen zu sagen: Rationale Wähler wählen nicht. Wenn Individuen dennoch in großer Zahl zur Wahl gehen, so müssen andere Nutzenerwägungen dafür maßgebend sein. Um zu zeigen, wie das möglich ist, werden die Nutzen am Wahlakt D konkretisiert. Wählen kann Freude am Wählen F wie auch Befriedigung über die erfüllte Bürgerpflicht P bringen. Manche Wähler sehen im Wählen auch eine Gelegenheit, dem einem Politiker ihre Sympathie und einem anderen ihre Missachtung auszudrücken. Wieder andere stimmen für Eisenbahnsubventionen, weil in Eisenbahnen ihre alten Modellbahnträume wieder aufleben, oder sie stimmen für Landwirtschaftssubventionen, weil sie von der Romantik des Landlebens träumen. In all diesen Fällen liegt sogenanntes „expressives Wählen“ E vor. Diese Bereicherungen des Kalküls bringen zusätzliche Erklärungen, aber auch zusätzliche Probleme: Freude F und Sympathie E sind zwar private Güter; sie können zur Erklärung des Wählens beitragen. Aber sie lassen offen, in welchem Ausmaß und in welche Richtung die Wahl erfolgt. Die Erfüllung der Bürgerpflicht P trägt zur

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7. Kapitel: Wie kommen staatliche Budgetentscheidungen zustande? Erklärung der Wahl bei, obwohl sie doch ein öffentliches Gut darstellt, das auch Nichtwählwählen bewirken könnte. Leserinnen und Leser werden sich fragen: Was bleibt denn von Public Choice noch übrig, nachdem rationales Wählen so sehr in Frage gestellt worden ist? Die Antwort lautet: Public Choice wird lediglich mit neuen Variablen versehen. Im Modell der probabilistischen Zweiparteienkonkurrenz (Abschnitt G oben) nähern sich die Parteien gemäß den neuen Stimmengewichten in jede Richtung solange aneinander an, bis die Wahrscheinlichkeit, Stimmen zu gewinnen wie Stimmen zu verlieren einander die Waage halten und einer Benthamschen Wohlfahrtsfunktion entsprechen. Dieses Kalkül lässt sich für traditionelle instrumentelle Präferenzen ebenso anwenden wie für expressive Präferenzen und Präferenzen der Bürgerpflicht und dergleichen (D. C. Mueller 2003, s. 331).

Wichtige Begriffe des 7. Kapitels Bestimmung des Budgets durch Verhandlungen Direkte Demokratie Medianwählergleichgewicht Eingipflige/mehrgipflige Präferenzen Arrow-Paradoxon Repräsentative Demokratie Politische Unternehmer Parteienkonkurrenz Stimmenmaximierungshypothese Probabilistische Wählerstimmenmaximierung Temporäres Monopol der Regierung Politischer Konjunkturzyklus Phillips-Kurve Rationale Erwartungen Prinzip der Einheit der Materie Repräsentative Demokratie Politischer Konjunkturzyklus Political Economics versus Public Choice Warum Wähler wählen

Literatur zum 7. Kapitel K. Arrow, Social Choice and Individual Values (1951, 2nd ed., 1963) New York Wiley und Yale Univ. Pr. 1951, 2nd ed., 1963. A. Alesina, Macroeconomic Policy in a Two-Party-System as a Repeated Game, in: Quarterly Journal of Economics, Vol. 102, 1987, S. 651–678. A.  Alesina und H.  Rosenthal, Partisan Politics, Divided Government, and the Economy. Cambridge (Cambridge University Press) 1995. K. J. Arrow, Social Choice and Individual Values, New York (Wiley) 1951, 2. Auflage 1963. P. Bernholz und F. Breyer, Grundlagen der Politischen Ökonomie, Tübingen (Mohr) 3. Auflage, Band 2, 1994. D. Black, The Theory of Committees and Elections, Cambridge (Cambridge University Press) 1958.

E. Wählen Wähler rational? Ch. B. Blankart und G. B. Koester, Political Economics versus Public Choice, Two views of political economy in competition, Kyklos, Vol. 59, No. 2, 2006, S. 171–200. J. M. Buchanan, The Demand and Supply of Public Goods, Chicago (Rand McNally) 1968. C. Coughlin und S. Nitzan, Electoral Outcomes with Probabilistic Voting and Nash Social Welfare Maxima, Journal of Public Economics, Vol. 15, 1981, S. 113–122. A. Downs, An Economic Theory of Democracy, New York (Harper and Row) 1957, deutsch: Eine ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen (Mohr) 1968. B. S. Frey, Moderne Politische Ökonomie, München (Piper) 1977. B. S. Frey und Fr. Schneider, An Empirical Study of a Politico-Economic Interaction in the U.S., in: Review of Economics and Statistics, Vol. 60, May 1978, S. 174–183 (1978 a). B. S. Frey und Fr. Schneider, A Politico-Economic Model of the United Kingdom, in: Economic Journal, Vol. 88, June, 1978, S. 243–253 (1978 b). B. S. Frey und Fr. Schneider, An econometric model with an endogenous government sector, in: Public Choice, Vol. 34, No. 1, 1979, S. 29–43. D. A. Hibbs, Jr., Political Parties and Macroeconomic Policy, in: American Political Science Review (71). December 1977, S. 1467–1487. H. Hotelling, Stability in Competition, in: Economic Journal, Vol. 39, 1929, S. 41–57. G. Kirchgässner, Probabilistic voting and equilibrium: An impossibility result, in: Public Choice, Vol. 103, Nos. 1–2, 2000, S. 35–48. G. B. Koester, The political economy of tax reforms, Diss. Humboldt-Universität zu Berlin 2007. G. H. Kramer, On a Class of Equilibrium Conditions for Majority Rule, in: Econometrica, Vol. 41, No. 2, 1973, S. 285–297. G. H. Kramer, A Dynamic Model of Political Equilibrium, in: Journal of Economic Theory, Vol. 16, 1977, S. 310–334. E. Lindahl, Die Gerechtigkeit der Besteuerung, Lund 1919, teilweise übersetzt als: Just Taxation – A Positive Solution, in: R. A. Musgrave und A. T. Peacock, Hrsg., Classics in the Theory of Public Finance, London u. a. (Macmillan) 1967, S. 168–176. P. Moser, The Political Economy of Democratic Institutions, Cheltenham (Elgar) 2000. D. C. Mueller, Public Choice III, Cambridge (Cambridge Univ. Press) 2003. R. A. Musgrave und P. B. Musgrave, Public Finance in Theory and Practice, New York u. a. (McGraw Hill) 5. Auflage 1989. W. D. Nordhaus, The Political Business Cycle, Review of Economic Studies, Vol. 42, 1975, S. 169–190. K. Wicksell, Finanztheoretische Untersuchungen nebst Darstellung und Kritik des Steuerwesens Schwedens, Jena (Gustav Fischer) 1896.

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Ein ungeheurer Einfluss auf das Völkerschicksal geht von dem wirtschaftlichen Aderlass aus, den die Bedürfnisse des Staates erzwingen, und von der Art, wie das Ergebnis dieses Aderlasses verwendet wird. Der unmittelbar formende Einfluss der Finanzbedürfnisse und der Finanzpolitik der Staaten weiters auf die Entwicklung der Volkswirtschaft und damit auf alle Lebensformen und Kulturinhalte erklärt in manchen Geschichtsperioden so ziemlich alle großen Züge der Dinge und in den meisten sehr viel davon – nur in wenigen nichts. Joseph A. Schumpeter (1918)

8. Kapitel Wie groß ist der Staat? A. Adolf Wagner: ein großer Finanzwissenschaftler Adolf Wagner war einstmals (1835–1917) ein großer Finanzwissenschaftler und gilt auch heute noch als solcher. Während sich die Finanzwissenschaftler von damals vor allem mit den Steuern befassten, richtete Wagner als erster seine Aufmerksamkeit auf die Staatsausgaben. Dadurch wurde er zu einem Pionier auf dem Weg zur späteren Theorie öffentlichen Güter (siehe oben 2. Kapitel). A. Wagner unterschied in seinem Werk „Grundlegung der politischen Ökonomie“ (1890) zwei Arten von Staatsausgaben, solche für den „Rechts- und Machtzweck“ (Justiz, Polizei, Flotte, Heer etc.) und solche für den (ii) „Culturund Wohlfahrtszweck“ (Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen etc.). Heute ist der Machtzweck gegenüber dem Wohlfahrtszweck zurückgetreten. 40 % der Bundesausgaben dienen dem Sozialstaat und damit dem Wohlfahrtszweck. Wagner beließ es nicht bei der Definition des Staates. Er zog mit seiner Definition auch die ordnungspolitisch wichtige Trennungslinie zwischen Markt und Staat. Im Privatbereich gilt der Primat des Individuums. Ein Mensch entscheidet autonom und unabhängig von der Meinung seiner Mitbürger. Er allein trägt als homo oeconomicus die Verantwortung, auch wenn seine Entscheidungen sich als falsch herausstellen. Im Staatsbereich ist ein Mensch nicht autonom. Er kann seine Ansicht nur durchsetzen, wenn auch die anderen zuständigen Individuen zustimmen. Im Gegenzug trägt er keine Verantwortung. Im Privatbereich haftet der einzelne nach dem Verschuldensprinzip, im Staatsbereich gilt das

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8. Kapitel: Wie groß ist der Staat? Gemeinlastprinzip. Politiker können im Allgemeinen nicht individuell für ihre Entscheidungen zur Haftung herangezogen werden. A. Wagner hatte zu seiner Zeit noch keine Statistiken zur Verfügung. Er hatte lediglich den Eindruck, dass der Staat rascher wächst als der Markt und leitete daraus das Gesetz ab, das wir heute als Wagnersches Gesetz der wachsenden Staatsausgaben bezeichnen. Dieses Gesetz wird im folgenden 9. Kapitel noch zu erörtern sein. Im vorliegenden Kapitel geht es um die Messung von Markt und Staat heute. Anhand der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung soll ermittelt werden, wie viele Güter der Endproduktion (von Konsum und Investitionen) sich eine Volkswirtschaft leisten kann. Vorleistungen, die in die Endproduktion eingehen, bleiben außer Betracht. Außermarktliche Güter wie Umwelt und Klima stellen ebenfalls nicht Gegenstand der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung dar. Nur bei der Staatsaktivität besteht eine Ausnahme. Die Staatsaktivität gehört auch nicht zum Markt, geht aber dennoch in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ein. Das erfordert eine spezielle Behandlung. In den Abschnitten B und C des vorliegenden Kapitels wird der Staatsanteil einer Volkswirtschaft berechnet. In Abschnitt D folgen dann die verschiedenen Staatsquoten. In Abschnitt E wird gefragt: Ist der Staat zu groß oder zu klein? Abschnitt F gibt eine Zusammenfassung.

B. Die Erfassung des Staates im Nationaleinkommen als Wohlfahrtsmaß Wie viele Güter der Endproduktion können sich die Menschen einer Nation leisten? In Abbildung 8.1. links ist das für ein einzelnes Gut X der Endproduktion dargestellt. Zum Marktpreis PX können die Individuen der Volkswirtschaft die Menge X des betrachteten Endproduktes kaufen. Die gleiche Rechnung lässt sich für alle anderen Güter der Endproduktion der Volkswirtschaft mit deren Preis mal Menge durchführen. Aus der Addition all dieser Umsätze ergibt sich, wie viele Güter der Endproduktion sich die Menschen der Volkswirtschaft insgesamt kaufen können. Aus der Summe all dieser Transaktionen wird das Produktionskonto Volkwirtschaftlichen Gesamtrechnung gebildet, wie wenn die Volkswirtschaft ein großes Unternehmen wäre. Daher stellen Preis mal Menge PXX all dieser Güter ein Wohlfahrtsmaß der Gesellschaft dar. Bei einer anderen Volkswirtschaft liegen alle Nachfragekurven weiter rechts außen. Die dortigen Menschen können sich von allen Gütern mehr kaufen und befinden sich daher c.p. auf einem höheren Wohlfahrtsniveau. Daher ist es wiederum vertretbar zu sagen: Das Bruttonationaleinkommen stellt ein Wohlfahrtsmaß dar.1 Das Bruttonationaleinkommen lässt sich auch durch die Zahl der Einwohner dividieren, woraus dann die Wohlfahrt pro Kopf resultiert. So weit ist die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung völlig korrekt und nicht zu beanstanden. Konfusion entstand erst mit der Behandlung des Staates, der, 1

Der Umfang der Güter der Schattenwirtschaft wird teilweise geschätzt.

B. Die Erfassung des Staates im Nationaleinkommen als Wohlfahrtsmaß obwohl er außerhalb des Marktes steht, in die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung integriert werden sollte. Das erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung: Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung entstand nach dem Zweiten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten. Die Vertreter des Department of Commerce der amerikanischen Bundesverwaltung versuchten den Staat mit seinen unentgeltlich erbrachten Dienstleistungen in die bislang aus Markttransaktionen definierte Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einzubauen. Doch was sollen Preis mal Menge beim Staat, der ja seine Güter nicht verkauft, sondern sie größtenteils unentgeltlich (ohne direktes Entgelt) bereitstellt? Das Produkt aus Preis mal Menge ist null. Das Department of Commerce sagte: Man muss anstelle der Preise die Kosten des Staates nehmen. In der Tat finden sich heute diese Kosten des Staates im Produktionskonto der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Doch diese Kosten haben nichts mit dem Wert der staatlichen Leistungen zu tun. Die Ökonomen des Department of Commerce sollten eigentlich nicht den gleichen Fehler begehen wie J. St. Mill, der hundert Jahre zuvor den Wert der Staatsleistungen an seinen Kosten messen wollte (vgl. 2. Kapitel). Zwei Beispiele sollen die Unvereinbarkeit noch einmal verdeutlichen. Angenommen, in der Volkswirtschaft A erhalten die Bäcker Mehl vom Staat unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Auch die Polizei wird dort vom Staat unentgeltlich bereitgestellt. Es scheint dann, dass Volkswirtschaft A ein höheres Bruttonationaleinkommen hat als eine sonst gleiche Volkswirtschaft B, wo Mehl und Polizeischutz von den Bürgerngekauft werden müssen. Denn in A entstehen Staatskosten, die nach Ansicht des Department of Commerce ins Sozialprodukt eingehen sollen und heute auch eingehen. In B ist dies jedoch nicht der Fall. Folglich ist das berechnete Bruttonationaleinkommen in A größer als in B, auch wenn sich die Individuen in Volkswirtschaft A nicht mehr Güter leisten können wie in Volkswirtschaft B. Nur das rechnerische Bruttonationaleinkommen ist in A größer als in B. Der einzige Grund des scheinbaren Wohlfahrtsunterschiedes besteht darin, dass die gleichen Güter in A vom Staat unentgeltlich bereitgestellt werden und im Fall B etwas kosten. Der Wohlstand erhöht sich in A nicht dadurch, dass die Kosten des Staates einmal zum Bruttonationaleinkommen hinzugerechnet werden, das andere Mal nicht. Volkswirtschaft A ist nur scheinbar wohlhabender als eine gleiche Volkswirtschaft mit einem kleinen Staatssektor. Es trifft zu, dass die Preise in den beiden Volkswirtschaften differieren. Die Preise von Brot sind in A bei kostenlos von der Regierung zur Verfügung gestelltem Mehl niedriger als in B, und Polizeidienste sind in A preisgünstiger als in B. Das aber hat nichts mit den Gütern zu tun. die sich die Menschen beiderorts mit ihren Ressourcen leisten können. Der Unterschied der Preise ist im Preisindex zu berücksichtigen, nicht im Bruttonationaleinkommen. Gegen die Behandlung des Staates durch amerikanische Department of Commerce protestierten die damals maßgebenden Wissenschaftler wie S. Kuznets (1948), R. A. Musgrave (1959) und F. Forte und J. M. Buchanan (1961). Sie vertraten die Meinung, die Kosten staatlicher Leistungen dürften nicht zu den Umsätzen

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110

8. Kapitel: Wie groß ist der Staat? privater Güter auf der Endstufe hinzuaddiert werden. Dies gelte unabhängig davon, ob die staatlichen Leistungen wie Mehl Vorleistungen (für Unternehmen) oder Endprodukte wie Polizeidienste (für Konsumenten) darstellen. Obwohl die Wissenschaftler Recht hatten, konnten sie sich gegenüber dem politisch mächtigen Department of Commerce nicht durchsetzen. Vielmehr wurde das oben beschriebene Mischsystem von der amerikanischen Bundesregierung als allein maßgebend erklärt. Von den USA kam das umstrittene Verfahren zur OECD nach Paris und von dort in die statistischen Ämter Deutschlands und der Europäischen Union. a) Leistungsmaß

a) Wohlfahrtsmaß Geld

Geld

A

N

N B

PX

PX PX

0

X

GK + Tind netto

priv. Gut

GK

0

X

priv. Gut

Abbildung 8.1: Das Nationaleinkommen als Wohlfahrtsmaß und als Leistungsmaß

C. Die Erfassung des Staates im Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten als Leistungsmaß Statt des ambitiösen Ziels die Wohlfahrt zu messen, lassen sich auch lediglich die Faktorleistungen einer Volkswirtschaft erfassen. Das geschieht im Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten. Die Frage lautet dann: Wie viel Güter umfasst der Output einer Volkswirtschaft? Handelt es sich um eine „große“ oder eine „kleine“ Volkswirtschaft? Diese Frage tritt in der internationalen Politik auf, wenn gefragt wird, wie viel ein Staat für internationale Organisationen beitragen soll. Das Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten wird dann als Leistungsmaß verstanden. In diesem Fall werden die Faktorleistungen bewertet zu den Faktorkosten aller produzierten privaten und öffentlichen Güter und Dienste zusammengezählt. Weil sich aber diese Kosten in direkter Messung oft nur schwer erfassen lassen, ist es aus praktischen Gründen erforderlich, indirekt von den Umsätzen der Endstufe abzüglich indirekter Steuern (zuzüglich Subventionen) auf die Faktorkosten zu schließen. Diese Betrachtungsweise ist als „Leistungsmaß“ rechts in Abbildung 8.1 (dort ohne Subventionen) dargestellt.

C. Die Erfassung des Staates im Nettoinlandsprodukt Die reale Faktorleistung ist gleich dem Umsatz auf der Endstufe nach Abzug der (zuvor überwälzten) indirekten Steuern (Tind) und damit niedriger als das Bruttonationaleinkommen zu Markpreisen. Die Faktorleistung ist gleich den Grenzkosten oder dem Nettopreis mal der Menge (pXnettoX).2 Umgekehrt liegen im Falle einer Subventionierung von Gütern die Grenzkosten (was hier nicht eingezeichnet ist) über dem Marktpreis. Nettopreis mal Menge der Endstufe repräsentieren freilich nur dann die Faktorkosten, wenn die Unternehmen zu Grenzkostenpreisen (inklusive indirekte Steuern und Subventionen) anbieten, d. h. wenn vollständige Konkurrenz herrscht oder wenn öffentliche Monopolunternehmen so reguliert sind, dass sie zu Preis gleich Grenzkosten anbieten. Diese Annahme ist nicht unproblematisch. Werden aber solche Grenzkostenpreise einmal unterstellt, so lassen sich auf diese indirekte Weise die für die Erzeugung von Gütern erbrachten Faktorleistungen messen. Für öffentliche Güter, die nicht auf einem Markt gehandelt werden, kann diese indirekte Methode jedoch nicht angewandt werden. Hier sind die Faktorleistungen direkt aus den Faktorentlohnungen zu ermitteln. Auch dies wirft Probleme auf. So schlägt sich beispielsweise betriebliche Ineffizienz beim Staat in höheren Kosten nieder und täuscht somit größere Faktorleistungen vor, als sie tatsächlich erbracht worden sind.3 Geht man jedoch trotz aller Vorbehalte diesen Weg der Faktorleistungsmessung, so gelangt man schließlich zum Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten. Anders als im Falle der Wohlfahrtsmessung (von oben) sind also hier die Kosten öffentlicher Leistungen durchaus zu berücksichtigen. Denn sie gehören zum Output der Volkswirtschaft. Insgesamt gesehen lassen sich also gegenüber dem Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten als Leistungsmaß beträchtliche Vorbehalte anbringen. Monopolistisches und kostenineffizientes Verhalten beim Staat sind per Annahme ausgeschlossen. Über die Zulässigkeit solcher Annahmen mag man zu Recht streiten. Doch Annahmen sind eben Annahmen. Das ist anders beim Nationaleinkommen als Wohlfahrtsmaß, so wie es heute in der amtlichen Statistik definiert wird. Dieses beruht auf einer theoretisch unkorrekten Zusammenfassung von Bewertungen (der Märkte) und Kosten (des Staates), ist also diskussionslos fehlerhaft. So gesehen spricht mehr dafür, beim Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten als Leistungsmaß zu verbleiben, als mit dem theoretisch unkorrekten Maß des Nationaleinkommens zu Marktpreisen zu rechnen. Wie erwähnt, haben sich namhafte Wissenschaftler gegen die Berechnung des Bruttonationaleinkommens zu Marktpreisen als Wohlstandsmaß durch das Departement of Commerce gewehrt, doch ohne Erfolg. Die statistischen Ämter berechnen zwar beide: das weniger problematische Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten wie auch das Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen. Doch das erstere fristet ein Schattendasein gegenüber dem allgemein gebräuchlichen Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen (BNE).

2 3

Das gilt genau genommen nur, wenn die Grenzkosten horizontal sind und die indirekten Steuern vollumfänglich auf die Preise überwälzt werden können. Bzw. die gemessene Faktorleistung könnte tatsächlich erst nach einer Reallokation der Ressourcen erreicht werden.

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8. Kapitel: Wie groß ist der Staat?

D. Staatsquoten in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Gegen die Fragwürdigkeit falscher Theorien anzukämpfen, ist jedoch meist hoffnungslos. Es ist sprichwörtlich wie „gegen Windmühlen zu kämpfen“, was auch sinnlos ist.4 Folglich bleibt nichts anderes als die gegebenen Weltanschauungen zu akzeptieren und – im vorliegenden Fall – mit dem Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen weiterzurechnen, wie wenn es ein Wohlfahrtsmaß darstellen würde. Einige gängige Kennziffern lauten wie folgt: 1. Bei der Realausgabenquote werden die durch den Staat verursachten Kosten zur Erstellung öffentlicher Güter in Relation zum Bruttonationaleinkommen Y b gesetzt. Unter dem Begriff Realausgaben werden die Ausgaben für Güter und Dienste des Staates G sowie die Bruttoinvestitionen des Staates I b subsumiert. Die Realquotenausgabe RQ ist also definiert als (8.1)

RQ =

G + Ib Yb

Von Realausgaben oder „exhaustive expenditures“ wird deswegen gesprochen, weil die Transfers oder „non-exhaustive expenditures“, die keinen Mittelverzehr durch den Staat beinhalten, nicht berücksichtigt werden. 2. Die Gesamtausgabenquote GQ schließt über die Realausgaben hinaus auch die Transferzahlungen Tr, also insbesondere die Sozialversicherungsleistungen, ein. Dennoch kann diese Quote aufschlussreich sein, weil sie den Grad der kollektiven Verfügung über Primäreinkommen anzeigt. Sie wird definiert als (8.2)

GQ =

G + I b + Tr Yb

3. Abgaben- und Gesamteinnahmenquote: Die staatliche Verfügung über Primäreinkommen lässt sich auch auf der Staatseinnahmenseite messen. Beispielsweise setzt die Abgabenquote AQ (vereinfachend auch Steuerquote) die gesamten Steuerzahlungen und sonstigen Abgaben (insbesondere für die Sozialversicherung) T zum Bruttonationaleinkommen in Beziehung. Sie wird definiert als (8.3)

AQ =

T Yb

Noch umfassender ist die Gesamteinnahmenquote des Staates EQ. Bei ihr wird neben den Steuern, Abgaben und sonstigen Einnahmen E auch die Nettoneuverschuldung V berücksichtigt. Somit lässt sich schreiben (8.4) 4

EQ =

T+E+V Yb

Zurückgehend auf den spanischen Helden Don Quijote des Schriftstellers Cervantes, der versuchte, gegen die herrschenden Verhältnisse Spaniens des 16. Jahrhunderts zu kämpfen und dabei wie bei einem Kampf gegen Windmühlen scheiterte.

D. Staatsquoten in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung

113

4. Während die bis dahin betrachteten Staatsquoten im Wesentlichen nur den Bereich der staatlichen Haushalte und Parafisken (wie Sozialversicherungen) umfassen, ginge eine (im Prinzip denkbare) Gesamtquote der staatlichen Aktivität noch weiter. In sie müsste die gesamte Wertschöpfung der öffentlichen Unternehmen, z. B. der öffentlichen Banken und Sparkassen, der Deutschen Bahn AG, der öffentlichen Krankenhäuser, der GroßforTabelle 8.1: Die Konten des Staates in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für die Bundesrepublik Deutschland 2014 in Mrd. Euro Produktionskonto Käufe von Vorleistungen

138

Verkäufe von Verwaltungs­ dienstleistungen

Einkommen aus unselbst­ ständiger Arbeit

222

Staatsverbrauch

Abschreibungen

18  408

65 425

425

Einkommenskonto Zinsen auf öffentliche Schuld

Subventionen

51

Indirekte Steuern

314

Direkte Steuern

345

Sozialbeiträge

481

25

Soziale Leistungen

640

Sonstige geleistete lfd. Transfers

45

Sonstige empfangene lfd. Transfers

19

Staatsverbrauch

408

Empfangene Vermögens­ einkommen

25

Ersparnis

–15 1008

1184

Vermögensveränderungskonto Bruttoinvestitionen

63

Abschreibungen

65

Geleistete Vermögenstrans­ fers

35

Empfangene Vermögens­ transfers

29

Finanzierungssaldo 98

4 98

Nettonationaleinkommen zu Faktorkosten (Volkseinkommen)

2176

(Nettonationaleinkommen zu Marktpreisen)

2464

Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen

2982

Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18, Reihe 1.4.

114

8. Kapitel: Wie groß ist der Staat? schungseinrichtungen usw. eingehen. Es würde nicht genügen, nur den in den öffentlichen Haushalt eingehenden Unternehmenserfolg zu berechnen. Eine so umfassende Messung der staatlichen Aktivität scheitert allerdings meist an den statistischen Grundlagen. In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung werden nämlich öffentliche und private Unternehmen nicht separat ausgewiesen, sondern beide dem Unternehmenssektor zugeordnet. Tabelle 8.1 zeigt, wie der Staat nach der offiziellen Systematik in das Bruttonationaleinkommen eingeht. Zu beachten sind insbesondere die 408 Mrd. Euro des in Kosten gerechneten „Staatsverbrauchs“ im Produktionskonto, während alle privaten Transaktionen zu individuellen Wertschätzungen erfasst sind. Das Einkommenskonto zeigt die Finanzierung des auf der linken Seite angeführten Staatsverbrauchs und der übrigen Staatsausgaben durch die Steuereinnahmen und die empfangenen Vermögenseinkommen (aus öffentlichen Unternehmen) auf der rechten Seite. Als Saldo bleibt die Ersparnis des Staates. Diese findet sich wieder auf der rechten Seite des Vermögensveränderungskontos. Dort sind die Quellen angeführt, aus denen die Bruttoinvestitionen des Staates und die geleisteten Vermögenstransfers finanziert werden. Aus den in Tabelle 8.1 aufgeführten Daten lassen sich jetzt die zuvor definierten Quoten berechnen. Dabei ergeben sich die in Tabelle 8.4 angeführten Werte. Tabelle 8.2: Staatsquoten nach der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung für die Bundesrepublik Deutschland bezüglich des Bruttonationaleinkommens zu Marktpreisen 2014 in % Realausgabenquote RQ

14

Gesamtausgabenquote GQ

41

Abgabenquote AQ

38

Quelle: Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18, Reihe 1.4.

E. Ist der Staat zu groß oder zu klein? Staatsquoten wie die hier betrachteten haben eine große ordnungspolitische Diskussion ausgelöst. Die einen politischen Parteien und Gruppen halten die Staatstätigkeit für zu groß, die anderen für zu klein. Auch in der Wissenschaft gehen die Meinungen auseinander. So hat in den 1950er Jahren J. K. Galbraith (1958) die These vom „sozialen Ungleichgewicht“ zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut aufgestellt. Öffentliche Armut bestehe, weil der Staat zu wenig Aktivität im Bereich der öffentlichen Güter und der sozialen Absicherung entfalte. Um dieses Ungleichgewicht zu beseitigen, sollte der Staatshaushalt ausgedehnt werden. Heute wird demgegenüber eher auf die Ineffizienz des Staates hingewiesen und daraus folgend ein Abbau der Staatstätigkeit durch Deregulierung und Privatisierung gefordert.

F. Zusammenfassung des 8. Kapitels Indessen sind Begriffe wie öffentliche Armut oder staatliche Ineffizienz nur beschränkt dazu geeignet, die Diskussion um die Frage „Ist der Staat zu groß oder zu klein?“ zu versachlichen. Denn die Bürger bzw. ihre gewählten Vertreter haben ja darüber entschieden. Besser wäre es, die Frage zu stellen, welche kollektiven Entscheidungen zum heute beobachteten Umfang der Staatstätigkeit geführt haben. Staatsaktivität müsste also an den Entscheidungsregeln beurteilt werden. Im dritten Kapitel ist schon modellmäßig gezeigt worden: Je mehr von der Einstimmigkeitsregel zur Einpersonenregel übergegangen wird, desto mehr nimmt die Staatsaktivität zu und vice versa. Entsprechendes gilt für andere Modifikationen von Entscheidungsregeln. Somit ist mit der konstitutionellen Wahl der Entscheidungsregeln auch ein bestimmtes Niveau der staatlichen Aktivität verknüpft. Von „zu groß“ oder „zu klein“ kann in diesem Sinne nicht gesprochen werden. Es ist höchstens denkbar, dass die Bürger mit den einstmals beschlossenen Regeln bzw. mit den Ergebnissen, die diese hervorbringen, nicht mehr einverstanden sind. Sie halten den Staat in diesem Sinne für zu groß oder für zu klein und wünschen daher eine Veränderung der Regeln. Um Vorschläge für eine solche konstitutionelle Reform liefern zu können, muss ergründet werden, wie eine Veränderung der Regeln zu einer Veränderung der Staatstätigkeit führt. Diese Frage soll im 9. Kapitel näher erörtert werden.

F. Zusammenfassung des 8. Kapitels Immer wieder wird der Wohlstand der Nationen am offiziellen Bruttonationaleinkommen pro Kopf gemessen. Das ist eigentlich unrichtig. Denn die darin enthaltenen Kosten des Staates haben wenig mit dem Wohlstand zu tun. Besser wäre es, vom Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten auszugehen; denn dieses kann als Maß für die Produktion einer Volkswirtschaft angesehen werden. In ihm kommt die Leistung des Staates zum Ausdruck. Trotz dieser Kritik wird heute das Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen als Maß für den Wohlstand wie für die Leistung verwendet.

Wichtige Begriffe des 8. Kapitels Bruttonationaleinkommen als Wohlfahrtsmaß Nettosozialprodukt als Leistungsmaß Debatte zwischen Wissenschaftlern und dem US Department of Commerce Indexproblem beim Wohlfahrtsvergleich Realausgaben (exhaustive expenditures) Transferausgaben (non-exhaustive expenditures) Staatsausgaben als Ergebnis von Regeln

115

116

8. Kapitel: Wie groß ist der Staat?

Literatur zum 8. Kapitel F. Forte und J. M. Buchanan, The Evaluation of Public Services, in: Journal of Political Economy, Vol. 69, 1961, S. 107–121, deutsch in: H. C. Recktenwald, Hrsg., Finanztheorie, Köln, Berlin (Kiepenheuer und Witsch) 2. Aufl. 1970, S. 268–284. R. L. Frey, Infrastruktur, Grundlagen der Planung öffentlicher Investitionen, Tübingen, Zürich (Mohr, Polygraphischer Verlag) 1970, 2. Aufl. 1972. J. K. Galbraith, The Affluent Society, Cambridge (Cambridge Univ. Pr.) 1958. A. Hansson und Ch. Stuart, Peaking of Fiscal Sizes of Government, in: European Journal of Political Economy, Vol. 19, no. 4, 2003, S. 669–684. J. R. Hicks, The Valuation of Social Income, in: Economica, N. S., Vol. 7, May 1940, S. 105–124. S. Kuznets, Discussion of the New Department of Commerce Income Series: National Income, a New Version, in: Review of Economics and Statistics, Vol. 30, No. 3, 1948, S. 151–179. D. C. Mueller, Public Choice III, Cambridge (Cambridge University Press) 2003. R. A. Musgrave, The Theory of Public Finance, New York u. a. (McGraw Hill) 1959, Kap. 9, S. 184–201. A. Stobbe, Volkswirtschaftslehre I, Volkswirtschaftliches Rechnungswesen, Berlin u. a. (Springer) 6. Aufl. 1984. A. Wagner, Grundlegung der politischen Ökonomie, Leipzig (C. F. Winter’sche Verlagshandlung) 1876, 3. Aufl. 1892.

Wenn man in den Kongress gewählt werden will, dann muss man Gruppen sammeln, die zwei oder drei Prozent der Wähler ausmachen, und jede dieser Gruppen hat ein ganz besonderes Interesse an einem ganz bestimmten Thema, das die anderen Wähler kaum berührt. Jede Gruppe wird bereit sein, Sie zu wählen, wenn Sie ihr versprechen, dass Sie ihre Anliegen unterstützen. Dabei ist es den einzelnen Interessengruppen ganz egal, wie Sie sich zu den andern Problemen verhalten. Nehmen Sie nun diese Gruppen zusammen, dann haben Sie eine Mehrheit von 51 Prozent. Das ist die „Logrolling Majority“ – die Mehrheit, die innerhalb der einzelnen Parteien einen Kuhhandel betreibt –, die den Staat regiert. Milton Friedman 1983

9. Kapitel Warum wächst der Staat? A. Wagners Gesetz Vor 140 Jahren stellte der deutsche Gelehrte Adolf Wagner sein „Gesetz der wachsenden Staatsausgaben“ auf. Der Staat wachse in seiner „absoluten“ und „relativen Bedeutung“. Wagner fährt fort: „Eine immer grössere und wichtigere Quote der Gesammtbedürfnisse eines fortschreitenden Culturvolks wird durch den Staat statt durch andere Gemeinwirtschaften und Privatwirtschaften befriedigt.“ An den Fakten besteht heute kein Zweifel. Abbildung 9.1 und Tabelle 9.1 zeigen, dass die Staatsausgaben in den vergangenen 100 bis 150 Jahren in Deutschland, im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten rascher gewachsen sind als das Bruttonationaleinkommen. Doch welche Faktoren sind die Treiber, welche die Bremser des Wachstums der Staatsausgaben? Am Ausgangspunkt steht die Vermutung, dass das Wachstum der Staatsausgaben von den Institutionen abhängt, denn entschieden wird immer in Institutionen, insbesondere von Demokratien: Die in Abschnitt B zu behandelnde direkte Demokratie bewirkt mit ihren hohen Mehrheitsanforderungen ein geringeres Wachstum der Staatsausgaben als die in Abschnitt C zu behandelnde flexiblere repräsentative Demokratie. Umgekehrt wird das Wachstum der Staatsausgaben in der repräsentativen Demokratie durch die institutionellen Regeln des Abschnitts D, insbesondere durch die Schuldenbremse beeinflusst. Am Ende stehen sich zwei Theorien gegenüber: Die Public Choice-Theorie (die von der direkten Demokratie als Maßstab ausgeht) gehört zu den pessimistischen Theorien, die keynesianische Theorie (nach der es die Deflation zu überwinden gilt) zu den optimistischen Theorien des Wachstums der Staatsausgaben.

118

9. Kapitel: Warum wächst der Staat?

Abbildung 9.1: Die Entwicklung der Staatsausgaben in drei wesentlichen Industriestaaten Quelle: bis 1960 s. Blankart (1978) und dort angegebene Literatur, ab 1960 OECD, Eurostat, National Accounts, Vol. II, Bureau of Economic Analysis, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, verschiedene Jahrgänge und Statistisches Jahrbuch 2009 für das Ausland.

A. Wagners Gesetz Tabelle 9.1: Der Anteil der Staatsausgaben am Bruttonationaleinkommen zu Marktpreisen (1950–2009) in Prozent Kalenderjahr

BNE

Realausgaben BNE

Transfers BNE

Gesamtausgaben BNE

31,2

BR DEUTSCHLAND (BNE in Mrd. Euro) 50

16,4

14,8

1960

155

16,6

16,3

32,9

1970

393

16,0

19,3

35,3

1980

859

16,5

26,6

43,1

1990

1 433

13,7

26,2

39,9

2000

2 043

13,9

34,2

48,1

2005

2 248

13,2

33,7

46,9

2006

2 435

12,7

32,5

45,2

2009

2 525

13,6

33,4

47,0

2010

2 630

1950

GROSSBRITANNIEN (BNE in Mio. Pfund Sterling) 1950

13 280

18,4

15,2

33,6

1960

25 858

20,3

12,9

33,2 38,0

1970

51 607

22,5

15,5

1980

231 233

23,6

20,3

43,9

1990

550 043

22,6

19,9

42,5

2000

954 004

20,8

19,2

40,0

2005

1 253 430

23,2

20,7

43,9

2006

1 318 330

24,6

19,4

44,0

2009

1 423 812

27,5

23,0

50,5

USA (BNE in Mrd. US­Dollar) 1950

286

14,3

8,0

22,3

1960

530

17,6

8,3

25,9

1970

1 038

19,3

10,8

30,1

1980

2 782

18,0

13,6

31,6 34,1

1990

5 772

17,7

16,4

2000

9 983

15,1

15,0

30,1

2005

12 497

16,2

16,4

32,6

2006

13 271

16,2

16,3

32,5

2009

14 011

22,7

19,5

42,2

Quelle: OECD, Eurostat, National Accounts, Vol. II, Bureau of Economic Analysis, Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, verschiedene Jahrgänge und Statistisches Jahrbuch 2009 für das Ausland

119

120

9. Kapitel: Warum wächst der Staat?

B. Das Wachstum der Staatsausgaben in der direkten Demokratie In der direkten Demokratie bestimmt der Medianwähler den Umfang der Staatsausgaben. Wir können daher das Medianwählermodell des 7. Kapitels zur Erklärung des Wachstums der Staatsausgaben heranziehen.1 Die Nachfrage des Medianwählers nach staatlichen Leistungen lässt sich dann durch folgende Schätzgleichung charakterisieren: (9.1)

lnX = α + β lnY + γ lntp + δ lnE + u.

Dabei bedeuten: X

= von der Gesellschaft beschlossener Leistungsumfang, zusammenfallend mit der Nachfrage des Medianwählers nach staatlichen Leistungen, Y = Medianeinkommen, tp = Steuerpreis des Medianeinkommensbeziehers, E = Bevölkerungszahl, α, β, γ, δ = Parameter, u = Störglied. Danach hängt die Nachfrage des Medianwählers nach öffentlichen Gütern X von seinem Einkommen, dem Steuerpreis, dem er sich gegenübersieht und von der Bevölkerungszahl ab. Dabei stellen die Parameter β, γ und δ bei der gewählten logarithmischen Schreibweise die Elastizitäten zwischen den jeweiligen exogenen Größen und dem Umfang der öffentlichen Leistungen X dar.2 Sie sollen im Folgenden der Reihe nach behandelt werden.3

1. Die Einkommenselastizität der Nachfrage nach öffentlichen Leistungen Die Einkommenselastizität der Nachfrage nach staatlichen Leistungen β ist entsprechend der obigen Gleichung 9.1 wie folgt definiert: (9.2)

β=

∂ X/X ∂ Y/Y

Ein Wachstum der Staatsausgaben wird durch die Einkommenselastizität ceteris paribus dann hervorgerufen, wenn diese größer als null ist. Die öffentlichen Leistungen dürfen also keine inferioren Güter sein. Damit aber die Staatsausgaben auch in Prozenten des Bruttonationaleinkommens zunehmen, wie es Abbildung  9.1 nahe legt, muss die Einkommenselastizität größer als 1 sein. Staatliche Leistungen müssen also superiore Güter darstellen.

1 2 3

Hierbei gelten die im 7. Kapitel, Abschnitt C, aufgeführten Annahmen. α ist ein nicht weiter interpretierbarer Niveauparameter. Vgl. auch W. W. Pommerehne und G. Kirchgässner (1988).

B. Das Wachstum der Staatsausgaben in der direkten Demokratie Empirische Studien ergeben indessen Einkommenselastizitäten, die für die verschiedenen Ausgabenkategorien um 1 streuen.4 So gesehen lässt sich das beobachtete Wachstum des Anteils der Staatsausgaben am Nationaleinkommen nicht aus dem gestiegenen Einkommen der Individuen und aus der daraus resultierenden überdurchschnittlich wachsenden Nachfrage nach staatlichen Leistungen erklären. Nach der Einkommenselastizität der Nachfrage zu schließen, hätten die Staatsausgaben als Anteil des Nationaleinkommens etwa konstant bleiben sollen.

2. Die Steuerpreiselastizität der Nachfrage nach öffentlichen Leistungen Der nächste Kandidat zur Erklärung des Wachstums des Staatsanteils ist die Steuerpreiselastizität der Nachfrage: (9.3)

γ=

∂ X/X ∂ tp/tp

Die Steuerpreiselastizität der Nachfrage γ hat ein negatives Vorzeichen. Zu einem relativen Wachstum der Staatsausgaben kann es kommen, a. wenn entweder γ  1 und der Steuerpreis für öffentliche Güter im Vergleich zum Preis der privaten Güter fällt. Fall a. bedeutet: Die Individuen verzichten nur ungern auf die staatliche Leis-

tung, obwohl die Kosten zunehmen und damit gleichzeitig der Steuerpreis steigt. W. J. Baumol (1967) glaubt, dieser Fall liege beim Staat vor, weil dieser vielfach Dienstleistungen anbietet. Dienstleistungen, und staatliche Dienstleistungen im Besonderen, seien arbeits- und daher lohnkostenintensiv und daher für eine Rationalisierung nur in sehr beschränktem Ausmaß zugänglich. Während im industriellen Sektor Lohnkostensteigerungen durch Produktivitätssteigerungen aufgefangen werden, d. h. die Lohnstückkosten konstant bleiben, sei dies im Falle von Dienstleistungen, insbesondere staatlichen Dienstleistungen aufgrund ihrer Beschaffenheit und ihren Eigenschaften oft nur schwer möglich. Bei der Schulstunde eines Lehrers lasse sich beispielsweise nur schwer Arbeit durch Kapital substituieren oder technischer Fortschritt realisieren. Die Leistung bestehe in der Arbeit selbst. Wenn nun die Löhne im öffentlichen Sektor gleich rasch wachsen wie im privaten Sektor, so steigen die Kosten bzw. die Steuerpreise für öffentliche Dienstleistungen überdurchschnittlich. Aufgrund der niedrigen Preiselastizität sinkt die nachgefragte Menge nur unterproportional. Dies wiederum kann sich in einer steigenden Staatsausgabenquote niederschlagen. In der Literatur wird dieser Effekt als „Baumolsche Kostenkrankheit“ bezeichnet. Fall b. illustriert (abweichend von W. J. Baumol) die Büroautomatisierung durch

Computer, Telekommunikation und Digitalisierung. Die Kosten des Outputs 4

Vgl. 10. Kapitel, Tabelle 10.1.

121

122

9. Kapitel: Warum wächst der Staat? sinken, und bei preiselastischer Nachfrage leisten wir uns mehr davon. Es werden mehr staatliche Register angelegt, öffentliche Verwaltungen werden zuverlässiger, Fälle gehen seltener verloren. Die Steuereinnahmen werden besser kontrolliert. Die Rechtsstaatlichkeit nimmt zu. Öffentliche Leistungen werden bei fallendem Steuerpreis überproportional nachgefragt. Beide Fälle, a und b, führen dazu, dass öffentliche Güter privaten Gütern relativ vorgezogen werden und die Staatsausgaben anteilsmäßig steigen.

3. Das Bevölkerungswachstum Auf den ersten Blick ist zu vermuten, dass eine wachsende Bevölkerung stets auch ein Wachstum der Staatsausgaben nach sich zieht.5 Dies ist aber nicht zwangsläufig der Fall. Eine wachsende Bevölkerung erfordert nämlich dann kein Wachstum der Staatsausgaben, wenn der Staat ausschließlich reine öffentliche Güter bereitstellt. Reine öffentliche Güter erzeugen keinerlei Rivalität, sie sind von beliebig vielen Individuen nutzbar, d. h. sie zeichnen sich durch zunehmende Skalenerträge in der Nutzung, so genannte sharing economies, aus. Wenn die Bevölkerung wächst, sind keine zusätzlichen Staatsausgaben erforderlich. Ganz anders verhält sich dies jedoch bei der Absenz von Skalenerträgen in der Nutzung. Unterliegen nämlich staatliche Leistungen einer Tendenz zur Überfüllung oder Übernutzung, so herrscht Rivalität. Bei einer wachsenden Bevölkerung und einem konstanten Angebot steht dem einzelnen Individuum nicht mehr die gesamte, sondern nur noch eine verminderte Menge der öffentlichen Güter bzw. eine schlechtere Qualität davon zur Verfügung. Soll dieser Nachteil ausgeglichen werden, so müssen die Staatsausgaben steigen. Auf diese Weise kann eine wachsende Bevölkerung ein Wachstum der Staatsausgaben erfordern. Beispielsweise kommt es zur Überfüllung von öffentlichen Einrichtungen, wenn anlässlich eines wichtigen Fußballspiels viele Touristen in eine Stadt einströmen und die lokalen Infrastrukturen in Anspruch nehmen. Die zusätzlichen Menschen erfordern ein Mehr an Polizeikräften, an öffentlichen Nahverkehrsmitteln usw. Diese Erscheinungen zeigen, dass die betrachteten Infrastrukturen offenbar keine reinen öffentlichen Güter darstellen. In empirischen Studien wird der Grad der Rivalität durch die in 9.4 wiedergegebene Bevölkerungselastizität δ erfasst: (9.4)

δ=

∂ X/X ∂ E/E

Dieser Parameter gibt jedoch nicht nur die Überfüllungswirkung wieder, sondern auch den Substitutionseffekt, d. h. die Abnahme der Nachfrage nach öffentlichen Leistungen, weil diese infolge der Überfüllung bei gleicher Qualität jetzt relativ teurer geworden sind. Wird der Substitutionseffekt herausgerechnet, so ergibt sich den meisten empirischen Studien zufolge eine bereinigte 5

In diese Richtung tendiert auch das so genannte „Brechtsche Gesetz“, das den Grund für wachsende Staatsausgaben in der zunehmenden Bevölkerungsagglomeration sieht.

B. Das Wachstum der Staatsausgaben in der direkten Demokratie Bevölkerungselastizität von nahezu 1,6 was auf einen privaten Charakter der staatlichen Leistungen hindeutet.7 So gesehen sollte das Bevölkerungswachstum durchaus einen Einfluss auf das Wachstum der Staatsausgaben ausüben. Allerdings wirkt dieser Einfluss bei den gegebenen Eigenschaften öffentlich bereitgestellter Güter weder steigernd noch dämpfend auf den Staatsausgabenanteil in Prozenten des Bruttonationaleinkommens. Bei wachsender Bevölkerung weisen öffentliche Güter die gleichen Eigenschaften auf wie private Güter. Ihre Nachfrage wächst eins zu eins mit der Nachfrage nach privaten Gütern.

4. Umverteilung Als mittlerer Wähler entscheidet der Medianwähler nicht nur über das Angebot öffentlicher Güter, sondern auch über das Ausmaß an Umverteilung. Stellt man sich alle Wähler wie in Abbildung 5.1 nach der Höhe ihres Einkommens der Reihe nach aufgestellt vor, so steht der Medianwähler mit seinem Einkommen in der Regel links neben dem Wähler, der das Durchschnittseinkommen bezieht. Deswegen erwarten A. H. Meltzer und S. F. Richard (1981), dass der Medianwähler und mit ihm die Mehrheit der Wähler so lange für eine größere Umverteilung stimmen und den Umfang der Staatstätigkeit ausdehnen, als sie davon profitieren. Sobald dies nicht mehr zutrifft, bricht die Mehrheit für mehr Umverteilung und mehr Staatsausgaben zusammen (A. Stutzer und L. Kienast, 2005). Denn der zu verteilende Kuchen wird immer kleiner. Daher geht der Umfang der Umverteilung allmählich zurück. Modelle, die eine Umverteilung ohne Grenzen voraussagen, und so ein trendmäßiges Wachstum der Staatsausgaben abbilden, sind wegen der stets begrenzten Ressourcen schwer aufrechtzuerhalten und werden in diesem Kapitel nicht weiter vertieft.

5. Was sagen die Schätzergebnisse zum Medianwählermodell? Mit dem Medianwählermodell lässt sich der Studie von T. E. Borcherding (1977) zufolge nur knapp die Hälfte des tatsächlichen Wachstums der amerikanischen Staatsausgaben von 1902 bis 1978 erklären. Für Länder wie Deutschland dürfte die Situation nicht viel anders aussehen.8 Daher werden in Abbildung  9.2 zwei Expansionspfade der Staatsausgaben unterschieden: der Expansionspfad 1 bei ausschließlich direkter Demokratie und der etwa doppelt so steile Expansionspfad 2, wenn eine repräsentative Demokratie unterstellt wird, die alle Staatsausgaben umfasst. 6 7

8

Zur Berechnungstechnik vgl. W. W. Pommerehne (1974). Einen Überblick über die verschiedenen empirischen Studien geben M. Reiter und A. Weichenrieder (1997). Ohne dass allerdings Ausschluss notwendigerweise praktiziert werden kann. Die staatlichen Dienstleistungen stellen also im Durchschnitt mehr Allmendegüter als öffentliche Güter dar. Dies zeigen Untersuchungen für Kanada, Belgien und die Schweiz, vgl. W. W. Pommerehne (1987, Kap. 6).

123

124

9. Kapitel: Warum wächst der Staat?

Abbildung 9.2: Wachstum der Staatsausgaben bei direkter und bei repräsentativer Demokratie

C. Erklärung des Staatsausgabenwachstums in einer repräsentativen Demokratie Die Staatsausgaben nach Kurve 2 in Abbildung 9.2 liegen etwa doppelt so hoch wie die Staatsausgaben nach Kurve 1. Diese Mehrausgaben erscheinen in der direkten Demokratie nicht. Sie sind offenbar der repräsentativen Demokratie zuzuschreiben. Das zu lösende Problem lautet also: Mit welchen Theorien lassen sich diese Mehrausgaben der repräsentativen Demokratie erklären, und wie lässt sich die Lücke zwischen Kurve 1 und Kurve 2 erklären?

1. Stimmentausch Im Modell der direkten Demokratie nach Gleichung (9.1) wird eine Vorlage nach der anderen zur Abstimmung gestellt, bis die letzte gerade noch angenommen wird. Dieses Ergebnis wird dann erreicht, wenn viele Wähler abstimmen, genau gesagt eine so große Anzahl abstimmt, dass es ihnen unmöglich ist untereinander zu verhandeln und durch Koalitionsbildung ein Abstimmungsergebnis zu erreichen, das vom Entscheid des Medianwählers abweicht. Im Medianwählermodell jedoch bestimmt ausschließlich der Medianwähler den Umfang der Staatsausgaben für die gesamte Bevölkerung. Ist die Zahl der Wähler geringer, so kommt es häufig zu Verhandlungen unter den Wählern. Der amerikanische Ökonom Gordon Tullock (1922–2014) zeigt, dass wenn die Zahl der Abstimmenden vermindert wird und Verhandlungen unter ihnen möglich werden, diese das Wachstum der Staatsausgaben nach oben ziehen. Denn unter wenigen Wählern ist ein Stimmentausch, ein sogenanntes

C. Erklärung des Staatsausgabenwachstums Logrolling möglich. Minderheiten können ihre Lieblingsvorhaben durch Koalitionen gegenseitig unterstützen, eine Mehrheit erzielen und die Kosten auf eine Minderheit verteilen (G. Tullock, 1959). G. Tullock illustriert dies anhand einer Demokratie in einem kleinen Dorf irgendwo im Mittleren Westen der USA. Der Interstate Highway verläuft von Osten nach Westen. Links und rechts davon liegen insgesamt 100 Farmen, von denen jede durch eine eigene Zufahrtsstraße mit dem Highway verbunden ist. Eigentlich stellen alle diese Zufahrtstraßen private Güter dar, deren Instandhaltung Sache der jeweiligen Farmer ist. Ein Antrag eines Einzelnen auf Finanzierung seiner Zufahrtstraße auf Kosten der Allgemeinheit scheint nicht mehrheitsfähig und daher aussichtslos. Bei privater Instandhaltung ist der Umfang der Instandhaltung gerade richtig. Die Teilgruppe der Farmer ist aber klein genug, um unter sich verhandeln zu können. 51 der 100 Farmer können sich zusammentun, ihre Stimmen vereinigen und eine Vorlage einbringen, die vorsieht, ausschließlich ihre eigenen 51 Straßen, nicht jedoch die der anderen Farmer, auf Kosten der Allgemeinheit zu reparieren. Dadurch wird jeder der 51 Farmer begünstigt. Es liegt eine Stimmentausch- oder Logrolling-Koalition vor, d. h. eine Koalition, in der jeder für den anderen der Koalition stimmt.9 Von den Kosten der Reparatur seiner eigenen Zufahrtstraße trägt das Mitglied einer solchen Logrolling-Koalition im Durchschnitt nur 51 Prozent. Dadurch werden nicht nur Kosten vom privaten in den staatlichen Sektor verschoben, sondern es werden, weil den Koalitionären die Projekte kostengünstig erscheinen, auch zu viele Zufahrtsstraßen repariert (gold plating).10 Die Minderheit finanziert die Projekte der Mehrheit mit. Sie kann zwar dagegen zunächst nichts ausrichten, aber sie kann warten, bis sich eine Gelegenheit bietet, selbst eine Stimmentausch-Koalition zu bilden. Über mehrere Projekte kommt es dann zu einem Karussell von Stimmentauschrunden, das fortlaufend neue, in jedem einzelnen Fall überhöhte Staatsausgaben generiert.11 Der Expansionspfad der Staatsausgaben in Abbildung 9.4 verschiebt sich von Kurve 1 in Richtung von Kurve 2. Offenbar handelt es sich bei diesem Karussell um ein dynamisches Modell ohne Grenzen, das geeignet ist, zum steileren Expansionspfad 2 in Abbildung 9.4 beizutragen. G. Tullocks Stimmentausch unter 100 Abstimmenden steht für den Stimmentausch im Parlament einer repräsentativen Demokratie, die ebenfalls nur relativ wenige Abgeordnete umfasst und daher Stimmentausch möglich macht. In Senat und Repräsentantenhaus der USA wird der Stimmentausch als die treibende Kraft des Staatsausgabenwachstums angesehen. Aber auch in Deutschland gibt es Stimmentausch. Sonst fänden sich für die vielen partikulären Wahlversprechen gar keine Mehrheiten. Nur findet der Stimmentausch in Deutschland 9 10 11

Unterschieden wird in der Literatur zwischen explizitem und implizitem Stimmentausch, je nachdem ob über jede Vorlage einzeln oder ob im Paket abgestimmt wird. Vgl. D. C. Mueller (1987), S. 129 f. Ein ähnliches Szenario liegt auch dem Umverteilungsmodell im 5. Kapitel zugrunde. Dort ist gezeigt worden, dass sich hinsichtlich einer Umverteilungsfrage unendlich viele Mehrheitskoalitionen bilden können, und dass das Wachstum des Sozialstaates als Konsequenz solcher Mehrheiten betrachtet werden kann.

125

126

9. Kapitel: Warum wächst der Staat? vorgelagert auf der Ebene der Koalitionsverhandlungen statt, während später im Parlament strikter Fraktionszwang herrscht (vgl. 30. Kapitel).

2. Mancur Olsons Theorie der Interessengruppen Um eine Stimmentauschkoalition aufstellen zu können, muss sich eine Gruppe erst einmal zu einer Interessengruppe organisieren. Alle Angehörigen der Gruppe müssen zur Durchsetzung der gemeinsamen Interessen beitragen. Das ist nicht trivial; denn die gemeinsamen Interessen stellen für die Gruppenangehörigen ein öffentliches Gut dar. Jeder möchte gerne profitieren, aber keiner etwas beitragen. Unter den hundert Landwirten in G. Tullocks Beispiel mag das noch möglich sein, unter Millionen von Landwirten in den USA ist das schon schwieriger. Der amerikanische Ökonom Mancur Olson (1932–1998) hat hierzu wesentliche Ideen beigetragen. Er stellte genau genommen zwei Theorien auf. Seine erste Theorie (M. Olson, 1965) lautet, dass nicht alle potentiell in einer Gesellschaft vorhandenen Interessen imstande sind, sich gleich gut zu politisch relevanten Gruppen zu organisieren. Kleine Gruppen mit begrenzten Interessen (sagen wir die Eierproduzenten) haben es leichter als große Gruppen mit diffusen Zielen (wie z. B. die Steuerzahler). Der Grund hierfür liegt im Freifahrerproblem, das sich bei jeder Gruppenbildung stellt. Das gemeinsame Gruppenziel, z. B. eine Subvention für die eigene Branche zu erreichen, ist für jeden Gruppenangehörigen ein öffentliches Gut, an dem er auch dann teilhat, wenn er nichts zu dessen Realisierung beigetragen hat. Dieses Freifahrerproblem wiegt aber bei kleinen Gruppen weniger schwer als bei großen Gruppen. Die Interessenvertretung in der Politik dürfte also zugunsten kleiner Gruppen verzerrt sein (Leserinnen und Leser mögen sich an das 7. Kapitel erinnern, wo Unterschiede des Individualverhaltens zwischen kleinen und in großen Gruppen schon erörtert worden ist).12, 13 Zum Verständnis des Wachstums der Staatsausgaben ist aber insbesondere M. Olsons zweite Theorie wichtig (M. Olson, 1982). Sie besagt, dass Zahl und Macht der Interessengruppen über die Zeit wachsen und das Wirtschaftswachstum beschränken, wenn die institutionellen Rahmenbedingungen stabil bleiben. Eine stabile äußere Umgebung schaffe das nötige Vertrauen, in welchen es auch Großgruppen gelinge, das Freifahrerproblem zu überwinden und eine Interessengruppe zu bilden. Wenn die so organisierten Gruppen dann zusätzliche Stimmentauschgeschäfte abschließen, so sei anzunehmen, dass die Staatsausgaben zunehmen und das Wirtschaftswachstum zurückgehe. Umgekehrt sind turbulente Zeiten für Interessengruppen schlechte Zeiten. Das Institutionengefüge bricht zusammen und mit ihm brechen die Interessengrup12 13

Eine frühe Darstellung dieser These findet sich auch bei K. Schmidt (1966). M. Olson betrachtet desweiteren auch solche Interessengruppen als organisationsfähig, die ihren Mitgliedern private Güter verkaufen und das öffentliche Gut der Interessenpolitik sozusagen nebenbei bereitstellen (so genannte Beiprodukttheorie). Ferner erwähnt er die Bedeutung des staatlichen Zwangs zur Erleichterung der Gruppenbildung (z. B. staatliche Zwangsmitgliedschaft in Kammern).

C. Erklärung des Staatsausgabenwachstums pen zusammen, die sich bisher am Institutionengefüge festgehalten haben. Weniger Interessengruppen vermindern den politischen Interventionismus und das Wachstum der Staatsausgaben. Daher sind Zeiten sozialer Umwälzungen günstig für das Wirtschaftswachstum, stabile Zeiten dagegen ungünstig. So habe der 1945 verlorene Zweite Weltkrieg in Deutschland und in Japan die alten Interessengruppenstrukturen zusammenbrechen lassen. Einst mächtige Interessengruppen der Nazi- und Militärdiktatur seien verschwunden und hätten das Tor zum Wettbewerb geöffnet. So seien die Wirtschaftswunder Deutschlands und Japans für die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zu verstehen.14

3. Amilcare Puviani und die Fiskalillusion als Beschleuniger der Staatsausgaben Staatshaushalte können auch wachsen, weil es im Interesse der Machthaber liegt, die Kosten des Staates systematisch zu tief und die Vorteile des Staates zu hoch anzugeben. Insbesondere italienische Ökonomen äußern eine solch finstere Sicht des Staates. Der Polit-Ökonom G. Mosca (1923) sieht den Staat als Instrument der herrschenden Klasse. A. Puviani (1903) beschreibt den Herrscher als einen Meister von Tarnen und Täuschen. Seiner Meinung nach erheben Herrscher die Steuern so, dass die Bürger diese möglichst wenig wahrnehmen und sie daher systematisch unterschätzen. Beispiele solcher Finanzierungen seien die Kredit- und Inflationsfinanzierung der Staatsausgaben, zeitlich verschobene Steuern, Schenkungsteuern, provisorische Steuern, die dann erhalten bleiben, Besteuerung wohlhabender Minderheiten, Steuern verbunden mit der Drohung, die staatliche Leistungseinstellung einzustellen, falls die Steuerzahlungen nicht eingehen, unterlassene Rechenschaft, intransparente Steuerdebatten und wohlklingende Steuerbezeichnungen (wie Gemeinschaftsabgabe). All das seien Zeichen der Fiskalillusion, die bewirken, dass die Bürger mehr Steuern bezahlen, als sie eigentlich wollen. In Deutschland werden positiv belegte Ausdrücke wie „Solidaritätszuschlag“ für eine Steuer, die wie jede andere Steuer in den allgemeinen Staatshaushalt einfließt, verwendet. Auch das Wort Umlage statt Steuer, z. B. EEG-Umlage, soll Fiskalillusion zu erzeugen, um den wahren Umfang von Steuern zu verschleiern und zu untertreiben, also umgekehrt den Expansionspfad in Abbildung 9.4 anzuheben. Alle diese Faktoren tragen nach A. Puviani zum Wachstum der Staatsaugaben bei. W. W. Pommerehne und Fr. Schneider (1978) haben die Hypothese der Fiskalillusion in einer ökonometrischen Studie über 110 Schweizer Gemeinden des Jahres 1970 untersucht und herausgefunden, dass Regierungen direkter Demokratien weniger auf Fiskalillusion setzen als Regierungen indirekter, parlamentarischer Demokratien. In direkten Demokratien (in denen laufend Abstimmungen stattfinden) haben die Wähler die Regierung über Abstimmungen stets unter Kontrolle. Die Regierung muss ihre Ausgaben permanent rechtfertigen. In par14

Worauf Olson besonderen Wert legt: Staaten mit zerstörten Interessenstrukturen weisen ein hohes, Staaten mit überkommenen Interessensstrukturen ein niedriges Wirtschaftswachstum auf.

127

128

9. Kapitel: Warum wächst der Staat? lamentarischen Demokratien ist dagegen Rechenschaft nur zum Wahlzeitpunkt erforderlich. Zum Wahlzeitpunkt muss die Regierung Erfolge vorweisen. Daher drosselt sie auf den Wahlzeitpunkt hin die besonders sichtbaren Personalausgaben und lässt sie danach wieder ansteigen.

4. Diäten und andere politische Einkommen Besondere Staatsausgaben sind die Diäten. Denn Diäten ergeben sich nicht aus dem politischen Wettbewerb gegnerischer Parteien, sondern aus dem Konsens der Abgeordneten aller Parteien. Alle Abgeordneten sind sich darin einig, dass ihnen höhere Gehälter zustehen. Darum gibt es über Diäten nur wenig parlamentarischen Aufruhr (H. H. von Arnim, 2011). Diäten stellen indessen nur einen Teil des politischen Einkommens von Abgeordneten dar. Wenn R. J. Barro (1973) von politischem Einkommen spricht, dann meint er nicht in erster Linie Diäten. Diäten reichen zwar aus, um Politikern ein auskömmliches Leben zu sichern. Doch für Interessengruppen ist ein Politiker oft dann besonders wertvoll, wenn er aus ihren Anliegen politikrelevante Gesetzesvorlagen machen kann. Hierfür sind Interessengruppen auch bereit ihre Politiker zu bezahlen. Umgekehrt stellt für Politiker der Einstieg in die Interessenpolitik eine Chance dar, ihr späteres Einkommen nach dem Ausscheiden aus der Politik zu ergänzen und abzusichern. Erst durch die Aussicht auf solche spätere Zusatzeinkommen wird für viele Interessenvertreter der Einstieg in die Politik überhaupt attraktiv. Doch R. J. Barro (1973) warnt, dass solche politischen Einkommen keine Monopoleinkommen sind. Denn Politiker stehen bezüglich dieser Einkommen untereinander im Wettbewerb. Politiker, die für ihre Dienste niedrigere Preise verlangen, werden von der Wirtschaft bevorzugt. Doch ganz auf null lässt sich das politische Einkommen nicht reduzieren, weil sich sonst niemand mehr als Politiker zur Verfügung stellen würde. All das schlägt sich letzten Endes in zunehmenden Staatsausgaben nieder.

5. Gibt es ein Ende des Wachstums der Staatsausgaben? Politiker finden immer eine Begründung, die Staatausgaben auszudehnen. Doch wo liegt denn die Grenze? Setzt die Wirtschaft dem Staat eine Grenze, weil Staatsschulden zu teuer werden oder gibt es institutionelle Grenzen? Chr. Priesmeier (2012) sowie G. B. Köster und Chr. Priesmeier (2013) sind dieser Frage in mehreren Arbeiten nachgegangen. Mit Hilfe von fortgeschrittenen Ko-Integrationsmodellen finden sie für Nachkriegsdeutschland eine wechselseitige Anpassung von Staat und Wirtschaft. Bis zur Ölkrise von 1973 war die wechselseitige Anpassung in Deutschland stabil. Wagners Gesetz und das Bruttonationaleinkommen gingen Hand in Hand. Das Wachstum des Bruttonationaleinkommens hielt Schritt mit dem Anstieg der Staatsausgaben. Doch mit den wirtschaftlichen und finanzpolitischen Verwerfungen der ersten Ölkrise von 1973 ist diese Stabilität verloren gegangen. Die beiden Größen drifteten auseinander. Das Wachstum des Bruttonationaleinkommens hielt nicht mehr Schritt mit dem Anstieg der Staatsausgaben.

D. Zusammenfassung des 9. Kapitels und Schlussfolgerungen Staatsausgabenerhöhungen – zum Teil noch ergänzt durch Steuervergünstigungen – gefährdeten von da an die Stabilität von Einnahmen und Ausgaben. Destabilisierend wirkte zusätzlich die deutsche Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990, in deren Gefolge die Löhne in den neuen Bundesländen durch ein umfangreiches Transferprogramm auf Westniveau gehievt wurden und so das Wagnersche Gesetz anfeuerten, während der Beitrag der Wirtschaft hinterherhinkte. Chr. Priesmeier (2012) sowie G. Koester und Chr. Priesmeier (2013) schließen aus ihrer Analyse, dass exogene Faktoren wie die Schuldenbremse erforderlich sind, um die Ansprüche des Wagnerschen Gesetzes mit der Leistungskraft der Wirtschaft im Einklang zu halten. Doch genau an der Schuldenbremse trennen sich die Geister. Keynesianische Ökonomen verweisen auf die derzeit niedrigen Zinsen am Kapitalmarkt (vgl. 17. Kapitel). Diese seien ein Ergebnis des Bestrebens der Individuen, für ihr immer länger werdendes Lebensalter vorzusorgen. Alterssparen sei jedoch zinsunelastisch und nur durch den Überlebenswillen der Individuen bestimmt. Solange der Wirtschaft diese Ersparnis zur Verfügung stehe, und die Zinssätze daher niedrig seien, gebe es für ihn keinen Grund, die Staatsausgaben einzuschränken. Höhere Zinsen (wenn sie dann kommen) werden die Politiker dann schon zu einer Einschränkung der Staatausgaben zwingen. Doch solche seien derzeit nicht in Sicht. Eine Schuldenbremse sei nicht erforderlich (C. C. v. Weizsäcker 2011).

D. Zusammenfassung des 9. Kapitels und Schlussfolgerungen Die Staatsausgaben sind in den vergangenen hundertvierzig Jahren immer mehr angestiegen. Dies lässt sich teilweise durch die Nachfrage des Medianwählers nach staatlichen Leistungen erklären. Berechnungen zeigen aber, dass das tatsächliche Wachstum der Staatsausgaben weit über das Wachstum der Medianwählernachfrage hinausgeht. Interessengruppen bilden Stimmentauschkoalitionen und drücken mit ihren Sonderwünschen die Staatsausgaben weiter nach oben. Stößt das Wachstum der Staatsaugaben irgendwann einmal an die Grenze der Finanzierbarkeit? Ein Teil der Ökonomen befürchtet, dass die Finanzierbarkeit keine hinreichende Grenze setzt. Sie halten dafür, dass das Wachstum der Staatsausgaben durch eine Schuldenbremse zurückgehalten werden muss. Demgegenüber sind keynesianische Ökonomen zuversichtlich. Sie sehen keine Gefahr, solange die Sparer bereit sind, die zusätzlichen Staatsausgaben durch Ersparnisse zu finanzieren, so dass die Zinsen niedrig bleiben. Sie sehen sich in den Niedrigzinsen in ihrem Vertrauen auf die Spartätigkeit bestätigt und halten eine Einschränkung der Staatstätigkeit nicht für so vordringlich (vgl. 17. Kapitel).

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9. Kapitel: Warum wächst der Staat?

Wichtige Begriffe des 9. Kapitels Wagnersches Gesetz Direkte Demokratie Baumolsche Kostenkrankheit zunehmende Skalenerträge in der Nutzung Überfüllung öffentlicher Einrichtungen repräsentative Demokratie Stimmentausch Stimmentauschrunden Gruppengröße Fiskalillusion politisches Einkommen

Literatur zum 9. Kapitel H. H. von Arnim, Politische Parteien im Wandel: Ihre Entwicklung zu wettbewerbsbeschränkenden Staatsparteien – und was daraus folgt, Berlin (Duncker & Humblot) 2011. R. J. Barro, The Control of Politicians: An Economic Model, Public Choice, Vol. 14, Spring 1973, S. 19–42. W. J. Baumol, Macroeconomics of Unbalanced Growth: The Anatomy of Urban Crisis, American Economic Review, Vol. 57, 1967, S. 415–426. Ch. B. Blankart, Neuere Ansätze zur Erklärung des Wachstums der Staatsausgaben, Ein interpretierender Überblick, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 22. Jahr, 1977, S. 73–91. Ch. B. Blankart, Zunehmende Skalenerträge in der Nutzung als wohlfahrtsökonomisches Problem, in: E. Helmstädter, Hrsg., Neuere Entwicklung in den Wirtschaftswissenschaften, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F. Bd. 98, Berlin (Duncker und Humblot) 1978, S. 319–337. Ch. B. Blankart, Aufwertung der Ostmark um 300 Prozent? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.3.1990, S. 12. T. E. Borcherding und R. Deacon, The Demand for Services of Non-Federal Governments, American Economic Review, Vol. 62, No. 6, 1972, S. 891–901. T. E. Borcherding, The Sources of Growth of Public Expenditures, 1902–1970, in: T. E. Borcherding, Hrsg., Budgets and Bureaucrats: The Sources of Government Growth, Durham (Duke Univ. Press) 1977, S. 45–70. T. E. Borcherding, The Causes of Government Expenditure Growth: A Survey of the U. S. Evidence, Journal of Public Economics, Vol. 28, 1985, S. 359–382. J. M. Buchanan, Public Finance in Democratic Process, Chapel Hill (Univ. of North Carolina Press) 1967. G. Kirchgässner, L. P. Feld und M. R. Savioz, Direkte Demokratie. Modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig, Basel, München (Helbing und Lichtenhahn, Vahlen) 1999. G.B. Koester und Chr. Priesmeier, Does Wagner’s Law Ruin the Sustainability of German Public Finances?, Finanz-Archiv, vol. 69(3) 2013, S. 256–288. N. Machiavelli, Il Principe 1513, Der Fürst, Frankfurt am Main (Insel) 2001. A. H. Meltzer und S. F. Richard, A Rational Theory of the Size of Government, Journal of Political Economy, Vol. 89, Oct. 1981, S. 914–927. D. C. Mueller, Public Choice III, Cambridge (Cambridge University Press) 2003. D. C. Mueller, The Growth of Government, A Public Choice Perspective, IMF Staff Papers, Vol. 34, 1987, S. 115–149. W. E. Oates, Fiscal Federalism, New York (Harcourt Brace Jovanovich) 1972. M. Olson, The Logic of Collective Action, Boston (Harvard Univ. Press) 1965, deutsch: Die Logik des kollektiven Handelns, Tübingen (Mohr) 1968.

D. Zusammenfassung des 9. Kapitels und Schlussfolgerungen M. Olson, The Rise and Decline of Nations: Economic Growth, Stagflation, and Social Rigidities, New Haven (Yale Univ. Pr.) 1982, deutsch: Aufstieg und Niedergang von Nationen. Ökonomisches Wachstum, Stagflation und soziale Starrheit, Tübingen (Mohr) 1985. A. T. Peacock und J. Wiseman, The Growth of Public Expenditure in the United Kingdom, 1961, 2. Aufl. London (Allen & Unwin) 1961 sd. ed. 1967. W. W. Pommerehne, Determinanten öffentlicher Ausgaben – Ein einfaches politischökonomisches Modell, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 110. Jg., No. 3, 1974, S. 455–491. W. W. Pommerehne, Institutional Approaches to Public Expenditures: Empirical Evidence From Swiss Municipalities, Journal of Public Economics, Vol. 9, No. 1, 1978, S. 163–201. W. W. Pommerehne und F. Schneider, Fiscal Illusion, Political Institutions, and Local Public Spending, Kyklos, Vol. 31, Fasc. 3, 1978, S. 381–408. Chr. Priesmeier, Dynamic Interactions Between Public Finances and Economic Activity in Germany, Baden-Baden (Nomos) 2012. A. Puviani, Teoria della illusione finanziaria, Mailand (Remo Sandro) 1903, deutsch: Die Illusion in der öffentlichen Finanzwirtschaft, mit einer Einführung von G. Schmölders, Berlin (Duncker und Humblot) 1960. M. Reiter und A. Weichenrieder, Are Public Goods Public? A Critical Survey of the Demand Estimates for Local Public Services, Finanzarchiv, N. F. Bd. 54, 1997, S. 374–408. D. Rodrik, Why Do More Open Economies Have Bigger Governments? Journal of Political Economy, Vol.106, 1998, S. 999–1032. Ch. K. Rowley und R. D. Tollison, Peacock and Wiseman on the growth of public expenditure, Public Choice, vol. 78, No. 2, 1994, S. 125–128. K. Schmidt, Entwicklungstendenzen der öffentlichen Ausgaben im demokratischen Gruppenstaat, Finanzarchiv, N. F. Bd. 25, 1966, S. 213–241. G. G. Schulze und H. W. Ursprung, Globalisation of the Economy and the Nation State, The World Economy, Vol. 22, No. 3, 1999, S. 295–1032. A. Stutzer und L. Kienast, Demokratische Beteiligung und Staatsausgaben: Die Auswirkungen des Frauenstimmrechts, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Vol 141, Not. 4, 2005, S. 617–650. V. Tanzi und L. Schuknecht, Public Spending in the 20 th. Century: A Global Perspective, Cambridge (Cambridge Univ. Pr.) 2000. G. Tullock, Problems of Majority Voting, Journal of Political Economy, Vol. 67, Dec. 1959, S. 571–579. A. Wagner, Grundlegung der politischen Oekonomie, Erster Theil, Grundlagen der Volkswirthschaft, Leipzig (C. F. Wintersche Verlagshandlung) 1892. C. C. von Weizsäcker, Staatliches Gewaltmonopol, Staatsverschuldung und individuelle Vorsorge, Walter-Adolf-Jöhr-Vorlesung, St. Gallen 2011.

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II. Teil Steuern und Staatsschuld

[Die] Höhe der Steuer muss sich durch die Werthung bestimmen; derart, dass Jeder nur beiträgt zu Collectivbedürfnissen höherer Intensität als der desjenigen Bedürfnisses, welches den individuellen Werthstand ergibt. E. Sax (1887)

10. Kapitel Wie soll besteuert werden? A. Besteuerungsprinzipien im Überblick Mit diesem Kapitel des Buches beginnt die Besteuerungslehre der Kapitel 10 bis 16. Zunächst ist festzuhalten: Alle Steuern müssen bedingungslos bezahlt werden. Steuerpflichtige können ihnen nicht entgehen. Umgekehrt ist eine Regierung gegenüber den Steuerpflichtigen nicht bedingungslos verpflichtet. Eine Steuer ist nach § 3 der Abgabenordnung eine Leistung ohne Anspruch auf Gegenleistung. Darum ist die Regierung grundsätzlich frei über die Verwendung des Steuerertrags zu entscheiden. Eine Steuer kann jedoch eine Gegenleistung beinhalten und so für die Besteuerten akzeptabel sein. Allgemein gilt: Eine Steuer genügt dem Äquivalenzprinzip, wenn die staatliche Gegenleistung für die Steuerpflichtigen, nach ihrem Urteil der Geldleistung entspricht, die sie dafür aufbringen. Nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip soll dagegen eine gegebene Steuerlast gerecht nach der Leistungsfähigkeit auf die Steuerzahler verteilt werden. Ob die Gegenleistung des Staates für die Steuerpflichtigen der Leistung entspricht, die sie erbracht haben, wird nicht näher geprüft. Das Leistungsfähigkeitsprinzip verlangt nur, dass jedem Steuerzahler das gleiche Opfer als Last, d. h. Nutzeneinbuße auferlegt wird. Da sich aber der Nutzen nicht objektiv messen lässt, hat es die Regierung weitgehend in der Hand, wie hoch sie die Besteuerung festlegen will. Das Äquivalenz- und das Leistungsfähigkeitsprinzip werden in den folgenden Abschnitten B bzw. C diskutiert. Bei vielen Steuern bemüht sich der Staat jedoch gar nicht um eine Rechtfertigung aus Äquivalenz- oder Leistungsfähigkeitsprinzip. Denn er will schlicht Einnahmen erzielen. Daher ziehen es Regierungen vor eine Vielzahl von Steuern statt nur eine einzige große Steuer

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10. Kapitel: Wie soll besteuert werden? zu erheben (Abschnitt D). Eine Zusammenfassung der Besteuerungsgrundsätze erfolgt Abschnitt E.

B. Das Äquivalenzprinzip 1. Gleiche Individuen Am besten ist es, wenn die Individuen, mit den Steuern, die sie tragen müssen, einverstanden sind. (1) Konsens ist eine notwendige Bedingung für die Erfüllung des Äquivalenzprinzips. Konsens wird erreicht, wenn von n Individuen mit gleicher marginaler Zahlungsbereitschaft MZBi jedes eine Kopfsteuer in der Höhe dieser seiner marginalen Zahlungsbereitschaft MZBi trägt. (2) Doch eine solche Kopfsteuer ist jedoch erst eine notwendige Bedingung für das Äquivalenzprinzip. Hinreichend ist die Kopfsteuer (bei gleichen Individuen) erst, wenn der Steuerertrag n tp = ΣMZBi = T die Grenzkosten GK der Bereitstellung des öffentlichen Gutes deckt. Daher gilt: In einer Welt von n gleichen Individuen stellt eine kostendeckende Kopfsteuer n tp = ΣMZBi = T = GK die notwendige und hinreichende Bedingung für die Erfüllung des Äquivalenzprinzips bei gleichen Individuen dar: Alle Individuen stimmen zu, wenn jedes Individuum die gleiche Steuer trägt und diese Steuer insgesamt die Grenzkosten GK deckt. Bei gleichen Individuen und ungleichen Steuern würden Konsens und/oder Kostendeckung verfehlt. Folglich müssten die Steuern erst auf das gleiche Niveau gebracht und Kostendeckung erzielt werden. Dann gilt: (10.1) tp = MZBi = Kopfsteuer (10.2) n tp = Steuerertrag T (10.3) T = GK Abbildung  10.1 stellt den Fall dar, dass alle drei Bedingungen erfüllt sind: ∑MZBi = n tp = T = GK. Wenn ΣMZBi = n tp = T (Kopfsteuer), wenn T= GK = kostendeckend, dann entspricht eine Kopfsteuer dem Äquivalenzprinzip.

B. Das Äquivalenzprinzip

Abbildung 10.1: Die Besteuerung nach dem Äquivalenzprinzip bei gleichen Individuen

2. Individuen mit unterschiedlichen marginalen Zahlungsbereitschaften Wenn sich die Wertschätzungen der Individuen nach öffentlichen Gütern unterscheiden, müssen unter dem Äquivalenzprinzip die Steuerbelastungen angepasst werden. Individuen mit intensiven Präferenzen müssen mehr, solche mit weniger intensiven Präferenzen weniger bezahlen, damit wieder Einstimmigkeit erzielt wird. Denn es gilt: Bei einem öffentlichen Gut konsumieren alle Individuen die gleiche Menge. Folglich müssen die Steuerbelastungen ungleich sein. Das hat schon vor vielen Jahren der schwedische Finanzwissenschaftler K. Wicksell (1896) so gesehen. Wenn ein Vorschlag zunächst keine Einstimmigkeit auf sich vereinigt, so muss die Steuerlastverteilung oder auch die Menge so lange verändert werden, bis jedes Individuum zustimmen kann. Gelingt das nicht, so lohnt sich das Vorhaben offenbar nicht. Wenn es jedoch gelingt, so ist jedes Individuum entscheidend. Der Vorschlag ist insgesamt Pareto-verbessernd, weil jedes einzelne Individuum zustimmt. Es findet keine Aggregation der Präferenzen statt. Jedes Individuums Präferenz wird neben die Präferenz jedes anderen Individuums gestellt. Jedes Individuum bleibt autonom. Es kann sein Veto einlegen. Eine Zusammenfassung aller Präferenzen zu einer gemeinsamen Präferenz findet nicht statt. Um K. Wicksells Anliegen zu verdeutlichen, wird die Umgebung des Punktes G in Abbildung 10.2 noch einmal vergrößert gezeichnet. Infolge unterschiedlicher Einkommen fallen die Kurven der marginalen Zahlungsbereitschaft jetzt auseinander. Von den hier betrachteten drei Individuen (stellvertretend für drei Gruppen) befürwortet beim Steuerpreis tp nur noch Individuum 2 (mit MZB2) die Menge X*. Individuum 3 hat ein höheres Einkommen und fragt daher (bei

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10. Kapitel: Wie soll besteuert werden?

Abbildung 10.2: Besteuerung nach dem Äquivalenzprinzip bei Individuen mit unterschiedlichen marginalen Zahlungsbereitschaften

positiver Einkommenselastizität) mehr, nämlich XB, nach. Individuum 1 tritt wegen seines niedrigen Einkommens für weniger, nämlich XA, ein. Da aber vom öffentlichen Gut X jeder die gleiche Menge konsumiert, gerät der für den Fortbestand der Gemeinschaft erforderliche Konsens in Gefahr. Die Gebietskörperschaft droht auseinanderzubrechen. Konsens wird jedoch erreicht, wenn die Belastung von Individuum  3 auf tp’’ erhöht und jene von Individuum  1 auf tp’ gesenkt wird. Darüber hinaus muss die Gesamt-Kostendeckungsbedingung ∑MZBi = GK erfüllt sein. Letzteres ist beispielsweise der Fall, wenn der Steuerpreis bei der Menge G für Individuum 3 um gleich viel steigt, wie jener für Individuum 1 fällt. Trifft diese Symmetrie nicht zu, so erfordert der Konsens auch eine Neufestsetzung der Menge  X* auf eine neue Menge und eine Neufestsetzung der Steuerpreise, die dann Kostendeckung und Konsens gewährleisten. Die Veränderungen der individuellen Steuerpreise auf tp’ bzw. tp“ dienen also dazu, die Unterschiede in der bevorzugten Menge von X infolge unterschiedlicher Einkommen zu kompensieren. Wie groß die kompensierende Veränderung der Steuerpreise sein muss, hängt vom Verhältnis der Einkommenselastizität (10.4) β =

(Δ X/X) (Δ Y/Y)

B. Das Äquivalenzprinzip und der Steuerpreiselastizität (10.5) γ =

(Δ X/X) (Δ tp/tp)

der Nachfrage des Individuums ab. Der Quotient beider Größen sagt dann, um wie viel der Steuerpreis steigen muss, wenn das Einkommen steigt, bzw. wenn der Steuerpreis steigt oder fällt damit Einstimmigkeit erreicht werden kann. Über eine Vielzahl von Individuen gesehen stellt dieser Quotient ein Maß für die Elastizität des Steuersystems dar (J. M. Buchanan, 1964). Diese Elastizität ist definiert als (10.6) ε =

(∆ tp/tp) (∆ Y/Y)

bzw. als (10.7) e = –(β/γ),1 wobei gilt: e > 1: e = 1: e < 1:

progressives Steuersystem proportionales Steuersystem regressives Steuersystem

Wie ein Steuersystem, das der Einstimmigkeit und damit dem Äquivalenzprinzip genügt, gestaltet sein muss, lässt sich wie folgt ersehen: 1. Ist die Wertschätzung eines öffentlichen Gutes einkommenselastisch (β > 1), so muss der Steuerpreis mit dem Einkommen ceteris paribus rascher steigen, als wenn das öffentliche Gut einkommensunelastisch ist (0 < β te > tz. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass die ausgeschütteten, mit der Körperschaftsteuer des Unternehmens belasteten Gewinne noch einmal, wenn sie beim Haushalt an dessen Wohnort ankommen, zum Einkommensteuersatz besteuert werden. Deswegen gilt die obige Ungleichung. Auf jeden Fall sind die ausgeschütteteten Gewinne stärker belastet als die Zinseinkommen. Dieses System wurde in Preußen 1893 eingeführt (Abschnitt C) und in Deutschland von 1920 bis 1953 praktiziert. Aber auch nach der Überwindung dieses Systems blieben die ausgeschütteten Gewinne eine von den einbehalteten Gewinnen getrennte steuerpflichtige Kategorie.

B. Die Wohlfahrtsökonomie der Körperschaftsteuer •• Beim Teilanrechnungsverfahren (1.3) bzw. dem Verfahren mit gespaltenem Satz gilt ebenfalls ta > te > tz. Die Mehrbelastung der ausgeschütteten Gewinne ist etwas reduziert. Ein solches Verfahren gilt im Vereinigten Königreich, in Deutschland galt es von 1953–1977. •• Bei Vollanrechnung (1.4) gilt: te > ta = tz, weil Körperschaftsteuer auf den ausgeschütteten Gewinnen voll auf die persönliche Einkommensteuer angerechnet wird. Es galt in Deutschland von 1977 bis 2000. Dieses Verfahren war eigentlich gar nicht so schlecht. Es hatte aber den Nachteil, dass es ausschließlich in Deutschland praktiziert wurde und im Ausland bezahlte Dividendensteuern in Deutschland und vice versa in Deutschland bezahlte Dividendensteuern im Ausland nicht geltend gemacht werden konnten. Damit war das Vollanrechnungsverfahren dem Ziel eines EU-weit integrierten Kapitalmarktes abträglich. Um steuerliche Integration zu erreichen, war es erforderlich, ausländische Anleger endgültig zu belasten. Hierzu musste die Primärbelastung in Deutschland gesenkt werden. •• So kam es zum Halbeinkünfteverfahren (1.5). Der deutsche Gesetzgeber legte die Steuer auf einbehaltene und ausgeschüttete Gewinne auf 25 % fest, wobei die ausgeschütteten Gewinne bei den inländischen Steuerpflichtigen (die nicht mobil waren und der Steuer daher nicht ohne weiteres ausweichen konnten) noch einmal mit der Hälfte des für sie geltenden Einkommensteuersatzes belastet wurden. Daher der Name Halbeinkünfteverfahren. Dieses System galt von 2001 bis 2007 und führte zu ta > te. •• Kritisiert wurde am Halbeinkünfteverfahren, dass ausländische Anleger nicht nur die 25 % Definitivbelastung, sondern auch noch etwa 14 % Gewerbesteuer bezahlen mussten (vgl. 12. Kapitel), also mit bis zu 40 % belastet wurden, was im internationalen Kapitalmarkt als nicht wettbewerbsfähig galt. Deshalb wurde das ausländische Kapital in der Steuerreform 2008/2009 abermals entlastet, bis die Zielmarke von 30 % für die ausländischen Investoren erreicht wurde. Daher der Name „Zielsteuersatzverfahren“ (1.6). Aus Abbildung  13.2 und Kapitel  12 ist erkennbar, dass einbehaltene und ausgeschüttete Gewinne zunächst mit 15 % Körperschaftsteuer belastet werden, plus Solidaritätszuschlag und inklusive 14 % Gewerbesteuer ergibt dies schlussendlich 29,8 %. Damit wird für Ausländer die angepeilte Zielmarke von 30 % nicht überschritten. •• Inländische Dividendenempfänger kommen nicht so günstig weg. Sie entrichten zusätzlich zur Gewerbe- und Körperschaftsteuer und zusätzlich zum Solidaritätszuschlag von insgesamt 29,8 % die Abgeltungsteuer von 15 % plus Solidaritätszuschlag und enden so bei einer Gesamtbelastung von tg = 56 % (vgl. 12. Kapitel Gewerbesteuer). Steuerausländer sind vom Steuerabzug durch die Abgeltungsteuer befreit. Dahinter steckt wiederum der Gedanke, dass Inländer immobil und daher für den Fiskus fassbar sind, während dies bei Ausländern weniger der Fall ist. (2) Im Falle von Cashflow-Besteuerung gelten folgende Belastungen:

•• Eine Spielart der CF-Besteuerung ist die so genannte Brownsteuer (2.1), zurückgehend auf E. C. Brown (1948). Diese Steuer wurde später von J. A. Kay und M. A. King (1978) für Großbritannien zu einem praktischen Reformvor-

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13. Kapitel: Die Körperschaftsteuer schlag ausgearbeitet. Im Falle der Brown-Steuer wird zwischen ausgeschütteten und einbehaltenen Gewinnen nicht unterschieden. Belastet werden schlicht „Gewinne“, aus welcher Quelle sie auch kommen. Daher gilt ta = te. •• Für das Mischsystem von Hans Werner Sinn (1984) (2.2), das weiter unten noch näher behandelt wird, gilt ta = tz und im Falle einer Quellensteuer ta = te = tz. (3) Im Falle der Allowance for Corporate Equity (ACE) gilt:

•• Die zinsbereinigte Gewinnsteuer (3) sieht vor: ta = te. Das bedeutet: Vom Bruttoertrag sind nicht nur Vorleistungen, Löhne, Gehälter und Fremdkapitalzinsen absetzbar, sondern auch die gesamten nominalen Finanzierungskosten. Diese umfassen neben den schon erwähnten Abschreibungen insbesondere auch die Verzinsung der Restwerte des Eigenkapitals, wofür der Staat als Annäherung an den Marktzinssatz einen einheitlichen Satz (einen Schutzzinssatz) festsetzt, z. B. die Rendite langfristiger Staatsobligationen. Entsprechend wird auch von „Allowance for Corporate Equity“ (ACE) gesprochen. Die dann noch verbleibenden, darüber hinaus gehenden Nettoerträge werden mit einer Gewinnsteuer ta = te belastet. Zinsen auf Fremd- und Eigenkapital innerhalb des Schutzzinssatzes bleiben im Unternehmensbereich wie auch bei den Haushalten steuerfrei (tz = 0). •• Eine Abweichung von der reinen zinsbereinigten Gewinnsteuer schlägt der Sachverständigenrat (2003 und 2004) mit der dualen Einkommensteuer vor. Ziel ist es, ein höheres Aufkommen als mit der zinsbereinigten Gewinnsteuer zu erzielen, ohne anderseits ihre Neutralitätseigenschaften allzu stark zu beschneiden. W. Schön u. a. (2005) schlägt vor, (wie bei ACE) eine Verzinsung der Restwerte des Eigenkapitals zu definieren, diese aber nicht steuerfrei zu belassen, sondern mit einem reduzierten Satz (gesprochen wird von 25 Prozent) definitiv zu belasten. Darüber hinausgehende Gewinne sollten mit einem progressiven Satz belastet werden. Diese Regel soll für Kapitalwie Personengesellschaften gelten und für Zinseinkommen wie für Mieten. Davon getrennt und deutlich höher soll die Belastung des Faktors Arbeit liegen. Detailregelungen sind allerdings erforderlich, um Verschiebungen der Wertschöpfung vom Arbeits- zum Kapitaleinkommen zu verhindern.

(1.) SHS-Systeme Ertragswertabschreibung (1.1) Teilhabersteuer

(1.2) Klassisches System

(1.4) Vollanrechnung

(1.5) Halbeinkünfteverfahren1

(1.6) Zielsteuersatzverfahren1

(3.) ACE-Systeme verteilte Abschreibung

(2.1) BrownSteuer

(3.1) Zinsbereinigte Gewinnsteuer, Duale Einkommensteuer

(2.2) Mischsystem (Sinn)

ti ta

1

te

tz

ta te

tz

ta

te tz

ta

te tz

ta

te

tz

ta te

tz

ti

ta te tz

ta

te

tz

i = Inländer

ta te tz(=0)

B. Die Wohlfahrtsökonomie der Körperschaftsteuer

(1.3) Teilanrechnungsverfahren bzw. gespaltener Satz

(2.) Cash-flow-Systeme z.T. Sofortabschreibung

Abbildung 13.2: Steuersätze bei unterschiedlichen Systemen der Kapitaleinkommensbesteuerung Quelle: H. W. Sinn (1984) mit eigenen Änderungen und Ergänzungen.

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13. Kapitel: Die Körperschaftsteuer

3. Wirkungen der Körperschaftsteuersysteme auf die Finanzplanung Körperschaftsteuern sollen finanzplanungsneutral sein, d. h. sie sollen die Wahl der Finanzierungswege – Beteiligungs-, Selbst- und Fremdfinanzierung1 – nicht verzerren. Unterschiedliche Steuersätze auf Beteiligungserträge (ta), einbehaltene Gewinne (te) und Zinseinkommen (tz) können aber die relativen Vorteile der Finanzierungswege beeinflussen und damit dem Ziel der Finanzplanungsneutralität entgegenwirken. (1) Finanzplanung unter SHS-Systemen

Die Gefahr solcher Verzerrungen wird gebannt, wenn wie bei der Teilhabersteuer (Abbildung 13.2) die Gleichheit der Steuersätze a priori vorgegeben wird2 (zunächst als Steuer zum Höchstsatz, die dann für jedes Individuum nach dessen individuellem Steuersatz vom Finanzamt zurückerstattet wird). Diese Steuer ist also bezüglich der Finanzierungswege neutral. Das klassische System der Körperschaftsbesteuerung leidet unter dem Mangel, dass der Steuersatz auf Ausschüttungen ta über jenem auf Zinszahlungen tz liegt. Es diskriminiert also Beteiligungs- gegenüber Kreditfinanzierung. Verzerrungen kann es auch beim System der Teilanrechnung bzw. bei gespaltenem Satz geben, weil ta ≶ tz gilt. In Deutschland wurde diese Verzerrung durch die Körperschaftsteuerreform von 1977 und die damals erfolgte Einführung des Vollanrechnungsverfahrens weitgehend aufgehoben. Es galt ta = tz. Einen gespalteten Satz mit entsprechenden Wirkungen auf die Finanzplanung haben allerdings noch das Halbeinkünfteverfahren und das Zielsteuerverfahren. (2) Finanzplanung unter CF-Systemen

a) Die Brownsteuer unterscheidet nicht zwischen ausgeschütteten und einbehaltenen Gewinnen, es gilt also stets ta  =  te, und eine Verzerrung zwischen Beteiligungs- und Selbstfinanzierung wird daher nicht hervorgerufen. Ebenso wenig wird eine Verzerrung gegenüber der Zinsfinanzierung verursacht. Denn als Steuer auf realwirtschaftliche Überschüsse berührt die Brownsteuer die Finanztransaktionen nicht, d. h. tz = 0. Mit anderen Worten, wie hoch auch immer der Fremdfinanzierungsteil ist, die auf den CF erhobene Steuer bleibt davon unberührt. Zu verzerrenden Anreizen im Finanzierungsbereich kann es daher nicht kommen. b) Im Mischsystem von H. W. Sinn ist te = tz vorgeschrieben. Wird diese Gleichheit wie hier angenommen erreicht und gilt darüber hinaus ta = te = tz, so ist volle Finanzierungsneutralität ist gewährleistet. Doch die Vorteile des Sinnschen Mischsystems kommen in dessen Kapital-Allokationsneutralität zum Ausdruck, auf die sogleich eigegangen wird.

1

2

Beteiligungsfinanzierung bezeichnet die Finanzierung aus Neuemission von Aktien, Selbstfinanzierung die aus einbehaltenen (thesaurierten) Gewinnen und Fremdfinanzierung die aus Krediten. Zuerst wird auf allen Kapitaleinkommen der höchste Satz angewandt, Danach erstattet das Finanzamt die Überzahlung nach der individuellen Progressionsstufe.

B. Die Wohlfahrtsökonomie der Körperschaftsteuer (3) Finanzplanung unter ACE-Steuern

a) Von den verschiedenen denkbaren Nettoertragsteuern ist die zinsbereinigte Gewinnsteuer (nach ACE) finanzplanungsneutral. Zum einen unterscheidet sie nicht zwischen einbehaltenen und ausgeschütteten Gewinnen (ta = te). Zum anderen wird Fremdkapital gleich behandelt wie Eigenkapital; beide unterliegen innerhalb des Schutzzinssatzes nicht der Besteuerung. b) Ebenso ist die duale Einkommensteuer finanzplanungsneutral. Im Bereich des Schutzzinssatzes bleiben Eigenkapital und Sparkapital der Haushalte mit einem reduzierten Satz von z. B. 20  Prozent belastet. Die darüber hinausgehenden Kapitaleinkommen unterliegen wie Arbeitseinkommen der normalen progressiven Besteuerung. Durch die bis zum Schutzzins steuerprivilegierte Belastung sollen ausländisches wie inländisches Kapital angelockt werden.

4. Wirkungen der Körperschaftsbesteuerung auf die Kapitalallokation Ohne Körperschaftsteuern gilt das Marktgleichgewicht aus marginaler Zeitpräferenz der Haushalte MZP gleich Zins gleich Grenzproduktivität des Kapitals GPK nach Abbildung 13.1, anders gesagt es gilt (13.2): (13.2) MZP = ZINS = GPK. Sobald jedoch der Staat auftritt und den Marktteilnehmern Kapitaleinkommensteuern auferlegt, kann dieses Gleichgewicht gestört werden. (1) Kapitalallokation unter SHS-Systemen

In der Regel verzerren Kapitaleinkommensteuern vom SHS-Typ das obige Gleichgewicht auf zweierlei Weise. Einmal (a) entzweit die Zinssteuer die marginale Zeitpräferenzrate der Haushalte vom Marktzins der Unternehmen. Zum anderen (b) entsteht eine Divergenz zwischen Marktzinssatz und Grenzproduktivität des Kapitals, weil eine Steuer auf einbehaltene und ausgeschüttete Gewinne erhoben wird. Diese letztere Verzerrung (b) wird aber, wie H. W. Sinn darlegt, nicht wirksam, wenn die Anlagen korrekt nach dem Ertragswertverfahren abgeschrieben werden3, die Reihenfolge der Investitionsvorhaben sich also nicht ändert und die Steuersätze ta, te und tz an der Grenze gleich sind. Es ist dann das so genannte Johansson-Samuelson-Theorem erfüllt, und die Besteuerung ist „investitionsneutral“. Unter diesen beiden Annahmen (a und b) ist insbesondere die erste (a) sehr restriktiv. Wieviel die Haushalte sparen, unterliegt allein ihrer Autonomie. Demgegenüber können die Voraussetzungen für Investitionsneutralität (b) über den Staat durch Rechtsvorschrift oder auch von der Unternehmung durch Ausnützung ihrer finanziellen Flexibilität er-

3

Wird die Abschreibung nach dem Ertragswert einheitlich bei allen Anlagen durchgeführt, so ergeben sich durch die Steuererhebung keine Verzerrungen in der Investitionsstruktur. Ferner bleibt die letzte Anlage des Unternehmens steuerfrei, weil sie keinen Gewinn abwirft, wodurch Verzerrungen an der Grenze vermieden werden. Vgl. H. W. Sinn (1985, S. 114–118).

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13. Kapitel: Die Körperschaftsteuer füllt werden.4 Insgesamt ist also festzuhalten, dass es Gründe gibt, warum die Besteuerung das Investitionsverhalten der Unternehmen unberührt lässt. Inwiefern diese jedoch im konkreten Fall vorliegen, ist eine offene Frage. Sie sind m. E. bei SHS-Systemen (wegen der Problematik der Ertragswertabschreibung) nicht allzu hoch einzuschätzen. Aber auch im Idealfall (b) von Investitionsneutralität (bei den Unternehmen) bleibt die verzerrende Wirkung der Zinseinkommensteuer [der Haushalte (a)] in jedem Fall bestehen. Wegen der Zinseinkommensteuer sparen die Haushalte weniger. Dies wirkt sich auch auf die Investitionstätigkeit negativ aus. Im SHS-System kann also die Besteuerung investitionsneutral sein; sie ist aber wegen der Existenz der Zinssteuer im Gesamteffekt (inklusive Haushalte) nicht allokationsneutral.5 (2) Kapitalallokation unter CF-Systemen

Bei der Brownsteuer gibt es zunächst einmal keine Zinssteuer und somit auch keine Verzerrung zwischen marginaler Zeitpräferenzrate und Zinssatz. Wie steht es aber mit der Gleichheit zwischen Grenzproduktivität des Kapitals und Zins? Hier ist die Gewinnsteuer der Unternehmen ein möglicher Störfaktor. Diese Steuer bewirkt zum einen, dass der zukünftige Ertrag in jeder Periode um den Steuersatz t = ta = te reduziert wird, d. h. der Ertragswert der Anlage sinkt um (1–t). Um (1–t) sinkt aber auch der Anschaffungspreis, weil der Investor diesen vom steuerbaren Cashflow zum Zeitpunkt null (es gilt Sofortabschreibung) absetzt. Die Differenz zwischen der Steuerzahlung aus dem Ertrag und der anfänglichen Steuerersparnis (die bei einer profitablen Investition dem Betrag nach stets positiv ist) fließt dem Staat zu. Diese Steuerbelastung ist jedoch bei der Grenzinvestition gleich null. Denn bei ihr entspricht der Ertragswert genau dem Anschaffungswert. Wiederum gilt: Für die letzte Investition verändert sich das Kalkül des Unternehmens gegenüber einer Ordnung ohne Körperschaftsteuer nicht. Daher genügt die Brownsteuer dem Kriterium der Investitionsneutralität. Darüber hinaus ist sie – weil keine Zinssteuer erhoben wird – im Gesamteffekt allokationsneutral. Das (schon erwähnte) Mischsystem von H. W. Sinn (1984) ist ebenfalls allokationsneutral. Dies lässt sich anhand von Abbildung 13.3 intuitiv nachvollziehen. MZP und GPK stellen die marginale Zeitpräferenz der Haushalte bzw. die Grenzproduktivität des Kapitals dar. Ohne Steuer stellt sich das Gleichgewicht in Punkt A mit dem optimalen Investitionsvolumen I* und einem Zinssatz i* ein. Punkt A könnte – wie soeben gezeigt – auch im Fall einer Brownsteuer mit ta = te und Sofortabschreibung erreicht werden. So gesehen führt die Sofortabschreibung mit einer Steuer von ta = te und tz = 0 zu keiner Verzerrung. Zusätzlich verlangt aber H. W. Sinn auch noch eine Zinssteuer tz. Diese schiebt die Sparbereitschaft der Haushalte um den Steuersatz nach oben, bzw. die Haushalte sind nur mehr bereit, bei einer Verzinsung von MZP/(1–tz) das Investitionsvolumen I* bei C zu sparen. Der dazugehörige Zinssatz i’ kann nicht 4 5

Es wird dann der Anpassungsmechanismus von M. H. Miller (1977) wirksam. Wie dies im Einzelnen geschehen kann, beschreibt H. W. Sinn (1985, S. 118–121). Selbstverständlich gelten diese Schlussfolgerungen auch für das aktuelle Halbeinkünfteverfahren.

B. Die Wohlfahrtsökonomie der Körperschaftsteuer von der Grenzproduktivität des Kapitals aufgebracht werden und es kommt zum Gleichgewicht bei B und dem suboptimalen Investitionsvolumen I+. Um diesen negativen Effekt zu kompensieren, wird ein Schuldzinsenabzug zugelassen. Damit werden weitere Investitionsprojekte wieder rentabel, und zwar genau so viele, wie vorher durch die Zinsbesteuerung eliminiert worden sind (te = tz). Das alte Gleichgewicht bei I* wird wiederhergestellt. Allerdings liegt die Grenzproduktivität des Kapitals bei A, unter dem Marktzinssatz i’. Insofern lässt sich sagen: Das Mischsystem ist insgesamt allokationsneutral. (3) Kapitalallokation unter ACE-Steuern

Betrachtet sei die zinsbereinigte Gewinnsteuer nach ACE. Sie ist ebenfalls allokationsneutral. Die Zinseinkommen der Haushalte lässt sie unbelastet und vermeidet daher den Keil zwischen Zinssatz und marginaler Zeitpräferenz der Haushalte. Es gilt MZP = ZINS. Im Weiteren gibt es keine Steuer auf der Verzinsung des Eigenkapitals (innerhalb des Schutzzinssatzes). Der Ertrag der marginalen Investition, die nur gerade diese Verzinsung erbringt, bleibt daher unbelastet. Insofern ist auch die Bedingung der Investitionsneutralität ZINS = GPK erfüllt. Dem können auch die Abschreibungen wie in 1.3 erklärt nicht entgegenstehen. In der dualen Einkommensteuer ist die Bedingung ZINS = GPK erfüllt. Allerdings bleibt das Eigenkapital in der Höhe des Schutzzinses nicht steuerfrei, sondern mit einem reduzierten Satz (von z. B. 20 Prozent) belastet. Dies führt zu ZINS ≠ MZP, allerdings in der Regel in einem geringeren Umfang als bei der normalen SHS-Besteuerung.

Abbildung 13.3: Die Wirkung einer Körperschaftsteuer bei Sofortabschreibung und Schuldzinsenabzug Quelle: H.W. Sinn (1984)

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13. Kapitel: Die Körperschaftsteuer

5. Kein Sieger in der Schönheitskonkurrenz Trotz aller Bemühungen der Wohlfahrtsökonomen ist festzuhalten, dass es eine gänzlich allokationsneutrale Körperschaftsteuer nicht gibt. Keine der betrachteten Körperschaftsteuern hat die Schönheitskonkurrenz gewonnen Eine Cashflow-Steuer kommt der Neutralität sehr nahe. Aber selbst eine CashflowSteuer ist nicht standortneutral. Wenn etwa die Cashflow-Steuer in Gebietskörperschaft X (bei sonst gleichen Bedingungen) höher ist als in Y, so wird ein Unternehmen seine besonders gewinnbringenden inframarginalen Anlagen von X nach Y verlegen, um mit diesen am steuergünstigeren Ort Y zu produzieren, auch wenn produktionstechnisch dazu kein Anlass besteht. In diesem Sinn ist daher auch die Cashflow-Steuer nicht neutral.

C. Das Körperschaftsteuerspiel 1. Der Fiskus verdrängt die Arbitragefreiheit Der Anfang steht fest: Eine Körperschaft braucht einen Standort zur Produktion. Die Gründer der ersten Körperschaften des 19. Jahrhunderts mussten sich bei den Gemeinden um Standorte bemühen. Gemeinden standen im Wettbewerb und boten den Körperschaften Standorte gegen einen Preis an. Dieser Preis reflektierte die Opportunitätskosten der Gemeinden und war damit eine Art Ur-Körperschaftsteuer. Wer durch alte Industriegebiete fährt, erkennt noch heute manche dieser Standortfaktoren wie Wasserkraft und Schifffahrtswege. Das Ruhrgebiet war begünstigt durch Kohle und Wasserwege und daher als Standort gefragt. Es gab aber auch Feinde der Aktiengesellschaften. Das waren die eingesessenen Gewerbe und ihre Interessengruppen. Gewerbe waren häufig nicht so effizient wie Aktiengesellschaften. Sie suchten daher nach politischen Verbündeten, zu denen der Fiskus zählte. Dieser konnte die Aktiengesellschaften durch Besteuerung bremsen und dadurch die Gewerbe begünstigen. Die geniale Idee, die Interessen des Fiskus mit denen des Gewerbes zu verbinden kam vom preußischen Finanzminister Johannes von Miquel. In der Einkommensteuerreform von 1891 erfand er das oben in Abschnitt B erörterte „klassische System“ der Körperschaftbesteuerung, wonach Unternehmensgewinne nicht nur am Standort der Unternehmung, sondern auch am Wohnort des Anteilseigners nach dessen Satz besteuert werden, obwohl dem Staat am Wohnort des Anteilseigners keine Kosten entstehen. Für eine Besteuerung sowohl am Unternehmensstandort wie beim Anteilseigner gibt es eigentlich keinen Grund. Mit der steuerlichen Belastung vor Ort sind die Standortkosten abgegolten, was darüber hinaus vom Staat an Leistungen in Anspruch genommen wird, wird über Gebühren abgegolten. Die durch J. Miquel erfolgte Zusatzbelastung ta beim Anteilseigner drückte die Anleger aus dem Arbitragegleichgewicht heraus. Diese suchten nach Alter-

C. Das Körperschaftsteuerspiel nativen, durch die sie der Doppelbelastung entgehen konnten. Im deutschen Kaiserreich war das relativ einfach. Denn die Besteuerung der Körperschaften war Sache der Bundesstaaten (Länder). Statt aus einem preußischen Standort innerhalb von Preußen zu investieren und damit dem System der klassischen Kapitaleinkommensbesteuerung zu unterliegen, konnte ein preußischer Investor nach Sachsen ausweichen und als Sachse in Preußen investieren. Damit entging er der Miquelschen Doppelbesteuerung. Es brauchte etwa 30 Jahre, bis der Fiskus auf die Steuerarbitrage reagierte. Das geschah in der Erzbergerschen Steuerreform von 1920. Damals wurde das ganze deutsche Reich einer einheitlichen Körperschaftbesteuerung unterworfen. Die Erzbergersche Steuerreform beseitigte die Arbitragemöglichkeiten im Inland. Das Ausland jedoch blieb als arbitragefreier Ausweg bestehen. Doch die damalige Devisenbewirtschaftung behinderte die Verwendung dieses Auswegs aus der Doppelbesteuerung.6 Erst als ab 1970 der internationale freie Devisenverkehr wieder in vollem Umfang einsetzte, war es möglich, der Doppelbesteuerung zu entgehen.7 Offshore Finanzzentren wie Luxemburg, Zürich, Delaware und die Channel Islands schossen aus dem Boden. Fast hätte sich ein wettbewerbliches Körperschaftsteuersystem durchgesetzt. Doch die Regierungen, die der Besteuerungsdoktrin von J. Miquel huldigten, hatten sich mittlerweile in der EU und in der OECD zu einem großen Steuerkartell zusammengeschlossen. Sie wollten hohe Körperschaftsteuern, deren Erträge zur Finanzierung allgemeiner Staatsausgaben wie Renten, Schulen und Gesundheit (außerhalb der Körperschaften) dienen sollten. Hierzu mussten die Steuersätze hoch bleiben und Steuerarbitrage ins steuerfreie Ausland verhindert werden. Aus diesem Grund wurde der multilaterale automatische Informationsaustausch eingeführt. Ausländische Banken wurden angewiesen, Kapitalerträge ihrer Kunden an deren Wohnortstaaten weiterzuleiten, wo dann die Besteuerung erfolgen kann. Nach den natürlichen Personen waren im Jahr 2015 als nächste die multinationalen Unternehmen an der Reihe. Auch sie betrieben Steuerarbitrage, um ihren Steueraufwand zu minimieren. EU und OECD brandmarkten dieses Verhalten als Base Erosion and Profit Shifting (BEPS). Nach dem Willen der OECD und der EU sollten sich die multinationalen Unternehmen zum Zwecke der Besteuerung gleichsam in Einzelunternehmen disaggregieren und deklarieren, wie ihre Gewinne ausgefallen wären, wenn sie nicht multinationale Konzerne wären. Dadurch ließen sich Profite einzelnen Produktionsstandorten zuordnen, kalkulieren und besteuern, obwohl sich eine solche Zuordnung wirtschaftlich nicht begründen lässt.

6

7

Das seit 1977 in Deutschland praktizierte Vollanrechnungsverfahren, s. Tabelle 13.1, änderte die Besteuerung nicht grundsätzlich, weil die ausgeschütteten Gewinne (zwar weniger) aber immer noch besteuert wurden. Das seit 1977 in Deutschland praktizierte Vollanrechnungsverfahren, s. Tabelle 13.1, änderte die Besteuerung nicht grundsätzlich, weil die ausgeschütteten Gewinne (zwar weniger) aber immer noch besteuert wurden.

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13. Kapitel: Die Körperschaftsteuer

2. Die Interventionsspirale: Ein Prozess ohne Ende? EU und OECD sind bestrebt, jede Steuerarbitrage im Kern zu ersticken. Die OECD konstruiert Hochsteuergesetze, und die EU setzt sie bei ihren Mitgliedstaaten durch. Weil aber jedes Gesetz Gesetzeslücken aufweist und darum konterkariert werden kann, ruft es wieder eine neue Gesetzgebung hervor. So jagt eine Gesetzgebung die andere. Es gibt kein Gleichgewicht. Der Ökonom Ludwig von Mises hat für diesen Prozess den Ausdruck der Interventionsspiralen geprägt. Regulierungen kumulieren sich ohne Ende, ohne je in einen Endzustand des beidseitigen Einverständnisses zu münden. Abbildung  13.4 stellt den Prozess der Interventionsspiralen für die Körperschaftsteuer seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert dar. Die Abbildung zeigt, wie ein einfaches Problem wie das der Besteuerung am Standort zu einem immer größeren Gebäude von Regulierungen anwächst. Wer Steuerwettbewerb für gut hält, wird das immer weitergehende Wachstum der Interventionsspiralen bedauern. Doch es ist zu bedenken: Die Körperschaftsteuer soll einen Ertrag einbringen, der über den Opportunitätskosten der Standortgemeinde liegt. Die Leistung der Standortgemeinde ist somit geringer als die Gegenleistung an Körperschaftsteuer. Wie erwähnt ist der Kern des Kör-

Steuerarbitrage mittels Lizenzen auf Patenten Arbitrageanreize bleiben für Transferpreise multinationaler Unternehmen Arbitrageanreize durch Ausweichen ins Ausland Arbitrageanreize durch Finanzkapitalbesteuerung in der Miquelschen Steuerreform 1893

Neue OECDPatentausnahme; Beschränkung auf Forschung vor Ort OECD BEPS-Initiative 2015 soll auch diese unterdrücken Arbitrageunterdrückung durch automatischen Informationsaustausch. Repression durch schwarze Listen der OECD Arbitrageunterdrückung durch Erzbergersche Steuerreform 1920 Ausgangspunkt. Körperschaftsteuer 1851. In Anspruch genommene Ressourcen

Abbildung 13.4: Interventionsspirale als Folge der Körperschaftsteuer

D. Zusammenfassung des 13. Kapitels perschafsteuerspiels leer. Das gilt für Unternehmen wie auch für Fisken. Eine stabile Koalition der Fisken ist nicht möglich. Irgendeinmal kommt der Punkt, an dem ein Hochsteuerstaat aus der Koalition ausbricht und versucht, durch Steuerwettbewerb seinen eigenen Steuerertrag zu maximieren. Ein Beispiel ist die Republik Irland. Sie betreibt seit mehreren Jahren diese Außenseiterstrategie, ohne allerdings das Kartell der Hochsteuerstaaten bisher zerstören zu können. Seit der BREXIT-Entscheidung hat auch das Vereinigte Königreich angekündigt, aus dem Hochsteuerkartell auszubrechen und mittels niedriger Steuersätze Körperschaften ins Land zu ziehen. Die Körperschaftsteuer geht spannenden Zeiten entgegen.

D. Zusammenfassung des 13. Kapitels Die Wohlfahrtsökonomik sucht nach einer neutralen Körperschaftsbesteuerung, welche die Ressourcenallokation gegenüber einem Zustand ohne Besteuerung nicht verändert. Dies ist letztlich nicht möglich. Denn die betroffenen Steuerzahler suchen nach Steuerschlupflöchern, um den Verboten des Staates zu entgehen. Umgekehrt versucht der Staat, dies durch Verbote zu verhindern. Daraus ergibt sich eine unendliche Interventionsspirale mit einem Wechsel von Verboten und Verbotsumgehungen. Im Gegensatz dazu würde der Steuerwettbewerb die Steuern bis auf jenes Niveau herunterdrücken an dem die volkswirtschaftlichen Kosten von Körperschaften gerade noch gedeckt werden. Diese Mindeststeuer beinhaltet ein stabiles Gleichgewicht. Der Versuch, andere (fremde) staatliche Dienstleistungen aus den Erträgen der Körperschafteuer zu finanzieren, eröffnet ein Spiel ohne Lösung. Die Auseinandersetzungen steigen, ohne dass ein stabiles Ergebnis erzielt würde.

Wichtige Begriffe des 13. Kapitels Neutralität der Körperschaftsteuer Teilhabersteuer Klassisches System der Kapitaleinkommensbesteuerung Teilanrechnungsverfahren System mit gespaltenem Satz Vollanrechnungsverfahren Brownsteuer Mischsystem Zielsteuersatzverfahren Finanzplanungsneutralität Unternehmenssteuerreform 2008 Investitionsneutralität Interventionsspirale

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13. Kapitel: Die Körperschaftsteuer

Literatur zum 13. Kapitel R. Boadway und N. Bruce, Depreciation and Interest Deductions and the Effect of Corporation Income Tax on Investment, Journal of Public Economics, vol. 19, 1979, S. 93–105. R. Boadway und N. Bruce, A general proposition on the design of a neutral business tax, Journal of Public Economics, vol. 24, 1984, S. 231–239. R. Borck, Tax Competition and the Choice of Tax Structure in a Majority Voting Model, Journal of Urban Economics 54, 2003, S. 173–180. E.  C.  Brown, Business-Income Taxation and Investment Incentives, in: L.  A. Metzler, E.  D.  Domar u. a., Hrsg., Income, Employment and Public Policy, Essays in Honor of A. H. Hansen, New York 1948. Carter Commission, Report of the Royal Commission on Taxation. Implications of the Proposed Reforms, Ottawa (Queen’s Printer) 1966. Centre for Economic Policy Research, Making Sense of Subsidiarity: How much Centralization for Europe? London 1993. Ch. Chamley, Optimal Taxation of Capital Income in General Equilibrium with Infinite Lives, Econometrica 54 (1986), S. 607–622. P. A. Diamond und J. A. Mirrlees (1971 a, b), Optimal Taxation and Public Production I: Production Efficiency, and Optimal Taxation and Public Production II: Tax Rules, American Economic Review, Vol. 61, No. 1 und 2, 1971: 8–27 und 261–278. C. Dietzel, Die Besteuerung der Aktiengesellschaften in Verbindung mit der Gemeindebesteuerung, Köln 1859. A. Endres, Der Einfluss der Kapitaleinkommensbesteuerung auf die Kapitalbildung, List Forum, Bd. 15, Heft 3, 1989, S. 230–240. W. Engels und W. Stützel, Teilhabersteuer. Ein Beitrag zur Vermögenspolitik, zur Verbesserung der Kapitalstruktur und zur Vereinfachung des Steuerrechts, Frankfurt a. M. 2. Aufl. 1968. Haig, Robert M. (1921). “The Concept of Income – Economic and Legal Aspects”. The Federal Income Tax. New York: Columbia University Press. pp. 1–28. Simons, Henry (1938). Personal Income Taxation: the Definition of Income as a Problem of Fiscal Policy. Chicago: University of Chicago Press. p. 49. St. Homburg, Allgemeine Steuerlehre, München (Vahlen) 7. Aufl. 2015. J. A. Kay und M. A. King, The British Tax System, Oxford (Oxford Univ. Press) 1978. C. und G. Kraft, Grundlagen der Unternehmensbesteuerung, Gabler (Wiesbaden) 3. A. 2006. Meade Committee, The Structure and Reform of Direct Taxation, London (Allen & Unwin) 1978. M. H. Miller, Debt and Taxes, Journal of Finance, Vol. 32, 1977, S. 261–275. Johannes von Miquel in der Encyclopaedia Britannica von 1911, http://encyclopedia.jrank. org/MIC_MOL/MIQUEL_JOHANN_VON_1829_1901_.html 9. Okt. 2015. OECD, Harmful Tax competition. An Emerging Global Issue Paris 1998. OECD, Addressing Base Erosion and Profit Shifting, Paris 2013. M. Rose, Cashflow-Gewerbesteuer versus zinsbereinigte Gewerbeertragsteuer, in: M. Rose, Hrsg., Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems, Heidelberg (Springer) 1991, S. 205–216. M. Rose, Hrsg., Standpunkte zur aktuellen Steuerreform, Heidelberg (Verlag Recht und Wissenschaft) 1997. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Jahresgutachten 2003/04, Wiesbaden (Statistisches Bundesamt) 2003. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Erfolge im Ausland – Herausforderungen im Inland, Jahresgutachten 2004/05, Wiesbaden (Statistisches Bundesamt) 2004. G. von Schanz, Der Einkommensbegriff und die Einkommensteuergesetze. In: Finanzarchiv. XIII 1896 S. 1–87. W. Schön, U. Schreiber, Chr. Spengel und W. Wiegard, Für ein wettbewerbsgerechtes Steuersystem, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 179, 4. August 2005, S. 13.

D. Zusammenfassung des 13. Kapitels H. W. Sinn, Ökonomische Entscheidungen bei Ungewissheit, Tübingen (Mohr) 1980. H. W. Sinn, Systeme der Kapitaleinkommensbesteuerung. Ein allokationstheoretischer Vergleich, in: D.  Bös, M.  Rose, Chr.  Seidl, Hrsg., Beiträge zur neueren Steuertheorie, Berlin u. a. (Springer) 1984, S. 209–238. H. W. Sinn, Kapitaleinkommensbesteuerung. Eine Analyse der intertemporalen, internationalen und intersektoralen Allokationswirkungen, Tübingen (Mohr) 1985, erweiterte und verbesserte englische Fassung: Capital Income Taxation and Resource Allocation, Amsterdam u. a. (North Holland) 1987. H.  W.  Sinn, Alternativen zur Einkommensteuer, in: Steuersystem und wirtschaftliche Entwicklung, Konjunkturpolitik, Beiheft 33, 1987, S. 11–50. H.  W.  Sinn, Tax Harmonization and Tax Competition in Europe, European Economic Review, Vol. 34, No. 2/3, 1990, S. 489–504. E.  Wenger, Gleichmäßigkeit der Besteuerung von Arbeits- und Vermögenseinkünften, Finanzarchiv, Bd. 41, Heft 2, 1983, S. 207–252. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Gutachten zur Reform der di-

rekten Steuern (Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Vermögensteuer und Erbschaftsteuer) in der Bundesrepublik Deutschland, Schriftenreihe des Bundesministeriums

der Finanzen, Heft 9, Bad Godesberg 1967. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Flat Tax oder Duale Einkommensteuer? Zwei Entwürfe zur Reform der deutschen Einkommensbesteuerung, Schriftenreihe Bd. 76, Bonn (Stollfuß) 2004.

205

Mit dem Zehnten fing es an … U. Schultz (1984)

14. Kapitel Die persönliche Einkommensteuer A. Einkommensteuern im Rechtsstaat und in der Wettbewerbsdemokratie Im 19. Jahrhundert dominierte in Deutschland der Rechtsstaat. Nach den Kriterien des Rechtstaates soll festgelegt werden, was zum Einkommen zählt, und was demnach bei den Individuen besteuert werden soll. Der deutsche Finanzwissenschaftler Georg von Schanz schreibt: „Wir rechnen also zum Einkommen alle Reinerträge und Nutzungen, geldwerte Leistungen Dritter, alle Geschenke, Erbschaften, Legate, Lotteriegewinne jeder Art, wir rechnen ab alle Schuldzinsen und Vermögensverluste. Was erübrigt, steht neu zur Disposition des Empfängers, gehört nicht zu dem bereits vorhandenen Stammvermögen.“1 Später schlossen sich R. M. Haig (1921) und H. G. Simons (1938) den Grundsätzen von Schanz an. Deswegen werden diese Prinzipien heute als Schanz-HaigSimons-Prinzipien, kurz: SHS bezeichnet. In einer Wettbewerbsdemokratie von heute müssen die Politiker bei der Festlegung der Einkommensteuer auf die Präferenzen der Wähler Rücksicht nehmen. Sie müssen die Einkommensteuer politisch gestalten und diese politisch ausrichten. Sie kennen die sogenannte Laffer-Kurve, d. h. sie wissen, dass höhere Steuersätze nur bis zu einem Höchststeuersatz Steuermehrerträge bringen: Danach geht der Steuerertrag erst relativ, dann absolut zurück. Politiker wissen auch, dass jeder Steuerzahler eine etwas andere Laffer-Kurve hat, d. h. auf Steuererhöhungen anders reagiert. Darum muss ein Politiker, wenn er die Wahlen gewinnen will, auf die Empfindsamkeit der einzelnen Steuerzahler und Wähler Rücksicht nehmen. In Abbildung 14.1 wird daher nicht von einer einzigen, sondern bei der Vielzahl von Wählern auch von einer Vielzahl von Laffer-Kurven ausgegangen. Die Laffer-Kurven beschränken die Besteuerung. Doch jeder Wähler reagiert etwas anders. Vom Grundsatz des politisch definierten Einkommens geht im folgenden Abschnitt B das Modell von Modell W. Hettich und St. L. Winer (1997) aus. In der 1

G. von Schanz (1896, S. 24)

208

14. Kapitel: Die persönliche Einkommensteuer

Steuerertrag

Einkommensteuersatz Abbildung 14.1: Individuelle Laffer-Kurven

weiteren Folge dieses Kapitels wird das Problem der Geringverdiener (Abschnitt C) behandelt, dann folgt die deutsche Einkommensteuer in D und E, und schließlich die Familienbesteuerung in Abschnitt F. Abschnitt G enthält eine Zusammenfassung.

B. Das Modell von W. Hettich und St. L. Winer (1997) Das Modell von W. Hettich und St. L. Winer (1997) stellt den Zusammenhang zwischen Besteuerung und Wählerzustimmung her. Es lässt sich ausgehend vom „Wahlkampf bis zur Wahl“ „von links nach rechts“ lesen oder ausgehend vom Wahlergebnis „von rechts nach links“ angehen.

1. Besteuerung und Wählerzustimmung vom Wahlkampf her (von links nach rechts) betrachtet Die eine Partei braucht nach dem Modell von W. Hettich und St. L. Winer die Unterstützung („support“) S, um die Wahlen zu gewinnen. S hängt von der Summe der Wahrscheinlichkeiten πi ab, dass die Wähler i = 1, 2, . . ., N für sie stimmen. Diese Wahrscheinlichkeiten sind eine Funktion von I (einem gewährten Nettobetrag [Wahlgeschenk im Falle eines Wahlsieges]). Dasselbe Problem stellt sich analog für die (hier nicht explizit dargestellte) Oppositionspartei:2 Gerechnet wird in Wahrscheinlichkeiten. Je größer Ii, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Wähler i für die Partei 1 stimmt. N

N

i =1

i =1

(14.1) S =  πi = fi (l i ) Für den einzelnen Wähler hängt die Wahrscheinlichkeit πi positiv von dessen erhaltenen Nettobetrag Ii aus der Politik ab. (14.2) πi = fi(Ii), der seinerseits aus den (vom Budget G abhängenden) Vorteilen bi und den Kosten ci der budgetären Staatsaktivität gebildet wird: Ii = bi – ci. Die Funktion 2

Wahrscheinlichkeiten haben die Eigenschaft, Sprungstellen zu vermeiden, vgl. 7. Kapitel.

B. Das Modell von W. Hettich und St. L. Winer (1997) fi überträgt den Nettobetrag Ii in eine Wahlunterstützungswahrscheinlichkeit. Die Kosten ci umfassen nicht nur die Steuern Ti = tiBi, bestehend aus Steuersatz ti mal Steuerbasis Bi, sondern auch die Überschussbelastung di. Somit ergibt sich insgesamt: ci = Ti + di. Die Besteuerungsbasis Bi hängt im Sinne einer Laffer-Kurve vom Steuersatz sowie von der exogenen Variablen xi ab, die für die Präferenz des Wählers für Freizeit und für die Kosten der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung steht: (14.3a) Bi = Bi (ti, xi); ∂Bi/∂ti < 0 Entsprechend gilt für die Überschussbelastung di: (14.3b) di = di (ti, xi); ∂di/∂ti > 0 Die Budgetbeschränkung bezüglich der Staatsausgaben G beträgt: N

(14.4) G =  t i Bi i =1

Um die Wahrscheinlichkeit der politischen Unterstützung zu maximieren, muss die Regierung zum einen die Steuern für jedes Individuum so festlegen, dass die erwarteten Stimmenverluste, d. h. die marginalen politischen Kosten MPCi für 1 Euro Steuerertrag, unter allen Wählern gleich und damit minimiert sind. (14.5a)

∂fi/∂l i ⋅ ∂c i/∂t i = λ für alle i = 1, 2, . . ., N, B (1 + μ i )

wobei μi = (∂B/∂ti) · (ti/Bi). Dabei ist μi die Elastizität der Bemessungsgrundlage Bi bezüglich ti und λ der Lagrange-Multiplikator für die Budgetbeschränkung (14.4).

MPKosten/Euro

MPKosten/Euro

MPKosten/Euro MPC 2

MPC 1

MPK

E ∑MPB R1

R2

t2*

R1*+ R2*= R* Steuerlast

t1* L1 Wähler 1

L2 Wähler 2

Gesellschaft

Abbildung 14.2: Steuerstruktur im politisch-ökonomischen Gleichgewicht Quelle: W. Hettich und St. L. Winer (1997)

209

210

14. Kapitel: Die persönliche Einkommensteuer Zum anderen wird die Regierung den Umfang des Budgets G so lange ausdehnen, bis bei E die Summe der marginalen politischen Vorteile MPBi von 1 Euro Staatsausgaben für öffentliche Güter den einander angeglichenen Kosten MPCi entsprechen: ∂fi ∂bi ⋅ = λ. i = 1 ∂l i ∂G N

(14.5b) 

2. Vom Ergebnis her (von rechts nach links) gesehen Die marginalen politischen Kosten MPK rechts in Abbildung 14.2 müssen der Summe der marginalen politischen Vorteile ∑MZBi entsprechen. Dieser Betrag muss entsprechend den individuellen Laffer-Kurven auf Individuum 1 und 2 verteilt werden. Bei gegebenen Laffer-Kurven erfolgen daraus die Belastungen t1* und t2* Das Steuersystem erfordert eine hohe Komplexität. Zum Zwecke der Stimmenmaximierung sollte jedes Individuum seine maßgeschneiderte Besteuerung erhalten. Nur so lässt sich das Dilemma zwischen Wählerstimmen und Besteuerung überwinden. Doch ist die Handhabung eines solchen Steuersystems sehr umständlich. Es verlangt hohe Administrationskosten – im Prinzip gleich viele Steuerklassen K wie Steuerzahler N. Dies aber wäre sehr aufwendig. Durch Gruppenbildung K  0 a=0 a 0. Die Subvention endet beim Einkommen Y~. Die Erfahrungen mit dem Programm scheinen gut. Nur sind auch die Kosten beträchtlich. Sie haben Berichten zufolge in den neunziger Jahren niedrig angefangen und sich dann verdreifacht. In Deutschland liegen die Ausgaben für Hartz IV allerdings auch bei einer hohen Summe von 356 Mrd. Euro (Stand 2013). Schließlich wird eine Gruppe von Menschen bleiben, die mit keinem der angeführten Programme zurechtkommen und trotzdem einer Grundsicherung bedürfen. Für den Bedürftigen tritt die Unterstützung ja nicht automatisch ein, sobald sein erzieltes Einkommen, eine Untergrenze unterschreitet. All das muss bei den Behörden beantragt werden.

10

Erwerbslose ab 50 Jahren mit mindesten 30 Versichertenmonaten (oder 2 ½ Versichertenjahren) erhalten 15 Monate lang ALG I, 55-Jährige mit mindestens 36 Versicherungsmonaten (oder 3 Versichertenjahren) 18 Monate. Für über 58-Jährige mit mindestens 48 Beitragsmonaten (oder 4 Versichertenjahren) steigt die Bezugsdauer auf bis zu 24 Monate, was einem Beitrags-Leistungs-Verhältnis von 2:1 entspricht. Diese Regelungen gelten ab dem 1. Januar 2008.

F. Familienbesteuerung

F. Familienbesteuerung Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass die Einheit von Ehe und Familie steuerlich nicht diskriminiert und diese daher nicht stärker besteuert werden darf als alleinstehende Personen. Dabei stützt sich das Gericht auf den in Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes verankerten Schutz von Ehe und Familie11. Daraus wird das in Deutschland praktizierte Ehegattensplitting abgeleitet (St. Homburg 2010 § 19). Jede Diskussion darüber ist eigentlich zwecklos, weil Art. 6 GG zu den nicht änderbaren Verfassungsartikeln gehört. Sollte dereinst ein neues Grundgesetz beschlossen werden, so könnte sich auch die Art des Schutzes von Ehe und Familie ändern. Es könnte somit der Frage nachgegangen werden, ob und unter welchen Annahmen eine verfassungsgebende Versammlung zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie denen des Grundgesetzes gelangen würde. Welche Regel könnte allen Bürgerinnen und Bürgern akzeptabel sein, wenn sie als Mitglieder einer Verfassungsversammlung noch nicht wissen, in welcher konkreten Lage sie sich einmal befinden werden („Schleier der Ungewissheit“)? Werden sie die Ehe eher als enge Fusion betrachten oder mehr als lockere Allianz weiterhin voneinander unabhängig handelnder Partner? Je nachdem ergeben sich unterschiedliche Modelle. Wir betrachten zuerst die Ehegatten-, dann die Familienbesteuerung.

1. Ehegattenbesteuerung Die Art der Ehegattenbesteuerung stellt nur bei progressiver Einkommensbesteuerung ein Problem dar. Bei rein proportionaler Besteuerung spielt es keine Rolle, welche Form der Ehegattenbesteuerung gewählt wird. Gemeinsame Veranlagung mit Splitting (Variante a) führt zu genau gleich hoher Belastung des Ehepaars wie getrennte Veranlagung (Variante b) oder gemeinsame Veranlagung ohne Splitting (Variante c). Genau diese Unterscheidung ist aber wichtig, wenn sich dereinst eine verfassungsgebende Versammlung für ein progressives Einkommensteuersystem entscheidet. a. Bei gemeinsamer Veranlagung mit Ehegattensplitting, wie z. B. in Deutsch-

land, wird das zu versteuernde Einkommen der Ehepartner zusammengezählt, durch zwei dividiert und zweimal mit dem geltenden Satz für das so gebildete Durchschnittseinkommen besteuert. Die Partner ungebundener Lebensgemeinschaften werden demgegenüber einzeln besteuert. Man kann sagen: Die verfassungsgebende Versammlung sieht die Wahl zwischen zwei Verträgen vor. Zum einen ist die Ehe als Fusion möglich, in der die Partner ihr Einkommen poolen und auf politischer Ebene eine ihrem Durchschnittseinkommen entsprechende Zahlungsbereitschaft für öffentliche Leistungen äußern. Zum anderen wird die freie Allianz angeboten, in der die Partner 11

Beschluss des 1. Senats des BverfG vom 17. 1. 1957-1 BvL 4/54, BVerfGE 6, S. 55 ff. = StRK GG Art. 6 R. 1. Eine finanzwissenschaftliche Beurteilung dieses Ansatzes findet sich in St. Homburg (2010 § 19).

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14. Kapitel: Die persönliche Einkommensteuer durch die Wahl dieser Vertragsform zum Ausdruck bringen, dass jeder sein Eigenleben fortführen will, was entsprechend auch für die Willensäußerung im politischen Prozess angenommen wird. b. Bei der getrennten Veranlagung wird jeder Ehepartner mit dem Einkommen, das sie oder er verdient, zur Besteuerung herangezogen. In diesem Fall eröffnet die verfassungsgebende Versammlung den Bürgern steuerlich nur die freie Allianz als Vertragsform. Die Möglichkeit einer weitergehenden Fusion mit Wirkung auf die Nachfrage nach öffentlichen Gütern wird als nicht relevant betrachtet. Die Partner können auch nicht wählen, eine solche Fusion einzugehen. Diese Lösung ist somit weniger flexibel im Hinblick auf in Zukunft sich ändernde Präferenzen. c. Bei gemeinsamer Veranlagung ohne Splitting (sogenannte Haushaltsbesteuerung) werden die Einkommen der beiden Ehepartner zusammengezählt. Die Veranlagung erfolgt, als ob die beiden eine einzige Person wären. Bei proportionaler Besteuerung ist dieses Regime wie erwähnt bedeutungslos, bei progressiver Besteuerung jedoch nicht. Eine Haushaltsbesteuerung wird bislang in der Schweiz im Bund und in einer großen Zahl von Kantonen praktiziert, wobei allerdings größere Abzüge für Ehepaare zugelassen sind. Diese Lösung wird in der in der Schweiz praktiziert und führt dort zu permanenten Debatten.

2. Kinderlastenausgleich Die Idee des Ehegattensplittings lässt sich auch auf ganze Familien und ihre Kinder übertragen. Die Begünstigung der Kinder kann auf zwei Arten erfolgen. In Frankreich wird Familien mit Kindern eine Erhöhung des Splittingdivisors zugestanden, also von 2 auf 2,5 für ein Kind, auf 3 für zwei Kinder usw. In Deutschland wird steuerfreies Kindergeld für jedes Kind gewährt. Alternativ können auch Kinderfreibeträge entsprechend der Kinderzahl bei der Einkommensteuer geltend gemacht werden. Um den Kinderlastenausgleich zu verstehen und zu rechtfertigen, darf nicht vom Äquivalenzprinzip in enger Interpretation ausgegangen werden. Sonst müssten Eltern mit Kindern eher mehr als weniger Steuern bezahlen. Denn sie verursachen dem Staat durch Kindergärten, Schulen usw. höhere Kosten. Familienlastenausgleich lässt sich als intertemporale Verschiebung von Steuerlasten verstehen. Eltern brauchen während der Erziehungsphase der Kinder einen Kredit in Form einer Steuerstundung. Diesen bezahlen sie in späteren Lebensabschnitten, wenn sie keine Kinder mehr zu betreuen haben, durch höhere Steuern wieder zurück. Weil ein privater Markt für solche „Überbrückungskredite“ schwerlich funktioniert (junge Eltern verfügen häufig über zu geringe Kreditsicherheiten) tritt der Staat als Financier dazwischen. Er gewährt den Eltern Kindersplitting, Kindergeld oder Kinderfreibeträge in den Erziehungsjahren der Kinder. Dafür bezahlen sie später, wenn die Steuervorteile wegfallen und sie häufig auch ein höheres Einkommen haben, diesen Kredit in Form höherer Steuern wieder zurück. So gesehen kann der Kinderlastenausgleich durchaus als konsensuales Arrangement verstanden werden.

G. Zusammenfassung des 14. Kapitels

G. Zusammenfassung des 14. Kapitels Der Rechtsstaat fordert eine Einkommensbesteuerung nach abstrakten, personenungebundenen Kriterien, wie sie von G. v. Schanz (1896) aufgestellt worden sind. Heute kommt es aber darauf an, die Einkommensteuer in den Dienst der Wählerstimmenmaximierung zu stellen. Rechtstaatliche Prinzipien treten gegenüber wahlpolitischen Beweggründen zurück. Wie sieht eine wahlpolitische Einkommensbesteuerung aus? Ein Wettbewerbssystem der Einkommensbesteuerung führt zu einer komplexen Steuerstruktur. Daher ist auch die deutsche Einkommensteuer komplex. Auf den ersten Blick attraktive Vereinfachungen wie die Flat Tax lassen sich nur schwer durchsetzen. In Demokratien gelingt es oft nur schwer, Randgruppen am unteren Ende der Einkommensskala ein wirtschaftliches Auskommen zu gewähren. Die Vorschläge von M. Friedman und J. Tobin sollen dazu beitragen, diese Gruppen in der Gesellschaft zu halten und ein soziales Abgleiten zu verhindern. Die Art der Ehegattenbesteuerung ist steuerpolitisch relevant, wenn die Einkommensteuer (wie in Deutschland) progressiv gestaltet ist. Viele Kritiker halten das Einkommenssplitting der Ehepartner für ungerechtfertigt. Doch nachdem das Bundesverfassungsgericht hierüber entschieden hat, und weil Art. 6 zu den unveränderbaren Grundgesetzartikeln gehört, ist jede weitere Diskussion über die Abschaffung des Ehegattensplittings derzeit nutzlos.

Wichtige Begriffe des 14. Kapitels Reinvermögenszugangstheorie Modell der Steuersatzdifferenzierung Flat Tax Bürgergeld, negative Einkommensteuer Sozialhilfe Hartz-IV-Reformen Arbeitslosengeld I, II Gesetzlicher Mindestlohn Earned Income Tax Credit Ehegattensplitting/Familienbesteuerung

Literatur zum 14. Kapitel N. Andel, Finanzwissenschaft, Tübingen (Mohr) 4. Aufl. 1998. A. J. Auerbach und J. Slemrod, The Economic Effects of the Tax Reform Act of 1986, in: Journal of Economic Literature, Vol. 35, No. 2, 1997, S. 589–632. Ch. B. Blankart, Steuern als Preise, in: Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, Vol. 138, Nr. 1, 2002, S. 19–38. G. Brennan und J. Buchanan, The Power to Tax, Analytical Foundations of a Fiscal Constitution, Cambridge (Cambridge University Press) 1980, deutsch: Besteuerung und Staatsgewalt, Hamburg (S&W Steuer- und Wirtschaftsverlag) 1988. D. Brümmerhoff, Finanzwissenschaft, München, Wien (Oldenbourg) 8. Aufl. 2001.

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226

14. Kapitel: Die persönliche Einkommensteuer Bundesministerium der Finanzen, Die wichtigsten Steuern im internationalen Vergleich 2010, Berlin (BMF) 2011. M. Feldstein, On the Theory of Tax Reform, in: Journal of Public Economics, Vol. 6, 1976, S. 77–104. M. Friedman, Capitalism and Freedom, Chicago und London (Univ. of Chicago Press) 1962, deutsch: Kapitalismus und Freiheit, Stuttgart (Seewald) 1971. B. Fuisting, Die Einkommenbesteuerung der Zukunft in Anknüpfung an das Preußische Einkommensteuergesetz, Berlin (Heymanns) 1903. B. Fuisting, Die Preußischen direkten Steuern, I. Bd.: Kommentar zum Einkommensteuergesetz in der Fassung vom 19. Juni 1906, 7. Aufl. Berlin 1907. M. Gress, M. Rose und R. Wiswesser, Marktorientierte Einkommensteuer. Das neue kroatische System einer konsum- und damit marktorientierten Besteuerung des persönlichen Einkommens, München (Vahlen) 1998. R. M. Haig, The Concept of Income: Economic and Legal Aspects, in: R. M. Haig, Hrsg., The Federal Income Tax, New York (Columbia Univ. Press) 1921. R. E. Hall und A. Rabushka, The Flat Tax, Stanford (Hoover Press) 1985 2. Aufl. 2007. W. Hettich und St. L. Winer, The Political Economy of Taxation, in: D. C. Mueller, Hrsg., in: Perspectives on Public Choice, Cambridge (Cambridge Univ. Press) 1997, S. 481–505. St. Homburg, Allgemeine Steuerlehre, München (Vahlen), 7. Aufl. 2015. St. Homburg, Das einkommensteuerliche Ehegattensplitting, Steuer und Wirtschaft, Bd. 77, Nr. 3, 2000, S. 261–268. St. Homburg, Steuerrecht für Ökonomen, München (Vahlen) 1996. P. Kirchhof, Das EStGB – Ein Vorschlag zur Reform des Ertragsteuerrechts, in: Deutsches Steuerrecht, 41. Jg., Beihefter 5 zu Heft 37, 2003, S. 1*–16*. Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz Kommission), Berlin, BMA 2002. C. Michalopoulos, P. K. Robins und C. Card, When financial work incentives pay for themselves: evidence from a randomized social experiment for welfare recipients, Journal of Public Economics, Vol. 89, 2005, S. 5–29. M. Rose, Zur praktischen Ausgestaltung einer konsumorientierten Einkommensbesteuerung, in: A. Oberhauser, Hrsg., Probleme der Besteuerung I, Schriften des Vereins für Socialpolitik 259/I, Berlin (Duncker und Humblot) 1999, S. 99–123. G. v. Schanz, Der Einkommensbegriff und die Einkommensteuergesetze, Finanzarchiv, Bd. 13, 1896, S. 1–87. A. Knabe, R. Schöb und M. Thum, Der flächendeckende Mindestlohn, Freie Universität Berlin 2014. H. C. Simons, Personal Income Taxation, Chicago, (Univ. of Chicago Press) 1938. H.  W.  Sinn, Alternativen zur Einkommensteuer, in: Steuersystem und wirtschaftliche Entwicklung, Konjunkturpolitik, Beiheft 33, 1987, S. 11–50. H. W. Sinn, Zehn Jahre deutsche Wiedervereinigung: Die Fakten, in: Ifo-Schnelldienst, 53. Jg., Nr. 26–27, 2000, S. 10–22. H. W. Sinn und M. Werding et al., Aktivierende Sozialhilfe – Ein Weg zu mehr Beschäftigung und Wachstum, in: Ifo Schnelldienst, Sonderausgabe, Nr. 9, 2002. A. Spermann, Theoretische und praktische Probleme der Ausgestaltung einer Grundsicherung, ZEW, Mannheim 2005. K. Tipke und J. Lang, Steuerrecht. Köln (Otto Schmidt KG) 14. Aufl. 1994. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Anstehende große Steuerreform, BMWi Schriftenreihe 1996. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wissenschaft und Technologie, Reform des Sozialstaates für mehr Beschäftigung im Bereich gering qualifizierter Arbeit, BMWi Dokumentation Nr. 512, Berlin 2002. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Hartz-Reformen ein Beitrag zur Lösung des Beschäftigungsproblems? BMWA Dokumentation Nr. 518, Berlin 2002.

Die meisten Verkehrsteuern einschließlich der Umsatzsteuer haben keinen tieferen Sinn als den, dem Staat Geld zu bringen. Bundesfinanzhof (1973)

15. Kapitel Konsumsteuern A. Bird oder Becker? Die Konsumsteuer hat einen guten Ruf. Sie belastet den Konsum von heute gleichermaßen wie den Konsum von morgen, während die Einkommensteuer, weil sie auch das Kapitaleinkommen erfasst, den Konsum von morgen stärker belastet als den Konsum von heute und damit Ersparnis und Investitionen entmutigt. Das ist aus der statischen Analyse des 11. Kapitels bekannt. Aber auch in dynamischer Hinsicht wird die Konsumsteuer gelobt. Der bekannte britisch-kanadische Finanzwissenschaftler Richard Bird lobt die Konsumsteuer in der Form der Mehrwertsteuer: „Sie [die Mehrwertsteuer] ist zweifelsohne die erfolgreichste Fiskalerfindung des vergangenen halben Jahrhunderts … vielleicht die ökonomisch effizienteste Art, durch die Staaten beträchtliche Steuererträge erheben können.1 Demnach ist die Konsumsteuer gut, weil sie auf effiziente Art viel Geld zusammenbringt. Das deckt sich gut mit der eingangs angeführten Ansicht des Bundesfinanzhofs, wonach die meisten Verkehrsteuern einschließlich der Umsatzsteuer … „keinen tieferen Sinn [haben] als den, dem Staat Geld zu bringen.“ Die Frage, die eigentlich gestellt werden sollte, lautet: Hat der Staat viel Geld, weil er so viel braucht, oder braucht er so viel Geld, weil er über eine so ertragreiche Steuer verfügt? Die beiden amerikanischen Ökonomen G. S. Becker und C. B. Mulligan (2003) lehnen die Konsumsteuer ab. In der Form der Mehrwertsteuer sei die Konsumsteuer eine Geldmaschine („a money machine“) für den Fiskus. Ertragskraft und Ertragseffizienz von Steuern seien nicht von vornherein positiv besetzte Begriffe. G. S. Becker und C. B. Mulligan haben mit ihrer These nicht unrecht. In Deutschland beispielsweise ist die Mehrwertsteuer seit ihrer Einführung im Jahr 1968 stetig gestiegen. Demgegenüber hat sich der Anteil direkter Steuern (z. B. Einkommensteuer) am Steueraufkommen zurückgebildet. Im Jahr 1970 1

Bird, siehe Mirrlees Review Tax by Design 2010 S. 169.

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15. Kapitel: Konsumsteuern betrug das Verhältnis von indirekten Steuern zu direkten Steuern noch etwa ¾ zu 1. Heute sind beide Steuern etwa gleich stark 1 zu 1. Fazit: Die Menschen sollten sich nicht so sehr über die angeblichen Vorteile der Konsumsteuer freuen, bevor sie nicht auch ihre übrigen Eigenschaften kennen gelernt haben. Gleichgültig, ob gut oder schlecht, ob Bird oder Becker/Mulligan Recht haben, es bleibt die Frage zu beantworten, wodurch der Siegeszug der Konsumsteuer zu erklären ist. Welches „Gesetz“ steht hinter der Mehrwertsteuer, dass sie immer weiter wächst? Diese Frage soll am Schluss des Kapitels in Abschnitt C beantwortet werden. Davor werden in Abschnitt B die statischen Eigenschaften von Mehrwert- und Konsumsteuer im Vergleich beurteilt. Eine Zusammenfassung folgt in Abschnitt D.

B. Die relative Effizienz der Konsumsteuer 1. Eigenschaften der Konsumsteuer Eine Konsumsteuer2 kann wie eine Einkommensteuer erhoben werden. Der Steuerpflichtige erklärt erst einmal wie bei der Einkommensteuer seine gesamten Einnahmen. Dabei belässt er es aber nicht. Vielmehr gibt ihm der Fiskus die Möglichkeit, von dieser Summe seine gesamten Ersparnisse und Investitionen abzusetzen. Umgekehrt unterliegen Auflösungen von Ersparnissen der Besteuerung. Der Steuerpflichtige hat die Wahl Ersparnisse entweder am Schluss bei Auflösung oder am Anfang bei Einkommensanfall zu versteuern. Entsprechend sind zwei Fälle zu unterscheiden: die sparbereinigte Einkommensteuer und die zinsbereinigte Einkommensteuer.

In Tabelle 15.1 ist in Zeile 1 der Fall der sparbereinigten Einkommensteuer dargestellt. Ein Individuum möchte im Jahr 2016 10.000 Euro seines Einkommens sparen. Diesen zur Ersparnis vorgesehenen Betrag setzt es von seinem steuerpflichtigen Einkommen von 2016 ab und bezahlt darauf keine Steuern. Im Jahr 2017 erzielt es darauf z. B. 3 Prozent Zinsen, d. h. 300 Euro = 10.300 Euro. Falls es den Betrag nunmehr zu konsumieren gedenkt, bezahlt es darauf die gesetzliche Steuer von angenommen 40 Prozent, entsprechend 4.120 Euro. Somit bleiben ihm zum Konsum 6.180 Euro.3 Bei der auf Zeile 2 angeführten zinsbereinigten Einkommensteuer wird der zur Ersparnis vorgesehene Betrag von 10.000 Euro zunächst als Einkommen mit 40 Prozent besteuert. Zur Anlage bleiben dem Individuum nur noch 6.000 Euro. Diese erbringen zu einem Zinssatz von 3 Prozent einen Ertrag von 180 Euro.

2

3

Die Anfänge der Theorie der Konsumbesteuerung gehen zurück auf I. und H. W. Fisher (1942) sowie auf N. Kaldor (1955). Der Konsumsteuer entspricht im Unternehmensbereich die im 14. Kapitel behandelte zinsbereinigte Gewinnsteuer. Zinsen in der Höhe von 5 % sind in der derzeitigen Niedrigzinsphase etwas optimistisch. Doch das kann sich wieder ändern.

B. Die relative Effizienz der Konsumsteuer Einer weiteren Besteuerung unterliegen sie nicht. Damit beträgt das konsumierbare Sparkapital ebenfalls 6.180 Euro. Beide Verfahren haben die gleichen Effizienzeigenschaften. Sie unterwerfen ein erzieltes Einkommen nur einmal der Besteuerung („Einmalbesteuerung“) und sind damit neutral gegenüber der Entscheidung des Individuums, heute oder morgen zu konsumieren. Dies lässt sich aus Zeile 3 erkennen, wo im Vergleich dazu die normale Einkommensteuer praktiziert wird. Der für Sparzwecke vorgesehene Einkommensteil unterliegt in der ersten Periode (2016) einer Besteuerung von 40 Prozent = 6.000. Wie im Fall von Zeile 2 wird auf den 6.000 Euro ein Zinsertrag von 300 Euro erzielt = 6.180 Euro. Dieser wird aber noch einmal mit 40 Prozent Einkommensteuer belastet. Damit beträgt der für den Konsum verfügbare Betrag zum Ende des Jahres 2016 nur noch 6.108 Euro, was den Sparer eindeutig schlechter stellt. Tabelle 15.1: Die Wirkung von Konsum- und Einkommensteuer 2016

2017

2018

Einkom­ Steuer Erspar­ men für 40 % nis Spar­ zwecke

Zinsen Spar­ Steuer für 3% kapital 40 % Konsum verfüg­ bar

1. Sparbe­ reinigte Einkom­ mensteuer

10.000



10.000

300

10.300 4.120

6.180

2. Zinsbe­ reinigte Einkom­ mensteuer

10.000

4.000

6.000

180

6.180



6.180

3. Einkom­ mensteuer

10.000

4.000

6.000

180

6.180

72

6.108

Quelle: nach M. Gress, M. Rose, R. Wieswesser (1998, S. 20).

Beim Rentensparen der sparbereinigten Einkommensteuer (Zeile 1 in Tabelle 15.1) entsteht über viele Jahre, ja möglicherweise über Jahrzehnte eine Sparsumme. Dann erfolgen Auszahlung und Besteuerung. Der Rentner erhält nur den Nettobetrag. Anders verhält es sich beim mehr allfälligen Residualsparen, bei dem sich die Auflösung von Ersparnissen nicht genau kontrollieren lässt. Deshalb kommt in diesen Fällen die Zinsbereinigung mit voller Besteuerung am Anfang und anschließender Steuerbefreiung der Zinserträge in Frage (Zeile 2 in Tabelle 15.1). Beide Verfahren sind neutral. Einmal Verdientes wird nur einmal besteuert (Prinzip der „Einmalbesteuerung“). Das sollte auch bei Erbschaften gelten, die der Erblasser zu Lebzeiten schon versteuert hat. Der Erbe müsste sie eigentlich nicht noch einmal versteuern. Dennoch findet in Deutschland eine zusätzliche Erbschaftsbesteuerung und anschließende Zinsbesteuerung statt. Das merkt

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230

15. Kapitel: Konsumsteuern sich auch der Erblasser. Er wird weniger sparen und weniger vererben. Die volkswirtschaftliche Konsumquote steigt an, die Sparquote geht zurück. Es bewahrheitet sich der Satz: Auch für die Gesamtheit der Individuen sind Steuern nicht kostenlos. Um diese Kosten gering zu halten, wird bei der deutschen Erbschaftsteuer Betriebsvermögen verschont, wenn der Erbe den Betrieb weiterführt. Nur Oldtimer-Autos, Yachten und Kunstwerke zählen nicht zum steuerbefreiten Betriebsvermögen. In der Schweiz wird die Erbschafteuer von den Kantonen erhoben und eingenommen. Die meisten Kantone sind dazu übergegangen, die Erbschaftsteuer bei Erben direkter Linie abzuschaffen. Dazu zwang sie der interkantonale Steuerwettbewerb. Was auch immer der Staat besteuert, belasten kann er nur den Konsum. Er nimmt Konsummöglichkeiten weg. Auch die Einkommensteuer ist daher eine Konsumsteuer. Nur stellt sie eine komplizierte der Konsumbesteuerung dar. Anstatt dass der Staat nur einmal besteuert, belastet er im Falle der Einkommensteuer Jahr für Jahr die eingehenden Zinseinkommen. Folglich braucht es eine höhere Rendite, um in der Lebensplanung z. B. nach 40 Jahren Arbeitsleben auf einen Ziel-Betrag zu gelangen, als wenn der Zins nur einmal nach 40 Jahren ausgeschüttet und besteuert wird. Die durch die jährliche Einkommensteuer entstehende Mehrfachbesteuerung kann im Laufe eines Sparerlebens in Deutschland zu einem kumulativen Steuersatz von über 65 Prozent ansteigen. Das ist weit mehr als von einer Einmalbesteuerung im Rahmen einer zinsbereinigten Konsumsteuer zu erwarten wäre (Ch. B. Blankart, 2008). Wegen dieser Mehrbelastung schneidet die Einkommensteuer im Normalfall schlechter ab als die Konsumsteuer (vgl. 11. Kapitel)4. Es gibt einen wichtigen institutionellen Unterschied, der geeignet ist, die Entscheidung der Individuen zwischen Konsum- und Einkommensteuer zu beeinflussen. Angenommen, die von einem Individuum zu entrichtende Steuer werde zur Finanzierung eines öffentlichen Gutes verwendet, dann kommt es auf die 4

Die in Tabelle 15.1 dargestellte Verzerrung durch die Einkommensteuer ist richtig, bedarf aber der Präzisierung. Denn eingangs zu diesem Kapitel wie auch im 11. Kapitel wurde erwähnt, dass Einkommen- und Konsumbesteuerung hinsichtlich der Wohlfahrt nur bei gleichem Steuerertrag vergleichbar sind. Überdies lässt die Konsumsteuer die Freizeit unbelastet. Die Frage Konsum- oder Einkommensteuer reduziert sich also letztlich auf den Vergleich zweier Konsumsteuern, wovon die eine einheitliche und die andere differenzierte Sätze aufweist. Welche von beiden besser ist, sagt uns die Corlett-und-Hague-Regel (vgl. 11. Kapitel). Danach sollen, um die Wohlfahrtsverluste wegen der Nichtbesteuerbarkeit der Freizeit zu minimieren, die freizeitkomplementären Güter stärker belastet werden als die freizeitsubstitutiven oder freizeitneutralen Güter. Weil nun, wie Buchholz und Wiegard vermuten, der Konsum heute (während des Arbeitslebens) eine stärkere Freizeitkomplementarität aufweist (also mehr Arbeitszeit wegnimmt) als der Konsum morgen (während des Rentenalters), sollte Ersterer stärker belastet werden als Letzterer. Im Falle der Einkommensteuer ist es aber gerade umgekehrt: Konsum heute wird weniger belastet als Konsum morgen. Eine Konsumsteuer, die den Konsum heute gleich belastet wie den Konsum morgen, geht also eher in die richtige Richtung als eine Einkommensteuer, die das Umgekehrte tut. Aus wohlfahrtsökonomischer Sicht ergibt sich so betrachtet ein Vorzug der Konsumsteuer.

B. Die relative Effizienz der Konsumsteuer Generation an, der ein Individuum angehört. Die Einkommensteuer wird zum Zeitpunkt der Einkommensentstehung entrichtet, die Konsumsteuer zum Zeitpunkt der Einkommensverwendung. Wenn dann der Konsum öffentlicher (wie privater) Güter über das Lebensalter wie in Abbildung 15.1 etwa gleichförmig mit einem flachen Buckel in der Mitte des Lebens erfolgt und die Konsumsteuer etwa diesem Verlauf folgt, so gilt das Pay-as-you-use-Prinzip. Dagegen impliziert eine Einkommensteuer eine hohe Zahlung in der Mitte des Lebens und damit eine intergenerationelle Umverteilung von der arbeitenden Bevölkerung hin zu den Jungen und Alten der Bevölkerung, die noch nicht oder nicht mehr arbeiten. Würde eine Abstimmung veranstaltet, so ist die Präferenz keineswegs eindeutig. Überwiegen die Individuen im mittleren Alter so könnte eine Abstimmung eine Präferenz für eine Konsumsteuer ergeben. Überwiegen dagegen die Jungen und die Alten, so kann sich eine Mehrheit zugunsten einer Einkommensteuer ergeben. Das kritische Alter, an dem die Präferenz umschwenkt, liegt jedenfalls nicht bei den jeweiligen Schnittpunkten der beiden Kurven in Abbildung 15.1, sondern für die Alten und Jungen vor dem Schnittpunkt der beiden Kurven. Die Älteren rechnen sich die kommende Belastung schon vor dem Eintritt ins Rentenalter aus. Auch die Jungen werden sich vor dem Eintritt in das Berufsleben zugunsten von Konsum- oder Einkommensteuer entscheiden, allerdings unter Abwägung der nahen Mehrbelastung und der fernen Minderbelastung im Fall einer Einkommensteuer, bzw. umgekehrt im Fall einer Konsumsteuer. Ein politischer Unternehmer wird folglich nach Abbildung  15.1 die Zahl der Wählerstimmen abwägen, die er mit diesem oder jenem Vorschlag erreichen kann. Sieht er sich einer geriatrischen Wählerpopulation wie der bundesrepublikanischen gegenüber, so kann er sich bei einem Vorschlag, die Konsumsteuer einzuführen, nicht allzu viele Stimmen erhoffen und er wird einen solchen daher möglicherweise gar nicht vorbringen. Hat er es umgekehrt mit einer jugendlichen Wählerschaft wie z. B. eines Entwicklungslandes zu tun, so sehen die Chancen für eine Konsumsteuer schon viel besser aus. Interessanterweise sind es gerade Schwellenländer mit jugendlicher Population wie Indien und Sri Lanka, in denen umfassende Konsumsteuern überhaupt je eingeführt worden sind. indiv. Steuerzahlungen

Konsumsteuer Einkommensteuer 0

A

B

Alter

Abbildung 15.1: Steuerzahlungen eines repräsentativen Individuums im Lebenszyklus unter einer Konsum- und einer Einkommensteuer

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232

15. Kapitel: Konsumsteuern

2. Arten der Umsatzbesteuerung Umgangssprachlich wird von der Mehrwertsteuer gesprochen. Doch im Grundgesetz ist nur von der Umsatzsteuer die Rede. Aber nicht jede Umsatzsteuer ist eine Mehrwertsteuer. Es gibt verschiedene Arten: a)  Die Allphasen-Bruttoumsatzsteuer: Bei der Allphasen-Bruttoumsatzsteuer werden die Bruttoumsätze auf jeder Produktionsstufe eines Gutes mit einem festen Prozentsatz belastet. Eine solche Steuer wurde in Deutschland von 1918 bis 1967 erhoben. Der Steuersatz betrug anfänglich 0,5 % und stieg dann bis 1951 auf 4 % an. Die Allphasenbruttoumsatzsteuer besitzt den Vorteil der Einfachheit der Erhebung. Sie beinhaltet aber eine Reihe von Nachteilen, die darin liegen, dass nachgelagerte Produktionsstufen mehrfach belastet werden. Es kommt also zu einer Kumulativ- oder Kaskadenwirkung, die umso ausgeprägter ist, je größer die Zahl der zwischengeschalteten Märkte ist. Dadurch werden die relativen Güterpreise verzerrt, d. h. das Neutralitätspostulat wird verletzt, und die Steuer wirkt konzentrationsfördernd; denn durch das Zusammenfassen mehrerer Produktionsstufen in einem Unternehmen können bei hohen Sätzen beträchtlich Steuern gespart werden. b) Die Mehrwertsteuer vom Bruttoeinkommenstyp: Eine gemilderte Form der Allphasen-Bruttoumsatzsteuer besteht darin, die laufenden Vorleistungen als abzugsfähig zu erklären. Jedes Unternehmen wird danach nach seinem Beitrag zur Bruttowertschöpfung besteuert. Anstatt die Besteuerung auf jeder Produktionsstufe anzusetzen, kann der Fiskus auch allein den Umsatz auf der letzten Produktionsstufe mit Steuern belasten. Man spricht dann von einer Einzelhandelsteuer, wie sie z. B. in USBundesstaaten erhoben wird (und indirekt auch die Investitionen erfasst). Die Erhebungskosten sind für den Fiskus geringer. Diese Art der Besteuerung wird bisweilen kritisiert, weil sie Steuerumgehungsmöglichkeiten für Privatpersonen durch den Einkauf von Konsumgütern beim Großhandel eröffnet, da dort Produkte von der Einzelhandelsteuer ausgenommen sind. Es liegt daher nahe, anstelle der Einzelhandels- eine Großhandelsteuer zu erheben. Eine solche Steuer wurde 1941 bis 1994 in der Schweiz praktiziert. Die Großhandelsteuer erfordert einen noch geringeren administrativen Aufwand. Allerdings bleiben Dienstleistungen mit hoher Wertschöpfung auf der Endstufe dann steuerlich weitgehend unbelastet, wovon z. B. das Gastgewerbe profitiert. Die Einzelhandel- und die Großhandelsteuer, belasten nicht nur den Konsum, sondern auch die Bruttoinvestitionen. c)  Mehrwertsteuer vom Einkommenstyp: Bei dieser Steuer werden neben den Vorleistungen auch die Abschreibungen als abzugsfähig betrachtet. Der Besteuerung unterliegt somit die Nettowertschöpfung oder das Einkommen. Diese Form der Mehrwertsteuer entspricht inhaltlich der Einkommen- oder Wertschöpfungsteuer. Belastet werden Konsum plus Nettoinvestitionen. Die Schwierigkeit dieser Steuer liegt u. a. (wie bei der Einkommensteuer) in der Ermittlung der korrekten Abschreibung.

B. Die relative Effizienz der Konsumsteuer d) Mehrwertsteuer vom Konsumtyp: Meist wird die Meinung vertreten, Investoren sollten durch die Umsatzbesteuerung nicht entmutigt werden. Daher seien auch Investitionen von der Besteuerungsbasis abzusetzen. Das ist heute in den meisten Staaten der Fall. Besteuert wird nur noch, was übrig bleibt, der private Konsum, daher der Name Mehrwertsteuer vom Konsumtyp. Zur Berechnung dieser Steuer gibt es zwei Verfahren: Vorumsatzabzugsverfahren und das Vorsteuerabzugsverfahren.

3. Eigenschaften speziell der Mehrwertsteuer vom Konsumtyp (1) Beim Vorumsatzabzugsverfahren wird der „Mehrwert“ aus den Nettogrößen von Umsatz minus Vorumsatz ermittelt und darauf der Steuersatz angewandt, vgl. Tabelle 15.2, linke Hälfte. (2) In den EU-Staaten (wie auch in der Schweiz) wird aber derzeit nicht dieses, sondern das so genannte Vorsteuerabzugsverfahren praktiziert. Bei diesem wird zunächst der gesamte Umsatz mit der Mehrwertsteuer belastet. Dann wird die auf Vorleistungen schon bezahlte Steuer abgezogen, vgl. Tabelle 15.2, rechte Hälfte. Tabelle 15.2: Vorumsatzabzugsverfahren und Vorsteuerabzugsverfahren bei der Mehrwertsteuer (Beispiel) Vorumsatzabzugsverfahren

Vorsteuerabzugsverfahren

Vorunternehmen

Umsatz

Vorumsatz

600

darauf 19 % MwSt

Unternehmen „Mehrwert“

400

Endpreis

Umsatz ohne Steuer

1000

Steuer aufgeteilt auf Vorunternehmen­Steuer Nachunternehmen­Steuer Endbelastung

Unternehmen bezahlt

1000 190 1190 190

./. 19 % Vorsteuer auf 600

–114

Endbelastung

1190

114 76 1190

Der jeweils bezahlte Steuerbetrag ist bei beiden Verfahren derselbe, nämlich 190 Euro. Aber die Steuerlast wird unterschiedlich verteilt. •• Im ersten Fall des Vorumsatzabzugsverfahrens werden alle Rechnungen netto ohne Steuer ausgestellt. Vor- und Nachlieferant führen die Steuer entsprechend der Differenz von Verkauf minus Einkauf minus Investitionen an den Fiskus ab. Die Faktorpreise sinken. Die Steuer wird von den Faktoranbietern getragen. •• Beim Vorsteuerabzugsverfahren wird die Steuer auf den Preis aufgeschlagen. Aber jedes Unternehmen subtrahiert die vom Vorunternehmen bezahlte Steuer. Daher gehen die Inputs netto ohne Steuern in das Kalkül des Unternehmens ein. Der Nachfrager wird mit Preisen inklusive Steuer konfrontiert.

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15. Kapitel: Konsumsteuern Es steigen die Konsumentenpreise. Die Konsumenten tragen die Steuer. Ihr Nettoeinkommen sinkt.5 •• Bei einheitlichen Steuersätzen im jeweiligen Land kommt es im Endeffekt nicht darauf an, ob das Einkommen der Individuen infolge zurückgegangener Faktorpreise oder gestiegener Konsumentenpreise zurückgeht, ob also das Vorsteuerabzugsverfahren oder das Vorumsatzabzugsverfahren praktiziert wird. Darin liegt die Aussage des Theorems von B. D. Lockwood, D. de Meza und G. D. Myles (1994).6 •• Das Theorem von B. D. Lockwood, D. de Meza und G. D. Myles ist rein steuerlich. Mit den Steuern entzieht der Staat Geld. Welche Ausgaben er mit dem Geld tätigt, bleibt außerhalb der Betrachtung.

4. Wenn Steuern Leistungen ohne Gegenleistung sind Damit steht das Lockwood-de-Meza-Myles-Theorem in Einklang mit § 3 Abs. 1 der deutschen Abgabenordnung, die besagt: „Steuern sind Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft.“ Danach werden Steuerlasten dann als „neutral“ angesehen, wenn sie von inländischen Produzenten, die in Deutschland anbieten, in gleicher Höhe getragen werden müssen wie von ausländischen Produzenten, die in Deutschland anbieten. Es gilt unter dem Bestimmungslandprinzip. Deutscher Wein trägt in Deutschland die gleiche Steuerlast wie ausländischer Wein in Deutschland. Umgekehrt trägt Deutscher Wein im Ausland die gleiche Steuerlast wie der dortige ausländische Wein (Importneutralität). (15.1a) q = p* + τ => Unternehmen konkurrieren zu Nettopreisen p = p* (15.1b) q* = p + τ* => Unternehmen konkurrieren zu Nettopreisen p = p* q = Bruttopreise im Inland; q* = Bruttopreise im Ausland τ = Inlandsteuersatz; τ*= Steuersatz im Ausland p = Nettopreis im Inland; p* = Nettopreis im Ausland Dagegen gilt unter dem Ursprungslandprinzip: (15.2a) q = p* + τ* => Konkurrieren zu Bruttopreisen q = q* (15.2b) q* = p + τ => Konkurrieren zu Bruttopreisen q = q* q = Bruttopreise im Inland; q* = Bruttopreise im Ausland τ = Inlandsteuersatz; τ*= Steuersatz im Ausland p = Nettopreis im Inland; p* = Nettopreis im Ausland 5

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Die Mehrwertsteuer hat eine allokative Wirkung, weil entweder die Faktorpreise sinken oder die Bruttopreise steigen. Die oft vertretene Meinung, dass die Mehrwertsteuer für die Unternehmen ein reiner Durchlaufposten ist, lässt sich daher nicht aufrechterhalten. Eine schöne Darstellung findet sich bei St. Homburg (2015), § 58.

B. Die relative Effizienz der Konsumsteuer Ausländischer Wein trägt im Inland die Steuerlast des Herkunftslandes. Deutscher Wein trägt in Ausland die deutsche Steuerlast (Exportneutralität). Das P. A. Diamond und J. Mirrlees-Theorem besagt, Importneutralität ist wichtiger als Exportneutralität (unter der stillschweigenden Annahme, dass Steuern nur Mittel entziehen, nicht aber eine Gegenleistung für Kosten darstellen) P. A. Diamond und J. Mirrlees (1971). Bestimmungslandprinzip bedeutet: Ausländischer Wein trägt die Steuerlast des Bestimmungslandes (Deutschland), wo der Wein konsumiert wird (Importneutralität). Deutscher Wein trägt im Ausland die Steuerlast des dortigen Bestimmungslandes (Importneutralität). Ursprungslandprinzip bedeutet: Ausländischer Wein trägt im Inland die Steuerlast des Herkunftslandes (Export­ neutralität). Deutscher Wein trägt im Ausland die deutsche Steuerlast (Exportneutralität).

5. Wenn Steuern Leistungen für eine Gegenleistung darstellen Wenn Steuern entgegen § 3 Abgabenordnung Leistungen für Gegenleistungen darstellen, so dreht sich das Theorem der Importneutralität gerade um. Wein sei mehrwertsteuerpflichtig, weil die örtlichen Weinbauern beim Weinbau öffentliche Wege und andere Infrastruktur in Anspruch nehmen. Weinbau verursacht dem Staat Infrastrukturkosten, Weintrinken dagegen nicht (wenn der Abfall über Abfallgebühren und dergl. abgegolten wird). Es erscheint daher sinnvoll, die Mehrwertsteuer nach dem Vorumsatzabzugsverfahren, zu erheben, diese Steuer als Entgelt der Faktoren für die verursachten Infrastrukturkosten zu verstehen und keinen Grenzausgleich vorzunehmen. Das Ursprungslandprinzip ist begründet und gerechtfertigt. Auf diese Weise werden die Infrastrukturkosten des Staates bei den heimischen Weinbauern internalisiert. Dass es sich im einen wie im anderen Fall um Wein handelt, ist irrelevant. Ähnliches gilt für andere Gewerbegüter. Solche Faktorsteuern brauchen nicht vereinheitlicht zu werden. Erdöl aus der Nordsee konkurriert mit Erdöl aus Venezuela zu Bruttopreisen. Denn es unterscheiden sich die Produktionskosten. •• Die aktuelle Mehrwertsteuer nach dem Bestimmungslandprinzip steht der Steuer nach dem Verursacherprinzip diametral entgegen. Unter dem aktuellen Bestimmungslandprinzip gilt nämlich: Wer als Deutscher Wein aus Frankreich importiert, bezahlt darauf eine deutsche Mehrwertsteuer, obwohl die hierfür erforderlichen Infrastrukturkosten in Frankreich anfallen. •• Vielmehr sollte gelten: Wer als deutscher Konsument Wein aus Frankreich trinkt, sollte die Mehrwertsteuer im Ursprungsland, also in Frankreich entrichten; denn der Weinbau verursacht Kosten. Das Trinken von Wein (ob deutscher oder französischer) verursacht in Deutschland keine Infrastrukturkosten.

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15. Kapitel: Konsumsteuern •• Aus der Sicht der politischen Ökonomie ist von Bedeutung: Müssten die örtlichen Verursacher die Mehrwertsteuer entrichten, so wäre mit höherem Steuerwiderstand zu rechnen, als wenn die Steuer nach dem Bestimmungslandprinzip auf die Importeure im Ausland abgeschoben werden kann.

5. Mehrwertsteuerbetrug Die Mehrwertsteuer hat sich in der EU in den vergangenen Jahren zu einem größeren Problem entwickelt. Wie kam es dazu? Von Anfang an bestand in der Europäischen Union die Absicht, die Mehrwertsteuer nach dem Bestimmungslandprinzip umzusetzen. Besteuerungs- und Ertragskompetenz sollten dem Bestimmungsland zustehen. Bis zur Errichtung des EU-Binnenmarktes im Jahr 1992 war dies zwischen den EU-Staaten und gegenüber Drittstaaten auch kein Problem. Eine aus Deutschland zu exportierende Ware wurde mit dem LKW bis zur deutschen Grenze gefahren, dort wurde die Rechnung vom deutschen Zollbeamten als „exportiert“ abgestempelt, wodurch der Exporteur gegenüber seinem Finanzamt nachweisen konnte, dass seine Ware das Land verlassen hat und er die Mehrwertsteuer erstattet erhält. Die Ware selbst ging dann gleich dort z. B. zum französischen Zoll, wurde dort deklariert, gestempelt und mit dem französischen Mehrwertsteuersatz belastet. Umgekehrt verhielt es sich beim Export von Frankreich nach Deutschland. Dieses System war ziemlich wasserdicht: Es war sichergestellt, dass die Steuer bezahlt wurde und dass sie dem Bestimmungslandprinzip zufolge dem „richtigen“ Fiskus zukam. Doch mit der Errichtung des EU-Binnenmarktes im Jahr 1992 wurden die innergemeinschaftlichen Zollstellen aufgehoben. Konsequent wäre es gewesen, jetzt nicht mehr von Exporteuren und Importeuren zu sprechen, sondern nur noch von Lieferanten und Kunden und unter diesen beiden und dem örtlichen Finanzamt wie im Inlandsverkehr, vgl. Tabelle 15.2, abzurechnen und damit das so genannte Binnenmarktprinzip zu praktizieren. Die auf Exporte entfallende Mehrwertsteuer wird dann vom Ausfuhrland vereinnahmt. Doch damit waren die meisten nationalen Finanzminister nicht einverstanden. Denn dadurch verschiebt sich das Steueraufkommen zugunsten von Mitgliedstaaten mit Handelsbilanzüberschüssen und zu Lasten von Mitgliedsstaaten mit Handelsbilanzdefiziten. Finanzämter von Exportüberschussstaaten nehmen mehr, solche von Importüberschussstaaten weniger Steuern ein. (vgl. St. Homburg, 2015 § 58). Ein weiterer Punkt kommt dazu: Die nationalen Finanzministerien können diese Asymmetrie ausnützen, indem sie ihre Mehrwertsteuersätze anheben und so von den exportierten Steuern mehr erhalten, ohne die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Exportunternehmen zu beeinträchtigen. Daher lehnten die Finanzminister der EU-Mitgliedstaaten das Binnenmarktprinzip in dieser Form ab. Sie wollten beim bisherigen System bleiben, wonach die ganze Wertschöpfungskette mit dem inländischen Steuersatz belastet wird und dachten sich hierfür die so genannte Übergangsregelung aus. Nunmehr

B. Die relative Effizienz der Konsumsteuer sollte der Spediteur mit der Ware seines deutschen Produzenten A bis zum französischen Importeur B in Paris durchfahren. B versieht die Ware mit seiner „Umsatzsteuer-Identifikationsnummer“, wodurch der deutsche Exporteur entlastet und er selbst in Frankreich steuerpflichtig wird. Was früher die Zollstellen verrichteten, wird heute durch B besorgt. In der Terminologie der Bundesregierung und der EU wird (zur zusätzlichen Verwirrung der Sachlage das obige „Binnenmarktprinzip“ als „Ursprungslandprinzip“ bezeichnet. Dies lässt sich verstehen, wenn die Sicht der Finanzämter eingenommen wird. Sie fragen: Wer erhält das Geld? Beim Binnenmarktprinzip ist es der Fiskus des Exportlandes; daher sprechen sie vom Ursprungslandprinzip. Die Finanzwissenschaftler fragen demgegenüber: Wessen Wirtschaftssubjekte werden belastet, die des Bestimmungslandes oder die des Ursprungslandes? Entsprechend sprechen sie vom Bestimmungsland- oder Ursprungslandprinzip.

Beim Bestimmungslandprinzip der EU gibt es eine „Steuerlücke“ zwischen der Ankunft des Gutes beim Importeur, bis sich dieser zum Finanzamt begibt und das Gut beim Fiskus als Importgut deklariert. In Abbildung 15.2 liefert das deutsche Unternehmen D1 über die Grenze nach Frankreich zu Unternehmen F1. Dieses bestätigt D1 den Export vor dem Finanzamt. Doch er kann den Gang zum französischen Finanzamt auch verzögern oder vergessen. F1 verkauft die Ware offiziell mit (oder vorläufig ohne) Mehrwertsteuer an F2. Dann verschwindet F1 als Steuerschuldner. Er schließt z. B. sein Geschäft, bevor die deutschen und französischen Finanzämter auf ihn aufmerksam geworden sind. F2 liefert an D2 in Deutschland und lässt sich von diesem den Export bestätigen. Dann verkauft D2 die Ware offiziell mit Mehrwertsteuer wieder an D1. Das Karussellgeschäft kann erneut beginnen. Durch solche Geschäfte sollen in der EU im Jahr 2012 Berichten des Ifo-Instituts zufolge 14 bis 15 Milliarden Euro verloren gegangen sein.

EU-Staat D Unternehmen D1 exportiert Ware nach F

D2 verkauft an D1 formal mit MwSt. D2 führt MwSt nicht an das Finanzamt, sondern verschwindet Grenze

EU-Staat F Importeur F1 entlastet deutsches Unternehmen D1. F1 verkauft Ware an F2 formal mit MwSt. F1 führt MwSt nicht an das Finanzamt, sondern verschwindet.

F2 kauft formal mit MwSt und (verkauft weiter oder) exportiert nach D und wird von D2 von der MwSt entlastet

Abbildung 15.2: Mehrwertsteuerbetrug durch Karussellgeschäfte

Die Behörden in Brüssel und Berlin haben sich den Kopf darüber zerbrochen, wie diesem Übel beizukommen ist. Zwei Abhilfemaßnahmen stehen zur Diskussion.

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15. Kapitel: Konsumsteuern a. Das Clearing-House-System: Der Anreiz zur Durchführung von KarussellGeschäften liegt in der vollständigen Entlastung eines Gutes nach dem formalen Grenzübertritt. Wenn die spätere Belastung nicht gelingt, so bleibt das Gut steuerfrei. Um dies zu vermeiden, wurde das so genannte „Clearing-HouseSystem“ vorgeschlagen. Danach sollten alle Umsätze wie Inlandverkäufe (nach dem Binnenmarktprinzip) abgewickelt werden, und die Finanzämter rechnen untereinander die Salden ab, die sich aus den unterschiedlichen Handelsbilanzsalden bilden. Doch die Finanzämter sind untereinander nicht weniger misstrauisch als diese gegenüber ihren Steuerzahlern. Sie zweifelten daran, von ihren Nachbarkollegen stets verlässliche Zahlen zu erhalten. Daher blieb es bei der oben beschriebenen Form des Bestimmungslandprinzips. b. Reverse-Charge-Verfahren: Bei diesem in der EU diskutierten System bezahlt nicht mehr jedes Unternehmen in der Wertschöpfungskette, sondern nur das letzte. Die Steuer fällt also beim Endverbraucher an. Dadurch wird es unmöglich, beim Grenzübertritt Gewinne auf Kosten des Finanzamtes einzustreichen, und es kommt immer der Steuersatz des Bestimmungslandes zur Anwendung. Andererseits sind dann dort die Anreize zur Steuerhinterziehung besonders groß. Heute kann ein Mehrwertsteuerhinterzieher nur die Steuer auf der letzten Stufe „einsparen“. Beim Reverse-Charge-Verfahren entfällt aber die ganze Mehrwertsteuer von 19  Prozent auf dem Endprodukt. Jeder Einkäufer wird versuchen, sich als Zwischenhändler auszugeben, um so die Steuer zu hinterziehen. Um dem einen Riegel vorzuschieben, soll das Reverse-Charge-Verfahren erst ab Umsätzen von 5.000 Euro zulässig sein. Bislang konnten sich EU-Kommission und EU-Rat weder für den einen noch für den anderen Reformvorschlag begeistern. Tätig sind derzeit vor aber die nationalen Behörden. Die deutschen Finanzbehörden setzen alles daran, Mehrwertsteuerhinterzieher aufzuspüren und zu bestrafen. Eine Nutzen-KostenAnalyse ihrer Tätigkeit zeigt ein zwiespältiges Bild. Auf ihrer Suche nach Steuerbetrügern können Behörden nämlich Fehler erster und Fehler zweiter Art unterlaufen. Wenn sie unter der Vielzahl von Unternehmen einen Steuerbetrüger nicht entdecken, begehen sie einen Fehler zweiter Art. Halten sie jedoch einen Unternehmer fälschlicherweise für einen Steuerbetrüger, so begehen sie einen Fehler erster Art. Während im Falle eines Fehlers zweiter Art „nur“ Steuermittel verlorengehen, treiben die Behörden bei einem Fehler erster Art ein unschuldiges Unternehmen (wie es in der Vergangenheit schon geschehen ist) an den Rand des Ruins. Das hängt vor allem damit zusammen, dass ein Unternehmen, das die „Gunst“ der Steuerbefreiung seiner Exporte in Anspruch nimmt, seine Unschuld mitunter beweisen muss, also nachweisen muss, dass sein ausländischer Kunde die Mehrwertsteuer im Bestimmungsland entrichtet hat. Dies ist in der Regel nicht einfach. Entsprechend hoch sind die sozialen Kosten der Fahndungsbürokratie. Jedenfalls gehen diese weit über die bloßen Verwaltungskosten hinaus (für Fallstudien vgl. Ch. B. Blankart und F. C. Buck 2011).

C. Das internationale Mehrwertsteuerspiel Soziale Kosten der Steuerfahndung Die folgenden drei Fälle berichten von Unternehmern, die irrtümlicherweise wegen des Steuerbetrugs strafrechtlich verfolgt wurden (Ch. Blankart und F. Buck, 2011): 1. Fall: Eine Firma aus München hat über 10 Jahre lang Mobiltelefone nach Ös­ terreich exportiert und, wie gesetzlich vorgeschrieben, für die entstandenen Transaktionen die Umsatzsteuer erstattet bekommen. Im Jahr 2003 haben allerdings die deutschen Finanzbehörden diese Firma des mutmaßlichen Steu­ erbetrugs bezichtigt und 3 Millionen Euro an geleisteten Zahlungen zurückge­ fordert. Die zur eigenen Verteidigung eingereichten Unterlagen wurden als Beweismittel korrekter Überlieferung der Güter nach Wien nicht anerkannt. Der Exporteur hatte nämlich versäumt, in seinen Rechnungen die „IMEI“ Se­ riennummer anzugeben, anhand derer jedes Gerät hätte identifiziert werden können. Dies wurde dem Unternehmer schließlich zum Verhängnis. 2. Fall: Die „Electronic Systems GmbH“ München hatten langjährige und prospe­ rierende Wirtschaftsbeziehungen zu Handelspartnern in Budapest aufgebaut. Die Geschäfte konnten gut umgesetzt werden, da die formalen Schwierigkei­ ten sich in Grenzen hielten. Es fand ein normaler Export mit Dokumentation an der Grenze statt. Im Jahr 2004, als Ungarn Mitglied der Europäischen Uni­ on wurde und der Export nach den Regeln des Binnenmarktes abgewickelt wurde, musste das Unternehmen sich dem Verdacht auf Steuerhinterziehung stellen, weil die Dokumente über die dortigen Besteuerung aus der Sicht der deutschen Behörde nicht ordnungsgemäß beigebracht werden konnten. Die Erstattung der Umsatzsteuerbeträge an das Unternehmen fand in Folge deutscherseits nicht mehr statt. Mehrere Millionen Euro, die darüber hinaus rückwirkend an die Finanzbehörde erbracht werden sollten, haben die Lage des deutschen Exporteurs so weit verschlechtert, dass ein Konkurs unvermeid­ lich blieb. 3. Fall: Gerhard Schweinle, ein Spediteur aus der Nähe von Heilbronn in Baden­ Württemberg, hatte vergünstigte Luxuswagen in Deutschland erworben und nach Österreich exportiert. Die Steuerfahnder haben herausgefunden, dass die Autos am vereinbarten Ziel nie angekommen sind. Wie es sich jedoch erst nach Jahren herausstellte, hatte ein Sublieferant von Schweinle durch Doku­ mentenfälschung die Luxuswagen (ohne dessen Wissen) auf ausländischen Märkten verkauft, statt sich an die geschäftlichen Zielvereinbarungen zu halten. Schweinle wurde zu zehn Millionen Euro Rückzahlungen verpflichtet. Auch für seine Spedition drohte nun ein Bankrott. Zwischen 2001 und 2004 wurde er außerdem zwei Jahre und sieben Monate in der Untersuchungshaft festgehalten. Erst in 2009 wurde er gerichtlich rehabilitiert. Amtlich ist das alles in Ordnung. Aber die sozialen Kosten der Fahndungsbürokratie bleiben bestehen. http://www.rudimarion.de/media/6becb0e2e44162dcffff8bcbac144226.htm

C. Das internationale Mehrwertsteuerspiel 1. Wie die Mehrwertsteuer zur größten Steuer der Welt wurde a. Der Siegeszug der Mehrwertsteuer: Die Mehrwertsteuer ist erst etwa 60

Jahre alt. Sie hat anfangs der 1950er Jahre begonnen und ist mittlerweile zur vermutlich größten Steuer der Welt aufgerückt. Auch ihre Sätze sind

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15. Kapitel: Konsumsteuern gar nicht bescheiden. Sie liegen überwiegend Nähe von 20 %, und ein Ende ist nicht abzusehen.7 Wie ist der Siegeszug der Mehrwertsteuer zu erklären? Als Analogie dient das Bild des Pionierunternehmens. Es beginnt als first mover und setzt als solches die Standards. Die anderen Spieler müssen folgen. So entsteht ein Schneeballeffekt, der erst zum Stillstand kommt, wenn alle Märkte der Welt vom first mover erfasst sind. b. Etwas Geschichte: Historisch gesehen ist die Mehrwertsteuer aus der Verbrauchsteuer, der Akzise (excise tax) des 18. Jahrhunderts hervorgegangen. Märkte, auf denen die Händler ihre Waren verkaufen wollten, befanden sich in den Städten. Um zu diesen zu gelangen, mussten die Händler mit ihren Wagen durch die Stadttore fahren. Dort aber lauerte der obrigkeitliche Steuereinzieher und verlangte für jede Durchfahrt eine Akzise. Nach anfänglichen Einnahmenerfolgen erkannten Landesfürsten allmählich die schädliche Wirkung der Akzise für das Wirtschaftswachstum. Daher wurden die Akzisen im Laufe des 19. Jahrhunderts abgebaut und durch Freihandel ersetzt. Wiederentdeckt wurde die Akzise mit der wirtschaftlichen Not des Ersten Weltkriegs. Da es mittlerweile keine Stadttore mehr gab, wurde die Akzise in Deutschland (1918) und in Frankreich (1920) durch die allgemeine Umsatzsteuer ersetzt. Jedes Unternehmen musste für seine Umsätze eine Umsatzsteuer abführen. Weil jede Stufe der Wertschöpfung belastet wurde, wurde diese neue „Akzise“ Allphasen-Bruttoumsatzsteuer genannt. Je nach der Zahl der Handelsstufen wurden einige Produkte mehr, andere weniger belastet. Bei Exporten konnte eine große Zahl von Handelsstufen die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen. Da auf die Steuererträge nicht verzichtet werden konnte, blieb es während der ganzen Zwischenkriegszeit bei der Allphasen-Bruttoumsatzsteuer. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der französische Inspecteur des finances Maurice Lauré auf die geniale Idee, die Exporte von den Steuern zu entlasten und den entgangenen Steuerertrag anderswo, z. B. bei den Importen, aufzubringen. Diese Idee lässt sich damit erklären, dass Exportinteressen in einer Volkswirtschaft stets besser vertreten sind als die Importinteressen. Laurés Idee war nicht nur in statischer Hinsicht als vielmehr wegen ihrer dynamischen Folgewirkungen von nicht zu überschätzender Bedeutung. Dadurch, dass Frankreich den ersten Schritt getan und seine Exporte von Umsatzsteuern entlastet hatte, befanden sich seine Handelspartner unverhofft in einem Wettbewerbsnachteil. Ihnen blieb nichts anderes, als dem Beispiel Frankreichs zu folgen und ebenfalls ihre Exporte von Steuern zu entlasten. Dadurch, dass die ersten Länder Frankreich folgten, mussten bald die anderen auch folgen, wenn sie nicht Wettbewerbsnachteile bei ihren Exporten hinnehmen wollten. So folgte ein Land dem anderen, so dass am Schluss alle Staaten das System der Entlastung ihrer Exporte angenommen hatten. Ein Schneeballeffekt führte zu einem Überhandnehmen der Steuerentlastung der Exporte, vor dem kein Staat mehr Halt machen konnte. Am Ende hatten alle Staaten ihre Exporte entlastet. Das Bestimmungslandprinzip hatte sich durchgesetzt. Derzeit praktizieren ungefähr 120 Staaten der Welt das Bestimmungslandprinzip. 7

http://www.die-mehrwertsteuer.de/de/uebersicht-steuersaetze.html

D. Zusammenfassung des 15. Kapitels Zu erklären bleibt noch die erstaunliche Höhe des Steuersatzes von weltweit etwa 20 %. Zum einen erklärt sich dieser Satz aus der relativen politischen Schwäche der Importeure gegenüber den politsch traditionionell starken Exporteuren. Zum anderen ist die Signalfunktion der EU-Gesetzgebung von Bedeutung. Nach der Mehrwertsteuerrichtlinie von 2007 darf ein EU-Mitgliedstaat die Mehrwertsteuer autonom anheben, aber nicht autonom senken. Daraus ergibt sich eine Begünstigung für Steuererhöhungen. Über 120 Staaten haben nunmehr die Mehrwertsteuer eingeführt. Eine bemerkenswerte Ausnahme bleiben die Vereinigten Staaten von Amerika. Dieses Land kennt wie erwähnt die Einzelhandelssteuer (sales tax), nicht aber die Mehrwertsteuer und folglich nicht die mit ihr einhergehende Exportentlastung. Da aber die Sales Tax eine lokale Steuer ist, entfällt mit ihr automatisch die Besteuerung der Exporte aus einem US-Bundesstaat und auch aus den USA insgesamt. Somit ist das US-System dem Bestimmungslandprinzip nicht so unähnlich, wie es auf den ersten Blick aussieht.

D. Zusammenfassung des 15. Kapitels Die Konsumsteuer kann als persönliche Steuer auf der Käuferseite erhoben werden. Sie gleicht dann einer Einkommensteuer, welche die Ersparnisse von der Steuer befreit. Werden Konsumsteuern auf der Verkäuferseite (also unpersönlich) erhoben, so ist die steuerliche Erfassung einfach. Aber es ist in der Regel nur ein proportionaler Satz anwendbar, wodurch die Eignung dieser Steuer für Umverteilungszwecke eingeschränkt ist. Konsumsteuern werden häufig als Umsatzsteuern bezeichnet. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, dass nicht alle Umsatzsteuern Konsumsteuern sind. Bei der Allphasen-Bruttoumsatzsteuer ist dies beispielsweise nicht der Fall. Nur die Mehrwertsteuer vom Konsumtyp ist eine wirkliche Konsumsteuer. Die Mehrwertsteuerweitergabe endet auf der Endstufe des Handels. Der Endkonsument hat keinen Nachfolger, an den er die Steuer weitergibt. Daher ist Mehrwertsteuerhinterziehung dort besonders attraktiv. Käufer und Verkäufer sind involviert und beide haben ein Interesse daran, dass die Hinterziehung geheim bleibt. Im internationalen Wettbewerb gewährt das Bestimmungslandprinzip dem Land, das dieses Prinzip frühzeitig einführt, einen Wettbewerbsvorteil. Das bewirkt, dass weltweit ein Land nach dem anderen das Bestimmungslandprinzip einführt.

Wichtige Begriffe des 15. Kapitels Intertemporale Neutralität der Konsumbesteuerung Pay-as-you-use-Prinzip Sparbereinigte Einkommensteuer Zinsbereinigte Einkommensteuer

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15. Kapitel: Konsumsteuern Umsatzsteuern Mehrwertsteuer vom Konsumtyp Bestimmungslandprinzip, Ursprungslandprinzip Vorumsatzabzugsverfahren Vorsteuerabzugsverfahren Binnenmarktprinzip Karussellgeschäfte Das Clearing-House-System Reverse-Charge-Verfahren Fehler erster Art, Fehler zweiter Art First-Mover-Vorteil

Literatur zum 15. Kapitel G.S. Becker und C. B. Mulligan, Deadweight Costs and the Size of Government, Journal of Law and Economics, vol. 46, 2003, S. 293–304. Ch. B. Blankart, Income Taxation, Consumption Taxation, Intergenerational Transfers, and Government Behavior, in: B. Wolfe, Hrsg., Impact of Demographic Changes For Public Finance, Ergänzungsband zu Public Finance, Vol. 48, 1993, S. 7–15. Ch. B. Blankart, Wege zu mehr Steuerehrlichkeit, ORDO, Bd. 59, 2008, S. 63–92. Ch. B. Blankart und F. C. Buck, Value Added Taxation in the Deadlock. A Critical Remark on the Merlees Review Berlin Mimeo, 2011. D. F. Bradford, Untangling the Income Tax, Cambridge, Mass. (Harvard Univ. Press) 1986. W. Buchholz und W. Wiegard, Einfache Wahrheiten über intertemporal neutrale Besteuerung, in: J.  Wahl, Hrsg., Steuerpolitik vor neuen Aufgaben, Regensburg (TransferVerlag) 1991, S. 11–48. Bundesministerium der Finanzen, Ausarbeitung der endgültigen Regelung für die Umsatzbesteuerung des innergemeinschaftlichen Waren- und Dienstleistungsverkehrs und für ein funktionsfähiges Clearing-Verfahren, Gutachten der Ursprungslandkommission, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Heft 52, Bonn 1994. European Commission, Taxation Trends in the European Union- Data for the EU Member States and Norway, 2009 edition, Eurostat statistical books, 2009. H. Fehr, Chr. Rosenberg und W. Wiegard, Should the EU Adopt the Origin Principle for VAT after 1997?, Finanzarchiv N. F. Bd. 51, H. 1, 1994, S. 1–27. Lauré, Maurice (1952) Taxe sur la valeur ajoutée, Paris. B. Lockwood, de Meza, D., Myles, G. (1994), The equivalence between Destination and Non-Reciprocal restricted Origin Regimes, in: Scandinavian Journal of Economics, Vol. 96, pp. 311–328. M. Feldstein, The Welfare Cost of Capital Income Taxation, in: Journal of Political Economy, Vol. 86, No. 2, Pt. 2, Special Issue, 1978, S. S29–S51. I. Fisher und H. W. Fisher, Constructive Income Taxation, A Proposal for Reform, New York, London (Harper) 1942. M. Gress, M. Rose und R. Wieswesser, Marktorientierte Einkommensteuer, München (Vahlen) 1998. St. Homburg, Allgemeine Steuerlehre, München (Vahlen), 7. Aufl. 2015. N. Kaldor, An Expenditure Tax, London (G. Allen) 1955. B. Lockwood, D. de Meza, und G. Myles (1994), The equivalence between Destination and Non-Reciprocal restricted Origin Regimes, Scandinavian Journal of Economics, Vol. 96, pp. 311–328. J. St. Mill, Principles of Political Economy with some of their Applications to Social Philosophy, 1848, deutsch: Grundsätze der politischen Ökonomie, Jena (Gustav Fischer) 1921. R. A. und P. B. Musgrave, Public Finance in Theory and Practice, New York u. a. (McGraw Hill), 5. Aufl. 1989, Kapitel 23.

D. Zusammenfassung des 15. Kapitels Parlement Européen, Direction générale de la recherche (1995), Document de travail options pour un régime définitif de TVA, Série Affaires Economiques E5-FR 09/95, Brüssel. M. Rose, Hrsg., Standpunkte zur aktuellen Steuerreform, Heidelberg (Verlag Recht und Wissenschaft) 1997. B.-A. Wickström, Public Choice and the Consumption Tax, comments on the paper given by D.  C.  Mueller, in: M.  Rose, Hrsg., Heidelberg Congress on Taxing Consumption, Heidelberg: Springer, 1990, S. 240–243. P. Zumstein, Die Ausgabensteuer, volkswirtschaftliche Begründung und praktische Durchführbarkeit, Diessenhofen (Rüegger) 1977.

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Auf dem Gebiete der Besteuerung bleibt der Wille des Gesetzgebers vielfach unerfüllt. Seine Absichten werden durch die Eigenbewegung der Volkswirtschaft durchkreuzt, so dass sich die Erfahrung: Wirtschaft ist stärker als Recht – in diesem Zusammenhang abermals bestätigt. F. K. Mann (1928)

16. Kapitel Wer trägt die Steuern? A. Was die Klassiker der Nationalökonomie sagen Festzustellen, wer eine Steuer an den Staat abführt, ist eine einfache Aufgabe. Schwieriger ist die Frage der Inzidenz zu lösen, also herauszufinden, wer letztlich die Steuerlast trägt. Erste Überlegungen zu dieser Frage gehen auf die Klassiker der Nationalökonomie zurück. Der französische Ökonom, Mathematiker und Finanzwissenschaftler Nicolas François Canard (1750–1833) erkannte, dass Steuern von vorgelagerten auf nachgelagerte Märkte überwälzt werden. Dann jedoch verlor er die Spur der Inzidenz. Er schloss auf eine Steuerdiffusion, wonach sich Steuern, die auf einem Markt erhoben werden, dann wie von selbst auf die ganze Volkswirtschaft ausbreiten, so dass ihre Last letztlich nicht mehr wahrgenommen wird. Gefühlt würden nur neue Steuern, die noch nicht überwälzt worden seien. Daher sollten bestehende Steuern beibehalten werden. Alte Steuern seien gute Steuern. Neue Steuern seien dagegen schlechte Steuern. Steuerreformen, die zu neuen Steuern führen, seien unnütz und sollten daher unterbleiben. Seit den Jahren von N. F. Canard sind Fortschritte erzielt worden. Die Theorie der Steuerinzidenz ist differenzierter geworden. Es wird zwischen formaler und effektiver Inzidenz unterschieden. Formaler Steuerträger ist, wer eine Steuer an den Fiskus abführt. Die effektive Inzidenz bezieht sich dagegen auf den effektiven Steuerträger, d. h. auf das Individuum, das nach Anpassungen der Märkte die Steuer wirklich trägt. Zwischen formaler und effektiver Inzidenz liegt die Steuerüberwälzung. Sie beinhaltet die Verschiebung der Steuerlast vom Steuerschuldner auf den Steuerträger. Steuerüberwälzung kann als Steuerfortwälzung oder Steuerrückwälzung erfolgen. Im ersten Fall gelingt es dem Steuerschuldner, die Angebotspreise anzuheben, im zweiten Fall vermag er Druck auf die Zulieferpreise auszuüben.

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16. Kapitel: Wer trägt die Steuern? Betrachten wir die Biersteuer. Steuerschuldner sind die Brauereien. Wenn es ihnen gelingt, die Biersteuer auf die Bierpreise fortzuwälzen, sind nicht mehr sie Steuerträger, sondern die Biertrinker. Im Falle der Rückwälzung werden die Anbieter der von den Brauereien nachgefragten Produktionsfaktoren, d. h. die Lieferanten von Hopfen, Malz und Wasser zu Steuerträgern. Die Steuerinzidenz ist ein Tummelplatz für politische Behauptungen. In dem für Deutschland einschlägigen Handbuch des Steuerrechts von K. Tipke und J. Lang (1994, S. 184) findet sich zum Thema direkte und indirekte Steuern folgender Satz: „Bei direkten Steuern sind Steuerschuldner und Steuerträger identisch. Indirekte Steuern werden vom Steuerschuldner auf einen anderen, den Steuerträger, überwälzt; Steuerschuldner und Steuerträger sind also verschiedene Personen oder Subjekte. Im Allgemeinen gilt, dass Steuern auf das Einkommen und Vermögen direkte Steuern sind, also nicht überwälzt werden, während Steuern auf die Verwendung von Einkommen und Vermögen (Umsatzsteuer, Verbrauch- und Verkehrsteuern) im Preis der umsatz-, verbrauch-, verkehrsteuerbelasteten Ware überwälzt werden. So enthält z. B. der Benzinpreis die überwälzte Umsatzsteuer und Mineralölsteuer.“ Diese Aussage ist solange unproblematisch (aber auch unbedeutend), als sie, wie in den ersten beiden Sätzen angedeutet, nur definitorisch gemeint ist. Direkte Steuern sind eben solche Steuern, die nicht überwälzt werden, während indirekte Steuern solche sind, die überwälzt werden. Aus der Definition wird aber eine Theorie, wenn – wie im zweiten und dritten Satz des Zitats – behauptet wird, Einkommen- und Vermögensteuern nicht überwälzt werden, während Umsatz-, Verbrauch- und Verkehrsteuern (z. B. die Mineralölsteuer) überwälzt werden. Weshalb dies so sein soll, bleibt im Dunkeln. Stattdessen werden Schubladen von Steuerkategorien geschaffen, in welche die jeweiligen Steuern eingeordnet werden. Für den an der Erkenntnis der Wirklichkeit interessierten Ökonomen wird damit nichts gewonnen. Für ihn ist es vielmehr wichtig herauszufinden, wovon es abhängt, ob eine Steuer überwälzt wird oder nicht. Erst aufgrund dieses Verständnisses kann er nähere Vermutungen über die Inzidenz einzelner Steuern aufstellen.

B. Wunsch und Wirklichkeit der Steuerinzidenz 1. Nur Individuen können Steuern tragen Im Steuerrecht wird zwischen Subjekt- und Objektsteuern unterschieden. Die ersteren knüpfen an Tatbestandsmerkmalen eines Individuums an, z. B. an dessen Einkommen, die Anzahl seiner Kinder usw. Die letzteren beziehen sich auf die Ertragskraft eines bestimmten Aktivums, z. B. eines Bauernhofs, eines Gewerbebetriebs oder eines Grundstücks. Besteuert wird das Objekt und nicht der Eigentümer. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Gewerbesteuer (vgl. 12. Kapitel). Im weiteren Sinne werden gelegentlich auch die Körperschaftsteuern als Steuern auf Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung zu den Objektsteuern gezählt. Vielfach wird daraus der Schluss gezogen,

C. Steuerinzidenz im partiellen Gleichgewicht Objektsteuern würden auch von den Objekten selbst getragen; gerade dadurch unterschieden sie sich von den Subjektsteuern, die von den Individuen getragen werden. Man darf sich aber durch solche Konstruktionen nicht verwirren lassen. Handlungseinheit ist stets das Individuum (vgl. 1. Kapitel). Nur das Individuum hat ein Budget und kann daraus Nutzen ableiten. Ist es Eigentümer eines Objektes, an dem eine Steuer hängen bleibt, so verringert sich sein Budget und damit sein Nutzen im Vergleich zum Zustand ohne Steuer. Daher kann nur das Individuum die Steuer tragen.

C. Steuerinzidenz im partiellen Gleichgewicht1 Neuen Wind in die Steuerinzidenzlehre brachte um etwa 1900 die neoklassische Ökonomie. Für neoklassische Ökonomen haben Güter einen Wert, weil sie Nutzen stiften. Umgekehrt vermindern Steuern den Nutzen, weil der Staat zwischen Angebot und Nachfrage eindringt und den Individuen nicht erlaubt, den ungetrübten Nutzen aus dem Gut zu maximieren. In Abbildung  16.1, die auf den neoklassischen Ökonomen Alfred Marshall (1890)  zurückgeht, stellen die beiden Geraden A und N Angebot und Nachfrage z. B. nach Bier in Gaststätten in Abhängigkeit vom Preis dar. Es herrsche vollständige Konkurrenz unter den Gaststätten, so dass A der Summe der Grenzkostenkurven der einzelnen Anbieter entspricht. Bei der Nachfrage N bildet sich der Gleichgewichtspreis p0 bei der Menge OC. Der Staat erhebe nun eine Mengensteuer m pro Maß Bier. Man kann sich vorstellen, dass er diese Steuer dem Nachfrager oder dem Anbieter auferlegt. Der erste Fall ist etwas

Abbildung 16.1: Inzidenz einer Mengen- und Wertsteuer 1

Einige Teile dieses Abschnitts folgen der Darstellung von R. A. und P. B. Musgrave (1984 Kap. 13 und 1989 Kap. 15 und Kap. 26).

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16. Kapitel: Wer trägt die Steuern? umständlich zu verwirklichen. Die Nachfrager müssten z. B. beim Verlassen der Gaststätten dem staatlichen Steuereinzieher die Rechnung vorlegen und die Biersteuer bezahlen. Doch auf diese Komplikation kommt es jetzt nicht an. Im zweiten Fall wird die Steuer bei den Anbietern erhoben. Sie bezahlen dem Staat den Steuersatz m für die Zahl der ausgeschenkten Maß Bier. In jedem der beiden Fälle werden die Marktpartner als Folge der Besteuerung ein unterschiedliches Kalkül anstellen. Aber das Marktergebnis bleibt dasselbe, ebenso die Inzidenz der Biersteuer. Für die Inzidenz der Steuer ist es unbedeutend, ob Anbieter oder Nachfrager die Steuer abführen. Betrachten wir zunächst den Fall, dass die Nachfrager die Steuer abführen. Sie gehen in ihrem Kalkül von der Nachfragekurve N aus; diese ist für sie fest vorgegeben, wie hoch auch immer die Steuer angesetzt wird. Niemand kann die Nachfrager veranlassen, für eine zusätzliche Maß Bier mehr auszugeben, als ihrer marginalen Bewertung entspricht. Kommt die Steuer m zu einem beliebigen Preis p hinzu, sinkt ihre (Netto) Zahlungsbereitschaft auf den Preis p-m. Aus der Sicht der Anbieter hat sich daher die Nachfragekurve nach N-m verschoben. Beträgt die Nachfrage aus ihrer Sicht lediglich noch N-m, so werden sie nur noch OB anzubieten bereit sein. Nach der Einführung der Steuer gibt es also zwei Preise bei der gleichen Menge: Den Nettopreis pn aus der Sicht der Anbieter und den Bruttopreis pb (inklusive Steuer) aus der Sicht der Nachfrager. Die Inzidenz der Steuer lässt sich am alten Preis p0 ablesen. Dieser Preis liegt zwischen pn und pb, was zeigt, dass beide Marktseiten einen Teil der Steuer tragen. Der größere Teil EF entfällt auf die Nachfrager, der kleinere ED auf die Anbieter. Das gleiche Ergebnis folgt, wenn die Steuer bei den Anbietern eingehoben wird. Die Anbieter werden nur auf ihrer Angebotskurve und nicht darunter anzubieten bereit sein, wie hoch auch immer die Steuer sei. Weil aber die Steuer bezahlt werden muss, erhöht sich der Angebotspreis p für jede Menge auf p + m, d. h. die Angebotskurve verschiebt sich aus der Sicht der Nachfrager um den Steuersatz m nach oben. Die neue Angebotsmenge liegt bei OB und der neue Angebotspreis aus der Sicht der Nachfrager bei pb. Es sieht also so aus, als hätten die Anbieter die Steuern voll überwälzt. Dies ist aber nicht der Fall. Denn ihr Angebotspreis pn liegt unter dem alten Preis p0. Die Anbieter tragen also auch einen Teil der Steuer; den anderen tragen die Nachfrager, die nunmehr mit pb einen höheren Preis als zuvor bezahlen müssen. Die Steuerlasten verteilen sich zwischen Anbietern und Nachfragern im Verhältnis ED zu EF, also genauso wie im vorangegangenen Fall, bei dem die Steuer bei den Nachfragern eingehoben wird. Deshalb spielt es für die Inzidenz keine Rolle, wer Steuerschuldner ist. Somit wird unsere These bestätigt, dass die Organisation des Steuereinzugs keinen Einfluss auf die Steuerinzidenz im Gleichgewicht hat. Die Inzidenz hängt von den Marktkräften ab. Nehmen wir nun an, der Staat erhebe statt der Mengensteuer eine Wertsteuer auf Bier, die – aus Gründen der Vergleichbarkeit – den gleichen Steuerertrag liefern soll wie die Mengensteuer. Um Ertragsgleichheit zu erreichen, muss der Staat bildlich gesehen einen gleich großen Keil zwischen Angebot und Nachfrage schieben wie im Falle der Mengensteuer. Dies ist in Abbildung 16.1b geschehen.

C. Steuerinzidenz im partiellen Gleichgewicht Die Lage des Keils ist durch die Nachfragekurve N und die Angebotskurve A genau bestimmt. Brutto- und Nettopreise pb und pn sind daher die gleichen wie zuvor. Nur kommen sie jetzt durch relative Abschläge bzw. Zuschläge zustande: Aus der Sicht der Anbieter sind die Nachfrager nunmehr nur noch bereit, pb/ (1 + t) für eine zusätzliche Maß Bier zu bezahlen, wenn sie steuerpflichtig sind. Dadurch entsteht die verschobene Nachfragekurve N/(1 + t). Umgekehrt sind die Anbieter aus der Sicht der Nachfrager nur noch bereit, zum Preis pn(1 + t) anzubieten, wenn sie die Steuer abführen müssen, woraus die Angebotskurve A(1 + t) folgt. Offensichtlich ist die Inzidenz auf Anbieter und Nachfrager die gleiche wie im Falle einer aufkommensgleichen Mengensteuer.2 Wenn aber die Marktkräfte so wichtig sind für die Steuerlastverteilung, worin drücken sich dann diese in einem wettbewerblich organisierten Markt aus? Wir wollen im Folgenden zeigen, dass sich die Marktkräfte durch die Preiselastizitäten von Angebot und Nachfrage darstellen lassen. Dies ist auch intuitiv einsichtig: Je geringer eine der beiden Preiselastizitäten im Vergleich zur anderen ist, umso weniger können Anbieter bzw. Nachfrager sich anpassen, wenn sich die Marktbedingungen, z. B. infolge einer Steuererhebung, ändern, und desto größer wird ihr Anteil an der Steuerlast sein. Die Elastizität dient als Maß für die „Ausweichmöglichkeiten“ der betrachteten Marktseite. Dies lässt sich an einer definitorischen Aufspaltung der Angebots- und der Nachfrageelastizität ohne weiteres ersehen. Anhand der Abbildungen 16.1 definieren wir die Angebotselastizität als (16.1) e = (BC/OC) (OE/DE) und die Nachfrageelastizität als (16.2) η = (BC/OC) (OE/EF) Setzen wir die beiden Ausdrücke zueinander in Beziehung, so ergibt sich (16.3) ε/η =

(BC/OC) (OE/DE) (BC/OC) (OE/EF)

oder (16.4) ε/η =

EF Last des Käufers 3 . = DE Last des Verkäufers

Die rechte Seite von Gleichung (16.4) entspricht der Belastung des Käufers im Vergleich zur Belastung des Verkäufers. Somit ist die relative Belastung der beiden Marktpartner gerade umgekehrt proportional zu den Preiselastizitäten des Angebots bzw. der Nachfrage. M. a. W. die Überwälzung der Steuer auf den 2

3

Mengen- und Wertsteuern haben jedoch unterschiedliche Eigenschaften in der Handhabung durch den Staat. Eine Mengensteuer setzt bei tangiblen Sachverhalten (z. B. Liter Bier) an und ist daher relativ einfach zu erheben. Die Wertsteuer ist diesbezüglich etwas aufwendiger. Aber ihr Ertrag wächst in Zeiten der Inflation automatisch mit den Umsätzen, was den ursprünglichen Intentionen des Steuergesetzgebers u. U. eher entsprechen mag als die in absoluten Größen verharrende Mengensteuer. Vgl. R. A. und P. B. Musgrave (1984, S. 272). Wenn auch die Kreuzpreiselastizitäten von Bedeutung sind, ist diese einfache Aussage indessen zu modifizieren.

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16. Kapitel: Wer trägt die Steuern? Käufer gelingt umso mehr, je größer die Angebotselastizität im Vergleich zur Nachfrageelastizität ist. Jede dieser beiden Elastizitäten kann dem Betrag nach die Werte null, endlich oder unendlich annehmen. Infolgedessen gibt es verschiedene Kombinationen von Elastizitätswerten der Angebots- und Nachfrageseite, die jeweils unterschiedliche Inzidenzergebnisse hervorrufen. Wir wollen anhand von Abbildung 16.2 vier Extremfälle näher betrachten.

Abbildung 16.2: Inzidenz einer Produktsteuer bei unterschiedlichen Kombinationen von Angebots- und Nachfrageelastizitäten

a) Preiselastizität der Nachfrage ist gleich null, Preiselastizität des Angebots ist endlich:4 Im Falle einer Mengensteuer verschiebt sich die Angebotskurve aus der Sicht der Nachfrager um den Steuersatz m nach oben. Diese sind bereit, die Preiserhöhung zu akzeptieren; sie bleiben dabei auf ihrer Nachfragekurve. Die Steuer wird in vollem Umfang von den Nachfragern getragen.

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Die Elastizitätswerte werden jeweils in absoluten Zahlen betrachtet.

C. Steuerinzidenz im partiellen Gleichgewicht b) Preiselastizität der Nachfrage ist endlich, Preiselastizität des Angebots gleich null: Aus der Sicht der Anbieter hat sich die Zahlungsbereitschaft der Nachfrager nach der Einführung einer Mengensteuer um den Steuersatz m nach unten verschoben. Die Anbieter sind bereit, dies zu akzeptieren, bleiben sie doch dabei auf ihrer bisherigen Angebotskurve. Die Steuer wird in vollem Umfang von den Anbietern getragen. c) Preiselastizität der Nachfrage ist unendlich, Preiselastizität des Angebots endlich: Aus der Sicht der Anbieter verschiebt sich die Nachfragekurve um den Steuersatz m nach unten. Die Anbieter sind unter diesen Bedingungen nicht mehr bereit, gleich viel wie bisher anzubieten. Sie reduzieren ihr Angebot von OC auf OB und realisieren dabei den Nettopreis pn. Der Bruttopreis pb entspricht dem alten Preis p0 und zeigt somit an, dass die Steuer in vollem Umfang von den Anbietern getragen wird. Man könnte umgekehrt auch sagen: Aus der Sicht der Nachfrager hat sich die Angebotskurve um den Steuersatz m nach oben verschoben. Die Nachfrager reduzieren infolgedessen ihren Konsum von OC auf OB. Entsprechend bildet sich der Nettopreis pn und der Bruttopreis pb = p0 . d) Preiselastizität der Nachfrage ist endlich, Preiselastizität des Angebots ist unendlich: Aus der Sicht der Nachfrager hat sich die Angebotskurve um den Steuerbetrag m nach oben verschoben. Sie müssen nunmehr den Preis pb statt nur p0 bezahlen und reduzieren daher ihre Nachfrage von OC auf OB. Aus der Sicht der Anbieter hat sich jedoch die Zahlungsbereitschaft der Nachfrager um m verringert. Die Anbieter sind bei dieser neuen Zahlungsbereitschaft nur mehr bereit, OB (statt wie bisher OC) anzubieten. Die Steuer fällt damit in vollem Umfang auf die Nachfrager.

2. Sozialversicherungsbeiträge: Eine Anwendung der Steuerinzidenztheorie Die hier erarbeiteten Hypothesen zur Steuerinzidenz lassen vielfache Anwendungen auf die Praxis zu. Wir betrachten hier die Inzidenz der Beiträge zur Sozialversicherung, d. h. zur Arbeitslosen-, Kranken-, Pflegekosten-, Rentenund Unfallversicherung. In Deutschland werden diese Beiträge je zur Hälfte von den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern aufgebracht. Eine Ausnahme stellen nur die Beiträge zur Unfallversicherung dar, die in vollem Umfang von den Arbeitgebern übernommen werden. Wir wollen diesen Sonderfall zunächst ausklammern und später darauf zurückkommen. Hinter der vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Beitragsaufteilung steht seine Auffassung, dass für die soziale Absicherung der Arbeitnehmer nicht nur sie selbst, sondern auch die Arbeitgeber verantwortlich seien. Sie hätten eine Fürsorgepflicht für die in ihren Diensten stehenden Arbeitnehmer. Für den Ökonomen stellt sich die Frage, ob sich die gesetzlich gewollte Lastenverteilung auch auf dem Markt durchsetzt. Um dies zu erkennen, betrachten wir in Abbildung 16.3 Angebot A und Nachfrage N nach Arbeit.5 Anbieter sind die Arbeitnehmer und Nachfrager 5

Vgl. hierzu R. A. und P. B. Musgrave (1989, Kapitel 26).

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16. Kapitel: Wer trägt die Steuern?

Abbildung 16.3: Die Inzidenz von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung

die Arbeitgeber. Ohne die Pflicht zur Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen bildet sich ein Arbeitsmarktgleichgewicht beim Punkt E. Angebotene und nachgefragte Arbeitsmenge betragen OX0 und der Lohnsatz OB. In dieser Situation werden Sozialversicherungsbeiträge eingeführt, die je zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen werden sollen. Wenn die Arbeitnehmer diese als Steuer betrachten, also in ihrem individuellen Kalkül keine spezifische Gegenleistung in der Zukunft erwarten,6 so werden sie ihr Arbeitsangebot einschränken. Die Einführung eines Bruttobeitragssatzes in der Höhe CF/OF erhöht die Angebotskurve aus Sicht der Arbeitgeber von A auf A’. Die Arbeitgeber werden mit einer gleich hohen Nettosteuer FG/OF konfrontiert, die die Nachfragekurve nach Arbeit aus Sicht der Arbeitnehmer von N auf N’ reduziert.7 Das neue Gleichgewicht liegt bei E’. Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden hat sich von X0 auf X1 reduziert. Der Staat hat einen Keil zwischen Angebot und Nachfrage geschoben, der den Bruttolohnsatz auf OG erhöht und den Nettolohnsatz auf OC reduziert. Es sieht so aus, als ob das gesamte Beitragsvolumen CGKH als Folge der staatlichen Gesetzgebung je zur Hälfte, nämlich in der Höhe CFE’H und FGKE’, von den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern aufgebracht worden wäre. Genau dasselbe Ergebnis wäre allerdings erzielt worden, wenn die Beiträge nur von den Arbeitnehmern mit einem Beitragssatz GC/OC aufgebracht worden wären. Die Arbeitsangebotskurve aus 6

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Die zahlreichen Umverteilungen, die in diese Versicherungswerke eingebaut sind, vermindern deren Äquivalenzcharakter, so dass die Hypothese einer Steuer nicht abwegig ist. Für eine nähere Analyse vgl. aber die Ausführungen im 18. und 19. Kapitel. Brutto- bzw. Nettosteuersätze werden gewählt, um im neuen Marktgleichgewicht für Anbieter und Nachfrager die gleiche Bemessungsgrundlage für die Steuer – in diesem Beispiel OF – zu erhalten.

C. Steuerinzidenz im partiellen Gleichgewicht Sicht der Arbeitgeber würde dann von A auf A“ steigen und zum Gleichgewicht bei K führen. Dasselbe gilt, wenn die Beiträge nur von den Arbeitgebern mit dem Satz GC/OC eingefordert werden. Die Arbeitsnachfragekurve fällt dann von N auf N“, was ein Gleichgewicht bei H impliziert. Nettolohnsatz für die Arbeitnehmer und Bruttolohnsatz für die Arbeitgeber verbleiben unverändert bei OC bzw. OG. Es bestätigt sich also hier der Satz, dass es im Gleichgewicht keine Rolle spielt, ob die Sozialversicherungsabgaben von den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern oder von beiden erhoben werden. Das hier gefundene Ergebnis lässt sich nunmehr unmittelbar auf die bisher außer Betracht gelassene Unfallversicherung anwenden. Bei dieser werden die Beiträge wie erwähnt allein durch die Arbeitgeber aufgebracht. Aber für die Inzidenz ist dies wiederum irrelevant. M. a. W. die unterschiedliche beitragsmäßige Behandlung der Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung einerseits und der Unfallversicherung andererseits ist ökonomisch unerheblich, solange die Individuen die Abgaben wie Steuern betrachten. Auch der lange geführte Streit um die Aufteilung der Beiträge für die Pflegekostenversicherung (zusätzlich zur Rentenversicherung) auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer sieht aus dieser Optik belanglos aus. Wichtig ist nur, dass der Keil zwischen Angebot und Nachfrage durch die Pflegekostenversicherungsbeiträge verbreitert wird, wodurch die auf der horizontalen Achse gemessene Beschäftigung weiter zurückgeht. Denn aus der Sicht der Arbeitgeber sind die Lohnkosten gestiegen und aus der Sicht der Arbeitnehmer die Nettolöhne gesunken.8 Die tatsächliche Lastverteilung hängt (auch hier) von den Elastizitäten des Angebots und der Nachfrage ab. Im vorliegenden Fall lässt sich die Lastenverteilung in der Grafik im Vergleich zum Gleichgewichtslohn OB vor Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge ablesen. Die Last der Arbeitnehmer beträgt dann BC pro Arbeitsstunde und die der Arbeitgeber BG. Wäre die Arbeitsangebotskurve (partialanalytisch betrachtet) völlig lohnunelastisch, so trügen letztlich nur die Arbeitnehmer die ganzen Sozialversicherungsbeiträge. Indessen scheint diese Extremhypothese langfristig kaum der Realität zu entsprechen. Von Bedeutung ist im Weiteren, inwiefern die Arbeitgeber Beitragslasten auf die Preise zu überwälzen vermögen. Dann wären nämlich wiederum die Arbeitnehmer, jetzt in ihrer Rolle als Konsumenten, Träger der Sozialversicherungsbeiträge.

3. Produktsteuern im Monopol und Oligopol Hinsichtlich der Monopole könnte man die Meinung vertreten, sie seien in besonderem Maße in der Lage, die ihnen angelasteten Produktsteuern zu überwälzen, weil sie als Alleinanbieter die Preise ohne Rücksicht auf Konkurrenzangebote festsetzen können. Eine nähere Analyse zeigt aber, dass dies nicht zutrifft. Betrachten wir hierfür Abbildung  16.4. Sie stellt den üblichen 8

Dass der Kompromiss letztlich in der Streichung von Feiertagen gefunden worden ist, bleibt irrelevant. Die vereinbarte Mehrarbeit führt zu einer Anpassung der Arbeitsangebotskurve, wodurch der Status quo wieder hergestellt wird.

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16. Kapitel: Wer trägt die Steuern? Monopolfall mit der linearen Nachfragekurve N und der Grenzertragskurve GE dar. Die  Grenzkostenkurve ist horizontal gezeichnet, um bei gegebener Nachfragekurve einen Fall mit höchstmöglicher Angebotsflexibilität, d. h. mit bestmöglichen Bedingungen für eine Überwälzung zu betrachten (vgl. Abbildung 16.2d). Erstaunlicherweise erweist sich aber dieses Monopol dem Fiskus gegenüber als schwach. Bei einem gewinnmaximierenden Preis (bei Grenzkosten = Grenzertrag) vor Einführung der Steuer von p0 steigt der Bruttopreis nach Erhebung einer Mengensteuer in der Höhe m nur auf pb. Der Nettopreis pn = pb–m liegt unter p0, zeigt also an, dass keine volle Überwälzung stattgefunden hat. Genauer: Die Preiserhöhung (pb–p0) ist genau halb so groß wie der Mengensteuersatz m. Das hier betrachtete Monopol kann also nur die Hälfte der Steuer überwälzen. Dies ist deshalb so, weil die Nachfragekurve, die für die Preisbildung verantwortlich ist, nur die Hälfte der Steigung der Grenzumsatzkurve, die für die Mengenänderung bestimmend ist, aufweist. Dieses Ergebnis steht in scharfem Gegensatz zum Modell der vollständigen Konkurrenz, bei welchem im Falle horizontaler Angebotskurven die ganze Steuer überwälzt werden kann. Während die Steuerinzidenz einer Produktsteuer bei vollständiger Konkurrenz und beim Monopol konzeptionell eindeutig bestimmt werden kann, bleiben die Steuerwirkungen im Zwischenfall des Oligopols weitgehend offen. Denn es gibt verschiedene Preissetzungsstrategien für diese Marktform. Glaubt ein Oligopolist, dass ihm die Wettbewerber auf Preiserhöhungen nicht folgen, so wird er kaum versuchen, auf eine Steuereinführung oder -erhöhung mit einer

Abbildung 16.4: Inzidenz einer Produktsteuer im Monopol

C. Steuerinzidenz im partiellen Gleichgewicht Preiserhöhung zu reagieren. Denn er würde alle seine Kunden verlieren.9 Wirkt umgekehrt die Einführung oder Erhöhung einer Produktsteuer als Signal für die Wettbewerber, so wird dies u. U. dazu beitragen, dass sie alle ihre Preise anheben und somit die Steuer (wenigstens teilweise) überwälzen. Ähnliche Reaktionen wären in einem Preisführerschaftswettbewerb oder im Falle einer von allen Oligopolisten verfolgten Aufschlagkalkulation zu erwarten.10

4. Steuern auf Residualeinkommen Der Residualeinkommensbezieher hat keinen Vertragspartner, dem er auf einem Markt gegenübertreten könnte. Wenn er sein Eigenkapital in die Unternehmung schon investiert hat, kann er sich nicht mehr in der Kapazität anpassen. Er hat irreversible oder so genannte versunkene Kosten getätigt, aus denen er nicht mehr herauskommt. Was bleibt ihm anderes als sich – sei es als Wettbewerber oder als Monopolist – in der Menge anzupassen und innerhalb dieser Möglichkeit nach dem höchstmöglichen Gewinn zu suchen? Vergegenwärtigen wir uns anhand von Abbildung 16.5 die Entscheidungssituation eines solchen Unternehmens. Im oberen Bild der Abbildung sind der Preis p und die Grenzkosten GK eines wettbewerblichen Unternehmens abgetragen. Diese Ertrags-Kostenkombination liefert die Gewinnfunktion G(X) im mittleren Teil der Abbildung mit dem Gewinnmaximum bei der Menge OB. Wird nun eine Gewinnsteuer von z. B. t = 50 Prozent erhoben, so schrumpft die Gewinnfunktion auf tG(X). Sie wird flacher, aber das Gewinnmaximum bleibt bei B. Dies gilt auch, wenn die Gewinnsteuer progressiv ausgestaltet ist. Selbst wenn das Unternehmen versuchen würde, die zusätzliche Gewinnsteuer auf die Grenzkosten aufzuschlagen und sie so auf die Preise zu überwälzen, änderte sich nichts. Die marginalen Steuerkosten MSK, die im untersten Teil der Abbildung dargestellt sind, haben nämlich bei der Menge OB den Wert null, verschieben also die Lage der Grenzkostenkurve in diesem Punkt nicht, wenn sie zu dieser hinzu addiert werden (vgl. obersten Teil der Abbildung). Damit verändert sich auch die Lage des Gewinnmaximums nicht. Der Leser kann die gleichen Überlegungen auch anhand einer Monopolunternehmung durchexerzieren. Hierzu ist von einer fallenden Preisgeraden auszugehen. Aus dem Schnittpunkt der zugehörigen Grenzumsatzkurve mit der Grenzkostenkurve lässt sich dann das Gewinnmaximum ableiten. Der Rest der Analyse bleibt gleich wie im Wettbewerbsfall.11 9 10

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Dies gilt jedenfalls kurzfristig. Langfristig wird er möglicherweise aus dem Markt ausscheiden und damit Raum für eine Preiserhöhung schaffen. Derartige koordinierte Oligopole können allerdings zusammen auch nicht mehr an Preissetzungsspielraum ausschöpfen als einem Monopol insgesamt zur Verfügung steht. Diese Schlussfolgerungen über die Nichtüberwälzbarkeit von Gewinnsteuern gelten freilich nur, wenn sich das Unternehmen zuvor im Gewinnmaximum befindet. Trifft dies nicht zu, etwa weil es andere Ziele als jene der Gewinnmaximierung verfolgt, so ist Steuerüberwälzung nicht unmöglich. Strebt ein Unternehmen beispielsweise nach Umsatzmaximierung unter der Nebenbedingung eines Mindestgewinns, so kann es im Falle einer Gewinnsteuererhebung noch vorhandene Preissetzungsspielräume ausschöpfen, sich dem Gewinnmaximum annähern und so die Steuer teilweise oder ganz überwälzen, vgl. R. A. und P. B. Musgrave (1989, S. 264–269).

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16. Kapitel: Wer trägt die Steuern?

Abbildung 16.5: Inzidenz einer Gewinnsteuer

5. Besteuerung des mobilen Kapitals Ganz anders sieht die Inzidenz jedoch aus, wenn das Unternehmen noch nicht investiert hat. Es kann sich dann noch anpassen, und Anpassung vermindert – wie wir gesehen haben – regelmäßig die Besteuerungslast. Betrachten wir den Fall von Kapitaleignern. Sie werden insbesondere abwägen, ob sie im In- oder Ausland investieren sollen. Dieser Prozess wird in einer Welt ohne Steuern auf Kapital dazu führen, dass sich die marginalen Ertragsraten international anpassen. Unterschiedliche Ertragsraten haben somit auf einem internationalen Kapitalmarkt, wenn keine Mobilitätsbeschränkungen bestehen, keinen Bestand. Wenn ein Land zum Zwecke der Umverteilung im Alleingang eine Steuer auf Kapitaleinkommen zu erheben versucht, so werden bei ihm die Investitionen

C. Steuerinzidenz im partiellen Gleichgewicht solange zurückgehen, bis die Nettoertragsrate des Kapitals (d. h. die Bruttoertragsrate abzüglich der Steuer) wieder gleich groß ist wie im Ausland. Dieser Zusammenhang lässt sich graphisch verdeutlichen und vertiefen (vgl. H. W. Sinn 1994 und andere). In Abbildung 16.6 repräsentiert die fallende Kurve GPK den Verlauf der Grenzproduktivität des Kapitals im Inland. i stellt den Weltkapitalmarktzins dar. D. h. unter dem Niveau i wird im betrachteten Land nicht investiert. Damit kommt ein Kapitalangebot  OG zustande. Das mobile Kapital verdient OAEG. Die restlichen Einkommen – dargestellt durch die Fläche  ACDE – gehen an die immobilen Faktoren (Arbeit sowie Grund und Boden). Versucht jetzt die Regierung, zu Umverteilungszwecken im Alleingang eine Steuer t auf das mobile Kapital zu erheben, so geht das Kapitalangebot im Inland auf OF zurück. Denn die Kapitaleigner wollen den gleichen Nettoertrag wie im Ausland erzielen. Der Staat realisiert den Steuerertrag t · OF, und das Einkommen der immobilen Faktoren (immobile Arbeiter sowie Grund und Boden. fällt auf BCD. Rein formal hat der Staat eine Steuer auf den Faktor Kapital erhoben. Diese wird aber infolge des unendlich elastischen Kapitalangebots vollumfänglich auf die immobilen Faktoren überwälzt. Die Umverteilung belastet also den Faktor, der eigentlich hätte begünstigt werden sollen (vgl. 12. Kapitel). Dessen Faktoreinkommen ist zurückgegangen, nicht aber das des mobilen Kapitals. Dieses entflieht ins Ausland und wird dort zum Zinssatz i entlohnt. Es zeigt sich, dass Umverteilungskoalitionen in einem liberalisierten Kapitalmarkt wenig ausrichten können. Dies ist anders, wenn die Steuererträge z. B. zur Verbesserung der Infrastruktur verwendet werden und dadurch die Grenzproduktivität des Kapitals erhöhen, d. h. die GPK-Kurve nach oben verschieben (Näheres im 12. Kapitel: Grundsteuer).

Abbildung 16.6: Inzidenz bei Besteuerung des mobilen Kapitals

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16. Kapitel: Wer trägt die Steuern?

D. Steuerinzidenz im allgemeinen Gleichgewicht In den bisher betrachteten Modellen ist nicht näher spezifiziert worden, auf welche Märkte das besteuerte Faktorangebot bzw. die besteuerte Güternachfrage abwandert und welche Effekte diese Wanderung auslöst. Dies erfolgt in der allgemeinen Gleichgewichtsanalyse der Steuerinzidenz. Die Zahl der Abwanderungsmöglichkeiten oder der Märkte, die einem Individuum im Falle der Besteuerung offen stehen, ist groß. Daher ist die Inzidenz im Allgemeinen Gleichgewicht schwer zu erfassen. Nur wenn rigorose Vereinfachungen eingeführt werden, bleibt das Problem der Steuerinzidenz im allgemeinen Gleichgewicht handhabbar. Doch solche Vereinfachungen sind möglich und erkenntnisreich, solange nur eine zentrale Eigenschaft des allgemeinen Gleichgewichtsansatzes erhalten bleibt, nämlich dass mindestens zwei Märkte betrachtet werden, die voneinander abhängen.

1. Die Annahmen des Modells von A. C. Harberger Das grundlegende Modell zur Analyse der Steuerinzidenz im allgemeinen Gleichgewicht geht auf A. C. Harberger (1962) zurück. Seine Modellannahmen lassen sich wie folgt zusammenfassen: a) Es gibt zwei Güter in der Volkswirtschaft – wir nennen sie Autos (A) und Möbel (M) – und zwei Produktionsfaktoren, Arbeit und Kapital. Entsprechend gibt es zwei Güter- und zwei Faktormärkte. Auslandsbeziehungen werden ausgeklammert. b) Es herrscht vollständige Konkurrenz auf allen Märkten. Die Güter werden zu ihren Grenzkosten, die Faktoren zu ihrem Grenzprodukt gehandelt. Die Faktoren sind mobil zwischen den Sektoren. Es gibt (langfristig) keine versunkenen Kosten, die dies verhindern würden. Löhne und Zinsen sind völlig flexibel nach oben und nach unten, so dass immer Vollauslastung der Kapazitäten (Vollbeschäftigung) gegeben ist. c) Das gesamte Faktorangebot ist konstant. Wie auch immer Löhne und Zinsen sich bewegen, die Relation zwischen Arbeit und Freizeit bleibt unverändert, und die Ersparnis ist null, d. h. es wird nur reinvestiert, so dass der einmal bestehende Kapitalstock erhalten bleibt. d) Die Produktionsfunktionen sind linear-homogen. Die Haushalte haben identische und homothetische Nutzenfunktionen bezüglich der beiden Güter Autos und Möbel, d. h. die Grenzrate der Substitution (und damit die Konsumstruktur der Haushalte) ist unabhängig vom Einkommen. e) Analysiert wird nur die differentielle Inzidenz, d. h. die Wirkung der Substitution einer Steuer durch eine andere, so dass das den Individuen zur Verfügung stehende Gesamteinkommen konstant bleibt. f) Untersucht wird die Inzidenz von Steuern auf die Faktoreinkommen. Es wird also von einer funktionalen und nicht von einer personellen Einkommensverteilung ausgegangen.

D. Steuerinzidenz im allgemeinen Gleichgewicht

2. Verschiedene Steuern und ihre Wirkungen a) Eine Steuer auf Autos und Möbel mit dem gleichen Satz entspricht einer allgemeinen Konsumsteuer. Sie verschiebt die Budgetbeschränkung der Individuen parallel nach innen, so dass die relativen Güterpreise gleich bleiben. Dies entspricht einem Realeinkommensrückgang. Das Einkommen aller Faktoren reduziert sich um den gleichen Prozentsatz. Die Inzidenz ist so gesehen für alle Faktoren gleich. b) Eine Steuer auf Arbeit und Kapital auf beiden Märkten mit dem gleichen Satz ändert das Zins-Lohnverhältnis nicht und veranlasst somit keine Reallokation der Faktoren. Im Weiteren ist das Gesamtangebot an Faktoren annahmegemäß konstant. Daher tragen sie die gesamte Last der Steuer im Verhältnis ihrer bisherigen Einkommensanteile. c) Eine Steuer auf Arbeit und Kapital nur im Automobilsektor mit dem gleichen Satz setzt keinen Anreiz, die Einsatzverhältnisse der Produktionsfaktoren im Automobilsektor zu verändern. Wenn sich infolge der Steuer jeder der beiden Faktoren um einen bestimmten Prozentsatz verteuert, so verteuert sich auch das gesamte Automobilangebot um den gleichen Prozentsatz. Somit hat eine Steuer auf beide Produktionsfaktoren in einem Sektor die gleiche Wirkung wie eine selektive Steuer auf das Produkt, das sie herstellen; siehe unter d. d) Eine selektive Gütersteuer auf Autos bewirkt, dass Autos im Vergleich zu Möbeln teurer werden. Entsprechend wird die Nachfrage nach Autos zurückgehen und jene nach Möbeln steigen. Es tritt ein so genannter Outputeffekt ein. Für die Inzidenz ist es jetzt wichtig zu wissen, welcher der beiden Sektoren kapitalbzw. arbeitsintensiver ist. (1) Ist die Autoproduktion kapitalintensiver als die Möbelherstellung, so wird durch die Steuer der Faktor Kapital relativ stärker belastet. Durch den Nachfragerückgang bei der Automobilherstellung werden zunächst Arbeit und Kapital freigesetzt. Durch die entsprechende Nachfragesteigerung bei der relativ arbeitsintensiven Möbelproduktion werden aber vor allem Arbeitskräfte nachgefragt. Kapital wird relativ reichlich, so dass dessen Preis fällt und die Steuer daher auf ihm lastet. Aber der Zins fällt infolge der Mobilität des Kapitals in beiden Sektoren. Somit tragen auch die Kapitaleigner in der Möbelindustrie einen Teil der Steuerlast. (2) Umgekehrt verhält es sich, wenn die Automobilproduktion relativ arbeitsintensiv ist im Vergleich zur Möbelherstellung. Beim Rückgang der Nachfrage nach Automobilen werden überwiegend Arbeitskräfte freigesetzt, die jetzt in die kapitalintensive Möbelindustrie drängen und dort zu einem Rückgang der Lohnsätze führen. Kapital wird demgegenüber dort stärker nachgefragt und steigt in seinem Preis. Die Last der Steuer verschiebt sich somit auf den Faktor Arbeit. Analog zu Fall (1) tragen die Arbeiter in beiden Sektoren die Last. Wovon hängt es aber ab, wie stark im Fall (1) das Kapital und im Fall (2) die Arbeit belastet wird? Einmal spielt hier die Preiselastizität der Nachfrage nach Autos eine Rolle. Je größer sie ist, desto mehr werden die Nachfrager von den nunmehr teurer gewordenen Autos auf Möbel überwechseln und desto stärker

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16. Kapitel: Wer trägt die Steuern? wird der induzierte Rückgang der Kapitalrendite bzw. Lohnsätze sein. Zum anderen sind die Unterschiede der Kapitalintensitäten in den beiden Sektoren von Bedeutung. Je größer sie sind, desto umfangreicher sind die Absorptionsanforderungen beim Kapital bzw. Arbeit aufnehmenden Sektor (d. h. bei der Möbelproduktion) und umso mehr müssen sich die relativen Faktorpreise verändern. Schließlich spielt die Substitutionselastizität zwischen Arbeit und Kapitel in beiden Sektoren eine Rolle. Je schwieriger es ist, Kapital durch Arbeit zu ersetzen oder vice versa, umso größer wird die Last des relativ reichlich vorhandenen Faktors sein. e) Eine selektive Faktorsteuer in beiden Sektoren – z. B. auf Kapital – löst keine Anreize zur Wanderung vom einen in den anderen Sektor aus. Auch die Kapitalintensität der Produktion verändert sich nicht, weil das Gesamtangebot an Kapital in der Volkswirtschaft konstant ist. Daher trägt Kapital die gesamte Last der Steuer.12 f) Eine Steuer auf einen Faktor in einem Sektor löst einen Outputeffekt und einen Faktorsubstitutionseffekt aus, die gleich- oder entgegenlaufend sein können. Das Ergebnis steht somit nicht von vornherein fest. Betrachten wir zum besseren Verständnis eine Steuer auf Kapital im Automobilsektor. Zunächst zum Outputeffekt: Dieser kommt zustande, weil die Produktion von Autos teurer wird und weil deren Preis infolgedessen steigt. Dies löst Substitutionseffekte in der Nachfrage von Autos zu Möbeln aus. Ebenso wandern Faktoren von der Automobil- zur Möbelindustrie. Je nachdem ob die Automobilproduktion im Vergleich zur Möbelproduktion kapital- oder arbeitsintensiv ist, fällt oder steigt die Zins-Lohn-Relation. Es kommt also zu den gleichen Effekten wie im Fall d oben. Diese beiden Effekte sind in Abbildung 16.7 als Fall (1) und Fall (2) dargestellt. Sinkt der Nettozinssatz (nach Steuern), so bleibt die Steuer am Faktor Kapital hängen, fällt jedoch der Lohnsatz, so wird die Steuer auf den Faktor Arbeit überwälzt. Die endgültige Wirkung einer solchen selektiven Faktorsteuer in einem Sektor lässt sich aber erst erkennen, wenn zusätzlich der Faktorsubstitutionseffekt berücksichtigt wird. Die einseitige Verteuerung von Kapital im Automobilsektor bewirkt nämlich, dass in diesem Sektor Kapital durch Arbeit substituiert wird. Die Nachfrage nach Kapital in der Autoindustrie geht zurück und bewirkt, dass die Netto-Zins-Lohnrelation (nach Steuern) fällt. Das Gesamtergebnis wird durch den Output- und den Faktorsubstitutionseffekt zusammen bestimmt. In Fall (1) wirken beide in die gleiche Richtung: Der relative Nettopreis von Kapital fällt; es trägt die Last der Steuer. Fall (2) ist demgegenüber nicht eindeutig. Die beiden Effekte wirken gegenläufig. Es ist also nicht auszuschließen, dass der Faktor Arbeit eine Steuerlast mitträgt, die auf Kapital erhoben wird. Es werden dann die Preise beider Faktoren in beiden Sektoren betroffen.

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Es liegt hier der Fall einer Steuer bei völlig preisunelastischem Angebot vor. Sie kann, wie schon oben in Abbildung 16.2 b gezeigt, nicht auf die Nachfrager überwälzt werden.

D. Steuerinzidenz im allgemeinen Gleichgewicht

3. Das Harberger-Modell in der Empirie A. C. Harberger (1962) hat versucht, das von ihm entwickelte Modell auf die Praxis anzuwenden. Er untersucht die Inzidenz der Körperschaftsteuer in den Vereinigten Staaten. Diese Steuer versteht er als selektive Steuer auf den Faktor Kapital in Körperschaften, wie wir sie in Unterabschnitt d.2.f behandelt haben. Nach seinen Berechnungen wird die Körperschaftsteuer fast ausschließlich vom Faktor Kapital getragen. Somit scheinen sich die aus dem partialanalytischen Modell gewonnenen Ergebnisse (siehe oben B.4) im allgemeinen Gleichgewichtsansatz zu bestätigen. Indessen fragt es sich, wie groß diese Last tatsächlich ausfällt. Viele Unternehmen werden nämlich versuchen, die Körperschaftsteuer zu vermeiden, indem sie auf andere Rechtsformen, z. B. Personengesellschaften, ausweichen. Ein anderer Weg der Steuervermeidung

Besteuerung des Faktors Kapital im Sektor (Automobile) A Zunahme der Kapitalkosten in A Output-Effekt

Faktorsubstitutions-Effekt

Relativer Preis von A steigt im Vergleich zu Möbeln (M)

Bei flexibler Technologie fällt die Kapitalintensität in A

Output von A fällt im Vergleich zu M

Nachfrage nach Kapital in A fällt. Netto-Zins-Lohnrelation fällt.

Fall (2) Wenn A relativ arbeitsintensiv, so steigt im Rahmen des Substitutionsprozesses zu M die Nachfrage nach Kapital. Die Netto-ZinsLohnrelation steigt.

Fall (1) Wenn A relativ kapitalintensiv, so fällt im Rahmen des Substitutionsprozesses zu M die Nachfrage nach Kapital. Die Netto-ZinsLohnrelation steigt. Faktorinzidenz in Fall (1) Beide Effekte gleichgerichtet: Relativer Preis von Kapital fällt.

Faktorinzidenz in Fall (2) Beide Effekte gegenläufig: Keine Aussage über Preis von Arbeit und Kapital möglich

Abbildung 16.7: Inzidenz einer selektiven Faktorsteuer in einem Sektor Quelle: Nach A. B. Atkinson und J. E. Stiglitz (1980, S. 173)

261

262

16. Kapitel: Wer trägt die Steuern? geht über die Finanzierung. Die besteuerten Unternehmen werden Finanzierungswege wählen, die in geringerem Maße der Besteuerung ausgesetzt sind. Im amerikanischen System der klassischen Körperschaftsbesteuerung (vgl. 13. Kapitel) werden die Unternehmen Steuern vermeiden, indem sie sich über thesaurierte Gewinne und über Fremdkapital finanzieren. Vor allem aber hat sich seit Harbergers Aufsatz die Kapitalmobilität erhöht. Die Ausweichmöglichkeiten haben sich dadurch erheblich erweitert. Dem wiederum versucht der Fiskus durch internationale Gesetze entgegenzutreten (vgl. 13. Kapitel).

E. Zusammenfassung des 16. Kapitels Die Inzidenz von Steuern hängt von den Marktkräften ab. Diese lassen sich auf einem isolierten kompetitiven Markt durch das Verhältnis von Preiselastizität des Angebots zur Preiselastizität der Nachfrage ausdrücken. Gesetzlich vorgeschriebene Aufteilungen der Steuerlast sind im Marktgleichgewicht ohne Bedeutung. Dies gilt namentlich für die Aufteilung der Sozialversicherungsabgaben auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber, insofern als diese von den Individuen wie Steuern betrachtet werden. Jede Aufteilungsnorm führt dann bei gegebenen Angebots- und Nachfragekurven zur gleichen Inzidenz. Mobile Faktoren lassen sich nicht besteuern. Das gilt vor allem für Kapital, teilweise auch für Arbeit. Im allgemeinen Gleichgewicht mehrerer Märkte ergeben sich durch die Erhebung von Steuern komplexe Anpassungen. So kann eine selektive Produktsteuer die Faktoren Arbeit und Kapital in diesem und in benachbarten Sektoren treffen. Ähnliche Wirkungen ergeben sich bei Erhebung einer selektiven Faktorsteuer in einem der betrachteten Sektoren.

Wichtige Begriffe des 16. Kapitels Steuerüberwälzung Irrelevanz der Organisation des Steuereinzugs Mengensteuer/Wertsteuer Inzidenz der Sozialversicherungsbeiträge Steuern auf Residualeinkommen Steuern auf mobiles Kapital Selektive Faktorsteuer Outputeffekt Faktorsubstitutionseffekt

Literatur zum 16. Kapitel A. B. Atkinson und J. E. Stiglitz, Lectures on Public Economics, New York (McGraw Hill) 1980. N. F. Canard, Principes d’Économie politique, Paris 1801.

E. Zusammenfassung des 16. Kapitels H. George, Progress and Poverty, Garden City, NY (Doubleday, Page & Co.) 1879, 1912. A. C. Harberger, The Incidence of the Corporation Income Tax, Journal of Political Economy, Vol. 70, June 1962, S. 215–240, wiederabgedruckt in: A. C. Harberger, Taxation and Welfare, Boston (Little, Brown and Comp.) 1974, S. 135–162. A. Marshall, Principles of Economics, London, Macmillan 1890. Ch. E. McLure, General Equilibrium Incidence Analysis, The Harberger model after ten years, Journal of Public Economics, Vol. 4, 1975, S. 125–161. R. A. und P. B. Musgrave, Public Finance in Theory and Practice, New York u. a. (McGraw Hill) 4. Aufl. 1984 und 5. Aufl. 1989. H. S. Rosen, Public Finance, Homewood Ill. (Irwin) 1988. H. W. Sinn, Alternativen zur Einkommensteuer, in: Steuersystem und wirtschaftliche Entwicklung, Konjunkturpolitik, Beiheft 33, 1987, S. 11–50. H. W. Sinn, How Much Europe? Subsidiarity, Centralization and Fiscal Competition, Scottish Journal of Political Economy 41, 1994, S. 85–107. vervielfältigt, Universität München, CES, 1993. D. Stadelmann, Effects of Fiscal Policies on House Prices: New Evidence, Persistence, Consequences, Baden-Baden (Nomos) 2010. K. Tipke und J. Lang, Steuerrecht, Köln (Verlag Otto Schmidt KG) 14. Aufl. 1994.

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Für einen Minister ist es sehr verführerisch, ein derartiges Mittel [die Staatsschuld] zu benutzen, das ihn in den Stand setzt, während seiner Verwaltung den großen Mann zu spielen, ohne das Volk mit Steuern zu überladen, oder eine sofortige Unzufriedenheit gegen sich zu erregen. Die Praxis des Schuldenmachens wird daher fast unfehlbar von jeder Regierung missbraucht werden. Es würde kaum geringere Klugheit offenbaren, einem verschwenderischen Sohne bei jedem Bankgeschäft in London Credit zu geben, als einen Staatsmann zu ermächtigen, in einer derartigen Weise Wechsel auf die Nachkommen zu geben. David Hume (1741)

17. Kapitel Was kosten Staatsschulden? Neben Steuern ist der Kredit die wichtigste Ressource des Staates. Kredit erlaubt dem Staat, heute Geld auszugeben und morgen zu bezahlen. Doch Kredit ist nicht unentgeltlich. Der amerikanische Ökonom Irving Fisher (1930) sagt, Menschen sind ungeduldig. Sie haben eine Zeitpräferenz, nach der sie lieber heute als morgen Geld ausgeben möchten. Sollen sie dennoch bis morgen warten, so muss ihr Warten mit einer Zinszahlung entschädigt werden. Der Preis, der das Warten kompensiert, ist der Zins. Der Zins ist die zentrale Variable, um den Staatskredit zu verstehen.

A. Die allgemeine Gleichgewichtstheorie des Zinses 1. Kapital ist knapp Nach bisherigem Verständnis ist Kapital knapp. Wer mehr Kapital benötigt, muss mehr bieten, vgl. Abbildung 17.1.

266

17. Kapitel: Was kosten Staatsschulden?

Zins

Grenzproduktivität des Kapitals Zeitpräferenz i

G

Kapital K

Abbildung 17.1: Der aggregierte Kreditmarkt, wenn Kapital knapp ist

2. Generationenbilanzen Wenn Kapital knapp ist, muss der Staat mit Kapital sorgsam umgehen. Er muss finanziell vorsorgen, damit er bei Fälligkeit für die explizite Staatsschuld der Staatsschuldverschreibungen wie auch für die implizite Staatsschuld aus Verpflichtungen für die Rentenversicherung und für die anderen den Bürgern versprochenen Leistungen aufkommen kann. Werden alle expliziten und impliziten Staatsschulden zusammengezählt und den Staatseinnahmen gegenübergenstellt, so erhält man in einer Generationenbilanz die intertemporale Budgetbeschränkung. Diese muss größer als null oder gleich null sein, damit der Haushalt nachhaltig ist: + ∑ der diskontierten Steuern und der andere Staatseinnahmen – ∑ der diskontierten Staatsausgaben – ∑ der diskontierten Transferzahlungen + Finanzkapital ≥0 Trifft dies zu und wird bei Fälligkeit die Rechnung vorgelegt, so kann der Staat sagen: „Ich habe alle meine Schulden bezahlt.“ Eine Generationenbilanz ≠ 0 bedeutet, dass entweder eine Nachhaltigkeitslücke (Staatsschuld) oder ein Vermögen besteht. Unter den in Tabelle 17.1 dargestellten Staaten ist Italien mit einer Nachhaltigkeitslücke in 5 % des BIP am besten dran. Am schlechtesten schneiden Spanien und das Vereinigte Königreich ab, Spanien wegen der Nachwirkungen der Finanz- und Schuldenkrise des Jahres 2011, das Vereinigte Königreich wegen der in den vergangenen Jahren kaum reformierten Rentenversicherung. Solche Defizitsituationen sind nicht stabil. Sie müssen irgendwann einmal bereinigt werden. Die Erfahrung zeigt, dass schon kleine Reformen in der Rentenversicherung die Defizite die Generationenbilanz verbessern oder sogar ausgleichen. Insofern geben die Daten in Tabelle 17.1 eine Momentaufnahme wieder.

A. Die allgemeine Gleichgewichtstheorie des Zinses Tabelle 17.1: Nachhaltigkeitslücken in Generationenbilanzen 2014 Ranking

Nachhaltigkeitslücke in % des BIP

1. Italien

105

2. Deutschland

157

3. Polen

206

4. Österreich

254

5. Frankreich

450

6. Vereinigtes Königreich

596

7. Spanien

618

Ø EU 27

341

Quelle: nach B. Raffelhüschen et al. (2015)

3. Die kameralistische Buchführung Alle Staaten der Europäischen Union haben Staatschulden. Diese liegen im Durchschnitt aller Euro-Staaten bei 109,5 % des BNE (2016), Deutschland liegt mit 74,9 % unter dem Durchschnitt. Solche Schulden dürfen jedoch nicht mit Schulden der kaufmännischen Buchführung verwechselt werden, nach welcher fragwürdige Schulden und fragwürdige Forderungen auf realistische Größen hinauf- bzw. hinunterkorrigiert werden. In der kameralistischen Buchführung der Bundesregierung werden solche Eventualitäten nicht berücksichtigt. Beispielsweise werden Kredite an Griechenland nicht zu den Staatsschulden gezählt, auch wenn ihre dereinstige Rückzahlung fraglich ist. Wenn also der Bundesfinanzminister stolz verkündet, seine Rechnung schließe mit einer „schwarzen Null“ ab, so ist die Berechnung zu beachten, unter der dieses Ergebnis zustande gekommen ist.1 Die schwarze Null lässt noch nicht den Schluss zu, dass ein Staatshaushalt nachhaltig ist.

1

Davon unabhängig hält die Bundesregierung sogenannte Reservefonds, z. B. den so genannten SOFFIN. Dieser Fonds wurde als Reaktion auf die Bankenkrise in den Vereinigten Staaten und ihrer Auswirkungen auf Deutschland, insbesondere nach der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers, von Bundestag und Bundesrat geschaffen. (Finanzmarktstabilisierungsgesetz vom 17. Oktober 2008). Aus ihm wurden zugunsten der deutschen Banken Garantien (Bürgschaften), Finanzspritzen (Rekapitalisierungen) gewährt und schlechte Wertpapiere in so genannten Bad Banks gesammelt. Das Gesamtvolumen des SoFFin beträgt 400 Mrd. Euro, wovon aber nur ein Teil in Anspruch genommen worden ist. Für alle in Anspruch genommenen Kredite bezahlen die Banken Courtage, Zins und Tilgung, so dass die Gesamtbelastung des SoFFin für die Staatsverschuldung noch nicht abschätzbar ist. Ab dem Jahr 2011 werden keine Kredite an Banken mehr vergeben. Der Fonds soll bis Ende 2015 abgewickelt sein. Die Antragsfrist für neue Maßnahmen des SoFFIN wurde letztmalig bis zum 31.12.2015 verlängert.

267

268

17. Kapitel: Was kosten Staatsschulden?

4. Wie viel Schulden kann ein Staat tragen: Das Problem der Schuldenklemme Öffentliche Schulden müssen tragbar sein, die Gläubiger müssen den Staat als zahlungsfähig ansehen. Sonst sagen sie sich: Wir legen unser Geld lieber anderswo an. Tragbarkeit lässt sich, wie O. J. Blanchard et al. (1990) dargelegt haben, einfach darstellen. Ausgangspunkt bildet das Budgetdefizit D’ eines Jahres, das wie folgt definiert ist: (17.1) D’(t) = [Gr(t) – T(t)] + iD(t) Das Budgetdefizit D’(t) besteht aus den laufenden Staatsausgaben für Güter und Dienste Gr(t) abzüglich der Steuern T(t) plus der Verzinsung der aufgelaufenen öffentlichem Schuld iD(t), wobei i den Zinssatz darstellt. Die Zinslast wird als Erbe früherer Regierungen betrachtet und daher oft weggelassen. Die Differenz in der eckigen Klammer wird als Primärbudgetüberschuss oder -defizit bezeichnet Ein Primärbudgetüberschuss ist notwendig, um die aufgelaufene Staatsschuld abzubauen. Schon die einfache Gleichung Gr(t) – T(t) = 0 enthält eine wichtige dynamische Aussage: Selbst wenn das Primärbudget ausgeglichen ist, wächst der Schuldenstand bei einer Anfangsverschuldung D(t) > 0 wegen der Zinszahlungen iD exponentiell an. Bei gegebenem BNE ist die so entstehende Schuldenlast auf die Dauer offenbar nicht tragbar (non-sustainable). Das Primärbudget muss also früher oder später einen Überschuss aufweisen, damit die Belastung nicht immer weiter ansteigt, sondern sich stabilisiert und dann womöglich sogar abgebaut werden kann. Nur so lässt sich Tragbarkeit erreichen. Je länger das Land mit der Verzinsung aus laufenden Staatseinnahmen wartet, desto schwieriger wird der Ausgleich und desto eher landet es in der Schuldenklemme, in der ein Großteil seiner laufenden Staatseinnahmen für den Zinsendienst aufgewendet werden muss. Die Bedingungen an die Tragbarkeit der Staatsschuld werden lockerer, wenn die Volkswirtschaft langfristig wächst. Es braucht dann nicht mehr das absolute Schuldenniveau, sondern nur noch die Schuldenquote [D(t)/Y(t)] konstant zu bleiben.2 Um dies zu ersehen, wird die Schuldenquote [D(t)/Y(t)] nach der Zeit differenziert:  D(t)  d  D'(t) Y'(t) D(t) (17.2)  Y(t)  = D'(t)Y(t) − Y'(t)D(t) = = ⋅ 2 dt Y(t) Y(t) Y(t) [ Y(t)]

2

Wobei davon ausgegangen wird, dass die zu einem Anfangszeitpunkt bestehende Schuld tragbar ist.

A. Die allgemeine Gleichgewichtstheorie des Zinses Unter Verwendung von (17.1) ergibt sich:  D(t)  d  (17.3)  Y(t)  = G'(t) = T(t) + i D'(t) − Y'(t) ⋅ D(t) dt Y(t) Y(t) Y(t) Y(t) Y(t)

oder  D(t)  d  (17.4)  Y(t)  = G'(t) − T(t) + (i − g) D(t) mit g ≡ Y'(t) , dt Y(t) Y(t) Y(t)

wobei g die nominale Wachstumsrate des Bruttonationaleinkommens darstellt. Gleichung (17.4) besagt: In einer wachsenden Wirtschaft ist die öffentliche Schuld nur dann dauerhaft tragbar (d. h. die Schuldenquote konstant), a) wenn bei i = g das Primärbudget ausgeglichen ist – die Schuld wird aus dem Wirtschaftswachstum „finanziert“ und trägt sich dann selbst –, b) wenn bei i > g ein hinreichender Primärbudgetüberschuss erwirtschaftet wird, wobei wiederum gilt: je später mit dem Primärüberschuss angefangen wird, umso höher muss er sein, c) wenn bei i < g das Primärbudgetdefizit im Vergleich zur Staatsschuld der Bedingung [Gr(t) – T(t)]/D(t) = (g – i) genügt. Eine Differenz i < g ist nur vorübergehend zu erwarten, da Kapital langfristig knapp ist und daher i > g gelten muss, vgl. Abbildung 17.1.

5. Schuldenbremsen Aber wird die Regierung nach Gleichung (17.4) stets Schulden vermeiden? Wird sie über längere Zeit konsequent eine Sparpolitik befolgen, um nicht in eine Schuldenklemme zu geraten? Hierzu wird das Kalkül eines repräsentativen privaten Individuums mit dem Kalkül einer Regierung verglichen. Das Individuum hat ein Kalkül, wie es seine eigenen Ressourcen für Konsum heute und Konsum morgen verwendet. Dieses Kalkül ist in Abbildung 17.2 durch die helle Kurve dargestellt. Dort wählt das Individuum Punkt I. Die Regierung jedoch hat nicht zwingend die gleichen Ansichten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie die nächsten Wahlen verliert und den Ertrag früherer Sparanstrengungen gar nicht mehr einfahren kann, ist für sie sehr viel größer als für ein Privat-Individuum. Sie hat daher einen näheren Zeithorizont. Sie wählt den Punkt R mit einem höheren Anteil an Gegenwartskonsum, d. h. sie verschuldet sich. F. E. Kydland und E. C. Prescott (1977) schreiben: Es ist für die Regierung rational, mit guten Vorsätzen anzufangen und so bei den Wählern Vertrauenskapital aufzubauen. Doch es ist für sie ebenso rational, dieses durch einen Rausch von Staatsausgaben vorzeitig zu verspielen, wenn Wahlen vor der Tür stehen. Die Regierung verhält sich „zeitinkonsistent“. Ein Verfahren, der Zeitinkonsistenz zu entkommen, stellen die Schuldenbremsen dar. Die Regierung soll sich über den Wahlzyklus hinaus binden und so gar

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17. Kapitel: Was kosten Staatsschulden?

Konsum heute R Regierung wählt

I Individuum bevorzugt

Zinssatz 0

Konsum morgen

Abbildung 17.2: Die Vorliebe der Regierung einer repräsentativen Demokratie für eine zeitinkonsistente Politik im Vergleich zu individuellen Entscheidungen

nicht die Möglichkeit erhalten, eine zeitinkonsistente Politik zu betreiben. Unter einer Schuldenbremse wählt die Regierung Punkt I, wie auch das Privatindividuum Punkt I wählt. Beispielhaft wird die Regierung mit dem mythologischen Helden Odysseus verglichen, der sich an den Mast seines Schiffes binden lässt, um die verführerischen Gesänge der Sirenen zu hören, um aber dennoch zu widerstehen in ihre Fänge zu geraten und von ihnen aufgefressen zu werden.3 In Deutschland wie in der Schweiz sind in den öffentlichen Haushalten Schuldenbremsen eingerichtet worden. Sie sollen die Regierungen daran hindern, den Verlockungen der Sirenen nachzugeben und in eine unbedachte Staatsausgabenpolitik zu verfallen. In der Schweiz ist die Schuldenbremse zuerst von beiden Kammern des Parlaments gebilligt und dann im Jahr 2001 von der Mehrheit der Abstimmenden von Volk und Kantonen in der Verfassung verankert worden. Abbildung  17.3 lässt sich wie folgt interpretieren: In der Regel sollen keine Staatsschulden aufgenommen werden. Es gilt die durchgezogene Linie. Doch es gibt wichtige Ausnahmen. Abbildung 17.3 zeigt die Ausnahmen der Bundesschuldenbremse nach deutschem und Schweizer Muster. Bei strikter Budgetdeckung sollte der Haushalt der schwarz ausgezogenen Linie in Abbildung 17.3 folgen. Doch das hätte Nachteile. Strikte Budgetdeckung würde die Konjunktur nach oben und nach unten antreiben. Das soll vermieden werden. Daher wird eine gelockerte Schuldenbremse praktiziert. Der Finanzminister bleibt bei Rezessionen zunächst passiv. Er nimmt es hin, dass vorübergehend Haushaltsungleichgewichte entstehen, in der Krise Defizite, z. B. durch Arbeitslosenunterstützungszahlungen und in der Hochkonjunktur Überschüsse durch unerwartete Steuermehreinnahmen. Beide Effekte sind gegenläufig und stabilisieren so die Konjunktur, ohne dass die Regierung einen Beschluss fällen 3

Homer, Odyssee 12. Gesang

A. Die allgemeine Gleichgewichtstheorie des Zinses Automatische Stabilisatoren Staatseinnahmen, -ausgaben

Schätzfehler + diskretionäre (= willentliche) Politik

Zeit Einnahmen bei Budgetdeckung Einnahmen bei automatischen Stabilisatoren Einnahmen bei diskretionärer (d.h. beabsichtigter) Konjunkturpolitik

Abbildung 17.3: Die Wirkungsweise der Schuldenbremse in Deutschland und in der Schweiz

muss. Sie wirken als automatische Stabilisatoren entlang der gestrichelten Linie von Abbildung 17.3. Über den Konjunkturzyklus hinweg wird Budgetdeckung erreicht. Ausgaben für außergewöhnliche Ereignisse (wie Naturkatastrophen) können zusätzliche Defizite bewirken, bedürfen aber – soll das Prinzip der Schuldenbremse aufrechterhalten bleiben – der Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder beider Kammern des Parlaments. Sodann sind solche Schulden durch Tilgungspläne abzubauen. in Defizite aus aktiver Konjunkturpolitik sind durch die gepunktete Linie Abbildung  17.3 dargestellt. Sie werden auf dem Kontrollkonto erfasst. Wenn die akkumulierten Defizite (gleichgültig welcher Art) 1,5 % des nominalen BIP überschreiten, sind sie konjunkturgerecht zurückzuführen. Für Deutschland gilt als Grundsatz: „(2) Einnahmen und Ausgaben sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.“ (Art 115 Abs. 2 GG). Nur dem Bund (nicht aber den Ländern) ist ein strukturelles (d. h. dauerndes) Defizit von 0,35 % des BIP erlaubt. Konjunkturelle (vorübergehende) Schulden dürfen sowohl Bund wie Länder eingehen. Sie müssen aber zurückgeführt werden. In der Schweiz gibt es neben der Bundesschuldenbremse auch kantonale Schuldenbremsen, die nach kantonalen Gesetzen funktionieren. In Deutschland haben die Länder entsprechende eigene Schuldenbremsen.

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17. Kapitel: Was kosten Staatsschulden?

6. Wie sollen neue und bestehende Staatsschulden bewältigt werden? Das Beispiel von England 1814/15 Insbesondere in Kriegszeiten braucht der Staat viel Kapital. Doch gerade dann und gerade deshalb ist Kapital knapp. Der Zins liegt über der Wachstumsrate des BNE (i>g). Beispielsweise brachten die napoleonischen Kriege (von 1792–1815) den englischen Staatshaushalt an den Rand des Ruins. Im Jahr 1814 glaubten die Engländer, Napoleon sei in Russland geschlagen worden, der Krieg gegen ihn sei überstanden und gewonnen. Doch dann kam Napoleon aus seinem Exil auf der Insel Elba wieder nach Frankreich zurück, sammelte ein großes Heer und schickte sich an, die Niederlande zurückzuerobern. In England wurden zur Kriegsfinanzierung neue Staatsanleihen aufgelegt. Die Zinsen schossen in die Höhe; denn ein englischer Sieg über Napoleon stand keineswegs fest. An der Börse verbreitete sich Pessimismus, britische Staatsanleihen verloren an Wert. Die Anleger fürchteten eine Niederlage mit Staatsbankrott, wie ihn Preußen und Österreich schon 1806 bzw. 1811 erlitten hatten. Doch der britische Ökonom David Ricardo glaubte für sich fest an einen britischen Sieg über Frankreich. Kurz vor der entscheidenden Schlacht bei Waterloo (im heutigen Belgien) kaufte er große Mengen britischer Staatsanleihen zu günstigen Kursen. Als dann der Sieg der britisch-preußischen Allianz in London bekannt wurde, stiegen die Kurse der britischen Staatsanleihen wieder an. Ricardo verkaufte seine Titel und wurde ein reicher Mann. Er konnte sich auf seinen Landsitz zurückziehen und als Privatgelehrter die Gesetze der politischen Ökonomie studieren. Das Vereinigte Königreich war gerettet. Aber die Kosten des Krieges waren nur zwischenfinanziert, noch nicht konsolidiert. Noch harrte die Frage, wie die aus dem Krieg aufgelaufene Staatsschuld konsolidiert werden sollte. Soll die Konsolidierung durch Steuern heute oder durch vorläufige Staatsschulden und Steuerzahlung morgen erfolgen? Ricardos Beitrag zur Finanzwissenschaft liegt in der Lösung dieses Problems. Er zeigte, dass die Art der Konsolidierung für die Belastung der Steuerzahler unerheblich ist und die Bevölkerung unabhängig von der Konsolidierung über Steuern oder Staatsschulden gleich stark belastet wird. Allgemein gelte als Grundsatz: Steuer- oder Kreditfinanzierung einer gegebenen Staatsschuld sind äquivalent. Die Differenzialinzidenz beträgt null. Ein Beispiel erläutert die Logik: Eine Steuersenkung (und Staatsverschuldung) von 1 Euro vergrößert das zum Zeitpunkt t=1 verfügbare Haushaltseinkommen um 1 Euro. Im Zeitpunkt t=2 müssen die Steuern um 1 (1 + i) Euro erhöht werden, um die Verzinsung zum Zinssatz i und die Tilgung zu finanzieren. Insgesamt steht also einer Steuersenkung in Periode 1 eine Steuererhöhung in Periode 2 gegenüber. Wird letztere auf dem Gegenwartszeitpunkt zurückdiskontiert, so ergibt sich der Nettoeffekt als (17.5) 1 = 1(1 + i)/(1 + i) Das Fazit lautet: Kreditfinanzierung anstatt Besteuerung ist kein geeignetes Mittel, um eine gegebene Finanzierungslast von heute auf morgen zu verschie-

A. Die allgemeine Gleichgewichtstheorie des Zinses ben. Die Individuen haben rationale Erwartungen, sie sehen die Last voraus und können sich daher durch die Steuersenkung nicht erleichtert fühlen. Später hat Robert Barro (1974) David Ricardos Theorem noch einmal aufgegriffen und dieses verhaltenstheoretisch begründet. Daher spricht man heute vom Ricardo-Barro-Äquivalenztheorem.

R. J. Barro stellte die Frage: „Are government bonds net wealth?“ „Nein.“ sagte er; denn das Voraussehen der Last muss entsprechende Verhaltensweisen der Individuen hervorrufen. Wenn sich der Staat verschuldet, nehmen die Individuen entgegenlaufende Transaktionen vor. Sie sparen heute mehr, weil sie die kommende Steuerlast antizipieren. R. J. Barro wurde für seine Theorie heftig kritisiert; vor allem seine Modellannahmen seien wirklichkeitsfremd. Kritisiert wurden u. a. die unbestimmte Laufzeit der Anleihe und seine Annahme eines perfekten Kapitalmarktes, auf dem nur ein einziger Zinssatz herrscht u. a. m. Eine umfassende Diskussion dieser Annahmen befindet sich in der 7. und 8. Auflage dieses Lehrbuchs sowie bei R. J. Barro (1992). Hier soll nur auf die Annahme des perfekten Kapitalmarktes eingegangen werden.

7. Unvollkommener Kapitalmarkt: Die Stellvertretertheorie Auf einem angenommen perfekten Kapitalmarkt gibt es nur einen einzigen Zinssatz. Alle Zinssatzdifferenzen sind durch Arbitrage wegkonkurriert. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Neutralität der öffentlichen Verschuldung. In der Realität werden jedoch unterschiedliche Zinssätze für Kredite verlangt. Ein Grund für solche Zinssatzdifferenzen liegt in der unterschiedlichen Bonität der Kreditsuchenden: Wer keine Sicherheiten zu bieten vermag, wird einen höheren Zins akzeptieren müssen, als wer Immobilien, Wertpapiere u. ä. verpfänden kann. Der Kreditmarkt differenziert daher zwischen wohlhabenden und armen Bevölkerungsgruppen. Diese Differenzierung kann im Falle der Staatsverschuldung – so wird gesagt – reale Effekte verursachen, bzw. umgekehrt die Neutralität der öffentlichen Verschuldung aufheben. Um das zu prüfen, wird im Folgenden zwischen wohlhabenden und armen Bevölkerungsgruppen, W bzw. A, unterschieden. Für die W-Gruppe gelte der Zinssatz iW, der dem Zinssatz iSt für den Staat bzw. für Staatsanleihen entspricht (iW =  iSt). Die A-Gruppe verfüge demgegenüber über eine geringere Bonität, weil sie erfahrungsgemäß in Zins- und Rückzahlung nicht ganz so zuverlässig ist wie die W-Gruppe. Sie muss daher einen höheren Zinssatz iA > iW für aufgenommene Kredite akzeptieren. Denn die Gläubiger werden die höheren Transaktionskosten in Rechnung stellen, die ihnen bei der Durchsetzung der Rückzahlung entstehen. Nehmen wir jetzt an, der Staat ersetzt eine Steuer durch einen Kredit mit Zinssatz iSt. Denn er selbst gehört zu den guten Schuldnern, deren Zinssatz iSt = iW < iA beträgt. Die gegenwärtige Steuerschuld reduziert sich zu Lasten der zukünftigen Verzinsung und Tilgung. Die Gruppe W wird sich gemäß dem Ricardo-Barro-Äquivalenztheorem verhalten und im Ausmaß der auf sie

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17. Kapitel: Was kosten Staatsschulden? zukommenden Steuererhöhung auf dem Kreditmarkt Anleihen zeichnen, sie ist also gegenüber der staatlichen Maßnahme indifferent. Nicht aber Gruppe A: Für sie ist der Gegenwartswert der späteren Steuerverpflichtung geringer als der Wert der Steuersenkung; denn für sie gilt iA > iSt. Die Staatsanleihe ist für die A-Gruppe einem zinsgünstigen Kredit vergleichbar. Individuen dieser Gruppe werden also nicht Anleihen zeichnen, sondern ihre Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern erhöhen.4 Aus dieser Überlegung scheint ein Argument für Staatsverschuldung zu folgen: Der Staat überwindet eine Differenzierung des Kreditmarktes, indem er stellvertretend für Gruppe A selbst Kredite aufnimmt. Es lässt sich daher von einer Stellvertretertheorie sprechen. Das Arrangement scheint pareto-superior: Gruppe A wird besser gestellt, ohne dass Gruppe W schlechter gestellt wird. Wird also ein Staatsausgabenmultiplikator erzeugt? Müsste R. Barro also zugeben „Government bonds are net wealth?“ Nein, denn es sind die impliziten institutionellen Voraussetzungen zu bedenken: Die höheren Transaktionskosten, die für einen privaten Kreditgeber bei der Durchsetzung von Verzinsung und Tilgung bei Schuldnern der Gruppe A anfallen und bei diesen iA > iW rechtfertigt, entstehen auch für den Staat als Steuergläubiger, wenn er der Gruppe A eine Steuerstundung gewährt. Die vom Staat gegenüber Gruppe A gewährte Steuerstundung muss später (mit erhöhten Transaktionskosten) wieder eingetrieben werden, da ja die A-Angehörigen nicht so zuverlässige Schuldner sind wie die W-Angehörigen. Dies wird zu zusätzlichen Kosten oder Verlusten führen, mithin also für den Staat eine höhere Kreditaufnahme und Zinsforderung gegenüber der A-Gruppe erforderlich machen. Daher trägt das Argument der Stellvertretertheorie nicht zur Rechtfertigung der Staatsverschuldung bei. Es bleibt also bei R. J. Barros Diktum. Seine Frage „Are government bonds net wealth?“ ist mit „Nein“ zu beantworten.

B. Ludwig von Mises’ Theorie der Staatsschuld Dem Österreicher Ludwig von Mises zufolge haben Staatsschuldenkrisen im Bankensystem ihren Ursprung. Einstmals mussten Banken Zentralbankgeld in Gold hinterlegen, wenn sie Kredite vergeben wollten. Dieser so genannte Currency Standard galt in England bis in die 1840er Jahre. Mit dem Eisenbahnbau nahm die Nachfrage nach Krediten stark zu. Die Geschäftsbanken übten Druck auf die Bank von England aus und erreichten, dass sie Kredite auch für hinterlegtes Giralgeld auszahlen durften und daher nur noch Giralgeld als Deckung vorhalten mussten. Giralgeld ist eine Forderung auf Bargeld. Sie entsteht durch die die Übertragung von Girokonto zu Girokonto. L. v. Mises kritisiert: Unter einem Giralgeldstandard nimmt das Kreditvolumen übermäßig zu, der Zins fällt unter den natürlichen Zins. Er liegt unter dem Grenzprodukt des Kapitals, zu dem die Haushalte investieren würden. Giralgeldfinanzierte Kredite treiben die Preise für Güter und Vermögensaktiva, insbesondere von Immobilien, in die Höhe. Es herrscht Geldillusion. 4

Näheres vgl. R. J. Barro (1992) Kap. 14.

B. Ludwig von Mises’ Theorie der Staatsschuld Dann aber verflüchtigt sich die Geldillusion, und es setzen sich – L. v. Mises zufolge – die wahren Preise wieder durch. Kapital wird wieder knapp, und der Marktzins steigt, bis er wieder die Höhe der Grenzproduktivität des Kapitals erreicht hat. Investitionen, die zuvor rentabel erschienen, erweisen sich jetzt als verfehlt. Erwartungen werden enttäuscht. Die Wirtschaft stürzt ab. Dem Boom folgt der Bust. Die Wirtschaft folgt der ausgezogenen Linie in Abbildung 17.5. Der Staat beteiligt sich an diesem Spiel. Er verleiht Bürgern Geld, das er ihnen später später durch Zwangsbesteuerung zurückfordert. Die Gläubiger leihen ihr Geld dem Staat nur, weil sie wissen, dass ihre Guthaben bei Fälligkeit durch Steuern eingetrieben werden. Sie sind die Garanten des späteren Steuerraubes. Beide Parteien (Staat wie Staatsanleihenzeichner) vereinbaren einen „Vertrag“ zur Verletzung von Eigentumsrechten der Bürger. Sie treffen Vereinbarungen über anderer Leute Eigentum (M. Rothbart 1992). Mises’ Theorie lässt sich leicht verändert auf die heutige Euro-Krise anwenden. Der von Mises vorausgesagte Bust findet vorläufig gar nicht statt, er wird in die Zukunft verschoben. Die Europäische Zentralbank kauft Staatsanleihen zahlungsunfähiger Euro-Mitgliedstaaten auf, es wird beständig neues Giralgeld geschaffen. Der Zins steigt nicht an, was in der gestrichelten Linie in Abbildung  17.5 zum Ausdruck kommt. Die derzeitigen Niedrigzinsen auf Staatsanleihen bestätigen das. Indessen weiß niemand, wie lange diese Geldillusion anhält. Die Gefahren liegen auf der Hand: Bei niedrigem des Zins verliert der Zins seine Fähigkeit, Kapital in die bestmögliche Verwendung zu lenken. Er zeigt nicht mehr, welche Projekte lohnend sind und welche nicht. Auch fällt der Außenwert der Währung (des Euro) gegenüber dem US-Dollar.5 Aus den Rettungszahlungen der EZB profitieren die großen, finanziell schwachen Eurostaaten. Sie erhalten den Großteil der EZB-Mittel, während finanziell stabile Staaten wie z. B. Deutschland nicht von dem Geldsegen profitieren, sondern die Rechnung bezahlen bzw. Renditeverluste erleiden.

Zins Boom und Bust

Euro-Rettungspolitik

Zeit

Abbildung 17.4: Boom und Bust im Vergleich zur Euro-Rettungspolitik 5

Vgl. hierzu: J. Huber (2014).

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17. Kapitel: Was kosten Staatsschulden? EZB-Chef Mario Draghi stellt sich auf den Standpunkt: Staaten müssen vor dem Staatbankrott gerettet werden, koste es, was es wolle („whatever it takes“). Staatsbankrotte müssten um jeden Preis vermieden werden. Die finanziell gefährdeten Staaten können dann in der Tat überleben, aber die Arbeitslosigkeit bleibt hoch, die Investitionen bleiben zurück. Die Krise wird also nicht überwunden. Offenbar können die Unternehmen auch durch extrem niedrige Zinsen nicht dazu bewogen werden zusätzlich zu investieren. Es fehlt an der Nachfrage nach Kapital. Eine Antwort gibt die nachfolgende Theorie C. C. v. Weizsäckers.

C. Temporale Staatsschuldentheorie Bei L. v. Mises ist der Zins im Wesentlichen ein monetäres Phänomen. Er ergibt sich aus der Geldschöpfung. Dies hat C. C. v. Weizsäcker (2011, 2015) veranlasst, Angebot und Nachfrage nach Ersparnissen zu untersuchen, um so die realen Bestimmungsfaktoren des Zinses erfassen. Zum besseren Verständnis wird dieses Problem in drei Modelle 1., 2. und 3. aufgeteilt.

1. Hilberts Weltraum-Hotel Der deutsche Mathematiker David Hilbert (1862–1943) hat die Frage gestellt: Wie viele Gäste kann ein Hotel im Weltraum aufnehmen? In einem normalen Hotel auf Erden ist die Zahl der Zimmer gegeben und nicht veränderbar. Kommt ein Gast spätabends, so wird ihm der Hoteldirektor sagen: „Tut mir leid, unser Haus ist schon voll belegt. Ich könnte Sie nur unterbringen, wenn ich einen anderen Gast hinauswürfe.“ In der Sprache der Ökonomen: Der Hoteldirektor kann den neuen Gast nur besser stellen, wenn er einen andern Gast schlechter stellt. Das ist nicht Pareto-optimal. Auf den ersten Blick scheint dasselbe Kapazitätsproblem aufzutreten, wenn das Hotel im Weltraum steht und unendlich viele Zimmer hat, die durch unendlich viele Gäste belegt werden. Nur der Maßstab scheint unterschiedlich. Die Kapazität des Hotels scheint nicht auszureichen, wenn ein zusätzlicher Gast kommt. Das trügt. Es gibt in D. Hilberts Hotel einen Weg, alle Nachfrager Pareto-optimal zu bedienen. Wenn spätabends der neue Gast kommt und nach einem Zimmer fragt, wird der Hoteldirektor sagen: „Willkommen, wir haben genug Platz. Wir müssen uns nur etwas umorganisieren.“ Der Gast von Zimmer 1 geht in Zimmer 2, der Gast von Zimmer 2 geht in Zimmer 3, der von Zimmer 3 nach Zimmer 4 usw. Damit wird Zimmer 1 frei für den neuen Gast. Da die Anzahl der Zimmer unendlich ist, gibt es keinen „letzten“ Gast, der nicht in ein weiteres Zimmer umziehen könnte. Die Aufnahme des neuen Gastes ist Pareto-optimal. Das Verfahren lässt sich für jeden neuen Gast wiederholen, so dass Platz für eine beliebige Zahl neuer Gäste besteht.

C. Temporale Staatsschuldentheorie

2. Dezentrale Altersvorsorge Hilberts Modell ist der Prototyp für das Intergenerationenmodell der Bevölkerung von Paul A. Samuelson (1958).6 Die USA sind ein Einwanderungsland mit unendlicher Kapazität. Eine Einwanderergeneration folgt auf die vorangegangene Einwanderergeneration. Jahr für Jahr kommen neue Einwanderer ins „Land der unbeschränkten Möglichkeiten“. Sie arbeiten heute und sorgen für ihr Alter von morgen, ein staatliches Altersversicherungssystem gibt es nicht. Die einzige Möglichkeit zu sparen ist durch Zertifikate von Papiergeld (alle anderen Güter sind wie Schokolade: Sie schmelzen in der Wärme und können nicht über eine Generation hinaus aufbewahrt werden). Die Individuen sparen und kaufen damit von den Älteren Papiergeld. Wenn sie dann selbst älter geworden sind, verkaufen sie ihr Papiergeld an die Jüngeren und leben davon. Dieses System setzt sich Generation für Generation fort. Wenn die Bevölkerung wächst, so gibt es stets mehr jüngere als ältere Menschen. Folglich wächst die Nachfrage nach Papiergeld, der Preis des Papiergeldes steigt. Dieses verzinst sich. Umgekehrt fällt bei geringem Bevölkerungswachstum der Zins; er wird schließlich null oder sogar negativ. P. A. Samuelson stellt daraus sein fundamentales Theorem auf: „Jede geometrisch wachsende Konsum-Darlehens-Ökonomie hat einen gleichgewichtigen Marktzinssatz, der genau gleich seiner biologischen Wachstumsrate ist.“ (P. A. Samuelson, 1958, S. 472). Sollte die Wachstumsrate der Bevölkerung sinken, so sinkt auch der gleichgewichtige Zins. Samuelsons Modell funktioniert auch heute immer noch, aber es sichert den Sparern bei niedrigem oder Negativzins nicht mehr das volle Überleben im Alter.

3. Angebot und Nachfrage nach Kapital bei C. C. von Weizsäcker (2011, 2015) Statt das Papiergeld von Generation zu Generation weiterzugeben, können die Individuen auch Schuldverschreibungen der Wirtschaft kaufen. Ihre Ersparnisse werden dann investiert, erzielen Rendite und sichern das Leben im Alter. Die entscheidende Frage ist, ob sich aus Angebot und Nachfrage ein hinreichendes Rentenniveau ergibt? In Abbildung 17.5 ergibt sich das Angebot an Kapital C. C. von Weizsäcker (2011, 2015) zufolge durch Ansparen in der ersten Lebensperiode von 40 Jahren und Entsparen im der zweiten Lebensperiode von 20 Jahren (ohne Unterhalt von Kindern). Folglich hat ein durchschnittliches Individuum im Verlauf seines Lebens ein Durchschnittsvermögen von 10 Jahren Konsum. Dazu kommen institutionelle Sparfonds und Stiftungen von schätzungsweise 2 Jahren, was nach C. C. von Weizsäcker zusammen 12 Jahre ergibt, d. h. im Durchschnitt suchen jährlich 12 Jahre Sparkapital Anlage am Kapitalmarkt. Die Nachfrage seitens der Wirtschaft nach den Ersparnissen der Individuen ist gleich dem (marginalen) Kapitalkoeffizienten (∆K/∆C), d. h. dem Kapital, 6

Obwohl Samuelson Hilbert nie gekannt hat.

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17. Kapitel: Was kosten Staatsschulden? Durchschnittsvermögen von 10 Jahren Konsum Ansparen

Entsparen

40 Jahre

10 Jahre + 10 Jahre Mit Fonds = 12 Jahre

Abbildung 17.5: Das Spardreieck Quelle: nach C. C. von Weizsäcker (2011)

das notwendig ist, um zusätzliche Konsumgüter C zu erzeugen. Der Kapitalkoeffizient besteht aus der Netto-Investitionsquote (∆K/C) dividiert durch das Wachstum des Sozialprodukts (∆C/C) jeweils bezogen auf den Konsum: (17.6) (∆K/∆C) = (∆K/C) / (∆C/C). Der Kapitalkoeffizient liegt bei einer Nettoinvestitionsquote von 0,1 und einer Wachstumsrate des BIP (bzw. des Konsums) von 0,02 bei einem historisch traditionellen Wert von 5 Jahren. D. h. für Unternehmen sind fünf Jahre Produktionsumwege in Kapital erforderlich, um eine Einheit Konsumgüter zu erzeugen. Man bedenke aber, dass die Sparperiode 12 Jahre beträgt, also weit über fünf Jahren liegt und daher einen Druck auf den Zins ausübt. Würde der Zinssatz weiter sinken, so würde der Kapitalkoeffizient zwar noch etwas steigen, aber nicht mehr allzu lange, Schätzungen zufolge vielleicht bis 7 ½ Jahre, denn Produktionsumwege (in Kapital) unterliegen abnehmenden Grenzerträgen. Der Grund liegt im zweiten Satz der Thermodynamik, nach welchem ein geordnetes System allmählich in einen ungeordneten Zustand zerfällt. Reparaturen können seinen Zerfall zwar aufhalten, diese aber erfordern Kosten, die die wirtschaftliche Lebensdauer des Kapitals begrenzen. Von selbst kehrt ein zerfallendes System nie mehr in ein geordnetes System zurück. Beispielsweise zerfällt eine stolze Burg im Laufe der Zeit in eine Ruine, sie wird aber nie mehr von selbst zur stolzen Burg. Das gilt generell auch für Investitionen. In Produktionsumwegen steckt von Anfang an der Zerfall. Dieser dominiert umso mehr, je länger die eingeschlagene Produktionsperiode ist. Daher sind Produktionsumwege am Anfang bis zum Punkt B in Abbildung 17.6 produktiv und werden dann (nach schätzungsweise 7 ½ Jahren) immer weniger produktiv, bis sie sich am Ende, wie dort dargestellt, nicht mehr lohnen. Das Gesetz der Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege geht auf den öster­ reichischen Ökonomen Eugen von Böhm-Bawerk (1889) zurück. Die Mehrergie­ bigkeit der Produktionsumwege ist neben der Zeitpräferenz von Irving Fisher (Abbildung 17.1) einer der Gründe, warum Unternehmen bereit sind einen Zins

C. Temporale Staatsschuldentheorie

Arbeitsproduktivität

B Maximale Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege B

Produktionsperiode T

Abbildung 17.6: Die Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege Quelle: nach C. C. von Weizsäcker (2015, S. 194)

zu bezahlen. Aus heutiger Sicht ist jedoch hinzuzufügen, dass diese Bereit­ schaft nicht unbegrenzt ist. Produktionsumwege unterliegen einer abnehmen­ den Grenzproduktivität. Allmählich bringen weitere Produktionsumwege keine vorteilhafte Mehrproduktion mehr. Auch die Kosten zur Erhaltung von Kapital­ gütern nehmen immer mehr zu. Deswegen nimmt die Investitionsbereitschaft auch bei tiefem Zins nicht mehr weiter zu. Dieser Zusammenhang kommt in Abbildung 17.6 zum Ausdruck.

Der Ökonom Eugen von Böhm-Bawerk (1851–1914) glaubte noch, dass der Kapitalismus stets hinreichend viel lohnende Investitionsprojekte zur Verfügung stelle und der Zins daher für die Sparer stets attraktiv sei. Die Theorie des allmählichen Zerfalls von Kapitalgütern war ihm noch nicht bekannt. Wird sie jedoch berücksichtigt, so gibt es ein Maximum an lohnenden Produktionsumwegen. Doch nicht zu allen Zeiten lag dieses Maximum auf gleicher Höhe. Schon in den 1950er Jahren erkannte der russische Ökonom Nikolai Kondratjew, dass es in einer Volkswirtschaft lange Perioden eines Aufbruchs mit steigendem Kapitalkoeffizienten und hohem Investitionsbedarf (wie das Zeitalter der Dampfmaschine, der Eisenbahnen, der Elektroindustrie, der Chemie, des Erdöls und des Autos) gab, dass aber dazwischen auch lange Zeiten der Investitionsflauten auftreten, in denen nicht mehr gesichert ist, dass die Investitionen ausreichen, um alle Ersparnisse aufzusaugen (Abbildung 17.7). Dieses beeindruckende Ergebnis folgt aus den bloßen Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Sie reichen aus, um Hoch- und Niedrigzinsen zu verstehen.

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17. Kapitel: Was kosten Staatsschulden?

Dampfmaschine Eisenbahnen

Elektro und Chemie

Erdöl und Autos Information Leichtindustrie

1. Weltkrieg 2. Weltkrieg Nachkriegsinv., Wiedervereinigung………. Investitionen

? 1800 1.Kondratjew

1850

1900

2. Kondratjew

3. Kondratjew

1950

2000

2050

4. Kondratjew 5. Kondratjew fehlender Kondratjew

Abbildung 17.7: Die bisherigen Kondratjew-Zyklen Quelle: nach Creative Commons zu N. Kondratjew (1926)

4. Sparen und Investieren – Einst und jetzt Zum Vergleich lässt sich fragen: Wie verhielt es sich einstmals? Früher war das Leben der Menschen kurz, daher bestand wenig Anlass für das Alter vorzusorgen, es wurde wenig fürs Alter gespart (Punkt A in Abbildung 17.8). Zudem war die Produktionsperiode (zwar abnehmend) aber lang und damit die Nachfrage nach Kapital groß. Der Gleichgewichtszins lang im positiven Bereich, z. B. beim Punkt A. Heute jedoch ist das Leben lang; es herrscht Sparschwemme. Der Kapitalbedarf ist kurz. Beide zusammen drücken den Zins auf Punkt B im Minusbereich. Die den Menschen zugutekommenden Leistungen des Gesundheitswesens sind zu gut, als dass sie das Leben verkürzten. Eine Rückkehr zu einem Kapital, das lange Produktionsumwege erfordert, ist ebenfalls unwahrscheinlich. Daher fällt der Gleichgewichtszins in Abbildung 17.8 von A auf den Punkt B bei null oder sogar darunter. Es überwiegt heute der Hang zu Leichtinvestitionen mit kurzer Lebenszeit. Daher bleibt B bei null oder sinkt sogar in den negativen Bereich, Null- oder Niedrigzinsen sind die Konsequenz. C. C. v. Weizsäckers temporale Kapitaltheorie erweist sich ein langfristiges, säkulares und nicht nur als vorübergehendes Phänomen.

5. Helikoptergeld? Ein Blick auf Abbildung 17.8 zeigt noch einmal das Phänomen der Niedrigzinsen, das heute zu so vielen Kontroversen sorgt. a. Der Mises-Schule zufolge sind Niedrigzinsen ein institutionelles Problem, das durch die giralgeldfinanzierte Kreditvergabe der Banken und vor allem durch die Rettungspolitik der EZB verursacht ist. Eine Rückkehr zur Politik des gemäßigten Geldmengenwachstums würde den Zins zwar anheben und vermutlich der Vollbeschäftigung dienen. b. Der temporalen Kapitaltheorie zufolge liegt der Grund der Niedrigzinsen bei der Sparschwemme und der geringen Nachfrage nach Kapital. Die Zentralbanken akkommodieren die Niedrigzinsen. Auch die deutsche Schul-

C. Temporale Staatsschuldentheorie denbremse übt demzufolge einen kontraproduktiven Effekt aus, weil sie die Nachfrage nach Staatsanleihen anheizt und so zum Niedrigzins beiträgt. Noch gefährlicher ist die Tendenz zum Protektionismus. Die Wähler in Südeuropa leiden unter der hohen Arbeitslosigkeit und sind um ihre Jobs besorgt. Infolgedessen könnten diese Länder die Auslandskonkurrenz als Ursache ihrer Arbeitslosigkeit deuten und nach Protektionismus rufen. Das wäre in der Tat eine fatale Entwicklung. Donald Trump, der neue Präsident der USA, hat eine solche Politik des Protektionismus angekündigt. c. An diesem Punkt scheiden sich freilich die Geister. Die „Weizsäckerianer“ sehen in der Sparschwemme die Ursache der Deflatio, die „Misesianer“ sehen im Kauf von Staatsanleihen der Eurostaaten durch die EZB den Grund für die Niedrigzinsen. Beide würden höhere Zinsen begrüßen. Aber in einem international verflochtenen Kapitalmarkt übt jede autonome Zinserhöhung einen Kapitalzustrom aus, der die Zinserhöhung wieder neutralisiert.

Zins

Früher: Ersparnis kurz, weil Leben kurz; Kapitalbedarf hoch; Zins hoch Zins A

Kapitalbedarf Ersparnis

Heute: Ersparnis lang, weil Leben lang; Kapitalbedarf rel. gering; Zins tief Lebensdauer früher

Zins B

Jahre

Lebensdauer heute Zunehmende Ersparnis bei abnehmendem Kapitalbedarf = Niedrigzins

Abbildung 17.8: Wo sich Angebot und Nachfrage nach Ersparnissen einst und jetzt treffen

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17. Kapitel: Was kosten Staatsschulden? d. Kürzlich brachte der Financial Times-Journalist und Kenner der Politik M. Wolf (2016) unter dem Titel, „Helicopter drops might not be far away“, ein neues Argument in die Diskussion. Die Volkswirtschaften befänden sich in einer säkularen Stagnation mit mangelnder gesamtwirtschaftlicher Nachfrage. Zum Zwecke der Ankurbelung der Wirtschaft sei nachfragewirksames Geld erforderlich. Geld an die Banken zu verteilen sei unwirksam, weil diese es zu nachfrageneutralen Asset-Swaps und nicht zur Entfaltung von effektiver Nachfrage benützten. Effektive Nachfrage könne aber durch so genanntes Helikoptergeld erzeugt werden, das unter Umgehung der Geschäftsbanken direkt an die Nachfrager verteilt wird. e. Mit diesem Vorschlag kommt M. Wolf sowohl den Anhängern der temporalen Kapitaltheorie wie den Mises-Anhängern entgegen. Für die ersteren wird bedingungslose (keynesianische) Nachfrage erzeugt, für die letzteren werden die von ihnen verachteten Geschäftsbanken umgangen.

D. Schlussfolgerungen aus dem 17. Kapitel: Eine neue Schuldenbremse? Der Zins ist der Preis für Staatsschulden. Wie jeder Preis wird auch der Zins durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Das Angebot entsteht aus den Sparentscheidungen der Individuen, die Nachfrage aus den Investitionsentscheidungen der Unternehmen. In alternden Bevölkerungen steigt das Angebot an Ersparnissen. Die Nachfrage nach Ersparnissen ist ebenfalls vom Zins abhängig, darüber hinaus aber auch technologisch bestimmt und im Zeitalter von digitalen und Leichtinvestitionen eher geringer als früher. Beide Faktoren zusammen führen zu den heute beobachteten Niedrigzinsen. Manche Beobachter halten Niedrigzinsen für eine Dauererscheinung; die Wirtschaft neige zu permanenter Deflation. Permanente staatliche Nachfragehilfe durch den Staat, z. B. durch Helikoptergeld und dergleichen seien erforderlich, um der Wirtschaft wieder Dynamik zu verleihen. Indessen zeigen KondratjewZyklen, dass der Investitionsbedarf zyklisch verläuft. Nach langen Zeiten der Deflation können Innovationszyklen auftreten, die die Investitionsnachfrage wieder ansteigen lassen. Der Staat könnte sich in der Haushaltspolitik an die wechselnden Zinsen anpassen. Bei hohen Zinsen ist die Beachtung der Schuldenbremse angezeigt. Bei niedrigen Zinsen ist Staatsschuld eine Option.

Wichtige Begriffe des 17. Kapitels Explizite (bestehende) Staatsschuld Implizite (prospektive) Staatsschuld Generationenbilanzen Schuldenstand, Nettoneuverschuldung Intertemporale Budgetbeschränkung

D. Schlussfolgerungen aus dem 17. Kapitel Primärbudget Tragbare öffentliche Schuld Schuldenklemme Differenzialinzidenz Ricardo-Barro-Äquivalenztheorem Stellvertretertheorie der Staatsverschuldung Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege Sparperiode Alterssparen Niedrigzinsen

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D. Schlussfolgerungen aus dem 17. Kapitel P. A. Samuelson, An Exact Consumption Loan Model of Interest with or without the Social Contrivance of Money, Journal of Political Economy, Vol 66, Dec 1958. S. 467–482. J. J. Seater, Ricardian Equivalence, in: Journal of Economic Literature, Vol. 31, 1993, S. 142– 190. V. Vanberg und J. M. Buchanan, Organization Theory and Fiscal Economics: Society State and Public Debt, in: Journal of Law, Economics and Organization, Vol. 2, No. 3, 1986, S. 215–227. C. C. von Weizsäcker, Price Stability and Public Debt: Foes or Friends? Max Planck Institut, Bonn 2010. C. C. von Weizsäcker, Staatliches Gewaltmonopol, Staatsverschuldung und individuelle Vorsorge, Walter-Adolf-Jöhr-Vorlesung, St. Gallen 2011. C. C. von Weizsäcker, Kapitalismus in der Krise? Der negative natürliche Zins und seines Folgen für die Politik, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Vol. 16, No. 2, 2014 S. 189–212. R. K. von Weizsäcker, Finanzpolitik, in: J. v. Hagen, P. J. J. Welfens und A. Börsch-Supan, Hrsg., Springers Handbuch der Volkswirtschaftslehre, Bd. 2, Berlin (Springer) 1997, S. 123–180. P. Chr. Witt, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903 bis 1913, Lübeck und Hamburg (Mathiesen Verlag) 1970. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Zur finanziellen Stabilität des deutschen Föderalstaates, Berlin 2005. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Zur Begrenzung der Staatsverschuldung nach Art. 115 GG und zur Aufgabe des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, Berlin 2008. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Überschuldung und Staatsinsolvenz in der Europäischen Union, Berlin 2010. M. Wolf, Helicopter drops might not be far away, Financial Times, 23. Februar 2016.

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„… Wir [haben] Unsere Überzeugung aussprechen lassen, dass die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde.“ Reichskanzler Otto v. Bismarck vor dem Reichstag am 17. November 1881

18. Kapitel Alterssicherung A. Zwei Teile der sozialen Sicherung Die soziale Sicherung beruht in Deutschland auf zwei großen Pfeilern: der gesetzlichen Rentenversicherung (mit 263,801 Mrd. Euro 2014) und der gesetzlichen Krankenversicherung (mit 193,957 Mrd. Euro 2014). Die Rentenversicherung wird im vorliegenden 18. Kapitel, die Krankenversicherung im folgenden 19. Kapitel behandelt.

B. Die Rentenversicherung kann eine ganz normale Versicherung sein Die Rentenversicherung lässt sich zunächst einmal wie eine ganz normale Versicherung verstehen. Sie soll den Lebensunterhalt der Nachkommen im Fall eines verfrühten Todes des Versicherten gewährleisten. Darüber hinaus soll die Rentenversicherung im Überlebensfall des Versicherten dessen Lebensunterhalt im Alter sicherstellen. Es gibt private Lebensversicherungsunternehmen, die solche Leistungen anbieten. Mittels Beiträgen von Versicherten bilden sie ein Deckungskapital, das im Schadens- oder Versicherungsfall zur Auszahlung kommt. Der Staat kann als Rentenversicherer selbst aktiv werden. Er kann Prämien erheben, Rücklagen bilden und Auszahlungen an die Versicherten leisten. Aber er ist nicht gezwungen, nach dem Prinzip der Privatwirtschaft vorzugehen.

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18. Kapitel: Alterssicherung Denn die Solvabilität ist bei ihm nicht gefährdet. Notfalls kann er auf Steuermittel zurückgreifen, um seine Versprechungen einzuhalten. Es steht ihm frei, Versicherungsleistungen auszuschütten, ganz egal, ob ein Individuum vorher Beiträge einbezahlt hat oder nicht. Daraus ist erkenntlich, dass die staatliche Rentenversicherung ein politisches Instrument erster Klasse darstellt und als solches auch in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen hat. Das Zauberwort, das solche Versicherungsleistungen erlaubt, heißt Umlageverfahren. Die aktive Generation leistet Einzahlungen direkt an die Vorgängergeneration, ohne dass diese notwendigerweise Eigenleistungen erbracht hat. Es sieht dann so aus, als ob ein „Generationenvertrag“ besteht. Er vermittelt den Eindruck von Fairness und Gerechtigkeit. Doch der Schein trügt. Von einem Vertrag lässt sich nämlich nur sprechen, wenn die Beteiligten freiwillig Beiträge leisten. Gerade das ist aber bei einer staatlichen Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren nicht gegeben. Über das Zwangssystem wird eine Rentnergeneration, die womöglich noch nie Beiträge geleistet hat, bevorzugt. Die Kosten trägt die aktive Generation, die dafür ein Versorgungsversprechen von der zukünftigen Generation erhält. Potentielle Verliererin am Umlageverfahren ist die Nachwuchsgeneration, die heute zum Teil noch nicht geboren ist und daher am Vertragsabschluss gar nicht teilnehmen kann. Sie tritt mit einer Nettoverbindlichkeit in das Erwerbsleben ein. Dass es sich hierbei um ein Zwangssystem und nicht um einen Vertrag zwischen den Generationen handelt, lässt sich ersehen, wenn das Umlageverfahren eines Tages beendet wird. Dann wird die zu diesem Zeitpunkt aktive Generation leer ausgehen, wenn sie in Rentenalter kommt. Bei einem zivilrechtlichen Vertrag würden aber alle Beteiligten im Auflösungsfall ihre Einlagen zurückerhalten. Wohlfahrtsökonomen haben daraus zwei Fragen abgeleitet; Erstens fragen sie: Könnte eine Gesellschaft mit einem Kapitaldeckungsverfahren eine höhere Wohlfahrt erzielen als mit dem Umlageverfahren, und zweitens ergänzen sie: Wenn ja, würde eine Umstellung vom Umlageverfahren auf das Kapitaldeckungsverfahren wenigstens eine Generation besser stellen, ohne dass eine andere schlechter gestellt wird? Dann wäre das nämlich eine Pareto-Verbesserung. Zur ersten Frage, ob ein Kapitaldeckungsverfahren einen höheren Wohlstand ermöglicht, meinte der bekannte Bevölkerungswissenschaftler Gerhard Mackenroth, „…, dass [in einer geschlossenen Volkswirtschaft] aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss.“ (G. Mackenroth, 1952, S. 42). Nach dieser so genannten Mackenroth-These ist es also irrelevant, ob die Renten über das Umlage- oder über das Kapitaldeckungsverfahren finanziert werden. So oder so kommen sie aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode. Das ist richtig, aber inhaltsleer. Denn woraus sollten sonst die Renten bezahlt werden, wenn nicht aus dem laufenden Volkseinkommen? Es kommt darauf an, dass ein Volkseinkommen mit Kapitalstock größer ist und daher mehr Mittel auszahlen kann als ein Volkseinkommen auf Umlagebasis ohne angespartes Kapital. Soweit ist also die Antwort klar: Es ist immer vorteilhaft, wenn Kapital vorhanden ist. Doch wie steht es mit der zweiten Frage? Ist die Umstellung vom Um-

B. Die Rentenversicherung kann eine ganz normale Versicherung sein lage- auf das Kapitaldeckungsverfahren auch vorteilhaft? Das ist, wie Friedrich Breyer (1990) zeigt, nicht der Fall. Das Plus des größeren Kapitalstocks kann erst genossen werden, nachdem das Minus der Ansparleistung erbracht worden ist. Vgl. hierzu Abbildung 18.1: Zum einen spart die Erwerbstätigengeneration, um für sich aus dem angesparten Kapital ihre spätere Rente finanzieren zu können. Ihre marginale Zeitpräferenz ist gleich dem Zinssatz und der Grenzproduktivität des Kapitals bei Punkt G. Um aber auch die Rentenzahlungen an die Vorgängergeneration zu leisten, muss die aktive Generation zusätzlich Kapital ansparen. Ihrer Sparleistung steht aber bei Geltung des Ertragsgesetzes nicht eine ausreichende Grenzproduktivität des Kapitals gegenüber (sonst wäre das auf freiwilliger Basis schon geschehen). Die Lücke muss durch eine Staatsanleihe geschlossen werden, was zeigt, dass das Minus aus dem Umlageverfahren nicht verschwindet, eine Pareto-Verbesserung sich also ceteris paribus nicht erzielen lässt. R. Fenge (1995) drückt den Zusammenhang etwas anders aus. Er zeigt, dass die im Umlageverfahren implizite Steuer (im Vergleich zum höheren Ertrag eines Kapitaldeckungsverfahrens) genau gleich groß ist wie die Steuer, die es bräuchte, um die implizite Schuld abzutragen, um so zum Kapitaldeckungsverfahren überzugehen. Hans Werner Sinn schreibt, dass im Umlageverfahren die Einführungsgeneration ein Rentengeschenk erhält. Die Einführungsgeneration wird begünstigt. Doch dem entspricht in genau gleich hohem Umfang die implizite Staatsschuld. Weil sich diese Schuld nicht einfach streichen lässt, könne schon aus diesem Grund weder das eine noch das andere System für besser angesehen werden (H. W. Sinn, 2000). Zinssatz

Marginale Zeitpräferenz

G

Differenz muss durch Staatsanleihe finanziert werden

Grenzproduktivität des Kapitals 0 „implizite Staatsschuld“

Ersparnisse

Abbildung 18.1: Umstellung vom Umlageverfahren auf das Kapitaldeckungsverfahren

289

18. Kapitel: Alterssicherung

C. Wie entscheidet ein Wähler in einer direkten Demokratie über ein neu einzuführendes Rentenversicherungssystem? 1. Überlappende Generationen Über Rentensysteme wird politisch entschieden. Im einfachsten Fall liegt eine direkte Demokratie vor. Den Wählern wird in einer Volksabstimmung die Frage vorgelegt, ob sie sich im Rahmen einer Pflichtversicherung für ein Kapitaldeckungs- oder ein Umlageverfahren entscheiden. Die Funktionsweisen der beiden Verfahren werden ihnen anhand von Abbildung 18.2 näher erläutert. Nach der dortigen Darstellung besteht das Leben eines Individuums aus drei Perioden. Nach jeder Periode rückt es in eine höhere Generation. Alle Generationen Kapitalstock

deckungs-, ver-

t

t+1

fahren

Kapital-

290

1 en hr r fa sfe an r T

2 rve

it ke

3 ehlag m lic d U n i rb Ve

3 Nachwuchsgeneration

2 Aktive Generation

1 Rentnergeneration

Abbildung 18.2: Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren der Rentenversicherung in einem Dreigenerationenmodell

C. Wie entscheidet ein Wähler sind gleich stark besetzt, so dass auf jedes Mitglied der Rentnergeneration ein Mitglied der aktiven Generation und auf jedes Mitglied der aktiven Generation ein Mitglied der Nachwuchsgeneration folgt. Im Falle des Kapitaldeckungsverfahrens sorgt jede Generation, genauer jedes Mitglied jeder Generation für sich selbst. Aus den einbezahlten Beiträgen wird über eine Periode Kapital gebildet und Zins gewonnen, die beide in der nächsten Periode den Einzahlern wieder zugutekommen. Beim Umlageverfahren entfallen jedoch Kapitalbildung und Verzinsung. Die Rentnergeneration erhält einen direkten Transfer von der aktiven Generation und diese wiederum ein Rentenversprechen von der Nachwuchsgeneration. Welches der beiden Versicherungssysteme würde ein Wähler vorziehen, wenn es darum geht, ein Rentenversicherungssystem neu, sozusagen „auf der grünen Wiese“ einzurichten?1

2. Die Entscheidung eines jungen Erwerbstätigen Betrachten wir die Entscheidungssituation eines jungen Erwerbstätigen. Folgende Erwägungen dürften seine Entscheidung in einer direkten Demokratie bestimmen. Die interne Rendite des Rentensystems: Jedes Rentensystem hat eine interne Rendite, das Kapitaldeckungsverfahren, weil Kapital gebildet und ein Zins erwirtschaftet, wodurch die Renten steigen, und das Umlageverfahren, weil die Löhne steigen, woraus höhere Anwartschaften resultieren. Ein junger Wähler wird nach der vergleichsweisen Rendite, von Kaptaldeckungs- oder Umlageverfahren entscheiden. Hierbei hilft ihm das Kriterium von Aaron (H. Aaron, 1966). Ist:

(18.1) gW > i so entscheidet er sich für das Umlageverfahren, (18.2) gW < i so entscheidet er sich für das Kapitaldeckungsverfahren, (18.3) gW = i so ist er indifferent, wobei gW die Wachstumsrate der Lohnsumme W und i den Zinssatz darstellen. Der Fall (18.3) ist gegeben, wenn die goldene Regel der Kapitalakkumulation erfüllt ist, d. h. wenn sich die Volkswirtschaft auf jenem gleichgewichtigen langfristigen Wachstumspfad befindet, der den Konsum maximiert (vgl. St. Homburg, 1992, 1996). Dort gilt gY = i, d. h. die Wachstumsrate g des Sozialprodukts Y ist gleich dem Zinssatz i, bzw. bei konstanter Lohnquote ist gW = i. Bei dieser Konstellation ist ein junger Erwerbstätiger als Wähler zwischen den beiden Rentensystemen indifferent.

1

Natürlich ist es denkbar, dass sich die Wähler weder für ein Kapitaldeckungs- noch für ein Umlageverfahren entscheiden, sondern den Status quo vorziehen. Wir wollen aber im Folgenden diese Möglichkeit ausschließen, um die beiden alternativen Versicherungssysteme besser hervorheben zu können.

291

292

18. Kapitel: Alterssicherung Doch die Formel (18.3) stellt einen Grenzfall dar. Er gilt nur, wenn alle Produktionsfaktoren im Gleichschritt wachsen.2 Demgegenüber geht von absolut begrenzten Produktionsfaktoren wie Grund und Boden und natürlichen Ressourcen ein dämpfender Einfluss auf die Wachstumsrate des BNE aus, und der Zins steigt über die Wachstumsrate des BNE. Damit gilt (18.2). Der betrachtete Erwerbstätige spricht sich als Wähler eher für das Kapitaldeckungsverfahren aus. Der Umverteilungseffekt: Im Kapitaldeckungsverfahren findet keine Umvertei-

lung zwischen Reich und Arm statt. Jeder Versicherte führt sein eigenes Konto, auf dem seine Ersparnisse gesammelt und verzinst werden. Das Kapitaldeckungsverfahren erzeugt Teilhabeäquivalenz. Teilhabeäquivalenz gibt es auch im Umlageverfahren: Wer viel in die Rentenversicherung einbezahlt hat, erhält mehr Rente, als wer nur wenig einbezahlt hat. Doch der Versicherte erwirbt aus seinen Beiträgen keine unmittelbaren Eigentumsrechte; er hat kein eigenes „Konto“, sondern nur ein staatliches Versprechen auf einen Anteil am Pool. Wer tatsächlich wie viel erhält, wird politisch bestimmt. In einer Demokratie wird die Mehrheit der Habenichtse versuchen, die hohen Anwartschaften der Rentensparer zu sich umzuverteilen. Teilhabeäquivalenz ist in steter Gefahr, politisch ausgehöhlt zu werden. Es besteht eine Tendenz zur beitragsunabhängigen Grundrente. Wer eine Grundrente erwartet, wird sich unter die Nichtzahler einordnen. Wer eine Teilhaberente mit hohen Auszahlungen erwartet, wird für die Teilhaberente stimmen.

3. Die Entscheidung eines älteren Erwerbstätigen und Rentners Bei einem älteren Erwerbstätigen oder Rentner ist die Entscheidungssituation relativ klar. Aus der Einführung eines Kapitaldeckungsverfahrens kann er nicht mehr viel gewinnen, weil die Ansparzeit nur kurz ist.3 Umgekehrt gewährt ihm das Umlageverfahren unmittelbare Auszahlungen, auch wenn er vorher keine oder nur wenig Beiträge geleistet hat.

D. Rentenpolitik in einer repräsentativen Demokratie: Das Beispiel Deutschlands In einer repräsentativen Demokratie werden die Stimmen aller Generationen zusammengeworfen. Der Unterschied zwischen Älteren und Jüngeren lässt sich nicht mehr genau ermitteln. Aber es besteht ein Unterschied zwischen Einführungs- und Nachfolgegeneration.

2 3

Der Faktor Arbeit kann beispielsweise auch dadurch wachsen, dass er durch Bildung effizienter wird. Manche von ihnen werden auch schon privat vorgesorgt haben.

D. Rentenpolitik in einer repräsentativen Demokratie

1. Die Einführungsentscheidung Der Unterschied zwischen Einführungs- und Nachfolgegeneration lässt sich wie folgt verstehen. In einer repräsentativen Demokratie muss ein Rentensystem auch Nebenziele der Regierung erfüllen. Es geht nicht mehr nur um die direkten Nutzen und Kosten, die die gesetzliche Rentenversicherung Wählern verspricht, sondern auch um den Beitrag, den dieses System zum Überleben einer Regierung leistet. Auch für die deutsche Reichsregierung unter Otto von Bismarck hatte die Rentenversicherungsvorlage4 von 1881 einen derartigen Überlebens-Charakter. Sie bildete Teil eines großen Sozialversicherungsprogramms, das Bismarck in den Reichstag einbrachte, um die sozialistischen Unruhen dieser Zeit zu bewältigen und zur Stabilisierung des politischen Systems beizutragen. Das Eingangszitat zu diesem Kapitel illustriert die politische Absicht: Nicht durch „Repression“, sondern durch „Sozialpolitik“ sollen die Ausschreitungen der Arbeiter überwunden werden. Für den instrumentellen Charakter spricht auch, dass die Vorlage im Reichstag von der politischen Rechten und nicht von den Sozialdemokraten unterstützt wurde.5 Die politisch Rechte erkannte den Beitrag der Rentenversicherung für den sozialen Frieden, der auch ihr zugute kam. Unter der Überlebenszielsetzung der Regierung ist es auch verständlich, dass die Rentenversicherung zunächst (so war es gedacht) vom Kapitaldeckungsverfahren abwich und der ersten Rentnergeneration über den Reichszuschuss eine kleine Rente finanzierte, obwohl deren Angehörige keine Beiträge bezahlt hatten. So wurde das Problem der langen Ansparphase des Kapitaldeckungsverfahrens umgangen und ein unmittelbarer politischer Nutzen erzielt.6

2. Die weitere Entwicklung der Rentenpolitik Das Geschenk an die Eintrittsgeneration war eine der größten politisch-ökonomischen Innovationen des 19. Jahrhunderts. Viele nachfolgende Politikergenerationen profitierten noch im 20. Jahrhundert davon. Dabei nahm sich Bismarcks Geschenk an die Eintrittsgeneration von 1881 noch relativ bescheiden aus. Nur etwa ein Viertel der Bevölkerung erreichte überhaupt das Rentenalter. Die durchschnittliche Jahresaltersrente belief sich damals auf nur 120  Mark, die Invalidenrente auf höchstens 150 Mark. Die Rentenbezugsdauer betrug im Durchschnitt 7,7 Jahre für Männer und 8,1 Jahre für Frauen. Auch wurden anfänglich nur die gelernten Arbeiter in die gesetzliche Alterssicherung aufgenommen.7 Nachfolgende Politiker erkannten, dass sie Bismarcks Geschenk an die Eintrittsgeneration wiederholen konnten, indem sie die Rentenversicherung auf weitere Gruppen von Erwerbstätigen ausdehnten. Nur einige markante Öffnungen seien genannt: Im Jahr 1911 wurden die unteren Angestellten in das 4 5 6 7

Ursprünglich Alters- und Invalidenversicherung. Die Verteilung der zustimmenden und ablehnenden Parteien ist wiedergegeben in E. R. Huber (1969, insbes. S. 1202–1204). Dies schließt nicht aus, dass in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg auch noch Reserven aufgebaut wurden. E. Engelberg (1990, Kap. X).

293

294

18. Kapitel: Alterssicherung System der Alterssicherung aufgenommen, 1939 die Handwerker, 1957 kamen die Landwirte dazu, 1981 die Künstler und 1990/1991 die Einwohner der neuen Bundesländer. Die jeweiligen Eintrittsgenerationen erhielten eine Rente oder ein Rentenversprechen auf Kosten der jeweils nachfolgenden Generation. Dadurch wurde die anfänglich schon bestehende implizite Staatsschuld um ein Vielfaches vergrößert. Denselben Effekt hatten die Senkungen der Altersgrenzen von anfänglich 70 Jahren auf 65 Jahre und dann auf die flexible Altersgrenze mit ihren selektiven Frühverrentungen (i. d. R. auf das 63., bei Schwerbehinderten, Berufs- und Erwerbsunfähigen auf das 60. Lebensjahr). Auch dadurch wurde die implizite Schuld erhöht.8, 9 Dabei ist zu beachten: Für die implizite Verschuldung kommt es nicht nur darauf an, dass die neu Aufgenommenen Beiträge in die Rentenversicherung bezahlen – diese werden ja im Umlageverfahren sofort ausgegeben –, sondern dass der Staat ihnen ein Rentenversprechen gibt, das sich von Generation zu Generation fortwälzt. Die stete Ausdehnung der gesetzlichen Rentenversicherung auf weitere Gruppen hatte bedeutende Anpassungen im privaten Bereich zur Folge. Bei den Versicherten nahm die Motivation, eine eigene Familie mit Kindern zu gründen, sukzessive ab. Die Versicherten reduzierten ihre Kinderzahlen, „externalisierten“ die Kinderlast und beraubten damit das Umlageverfahren der Basis der Beitragszahler. Die Abbildung 18.3 illustriert, dass der Geburtenknick der Kin-

durchschnittliche Kinderzahl je Frau

5

Deutschland Ost West

4

3

2

Erster Weltkrieg 1

Zweiter Weltkrieg 0 1871 1881 1891 1901 1911 1922 1932 1942 1952 1962 1972 1982 1992 2002

Kalenderjahr

Abbildung 18.3: Durchschnittliche Kinderzahl pro Frau 1871–2009 Quelle: Wissenschaftlicher Beirat beim BMWi (2005), Das Statistische Bundesamt (2009) 8 9

Die Rentenreformgesetze 1992 und 1999 sehen allerdings wieder Abschläge bei Rentenbezug vor dem Alter von 65 Jahren (bzw. 63 Jahren bei Schwerbehinderten) vor. N. Potrafke (2004) zeigt in einer Arbeit, dass sich sozusagen alle Parteien diese Art der Rentenpolitik zu Eigen gemacht haben.

D. Rentenpolitik in einer repräsentativen Demokratie der pro Frau schon zum Ende der 1890er Jahre einsetzt, was wohl nicht zufällig mit dem Datum der Einführung der Bismarckschen Rentenversicherung von 1881 zusammenfällt. In der Folge führt die weitere Ausdehnung der Rentenversicherung zusammen mit anderen Faktoren wie Kriegen, Urbanisierung und Empfängnisverhütungsmethoden zu einem fortgesetzten Rückgang der Geburtenhäufigkeit. Der Rückgang der Kinderzahlen pro Frau schlägt sich verzögert in einem Anstieg des Verhältnisses der Zahl der Rentner pro Beitragszahler, im so genannten Rentnerquotienten, nieder. Er ist definiert als: (18.4) Rentnerquotient =

Anzahl der Rentner mit Ansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung sozialversicherungspflichtige Beschäftigte

Seit dem Jahr 2000 ist der Rentnerquotient permanent gestiegen, vgl. Abbildung 18.4. Der Rentnerquotient lag wie aus Abbildung 18.4 hervorgeht im Jahr 2000 noch bei etwa 50 Prozent. Bis zum Jahr 2040 wird er auf bis zu 78 Prozent steigen. Das heißt, während derzeit noch etwa zwei abhängig Beschäftigte einen Rentner ernähren müssen, dürfte in 40er Jahren nur noch gut ein abhängig Beschäftigter auf einen Rentner entfallen. Somit würde der Druck auf das Sozialversicherungssystem stark ansteigen.

80% 75% 70% 65% 60% 55% 50% 45% 40% 2000

2010

2020

2030

2040

Abbildung 18.4: Entwicklung des Rentnerquotienten seit dem Jahr 2000 Quelle: MEA Policy brief no. 1, 2003

295

296

18. Kapitel: Alterssicherung

E. Wieviel Rente steht einem Rentner zu? 1.  Die Berechnung der Rente aus Entgeltpunkten und aktuellem Rentenwert Ein Grundprinzip der Rente hat sich seit Bismarcks erstem Rentengesetz über alle Rentenreformen erhalten, es ist die Teilhabeäquivalenz. Wer mehr Beiträge einzahlt, sammelt mehr Entgeltpunkte und erhält proportional eine höhere Rente. Sie oder er erwirbt ein Anrecht auf intergenerationelle Umverteilung.10 Konkret: Wer in einem Jahr a durchgehend gearbeitet, dabei das durchschnittliche Bruttoarbeitsentgelt WDa verdient und entsprechend Beiträge bezahlt hat, erhält für dieses Jahr einen Entgeltpunkt Ea als „Gutschrift“ für ihre/seine zukünftige Rente. Wer mehr verdient hat, erhält prozentual mehr, wer weniger verdient hat, prozentual weniger Punkte.11 Für einen Individuallohn Wa eines gegebenen Jahres beträgt die Zahl der Entgeltpunkte (18.5) Ea =

Wa WD a

Im Laufe eines Arbeitslebens von 45 Jahren sammelt ein Arbeitnehmer 45 mehr oder minder hohe Entgeltpunkte an. Deren Summe bestimmt den Anspruch auf intergenerationelle Umverteilung (zwischen den Generationen). Neben der intergenerationellen gibt es auch eine intragenerationelle Umverteilung (innerhalb einer Generation). Beispielsweise werden im Zusammenhang mit dem Gebären von Kindern Entgeltpunkte zugeteilt. Daher erhalten Menschen einer Generation, die gleich viel verdient haben, sich aber in anderer Hinsicht unterscheiden, eine ungleich hohe Rente. Nachfolgend wird auf diese Besonderheit nicht eingegangen. Ebenso werden der so genannte Zugangsfaktor bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Rente sowie der Rentenartfaktor z. B. bei Erwerbsminderung nicht berücksichtigt. Es wird also Teilhabeäquivalenz unterstellt. Ein beitragsbezogenes oder ein leistungsbezogenes Rentensystem?12 Grundsätz-

lich würde die Berechnung der individuellen Entgeltpunkte genügen, um die gesetzliche Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren dauerhaft auf eine solide Grundlage zu stellen. Es wäre nur erforderlich, die Beiträge B aller 1,…, k Versicherten eines Jahres (aus Beitragssatz mal Lohn) plus den festen Bundeszuschuss BZ zusammenzuzählen und durch die Summe aller Entgeltpunkte Ea (mit a = 1,…, 45) der n = 1,…, m versicherten Rentner zu dividieren.

10 11

12

Insofern unterscheiden sich Rentenbeiträge von Steuern. Den ersteren steht eine definierte Gegenleistung gegenüber, den letzteren nicht (§ 3 Abgabenordnung). Für den Teil des Arbeitseinkommens, der oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt, müssen keine Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung bezahlt werden. Diese Grenze liegt im Jahr 2017 in der gesetzlichen Rentenversicherung bei 6350 Euro pro Monat in den alten Bundesländern und 5700 Euro pro Monat in den neuen Bundesländern. Im anglo-amerikanischen Sprachbereich: defined contribution bzw. defined benefit pension plan.

E. Wieviel Rente steht einem Rentner zu? k

(18.6) Beitragsbezogene Rente, Wert eines Entgeltpunktes =

∑B i =1 m

i

+ BZ

45

∑∑ E

n 1= a 1 =

na

Dann erhielte jeder entsprechend seinen Entgeltpunkten eine Rente, und es würde nicht mehr Geld verteilt, als einbezahlt worden ist. Was der Einzelne erhält, hängt damit nicht nur von seinen Beitragsleistungen, sondern auch von der Zahl und den Punkten anderer Rentner und von den Beitragsleistungen der Beschäftigten und vom Bundeszuschuss13 ab. Man spricht von der beitragsbezogenen Rente. Das Konzept überzeugt durch seine Einfachheit. Würde es eingeführt, so gäbe es keine Finanzierungs-Rentenkrisen mehr. Es könnte jedes Jahr nur so viel ausbezahlt werden, wie einbezahlt worden ist, und jeder erhielte eine Rente nach seinen Beiträgen. Das bevölkerungsstrukturelle und konjunkturelle Risiko verteilt sich auf die Gesamtheit der Versicherten. Dieses Verfahren ist, obwohl ökonomisch vernünftig, politisch völlig unattraktiv. Ein Politiker kann nicht vor die Wähler treten und ihnen sagen: Ihr erhält eine Rente, aber diese wird je nach den Beitragseinnahmen von Jahr zu Jahr schwanken. Nur bei Betriebsrenten wird so verfahren. Überdies müssen die Versicherten es hinnehmen, dass die Renten trendmäßig zurückgehen, weil die Zahl der Beschäftigten und damit die Lohnsumme und damit die Zahl der beitragspflichtigen Beschäftigten von Jahr zu Jahr schrumpfen. Daher werden Politiker nicht ein beitragsbezogenes, sondern ein leistungsbezogenes Rentensystem anstreben und den Wählern versprechen, dass sie die ihnen zugesagte Rente auch erhalten. Doch gerade das ist gefährlich. Die Politiker werden unter dem Druck des Wettbewerbs um Wählerstimmen den Rentnern mehr versprechen, als sie halten können. Damit sind periodische Rentenkrisen vorgezeichnet. Übermäßige Versprechungen müssen immer wieder auf das Beitragsaufkommen redimensioniert werden. Denn dieses ist in einem leistungsbezogenen System ceteris paribus nicht größer als in einem beitragsbezogenen. Doch jeder Politiker weiß, dass seine Amtszeit begrenzt ist und er daher die unangenehme Arbeit von Rentenkürzungen, wenn seine Versprechungen zu groß waren, auf seine Nachfolger abschieben kann. Anders gesagt: Er hat einen Anreiz, mehr zu versprechen als er halten kann. Die deutsche Rentenversicherung ist geradezu ein Musterbeispiel für diese Theorie. Vor den Wahlen des Jahres 1957 versprach Bundeskanzler Konrad Adenauer den Rentnern die leistungsbezogene, dynamische Rente, die mit der Lohnsumme steigen sollte. Mit dem späteren Rückgang der Beschäftigten- und der Zunahme der Rentnerzahl war das Versprechen der dynamischen Rente nicht mehr zu halten. Die Rentenformel von 1957 musste durch immer neue, zusätzlich angehängte Dämpfungsfaktoren ergänzt werden. Das lässt sich wie folgt veranschaulichen: Ausgangspunkt der ursprünglichen Rentenform (unter Adenauer) stellen die in Gleichung (18.5) angeführten Entgeltpunkte dar. Sie werden mit einem Geldbetrag, dem aktuellen Rentenwert ARt des Jahres t ge13

Der Bund wird vom Gesetzgeber formal wie ein Beitragszahler behandelt.

297

298

18. Kapitel: Alterssicherung wichtet, um in (18.7) zur individuellen Rente Rt zu gelangen. Der AR beinhaltet das Wirtschaftswachstum und wird Jahr für Jahr fortgeschrieben. Rt (18.7) Beispiel einer leistungsbezogenen Rente=

45

∑E a =1

14

a

⋅ AR t .

Der aktuelle Rentenwert beträgt ab 1.7.2016 monatlich 30,45  Euro West und 28,66 Euro Ost. Er ist so festgelegt, dass ein Arbeitnehmer, der über 45 Jahre genau das Durchschnittsentgelt verdient und damit 45 Rentenpunkte angesammelt hat, derzeit ein Bruttorentenniveau von 48  Prozent dieses durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts erzielt, d. h. pro Monat 1.370  Euro West bzw. 1.289,70  Euro Ost. Das Nettorentenniveau ergibt sich nach Abzug der Kranken- und der Pflegeversicherungsbeiträge der Rentner sowie nach Abzug der Einkommensteuer auf die Renten. Die Rente schreibt sich Jahr für Jahr nach der allgemeinen Lohn- und Gehaltsentwicklung der Beschäftigten AR fort. Jeder Rentner soll an der Steigerung des allgemeinen Lebensstandards in Deutschland teilhaben. Diese drückt sich im Quotienten BEt-1/BEt-2, d. h. der Steigerung der Lohnsumme, je Arbeitnehmer mal ARt-1 in den ersten beiden Termen der rechten Seite der untenstehenden Gleichung (18.8) aus. Soweit das Konzept von 1957. Doch weil die Politiker nicht über das Geld verfügen, um diese Renten bei abnehmender Beschäftigten- und zunehmender Rentnerzahl zu bezahlen, müssen die erwähnten Korrekturfaktoren angehängt werden. Der zweite Bruch der Gleichung (18.8) spiegelt die Rentenreform 2001 wider, der Klammerausdruck die Rentenreform 2004. Die folgende Rentenformel befindet sich in § 68 des Sozialgesetzbuchs VI: (18.8) AR t = AR t −1 ×

BEt −1 100 − AVA 2010 − RVB t −1 × BEt − 2 100 − AVA 2010 − RVB t − 2

  RQ t −1  × 1 −  × α + 1   RQ t − 2   

Dabei sind: ARt ARt–1 BEt–1 BEt–2

AVA2010 RVBt–1

14

= zu bestimmender aktueller Rentenwert ab dem 1. Juli, = bisheriger aktueller Rentenwert, = Bruttolohn- und -gehaltssumme je durchschnittlich beschäftigten Arbeitnehmer im vergangenen Kalenderjahr, = Bruttolohn- und -gehaltssumme je durchschnittlich beschäftigten Arbeitnehmer im vorvergangenen Kalenderjahr unter Berücksichtigung der Veränderung der beitragspflichtigen Bruttolohn- und -gehaltssumme je durchschnittlich beschäftigten Arbeitnehmer ohne Beamte einschließlich der Bezieher von Arbeitslosengeld, = Altersvorsorgeanteil für das Jahr 2010 in Höhe von 4 vom Hundert („Riesterfaktor“). = durchschnittlicher Beitragssatz in der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten im vergangenen Kalenderjahr,

Ohne Berücksichtigung von Sonderfaktoren wie beitragsfreie Zeiten, Ersatzzeiten, Zurechnungszeiten, Rentenbeginn, Rentenart usw.

E. Wieviel Rente steht einem Rentner zu? RVBt–2 RQt–1 RQt–2

= durchschnittlicher Beitragssatz in der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten im vorvergangenen Kalenderjahr. = Rentnerquotient im vergangenen Kalenderjahr, = Rentnerquotient im vorvergangenen Kalenderjahr.15

Hier noch einige Details: Mit AVA2010 soll (wie schon in der Rentenreform 2001) zum Ausdruck gebracht werden, dass die Beitragszahler der GRV nach der „Riester-Rente“ (wenn auch nicht immer faktisch, so doch kalkulatorisch) sparen und Kapital bilden (sollen), damit sie im Alter (auch bei abgesenktem Rentenniveau) keine Einbuße in ihrem Lebensstandard erleiden. Diese Soll-Sparquote soll von Jahr zu Jahr angehoben werden, bis sie im Jahr 2010 die Höhe von 4 % erreicht. Diese „Beitragslast“ der Erwerbstätigen soll sich bei den Rentnern in geringeren Rentenzuwächsen niederschlagen. Ebenso sollen Steigerungen der Beitragssätze zur Rentenversicherung RVB nicht zu Rentensteigerungen führen. In der Rentenreform 2004 neu dazugekommen ist der Nachhaltigkeitsfaktor (in der Klammer). Wenn die Rentnerzahl im Vergleich zur Erwerbstätigenzahl zunimmt, so soll sich dies dämpfend auf Renten auswirken. Diese Zielsetzung lässt sich in der Veränderung des Rentnerquotienten RQt–1/RQt–2 ausdrücken. Dieser Quotient wird im Sozialgesetzbuch nicht wie in (18.4) in Menschen definiert, sondern in Zahlungen (18.10), nämlich als Quotient der Anzahl der Äquivalenzrentner durch die Anzahl der Äquivalenzbeitragszahler. Die Ermittlung dieser Äquivalenzziffern ist in der Gesetzesdefinition etwas kompliziert.16 Es lässt sich vereinfacht als Quotient schreiben:

(18.9)

Rentenzahlungen/durchschnittlicher Rentensatz gesetzlicher = Rentnerquotient Beitragszahlungen/durchschnittlicher Lohnsatz

Der Parameter α in Gleichung (18.8) beträgt 0,25. Er ist in einem Simulationsmodell so festgelegt, dass der Beitragssatz bis 2020 nicht über 20 Prozent und bis 2030 nicht über 22 Prozent steigen kann. Der Faktor α verdeutlicht, dass die Illusion einer leistungsbezogenen Rente heute faktisch der Realität einer beitragsbezogenen Rente i. o. S. gewichen ist. Freilich sollen gewisse Schwellenwerte der Rente nicht unterschritten werden, z. B. absolute Rentensenkungen vermieden werden. Zu solchen wäre es durch die kombinierte Anwendung der vorgesehenen Veränderung des Riester-Faktors AVA und des Nachhaltigkeitsfaktors gekommen. Daher beschloss der Bundestag den Riesterfaktor für 2008 und 2009 auszusetzen und auf 2012 und 2013 zu verschieben. Durch den temporären Wegfall dieses Bremsfaktors wurde im Jahr 2008 und im Jahr 2009 je eine Rentenerhöhung um 1,1 Prozent und nicht nur 0,46 Prozent nach der geltenden Formel möglich. Im Jahr 2009 erfolgte dann ein weiterer Beschluss, dass Rentenkürzungen aufgrund sinkender Löhne auf alle Zeit ausgeschlossen werden, aber später durch geringere Rentenerhöhungen oder größere Rentensenkungen nachgeholt werden. Kritisch wird die Finanzierung der Rentenversicherung, wenn um das Jahr 2030 herum die Babyboom-Jahrgänge von 1960 nicht mehr arbeiten, weniger Steuern bezahlen und erheblich Renten und Beamtenpensionen beziehen. Rentenkürzungen scheinen dann trotz grundgesetzlicher Bedenken fast unausweichlich.

15

16

Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz) vom 21. Juli 2004 (BGBl. I S. 1791), geändert durch Gesetz zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und damit zusammenhängender Steuerhinterziehung vom 23. Juli 2004 (BGBl. I S. 1842). „Die Anzahl der Äquivalenzrentner wird ermittelt, indem das … Gesamtvolumen der Renten … durch eine Regelaltersrente … mit 45 Entgeltpunkten dividiert wird. Die Anzahl der Äquivalenzbeitragszahler wird ermittelt, indem das … Gesamtvolumen der Beiträge … durch den auf das Durchschnittsentgelt … entfallenden Beitrag … dividiert wird.“ (§ 68 Abs. 4 SGB VI).

299

300

18. Kapitel: Alterssicherung

2. Wie soll der Finanzierungsengpass überwunden werden? Abbildung 18.5 enthält die verschiedenen Faktoren, mit denen eine überbordende Rentenentwicklung in Deutschland abgebremst werden soll. Ohne Gegenmaßnahmen würden die Beitragsätze auf der obersten Kurve von Abbildung  18.5 verlaufen. Riesterrente, Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre und Nachhaltigkeitsfaktor dämpfen diesen Anstieg, so dass für 2030 mit einem Beitragssatz von etwa 23 % gerechnet werden müsste. Mittlerweile sind aber Mütterrente und Rente mit 63 dazugekommen, so dass die Bundesregierung diese Werte für die Jahre nach 2040 zurückgenommen hat. Der Gesamtsatz der Sozialversicherung droht auf über 50 % zu steigen, wovon etwa zwei Drittel der Rentenversicherung zuzurechnen ist. Modellrechungen und Appelle zur Zurückhaltung bringen wenig, solange kein politischer Zwang zur Rentenbegrenzung besteht. Public-Choice-Ökonomen fragen daher: Gibt es modellendogene Schranken, die das Wachstum der Renten (aus sich heraus) zum Stillstand bringen? Beitragssatz in Prozent nach Rentenreform 1992 30

Effekt der Riesterrente und Rentenreform 2000 Effekt der Verlängerung der Lebensarbeitszeit und des Nachhaltigkeitsfaktors

27,5 25 22,5 20 2000

2010

2020

2030

2040

Kalenderjahr

Abbildung 18.5: Auswirkungen von Reformmaßnahmen auf die Beitragsätze der gesetzlichen Rentenversicherung Quelle: nach Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft (1998), MEA (2003)

F. Eine politische Ökonomie der Rentenreform Rentenerhöhungen sind derzeit noch immer sehr populär und stimmenmaximierend. Im „Südwestquadranten“ C von Abbildung 18.6 steigt die Wählerzustimmung mit weiteren Rentenerhöhungen unentwegt an, zumal der Rentneranteil an der Bevölkerung zunimmt. Gleichzeitig steigen aber die Kosten im zweiten Quadranten B. Dabei verläuft der Beitragssatz der Rentenversicherung im ersten Quadranten A entlang der dortigen Lafferkurve. Die Rentenbeiträge

G. Rentenbesteuerung nähern sich dem Beitragsmaximum τ, an dem bei weitere Beitragssteigerungen nicht mehr durchsetzbar sind, ohne große Abwanderungen in den Schattenarbeitsmarkt hinzunehmen. Der Bundesfinanzminister muss weitere Mittel für die Aufrechterhaltung und Steigerung des Rentenhaushalts aus anderen Ressorts (z. B. aus dem Straßenbau) abzweigen oder er muss die Steuern erhöhen. Dies wiederum erzeugt hohe Opportunitätskosten und sozialen Unmut und setzt weiteren Rentenerhöhungen eine endogene Grenze. Im Endeffekt sind es weniger Modellrechnungen, die Schreckenskulissen der Rentenzukunft aufzeigen und dadurch die Politik verändern, sondern es ist der politische Prozess, der seine eigene Rentenreform durchsetzt.

Staatsausgaben pro Kopf

A

Staatseinnahmen pro Kopf

Realausgaben und Rentenausgaben

B

M

Realausgaben

Rentnerquotient in %

0

τ max

Z

Ausgabenbelastung τ

50 % C

Zustimmung Z zum Umlageverfahren in %

Abbildung 18.6: Rentenreform an der Grenze der Zahlungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung

G. Rentenbesteuerung Renten werden aus den Verdiensten der Versicherten angespart und später für den Konsum verwendet.17 Nach dem so genannten Prinzip der Einmalbesteuerung soll ein einmal erzieltes Einkommen nur einmal besteuert werden. Somit ergibt sich nach Tabelle 18.1 die Möglichkeit der vorgelagerten Besteuerung bei der Einkommenserzielung oder der nachgelagerten Besteuerung bei der Einkommensverwendung. Faktisch wird dieses Prinzip, wie Tabelle 18.1 zeigt, nur teilweise eingehalten.

17

Vgl. hierzu A. Börsch-Supan (2000).

301

302

18. Kapitel: Alterssicherung In dem bis 2004 gültigen deutschen Steuerrecht waren Beitragsleistungen von der Einkommensteuer weitgehend (bis zu etwa 85 %) ausgenommen18 und bei der Auszahlung fand eine Besteuerung (der so genannten Ertragsanteile) in vielen Fällen gar nicht statt. Sie fielen in die Freibeträge. Demgegenüber wurden Beamtenpensionen (6) strikt nachgelagert besteuert. Dasselbe gilt für die private Altersvorsorge, die so genannte Riester-Rente (7). Die nachgelagerte Besteuerung hat einen für die Besteuerten günstigen Effekt. Denn das Einkommen ist im Rentenalter in der Regel niedriger als im Aktiven-Alter. Daher schlägt die Einkommensteuerprogression weniger zu; die Steuerschuld vermindert sich im Vergleich zur vorgelagerten Besteuerung. Tabelle 18.1: Formen der Altersrentenbesteuerung Beitragsphase

Aufbauphase (Zinsen)

Auszahlungsphase

Einkommensteuertyp

(1) S (2) F

S S

F S

Konsumsteuertyp

(3) S (4) F

F F

F S

(5) F a

F

(S) F

(6) F (7) F

F F

S S

(8) F

F

S

Deutsches Steuerrecht bis 2004 – gesetzliche Rentenversiche­ rung – Beamtenpensionen – kapitalgedeckte Altersvor­ sorge – „Riester­Rente“

Vgl. Konsum- und Einkommensbesteuerung im 15. Kapitel a bei Arbeitnehmern zu etwa 85 % F = steuerbefreit S = besteuert

Mit dem Übergang zur nachgelagerten Besteuerung und der damit erfolgten Gleichstellung von Renten und Pensionen ist eine vom Bundesverfassungsgericht beanstandete Ungleichbehandlung beseitigt worden.19 Doch eine andere manifestiert sich umso deutlicher: Wer für sein Alter vorsorgt, indem er Obligationen kauft, bezahlt jährlich Abgeltungsteuer. Wer stattdessen über Anwartschaften auf gesetzliche Renten oder Pensionen spart, wird nachgelagert nach dem Konsumsteuerprinzip besteuert. Er spart sich die Steuern in der Aufbauphase und wird damit ungleich behandelt. Es stellt sich die Frage, ob es nicht besser wäre, alle Zinsen von der Besteuerung auszunehmen und allgemein zum Konsumsteuerprinzip überzugehen.

18

19

Völlige Steuerbefreiung herrscht beim Arbeitgeberanteil. Die Arbeitnehmer können ihren Beitragsanteil zur gesetzlichen Rentenversicherung zum Teil als Sonderausgaben absetzen. Der steuerbefreite Teil liegt Schätzungen zufolge insgesamt bei den erwähnten 85 Prozent. BGBl. I 2004 Nr. 33 vom 9. 7. 2004.

H. Schlussfolgerungen

H. Schlussfolgerungen Die gesetzliche Rentenversicherung ist ein tragendes Element der sozialen Sicherung in Deutschland. Sie steht jedoch vor einer bedrohlichen Kostenexplosion. Rentenreformen stellen den Versuch dar, die kritische Lage durch Rentenkürzungen bewältigen. Doch weshalb sollten Politiker auf Kürzungsvorschläge eingehen, solange Rentenerhöhungen durch Umschichtungen im Bundeshaushalt finanzierbar sind? Demnach werden Rentenkürzungen erst möglich, wenn die Opportunitätskosten ihrer Finanzierung durch Umschichtung aus anderen Ressorts des Haushaltes einen politisch gefährdenden öffentlichen Widerstand hervorrufen.

Wichtige Begriffe des 18. Kapitels Gesetzliche Rentenversicherung Umlageverfahren Kapitaldeckungsverfahren Kriterium von Aaron Eigentumsrechte der Beitragszahler Teilhabeäquivalenz Aushöhlung des Umlageverfahrens Intergenerationelle versus intragenerationelle Umverteilung Rentnerquotient Rentenreform 2000 Standardrente Entgeltpunkte Allgemeiner Rentenwert Vor- versus nachgelagerte Besteuerung der Altersvorsorge

Literatur zum 18. Kapitel H. Aaron, The Social Insurance Paradox, in: Canadian Journal of Economics and Political Science, Vol. 32, No. 3, 1966, S. 371–374. R. J. Barro, On the Determination of Public Debt, in: Journal of Political Economy, Vol. 82, Nov./Dec. 1974, S. 1095–1117. H. Birg, Demographisches Wissen und politische Verantwortung, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Nr. 3, 1998, S. 238 ff. H. Birg und A. Borsch-Supan, Für eine neue Aufgabenteilung zwischen gesetzlicher und privater Altersversorgung. Eine demographische und ökonomische Analyse, Gutachten für den Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft, Berlin, November 1999. T. Boeri, A. Börsch-Supan und G. Tabellini, Der Sozialstaat in Europa. Die Reformbereitschaft der Bürger. Eine Umfrage in vier Ländern, Köln (Deutsches Institut für Altersvorsorge) 2000. A. Börsch-Supan, Was lehrt uns die Empirie in Sachen Rentenreform? In: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Bd. 1, H. 4, 2000, S. 431–451. A. Börsch-Supan und M. Lührmann, Prinzipien der Renten- und Pensionsbesteuerung, Bad Homburg (Frankfurter Institut) 2000.

303

304

18. Kapitel: Alterssicherung A. Börsch-Supan und C. B. Wilke, Szenarien zur mittel- und langfristigen Entwicklung der Anzahl der Erwerbspersonen und der Erwerbstätigen in Deutschland, MEA, Mannheim, 2003. Fr. Breyer, Ökonomische Theorie der Alterssicherung, München (Vahlen) 1990. Fr. Breyer, The political economy of intergenerational redistribution, in: European Journal of Political Economy, Vol. 10, 1994, S. 61–84. Fr. Breyer, Kapitaldeckungs- versus Umlageverfahren, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Bd. 1, Heft 4, 2000, S. 383–405 (2000 a). E. K. Browning, Why the Social Insurance Budget Is Too Large in a Democracy, Economic Inquiry, Vol. 13, No. 3, 1975, S. 373–388. Bundesministerium für Gesundheit und Soziales Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme – Bericht der Kommission 2003. E. Engelberg, Bismarck. Das Reich in der Mitte Europas, Berlin (Siedler) 1990. M. S. Feldstein, Social Security, Induced Retirement, and Aggregate Capital Accumulation, in: Journal of Political Economy, Vol. 82, Sept. /Oct. 1974, S. 905–926. M. S. Feldstein, Social Security and Private Savings: International Evidence in an Extended Life-Cycle Model, in: M. S. Feldstein, Hrsg., The Economics of Public Services, London 1977. R. F. Fenge, Pareto-efficiency of the Pay-as-you-go Pension System with Intergenerational Fairness, in: Finanzarchiv, N. F. Bd. 52, 1995, S. 357–363. St. Homburg, Theorie der Alterssicherung, Berlin u. a. (Springer) 1988. St. Homburg, Interest and Growth in an Economy with Land, in: Canadian Journal of Economics, Vol. 24, 1991, S. 450–459. St. Homburg, Compulsory savings in the welfare state, in: Journal of Public Economics, Vol. 77, Nr. 2 , August 2000, S. 233–239. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 4, Stuttgart (Kohlhammer) 1969. G. Mackenroth, Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. Bd. 4, Berlin (Duncker und Humblot) 1952. Mea, Mannheim Research Institute for the Economics of Aging, Die Vorschläge der „RürupKommission“ zur Rentenreform, in: Newsletter, No. 6, 06, 2003, S. 1–4. L. v. Mises, Kritik des Interventionismus, Untersuchungen zur Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsideologie der Gegenwart 1929 (Reprint) Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1976. J. B. Nugent, The Old-Age Security Motive for Fertility, in: Population and Development Review, Vol. 11, 1985, S. 75–97. O. von Nell-Breuning, Vom Flickwerk zur Reform, in: Wirtschaftswoche, 32. Jg., Nr. 30, 1978, S. 68–75. K. Niemietz, Die kapitalgedeckte Altersvorsorge am Beispiel von Chile. Ergebnisse, Auswirkungen, Lehren, Verbesserungsmöglichkeiten, Diplomarbeit (Humboldt-Universität zu Berlin) 2007. N. Potrafke, Intergenerationelle Umverteilung in der gesetzlichen Rentenversicherung – Darstellung und Diskussion theoretischer Erklärungsansätze, Diplomarbeit (Humboldt-Universität zu Berlin) unveröffentlicht. P. A. Samuelson, An Exact Consumption Loan Model of Interest with and without the Social Contrivance of Money, in: Journal of Political Economy, Vol. 66, 1958, S. 467–482. W. Schmähl, Rentenversicherung, in: Staatslexikon, Bd. 4, Freiburg (Herder) 1995, S. 859– 875. W. Schmähl, Perspektiven der Alterssicherungspolitik in Deutschland – Über Konzeptionen, Vorschläge und einen angestrebten Paradigmenwechsel, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Bd. 1, Nr. 4, 2000, S. 407–430. H. W. Sinn, Why a Funded Pension System is Useful and Why It is Not, in: International Tax and Public Finance, Vol. 7, 2000, S. 389–410. H.  W. Sinn und M. Werding, Rentenniveausenkung und Teilkapitaldeckung, in: IfoSchnelldienst, 53. Jg., Heft 18, 2000, S. 12–25. H. W. Sinn, The Value of Children and Immigrants in a Pay-as-you-go Pension System: A Proposal for a Transition to a Funded System, in: Ifo Studien, Vol. 47, No. 1, 2001, S. 77–94.

H. Schlussfolgerungen H. W. Sinn und S. Übelmesser, Pensions and The Path to Gerontocracy in Germany, in: European Journal of Political Economy, Vol. 19, 2002, S. 153–158. M. Thum und J. von Weizsäcker, Implizite Einkommensteuer als Meßlatte für die aktuellen Rentenreformvorschläge, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Bd. 1, H. 4, S. 453–468. J. von Weizsäcker, Alle Macht den Rentnern? In: W. Homolka u. a., Generationengerechtigkeit, Leitbild für das 21. Jahrhundert, Frankfurt (Alfred Herrhausen Gesellschaft) 2000, S. 39–47. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, Bonn (BMWi Dokumentation) 1998. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft, Alterung und Familienpolitik, Berlin, (BMWi Dokumentation 548) 2005.

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„Alle Menschen müssen sterben“, meinte einst Nicolas Boileau, Dichter am Hofe Ludwigs XIV. Als der Sonnenkönig ihn darauf scharf ansah, korrigierte sich Boileau sofort: „Fast alle Menschen, Sire, fast alle!“

19. Kapitel Gesundheit und Krankenversicherung A. Gesundheit, ein fast ganz normales Gut Mit dem Thema der „Rente“ (des vorangegangenen Kapitels) ist es möglich, die Stimmen großer Wählergruppen zu mobilisieren. Daher ist die Rente von Anfang an ein politisches Gut. Das Thema Gesundheit ist für politische Unternehmer zunächst weniger geeignet. Zwar sind viele Menschen krank, aber Kranke sind heterogen. Jeder von ihnen hat eine etwas andere Krankheit. Kranke lassen sich daher schwer zu homogenen Interessengruppen zusammenfassen. Aber es gibt es politisch mächtige Organisationen der Gesundheitsindustrie, die Ärzte- und Krankenhausorganisationen und ihre Zulieferer, die die Nachfrage bündeln und als Sachwalter der Kranken auftreten. Menschen möchten Krankheiten überwinden und ihren unvermeidlichen Tod zeitlich hinausschieben. Hierzu müssen sie vier Probleme bewältigen: Risiko, angebotsinduzierte Nachfrage nach Gesundheitsleitungen, Armut und Krankheit sowie Trittbrettfahren.1

1. Die vier Probleme im Überblick 2 (1) Das Risikoproblem: Krankheiten treten im Leben eines Menschen oft unvor-

hergesehen auf. Sie erfordern dann Mittel, die weit über sein Budget eines Individuums hinausgehen. Auf sich selbst gestellt kann der Einzelne solche Lebenslagen nicht bewältigen. 1

2

Eigenschaften eines öffentlichen Gutes hat Gesundheit im Fall von Epidemien, in denen die Individuen sich gegenseitig anstecken. Epidemien treten zwar gelegentlich auf und werden dann durch staatliche Aktionen, z. B. Impfprogramme, bisher rasch bewältigt. Im Vergleich zum privaten Gut Gesundheit ist das öffentliche Gut Gesundheit in Europa jedoch nicht von primärer Bedeutung und wird daher in diesem Buch nicht behandelt. Teile dieses Kapitels beruhen auf F. Breyer, P. Zweifel und M. Kifmann (2005).

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19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung (2) Das Problem der angebotsinduzierten Nachfrage: Der Einzelne ist zwar

Nachfrager nach Gesundheit, aber die Entscheidungen über die erforderliche Therapie treffen die Ärzte sowie andere Akteure des Gesundheitswesens. Anbieter des Gesundheitswesens werden zu Nachfragern nach Therapien. Es findet eine Umkehr von Angebot und Nachfrage statt. Was ist von dieser Umkehr bzw. Verschiebung der Angebots-Nachfragebeziehung zu halten? Ist das Ergebnis verlässlich? (3) Das Problem von Armut und Krankheit: Bei nicht wenigen Menschen sind Armut und Krankheit miteinander verknüpft. Doch hierin sind sich alle Menschen einig: Arme Mitmenschen sollen nicht der Gesundheitsleistungen entbehren und verfrüht sterben, nur weil ihnen die Mittel zur Therapie fehlen. Ihnen muss also geholfen werden. (4) Das Trittbrettfahrerproblem: Umgekehrt kann es Menschen geben, die sich freiwillig in die Bedürftigkeit abgleiten lassen, weil sie dann erwarten, vom sozialen Netz aufgefangen zu werden. Sie könnten sich selbst helfen, lassen es aber darauf ankommen, dass ihnen jemand hilft. Sie nehmen eine Versicherung in Anspruch, ohne Beiträge zu entrichten. Dadurch erzeugen sie negative externe Effekte. Zur Lösung dieser Probleme stehen zwei Wege zur Verfügung: Markt und Staat. Weil der Markt in der Regel auf Freiwilligkeit beruht und der Staat auf Zwang, ist im Folgenden erst zu untersuchen, was der Markt leistet und dann zu fragen, wo der Staat nachhelfen muss.

2. Die vier Probleme des Marktes für Gesundheit mehr im Detail betrachtet (1) Das Risikoproblem

Das Problem hoher unvorhergesehener Kosten ist für den Einzelnen schwer zu bewältigen. Doch hohe Kosten fallen in der Regel nicht permanent, sondern zufällig an. Daher stellt sich die Frage, wie der Einzelne das Problem zufällig anfallender hoher Kosten lösen kann. Versicherungen bieten sich als Vermittler an: Der Einzelne entrichtet (zusammen mit der Versichertengesamtheit) zeitkonstante „Beiträge“ oder „Prämien“, die Versicherung übernimmt die zeitvariabel anfallenden Ausgaben des Einzelnen. Drei Modelle sind zu unterscheiden. a. Gleiche Individuen, mehrere Versicherer: Wenn alle Menschen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Jahres krank werden und dann auch die gleich schwere Krankheit erleiden, so kann ein privater wettbewerblicher Krankenversicherer die Kosten des Einzelnen übernehmen. Die Individuen bezahlen Beiträge an eine Versicherung und erhalten dafür individuelle Leistungen. b. Ungleiche Individuen, eine Versicherung: Wie steht es aber, wenn die Population der Versicherten aus unterschiedlichen, teils mehr, teils weniger krankheitsanfälligen Menschen besteht? Hier entstehen die ersten Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Marktes. Angenommen, es gibt nur einen einzigen Versicherungsvertrag. Die Nachfrager kommen an den Schalter der Krankenversicherung.

A. Gesundheit, ein fast ganz normales Gut Doch diese kann nicht erkennen, welche Nachfrager gute und welche schlechte Risiken darstellen. Sie setzt einen Einheitspreis, der die schlechten, aber nicht die guten Risiken veranlasst, einen Versicherungsvertrag abzuschließen. Ein solcher Markt kann nicht Bestand haben. Das Versicherungsunternehmen erleidet aus der Selbstselektion Verluste. Nur die schlechten Risiken werden sich noch versichern. Daher wird das Versicherungsunternehmen die Beiträge anheben. Dies aber führt zum schrittweisen Rückzug der guten Risiken. Diese werden sich selbst versichern oder auf Versicherung verzichten. Die schlechten Risiken bleiben beim Versicherungsunternehmen zurück. und verursachen dort hohe Kosten. In der Folge muss das Versicherungsunternehmen die Beiträge weiter anheben, was dann die noch verbliebenen guten Risiken zum Abwandern bewegt usw. Am Ende versiegt das Angebot, der Versicherungsmarkt ist ausgetrocknet.3 c. Ungleiche Individuen, zwei Versicherungsverträge: Die Autoren M. Rothschild und J. E. Stiglitz (1976) sowie C. Wilson (1976) sind der Frage nachgegangen, ob das Marktversagen verschwindet, wenn statt eines einzigen Versicherungsvertrags zwei Verträge, einer mit hoher Deckung für die schlechten Risiken und einer mit geringer Deckung für die guten Risiken, angeboten werden, genauer: ob sich die Versicherten selbst in den ihnen zugedachten Markt gruppieren, sich also selbst selektionieren. Leider ist die nicht zu erwarten. Dies lässt sich an folgendem Modell veranschaulichen: Die in Abbildung 19.1 betrachtete Population bestehe aus zwei Risikogruppen. Risikogruppe A sei durch eine niedrige, Risikogruppe B durch eine hohe Erkrankungswahrscheinlichkeit gekennzeichnet. In gesundem Zustand (g) geht es beiden Risikogruppen gleich gut, sie erzielen das Einkommen yAg = yBg. Bei Krankheit (k) verringert sich ihr Einkommen um die Krankheitskosten L. Idealerweise versichern sich die Individuen so, dass sie (jedes für sich) bei Gesundheit wie bei Krankheit das gleiche, auf der 45° Linie liegende verfügbare Einkommen erzielen. Nur ist der hierfür erforderliche Beitrag für Mitglieder der A-Gruppe niedriger als für Mitglieder der B-Gruppe. Effizient ist nicht ein vereinendes Gleichgewicht bei S, sondern ein trennendes Gleichgewicht bei T für die A-Gruppe und bei Q für die B-Gruppe. Allerdings haben dann die Angehörigen der B-Gruppe einen Anreiz, sich zu den günstigeren Beiträgen unter die A-Gruppe zu mischen. Um dies zu verhindern, müssen die Angehörigen der A-Gruppe ihre Deckung vermindern, bis sie bei E einen Punkt mit einer Deckung erreicht haben, die für die Angehörigen der B-Gruppe nicht mehr attraktiv ist. Dies bringt den A-Angehörigen eine geringere Versicherung und einen geringeren Wohlstand als bei T, was durch die Indifferenzkurven i(A1), i(A2) für die Gruppe A bzw. i(B1) für die Gruppe B gekennzeichnet ist. Es liegt also ein Marktversagen vor. Allen drei Modellen liegt die kritische Annahme zugrunde, dass das Versicherungsunternehmen die Versicherten nicht identifizieren kann. Die Versicherten treten alle anonym an den Schalter und sagen, sie möchten eine Versicherung gegen Krankheit kaufen. Diese Anonymität ist typisch für das Marktsystem, 3

Vgl. das Beispiel im 1. Kapitel.

309

310

19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung Verfügbares Einkommen der Individuen A, B bei Krankheit

45 yg = yk

i(A1) i(A2)

yAk = yBk

T

i(B1) S Q

E

y – Krankheitskosten L

Verfügbares Einkommen der Individuen A, B bei Gesundheit

y

yAg = yBg

g = gesund; k = krank; i(A1) etc. = Indifferenzkurven

Abbildung 19.1: Marktversagen im Versicherungsmarkt Quelle: nach F. Breyer, P. Zweifel, M. Kifmann (2005)

und im Normalfall von Angebot und Nachfrage von Gütern auch genau richtig. Niemand muss sich identifizieren. Auch eine Krankenversicherung wäre so denkbar: Der Käufer besorgt sich am Schalter einen Versicherungsschein, der für x Tage eine Versicherung gegen Krankheit beinhaltet, den er im Schadensfall vorlegt und für den er die angefallenen Kosten erstattet erhält. Doch hier kommt es zu Problemen. Die Anonymität erlaubt es den schlechten Risiken, sich unter die guten zu mischen. Im Modell wird das verhindert, indem das gute Risiko seine Deckung bei E soweit vermindert, dass sie für das schlechte Risiko nicht mehr attraktiv ist. Es liegt ein Marktversagen vor. Ein Staatseingriff scheint unumgänglich. Nur ist dieser anonyme Markt bei Versicherungen nicht typisch. In der Regel wird das Versicherungsunternehmen Akten über die wahren Risiken der Versicherten anlegen. Dadurch kann das Versicherungsunternehmen das Eindringen schlechter Risiken identifizieren und Freifahren verhindern. Ein Ausweg wird weiter unten in Abschnitt B erörtert. (2) Das Problem der angebotsinduzierten Nachfrage

Ein Patient liegt bewusstlos im Krankenhaus, wie kann er rational über die von ihm gewünschte Therapie entscheiden und diese dem Arzt gegenüber ausdrücken? Offenbar muss ein Dritter für ihn entscheiden. Daraus entsteht ein Prinzipal-Agent-Problem oder, wie manche sagen, auch ein AuftraggeberSachwalter-Problem. Aber auch wenn der Patient bei Sinnen ist, ist eine rationale

A. Gesundheit, ein fast ganz normales Gut Nachfragerentscheidung oft schwierig. Die Leistung, die der Patient nachfragt, ist weder ein Inspektionsgut, dessen Qualität durch betrachten erkenntlich wäre, noch ein Erfahrungsgut, dessen Qualität sich nach wiederholtem Konsum herausstellt und dessen Erfahrungswissen durch den Wettbewerb zu Qualitätsverbesserung führt. Die Leistung ist ein Vertrauensgut, dessen Qualität auch nach dem Konsum für den Patienten nicht leicht erkennbar ist und daher nicht verlässlich dafür sorgt, dass die guten Leistungen im Markt verbleiben und die schlechten eliminiert werden. Man kann dies auch so sehen: Die Leistung entsteht aus dem Zusammenwirken von Arzt und Patient. Der Patient muss die vorgeschriebene Therapie befolgen. Aber auch wenn er diese befolgt und gesund wird, ist oft nicht klar, ob er vielleicht auch ohne die Behandlung durch den Arzt aus seinen Selbstheilungskräften wieder gesund geworden wäre. Wie viel der Leistung also dem Arzt und wie viel dem Patienten zuzuschreiben ist, ist nicht ohne Weiteres klar. Wie also kann der Patient rational entscheiden? Oft ist der Arzt sein Sachwalter. Es wird vom „Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient“ gesprochen. Das ist nicht unrichtig; denn wie könnte ohne ein enges Vertrauensverhältnis die Leistung überhaupt zustande kommen? Aber Vertrauen ist nicht das einzige Element, das den Markt erklärt. Ein Arzt mag beispielsweise unterschiedlich entscheiden, je nachdem, ob sein Wartezimmer voll oder leer ist. Im letzteren Fall ist er möglicherweise geneigt, den Patienten noch einmal zur Kontrolle kommen zu lassen. „Zur Sicherheit des Patienten“, sagt der Arzt, „aber auch zur Verbesserung seines Einkommens“, lässt sich hinzufügen. Aber es kann auch viel bedenklicher sein. Die Therapie kann nutzlos oder gar nachteilig sein, was sich bei einem Vertrauensgut möglicherweise gar nicht herausstellt. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist also nicht immer ein Garant für Qualität. Es bleibt das Problem, dass der Arzt als Anbieter über die Nachfrage des Patienten entscheidet. In der Fachsprache ausgedrückt: Es bleibt das Problem der „angebotsinduzierten Nachfrage“. (3) Armut und Krankheit

Auch arme Menschen haben ein Recht auf ärztliche Versorgung. Das ist unumstritten. Armen Menschen zu helfen, ist ein wesentliches Ziel unserer Gesellschaft. Auch hier leistet der Markt Wesentliches. Auf dem Markt werden neue Medikamente entwickelt. Diese sind zunächst teuer und helfen so den Reichen. Sie könnten aber auch den Armen helfen. Der Staat muss allerdings dafür sorgen, dass sich die armen Menschen die teuren Medikamente kaufen können. In diesem Bereich ist also der Staat gefordert. Er muss Hilfsbedürftige von Nicht-Hilfsbedürftigen abgrenzen. Das folgende Vierfelder-Schema verdeutlicht, was zu tun ist. Gesund

Krank

Arm

1. Kein Staatseingriff

3. Staatseingriff

Reich

2. Kein Staatseingriff

4. Kein Staatseingriff

Abbildung 19.2: Ein Staatseingriff soll den Armen helfen

311

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19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung Nur Menschen im Feld 3, die arm und krank sind, bedürfen der staatlichen Hilfe. Dort befinden sich beispielsweise minderbemittelte Chronischkranke. Auch sie sollen mit den notwendigen Medikamenten versorgt werden, die ihnen ein erträgliches Leben ermöglichen. Deren Kosten müssen auf andere Mitglieder der Gesellschaft umgelegt werden. Sollen solche Wohlstandsprobleme gelöst werden, so sind Staat und Zwang unvermeidlich. Für die Probleme in den Feldern 1, 2 und 4 ist dies nicht einsichtig. Dies zu erwähnen ist deswegen nicht überflüssig, weil das Feld arm/krank häufig zum Anlass genommen wird, die ganze Bevölkerung in ein staatliches Zwangssystem einzubinden. Doch das ist nicht notwendig. (4) Das Trittbrettfahrerproblem

Insbesondere bedürfen die armen Gesunden der staatlichen Fürsorge nicht. Sie haben keine Kosten zu tragen und sind soweit glücklich. Allerdings sind sie möglicherweise unvorsichtig, werden krank, können dann ihre Therapie nicht bezahlen und lassen sich dann in das soziale Netz, das Menschen in Not auffängt, fallen. Hier liegt ein Markversagen vor. Aber der Staat muss diese Menschen nicht pflegen. Er muss nur dafür sorgen, dass sie sich rechtzeitig versichern. Eine Pflichtversicherung genügt. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Nicht bei jedem der vier Probleme von Abbildung 19.2 ist das Marktversagen gleich schwerwiegend. Folglich braucht es zur Organisation des Gesundheitswesens nicht durchwegs gleich viel Staat. Es ist zu differenzieren.

In Abschnitt B wird erörtert, wie das Risikoproblem als Teil des Marktmechanismus zu betrachten ist und sich zu einer Krankenversicherung zu risikoorientierten Preisen entwickeln lässt. Wenn dies gelöst ist, dann lassen sich die drei anderen Probleme – angebotsinduzierte Nachfrage, Armut und Trittbrettfahrer – relativ leicht in diesen Ansatz einbauen. Im ganzen Kapitel stellt die Krankenversicherung zu risikoorientierten Prämien das Referenzmodell dar. Die beiden in der Politik diskutierten Konkurrenzmodelle der Krankenversicherung zu Festprämien (wie in der Schweiz) und zu arbeitseinkommensabhängigen Prämien (wie in Deutschland) stellen weniger weit gehende bzw. weitergehende Abweichungen vom Referenzmodell dar. Sie werden in den Abschnitten C und D behandelt. So ist auch die Logik dieses Kapitels verständlich. Andere Lehrbücher gehen umgekehrt vor. Sie beginnen mit arbeitseinkommensabhängigen Beiträgen der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung und verweisen am Schluss auf risikoabhängige Prämien als ferne Option. Doch damit wird das Risiko als zentrales Problem einer Versicherung verdrängt, bevor es angesprochen wird.

B. Gesundheitsversorgung durch Versicherung zu risiko-orientierten Beiträgen Als Erstes stehen in diesem Abschnitt die risikoorientierten Beiträge auf dem Prüfstand, in die nachfolgend die drei anderen Grundprobleme – angebotsinduzierte Nachfrage, Armut und Trittbrettfahrer – eingebaut werden.

B. Gesundheitsversorgung durch Versicherung

1. Wie kann Wettbewerb unter Krankenversicherungen funktionieren? Wie erinnerlich, versagt das Marktmodell des Versicherungswesens von M. Rothschild und J. E. Stiglitz (1976) sowie C. Wilson (1976) bei Anonymität der Nachfrager. Wenn das Versicherungsunternehmen jedoch ein Dauervertragsverhältnis mit Akten einrichtet, in denen das Verhalten der Versicherten registriert wird, so kann es verfolgen, ob sich hohe Risiken unter die Versicherten mit geringem Risiko mischen und dadurch die Tragfähigkeit des Angebots untergraben. Bei Aktenkundigkeit mutiert die Selbstselektion von einem Störfaktor zu einem tragenden Faktor des Versicherungsmarktes. Es kommt zu einer wechselseitigen Anpassung: •• Einerseits reagieren die Versicherungsunternehmen auf unterschiedliche Schadensverläufe. Sie kündigen alte Verträge und legen neue Verträge mit angepasstem Risikozuschnitt auf (experience rating). •• Anderseits signalisieren die Versicherten ihrerseits dem Versicherungsunternehmen, dass sie gute Risiken sind, um durch Schadensfreiheit Rabatte zu erzielen. •• Sinn des Wettbewerbs ist also der Effizienzgewinn, der sich bei risikoorientierten Prämien Zug um Zug einstellt. Die wechselseitige Anpassung stellt ein „win-winSpiel“ dar. Der Wettbewerb ist das Öl, das den Prozess in Gang hält. Er trägt zu einem Rückgang der Risikokosten in der Volkswirtschaft bei. Das hier dargestellte Ergebnis ist nachfragegesteuert. Eine sorgfältig geführte Versicherung wird aber auch auf die Kosten des Angebots achten. Gerade bei Versicherungen ist es wichtig, zwischen kostentreibenden und kostensenkenden Leistungsbündeln zu unterscheiden. Denn es kommt auf das Risiko-Portfolio an. Beispielsweise wäre es für ein Versicherungsunternehmen wohl unklug, sich auf das Portfolio der Leiden von Rauchern, Vielessern und Trinkern zu spezialisieren, weil sich deren Risiken in der Regel kumulieren. Hingegen kann es sich lohnen, gegenläufige Risiken zu kombinieren. Z. B. haben krankheitsanfällige Menschen hohe Kosten, aber eine geringere Lebenserwartung. Dies könnte ein wettbewerbliches Versicherungsunternehmen sich zunutze machen und eine kombinierte Krankheits- und Lebensversicherung für diese Problemgruppe anbieten. Auch in diesem Fall hilft der Wettbewerb. Er ist das Entdeckungsverfahren, das solche Kombinationen überhaupt zum Vorschein bringt. Verbietet jedoch die Regulierung solche Portfolios, so steigen die Risikokosten unnötig an; die Gesellschaft ist schlechter dran.

2. Überwindung der angebotsinduzierten Nachfrage durch Wettbewerb unter Sachwaltern Angenommen, ein Wettbewerb zu risikoorientierten Prämien hat sich durchgesetzt, so bleibt den Versicherten immer noch das Problem, ihre Therapien aus ambulanten und stationären Behandlungen und Medikamenten möglichst wirksam und kostengünstig zu kombinieren und einzukaufen. Der Patient

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19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung befindet sich gleichsam in einem großen Warenhaus, das aus verschiedenen Boutiquen besteht. In jeder Boutique steht ein Verkäufer der sagt: „Ich als Ihr Agent, ich an Ihrer Stelle, wenn ich mich in Ihre Lage versetze, würde das von mir angebotene Produkt anwenden.“ Weil der Patient sich nicht auskennt, wird er sich für irgendeine Kombination von Anbietern und Produkten entscheiden. Die gewählte Kombination ist angebotsbestimmt, vermutlich unausgewogen und zu teuer. Wie kommt der Patient aus diesem Wirrwarr heraus? Die Antwort des Ökonomen lautet (a) durch Spezialisierung und (b) durch Wettbewerb. Er delegiert seine Nachfrageentscheidung (a) an einen Spezialisten, der nichts anderes tut, als Behandlungen und Produkte der Gesundheitsindustrie miteinander zu vergleichen und in ihrer Wirksamkeit zu beurteilen. Der Spezialist hat den Vorteil als Fachmann unterschiedliche Therapien vergleichen zu können. Er lässt sich von den Anbietern nichts vormachen. Doch was nützt es dem Patienten, wenn er dem Fachmann auf Gedeih und Verderben ausgeliefert ist? Hier kommt das Element (b) Wettbewerb hinzu. Es muss einen Wettbewerb unter Fachleuten geben, sodass der Patient wählen kann. Wenn das im Prinzip akzeptiert ist, so bedarf es nur noch eines kleinen Schrittes, um dieses abstrakte Modell zu konkretisieren: Es werden die Krankenkassen als Sachwalter der Patienteninteressen bestimmt und es wird im Weiteren dafür gesorgt, dass Wettbewerb unter den Sachwaltern herrscht. Welche Vorteile hat das für den Patienten? •• Er braucht sein Produktbündel nicht mehr selbst zusammenzustellen, womit er überfordert ist. •• Von seiner Krankenversicherung als Sachwalter erhält er nicht mehr einzelne Produkte, sondern eine Gesamttherapie angeboten, die seine Gesundheit insgesamt zu verbessern verspricht. •• Obwohl er Entscheidungen abgetreten hat, bleibt er Herr seiner Gesundheit. Denn dank dem Wettbewerb kann er seinen Vertrag je nach Vereinbarung kündigen und sich einem andern Sachwalter anvertrauen. Die Idee von Krankenkassen als Sachwaltern der Patienteninteressen hat sich verschiedenerorts schon konkretisiert. Ihren Anfang nahm diese Bewegung in den so genannten Health Maintainance Organizations in den Vereinigten Staaten. Dort fanden sich die ersten Organisationen, die Gesundheitsbündel der beschriebenen Art, meist in Zusammenarbeit mit den betroffenen Arbeitgebern, anboten. Verbreitet sind Health Maintainance Organizations ferner in der Schweiz. Der Patient beginnt seine Behandlung beim Hausarzt und wird dann weiter an Vertragsärzte der Krankenversicherung vermittelt. Sodann gibt es Managed Care Programme in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung, auch in der Form von Disease-Management-Programmen und Integrierter Versorgung (S. Wolf 2008). In Abbildung 19.3 ist dargestellt, wie sich Krankenkassen als integrierte Gesundheitsanbieter über die ganze vorbestehende Struktur des Gesundheitswesens legen.

B. Gesundheitsversorgung durch Versicherung Patienten

Krankenversicherungen

Niedergelassene Ärzte

KrankenApotheken häuser

Pharmaindustrie

Gesundheitsleistungen an Patienten

Abbildung 19.3: Brokerfunktion von Krankenversicherungen

3. Armut und Krankheit bei risikoorientierten Beiträgen Risikoorientierte Prämien erlauben eine kostensparende Bewältigung des Risikos. Dies hilft allen Menschen, lässt aber die Frage offen, was mit den armen Kranken geschieht, die sich eine Versicherung nicht leisten können (Feld 3 von Abbildung 19.2)? Um diese Lücke zu schließen, sieht das System risikoorientierter Beiträge einen Mindestversicherungsschutz vor, der armen Menschen zu einem reduzierten Preis von z. B. 15 % des Einkommens abgegeben wird, vgl. Abbildung  19.4. Hierzu ermittelt der Gesundheitsminister in einem ersten Schritt den Beitrag, den die günstigste Krankenversicherung für den von ihm definierten Mindestversicherungsschutz verlangt. Dann legt er den Prozentsatz des Einkommens fest, den ein Versicherter für diesen Schutz maximal ausgeben soll, z. B. 15 % des Einkommens. D. h. der Versicherte bezahlt dann 15 % seines Einkommens als Versicherungsbeitrag, auch wenn der kostendeckende Beitrag der genannten günstigsten Versicherung darüber liegt. Die Differenz wird aus Steuern finanziert. Wächst das Einkommen des Versicherten, so nähern sich die 15 % dem vollen Versicherungsbeitrag für die Mindestversicherung an. Weil der Mindestversicherungsschutz im Wettbewerb angeboten wird, können die Individuen wählen. Ab dem Einkommen, wo der Versicherte mit 15 % seines Einkommens den vollen Beitrag bezahlt, ist er frei, beliebige Verträge abzuschließen, z. B. mit einer höheren Deckung oder mit mehr Selbstbeteiligung oder höheren Bonusgutschriften bei Schadensfreiheit. Alle Versicherten, die unter dieser Schwelle liegen, erhalten eine steuerfinanzierte Subvention in der Differenz zur vollen Prämie. Im Gegensatz zu anderen Subventionen ist diese Subvention zielgerichtet auf Individuen mit geringem Einkommen. Umgekehrt wird sie über das progressive Steuersystem und damit durch Bezieher höherer Einkommen finanziert. Allokation und Verteilung werden nicht miteinander vermischt. Wettbewerb bleibt auch im subventionierten Bereich bestehen.

315

316

19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung

€ Pflichtangebot

Wahlangebote/Risikoteilung

aus Steuern

Einkommen Beitrag, z.B. 15% des Einkommens für Pflichtversicherung Abbildung 19.4: Mindestversicherung für Minderbemittelte

4. Trittbrettfahrer Bleibt schließlich noch das Problem der Trittbrettfahrer, die sich ohne Versicherung aus Nachlässigkeit in das soziale Netz abgleiten lassen. Für sie scheint eine Mindestpflichtversicherung nach dem Vorbild der Versicherung für die Minderbemittelten (3.) angebracht. So lässt sich freiwillige Bedürftigkeit vermeiden.

5. Transferierbare Altersrückstellungen: Ein Sonderproblem Wettbewerb unter Krankenversicherungsunternehmen ist nur möglich, wenn die Versicherten den Anbieter wechseln können. Dem steht nichts im Wege, solange die Versicherten jeweils ihrem Alter entsprechend aktuarisch faire Prämien bezahlen.4 Faktisch aber bilden Versicherungsunternehmen Altersrückstellungen, damit die Beiträge nicht allzu stark ansteigen, wenn die Versicherten älter und krankheitsanfälliger werden. Dies ist begrüßenswert, erschwert aber den Versicherungswechsel in vorgerücktem Alter, wenn die Altersrückstellungen hoch sind und das Versicherungsunternehmen sich auf den Standpunkt stellt, die Altersrückstellungen gehörten dem Unternehmen, nicht dem Versicherten. Wenn dieser zu einem anderen Unternehmen wechsle, müsse er sich dort eben wieder neu einkaufen, was für schlechte Risiken prohibitiv teuer sein kann. Würden umgekehrt die Altersrückstellungen freigegeben, so würden nur die guten Risiken wechseln. Das Unternehmen bleibe auf den schlechten 4

Bedürftige, zu denen auch ein großer Teil der Rentner gehören, bezahlen freilich nur den genannten Prozentbeitrag (P. Zweifel und M. Breuer, 2002, 2003). Dadurch könnte allerdings die Zahl der subventionierten Versicherten bald einen größeren Teil der Bevölkerung umfassen und dadurch das Modell risiko-orientierter Prämien unterhöhlen. Über ein System von Altersrückstellungen könnte diese Frage umgangen werden.

B. Gesundheitsversorgung durch Versicherung Risiken sitzen. Dieser Meinung zufolge bleibt der Versicherte an das Versicherungsunternehmen gebunden, und der Wettbewerb versiegt. Hier soll jedoch gezeigt werden, dass die Transferierbarkeit der Altersrückstellungen im Interesse des abgebenden wie des empfangenden Versicherungsunternehmens liegen und daher auch ohne staatliche Regulierung gelingen kann. Denkt ein Versicherungsunternehmen, dass es für ihren Versicherten V eine Rücklage R benötigt, während ihre Konkurrentin wegen ihrer Spezialisierung glaubt, V mit einer Rückstellung R-x versichern zu können, so stellen sich die beiden Unternehmen besser, wenn V zum neuen Unternehmen wechselt, wobei auch dem Versicherten ein Teil des Wanderungsgewinns zugesprochen wird. Abbildung 19.5 gibt ein vereinfachtes schematisches Beispiel über die bilanziellen Folgen des Transfers eines Versicherten von einem Versicherungsunternehmen A zum anderen Versicherungsunternehmen B unter der Annahme, dass Versicherungsunternehmen B den Versicherten zu günstigeren Konditionen versorgen kann. Betrachtet man lediglich Versicherungsunternehmen A, so wird ersichtlich, dass der Versicherte I durch den Versicherten II subventioniert wird, da die zu erwartenden Ausgaben von Versichertem I 50.000 Euro über den zu erwartenden Einnahmen liegen und vice versa. Gute Risiken unterstützen die schlechten Risiken, weil bei Vertragsabschluss die Zugehörigkeit zur jeweiligen Risikogruppe noch offen war. Im Mittel wird die Umverteilung innerhalb des Versicherungsunternehmens ausgeglichen sein. Jedenfalls werden die Ausgaben die Einnahmen nicht übersteigen, da das Versicherungsunternehmen nicht überlebensfähig wäre. Tritt nun ein Versicherungsunternehmen B hinzu, so können beide Unternehmen von einem Wechsel profitieren. Betrachtet sei zuerst der Versicherte I in Abbildung 19.5. Der Versicherte mit einem schlechten Risiko generiert einen zu erwartenden Verlust i. H. v. 50.000 Euro im Versicherungsunternehmen A. Würde er zu Versicherungsunternehmen B wechseln, das ihn besser betreuen könnte, so würde er jedoch nur einen Verlust von 30.000 Euro erzeugen (Differenz aus erwartetem Barwert der Prämien und Ausgaben). Die Ersparnis des Versicherungsunternehmens B ist folglich 20.000. Versicherungsunternehmen B würde jedoch bei Nichtmitnahme der Rückstellungen den Versicherten nicht übernehmen, da es einen Verlust von 30.000 Euro ausweisen müsste. Damit ein Wechsel stattfindet kann, wird nun Versicherungsunternehmen A dem Versicherungsunternehmen B eine Zahlung anbieten, mit der es die Aufnahme des schlechten Risikos subventioniert. Diese individuelle Rückstellung, die dem Versicherten bei einem Wechsel mitgegeben werden müsste, wäre somit mindestens 30.000 Euro (Verlust von Versicherungsunternehmen B) und maximal 50.000  Euro hoch (Verlust von Versicherungsunternehmen A). In diesem Band würden sich die Verhandlungen der Versicherungsunternehmen abspielen. Damit der Versicherte selbst einen Wechselanreiz hat, müsste ein Teil des Effizienzgewinns auch an ihn fließen. Beispielsweise würde er zukünftig weniger Prämien zu zahlen haben, sodass der Barwert seiner Prämien von 150.000 Euro auf beispielsweise 145.000 Euro fällt. Der Verhandlungsspielraum für die Versicherungen würde

317

318

19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung Versicherter I – Schlechtes Risiko: Versicherung A

Versicherung B

Aktiv

Passiv

Aktiv

Passiv

Erwarteter Barwert der Prämien:

Rückstellungen (erwarteter Barwert der Ausgaben): 200.000 €

Erwarteter Barwert der Prämien:

Rückstellungen (erwarteter Barwert der Ausgaben): 180.000 €

150.000 €

150.000 €

Verlust: –50.000 €

Gewinn: 20.000 € Kassenbestand: 50.000 €

Versicherter II – Gutes Risiko: Versicherung A

Versicherung B

Aktiv

Passiv

Aktiv

Passiv

Erwarteter Barwert der Prämien:

Rückstellungen (erwarteter Barwert der Ausgaben): 100.000 €

Erwarteter Barwert der Prämien:

Rückstellungen (erwarteter Barwert der Ausgaben): 80.000 €

150.000 €

150.000 €

Verlust: +50.000 €

Gewinn: +20.000 € Verbindlichkeiten: –50.000 €

Abbildung 19.5: Beispiel der Bilanzveränderungen eines Versichertenwechsels für die Versicherungsunternehmen

sich somit auf 35.000 bis 50.000  Euro an zu transferierenden Rückstellungen verringern. Analog würde ein Wechsel für einen Versicherten II mit gutem Risiko funktionieren. Das abgebende Versicherungsunternehmen müsste jedoch für den Weggang kompensiert werden, da es durch das Versicherungsverhältnis einen Gewinn von 50.000 Euro realisieren würde. Da annahmegemäß auch dieser Versicherte II vom Versicherungsunternehmen B kostengünstiger versorgt werden kann, wird die individuelle Rückstellung, die dem abgebenden Versicherungsunternehmen übergeben wird, zwischen 50.000 (Gewinn von Versicherungsunternehmen A) und 70.000 Euro (Gewinn von Versicherungsunternehmen B) liegen. Sowohl für schlechte Risiken, als auch für gute Risiken besteht wie gezeigt ein Anreiz für die Krankenversicherungen, einem Wechsel zuzustimmen. Auch der Versicherte wird durch die Verhandlungen gewinnen, da er an den Effizienzgewinnen beteiligt werden kann. Somit ist ein Wechsel eine Pareto-Verbesserung

C. Krankenversicherung zu Festprämien für alle Beteiligten. Daher sollte Altersrückstellungen für jeden Versicherten offen ausgewiesen werden. Dann kann ein Kunde erkennen, ob sich ein Transfer zu einem anderen Versicherungsunternehmen lohnt oder nicht.

6. Zusammenfassung: Krankenversicherung zu risikoorientierten Prämien Eine Krankenversicherung zu risikoorientierten Prämien beruht auf dem einfachen Prinzip, dass jeder Versicherte mit der Prämie für die Kosten seines Risikos aufkommt. Kosten und Preise sind aneinander geknüpft. Keiner wird zusätzlich belastet oder keiner subventioniert. Jeder trägt, was er verursacht. Nur auf dieser Grundlage kann ein unverzerrter Wettbewerb zwischen Anbietern wie Nachfragern zustande kommen und nachhaltig bleiben. Anbieter wie Nachfrager ziehen am gleichen Strick. Beide wollen Risiken vermeiden, indem sie ihre eigenen und dadurch die volkswirtschaftlichen Kosten eindämmen. Das Verteilungsproblem fällt dabei nicht unter den Tisch, sondern es lässt sich durch verminderte, steuerfinanzierte Prozentprämien in das Konzept integrieren (s. Unterabschnitt B3). Die nachfolgend in Abschnitt C und D zu behandelnden Konzepte von Festprämien und von arbeitseinkommensabhängigen Prämien weisen diese Verknüpfung von Preisen und Kosten nicht auf. Der Wettbewerb ist daher verzerrt, bzw. er wird erst entzerrt, wenn Korrekturfaktoren wie der Risikostrukturausgleich eingebaut werden. Solch ein künstlicher Wettbewerb läuft Gefahr, immer dem tatsächlichen Wettbewerb hinterherhinken. Auch ist der regulatorische Aufwand ist zu bedenken. Es lässt sich auch nicht sagen, Krankenversicherungen zu Festprämien und zu arbeitseinkommensabhängigen Prämien seien aus verteilungspolitischen Gründen vorzuziehen. Sie bedürfen beide besonderer Mechanismen, um Verteilungsgerechtigkeit anzustreben.

C. Krankenversicherung zu Festprämien 1. Die Grundidee von Festprämien im Vergleich zu risikoorientierten Beiträgen Bei einem Festpreissystem bezahlt jeder Versicherte einen von seiner Person unabhängigen Peis. Gesundheit wird zu einem Gut, für dessen Erwerb jeder den gleichen Preis bezahlt. So wie Restaurants untereinander mit Preis und Qualität im Wettbewerb stehen, sollen auch Versicherungsunternehmen in Wettbewerb stehen und mit Preis und Qualität werben. Das scheint attraktiv. Ein konsequentes Festpreissystem der Krankenversicherungen besteht in der Schweiz. Es gibt zwar an die hundert Krankenkassen. Aber jede verlangt ihren festen Preis, die so genannte Einheitsprämie, die seit Erlass des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) von 1996 einheitlich für Frauen und Männer gilt. Die früher um 10 % höheren Prämien für Frauen wurden damals abgeschafft.

319

320

19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung Eine Einheitsprämie hat unausweichlich zur Folge, dass schlechte Risiken durch gute Risiken subventioniert werden. Im Wettbewerb würden Versicherungen die schlechten Risiken meiden und nur noch die guten Risiken versichern. Sie würden Risikoselektion betreiben. Um dies zu verhindern, ist anders als bei risikoorientierten Beiträgen eine Regulierung erforderlich: Krankenkassen werden einem staatlich verordneten Kontrahierungszwang unterworfen, zu dem sie allen Bewerbern eine einheitliche Grundversicherung anbieten müssen. Minderbemittelte bezahlen wie auch im Modell der risikoorientierten Prämien einen einkommensproportionalen Beitrag, der allerdings in der Schweiz nicht ganz auf null zurückgeht, vgl. Abbildung  19.4. Bei hoher Wechselbereitschaft der Nachfrager setzt sich die preisgünstigste Versicherung durch.

2. Risikostrukturausgleich Mit der Auflage, allen Bewerbern eine einheitliche Grundversicherung zu einem Festpreis anzubieten, ist jedoch der Anreiz der Versicherungen, Risikoselektion zu betreiben, noch nicht beseitigt. Krankenversicherungen haben subtile Methoden, den Kontrahierungszwang abzuschwächen oder gar zu umgehen. Wege dazu sind: •• Sonderkonditionen, günstige Einstiegsprämien und günstige Zusatzversicherungen für gute Risiken, insbesondere für junge Menschen. •• Zurückhaltung bei der Übertragung von Altersrückstellungen, was den Versicherungswechsel erschwert. •• Subtiler Abbau von Leistungen für Altversicherte, insbesondere, wenn sie schlechte Risiken sind und geringe Chancen haben, den Anbieter zu wechseln, wenn Altersrückstellungen nicht transferierbar sind. •• So setzen sich über die Hintertür doch Elemente von risikoorientierten Prämien durch. Die Gefahr besteht, dass solche Risikoselektionen den Krankenversicherungen mehr einbringen als eigentliche Innovationen wie managed care und dergleichen. So soll beispielsweise die Versicherung Groupe Mutuel in der Schweiz durch solche Maßnahmen Ihren Versichertenbestand von 192 000 im Jahr 1992 auf 836 000 im Jahr 2006 gesteigert und dadurch ihre Kostenstruktur wesentlich verbessert haben. Um solchen Tendenzen entgegenzuwirken, wird ein Risikostrukturausgleich durchgeführt. Krankenversicherungen mit ungünstiger Risikostruktur werden durch Kassen mit günstiger Risikostruktur zwangsweise subventioniert. Beispiel: Für alle Kassen zusammen kostet ein Versicherter im Durchschnitt 200 Geldeinheiten. Ebenfalls im Durchschnitt aller Versicherungen ergibt sich für Männer und Frauen unter und über dreißig Jahren die Kostenverteilung in Abbildung 19.6. Ein Risikostrukturausgleich wird erreicht, wenn pro Versicherten die Versicherung mit M < 30 GE 50 abgibt, M > 30 +/– 0 nichts abgibt und nichts erhält, F 30 GE 10 erhält. Das Nettobudget des Risikostruk-

C. Krankenversicherung zu Festprämien

Alter

< 30

> 30

Insgesamt

Männer

150

200

350

Frauen

240

210

450

Beide

390

410

800 : 4 = 200

Abbildung 19.6: Modell eines Risikostrukturausgleichs

turausgleichs beträgt dann null. Wie viel die einzelne Krankenkasse tatsächlich ausgibt, ist dann ihre Sache. Damit behält sie den Anreiz, Kosten einzusparen. Merke: Kosten werden immer am (kantons- oder landesweiten) Durchschnitt gemessen. Dadurch wird Risikoselektion im Prinzip unattraktiv.5 Ein effizienter Risikostrukturausgleich gibt Anreize zu effizientem Leistungsmanagement und geringen Verwaltungskosten. Es gilt jedoch: •• Je grobmaschiger der Risikostrukturausgleich, desto mehr Risikoselektion ist möglich, aber auch desto größer der Anreiz der Versicherung, eigene, patientenspezifische Leistungen anzubieten. •• Je feinmaschiger der Risikostrukturausgleich, d. h. wenn außer Alter auch Morbidität (in Deutschland ca. 90 Krankheiten), Teilnahme an Disease Management Programmen etc. berücksichtigt werden, desto geringer ist der Spielraum zur Risikoselektion, aber desto höher der Anreiz, Kosten zu erhöhen und desto geringer der Anreiz, den Versicherten das Produkt ihrer Wahl anzubieten. Es besteht ein Abwägungsproblem. Das Festpreissystem der Schweiz kennt nur einen relativ groben Risikostrukturausgleich. Daher bleiben Versicherern Lücken für innovative Angebote und auch zur Risikoselektion. Anderseits bringt es die kantonsweise Berechnung des Risikostrukturausgleichs mit sich, einzelne Zellen nur sehr dünn besetzt sind und der Durchschnitt sehr nahe beim Einzelfall liegen kann, dass Anreize zur Effizienzsteigerung zurückgehen. 5

Für Deutschland bestimmt sich der Durchschnitt nach § 266 (2) SGB V wie folgt: „Die Höhe des Ausgleichsanspruchs oder der Ausgleichsverpflichtung einer Krankenkasse wird durch Vergleich ihres Beitragsbedarfs mit ihrer Finanzkraft ermittelt. Der Beitragsbedarf einer Krankenkasse ist die Summe ihrer standardisierten Leistungsausgaben. Die standardisierten Leistungsausgaben je Versicherten werden auf der Basis der

durchschnittlichen Leistungsausgaben je Versicherten aller Krankenkassen jährlich so bestimmt, dass das Verhältnis der standardisierten Leistungsausgaben je Versicherten

der Versichertengruppen zueinander dem Verhältnis der nach § 267 Abs. 3 für alle Krankenkassen ermittelten durchschnittlichen Leistungsausgaben je Versicherten der Versichertengruppen nach § 267 Abs. 2 zueinander entspricht.“ Hervorhebung durch den Verf.

321

19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung

91–

86–90

81–85

76–80

71–75

66–70

61–65

56–60

51–55

46–50

41–45

36–40

w=

31–35

m=

26–30

Fr.

19–25

Abbildung 19.7: Der Risikostrukturausgleich zwischen Männern und Frauen in der Schweiz Quelle: R. Leu und K. Beck (2007)

m=

w=

= Beiträge des Risikoausgleichs

91–

86–90

81–85

76–80

71–75

66–70

61–65

56–60

51–55

46–50

41–45

36–40

31–35

= Abgaben an den Risikoausgleich

Durchschnittskosten

26–30

Fr.

19–25

322

Abbildung 19.8: Der Risikostrukturausgleich zwischen Jung und Alt in der Schweiz Quelle: R. Leu und K. Beck (2007)

Die Abbildungen 19.7 und 19.8 illustrieren den Risikostrukturausgleich in der Schweiz. Abbildung 19.7 zeigt den Transfer von Frauen zu Männern in fast allen Altersklassen außer den 66 bis 80 Jährigen. Wie erinnerlich, sind Tarifdifferenzierungen zwischen Frauen und Männern im Jahr 1996 abgeschafft worden. Abbildung 19.8 zeigt den Risikostrukturausgleich von Jung zu Alt.

3. Prämienverbilligungen in der Schweiz Genau wie bei risikoorientierten Prämien erfordern auch Festprämien eine Prämiensubvention für einkommensschwächere Versicherte. Diese erfolgt über das progressive Steuersystem und ist insofern zielgerichtet geregelt und von der Krankenversicherung abgekoppelt (Trennung von Allokation und Verteilung). Allerdings gelangen mit der im Vergleich zum Pro-Kopf-Einkommen überdurchschnittlichen Steigerung der Gesundheitskosten und den entspre-

D. Gesundheitsversorgung durch Versicherung chenden Beitragssteigerungen immer mehr Versicherte in den Genuss staatlich subventionierter Prämien. Derzeit wird Prämienverbilligung im Kanton Zürich bis zu einem steuerbaren Einkommen 37.200 Franken (Einzelpersonen) bzw. 47.500 Franken (Verheiratete, Alleinerziehende) gewährt. Immer mehr, derzeit 60–70 % der Bevölkerung, fallen je nach Kanton in diese Gruppe. Das heißt, das Festpreissystem wird zunehmend zu einem System mit einkommensabhängigen Beiträgen und entsprechend geringeren Anreizen, Einsparungen wahrzunehmen.

D. Gesundheitsversorgung durch Versicherung zu arbeitseinkommensabhängigen Beiträgen 1. Die Idee des Solidargemeinschaft Im Zentrum der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung steht die Idee der Solidargemeinschaft. Der zentrale § 1 Sozialgesetzbuch V (SGB V) verlangt: „Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern.“ Solidarität wird im deutschen System der gesetzlichen Krankenversicherung durch Pflichtmitgliedschaft und Pflichtbeiträge in der Höhe von 14,6 % (bzw. 14,0 % ermäßigt) des Arbeitseinkommens zu erreichen versucht. Allerdings reicht die Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze von 4.237,50 Euro monatlich (2016). Jenseits dieser Grenze kann das Individuum zu einer privaten Krankenkasse wechseln. Es entrichtet dann Festbeiträge (entsprechend Abschnitt C) und leistet daher keinen direkten Beitrag mehr zur Umverteilung.6 Derzeit gehören rund 80 % der Bevölkerung einer gesetzlichen Krankenkasse an. Durch die zwei Stufen von Pflichtmitgliedschaft unter, und Nichtpflichtmitgliedschaft über der Beitragsbemessungsgrenze werden zwei Gruppen von Versicherten gebildet, von denen die einen zur Solidarität beitragen, die anderen nicht (oder jedenfalls nicht direkt). Auch die unentgeltliche Mitversicherung von Familienangehörigen und die Begünstigung von Rentnern durchkreuzt die Solidarität. Schematisch lässt sich die Umverteilung in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung durch die folgende Graphik darstellen: Die Kosten verlaufen statistisch je nach Alter und Geschlecht wie in Abbildung 19.9 dargestellt mit einem starken Anstieg im Alter. Ganz anders verlaufen die Beiträge (in Deutschland) je nach Alter. Kinder und Rentner bezahlen keine Beiträge oder Beiträge, die unter ihren verursachten Kosten liegen. Männer bezahlen vergleichsweise

6

Allerdings gewährt die private Krankenversicherung den Ärzten höhere Honorare, die über Quersubventionierung den Pflichtversicherten zugute kommen.

323

324

19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung mehr als Frauen und Versicherte im mittleren Alter bezahlen mehr als die Jungen und Alten. Kapitaleinkommensbezieher bleiben unbelastet.

2. Der Ausgleich von Angebot und Nachfrage Die ausgiebige interne Subventionierung zwischen Patientengruppen nach Abbildung 19.9 wirft die Frage auf, wie denn die Kosten der Anbieter mit den Zahlungen der Nachfrager in Übereinstimmung gebracht werden. Dies wird unter den Trägern des Gesundheitswesens, d. h. den Krankenversicherungen einerseits und den Kassenärztlichen Vereinigungen und der Deutschen Krankenhausgesellschaft anderseits, in kollektiven Verhandlungen festgelegt. Verhandlungsmasse ist Produkt aus Grundlohnsumme mal Beitragssätzen, wie es von den gesetzlichen Krankenversicherungen eingenommen wird. Die Entgelte, die die Ärzte und Krankenhäuser daraus erhalten, werden zwischen den Krankenkassen und den regionalen kassenärztlichen Vereinigungen, bzw. diesen und der Deutschen Krankenhausgesellschaft vereinbart. Im ambulanten Bereich errechnen sich die Entgelte nach den Arztleistungen, die in Punkten bewertet werden, und einem Gewichtungsfaktor in Euro. Analog erhalten Krankenhäuser Fallpauschalen für ihre Leistungen. Ärzte und Krankenhäuser produzieren, solange diese Entgelte die Kosten decken. Umgekehrt werden die Patienten Leistungen nachfragen, solange Behandlungen von Ärzten und Krankenhäusern angeboten werden. Es gilt im Wesentlichen das Gesetz der angebotsinduzierten Nachfrage. SFr Kosten, Leistungen

1600 1400 1200 1000 800

Frauen

600

Durchschnitt

400

Männer

Beiträge (schematisch)

200 10

20

30

40

50

60

70

80

Alter

Abbildung 19.9: Schematische Darstellung der Quersubventionierung in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung Quelle: nach J. M. von der Schulenburg (1989)

Preis

D. Gesundheitsversorgung durch Versicherung Angebot

Nachfrage N(2)

E B

Nachfrage N(1) D

C

A

0

M1

M2

Menge

Abbildung 19.10: Der Ausgleich von Angebot und Nachfrage in der gesetzlichen Krankenversicherung

In Abbildung 19.10 ist mit Punkt A der Fall angenommen, dass die Verhandlungspartner für ein Jahr Angebot und Nachfrage punktgenau in Übereinstimmung gebracht haben. Jetzt kommt als exogener Schock eine neue bedeutende Behandlungsmethode auf den Markt. Sie verschiebt die Nachfragekurve von N(1) nach N(2). Die Kosten des Angebots steigen von A nach E. Da jedoch die Preise für die Nachfrager unverändert bleiben, haben diese keinen Anlass, ihre Nachfrage aufgrund der gestiegenen Kosten zu reduzieren. Ihre Nachfrage umfasst die Menge C. Bei Punkt C treten jedoch Finanzierungsprobleme bei den Krankenversicherungen auf. Diese möchten die Beitragssätze auf E anheben, wogegen die Politiker Einspruch erheben, weil sie einen Verlust an Wählerstimmen befürchten. Daher wird die gestiegene Nachfrage durch Rationierungsmaßnahmen auf eine Menge von z. B. D zurückgeführt und nur eine ermäßigte Beitragssatzerhöhung auf B zugelassen. Als Sieger fühlen sich die Politiker, weil sie eine größere Beitragserhöhung verhindert haben (BD < CE). Zufrieden ist auch die Gesundheitsindustrie, weil sie ihre Leistungen wenigstens teilweise ausdehnen kann, dafür aber mit den bürokratischen Einschränkungen der Rationierung leben muss.

3. Das Gesetz der zunehmenden Staatseingriffe Abbildung 19.11 bringt zum Ausdruck, dass es in der Vergangenheit nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von Gesundheitsreformen gab. Wie auch immer der Name war, es ging fast immer um die Dämpfung überbordender Nachfrage. Deswegen wird auch häufig vom Gesetz zunehmender Staatseingriffe gesprochen.7, 8 7 8

Alternativ wird auch von der Ölflecktheorie (eines sich verbreitenden Ölflecks auf dem Wasser) und von einer Interventionsspiralen gesprochen. Das Problem zunehmender Staatseingriffe tritt auch bei der Körperschaftsteuer auf; s. 13. Kapitel

325

326

19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung Einführung/Umsetzung am9:

Gesetz

1.7.1977

Krankenversicherungs­Kostendämpfungsgesetz

1.12.1981 / 1.7.1982

Krankenhaus­Kostendämpfungsgesetz

1.1.1983

Kostendämpfungs­Ergänzungsgesetz

1.1.1984

Haushaltsbegleitgesetz 1983

1.1.1985

Haushaltsbegleitgesetz 1984

1.1.1989

Gesundheits­Reformgesetz (GRG)

21.12.1992

Gesundheits­Strukturgesetz (GSG)

1.1.2000

Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 (GKV­Gesundheitsreform 2000)

1.1.2002

Gesetz zur Ablösung des Arznei­ und Heilmittelbudgets (Arzneimittelbudget­Ablösungsgesetz – ABAG)

1.1.2003

Beitragssatzsicherungsgesetz (BSSichG)

1.1.2003

Gesetz zur Einführung des diagnose­orientierten Fallpau­ schalensystems für Krankenhäuser (Fallpauschalengesetz)

1.1.2004

Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Kranken­ versicherung (GKV­Modernisierungsgesetz)

1.4.2007

Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV­Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV­WSG)

1.1.2011

Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung

1.1. 2015

GKV­Finanzstruktur­ und Qualitäts­Weiterentwicklungs­ gesetz

Abbildung 19.11: Gesundheitsreformgesetze 1977 bis 2011 Quelle: Ch. B. Blankart, E. R. Fasten und H. P. Schwintowski (2009)

4. Die Gesundheitsreformen von 2008/2015 und der Gesundheitsfonds Wie das System der Festprämien bedarf auch das System der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung eines Risikostrukturausgleichs. Weil bei den Arbeitseinkommen angesetzt wird, ist dieser sogar noch wichtiger als im System der Festpreise. Sonst würden die Krankenversicherer versuchen, nicht nur gute Risiken, sondern vor allem auch wohlhabende Beitragszahler zu selektionieren. Dem Rechung tragend beschloss der Gesetzgeber im „Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG)“ von 2007/2009, den Risikostrukturausgleich nicht mehr als Finanzausgleich von Kasse zu Kasse durchzuführen, sondern ihn in einem großen Fonds, dem Gesundheitsfonds zu zentralisieren. Dessen Funk9

Das Inkrafttreten der Gesetzte kann geringfügig in Folge von Übergangsregeln, etc. abweichen.

D. Gesundheitsversorgung durch Versicherung tionsweise ist in Abbildung 19.9 schematisch dargestellt. Danach entsteht das Gut Gesundheit für die Krankenversicherten in fünf Schritten: 1. Arbeitseinkommenabhängige Einheits-Pflichtbeiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der Höhe von 202,2 Mrd. Euro (2014) und Subventionen von 10,5 Milliarden Euro (2014) fließen in den Gesundheitsfonds. Sie sind oben rechts in Abbildung 19.12 dargestellt.10 2. Die Gesamtsumme von 212,7 Mrd. Euro wird im Gesundheitsfonds (oben links in der Abbildung) in risikoadjustierte Grundpauschalen aufgeteilt und den Krankenkassen für jeden ihrer Versicherten zugewiesen. 3. Die Krankenkassen kaufen mit diesem Geld bei der Gesundheitsindustrie die Pflichtleistungen für ihre Patienten (links unten in der Abbildung).11 12 4. Etwaige Defizite lasten sie den Versicherten über einkommensabhängige Zusatzbeiträge an. 5. Schließlich können die Versicherten bei ihren Krankenkassen zusätzlich Wahlleistungen auf privatvertraglicher Basis nachfragen. a. Der Gesundheitsfonds – ein politisches Wahlmenu

Für das Verständnis des Gesundheitsfonds ist es wichtig, nicht nur seine Elemente kennen zu lernen, sondern auch die Austauschbeziehungen, die er eröffnet. Die Politiker können sich ein Wahlmenu zusammenstellen. Sie können mehr vom einen und dafür weniger vom anderen erhalten. Die folgenden fünf Optionen sind von Bedeutung: 1. Je höher die Politiker den Einheitsbeitragsatz ceteris paribus festsetzen, desto weniger Subventionen bedarf das Gesundheitssystem. Sein Kostendeckungsgrad steigt. 2. Umgekehrt gilt: Je niedriger der Einheitsbeitragssatz angesetzt wird, desto höher ist ceteris paribus der Subventionsbedarf, d. h. desto höher ist der Anteil des Gesundheitswesens, der steuerfinanziert werden muss. Das Gesundheitswesen nähert sich einer Bürgerversicherung an, die gänzlich steuerfinanziert ist. Als Steuerquelle wird insbesondere eine Steuer auf Arbeits- und Kapitaleinkommen, also eine Einkommensteuer genannt, die bei 10

11

12

Die obigen statistischen Angaben beziehen sich auf das Jahr 2007 unter der Annahme, dass der Gesundheitsfonds schon verwirklicht ist. Eingerechnet in den Subventionen sind hier auch Beitragszuschüsse zur Krankenversicherung von Empfängern sozialer Leistungen. Zwar kann sich der Staat ihrer nicht ohne weiteres entledigen, aber in der Gesamtrechnung des Gesundheitsfonds und dessen Überweisungen an die Krankenkassen stellen sie einen wichtigen Finanzierungsbeitrag dar. In der gesetzlichen Krankenversicherung gibt der Gesetzgeber den Rahmen für die Ausgestaltung der Pflichtleistungen vor. Die Einzelheiten werden von der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen festgelegt. Wichtigstes Organ der gemeinsamen Selbstverwaltung ist der Gemeinsame Bundesausschuss. Die Zusammensetzung des Gemeinsamen Bundesausschusses ergibt sich aus: § 91 Abs. 2 SGB V, 21 Mitglieder, davon 3 unparteiische Mitglieder (davon ein Vorsitzender), 9 Vertreter der Krankenkassen (benannt von deren Spitzenverbänden), 9 Vertreter der Leistungserbringer (davon 4 Vertreter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, 1 Vertreter der Kassenärztlichen Zahnärztlichen Bundesvereinigung und 4 Vertreter der Deutschen Krankenhausgesellschaft). Hinzu kommen 9 ausgewählte Patientenvertreter ohne Stimmrecht (entsprechend der Zahl der Vertreter der Spitzenverbände der Krankenkassen). Nicht direkt vertreten sind die Apotheken und die Pharmaindustrie.

327

328

19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung

Politikvariable a) direkte

Gesundheitsfonds 212,7 Mrd. €

Arbeitseinkommenabhängige Einheitsbeiträge 202,2 Mrd. €

Risikostrukturausgleich

Subventionen 10,5 Mrd. €

Grundpauschale pro Versicherten mit Zuund Abschlägen*

Entscheidung

b) indirekte Zusatzbeitrag Rückerstattung Wahlleistungen

Krankenkassen 155 Mrd. € Einheitspflichtleistungen Bundesausschuss

Sekundärmarkt Ärzte

K’häuser

Apotheken

Pharma

Sonstige

* nach Alter, Geschlecht, Morbidität (§ 266 SGB V).

Abbildung 19.12: Der Gesundheitsfonds (Statistische Angaben des Gesundheitsfonds für 2014) Quelle: nach BMAS

der Mobilität des Faktors Kapital jedoch nicht ohne weiteres durchsetzbar wäre. Denkbar ist auch eine Finanzierung aus der Mehrwertsteuer. Dies würde im Endeffekt wiederum auf eine Belastung des Faktors Arbeit hinauslaufen.13 Nur wird dieser nicht individuell, sondern kollektiv über den Mehrwertsteuerpool belastet. 3. Je höher die Pflichtleistungen, die den Versicherten zukommen sollen, desto höher müssen ceteris paribus Einheitsbeitragssatz oder Subventionen festgesetzt werden. 4. Je niedriger der Einheitsbeitragssatz, desto weniger Pflichtleistungen können ceteris paribus angeboten werden und desto mehr sind die Versicherten auf die frei angebotene Wahlleistungen angewiesen, die ihre Versicherun13

Vgl. 15. Kapitel

D. Gesundheitsversorgung durch Versicherung gen im Wettbewerb anbieten. Das Gesundheitswesen wird individualistischer. 5. Je niedriger – bei gegebenen Pflichtleistungen – der Einheitsbeitragssatz und die Subventionen, desto mehr kommen die Krankenkassen ceteris paribus unter Kostendruck, den sie versuchen werden, an die Gesundheitsindustrie weiterzugeben. Dies kann dort zu vermehrtem Wettbewerbsdruck mit effizienzfördernder Rationalisierung führen – z. B. durch Abrechnung aufgrund von Fallpauschalen und Basisfallwerten – oder es kann zu Angebotsausfällen kommen, wenn Abrechnungssätze zu gering sind und die Minimalkosten der Leistungserbringung unterschreiten. b. Das Wahlmenu wird politisch gewichtet

Bis dahin wurden lediglich die Austauschbeziehungen (Trade-Offs) aufgezeigt. Ihre politische Bedeutung wird jedoch erst offenbar, wenn die Gewichte betrachtet werden, die ihnen Politiker nach ihren Ideologien (bei Beachtung, dass sie wiedergewählt werden) zuordnen. •• Konservative Politiker werden nach Option 1 versuchen, die Pflichtbeiträge hoch zu setzen, damit das Gesundheitswesen ceteris paribus selbsttragend wird und weniger von Steuern und Subventionen abhängt. •• Sozialistische Politiker, die ein kollektivistisches Gesundheitssystem anstreben, werden nach Option 2 die Beitragssätze niedrig ansetzen, wodurch ceteris paribus der Subventionsbedarf und damit die Steuerfinanzierung steigen (Bürgerversicherung). •• Liberale Politiker werden nach Option 3 Pflichtbeiträge und Subventionen heruntersetzen, um so zu erzwingen, dass ceteris paribus viele zusatzfinanzierte Wahlleistungen nachgefragt und angeboten werden. Der Gesundheitsfonds ist so gesehen ein offenes Modell, das sich so umbauen lässt, wie es den gerade herrschenden politischen Ansichten entspricht. Das ist möglicherweise auch der Grund, warum die allerseits kritisierte Fondslösung doch noch eine breite politische Mehrheit hinter sich brachte. Die Zentralisierung aller Mittel im Gesundheitsfonds und damit die Koordinierung der Krankenkassen durch die ihnen zugewiesenen Grundpauschalen unterscheiden sich scharf vom früheren System, unter dem die Kassen autonom waren und in einem moderierten Beitragswettbewerb standen. Diese einmalige und kaum widersprochene Machtkonzentration über ein Beitrags- und Subventionsvolumen von insgesamt 155 Mrd. Euro ist erstaunlich. Sie wird weiter unten noch zu interpretieren sein.

5. Weitere Gesundheitsreform Weitgehend ausgeklammert blieb in der Gesundheitsreform 2010 (als der Gesundheitsfonds eingeführt wurde) die Idee, Krankenkassen als Broker (Abbildung  19.3) heranzuziehen. Während die bisherigen Gesundheitsreformen Möglichkeiten von Selektivverträgen im ambulanten Bereich zulassen, ist die Ausdehnung solcher Möglichkeiten im stationären Bereich noch weitgehend verschlossen. Insbesondere ist es nicht möglich, dass einzelne Kassen in eigener

329

330

19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung Initiative handeln. Nur ein kollektives Vorgehen auf Landesebene ist in diesem Bereich zulässig, was den unternehmerischen Elan hemmt (vgl. Fr. Breyer, 2010). Schließlich scheint es fraglich, ob die Finanzierung der Gesundheitswesens aus dem Arbeitseinkommen angesichts der alternden Bevölkerung noch längere Zeit möglich sein wird. Ein Übergang zu Fest- oder risikoorientierten Beiträgen mit ergänzender Steuerfinanzierung wird über kurz oder lang wohl unumgänglich sein.

E. Politische Ökonomie einer Gesundheitsreform 1. Reformen in Markt und Politik: Die Bedeutung des Status quo Im Markt setzt sich eine neue Idee durch, wenn sie mehr Kaufkraft an sich zieht als konkurrierende Ideen. Was andere Gruppen als richtig oder falsch ansehen, welche Bedenken sie äußern, ist im irrelevant. In der Politik ist das anders. Hier müssen Neuerungen über Gesetze durchgesetzt werden. Danach gilt solange der Status quo, als das neue Gesetz nicht angenommen worden ist. Der Rechtfertigung bedarf also nicht das Bestehende, sondern das Neue. Daher ist die Politik in der Regel konservativer als der Markt. Wer ein Projekt in der Politik durchsetzen will, muss abschätzen, wie viel Vetospieler sich ihm entgegenstellen.

2. Politologen bringen Vetospieler in die Diskussion Der amerikanische Politikwissenschaftler George Tsebelis (2002) hat eine Vetospielertheorie entwickelt, die es ermöglicht, die Entscheidungsfähigkeit von politischen Systemen einzuschätzen. Vetospieler können individuelle, institutionelle oder parteipolitische Akteure sein. Einspruchsrechte von institutionellen Vetospielern sind in Verfassungen verbrieft, während parteipolitische Vetos sich beispielsweise aus Wahlen ergeben. Darüber hinaus sind Vetospieler in Form von Interessengruppen oder Verbänden relevant. In Abbildung  19.13 sind kreisförmig die Präferenzen zweier Abgeordneter P und P’ gezeichnet. Sie haben zwischen arbeitseinkommensabhängigen Beiträgen und Festbeiträgen für die Krankenversicherung oder einer Mischung zwischen beiden zu entscheiden. Am besten ist für jeden von ihnen das individuelle Optimum I bzw. I’. Alle Punkte um den jeweiligen „Wohlfahrtsgipfel“ herum werden von ihnen weniger geschätzt. Für eine Gesundheitsreform sind diese individuellen Optima I und I’ aber ungeeignet. Weder kann sich P für I’ noch P’ für I entscheiden. Zu Zweien hat keiner von beiden eine Mehrheit. Jeder ist machtlos, aber auch gleichzeitig Vetospieler, der den anderen blockiert. Nur einstimmig können sie eine Gesundheitsreform erreichen. Solange dies aber nicht gelingt, bleibt es beim Status quo.

E. Politische Ökonomie einer Gesundheitsreform

Arbeitseinkommensabhängige Beiträge

StQ

I

WS

I‘

Festbeiträge Abbildung 19.13: Zwei Vetospieler und deren Winset (WS) Quelle: nach G. Tsebelis (2002)

Nicht unmöglich scheint es aber, bei Kompromissbereitschaft beider Seiten eine Teil-Gesundheitsreform in Richtung der schattierten Linse zu erreichen. G. Tsebelis bezeichnet die Linse als Winset, in der Sprache der Wohlfahrtsökonomik eine Paretoverbesserung für die beiden Abgeordneten P und P’. Der Status quo wird ein Stück weit verlassen. Er beengt aber immer noch den Möglichkeitsspielraum. Zwei wesentliche Veränderungen treten ein, wenn drei und mehr Spieler auftreten. Ein gemeinsames Winset wird zwar noch schwieriger zu erreichen, doch es eröffnet sich die Möglichkeit, mehrheitlich zu entscheiden, d. h. eine Minderheit zu überstimmen (Abbildung 19.10). In einem Einkammersystem mit den Abgeordneten BT1, BT2, BT3, BR1, BR2 und BR3 und Mehrheitsabstimmung müssen 4 von 6 Wählern einen gemeinsamen Punkt vorziehen. Das Winset liegt jetzt in der hell getönten Fläche und umfasst die Abgeordneten BT3&BR1&BR2&BR3. Im Zweikammersystem mit Bundestag (BT) und Bundesrat (BR) ist eine Mehrheit von jeweils zwei Stimmen in jedem Haus erforderlich, was durch die Abgeordneten BT1&BT3 einerseits und BR1&BR3 anderseits gelingt. Offenbar ist das Winset, dargestellt durch die dunkle Fläche noch kleiner geworden, der Status quo also noch stärker dominant als im Einkammersystem.14

14

Freilich kann ein Winset in vielen Fällen durch eine Gegenkoalition wieder umgeworfen werden, wenn Mehrheitsentscheidungen zugelassen sind. Es kommt zum Abstimmungsparadoxon des 7. Kapitels.

331

19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung

Arbeitseinkommensabhängige Beiträge

BR2

BT 2

332

BT1

StQ

BT 3

BR1 BR 3

Festbeiträge Abbildung 19.14: Das Winset bei mehreren Vetospielern im Ein- und im Zweikammersystem Quelle: nach G. Tsebelis (2002)

Allgemein ausgedrückt kann jeder Vetospieler den politischen Prozess vorübergehend oder endgültig stoppen. Den Untersuchungen von G. Tsebelis zufolge ist die Wahrscheinlichkeit von Vetos im Modellrahmen korreliert mit: a) der Menge der an der Entscheidung beteiligten individuellen oder kollektiven Entscheider (positive Korrelation), b) die Höhe der Kongruenz der Präferenzen der Vetospieler (negative Korrelation), c) der Kohäsion oder Homogenität der Beteiligten (negative Korrelation), d) der ideologischen Differenz (positive Korrelation).

F. Zusammenfassung des 19. Kapitels Krankheitsrisiken lassen sich nicht beseitigen. Aber sie lassen sich versichern. Folgende Modelle stehen zur Verfügung: •• Versicherung zu risikoorientierten Prämien •• Versicherung zu Festprämien •• Versicherung zu arbeitseinkommensabhängigen Prämien Jedes dieser Modelle vermindert das Risikoproblem. Demgegenüber soll das Verteilungsproblem durch Regulierung der Prämien bewältigt werden. Zwischen Risikobewältigung und Verteilung besteht ein „Trade-off“. Was bei letzterer gewonnen wird, geht bei ersterer teilweise wieder verloren. Die Kunst

F. Zusammenfassung des 19. Kapitels besteht darin, die bestmögliche Kombination von Risikobewältigung und Verteilung zu finden. Dieses Bestreben wird aber durch die Interessengruppen des Gesundheitswesens wie Kassenärztlicher Bundesvereinigung, Zahnärztlicher Bundesvereinigung und Deutscher Krankenhausgesellschaft teilweise konterkariert. Das Ergebnis hängt wesentlich von der von G. Tsebelis (2002) beschriebenen Koalitionsstabilität im Bundestag und Bundesrat ab.

Wichtige Begriffe des 19. Kapitels Angebotsinduzierte Nachfrage Selbstselektion Prinzipal-Agent-Problem Sachwalterproblem Mittelsmann/Broker Risikoorientierte Beiträge Moralisches Risiko Managed Care Transferierbare Altersrückstellungen Risikostrukturausgleich Gesetz der zunehmenden Staatseingriffe Gesundheitsfonds Einheitspflichtbeitrag Zusatzbeiträge Vetospieler

Literaturverzeichnis G. A. Akerlof, The Market for ’Lemons’: Qualitative Uncertainty and the Market Mechanism, Quarterly Journal of Economics, Vol. 84 (1970), S 488–500. Ch. B. Blankart, E. R. Fasten und H. P. Schwintowski, Das deutsche Gesundheitswesen zukunftsfähig gestalten: Patientenseite stärken – Reformunfähigkeit überwinden, Berlin – Heidelberg: Springer Verlag, 2009. Ch. B. Blankart und E. R. Fasten, Drei Systeme des Gesundheitswesens im Vergleich, Potsdam, Friedrich Naumann Stiftung, 2009. M. Breuer und P. Zweifel, Weiterentwicklung des deutschen Gesundheitssystems, Gutachten im Auftrag des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller. M. Breuer und P. Zweifel, Plädoyer für risikogerechte Prämien in der Krankenversicherung, Wirtschaftsdienst, 83. Jg., Heft 2, S. 85–88. Fr. Breyer und W. Buchholz (2007), Ökonomie des Sozialstaats, Berlin – Heidelberg (Springer). Fr. Breyer, P. Zweifel und M. Kifmann, Gesundheitsökonomik, Berlin – Heidelberg (Springer) 5. Aufl. 2005. Fr. Breyer, P. Zweifel und M. Kifmann, Health Economics, Berlin – Heidelberg (Springer) 2. Aufl. 2009. J. B. Donges, J. Eekhoff, W. Franz, W. Möschel, M. J. M. Neumann und O. Sievert, Mehr Eigenverantwortung und Wettbewerb im Gesundheitswesen, Stiftung Marktwirtschaft Schriftenreihe: Band 39, Kronberg 2002. K. D. Henke, K. Borchardt, J. Schreyögg und O. Farhauer (2004), Eine Systematisierung der Reformvorschläge zur Finanzierung der Krankenversorgung in Deutschland, Journal of Public Health 12, S. 10–19.

333

334

19. Kapitel: Gesundheit und Krankenversicherung R. E. Leu und K. Beck (2007), Risikoselektion und Risikostrukturausgleich in der Schweiz, in: E. Wille, V. Ulrich und U. Schneider (Hrsg.): Wettbewerb und Risikostrukturausgleich im internationalen Vergleich, Beiträge zum Gesundheitsmanagement, 17, Baden-Baden (Nomos) 2007. W. F. Richter, Gesundheitsprämie oder Bürgerversicherung? Ein Kompromissvorschlag, Wirtschaftsdienst, 85, 2005, S. 693–697. Sachverständigenrat, Widerstreitende Interessen - Ungenutzte Chancen, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Wiesbaden (Statistisches Bundesamt) 2006. Sachverständigenrat, Das Erreichte nicht verspielen, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Wiesbaden: Statistisches Bundesamt 2007. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Kooperation und Verantwortung Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung, Bundestagsdrucksache 16-6339, 2007. J.-M. Graf von der Schulenburg, Selbstbeteiligung. Theoretische und empirische Konzepte für die Analyse ihrer Allokations- und Verteilungswirkungen, Tübingen (Mohr) 1987. R. Seitz, H.-H. König und D. Graf von Stillfried, Grundlagen von Managed Care, in: Managed Care – Ursachen, Prinzipien, Formen und Effekte, Stuttgart: Schattauer 1997. G. Tsebelis, Veto Players: How Political Institutions Work, Princeton (University Press und Russell Sage Foundation) 2002. S. Wolf, Pharmaceutical Expenditures in Germany, Baden-Baden (Nomos) 2008.

III. Teil Probleme der Finanzpolitik

No taxation without representation (Forderung der Neuenglandstaaten 1765)

20. Kapitel Mehrheiten schmieden A. Wann lohnt sich ein gemeinsames Vorhaben? Wenn zwei Individuen auf dem Markt tauschen, so haben sie offenbar Nutzen realisiert, ihre Lage hat sich verbessert. Lange Zeit war unklar, ob auch öffentliche Güter einen derartigen Nutzen stiften. Der schwedische Gelehrte Knut Wicksell hat 1896 gezeigt, dass dies auch bei öffentlichen Gütern, die gemeinsam finanziert werden, gilt. In seiner Dissertation von (1896) schreibt K. Wicksell: „Es wird folglich theoretisch und annäherungsweise auch praktisch immer möglich sein, eine solche Verteilung der Kosten zu vereinbaren, dass die betreffende Ausgabe, sobald sie überhaupt einen die Kosten überschreitenden Nutzen verspricht, allen Parteien als eine unzweifelhaft gewinnbringende erscheinen muss und insofern sogar einstimmig bewilligt werden könnte. K. Wicksell schreibt: Für jedes Projekt, das sich lohnt, gibt es auch eine einstimmigkeitsfähige Kostenaufteilung. Die Präferenzen bleiben nebeneinander bestehen. Sie brauchen nicht aggregiert zu werden. Im Beispiel von Tabelle 1 scheint Einstimmigkeit zunächst unmöglich. Die Nutzen der drei Wähler liegen zu weit auseinander. Doch wenn B bereit ist, das gemeinsame Projekt mit einer Seitenzahlung von je 2 an A und an C zu unterstützen, so ist Wicksells Einstimmigkeitstest erfüllt. Das Projekt lohnt sich. Die zustande gekommene Einstimmigkeit ist auch stabil. Sie kann nicht einstimmig umgeworfen werden. Tabelle 20.1: Einstimmigkeit nach der Wicksell-Regel Abgeordneter (Wähler)

Vorlage X Nutzen

A

–2

B

+5

C

–2



+1

338

20. Kapitel: Mehrheiten schmieden K. Wicksells Überlegung lässt sich auch auf Mehrheitsabstimmungen anwenden. Es gibt drei Individuen A, B, C und zwei Vorlagen X und Y. Keines der Individuen hat genügend Stimmen, um allein seine Idealvorlage X oder Y mit je +5 durchzusetzen. Aber sie können ihre Stimmen poolen und einander unterstützen. Erster Schritt. B und C unterstützen sich gegenseitig. B stimmt für X und C stimmt für Y. Zusammen setzen sie X und Y durch. A und B erhalten einen Gewinn von je 5 – 2 = 3, A verliert – 4. Zweiter Schritt. A sagt dem B lass die Koalition mit C. Wenn Du für X stimmst, stimme ich auch für X. Dann gewinnst Du 5 (mehr als nur 3 wie zuvor). Ich verliere – 2, was besser ist als –4 wie zuvor. Dritter Schritt. Verlierer C verbindet sich mit A. Sie vereinbaren beide X abzulehnen. Sie erleiden weder Gewinn noch Verlust A = 0; B = 0; C = 0. Dann kann das Spiel mit der Koalition zwischen B und C wieder beginnen usw. M. a. W.: Die Zyklizität des Arrow-Paradoxons lässt sich durch Tausch unter den Koalitionspartnern nicht überwinden. Tabelle 20.2: Stimmentausch Vorlagen

Abgeordneter (Wähler) X

Y

Nutzen im Fall der Annahme A

–2

–2

B

+5

–2

C

–2

+5



+1

+1

Quelle: Nach D. C. Mueller (2003)

B. Zusammenfassung des 20. Kapitels Ob sich ein Projekt lohnt, lässt sich an der einstimmigen Annahme erkennen – K. Wicksell schreibt: „Ist dies dagegen in keinerlei Weise zu erreichen, so liegt m. E. in diesem Umstande ein aposteriorischer und der einzig mögliche Beweis, dass die fragliche Staatsthätigket der Gesamtheit doch nur einen, dem notwendigen Opfer nicht entsprechenden, Nutzen bringen würde und deshalb rationellerweise verworfen werden muss.“ K. Wicksell (1896) S. 114.

B. Zusammenfassung des 20. Kapitels

Wichtige Begriffe des 20. Kapitels Einstimmigkeit führt immer zu effizienten Ergebnissen. Mehrheitliche Zustimmung lässt sich auch durch Seitenzahlungen an die Wähler erreichen. Aber das Ergebnis ist nicht notwendigerweise stabil, in der Instabilität erscheint das Unmöglichkeitstheorem von K.Arrow (1951).

Literatur zum 20. Kapitel K. Arrow, Social Choice and Individual Values, New York (Wiley) 1951. P. Bernholz, Logrolling Arrow Paradox and Cyclical Majorities, Publiz Choice 15 Summer 1973, S. 87–95. K.  Häuser, Abriss der Geschichte der öffentlichen Finanzwirtschaft, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, 3. Aufl., Bd. I, 1977, S. 3–51. P. Klemm, Haushaltsrecht, in: F. Klein, Hrsg., Lexikon des Rechts, Steuer- und Finanzrecht, Darmstadt (Luchterhand) 1986, S. 219–231. D. C. Mueller, Public Choice III, Cambridge (Cambridge Univ. Press) 2003. E. Nowotny, Der öffentliche Sektor, Berlin u. a. (Springer) 1987. http://www.bpb.de/themen/D8561K,0,0,Kandidatenaufstellung_(Kreiswahlvorschlag_ und_Landeslisten).html K. Wicksell, Finanztheoretische Untersuchungen, Jena, (Gustav Fischer) 1896.

339

[L’] économie politique doit prendre pour mesure de l’utilité d’un objet le sacrifice maximum que chaque consommateur serait disposé à faire pour se le procurer. J. Dupuit (1844)

21. Kapitel Nutzen­Kosten­Analyse A. Das Preissystem nachvollziehen Seit Friedrich August von Hayek wissen wir: Es gibt keinen Computer, der das Preissystem einer Volkswirtschaft ersetzen könnte; „Zehntausende von Menschen werden durch das Preissystem] veranlasst Material und Güter sparsam … einzusetzen.“ Kein staatlicher Planer könnte dieses Kalkül nachvollziehen (Hayek 1950). Finanzwissenschaftler haben Hayeks Botschaft erkannt und von einer Planwirtschaft Abstand genommen. Doch es bleibt die Frage: Was sollen wir mit Projekten tun, die wir z. B. wegen externer Effekte nicht privatisieren können oder wollen? Was soll mit den Anlagen der Infrastruktur, mit den Schienentrassen und Wasserwegen geschehen? Wie soll die Gesetzgebung des Staates beurteilt werden? Das Beste, was der Staat tun kann, ist die Logik des Marktes im Staat so gut wie möglich nachzuvollziehen. Diesem Ziel dient die NutzenKosten-Analyse (NKA). Die Nutzen-Kosten-Analyse ist eine Kunstlehre. Sie fragt: Wie sehen Investitionsentscheidungen aus, wenn so vorgegangen wird, als ob im Preissystem entschieden würde? Daher verlangt das Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG) in § 6 Absatz  2: „Für alle finanzwirksamen Maßnahmen sind angemessene Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen durchzuführen.“ Absatz 3 verlangt darüber hinaus: „In geeigneten Bereichen soll eine Kosten- und Leistungsrechnung [Nutzen-Kosten-Analyse] eingeführt werden.“ Es soll berechnet werden, ob sich ein Projekt wirtschaftlich lohnt, bevor es durchgeführt wird. Das Kapitel gliedert sich wie folgt: In den Abschnitten B bis F soll untersucht werden, wie Projekte mit dem Instrumentarium der Nutzen-Kosten-Analyse angegangen werden. Besonderes Gewicht wird auf die Probleme der Nutzenerfassung nach der marginalen Zahlungsbereitschaft (Abschnitte C, D und E) sowie auf die Wahl der Diskontrate (Abschnitt F) gelegt. Abschnitt G streift einige weitere Probleme, wie die Bewertung ungenutzter Ressourcen sowie

342

21. Kapitel: Nutzen­Kosten­Analyse die Verteilungswirkungen. In Abschnitt H erfolgt dann eine Einschätzung der Nutzen-Kosten-Analyse aus der Sicht der politischen Ökonomie. Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung in Abschnitt I.

B. Der Beitrag der privatwirtschaftlichen Investitionsrechnung zur Nutzen-Kosten-Analyse Ausgangspunkt der NKA ist die privatwirtschaftliche Investitionsrechnung: Eine Investition dann vorzunehmen, wenn ihr Kapitalwert K0 nicht negativ ist, d. h. wenn die Summe Rj aus abdiskontierten Zahlungseingängen minus abdiskontierten Zahlungsausgängen pro Periode j größer als null ist. Für ein Vorhaben mit anfänglichen Aufwendungen R0, einer Lebensdauer von n Jahren und einem Marktzinssatz i lässt sich schreiben: (21.1) K 0 = R 0 +

R1 R2 Rn + + + 1 + i (1 + i)2 (1 + i)n

Erfordert das zur Diskussion stehende Projekt beispielsweise Anfangsausgaben in der Höhe von 100, hat es eine Lebensdauer von 5 Jahren und beträgt der kalkulatorische Marktzinssatz 10 %, so sieht die Investitionsrechnung für die gegebenen Nettoerträge wie folgt aus: Tabelle 21.1: Kapitalwertberechnung Ende des Jahres

Investition

Nettoerträge

Abzinsungsfaktoren für i = 0,1

Nettogegenwartswerte

0 1 2 3 4 5

100 – – – – –

– 30 40 30 20 20

1,0 0,909 0,826 0,751 0,683 0,620

–100 27 33 23 14 12

Kapitalwert zum Zeitpunkt 0 = 

9

Aus dieser Übersicht lässt sich die entscheidende Bedeutung des Zinssatzes für die Beurteilung der Rentabilität von Investitionen erkennen. Erstens: je höher der Zinssatz, umso weniger lohnend wird ein Projekt. Zweitens: je langlebiger eine Investition, umso stärker wirkt sich eine Zinssatzänderung auf den Kapitalwert aus. Denn es sind vor allem die spät anfallenden Erträge, die vom Abzinsungsfaktor in ihrem Gegenwartswert stark gemindert werden.

C. Die Bewertung der Erträge nach der marginalen Zahlungsbereitschaft

C. Die Bewertung der Erträge nach der marginalen Zahlungsbereitschaft Grundsätzlich könnte bei der Entscheidung über staatliche Projekte gleichermaßen vorgegangen werden wie in Tabelle 21.1. Doch bei zwei dieser Größen gibt es Schwierigkeiten. Einmal steht nicht unmittelbar fest, was die Erträge sind. Denn die Leistungen von Brücken, Naturparks, Lärmschutzanlagen, Hochschulen usw. werden den Individuen nicht auf dem Markt zu Marktpreisen angeboten. Es handelt sich vielmehr um öffentlich bereitgestellte Güter. Die Präferenzen hierfür bleiben verhüllt. Zum anderen ist auch nicht ohne weiteres klar, welcher Zinssatz gewählt werden soll. Auf diese letztere Frage wird in Abschnitt F eingegangen. Was ist der Wert eines öffentlichen Projektes, z. B. eines Naturparks? Was ist die marginale Zahlungsbereitschaft, die ein Individuums für das zusätzlich in Angriff zu nehmende Projekt äußern wird? Der Leser stelle sich alle Naturparkprojekte eines Landes aufgereiht vor, zuerst diejenigen, die schon durchgeführt worden sind, dann jene, über die es noch zu beschließen gilt. Wie viel ist ein Individuum bereit, für einen zusätzlichen Park auszugeben? Offenbar hängt dies davon ab, wie oft er ihn voraussichtlich besuchen wird und wie viel er für einen solchen Besuch allenfalls bezahlen würde. Angenommen, er sei bereit, für den ersten Besuch 25  Euro, für den zweiten 20 Euro, für den dritten 15 Euro, für den vierten 10 Euro, für den fünften 5  Euro und für den sechsten 0  Euro zu bezahlen. Aus diesem Abfragen lässt sich für das Individuum eine Kurve der marginalen Zahlungsbereitschaft

Abbildung 21.1: Kurve der marginalen Zahlungsbereitschaft für ein Individuum und Konsumentenrente

343

344

21. Kapitel: Nutzen­Kosten­Analyse (Pseudonachfragekurve) konstruieren, wie sie in Abbildung  21.1 dargestellt ist. Es sei angenommen, dass die Zahlungen des Individuums nur einen vernachlässigbar kleinen Teil seines Gesamteinkommens ausmachen und dass zu den übrigen Gütern keine näheren Substitutionsbeziehungen bestehen. Dann repräsentiert der monetäre Wert der Fläche unter der Nachfragekurve, d. h. die Konsumentenrente, die gesamte Zahlungsbereitschaft für den zusätzlichen Naturpark. Sie beläuft sich im konkreten Fall auf 25 Euro + 20 Euro + 15 Euro + 10 Euro + 5 Euro = 75 Euro. Die genau gleiche Abfrage wäre jetzt für alle anderen Individuen zu veranstalten. Auch bei ihnen ist die Summe der einzelnen Zahlungsbereitschaften zu bilden. Alles zusammen ergibt dann den Wert, den die Individuen insgesamt dem zusätzlichen Naturpark zuordnen. Dieser ist den Kosten des Parks gegenüberzustellen. Aus der Differenz ergibt sich, ob der Park zusätzlich angelegt werden soll oder nicht. Man beachte die Art der Präferenzaggregation. Sie ist typisch nicht nur für dieses Beispiel, sondern für die Nutzen-Kosten-Analyse überhaupt. Zusammengezählt werden die von den Individuen selbst in Geld gewichteten Präferenzen (Wertschätzungen). Die Aggregation erfolgt also in Geldstimmen. So verlangt es ja auch der eingangs zitierte § 6 Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG). Demgegenüber werden in einer Demokratie die Wünsche der Individuen „demokratisch“, d. h. mit gleichen Stimmengewichten aggregiert. Die Nutzen-Kosten-Analyse ist also nicht eine politische Rechnung, und sie soll auch nicht eine politische Rechnung sein. Sie kalkuliert nach der Logik des Marktes, ist also eine Wirtschaftlichkeitsrechnung, wo sonst ein politisches Kalkül angewandt wird.

D. Ansatzpunkte zur Erfassung der marginalen Zahlungsbereitschaft 1. Spuren der marginalen Zahlungsbereitschaft Wie aber kann die marginale Zahlungsbereitschaft für eine zusätzliche staatliche Investition erfasst werden, wenn diese keine monetären Erträge abwirft, diese also ein öffentliches Gut darstellt? Mit der Beantwortung dieser Frage steht und fällt die praktische Relevanz der Nutzen-Kosten-Analyse. In der traditionellen Literatur zur Nutzen-Kosten-Analyse wird dieser Frage erstaunlich wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Hier sollen jedoch wenigstens einige Hinweise über mögliche Verfahren zur Erfassung der Konsumentenrente und damit der marginalen Zahlungsbereitschaft für ein zusätzliches Investitionsprojekt gegeben werden.1

1

Eine eingehende Darstellung verschiedener Methoden der Präferenzerfassung gibt W. W. Pommerehne (1982, 1987). Hier wird diesen Analysen weitgehend gefolgt. Die einzelnen Verfahren können jedoch nur angedeutet werden. Auch wird auf Literaturhinweise weitgehend verzichtet. Diese findet der Leser in den beiden angegebenen Studien. Einen Überblick über verschiedene Verfahren der Präferenzerfassung enthält auch die frühere Arbeit von N. Andel (1977) und jene von M. Faber (1988).

D. Ansatzpunkte zur Erfassung der marginalen Zahlungsbereitschaft Tabelle 21.2: Übersicht über die Ansatzpunkte und Verfahren zur Erfassung der Präferenzen für öffentliche Güter Direkte Präferenzerfassung

Indirekte Präferenzerfassung

Ableitung aus gesellschaftli­ chen Gleichge­ wichtszustän­ den

Wirtschaftlicher Bereich

Politischer Bereich

a) eingesparte Faktoren

f) Medianwähler­ ansatz

b) Substitutierbar­ keit und Kom­ plementarität c) Aufwand­ methode

i) individuelle Wohlfahrts­ funktionen

d) Marktpreis­ methode Ableitung aus Anpassungs­ prozessen

h) Feldexperi­ mente

e) Wanderungen

g) Volksabstim­ mungen

Quelle: W. W. Pommerehne (1987) nebst einigen eigenen Ergänzungen

Wenn sich der Ertrag der Investition nicht in monetären Transaktionen niederschlägt und somit die Wertschätzung nicht unmittelbar enthüllt wird, so finden sich doch häufig Spuren der Bewertung. Tabelle 21.2 gibt einen Überblick darüber, wo solche Spuren auftauchen können. Die Forschung unterscheidet zwischen indirekter und direkter Präferenzerfassung. Die letztere beruht auf Befragung und Experimenten, die erstere auf der Beobachtung des Verhaltens der Individuen. Hierbei wird zwischen dem Verhalten im Gleichgewicht und jenem im Ungleichgewicht, d. h. jenem nach und jenem vor erfolgter ökonomischer Anpassung, unterschieden. Diese beiden Formen des Verhaltens können wiederum im marktlichen oder im politischen Bereich angesiedelt sein. Im Folgenden sollen die Grundideen dieser Verfahren kurz vorgestellt werden.

2. Überblick über die verschiedenen Ansatzpunkte zur Erfassung der Wertschätzung a) Eingesparte Faktoren: Viele öffentliche Projekte bringen kein eigentlich neues Produkt hervor. Sie tragen nur dazu bei, dass bestehende private Güter kostengünstiger erzeugt werden können. Unternimmt der Staat beispielsweise ein landwirtschaftliches Forschungsprogramm, dessen Ergebnis in der Entwicklung eines neuen Saatgutes für Weizen besteht, das den Landwirten ohne Lizenzabgaben zur Verfügung gestellt wird, so lassen sich die Erträge nach der Logik von Abbildung 21.2 ohne weiteres ermitteln:2 Dort stellen N die Nach2

Angenommen seien vollständige Konkurrenz, Kreuzpreiselastizitäten von null und ein geringfügiges Ausgabenvolumen im Vergleich zum Gesamtbudget der Individuen.

345

346

21. Kapitel: Nutzen­Kosten­Analyse

Abbildung 21.2: Die Bewertung öffentlicher Güter, welche die private Unternehmungstätigkeit kostengünstiger gestalten

fragekurve nach Weizen, GKa die Grenzkosten mit dem alten Saatgut und GKn die Grenzkosten mit dem neuen Saatgut dar. Bei Einsatz des neuen Saatgutes sinken zum einen Kosten und Preis, zum anderen steigt die Menge. Der erstere Effekt bringt den Konsumenten einen Vorteil in der Höhe PRAM [(GKa–GKn) OX1], der letztere erhöht die Konsumentenrente im Umfang MAE (MAE lässt sich mit Hilfe der im 11.  Kapitel abgeleiteten Harberger-Formel berechnen). Insgesamt entspricht somit der Vorteil aus der Verwirklichung des staatlichen Forschungsprojekts der Fläche PRAE. b)  Substituierbarkeit und Komplementarität: Das oben dargestellte Verfahren zur Ermittlung der Wertschätzung für ein öffentliches Projekt ist nur deshalb so einfach, weil der Output in einem marktgängigen privaten Gut besteht. Bei öffentlichen Projekten ist dies aber in der Regel nicht der Fall. Gerade öffentliche Konsumgüter wie Freizeiteinrichtungen, öffentliche Sicherheitsvorkehrungen bei der Verbrechensbekämpfung oder im Verkehr lassen sich meist nicht an Marktpreisveränderungen bewerten. Dies hat die Ökonomen auf die Idee gebracht, statt des nicht beobachtbaren Nutzens öffentlicher Güter die Nachfrage nach nahen privaten Substituten und Komplementen zu untersuchen. Unternimmt beispielsweise eine Gemeinde hohe Anstrengungen zur Verbrechensbekämpfung, so braucht das einzelne Individuum dafür weniger Vorsorgemaßnahmen zu treffen, z. B. durch Anbringen von Schlössern, Alarmanlagen usw. Öffentliche und private Verbrechensbekämpfung sind so gesehen Substitute. Aus den Reaktionen der Individuen auf unterschiedliche Niveaus der staatlichen Kriminalitätsbekämpfung lässt sich dann auf deren Wertschätzung schließen. Analog kann bei Komplementen vorgegangen werden: Steigen beispielsweise die Aufwendungen des Staates für Naturparks, so wird u. U.

D. Ansatzpunkte zur Erfassung der marginalen Zahlungsbereitschaft auch die private Nachfrage nach Hilfsmitteln zur Nutzung dieser öffentlichen Parks wie z. B. Wander- und Campingausrüstungen, Fischereigeräten u. a. m. steigen. Dieser letztere Fall privater Komplemente soll im nächsten Abschnitt näher betrachtet werden. Der Nachteil dieser Verfahren liegt darin, dass nicht immer feststeht, ob die privaten Maßnahmen tatsächlich äquivalente Substitute darstellen, bzw. ob die betrachteten Komplemente ausschließlich und hinreichend umfassend gewählt sind. Lässt sich beispielsweise die öffentliche Verbrechensbekämpfung durch private Maßnahmen nicht vollständig substituieren, so gibt das private Substitut einen zu niedrigen Wert für das öffentliche Gut an. Stellt das betrachtete Komplement nicht ausschließlich eine Ergänzung dar, sondern dient es auch noch anderen Zwecken, so wird der Wert des öffentlichen Gutes überschätzt. Das Umgekehrte gilt, wenn es noch weitere, in der Studie nicht beachtete Komplemente gibt. c)  Aufwandmethode: Wenn auch der Eintritt z. B. in einen Naturpark frei ist, so entstehen den Besuchern doch oft Fahrtkosten und anderer Aufwand, weil sie dorthin gelangen müssen. Dieser private Aufwand kann als Indiz für die Wertschätzung für das öffentliche Gut herangezogen werden. Je mehr ein Individuum aufwendet, um in den Genuss der Naturschönheiten zu gelangen, desto mehr sind ihm diese offenbar wert. Steigen diese Kosten (z. B. mit der Entfernung vom Park), so geht seine Nachfrage nach dem öffentlichen Gut zurück. Aus dieser Überlegung lässt sich eine Kurve der marginalen Zahlungsbereitschaft bei alternativen „Preisen“ für das öffentliche Gut errechnen. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt darin, dass sich mit ihm eine vollständige Kurve der marginalen Zahlungsbereitschaft ermitteln lässt, während die meisten anderen Methoden nur punktuelle Informationen darüber zu liefern imstande sind. Andererseits entstehen aber doch schwerwiegende Probleme bei der Bewertung des Aufwands zur Erlangung des öffentlichen Gutes. Die vielfach notwendigen Fahrtkosten sind im Wesentlichen Zeitkosten, und es stellt sich die Frage nach der Bewertung dieser Zeit. Einfach den Lohnsatz als marginale Bewertung einer Freizeitstunde zu nehmen, ist nicht unbedingt gerechtfertigt. Denn es zeigt sich vielfach, dass (in Abweichung vom ökonomischen Verhaltensmodell) die direkten „out-of-pocket-costs“ höher bewertet werden als die Opportunitätskosten „verlorener“ Zeit. Im Weiteren werden normalerweise nicht alle Stunden eines Tages oder einer Woche gleich hoch bewertet. Schließlich ist noch zu bedenken, dass die in Rechnung gestellten Fahrten nicht uneingeschränkt als Aufwand zur Erlangung des öffentlichen Gutes interpretiert werden können. Die Fahrtkosten haben vielfach den Charakter verbundener Kosten. Sie dienen auch noch zum Besuch anderer Sehenswürdigkeiten oder sie stellen Konsum per se dar. Insofern als sich die verbundenen Kosten nicht unzweideutig aufgliedern lassen, können sie eben auch nur beschränkt zur Berechnung der Wertschätzung öffentlicher Güter herangezogen werden. d)  Marktpreismethode: Wenn auch für Umweltgüter wie reine Luft und Ruhe nicht direkt ein Preis bezahlt wird, so schlägt sich deren Qualität doch oft in den Preisen nieder, die die Individuen dafür bezahlen, um in Gebieten mit guter Umwelt zu wohnen. Die Immobilienpreise werden dort im Allgemeinen höher

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21. Kapitel: Nutzen­Kosten­Analyse sein als in Gebieten mit schlechter Umweltqualität (sie werden kapitalisiert). Ein Indikator für die Wertschätzung lässt sich daraus allerdings nur ableiten, wenn die Umweltqualität regionale Unterschiede aufweist und die Individuen zwischen den Regionen mobil sind. Bei ubiquitär schlechter Umweltqualität oder bei mangelnder Mobilität liegen keine oder nur geringe Immobilienpreisunterschiede vor, obwohl die Wertschätzung für eine bessere Umwelt beachtlich sein kann. e) Der Regressions-Diskontinuitäten-Ansatz kommt zur Anwendung, wenn: die betroffenen Individuen mit einem Sprung reagieren, sobald ein exogener Schwellenwert überschritten wird. Aus dem Sprung lässt sich dann auf die Wohlfahrtwirkung (die sonst nicht aufgetreten wäre) abschätzen (L. Wössmann et al 2014). f)  Wanderungen: Wirtschaftliche Ungleichgewichte lösen Wanderungen aus. Seit jeher sind Menschen aus Gebieten wirtschaftlicher Armut in Gebiete wirtschaftlicher Prosperität ausgewandert (Flüchtlinge im 5. Kapitel). Relativ neu ist dagegen die Überlegung, dass auch die Qualität öffentlicher Güter, etwa die von den Gemeinden bereitgestellte Infrastruktur, solche Wanderungsbewegungen nach sich ziehen kann. Schon vor mehr als 60 Jahren hat Ch. M. Tiebout (1956) geschrieben, dass sich Menschen ihren Wohnort nach ihrer relativen Präferenz für Infrastrukturleistungen aussuchen (komparativ statische Betrachtung). Verändern sich diese Infrastrukturleistungen, so werden Wanderungen ausgelöst (dynamische Betrachtung). Es findet eine „Abstimmung mit den Füßen“ statt. Somit lässt sich sagen, dass Wanderungen ein Indiz für die Wertschätzung öffentlicher Güter darstellen. Insofern als sich diese Unterschiede in den Immobilienpreisen niederschlagen, hat diese Methode einen ähnlichen Charakter wie die vorher betrachtete Marktpreismethode; nur ist sie umfassender. Sie beinhaltet alle Wanderungsmotive der Bürger. Darin liegt gleichzeitig eine ihrer Schwächen: Wenn Wanderungen durch eine Vielzahl von Faktoren (so auch durch das Angebot an Arbeitsplätzen) verursacht werden, so ist es oft schwierig, die eigentlichen ÖffentlichenGut-Motive aus den übrigen Wanderungsgründen herauszufiltern. g)  Medianwähleransatz: Im 7. Kapitel ist das Medianwählermodell als Erklärungsansatz für kollektive Entscheidungen über öffentliche Güter herangezogen worden. Ihm liegt die Überlegung zugrunde, dass nach einer hinreichend großen Zahl von Abstimmungen, bzw. nach vorher erfolgten Abschätzungen der wahrscheinlichen Mehrheitsverhältnisse, letztlich jener Wähler den Ausschlag über die tatsächliche Bereitstellung des öffentlichen Gutes gibt, der gleich viele Stimmen über sich wie unter sich hat. Dies ist der Medianwähler. Er befindet sich hinsichtlich seiner Zahlungsbereitschaft und dem von ihm eingeforderten Steuerpreis im Gleichgewicht. Infolgedessen kann die beschlossene Preis-Mengen-Kombination als Punkt auf der Kurve der marginalen Zahlungsbereitschaft des Medianwählers aufgefasst werden. Diese Information lässt sich dann für die Abschätzung von Nutzen und Kosten ähnlich gelagerter Infrastrukturprojekte verwenden. Das Medianwählermodell ist für Gemeindeausgaben umfassend überprüft worden. Mit ihm konnten erstmals Werte für Preis- und Einkommenselastizitäten empirisch geschätzt werden (vgl. Tabelle 10.1). Darüber hinaus kommen in

D. Ansatzpunkte zur Erfassung der marginalen Zahlungsbereitschaft der Medianwählernachfrage nicht nur die unmittelbaren Nutzenerwägungen zum Ausdruck, sondern auch Options- und Vermächtniswerte, die die Individuen einem Objekt zuordnen. Bei Options- und Vermächtniswerten sind die Bürger bereit, einen Beitrag zu bezahlen, um sich bzw. ihren Nachfahren die Möglichkeit einer Nutzung offen zu halten. Derartige Überlegungen spielen z. B. bei der Erhaltung von Kunstwerken eine wichtige Rolle. Die Nachteile des Medianwählermodells sind im Wesentlichen aus der früheren Analyse schon bekannt. Es sind die restriktiven Annahmen, die für seine Geltung erfüllt sein müssen, so z. B. das Erfordernis eingipfliger Präferenzen, die Absenz von Stimmentausch und die praktizierte direkte Demokratie. Nur unter diesen Annahmen lässt sich ein Abstimmungsergebnis als Medianwählergleichgewicht interpretieren. h)  Volksabstimmungen: Etwas anders als Medianwählerabstimmungen sind Ergebnisse von Volksabstimmungen zu interpretieren. Hier geht es in der Regel um vereinzelt auftretende Probleme wie z. B. die Billigung eines Kredits zum Bau oder Kauf eines Objektes oder zur Unterstützung eines öffentlichen Unternehmens. Die in diesen Einzelfällen oft auftretenden hohen Annahme- oder Ablehnungsraten deuten darauf hin, dass den Abstimmungen anders als im Medianwählermodell unterstellt kein (impliziter) Suchprozess vorangegangen ist, in welchem jene Vorlage ermittelt wird, die gerade noch die Zustimmung des Medianwählers findet. Es liegt hier vielmehr eine politische Ungleichgewichtssituation (pro oder contra) vor. Für die Bewertung öffentlicher Güter ist dann von Interesse, welche Faktoren eine Zustimmung bzw. Ablehnung begünstigen bzw. erschweren (so z. B. Einkommen, Bildung, erwartete Steuermehr- oder -minderbelastung, Fahrtkosten usw.). Weil vom Erfordernis eines politischen Gleichgewichts abstrahiert wird, ist die Analyse von Volksabstimmungen weniger ambitioniert als die Interpretation des Medianwählermodells. Freilich hat die Analyse von Volksabstimmungen dafür auch Nachteile: Nicht alle Stimmbürger gehen zur Abstimmung bzw. sind, wenn sie abstimmen, über das Vorhaben hinreichend informiert. i) Feldexperimente: In der Regel sind Ökonomen der Ansicht, dass die Präferenzen für öffentliche Güter nur indirekt, aus dem Verhalten heraus ermittelt werden können. Denn bei direkten Befragungen haben Individuen einen Anreiz, sich strategisch zu verhalten. Jene, die bei einer gegebenen Pro-Kopf-Steuerzahlung eine überdurchschnittliche Nachfrage haben, werden diese übertreiben, und jene, die sich durch eine unterdurchschnittliche Nachfrage auszeichneten, werden entsprechend untertreiben. Um diesen Effekt möglichst zu umgehen, sind so genannte Feldexperimente entwickelt worden, in denen die Individuen iterativ gefragt werden, was ihnen bestimmte Verbesserungen z. B. der Luftqualität wert sind. Mögliches strategisches Verhalten wird dadurch eingegrenzt, dass für die gleiche Frage der einen Kontrollgruppe eine Zahlungsverpflichtung in Aussicht gestellt wird, der andern diese als unwahrscheinlich dargestellt wird und der dritten diesbezüglich eine ungewisse Situation geschildert wird.3 3

Für eine Anwendung dieses Verfahrens auf die Luftqualität in Berlin vgl. W. Schulz (1985).

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21. Kapitel: Nutzen­Kosten­Analyse Auf diese Weise wird es möglich, die verschiedenen Antworten einzugrenzen und eine mittlere, möglichst unverzerrte Wertschätzung zu ermitteln. Feldexperimente haben den Vorteil der Kontrollierbarkeit der Bedingungen und der Eingrenzbarkeit der Antworten. Sie sind relativ leicht zu veranstalten und daher auch zunehmend beliebt. Als Nachteil bleibt festzuhalten, dass der Budgetbeschränkung der Individuen nur andeutungsweise Rechnung getragen wird und dass es infolgedessen zu übermäßig viel angeblich präferierten Projekten kommen kann. k) Individuelle Wohlfahrtsfunktionen: Mit der Befragungsmethode wird auch versucht, individuelle Wohlfahrtsfunktionen zu ermitteln, d. h. individuelle Indifferenzkurven zwischen dem privaten Gut Einkommen und einem öffentlichen Gut, z. B. Luftqualität, abzuleiten. Gefragt wird nach dem persönlichen Wohlbefinden bei bestimmten Einkommens- und Umweltkombinationen. Eine typische Antwort lautet z. B.: „Meine Lage schätze ich als ausgezeichnet ein, wenn mein Einkommen X Euro und die Luftqualität einen Index von 100 (dargestellt an Beschreibungen, Photos u. Ä.) erreicht. Sehr schlecht ist sie dagegen, wenn das Einkommen nur Y Euro (Y P8) verlangt und ein Teil der Investitionen irreversibel ist, so könnte ein auf ein einziges Gut spezialisierter Wettbewerber zwar schon mit einem Gegenangebot von 10 für X oder 8 für Z auftreten, er müsste aber damit rechnen, dass das etablierte Unternehmen mit einer Preisreduktion auf 7 für Gut X bzw. 5 für Gut Z reagiert. Der Markteindringling ginge dann des Ertrags seiner vorherigen (irreversiblen) Investitionen verlustig. Das Problem wäre nicht wesentlich anders, wenn der Eindringling auf beiden Märkten X und Z z. B. mit einer Preiskombination (8/7) gleichzeitig auftreten würde. Das öffentliche Unternehmen würde dann nachziehen, so dass insgesamt wegen der Überkapazität zweier mit versunkenen Kosten anbietenden Unternehmen nicht viel Gewinn zu machen wäre. Unter dieser Perspektive wird ein Außenseiter möglicherweise gar nicht auftreten, so dass die monopolistische Preisstruktur (11/9) des etablierten öffentlichen Unternehmens erhalten bleibt und dieses

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22. Kapitel: Öffentliche Unternehmen somit als politisches Instrument einsetzbar ist. Monopolmacht wird also mit Art. 106 Abs. 2 des Lissabon-Vertrags nicht völlig verdrängt.

5. Teilmonopol, verbundene Kosten Zusammenfassend lässt sich die Frage stellen: Hat der genannte Art. 106 Abs. 2 des EU-Vertrags etwas gebracht? Hat die EU-Wettbewerbsregel Monopolpreise aus den öffentliche Unternehmen verbannt? Hierzu ist hypothetisch der Zustand vorher (unter Monopol) mit dem Zustand nachher (unter Wettbewerb) zu vergleichen. Nehmen wir an, das Angebot des Gutes X unseres Zweiproduktunternehmens sei (wie unter der Daseinsvorsorge) durch Gesetz völlig monopolisiert, aber das öffentliche Unternehmen muss Gut Z zu Unterkostenpreisen anbieten. Das öffentliche Unternehmen kann dann bis zur Grenze seiner Monopolgewinne den Betrieb der Linie Z subventionieren. Linie Z braucht dann auch nicht mehr ihre Zusatzkosten zu decken. Effizient ist eine solche Preispolitik nicht. Aber sie kann wählerwirksam sein. Z. B. wird gesagt, die Leistung von Z müsse als „Universaldienst“ zu „erschwinglichen Preisen“ erhältlich sein und daher aus den Erträgen anderer Leistungen intern subventioniert werden. Die Kosten einer solchen Politik zeigen sich erst langfristig. Denn durch Monopolisierung und Subventionierung wird auch der Wettbewerb um Produkt- und Prozessinnovationen entmutigt. Für potentielle Wettbewerber, die über ein besseres Produkt oder eine bessere Produktionstechnik verfügen, lohnt es sich nämlich so lange nicht, in den Markt einzudringen, als das etablierte Angebot wegen seiner Monopolisierung plus interner Subventionierung nicht verdrängt werden kann. Die Gefahr einer solchen internen Subventionierung lässt sich am Beispiel der Telekommunikation illustrieren. Vor der Deregulierung der 1980er und 1990er Jahre war die Deutsche Telekom wegen ihres faktisch damals bestehenden Netzmonopols im Ortsbereich in der Lage, Telekommunikationsdienste und -endgeräte, die sie selbst anbot, aus den Gewinnen des Netzbetriebs zu subventionieren und dadurch den möglichen Wettbewerb gegenüber anderen Unternehmen, die nur Dienste oder Endgeräte anboten, zu erdrosseln. Ein solches Verhalten war in einem technologisch progressiven Bereich wie der Telekommunikation unerwünscht.4 Allerdings bewirkte der technische Fortschritt eine langsame Aushöhlung des Monopols im Ortsbereich. Der Wettbewerb setzte sich immer mehr auch vor Ort durch. Mittlerweile zieht der Wettbewerb auch auf der Strecke vom Hauptverteiler (HVZ) zum Kabelverteiler (KVZ) ein. Die dortigen Leerrohre sind für Glasfasernetzbetreiber zugänglich geworden. Zwar bleibt das Leerrohr als natürliches Monopol bestehen. Da aber der Zugang zu ihm gewährt werden muss, entfällt die in ihm liegende örtliche Monopolmacht.5 4

5

Der hier behandelte Monopolisierungseffekt kann sich mit dem Effekt von versunkenen Kosten kumulieren und somit die mögliche Konkurrenz noch weiter zurückdämmen. Somit bleibt noch die Strecke vom KVZ zum Haushalt als mögliche Quelle eines Monopols. Doch mit diesem lässt sich kaum noch eine Politik der Marktbeherrschung betreiben. Die erfolgreiche Regulierung des Netzzugangs erlaubt es, Breitbandinternet

C. Zusammenfassung des 22. Kapitels Ohne die EU-Gesetzgebung hätte hierzu keine Veranlassung bestanden. Insofern hat die Europäische Kommission durch die Deregulierung der Daseinsvorsorge einen wichtigen Beitrag zum Wettbewerb geleistet.

C. Zusammenfassung des 22. Kapitels Das Ausmaß, in dem öffentliche Unternehmen interne Subventionierung betreiben und dadurch für politische Interessen tätig werden können, hängt im Wesentlichen von fünf Faktoren ab: •• •• •• ••

den Marktzutrittsschranken, den Marktaustrittsschranken, verbundenen Kosten, der Information über zukünftige Kosten und Nachfragen insbesondere zu Spitzenzeiten, •• der Teilmonopolisierung. Besteht freier Marktein- und -austritt und gibt es keine verbundenen Kosten, so hat ein öffentliches Unternehmen kaum einen Spielraum, interne Subventionierung zu betreiben und dadurch zum politischen Instrument zu werden. Sein allfälliges Monopol ist in diesem Fall bestreitbar. Im Bereich der Deutschen Telekom hat die EU-Gesetzgebung die frühere interne Subventionierung verunmöglicht und Wettbewerb ermöglicht. Gefahren monopolistischer Preisgestaltung bleiben bestehen, wenn Nachfrage und Kosten nicht vorhersehbar sind, stark schwanken und unverhofft Engpässe und Monopolsituationen auftreten. Das trifft im Elektrizitätsbereich zu. Kapazitätsmärkte können dort Gefahren monopolistischer Ausbeutung vermindern, werden aber von der Politik gegenwärtig abgelehnt.

Wichtige Begriffe des 22. Kapitels Interne Subventionierung Marktzutrittsfreiheit Marktaustrittskosten Verbundene Kosten Zunehmende Skalenerträge Natürliches Monopol Ramsey-Preise Rosinenpicker und andere VDSL-Dienste wettbewerblich anzubieten. Je nach Nachfrage können unterschiedliche Qualitäten zu unterschiedlichen Preisen angeboten werden. Noch ist offen, welche Dienste und Preise sich im Wettbewerb durchsetzen werden. Gefahr droht von Interessengruppen, die staatliche Regulierungen in das neue (derzeit in der Beschlussfassung befindliche) Telekommunikationsgesetz einbauen möchten, um ihre Internetdienste in der altvertrauten Form zu retten und dadurch das Potential der neuen Errungenschaften in Frage zu stellen (Ch. B. Blankart, G. Knieps und P. Zenhäusern, 2007).

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22. Kapitel: Öffentliche Unternehmen Verbundvorteile Kriterium der globalen Kostendeckung Stand-alone-Kostentest Zusatzkostentest Spitzenlastpreise Versunkene Kosten Teilmonopol Universaldienst Deregulierung

Literatur zum 22. Kapitel S. V. Berg und J. Tschirhart, Natural Monopoly Regulation, Principles and Practice, Cambridge (Cambridge Univ. Press) 1988. Ch. B. Blankart, Ökonomie der öffentlichen Unternehmen, München (Vahlen) 1980. Ch. B. Blankart, Modelle der Daseinsvorsorge aus EG-rechtlicher und ökonomischer Sicht, in: Wirtschaft und Wettbewerb, Jg. 52, No. 4, 2002, S. 340–352. Ch. B. Blankart, Towards an Economic Theory of Advice and its Applications to the Deregulation Issue, in: Kyklos, Vol. 34, Fasc. 1, 1981, S. 95–105. Ch.  B.  Blankart, W.  W.  Pommerehne und F.  Schneider, Warum nicht reprivatisieren? In: M.  Neumann, Hrsg., Ansprüche, Eigentums- und Verfügungsrechte, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F. Bd. 140, Berlin (Duncker und Humblot) 1984, S. 221–246. Ch. B. Blankart und G. Knieps, What Can We Learn From Comparative Institutional Analysis? The Case of Telecommunications, in: Kyklos, Vol. 42, Fasc. 4, 1989, S. 579–598. Ch.B. Blankart, G. Knieps und P. Zenhäusern, Regulation of New Markets in Telecommunications: Market Dynamics and Shrinking Monopolistic Bottlenecks, in: European Business Organization Law Review (EBOR), vol. 8, 3/2007. D. Bös, Sozialtarife öffentlicher Unternehmen, in: K. Korinek, Beiträge zum Wirtschaftsrecht, Wien (Wirtschaftsverlag Dr. Anton Orac) 1983, S. 1025–1038. D.  Bös, Public Enterprise Economics, Theory and Application, Amsterdam u. a. (North Holland) 2. Aufl. 1989. J. Borrmann und J. Finsinger, Markt und Regulierung, München (Vahlen) 1999. G. Knieps, Zur Problematik der internen Subventionierung in öffentlichen Unternehmen, in: Finanzarchiv, N. F., Bd. 45, Heft 2, 1987, S. 268–283. G. Knieps, Wettbewerb in Netzen, Reformpotentiale in den Sektoren Eisenbahn und Luftverkehr, Tübingen (Mohr) 1996. G. Knieps, Wettbewerbsökonomie, Regulierungstheorie, Industrieökonomie, Wettbewerbspolitik, Berlin u. a. (Springer) 2. Aufl. 2005. G. Knieps, Netzökonomie, Wiesbaden (Gabler) 2007. S. Peltzman, Towards a More General Theory of Regulation, in: Journal of Law and Economics, Vol. 19, No. 2, 1976, S. 211–240. P. O. Steiner, Peak Loads and Efficient Pricing, in: Quarterly Journal of Economics, Vol. 71, No. 4, 1957, S. 585–610; deutsch: Belastungsspitzen und effiziente Preisbildung, in: H. C. Recktenwald, Hrsg., Finanzpolitik, Köln, Berlin (Kiepenheuer und Witsch) 1969, S. 410–421. G. Stigler, The Theory of Economic Regulation, in: Bell Journal of Economics and Management Science, Vol. 2, No. 1, 1971, S. 137–146. Th. Thiemeyer, Wirtschaftslehre öffentlicher Betriebe, Reinbek (Rororo) 1970. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft (2013), Langfristige Steuerung der Versorgungsicherheit im Stromsektor, Berlin BMWi 2013. Wissenschaftlicher Beirat beim BMWi, Kapazitätsmärkte, Berlin 2014.

Innerhalb der öffentlichen Verwaltung hat sich die Vergabe öffentlicher Aufträge, insbesondere die Bauvergabe, als besonders korruptionsgefährdet herausgestellt. Christian Schramm, Oberbürgermeister von Bautzen 2003

23. Kapitel Öffentliche Aufträge A. Private Werte und gemeinsame Werte (Private Values und Common Values) Ein Gemälde eines unbekannten Künstlers wird an den Meistbietenden versteigert. Einigen Bietern gefällt das Bild mehr, anderen weniger. Schließlich geht das Bild an den Bieter des höchsten Gebots. Er bietet den Reservationspreis nach seinem privaten Wert (private value). Seine Wertschätzung ist mindestens so groß wie sein Gebot. Die Auktion endet im Gleichgewicht. Kein Bieter sieht einen Anlass, sein Gebot zu revidieren. Bei Auktionen zum gemeinsamen Wert (common value) ist das genau umgekehrt. Der Höchstbietende bezahlt den Preis, weil er darauf spekuliert, das Bild später zu einem höheren Preis weiterverkaufen zu können. So denkt auch ein Mitbieter. Er möchte dem ersten Bieter das Bild abluchsen, indem er etwas über seinem Reservationspreis bietet. Sobald der erste Bieter davon Kunde erhält, wird er versuchen den Bieterpreis ebenfalls zu erhöhen usw. Das Ergebnis der Auktion ist ein Ungleichgewicht. Auch öffentliche Ausschreibungen lassen sich als Auktionen verstehen. Es geht beispielsweise um die Frage, welcher Bauunternehmer eine Straße zu welchem Preis instand setzen soll. Weil jeder Bieter einen möglichst großen Gewinn erzielen möchte, handelt es sich auch bei dieser Ausschreibung um eine common value-Ausschreibung. Ihre Eigenschaften werden in Abschnitt B beschrieben. Abschnitt C geht auf die Ausschreibungsverfahren in Deutschland und in der Europäischen Union ein. D behandelt vergabefremde Ziele, E alternative Bieterverfahren, F Public Private Partnership, G zeigt die Bedeutung guter Rahmenbedingungen. H fasst das Kapitel zusammen.

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23. Kapitel: Öffentliche Aufträge

B. Probleme bei Common Value-Auktionen 1. Der Fluch des Gewinners Ein Malermeister soll einmal folgende Geschichte erzählt haben:1 „Meistens arbeite ich für einen festen Stamm privater Kunden, die ich seit langen Jahren kenne. Meine Schätzungen über die wahrscheinlichen Kosten pro Auftrag für diese Kunden haben sich erfahrungsgemäß als ungefähr richtig erwiesen: manchmal etwas zu hoch, manchmal etwas zu tief, aber im Durchschnitt richtig. Gelegentlich, wenn die Auftragslage schlecht und die Konkurrenz härter ist, nehme ich an staatlichen Ausschreibungen für größere Arbeiten teil. Aber diese Aufträge sind anders. Sie verursachen stets höhere Kosten, als ich erwarte.“ Der oberflächliche Zuhörer würde diese Geschichte als persönlich geprägten Eindruck des Malermeisters abtun und erwarten, dass bei einer größeren Stichprobe von Befragten der Unterschied zwischen privaten Aufträgen und staatlichen Ausschreibungen verschwindet. Eine nähere Betrachtung zeigt aber, dass der Malermeister gar nicht so unrecht hat. Nehmen wir an, alle Bieter i einer Ausschreibung seien gleich fähig und könnten einen gegebenen Auftrag zu den gleichen Kosten k ausführen. Aber sie seien sich ex ante nicht ganz im Klaren darüber, wie hoch diese Kosten tatsächlich sein werden. Es gibt einen gemeinsamen Wert k (common value), den aber keiner genau kennt. Einige schätzen den common value (die Kosten) zu hoch, andere zu tief; die Irrtümer, die sie dabei begehen, seien voneinander unabhängig. Für die individuellen Gebote bi gilt somit: (23.1) bi = k ± ei. Grundlage der Gebote sind also die wahren Kosten k. In graphischer Darstellung werden die Gebote der Bieter z. B. wie in Abbildung 23.1 dargestellt verteilt sein. Der entscheidende Punkt ist der folgende: Wenn alle Bieter die gleichen Kosten haben, so führt das Niedrigstpreisverfahren zur Auswahl eines fehlerhaft, zu tief kalkulierten Angebots. Der Bieter, der den Zuschlag erhält, wird daher mit Verlust abschließen. Sind auch die Kosten unterschiedlich, so kann das Niedrigstpreisverfahren im Weiteren dazu führen, dass ein ineffizienter Anbieter (d. h. ein Anbieter mit vergleichsweise hohen Kosten), der aber seine Kosten zu gering geschätzt hat, zum Zuge kommt. Individuelles Rationalverhalten scheint also hier zu kollektiver Irrationalität zu führen. Der Ökonom ist geneigt, auf Marktversagen zu schließen. Doch diese Schlussfolgerung ist voreilig. Ein erfahrener Bieter gäbe nämlich dem Malermeister unseres Beispiels folgenden Ratschlag: „Was Sie hier beschreiben, ist der so genannte ,Fluch des Gewinners’ (winner’s curse). Wenn Sie die Kosten überschätzen, werden Sie die Ausschreibung verlieren, wenn Sie gewinnen, dann ist es, weil Sie die Kosten unterschätzt haben. Um dem Fluch des Gewinners zu entgehen, müssen Sie in Ihre Kosten einen Sicherheitsaufschlag einkalkulieren. Sie drängen damit die 1

Nach P. Milgrom (1989) mit leichter Modifikation.

B. Probleme bei Common Value­Auktionen Anzahl Bieter



k niedrigstes Gebot

wahre Kosten

+ Gebote

Abbildung 23.1: Verteilung der Gebote bi bei voneinander unabhängigen Schätzfehlern

anderen in die Position des Fluchs des Gewinners und geben diesen Anreize, ihr Bieterverhalten das nächste Mal ebenfalls zu revidieren. Auf diese Weise findet ein gegenseitiges Lernen statt, das die Gefahr des Fluchs des Gewinners nicht ausschließt, aber doch vermindert.“ Der Ökonom schließt daraus: Es gibt also Strategien, die den Bietern helfen, langfristig aus der misslichen Lage des Fluchs des Gewinners herauszukommen. Die Bieter können lernen ihr Verhalten durch wechselseitige Anpassung verbessern, wodurch der Fluch des Gewinners allmählich vermieden wird. Nicht alle Ökonomen teilen diese Meinung. Der Ökonom-Soziologe R. H. Thaler (1988) kommt zum Ergebnis, dass das Lernen in Experimenten nicht oder nur sehr langsam stattfindet, dass also eine sogenannte Anomalie des Marktpreissystems vorliegt. Andere Studien finden, dass Lernen bei Auktionen durchaus erfolgt2 und der Fluch des Gewinners allmählich verschwindet. Eines gilt jedoch als sicher: Der Staat kann als Kontraktgeber die Gefahr des Fluchs des Gewinners fördern oder hemmen. Mit seiner Informationspolitik erleichtert oder erschwert er den Kontraktnehmern, die wahren Kosten des Auftrags treffsicher zu schätzen. Eine wirklichkeitsnahe Projektdarstellung durch den Staat als Aufraggeber zahlt sich hierbei in zweierlei Hinsicht aus: Sie vermindert bei gegebenen Risikozuschlägen der Bewerber die Gefahr des Fluchs,

2

Der Leser sollte bei der Übertragung von Laborergebnissen auf die Wirklichkeit vorsichtig sein. In einer Studie haben D. Dyer, J. H. Kagel und D. Levin (1989) gezeigt, dass Kostenschätzungen bei Geboten in Laborsituationen anders ausfallen als in wirklichen ökonomischen Entscheidungssituationen. Müssen Manager in Laborsituationen Gebote abgeben, so erscheint das Problem des Fluchs des Gewinners. Es verschwindet aber, wenn die gleichen Manager bei Bauaufträgen mit realen ökonomischen Entscheidungen konfrontiert werden. Ein Lernen über das Problem des Fluchs des Gewinners scheint dann (auch bei Wettbewerb) möglich.

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23. Kapitel: Öffentliche Aufträge bzw. sie erlaubt bei gegebener Gefahr des Fluchs ein aggressiveres Bieten und reduziert damit die vom Staat aufzubringenden Projektkosten.3 Der Fluch des Gewinners entsteht, weil es ein Ausreißer-Unternehmen gibt, das sich in der Kalkulation verrechnet und daher zu tief bietet. Wären annahmegemäß alle Bieter identisch und in unendlich großer Zahl vorhanden, so könnte jeder von andern lernen. Es gäbe keinen Ausreißer, und es käme nicht zum Fluch des Gewinners.

2. Selbstkostenerstattungspreise Bisher haben wir angenommen, dass die zu erstellende Leistung stets genau definiert ist; es ging z. B. um den Anstrich eines Hauses mit witterungsbeständiger Farbe. Als Kontraktpreis lässt sich ein Festpreis vereinbaren. Es gibt aber Fälle, in denen die Leistung bekannt, aber die erforderliche Arbeit verhüllt ist, z. B. bei einem Karosserieschaden eines Autos wird ein Selbstkostenpreis vereinbart. O. E. Williamson (1975) gibt zu bedenken, dass der Auftragnehmer dann einen Anreiz hat, sich opportunistisch zu verhalten, d. h. höhere Kosten als die erforderlichen Mindestkosten zu berechnen. Bei vielen Aufträgen ist am Anfang nicht einmal die Leistung bekannt. Das Gut, das der Staat beschaffen möchte, existiert noch gar nicht, es muss erst entwickelt werden. Solche Ausschreibungen gibt es insbesondere im militärischen Beschaffungswesen, wenn ein neues Waffensystem entwickelt werden soll. Was die zu erbringende Leistung sein soll, ergibt sich dann erst im Laufe des Vertrags. Ein Festpreis ist unmöglich. Er wäre zum Scheitern verurteilt. Kein seriöser Bieter würde sich melden. An seine Stelle treten Kostenerstattungsverträge. Doch diese eröffnen dem opportunistischen Verhalten Tür und Tor. Bei militärischen Beschaffungsvorhaben ist auch die Bürokratie (Verwaltung) ein Mitspieler. Oft kommt es zu neuartigen Koalitionen. Auftragnehmer und Bürokratie haben schon vor der Auftragsvergabe ein gemeinsames Interesse daran, dass „ihr“ Projekt die Hürde des Budgetbewilligungsprozesses passiert. Diese Hürde lässt sich oft dadurch senken, dass der mutmaßliche Mittelbedarf zu niedrig angegeben wird. Auf diese Weise wird eine Fuß-in-der-Tür-Politik verfolgt. Gelingt diese Taktik, so sind nachherige Kostenüberschreitungen vorprogrammiert. Auch Vorhaben von Forschungsinstitutionen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) werden als Kostenerstattungsverträge vergeben. Auch bei diesen liegt der Output weitgehend im Dunkeln. Beispielweise soll das Verhalten von Spielern in einem Ultimatum-Spiel erforscht werden. Was das Spiel erbringt, ist unerheblich. Auch können sich die Spieler nicht richtig oder falsch verhalten. Es kommt nur darauf an, wie sie das Spiel spielen. Herauszufinden, wie sie spielen, ist die Leistung der Forschung. Die Forschungsinstitution rechtfertigt ihre Entscheidung am Input, d. h. an den Projekten, die sie vergibt. Wo der Output nicht messbar ist, wird der Input zum Ersatz-Output. 3

Dies kommt freilich auch dem staatlichen Auftraggeber zugute. Für ihn sinkt die Gefahr, dass das Projekt in einem Debakel endet.

C. Die Regeln der Auftragsvergabe in der Bundesrepublik Deutschland

3. Bieterkartelle Nach Schätzungen der Prognos AG aus den 70er Jahren sind die Hälfte bis zwei Drittel aller Bauaufträge von Absprachen betroffen. Ähnliche Größenordnungen werden heute noch genannt. Im öffentlichen Bereich mag der Anteil der Absprachen noch höher liegen. Dies erstaunt, werden doch Bauvorhaben der öffentlichen Hand im Prinzip über Ausschreibungen, also im Grundsatz wettbewerbsmäßig vergeben. Die hohe Zahl der Kartellabsprachen lässt sich, wie wir sehen werden, zum großen Teil auf die Besonderheiten der Vergabevorschriften zurückführen. Aber schon in der Ausschreibung selbst liegt der Hang zum Kartell. Die Ausschreibung an sich ist kartellfreundlich im Vergleich zum Tausch auf dem Markt. Auf privaten Märkten sind Kartelle oft deswegen schwer zu bilden, weil die Leistungen heterogen sind und die letztlich bezahlten Preise nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Anders bei öffentlichen Ausschreibungen: Hier muss die Leistung genau spezifiziert werden. Die Anbieter brauchen sich also, wenn sie eine Kartellabsprache treffen wollen, nur über eine Komponente der Leistung, nämlich den Preis zu einigen. Dieser wiederum wird offen gelegt, sobald der Zuschlag erfolgt. D. h. ein Kartellbrecher kann eindeutig identifiziert und von den anderen Kartellmitgliedern bestraft oder wenigstens schikaniert werden. Als Fazit lässt sich festhalten: Ausschreibungen dienen zwar dazu, den Wettbewerb im staatlichen Beschaffungswesen zu organisieren; aber sie garantieren ihn nicht.

C. Die Regeln der Auftragsvergabe in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Wirkungen 1. Das Regelwerk im Überblick In Deutschland bildet das Vergaberecht traditionell einen speziellen Teil des Haushaltsrechtes. Die konkrete Ausgestaltung der Verfahrensregeln befindet sich in den Verdingungsordnungen VOB (Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen) und VOL (Verdingungsordnung für Leistungen – ausgenommen Bauleistungen). Sie werden seit Jahrzehnten von den beiden Marktseiten (öffentlichen Auftraggebern und Vertretern der anbietenden Wirtschaft) in Verdingungsausschüssen erarbeitet. Mit der Europäischen Union und der Schaffung des europäischen Binnenmarktes kamen neu oberhalb bestimmter Auftragswerte (so genannter „Schwellenwerte“) europäische Richtlinien dazu, die in Deutschland mit dem vierten Teil des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), der Vergabeverordnung (VgV) und (verschiedenen Abschnitten) der VOB/A und VOL/A sowie (neu) der Verdingungsordnung für freiberufliche Leistungen (VOF) umgesetzt wurden.

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23. Kapitel: Öffentliche Aufträge Zum 17.04.2014 haben Rat und Parlament der EU die EU-Vergaberichtlinien noch einmal revidiert. Das EU-Vergaberecht sollte vereinfacht und modernisiert werden.4 Die deutsche Bundesregierung passte das deutsche Recht zum 18. April 2016 entsprechend an die EU-Richtlinien an. Öffentliche Auftraggeber müssen ab 1.1.2016 folgende Schwellenwerte, oberhalb derer das EG-Vergaberecht zwingend anzuwenden ist, beachten: •• bei Bauaufträgen ab 5.225.000 Euro, •• Bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen ab 209.000 Euro, •• bei Liefer- und Dienstleistungsaufträge im Bereich der sogenannten Sektoren (Energieversorgung und Verkehr) ab 418.000 Euro, •• bei Liefer- und Dienstleistungsaufträge von obersten und oberen Bundesbehörden ab 135.000 Euro. Zu den Vergaberegeln schreibt der Wissenschaftliche Beirat beim BMWi (2007) zusammenfassend:5 Für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen oberhalb der Schwellenwerte gibt es derzeit fünf Verfahren: 1. das offene Verfahren bei Vergaben oberhalb der EU-Schwellenwerte, bei dem nach einer europaweiten Bekanntmachung alle interessierten Unternehmen ein Angebot abgeben können, unter denen der öffentliche Auftraggeber dann das wirtschaftlichste Angebot auswählt,6 2. das nicht offene Verfahren bei Verfahren oberhalb der EU-Schwellenwerte, bei dem nach einer europaweiten Bekanntmachung die interessierten Unternehmen ihren Teilnahmewunsch bekunden und sodann der öffentliche Auftraggeber unter den Interessierten eine begrenzte Anzahl (mindestens 5) zur Angebotsabgabe auswählt,7 3. das Verhandlungsverfahren mit oder ohne europaweiter Bekanntmachung für die oberschwelligen Aufträge, bei dem mit ausgewählten Unternehmen verhandelt wird,8 4. den wettbewerblichen Dialog für die oberschwelligen Aufträge, wenn besonders komplexe Leistungen vergeben werden sollen, bei denen nach einer europaweiten Bekanntmachung zur Teilnahme aufgefordert und sodann mit (mindestens drei) ausgewählten Interessenten in einem strukturierten Verfahren verhandelt wird, 5. den Auslobungen, bei denen mittels eines unabhängigen Preisgerichts nach europaweiter Bekanntmachung die Vergabe eines „Preises“ erfolgt (z. B. bei Architektenwettbewerben). Nach EU-Recht können die öffentlichen Auftraggeber zur Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebotes in allen Vergabeverfahren auch eine elektronische 4 5 6 7 8

Richtlinien 2004/17/EG (für Bauten, Lieferungen und Dienstleistungen) und 2004/18/ EG (für Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste). Leicht angepasster Text. Das entsprechende Verfahren bei Vergaben unterhalb der EU-Schwellenwerte ist die öffentliche Ausschreibung, unterschwellig entsprechend: beschränkte Ausschreibung mit oder ohne Teilnahmewettbewerb unterschwellig: die freihändige Vergabe mit oder ohne Teilnahmewettbewerb

C. Die Regeln der Auftragsvergabe in der Bundesrepublik Deutschland Auktion (über das Internet) durchführen. Diese soll besonderen Formvorschriften genügen. Die Auftraggeber (z. B. mehrere Kommunen) können in Rahmenvereinbarungen für Standardleistungen gemeinsam auftreten. Schließen sie bei den oberschwelligen Aufträgen Rahmenvereinbarungen mit mehreren Unternehmen, legen aber die Bedingungen für die Vergabe der Einzelaufträge nicht genau fest, ist ein Wettbewerbsverfahren mit diesen Unternehmen als Vertragspartner der Rahmenvereinbarung durchzuführen. Ein spezieller Rechtsschutz für übergangene Bieter besteht nur bei den oberschwelligen Aufträgen. Die an öffentlichen Aufträgen interessierten Unternehmen haben einen Anspruch darauf, dass die öffentlichen Auftraggeber die Vergaberegeln einhalten. Dazu gehört insbesondere eine Pflicht der Auftraggeber zur vorherigen Information der Bieter darüber, wer den Auftrag erhalten soll (§ 13 VgV). Unterhalb der EU-Schwellenwerte bestehen lediglich Ansprüche aus dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG, ohne einen speziellen Rechtsschutz9. Innerhalb von WTO-Staaten besteht im Weiteren das sogenannte „Agreement on Government Procurement“ („Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen“). Es ist ein völkerrechtlicher Vertrag, den die EG mit anderen Mitgliedstaaten der Welthandelshandelsorganisation WTO, darunter auch der Schweiz abgeschlossen hat. Es dient dem fairen Wettbewerb im öffentlichen Beschaffungswesen. Die Vergaberichtlinien müssen die Mitgliedstaaten in nationales Recht umsetzen.

2. Die Vergabekriterien Von zentraler Bedeutung für den Wettbewerb sind die Vergabekriterien. Diese sind in § 97 GWB (2014) wie folgt beschrieben: (1) Öffentliche Aufträge und Konzessionen werden im Wettbewerb und im Wege transparenter Verfahren vergeben. Dabei werden die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und der Verhältnismäßigkeit gewahrt. (2) Die Teilnehmer an einem Vergabeverfahren sind gleich zu behandeln, es sei denn, eine Ungleichbehandlung ist aufgrund dieses Gesetzes ausdrücklich geboten oder gestattet. Absatz  1 erklärt den Wettbewerb zum Prinzip der Auftragserteilung. Es ist heute unzulässig, auffällig niedrige Angebote a priori vom Verfahren auszuschließen. Dadurch werden Außenseiter gestärkt. Anderseits obliegt es der Behörde zu entscheiden, was „wirtschaftlich“ und was „verhältnismäßig“ ist. Wettbewerbspolitik nach dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) ist ein erster wichtiger Schritt zum Wettbewerb. Kartellverdächtiges Verhalten wird von den Wettbewerbsbehörden mit einem aufmerksamen Auge verfolgt und möglicherweise aufgedeckt. Trotz Kontrollen werden aber Kartelle nur von außen betrachtet. Was im Inneren von Kartellen vor sich geht, bleibt 9

siehe auch Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 13.6.2006 (1 BvR 1160/03)

379

380

23. Kapitel: Öffentliche Aufträge oft im Dunkeln. Erhellend hierzu wirkt ein Zitat von J. Finsinger, das aufzeigt, wie Kartellisten die öffentlichen Aufträge tatsächlich unter sich aufteilen (J. Finsinger 1984, S. 578 f.): „Bei der Absprachesitzung der Kartellteilnehmer muss aus dem Kreise der Interessenten derjenige Unternehmer oder die Zusammensetzung der Arbeits- oder Bietergemeinschaft bestimmt werden, die den Auftrag erhalten soll. Außerdem müssen der für sie verbindliche geschützte „Nullpreis“ und die Quoten festgelegt werden, mit denen die anderen Submissionsteilnehmer diesen „Nullpreis“ überbieten müssen. Bei überregionalen Absprachen mit häufig wechselnden Abspracheteilnehmern wird unter Umständen nach anderen Grundsätzen verhandelt als bei regionalen, in der Zusammensetzung der Teilnehmer weitgehend gleich bleibenden Abspracheringen. Im ersteren Falle werden die nicht zum Zuge kommenden (schützenden) Unternehmen vom geschützten Unternehmen entschädigt. Sie erhalten Ausgleichszahlungen oder werden am Gewinn beteiligt. Dazu bieten sich stille Beteiligungen oder fiktive Verträge über die Verleihung von Geräten an. Solche Transaktionen sind bei auf Dauer angelegten und meist regional organisierten Abspracheringen nicht nötig. Die unmittelbare Ausgleichszahlung wird durch eine Gutschrift von Ansprüchen ersetzt. Die am häufigsten verwandte Verrechnungsmethode schreibt jedem schützenden Unternehmen so viele Punkte gut, wie dies der Bausumme geteilt durch die Anzahl der schützenden Unternehmen entspricht.10 Für jedes Unternehmen wird also ein Punkteguthaben ermittelt, welches den bislang anderen Unternehmen gewährten Schutz und somit das Anrecht auf zukünftigen Schutz repräsentiert. Bei den Absprachen entscheidet in der Regel nur das Punktguthaben über das zum Zuge kommende Untenehmen. Standortvorteile und technisches Know-how bleiben unberücksichtigt. Sondervorschläge sind den Abspracheteilnehmern offen zu legen und in die Verhandlungen einzubeziehen, was dazu führt, dass sie in aller Regel gar nicht erfolgen. Abspracheringe entwickeln häufig eine ausgefeilte Organisationsstruktur, deren Grundsätze in Vertragswerken festgelegt sind. Dazu gehört der Verfall hinterlegter Sicherheitsleistungen wie Wechsel, Schecks oder Bargeld, die Sperrung von Krediten, die Einstellung oder Verzögerung von Lieferungen oder, als letztes Mittel, der Vernichtungswettbewerb. Entscheidend für den Bestand eines Kartells ist die Verhinderung des Unterbietens der abgesprochenen „Nullpreise“. Besonders bei Ausschreibungen der öffentlichen Hand lässt sich absprachewidriges Unterbieten leicht feststellen, denn die Angebotssummen müssen unter Angabe der Bieter bekannt gegeben (VOB § 22) werden. Darüber hinaus muss beim Eröffnungstermin mitgeteilt werden, ob und von wem Änderungsvorschläge und Nebenangebote eingereicht worden sind (VOB § 22 Nr. 3 Abs. 2). Deshalb kann auch ein Abweichen von der Kartellabsprache durch Sondervorschläge festgestellt und geahndet werden. Das Kartell kann also sowohl den Preis- als auch den Nichtpreiswettbewerb wirksam kontrollieren. Die Einschränkung des Nichtpreiswettbewerbs kann erhebliche Nachteile des Auftraggebers mit sich bringen. Da Änderungsvorschläge zum Bauprojekt Gegenstand der Abspracheverhandlungen sind, haben die Unternehmen nur einen geringen Anreiz, Kosten sparende oder architektonische Verbesserungsvorschläge zu machen. Solche Vorschläge erschweren nur die Verhandlungen über den „Nullpreis“. Außerdem besteht die Gefahr, dass innovative Bauverfahren einzelner Unternehmen den Konkurrenten bekannt werden, wenn sie zum Gegenstand der Verhandlungen werden. Aus diesen Gründen haben Absprachen für den Auftraggeber noch andere Nachteile zur Folge als nur die rein finanziellen.“

10

Beteiligen sich an einer Absprache weniger als 5 Unternehmen, dann wird die Bausumme durch die Anzahl aller Abspracheteilnehmer dividiert.

C. Die Regeln der Auftragsvergabe in der Bundesrepublik Deutschland

3. Kartellgewinne: Eine Fata Morgana Die größte Gefahr für Kartelle sind die eigenen Kartellisten. Durch ihre hohen Preise ziehen sie Wettbewerber an, es kommt zu Überkapazitäten und entsprechend hohen Kosten, durch welche die Kartellgewinne wieder aufgefressen werden. Wie dies geschieht, zeigt das folgende Modell: Betrachtet sei ein Markt für öffentliche Bauten vom festen Umfang A. Freier Marktzutritt sei gegeben, und es herrsche zunächst Wettbewerb. Beziehungen zum privaten Baumarkt werden vorerst ausgeklammert. Abbildung 23.2a links zeigt die Situation für eine einzelne Unternehmung und rechts in Abbildung 23.2b die Situation für den ganzen Markt. Im Wettbewerbsgleichgewicht bietet jedes der als identisch angenommenen Unternehmen in Abbildung 23.2a die Menge W zum Preis pW an, der den Grenzkosten GK im Minimum der Durchschnittskosten DK entspricht. Das Unternehmen realisiert gerade die Normalrendite auf das investierte Kapital. Im Gesamtmarkt aller Unternehmen in Abbildung  23.2b wird damit der Output A zu den minimalen Branchendurchschnittskosten BDK1 erzielt. Wird jetzt ein Kartell mit dem Kartellpreis pK vereinbart, so werden neue Unternehmen auf den Markt drängen. Das als konstant angenommene Auftragsvolumen A muss jetzt auf eine größere Zahl von Unternehmen innerhalb des Kartells aufgeteilt werden. Dieser Prozess treibt die Kosten in Abbildung 23.2a bis zum Punkt K hinauf, wo beim Preis pK in Abbildung 23.2b alle Unternehmen gerade noch ihre Durchschnittskosten decken, d. h. wiederum nur die Normalrendite auf ihr investiertes Kapital erwirtschaften. Auf dem Gesamtmarkt in Abbildung 23.2b wird dann auf der Branchendurchschnittskostenkurve BDK2 produziert, auf welcher der feste Output A zu den Kosten K’ erreicht wird. Offensichtlich gibt es auf dem Markt Überkapazitäten. Die Kosten, die für die Vorhaltung der überschüssigen Kapazitäten anfallen,

Geld

Einzelunternehmung

GK

Markt

Geld DK

BDK1 K‘

K

PK

BDK2

PW

0

W öffentliche

0

A

Bauten Abbildung 23.2a

öffentliche Bauten

Abbildung 23.2b

Abbildung 23.2: Die Wirkung einer Anbieterkartellierung bei gegebenem Marktvolumen und freiem Marktzutritt

381

382

23. Kapitel: Öffentliche Aufträge bezahlt der staatliche Auftraggeber, also letztlich der Steuerzahler. Die Bauunternehmen selbst stellen sich mit dem Kartell im Endeffekt weder besser noch schlechter als zuvor. Sie verdienen die gleiche Rendite wie vor dem Kartell. Kartellfreunde werden die Logik dieses Modells ablehnen. Aber auch ein in den Annahmen weniger restriktives Modell käme nicht an dieser grundlegenden Wirkung von Kartellpreisen bei offenem Marktzutritt vorbei. In einem allgemeineren Modell könnten noch weitere Konsequenzen aufgedeckt werden: In einem Modell mit Einschluss des Faktors Qualität ließe sich beispielsweise zeigen, dass sich der auf der Preisebene unterbundene Wettbewerb in anderen Dimensionen dafür umso stärker durchsetzt. Eine typische Ausweichreaktion ist die Qualitätskonkurrenz, d. h. es kommt zu übermäßig kostenintensiver Produktion, zu so genanntem „gold plating“. Gebäude werden mit teuren (wenn auch nicht notwendigerweise schönen) Materialien versehen. Die Rechnungshöfe und der Bund der Steuerzahler berichten periodisch über solche Extraausgaben (Bundesrechnungshof 2015) Die kartellbedingte Konkurrenzverlagerung kann sich aber auch auf andere Märkte erstrecken. So liegt es beispielsweise nahe, dass Bauunternehmen, deren Anlagen infolge der Kartellierung nicht voll ausgelastet sind, versuchen, ihre Überschusskapazitäten auf den privaten Baumarkt zu werfen und sich dort einen ruinösen Konkurrenzkampf zu liefern (vgl. auch J. Finsinger 1986, 1988).

D. Vergabefremde Ziele11 Grundsätzlich soll das „wirtschaftlichste Angebot“ zum Zug kommen. Problematisch ist aber, dass sich unter politischem Druck zunehmend vergabefremde Ziele in das GWB eingeschlichen haben. Dabei werden Bieter bevorzugt, die zwar nicht das wirtschaftlichste Angebot vorlegen, dafür aber hinsichtlich „vergabefremder Leistungen“ besonders gut abschneiden. Umwelt, Innovation, soziale Ziele und Mittelstandsförderung gehören dazu. Da von Fall zu Fall entschieden wird, welches Nebenziel gerade gelten soll, wird der Willkür Tür und Tor geöffnet. Es leidet die Transparenz. Fünf Beispiele aus § 97 GWB sollen das illustrieren: •• Durch eine ungleiche Bieterauswahl soll Innovationsförderung betrieben werden. D. h. als innovativ geltende Unternehmen erhalten den Zuschlag, auch wenn sie nicht das wirtschaftlichste Angebot abgeben. Die Ergebnisse solcher Art Industriepolitik sind umstritten. Ein innovatives Unternehmen ist in der Regel auch effizient. Es scheint fragwürdig, in der Wettbewerbsfähigkeit nachzugeben und dafür Innovation einzutauschen. •• Umwelt und Klima werden dem Vernehmen nach in Deutschland bei 30 Prozent der öffentlichen Aufträge als vergabefremde Leistungen berücksichtigt. Doch es ist zwischen Umwelt und Klima zu unterschieden. Öffentliche Aufträge, die die nähere Umwelt (z. B. das Trinkwasser) schonen, kommen der 11

Näheres hierzu findet sich im Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim BMWi (2007).

D. Vergabefremde Ziele einheimischen Bevölkerung zugute. Öffentliche Aufträge, die dem Klima dienen, haben einen weltweiten Effekt. Deutschland trägt die vollen Kosten, ohne einen entsprechenden Ertrag zu erhalten. Folglich können umweltpolitische Nebenziele zielführend sein; klimapolitische sind es nicht. •• Tariftreue: Die Tariftreuepflicht verlangt vom Auftragnehmer, seinen Bediensteten den branchenüblichen Tariflohn zu bezahlen. Diese Pflicht ist jedoch nach dem Urteil des EuGH jedenfalls seit dem Inkrafttreten des bundesrechtlichen Mindestlohngesetzes (MiLoG) vom 01.01.2015 verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar. Der gesetzliche Mindestlohn nach dem MiLoG biete bereits ausreichenden Schutz vor Lohn- und Sozialdumping, sagt das Gericht. Die schwächere Norm der Tariftreue sei durch die stärkere Norm des Mindestlohnes gegenstandslos geworden. •• Mindestsozialstandards sind zu begrüßen. Sie helfen das Los der Niedriglohnbezieher zu lindern. Mindestsozialstandards werden insbesondere für Entwicklungsländer, wo häufig Kinder als Arbeiter missbraucht werden, gefordert. Das Bundes-Entwicklungs-Ministerium ist hier häufig involviert. Durch Meldungen über Kinderarbeit aufgeschreckt führten seither Unternehmen, die Produkte aus Entwicklungsländern in Deutschland verkaufen, sogenannte „Fair-trade-labels“ ein. Sie sollten anzeigen, dass die genannten Produkte nicht durch Kinderarbeit hergestellt worden sind. Entwicklungshilfeorganisationen begrüßten diese Labels als innovativen Produktstandard. Sie fragen nicht, was mit den Kindern geschah, die als Folge des Standards ihren Job verloren haben. Wahrscheinlich ist, dass diese Kinder die nächstbeste Beschäftigungsmöglichkeit außerhalb von Fair-trade-Standards ergriffen und am neuen Ort möglicherweise unter noch schlechteren Bedingungen arbeiteten. Manche Kinder, die keinen Ersatzjob fanden, landeten in der Prostitution, wo keinerlei Standards gelten. Das Problem liegt in dem, was C. C. von Weizsäcker (1999, S. 65–69) ein „verkürztes Denken“ nennt. Der Blick richtet sich ausschließlich auf die Primäreffekte. Die langfristigen Sekundäreffekte gehen dabei unter. Doch insgesamt betrachtet können die Kurz- und Langfristeffekte von „Fair-trade-labelling durchaus negativ sein“, d. h. die Arbeitsbedingungen noch schlechter machen. •• Schließlich sollen kleine und mittlere Unternehmen (KMU) bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen begünstigt werden. Diese Bestimmung ist auf deutschen politischen Druck in die EU-Richtlinie eingeflossen. Es wird die Aufteilung großer Aufträge in kleinere Lose zur Pflicht erklärt, so dass sich auch KMU, die sonst keine Chance hätten, an der Ausschreibung beteiligen können.12 Der Vorteil wird allerdings durch mögliche Skalenvorteile erkauft, die bei Bevorzugung von kleineren und mittleren Unterhemen verlorengehen. Stattdessen hätte den KMU auch nahegelegt werden können sich zu Bietergemeinschaften zusammenzuschließen und so die Skalenvorteile von Großaufträgen zu nutzen. Doch politisch wurde entschieden: Es ist besser, 12

Solche Nebenziele brauchen im Fall von Art. 346 AEUV, bei dem es um die Beschaffung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial geht, soweit sie die „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ eines Mitgliedstaates betreffen, gar nicht erst erfunden zu werden. Der Mitgliedstaat kann die Regeln des Gemeinsamen Marktes schlicht ausklammern.

383

384

23. Kapitel: Öffentliche Aufträge wenn sich die Vergabebehörden an die KMU anpassen, als wenn sich die KMU an die Regeln anpassen. Alternativ könnten zum Schutz der KMU zwei Auktionen veranstaltet werden: eine, in der die Teil- und Fachlose einzeln und eine, in der sie als Gesamtpaket auktioniert werden. Anhand der Preisdifferenz (der sogenannten „Preisgrenze“) könnten Politiker dann entscheiden, ob ein Auftrag geteilt an Mittelständler oder als ganzer an ein großes Unternehmen vergeben wird. Solche Preisgrenzen sind aber nach deutschem Recht weder vorgesehen noch zulässig. Folglich bleibt der Wettbewerb diesbezüglich intransparent.

E. Alternative Bieterverfahren 1. Der Zuschlag zum zweitgünstigsten Preis Beim „Fluch des Gewinners“ (B1) sind die Probleme erörtert worden, die auftreten, wenn der Zuschlag nach dem niedrigsten Gebot erteilt wird: Der Gewinnaufschlag wird zur strategischen Variablen der common value-Auktion. Der Bieter muss ausrechnen, wie hoch wohl das Gebot der anderen Bieter liegen wird, um seinen eigenen Gewinn zu maximieren. W. Vickrey (1961) hat gezeigt, dass sich dieser Mangel überwinden lässt, wenn der Zuschlag zwar dem günstigsten Bieter aber zum Preis des zweitgünstigsten Angebots erteilt wird. Bei dieser so genannten Vickrey-Regel erhält der Auftragnehmer eine Entschädigung, die zwar etwas höher ist als sein Gebot; aber die Differenz ist exogen bestimmt und bleibt damit seinem strategischen Kalkül entzogen. Weil er den Gewinn also nicht beeinflussen kann, stellt er sich am besten, wenn er ein Gebot (wie bei einer private value auction) in der Höhe seiner Kosten abgibt. Durch diese Aufdeckung der wahren Kosten wird sichergestellt, dass der Bieter mit den niedrigsten Kosten den Zuschlag erhält. Um die Richtigkeit dieser These zu ersehen, wird im Folgenden gezeigt, dass, wenn ein Bewerber ein Gebot abgibt, das nicht seinen Kosten entspricht, er entweder keinen höheren Gewinn erzielt, leer ausgeht oder sogar einen Verlust erleidet (vgl. J. Finsinger 1986, U. Lenz 1986). Es seien: bi das Gebot eines Bieters i aus n Bietern bj die Gebote der restlichen Bieter aus n; j ≠ i b2 das niedrigste zurückgewiesene Gebot, ki die Kosten des Bieters i (d. h. die Opportunitätskosten des nicht angenommenen Alternativauftrags). Fall 1: ki AMZi bedeutet: es besteht eine Pflicht zum Ausgleich b. Korrektur des Grundsatzes: Vom Grundsatz a wird abgewichen, indem weniger Steuereinnahmen, und/oder indem mehr Einwohner in die Formel (28.1) und (28.2) eingerechnet werden. Konkret werden die Gemeindeeinnahmen nur zu 64 % zur FMZ angerechnet, die Bevölkerungen der Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen dagegen mit 1,35 multipliziert und die AMZ entsprechend angehoben. Flächenländer erhalten eine Einwohnergewichtung der Einwohner von 1,03 mit entsprechender Anhebung von AMZ. Für den Finanzausgleich gilt: Bei AMZi > FMZi wird die Differenz bis zu 73 % ausgeglichen. Bei FMZi > AMZi wird die Differenz als Abschöpfungsquote der Zahler-Länder mit FMZ > AMZ = bis zu 75 % ausgeglichen, vgl. Abbildung 28.2. % 80

Net payer

70 60 50 Relative financial power of a state

40 75 Bis 73%

80

85

90

95

100

105

110

115

120

%

125

Bis 75%

Abbildung 28.2: Beim Finanzausgleich im engeren Sinn wird der Finanzkraftunterschied bis zu 73 % links bzw. 75 % rechts ausgeglichen. Quelle: C. Fuest und M. Thöne (2009)

478

28. Kapitel: Die Finanzordnung der Bundesrepublik Deutschland

5. Vierte Stufe des Finanzausgleichs Schließlich bezahlt der Bund zum Auffüllen der noch verbleibenden Lücke aus eigenen Mitteln Bundesergänzungszuweisungen.

6. Gesamtwirkung des deutschen Finanzausgleichs Werden die vier Stufen des Finanzausgleichs zusammengerechnet, so ergibt sich dem BMF zufolge das Ergebnis von Tabelle 28.2. Tabelle 28.2: Gesamtergebnis des Finanzausgleichs in der Bundesrepublik Deutschland 2015 Finanzkraft je Einwohner vor Länderfinanzausgleich in v. H. der durchschnittlichen Finanzkraft je Einwohner

Finanzkraft je Einwohner nach Länderfinanzausgleich in v. H. der durchschnittlichen Finanzkraft je Einwohner

Finanzkraft je Einwohner nach Länderfinanzausgleich und allgemeinen Bundesergänzungszuweisungen in v. H. der durchschnittlichen Finanzkraft je Einwohner 97½

70

91

80

93½

98

90

96

98½

100

100

110

104

120

106½

130

109

Quelle: BMF

Im Gesamtfinanzausgleich gibt es nach Abbildung 28.3 im Jahr 2013 drei ausgleichspflichtige und 13 ausgleichsberechtigte Länder. Tabelle 28.3: Pro-Kopf-Finanzausstattung nach Finanzausgleich 2014 a NRW

BY

B-W

NS.

He.

Sa

RP

SA

99,1

105,2

111,2

98,5

104,2

99,6

98,2

95,6

Holst.

Th.

BBg.

MeckPo.

SL

Berlin

HH

HB

98,5

95,5

95,8

95,1

87,5

90,6

100,4

83,6

Durchschnitt a

100.0

ohne Sonder-Bundesergänzungszuweisungen für neue Bundesländer, ferner ohne Sonder-Bundesergänzungszuweisungen wegen struktureller Arbeitslosigkeit und wegen überdurchschnittlich hoher Kosten politischer Führung Quelle: nach BMF-Daten

B. Der Länder­Finanzausgleich

Geberländer Bayern Baden-Württemberg Hessen Nehmerländer Berlin Sachsen Nordrhein-Westfalen Bremen Sachsen-Anhalt Thüringen Brandenburg Mecklenburg-Vorp. Rheinland-Pfalz Schleswig-Holstein Saarland Niedersachsen Hamburg

479

je Einwohner

Ausgleichsbetrag 4.320 2.429 1.711

345 230 284

3.338 1.002 693 589 563 547 521 464 243 169 138 106 87

989 247 39 899 249 252 213 290 61 60 139 14 50

Abbildung 28.3: Gesamtwirkung des bundesdeutschen Finanzausgleichs 2013 in Mill. Euro bzw. Euro pro Einwohner Quelle: Bundesministerium der Finanzen

7. Reform des deutschen Finanzausgleichs ab 2020: Eine Symptomtherapie Der bisherige Finanzausgleich soll ab 2020 durch einen neuen Finanzausgleich ersetzt werden. Der Zeitpunkt für die Reform ist günstig gewählt, weil in Bundestag und Bundesrat politisch ähnliche Mehrheiten herrschen, und eine Einigung leichter erscheint, s. Tab. 28.4. Doch die Parteien konnten sich nicht dazu durchringen, den Ursprung des Problems im Parlamentarischen Rat zu erkennen. Ohne ein Recht, über die Steuern zu entscheiden, können die Länder nicht Steuern gegenüber Ausgaben abwägen, sondern nur ausgeben, was sie von oben erhalten. Sie haben daher chronisch zu wenig Geld. Die 9,5 Milliarden Euro, welche die Länder ab dem Jahr 2020 jährlich vom Bund erhalten sollen, stellen eine reine Symptomtherapie dar. Sie gibt den Ländern keine Anreize, mit ihren Mitteln sorgfältiger umzugehen, es werden nur Löcher gestopft. Die Länder werden den Bund immer aufs Neue erpressen. Statt dass sich die Länder selbst helfen, wird ihnen von oben geholfen. Das Argument, dass die Länder zu wenig Geld haben, ist falsch. Geld ist immer knapp. Es kommt darauf an, haushälterisch damit umzugehen. Leidtragende sind die Steuerzahler, die die ganze Verschwendung finanzieren müssen. Für den neuen Finanzausgleich rechnen die Ministerpräsidenten der Länder in Bestandsgrößen, d. h. so, als ob den Ländern Finanztransfers einmalig (als Festzuteilungen) zugeteilt werden, von denen keinerlei Anreize ausgehen. Faktisch werden aber Transfers pro Periode also Stromgrößen ausgerichtet, von denen erhebliche Anreize auf zukünftige Budgetentscheidungen ausgehen.

480

28. Kapitel: Die Finanzordnung der Bundesrepublik Deutschland Tabelle 28.4: Koalitionen in Bundestag (BT) und Bundesrat BT-Parteienkoalition stimmt mit den Interessen der Ländervertreter überein

BT-Parteienkoalition verfügt über die Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments

Ja

Nein

Ja

Hohe Reformfähigkeit

Ev. Blockade inner­ halb der BT­Koalition

Nein

Ev. Blockade zwischen Koalition und Oppo­ sition

Ev. Blockade inner­ halb der BT­Koalition und ev. Blockade zwischen Koalition und Opposition

Quelle: Ch. B. Blankart und E. R. Fasten (2010)

8. Ein einfaches Modell des Finanzausgleichs Gäbe es keinen Finanzausgleich, so könnte jedes Bundesland Ausgaben genau in der Höhe seiner Einnahmen pro Einwohner tätigen. In einem EinnahmenAusgabendiagramm nach Abbildung  28.4 lägen alle Einnahmen-AusgabenPunkte auf der 45° Linie. Die armen Länder müssten darben und die reichen hätten im Überfluss. Diese Härte lässt sich durch Finanzausgleich mildern. Arme Länder dürfen dann in der Höhe des Finanzausgleichs (auf der senkrechten Achse) mehr ausgeben als sie einnehmen. Es wird das Prinzip praktiziert, wie auf individueller Ebene „Hartz IV“ praktiziert wird. An die Stelle von einkommensabhängigen Transfers (bei Hartz IV im 11. Kapitel) treten hier steuerertragsabhängige Transfers. Die finanzschwachen Gebietskörperschaften sollen analog zu Hartz IV mehr ausgeben dürfen als sie einnehmen. Die Lage einer Gemeinde zu lindern bedeutet in der Sprache des Finanzausgleichs drei Fragen zu lösen, nämlich (1) wie hoch in Abbildung 28.4 die Mindestfinanzausstattung pro Einwohner 0A sein soll, (2) mit welcher Rate S die Mindestfinanzausstattung abgebaut werden soll, wenn die eigene Finanzkraft wächst, (3) welche Finanzausgleichsmasse FAM zur Verfügung steht, jeweils für eine gegebene Zahl von zu subventionierenden Ländern mit einer gegebenen Zahl von Einwohnern. Ausgangssituation 1: Zunächst erhält jedes Land vom Bund Mittel, um die Mindestfinanzausstattung 0A pro Kopf sicherzustellen (vertikaler Finanzausgleich). Ein Land mit einer Finanzkraft von null erhält die Summe 0A vom Bund als Mindestfinanzausstattung. Bei jedem Land, das (rechts von 0) eine positive Finanzkraft pro Einwohner erzielt, wird die Mindestfinanzausstattung in genau diesem Maß gekürzt, so dass es bei einer Finanzausstattung 0A verbleibt. Die Abschmelzrate beträgt 100 %.

B. Der Länder­Finanzausgleich T 45°

Finanzausstattung pro Kopf, Abschmelzrate R

vor Finanzausgleich S nach Finanzausgleich B

A

0

C

F

Originäre Finanzkraft

Abbildung 28.4: Anreizkompatibler Finanzausgleich

Die einheitliche und unveränderliche Mindestfinanzausstattung hat den Nachteil, dass Anstrengungen eines Landes, seine eigene Lage zu verbessern, unattraktiv bleiben. Es bleibt bei OA, bezieht Finanzausgleich und verbessert seine Situation zunächst einmal nicht. Situation 2: Will der Bund mehr Mittel einsetzen, so kann er die Mindestfinanzausstattung 0A erhöhen. Er kann aber auch länger, über OB hinaus Geld geben, und so die Anreize der subventionierten Länder erhöhen, ihre Lage selbst zu verbessern. Situation 3: Kürzt der Bund seine Finanzausgleichsmasse, so ist weniger Geld zum Verteilen vorhanden. Es gibt es zwei Möglichkeiten: a. Die Mindestausstattung OA wird gekürzt, dann wird weniger für die Gerechtigkeit getan, wodurch die Anreize der Gemeinden steigen, ihre Lage selbst zu verbessern. b. Es werden Mindestfinanzausstattung und Abschmelzrate belassen und stattdessen Länder mit einer über OF liegenden Finanzkraft entlang der Strecke BS zur Finanzierung herangezogen (senkrecht schraffiertes Dreieck). Dadurch steigt die Finanzausgleichsmasse wieder an. Vertikaler und horizontaler Finanzausgleich werden miteinander verknüpft. Damit wird dem horizontalen Finanzausgleich (von Reich zu Arm) nach Art. 107 des Grundgesetzes Rechnung getragen. Bezeichnet man die Mindestausstattung mit M und die Abschmelzrate mit S, so gilt für eine bestimmte vom Bund bereitgestellte Finanzausgleichsmasse FAM für das Land i mit einer Einwohnerzahl EWi und einer eigenen Finanzkraft FKRi folgender Zusammenhang:

481

482

28. Kapitel: Die Finanzordnung der Bundesrepublik Deutschland (1)

FAM = EW1 (M – S FKR1) + … + EWn (M – S FKR n)

(2)

FAM =  EWi (M − S FKR i )

n

i =1

n

(3)

S= −

FAM − ∑ EWi ⋅ M n

i =1

∑ EW i =1

i

FKR i

Das bedeutet: •• Für jede Mindestfinanzausstattung M gibt es nur eine Abschmelzrate S, welche die Finanzausgleichsmasse FAM gerade ausschöpft (vertikaler Finanzausgleich). •• Für jede Abschmelzrate S gibt es eine Mindestausstattung M, welche die Finanzausgleichsmasse FAM gerade ausschöpft (vertikaler Finanzausgleich). •• Eine größere Mindestfinanzausstattung ist möglich, wenn dafür Länder mit höherer Finanzkraft einen Beitrag in den Finanzausgleich bezahlen (horizontaler Finanzausgleich). •• Für jede Finanzausgleichsmasse FAM gibt es entsprechende Kombinationen von Mindestausstattungen und Abschmelzraten, die den jeweils gewünschten politischen Zielsetzungen entsprechen. •• Alle diese Kombinationen müssen der Nebenbedingung genügen, dass die Abschmelzrate 100 Prozent nicht übersteigt, weil sonst die Finanzkraftreihenfolge der Länder sich umdrehen würde und die Anreize der Länder, sich selbst zu helfen, pervertiert würden.

C. Zusammenfassung des 28. Kapitels Die deutschen Bundesländer verfügen über Haushaltsautonomie, nicht aber über Finanzautonomie. Darum können sie nicht abwägen, wie viel Steuern sie erheben und für öffentliche Leistungen einsetzen wollen. Sie dürfen so viel Geld ausgeben, wie sie von oben erhalten (Haushaltsautonomie). Daher haben sie haben tendenziell immer zu wenig Geld. Eine Reform könnte analog zu den Regeln von „Hartz IV“ erfolgen (s. 14. Kapitel). Ausgehend von einer gewährten Mindestfinanzausstattung könnte ein finanzschwaches Land für jeden zusätzlich erwirtschafteten Euro einen Zuschuss erhalten, bis es die bundesdurchschnittliche Finanzkraft erreicht hat (Abbildung 28.4). Im Sinne eines horizontalen Finanzausgleichs könnten auch die finanzkräftigen Länder zur Umverteilung herangezogen werden, vertikaler und horizontaler Finanzausgleich könnten kombiniert werden.

C. Zusammenfassung des 28. Kapitels

Wichtige Begriffe des 28. Kapitels Institutionelle Kongruenz/Inkongruenz Wählerstimmenwettbewerb Dotationsprinzip Kooperativer Föderalismus Verbundsystem Mischfinanzierung Finanzkraft Finanzbedarf Finanzausgleich Bundesergänzungszuweisungen Anreizkompatibler Finanzausgleich Trennsystem Mindestfinanzausgleich Abschmelzrate Finanzausgleichsmasse

Literatur zum 28. Kapitel Ch. B. Blankart und E. R. Fasten, The Deadlock of Federalism in Germany and Recent Reforms, in: Forum of Federations, Madrid 2010. Ch. B. Blankart, Die schleichende Zentralisierung der Staatstätigkeit: Eine Fallstudie, Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Bd. 119, 1999, S. 331–50. Ch. B. Blankart und A. Klaiber, Wer soll für die Schulden von Gebietskörperschaften haften? In: Christoph A. Schaltegger und Stefan C. Schaltegger, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Zürich (vdf Hochschulverlag AG an der ETH) 2004, S. 137–150. BMF, Der bundesstaatliche Finanzausgleich, Berlin (BMF) 2015. Bundesstaatskommission (Föderalismuskommission) (2004) http://www.bundestag. de/parlament/kommissionen/modern/modern_auftrag.html P. A. David, Clio and the Economics of QWERTY, American Economic Review 75 (2) 1985, S. 332–337. K. Faltlhauser, Der neue Finanzausgleich ab 2005, Informationen und Argumente zur Finanzverwaltung, München (Bayerisches Staatsministerium der Finanzen) Oktober 2001. H. Fehr und W. Wiegard, Simulationsmodell für den Länderfinanzausgleich, http://www. laenderfinanzausgleich.com/ o. J. C. Fuest und M. Thöne, Reform des Finanzföderalismus in Deutschland, Berlin: Stiftung Marktwirtschaft, 2009. F. A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit Tübingen (Mohr) 1991. H. Heckt, Die Entwicklung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs in der Bundesrepublik Deutschland, Institut Finanzen und Steuern, Heft 103, Bonn (Stollfuß Verlag) 1973. W. Hettich und St. Winer, The Political Economy of Taxation, in: D. C. Mueller, Perspectives on Public Choice, Cambridge (Cambridge Univ. Pr.) 1997, S. 481–505. St. Homburg, Ursachen und Wirkungen eines zwischenstaatlichen Finanzausgleichs, in: A. Oberhauser, Hrsg., Fiskalföderalismus in Europa, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F., Bd. 253, Berlin (Duncker und Humblot) 1997. St. Homburg, Stellungnahme zur Anhörung der Bundesstaatskommission, Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Kommissionsdrucksache 024, Berlin, 11. 3. 2004. H. Höpker-Aschoff, Das Finanz- und Steuersystem des Bonner Grundgesetzes, Archiv des Öffentlichen Rechts, Bd. 75, 1951, S. 306–331, hier S. 307.

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28. Kapitel: Die Finanzordnung der Bundesrepublik Deutschland B. Huber und K. Lichtblau, Ein neuer Finanzausgleich, Reformoptionen nach dem Verfassungsgerichtsurteil, Köln (Institut der deutschen Wirtschaft) 2000. M. Keen, Vertical tax externalities in the theory of fiscal federalism, IMF Staff Papers, Vol. 45, 1998, 454–485. St. Korioth, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen am 22. Juni 2007, Kommissionsdrucksache 017, Berlin 2007. Kronberger Kreis, Für eine echte Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, Berlin 2016. Th. Lenk, Die Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs – auf Basis der Steuerschätzung Mai 2002 und einer aktualisierten Bevölkerungsstatistik, Universität Leipzig, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Diskussionsbeiträge, Nr. 36, 2002. Maunz, Dürig, Herzog, Grundgesetzkommentar zu Art. 109 GG (Maunz) o. J. M. V. Pauly, Income Redistribution as a Local Public Good, Journal of Public Ecnomics, Vol. 2, 1973, S. 35–58. J. Popitz, Der Finanzausgleich, Handbuch der Finanzwissenschaft, 1. Auflage, 1927, Bd. 2, S. 338–375. J. Ragnitz, Muss der Solidarpakt II angepasst werden? IWH Halle, www.iwh-halle. de/d/ start/News/workshop251104/mat/Ragnitz.ppt. W. Renzsch, Finanzverfassung und Finanzausgleich, Bonn (Dietz) 1991, S. 23. F. Scharpf, Die Reformierbarkeit der Demokratie, Frankfurt/Main: Campus-Verl., 2003 F. Schneider und Th. Lenk, Grundzüge der föderalen Finanzverfassung aus ökonomischer Perspektive: Trennsystem vs. Verbundsystem, in: H. J. Schmidt-Trenz, Hrsg., Zukunft des föderalen Finanzausgleichs, Baden-Baden (Nomos) 2000. H. W. Sinn, The New Systems Competition, Yrjö-Jahnsson Lectures, (Oxford) Basil Blackwell 2003. R. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, in: Otto Mayer, Zum siebzigsten Geburtstag dargebracht von Freunden, Verehrern und Schülern, 29. März 1916, Tübingen (Mohr) 1916, S. 245 ff. Ch. M. Tiebout, A Pure Theory of Local Expenditures, Journal of Political Economy, Vol. 64, October 1956, S. 416–424. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Zur Bedeutung der Maastricht-Kriterien für die Verschuldungsgrenzen von Bund und Ländern, BMF Schriftenreihe, H. 54, Bonn (Stollfuß Verlag) 1994. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Verbesserungsvorschläge für die Umsetzung des Stabilitätspaktes, BMF Schriftenreihe, H. 75, Berlin (Stollfuß Verlag) 2003. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Haushaltskrisen im Bundesstaat, BMF Schriftenreihe, H. 78, Berlin (Stollfuß Verlag) 2005. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Zur finanziellen Stabilität des deutschen Föderalstaates, Berlin 2005.

Lern dieses Volk der Hirten kennen. Hans Weigel, 1962

29. Kapitel Die Schweiz A. Die politische Ökonomie der Schweiz in historischer Perspektive Am 5. März 1798 wurde die Schweiz von französischen Revolutionstruppen erobert und anschließend in einen französischen Satellitenstaat umgewandelt. Einen konkreten Kriegsgrund gab es nicht. Vor allem war die Schweiz nie eine Monarchie, die als solche den Groll Frankreichs hätte auf sich ziehen können. Sie war eine Republik, bestehend aus 13 souveränen Kantonen. Das eigentliche Kriegsziel Frankreichs bestand im Raub des schweizerischen Staatsschatzes in Zürich und Bern. Als Satellitenstaat Frankreichs wurde die Schweiz verpflichtet, für Frankreich 12.000 Mann an Truppen zu stellen, die Napoleon u. a. für seinen Russlandfeldzug benötigte. Doch der Russlandfeldzug brachte Frankreich keinen Ruhm; denn Napoleons Armee wurde in Russland geschlagen und nach Frankeich zurückgedrängt. Als diese sich im Frühjahr 1813 über den Rhein nach Frankreich zurückzog, sahen sich die Eidgenossen nicht mehr an die früheren Truppenzusagen gebunden. Sie erklärten sich für unabhängig und schickten sich an, intern die alten Untertanenverhältnisse wieder herzustellen. Bei diesem Vorhaben wäre die Eidgenossenschaft fast auseinandergebrochen und auf andere Staaten aufgeteilt worden. Doch unter dem Druck der Großmächte, insbesondere Russlands, rangen sie sich doch noch zu einer eigenen Verfassung, dem „Bundesvertrag“ von 1815, durch.1 Die Schweiz wurde ein Bund souveräner Staaten mit gemeinsamer Verteidigung. Wahlen gab es nur auf kantonaler Ebene. Die Mitgliedstaaten waren unabhängig. Sie behielten ihre Vertragsautonomie und konnten auch so genannte „Sonderbünde“ mit Dritt-Staaten abschließen (was bald zu Streit führen sollte). Die gemeinsame Gesetzgebung erfolgte in Konkordaten, denen die Kantone beitreten konnten. Trat jedoch die absolute Mehrheit von zwölf Kantonen einem Konkordat bei, welches von einer Mehrheit der Kantone in der Tagsatzung (der 1

Dafür setzte der russische Zar den Diplomaten Ioannis Antonios Kapodistria, Grafen von Capo d’Istria ein, während auf der Schweizer Seite Charles Pictet de Rochemont für die Sache der Schweiz kämpfte. Die beiden bildeten ein sehr effektives Gespann.

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29. Kapitel: Die Schweiz Versammlung der Kantone) beschlossen worden war, so galt dieses als „Eidgenössisches Konkordat“. Ein Austritt aus einem Eidgenössischen Konkordat war nur unter Zustimmung der anderen Konkordatskantone möglich. Diese Restriktionen bewirkten, dass die Zentralebene allmählich an Macht gewann. Die übrigen Beschlüsse wurden von der Tagsatzung mehrheitlich gefasst, jeder Kanton hatte eine Stimme. Von besonderer Bedeutung war der Mediankanton: Er war in einer Patt-Situation das Zünglein an der Waage, das Minderheit in eine Mehrheit verwandeln konnte. Im Jahr 1847 war eine derartige Patt-Situation gegeben. Zürich brachte die Vorlage ein, wonach die katholischen Kantone ihren Sonderbund mit Österreich auflösen und die Angehörigen des Jesuitenordens aus der Schweiz ausweisen sollten. Zürichs Antrag fand zunächst keine Mehrheit. Dann aber fanden in St. Gallen Kantonsratswahlen statt, die von den fortschrittlich Freisinnigen gewonnen wurden. St. Gallen war der Mediankanton. Er wechselte in der Tagsatzung die Seite und stimmte dem Zürcher Antrag zu, der damit eine Mehrheit fand. Es wurde beschlossen und angeordnet, den Sonderbund aufzulösen und die Jesuiten aus den katholischen Kantonen auszuweisen. Als der Kanton Luzern sich weigerte, dem Mehrheitsbeschluss Folge zu leisten und die Jesuiten auszuweisen, kam es zum Krieg, der nach drei Wochen zugunsten der protestantischen Mehrheit endete und zur Ausweisung der Jesuiten aus der Schweiz führte. Die darauffolgende Tagsatzung etablierte sich zu einer verfassungsgebenden Gewalt. Sie beschloss, den Bundesvertrag von 1815 aufzuheben und zum 12. September 1848 die neue Schweizerische Bundeverfassung anzunehmen. Dieser Beschluss war nicht korrekt, weil ein einstimmig geschlossener Vertrag nur einstimmig wieder aufgehoben werden kann. Der Mehrheitsbeschluss überstieg die Kompetenz der Tagsatzung. Doch faktisch wurde die Schweiz dadurch ein Bundesstaat mit Mehrheitswahlrecht, und ist es bis heute geblieben. Die unterlegenen katholischen Kantone fühlten sich von der protestantischen Mehrheit unterdrückt; sie brauchten viele Jahrzehnte, bis sie sich mit ihrem Staat identifizieren konnten.

B. Die direkte Demokratie kommt Die Bundeverfassung von 1848 beinhaltete eine rein parlamentarische Demokratie ohne Volksabstimmungen. Volksabstimmungen sollte es nur im Fall einer Totalrevision der Bundesverfassung geben, worauf dann die neue Verfassung im Fall der Annahme rechtskräftig wurde. Im Laufe der Zeit zeigten sich Mängel bei der Heeresorganisation und bei der Handels- und Gewerbefreiheit, welche eine stärkere Zentralisierung erforderten, was aber von der katholischen Seite abgelehnt wurde. In einem Tauschgeschäft wurden Heeresorganisation und der Handels- und Gewerbefreiheit zentralisiert und dafür das obligatorische Verfassungsreferendum und das fakultative Gesetzesreferendum eingeführt, wenn diese Vorlagen vom Parlament ausgingen. Zum 29. Mai 1874 wurde die revidierte Eidgenössische Bundes-

C. Steuerwettbewerb: Das Baldwin­Krugmansche Gesetz verfassung mit den genannten Änderungen von Volk und Ständen (Kantonen) angenommen und in Kraft gesetzt. Mit diesem Tauschhandel wurde der erste Schritt in Richtung der direkten Demokratie im Bund vollzogen. Für sich allein hätte die revidierte Verfassung von 1874 wenig geändert, wenn nicht kurz darauf die Volksinitiative auf Teilerneuerung der Bundesverfassung eingereicht und angenommen worden wäre. Nach verschiedenen erfolglosen Versuchen reichte im Jahr 1884 eine Gruppe von katholisch-konservativen Parlamentariern eine Motion auf Teilrevision der Bundesverfassung ein. Der Bundesrat erarbeitete eine Revision der Bundesverfassung auf Einführung der Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung. Offenbar wurde übersehen, dass mit dem Recht auf Teilrevision auch das ebenfalls in der Verfassung verankerte Majorz-Wahlrecht nach Art. 6 der BV von1848 zur Disposition gestellt wurde. Auf dem Majorz beruhte nämlich die Parlamentsmehrheit und damit die Machtbasis der dominanten Freisinnigen Partei im Nationalrat. Es sollte aber noch dreißig Jahre dauern, bis über den Weg der Volksinitiative auf Teilrevision der Majorz abgeschafft und das proportionale Wahlsystem in die Verfassung kam und bis im Jahr 1919 schließlich die erste Nationalratswahl nach dem neuen Prinzip durchgeführt werden konnte. Diese Wahl führte zu einem politischen Erdrutsch. Der Abgeordnetenanteil der Freisinnigen sank in von 54 % auf 33 %. Neue Parteien wie die Sozialdemokraten und die Bauern-Gewerbe-und Bürgerpartei zogen in den Nationalrat ein. Der Proporz veränderte auf einen Schlag das politische Kräfteverhältnis. Von nun an mussten mindesten zwei Parteien im Nationalrat ihre Interessen vereinigen, um eine Vorlage durchzubringen; bisher genügte eine Partei. Das führte nicht zu weniger, sondern zu mehr Vorlagen. Statt dass die Mehrheitspartei wie bisher ihr eigenes Ziel durchsetzte, mussten nun zwei oder mehr Parteien ihre Ziele koordinieren. Es wurden Stimmentauschkoalitionen geschlossen, wie sie im 20. Kapitel dargestellt worden sind. Deswegen lässt sich zusammenfassend festhalten, dass das proportionale Wahlsystem seit seiner Einführung im Jahr 1919 das Wachstum der Staatsaugaben in der Schweiz mehr begünstigt als gehemmt hat.

C. Steuerwettbewerb: Das Baldwin-Krugmansche Gesetz Die Schweiz ist bekannt für ihren interkantonalen Steuerwettbewerb. Es gibt in der Schweiz nicht einen einzigen Einkommensteuersatz wie etwa den nach Abbildung 14.5 oder 14.6 für die Bundesrepublik Deutschland. Vielmehr hat jeder Kanton seinen eigenen Einkommensteuertarif. Im interkantonalen Steuerwettbewerb kann jeder Kanton (im Rahmen der Verfassung) selbst entscheiden, welche Steuern er in welcher Höhe erheben will. Um Kumulationseffekte zu vermeiden, gibt der Bund den Kantonen eine Auswahl von Steuern vor, die sie erheben dürfen. Der Bund praktiziert das sogenannte Trennsystem, innerhalb dessen die Kantone für ihre Steuern Belastungen nach eigenem Ermessen festsetzen.

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29. Kapitel: Die Schweiz Belastung mit Einkommensteuer nach Wohnort in der Schweiz 30 25 20 15 10 5 0 Zürich Bern Luzern Altdorf Schwyz Sarnen Stans Glarus Zug Fribourg Solothurn Basel Liestal Schaffhausen Herisau Appenzell St. Gallen Chur Aarau Frauenfeld Bellinzona Lausanne Sion Neuchâtel Genf Delémont Direkte Bundessteuer

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Abbildung 29.1: Spitzensteuersätze in Kantonshauptorten für Doppelverdiener bei 1.000.000 CHF Einkommen in % 2014 Quelle: nach Daten der Eidgenössischen Steuerverwaltung

Das Kartenbild eines solchen Steuerwettbewerbs ergibt nach Abbildung 29.1 einen bunten Teppich mit teils höheren, teils tieferen Steuerbelastungen. Doch der Teppich ist nicht willkürlich, er hat System. Wirtschaftlich günstige Standorte haben hohe Steuern, entlegene Standorte haben niedrige Steuern. Denn der wirtschaftliche Nachteil schlechterer Standorte muss durch niedrigere Steuern kompensiert werden. Das ist der Inhalt des so genannten Baldwin-Krugmanschen Gesetzes. Wenn der Bund diesem Zusammenhang nicht Rechnung trägt und (wie in Deutschland) überall gleich hohe Belastungen festsetzt, so behindert er die Entwicklung der Kantone. Es kommt es zu Überfüllung in den Kernstädten und zu Entleerung in der Peripherie (R. E. Baldwin, P. Krugman 2002) Um der Zentralisierung entgegenzuwirken, müssen die Steuern in der Kernstadt höher und in der Peripherie niedriger sein. Dieser Zusammenhang kommt in der Abbildung 29.2 zum Ausdruck. Zürich (ZH), Bern (BE) und Lausanne (VD) sind als zentrale Orte anzusehen, die hohe Steuern verlangen, während die sie umgebenden peripheren Kantone Schwyz (SZ), Ob- und Nidwalden (OW, NW) und Fribourg (FR) heller gefärbt sind und vergleichsweise niedrigere Steuern haben, weil sie nur so ihre Entwicklungschancen nutzen können. Der Steuerwettbewerb bringt also im Großen und Ganzen, was von ihm erwartet wird. Auch in dynamischer Hinsicht gibt es Bewegungen, die sich durch diese Besteuerung erklären lassen. Wanderungen erfolgen von Hochsteuer-Gebietskörperschaften zu Niedrigsteuer-Gebietskörperschaften. Bezieher hoher Einkommen lassen sich insbesondere in Kantonen und Gemeinden mit niedriger Steuerbelastung und guten öffentlichen Leistungen nieder. Auf niedrigere Steuerbelas-

D. Weshalb überleben Gemeinden und Kantone?

Abbildung 29.2: Baldwin-Krugmansches Gesetz: Kantonale und (gewichtete) lokale Einkommensteuerbelastung für Verheiratete mit zwei Kindern bei einem Reineinkommen von einer Million Franken im Jahr 2006 Quelle: Eidgenössische Steuerverwaltung

tungen reagieren Selbständige stärker als Rentner und abhängig Beschäftigte sowie junge, gut ausgebildete Schweizer stärker als ältere Einwohner. Aber auch die Kantone reagieren auf Steuersatzdifferenzen: Je geringer die Steuerbelastung im benachbarten Kanton, umso stärker senkt ein Kanton seine eigenen Steuern. Zu einem Abfall der öffentlichen Leistungen ist es bisher noch nicht gekommen (L. P. Feld, 2009).

D. Weshalb überleben Gemeinden und Kantone? Manche Kritiker lehnen die Finanzautonomie der Gebietskörperschaften ab. Finanzautonomie führe zu Steuerwettbewerb, und Steuerwettbewerb führe zu einem „race to the bottom“ mit Insolvenz der betroffenen Gebietskörperschaften. In der Schweiz hat der Gesetzgeber für den Fall insolventer Gemeinden das Bundesgesetz vom 4. Dezember 1947 über die Schuldbetreibung gegen Gemeinden und andere Gebietskörperschaften des kantonalen öffentlichen Rechts (SchGG) beschlossen2. Es sieht die Möglichkeit einer Kreditverlängerung und einer Zinsabsenkung vor, Schuldenerlass oder ein haircut sind nicht vorgesehen. Am bedeutendsten ist die Bestimmung, wonach zahlungsunfähige Gemeinden für maximal drei Jahre unter Beiratschaft der Aufsichtsbehörde 2

SR 282.11

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29. Kapitel: Die Schweiz und damit unter obrigkeitliche Verwaltung gestellt werden können (Chr. A. Schaltegger und M. Winistörfer, 2013). Das Beispiel des kleinen Badeortes Leukerbad von 1400 Einwohnern im Kanton Wallis ist zum Paradigma geworden, das zeigt, wie ein strikter No-Bailout die Marktinstitutionen stärken, stabilisieren und so vorangegangenes Marktversagen überwinden kann. In den 1990er Jahren verstieg sich der Bürgermeister von Leukerbad in einen Investitionsrausch von 454 Millionen CHF, der weit über die finanzielle Kapazität von Leukerbad hinausging. Ab 1998 war die Gemeinde nicht mehr in der Lage, ihre laufenden Zinsen zu bezahlen, daher kam sie unter die Beiratschaft des Kantons. Doch zu einem Ende führte dieses Verfahren nicht, weil sich die kreditgebenden Banken weigerten, die Haftung für die finanziellen Verluste Leukerbads zu übernehmen. Ihrer Meinung nach sei die Regierung des Kantons Wallis haftbar, weil sie die Überwachungspflicht gegenüber ihrer Gemeinde Leukerbad verletzt habe. Der Kanton Wallis sollte für die Schulden von Leukerbad einstehen, ein Bailout sei angezeigt. Das schweizerische Bundesgericht in Lausanne widersprach. Nicht der Kanton, sondern die kreditgebenden Banken hätten ihre Aufsichtspflicht verletzt. Eine Bank müsse prüfen, wem sie Kredit gebe. Die Banken hatten vor Gericht keinen Erfolg, ihre Klage wurde im Jahr 2003 endgültig abgewiesen. Es trifft zu, dass die kreditgebenden Banken ex ante vor einem Qualitätsidentifikationsproblem (Lemons-Problem nach Akerlof, 1970) standen. Sie konnten (unter den vielen Gemeinden der Schweiz) eine Gemeinde wie Leukerbad nicht ohne weiteres als schlechten Schuldner erkennen. Doch dieses Marktversagen löste sich nach dem Urteil des Bundesgerichtes endogen durch die Marktkräfte. Schon bald etablierten sich nämlich Rating-Agenturen, sie deckten die Kreditwürdigkeit der Gemeinden, aber auch der Kantone als Schuldner auf, und dokumentierten diese in ihren Ratings.3 Hätte umgekehrt das Gericht den Kanton Wallis zur Schuldenübernahme gezwungen, so wären die RatingAgenturen nicht entstanden, die Fähigkeit des Kapitalmarktes, Marktversagen zu überwinden, wäre verwischt geblieben und ein Anreiz für die Gemeinden, ihren Haushalt sorgfältig zu kalkulieren, wäre ausgeblieben. In der Schweiz leisten Bund und Kantone einander Amtshilfe. Aber sie sind nicht verpflichtet, einander finanziell zu retten, wenn sei in eine finanzielle Notlage geraten (Ar. 44 BV). Hierzu gibt es auch schon Präzedenzfälle. Als die Kantone Bern, Solothurn, Genf, Waadt, Appenzell Ausserrhoden und Glarus in den 1990er Jahren infolge großer Verluste ihrer Kantonalbanken in Not gerieten, waren sie auf sich selbst gestellt. Die Frage, ob der Bund mit Finanzspritzen helfe, kam gar nicht auf. Vielmehr gingen Bund und Kantone davon aus, dass das Nichtauslösungsprinzip, das so genannte No-Bailout-Prinzip, gilt, wonach jeder Kanton für seine Finanzen selbst verantwortlich ist.

3

Im Mai 2011 hielten von den 26 Kantonen sieben die Höchstnote AAA. 15 waren im Segment AA zu finden, und nur vier waren im hohen Single-A verankert (Quelle: Aargauische Kantonalbank).

E. Der Finanzausgleich in der Schweiz Als Folge der damaligen Finanzkrise haben die Kantone Solothurn und Appenzell Außerrhoden ihre Kantonalbanken geschlossen. In den Kantonen Bern, Genf und Waadt wurden die Staatsgarantien für die Kantonalbanken eingeschränkt oder aufgehoben. In anderen Kantonen jedoch ist die Staatsgarantie, wie aus Abbildung 29.3 hervorgeht, sehr hoch geblieben und im Vergleich zu den Gesamtausgaben des Kantons noch immer sehr hoch. Dort stellen Kantonalbanken potentielle Gefahrenherde im Fall einer Zahlungsunfähigkeit dar. Allerdings wird es für betroffene Kantone schwer sein, Bundeshilfe zu erlangen, nachdem die vorgenannten Kantone (Bern, Solothurn, Genf, Waadt, Appenzell Ausserrhoden und Glarus) sich mittels eigener Ressourcen finanziell saniert haben. Eine Mehrheit lässt sich schwerlich zusammenbringen. Bilanzsumme der Kantonalbanken in % der Ausgaben des Heimatkantons, 2014 > 1200 800–1200 400–800

BS 808

0–400

JU 264 NE 455 VD2 443 GE 2 192

1 2

BL 580 AG 475

SO 1

BE 2 243 FR 574

SH 898

LU 944 OW 1341

TG 1009 ZH 1145

ZG 988 NW 1203

VS 387

Al 1838

AR 1

SZ 1132 UR 689

SG 675 GL 1266

GR 819

TI 312

In den Kantonen Solothurn und Appenzell Ausserrhoden existieren heute keine Kantonalbanken mehr. In den Kantonen Bern, Genf und Waadt wurden die Staatsgarantien nach Krisen eingeschränkt oder abgeschafft.

Abbildung 29.3: Gefahren in den Budgets der Kantonalbanken Quelle: Neue Zürcher Zeitung, 23. November 2016

E. Der Finanzausgleich in der Schweiz 1. Horizontaler Finanzausgleich Deutschland hat ein bundesweit einheitliches Steuersystem. Daher lässt sich in Annäherung sagen: Ein Bundesland, das überdurchschnittlich viele Steuereinnahmen pro Kopf realisiert, ist finanzstark, eines, das unterdurchschnittliche Steuereinnahmen pro Kopf der Bevölkerung realisiert, ist finanzschwach. In der Schweiz aber haben die Kantone (wie erwähnt) unterschiedliche Steuerbelastungen; daher sagt der Steuerertrag pro Kopf der Bevölkerung nichts über seine

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29. Kapitel: Die Schweiz potentielle Finanzstärke aus. Von zwei Kantonen mit gleichem Steuerertrag kann der eine potentiell finanzstark und der andere potentiell finanzschwach sein. Folglich müssen in der Schweiz Finanzstärke und Finanzschwäche am Steuerpotential und nicht am Steuerertrag gemessen werden. Das Steuerpotential ergibt sich an der Ausstattung eines Kantons mit Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und natürlichen Ressourcen pro Kopf der Bevölkerung. Auf dieses Potential kommt es an. Der schweizerische Bundesgesetzgeber konkretisiert: „Das Ressourcenpotential eines Kantons ist der Wert seiner fiskalisch ausschöpfbaren Ressourcen. Es wird berechnet aus den steuerbaren Einkommen der natürlichen Personen, den Vermögen der natürlichen Personen und dem steuerbaren Gewinn der juristischen Personen.“ Aus diesem werden finanzausgleichsrelevante Ressourcenindices berechnet. Die ressourcenstarken Kantone entrichten einen Ausgleich an ressourcenschwache Kantone im Ausmaß der Differenz zwischen ihren eigenen Ressourcen und dem schweizerischen Durchschnitt. Daraus erhalten die ressourcenschwachen Kantone jährlich Mittel auf Grund ihres Ressourcendefizits und der Zahl ihrer Einwohner. Es wird angestrebt, dass die maßgebenden eigenen Ressourcen jedes Kantons pro Einwohner mindestens 85 Prozent des schweizerischen Durchschnitts erreichen.4 In Deutschland wird demgegenüber ein Ausgleich von fast 100 % angestrebt (Tabelle 28.2).

2. Vertikaler Finanzausgleich 17 % der Bundessteuern werden für den interkantonalen Finanzausgleich verwendet. Sie fließen zu 1/3 in den Ressourcenausgleich und zu 2/3 in den geographisch-topographischen Lastenausgleich. Die Beiträge der ressourcenstarken Kantone in den Ressourcenausgleich sollen zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln des Bundesbeitrages liegen.

3. Bundesbeiträge Der Finanzausgleich lässt den Kantonen Freiheit, das erhaltene Geld zweckungebunden zu verwenden. Bundesbeiträge dienen demgegenüber einem Zweck, den die Kantone befolgen müssen. Es sind zweckgebundene vertikale Finanzausgleichszahlungen (matching grants), hinter denen meist eine Interessengruppe steht. Pro Senectute erhält beispielsweise für das Jahr 2010 Bundesbeiträge in der Höhe von 2,4 Milliarden CHF zur Unterstützung der älteren Einwohner und deren Pfleger. Die Sport- und Bewegungsförderung für Kinder und Jugendliche wird mit 190,92 Mill. CHF unterstützt usw. Solche Finanzzuweisungen sind den deutschen Dotationen der 1960 er Jahre vergleichbar (s. 28. Kapitel). Alle diese Finanzierungswünsche gehen an 4

Bundesgesetz über den Finanz- und Lastenausgleich (FiLaG) vom 3. Oktober 2003

E. Der Finanzausgleich in der Schweiz

Vertikaler Finanzausgleich

Bund

17% (15%) DirB‘ST

← ← ← vertikal → → → Lastenausgleich GLA

Ressourcenausgleich

S LA

VRA

HRA

Sonderlasten zweckgebunden an Kantone und Organisationen ← ← ← ← ← ← horizontal → → → → → → Ressourcenschwache Kantone

Ressourcenstarke Kantone

GLA = Geografisch-topografischer Lastenausgleich SLA = Soziodemografischer Lastenausgleich VRA = Vertikaler Ressourcenausgleich (Bund – Kantone) HRA = Horizontaler Ressourcenausgleich (Kantone – Kantone)

Abbildung 29.4: Finanzausgleich in der Schweiz

der Selbständigkeit der Kantone vorbei. Sie führen zur Zentralisierung der Staatstätigkeit. Der Bund entscheidet, und die Kantone dürfen oder sollen das Geld (grants) ausgeben. Hiefür hat sich der Ausdruck „Vollzugsföderalismus“ durchgesetzt.

4. Mehrheitsfähiger und anschlussfähiger Finanzausgleich Als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung muss der in Abbildung 29.4 dargestellte Finanzausgleich mehrheitsfähig sein; er muss mehr Gewinner- als Verliererkantone aufweisen. Dies trifft im Fall des Finanzausgleichs von Abbildung 29.4 für die Mehrheit der Kantone zu und ist aus Abbildung 29.5 auch ersichtlich. Aber die Abstimmenden fragen nicht nur, ob für ihren Kanton der Finanzausgleich mehr Nutzen als Kosten bringt und er in diesem Sinn mehrheitsfähig ist. Sie fragen auch, ob sie sich in ihrem Kanton gegenüber dem Status quo besser stellen. Ist dies der Fall, so ist der Finanzausgleich anschlussfähig. Um politisch durchsetzbar zu sein, muss der neue Finanzausgleich nicht nur mehrheitsfähig, er muss auch anschlussfähig sein. Dieser Unterschied war im Jahr 2004, als es um die Einführung des neuen Finanzausgleichs von Abbildung 29.4 ging, von Bedeutung. Dieser stellte zwar eine Mehrheit besser (s. Abbildung  29.5), da

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494

29. Kapitel: Die Schweiz 700.000 600.000 500.000 400.000 300.000 200.000 100.000 0 –100.000 –200.000 –300.000 –400.000 –500.000 –600.000 –700.000 –800.000 –900.000

ZH GE ZG BS SZ VD NW BL SH Al TI CW AR GL UR JU NE SO AG TG GR LU SG FR VS BE

Ressourcenausgleich

Geografisch-topografischer Lastenausgleich

Soziodemografischer Lastenausgleich

Härteausgleich

Abbildung 29.5: Die politisch-ökonomische Balance des neuen Finanzausgleichs der Schweiz 2004/2011 Quelle: Chr. Schaltegger (2011)

aber die Anschlussfähigkeit vor der entscheidenden Volksabstimmung im Jahr 2004 zunächst nicht in allen Kantonen gegeben war, musste den betroffenen Kantonen zusätzlich noch ein auf 28 Jahre terminierter Härteausgleich zugestanden werden (grau in Abbildung 29.5). Daher passierte die Abstimmung zum Finanzausgleich mit 64,3 % Ja zu 35,7 % Nein. Im Jahr 2011 fand noch einmal eine Kontrollabstimmung statt (Abbildung 29.5). Weil wiederum sowohl Mehrheitsfähigkeit gegeben war und Anschlussfähigkeit hergestellt wurde, passierte auch diese Vorlage mit Zustimmung.

F. Zusammenfassung des 29. Kapitels Die heutige Schweiz ist aus einer sehr knappen Tagsatzungsentscheidung von 1848 hervorgegangen; damals wurde die neue Bundesverfassung angenommen. Doch eine direkte Demokratie existierte in der Verfassung von 1848 noch nicht. Sie entstand erst langsam aus einem Gesetzgebungskompromiss von 1874, der darauf zum proportionalen Wahlsystem führte, das heute noch in der Schweiz gilt. Wo, wie in der Schweiz, Gebietskörperschaften untereinander im Wettbewerb stehen, da fallen die individuellen Steuerbelastungen unterschiedlich und im Durchschnitt niedriger aus als unter einem einheitlichen Steuersystem aller Gebietskörperschaften. Der Steuerwettbewerb drückt die Steuerbelastung. Wenn die Schweiz ein wettbewerbliches Steuersystem hat, so bedeutet dies nicht, dass sich die Regierungen der Gebietskörperschaften auf einen selbstvernichtenden

F. Zusammenfassung des 29. Kapitels Steuersenkungswettlauf einlassen, sondern dass sie sich wegen des Steuerwettbewerbs mäßigen. Der schweizerische Finanzausgleich orientiert sich nicht am Steuerertrag, den die Kantone pro Kopf der Bevölkerung erzielen, sondern an der Ressourcenausstattung, aus dem sie ihren Haushalt finanzieren. Der Finanzausgleich ist also unabhängig davon, ob der Kanton selbst hohe oder niedrige Steuern erhebt.

Literatur zum 29. Kapitel R. E. Baldwin, P. Krugman, Agglomeration, Integration and Tax Harmonization, NBER Working Paper No. 9290, 2002. Ch. B. Blankart, Dezentraler Staat und wirtschaftliche Entwicklung, Colloquium Rauricum XIII, Augst 2011. Ch. B. Blankart, Föderalismus in Deutschland und in Europa, Baden-Baden (Nomos) 2007. Ch. B. Blankart, Swiss Role. What the Euro zone could learn from Switzerland, Economic Affairs, spring 2015, S. 18–21. Ch. B. Blankart und E. R. Fasten, Wer soll für die Schulden im Bundesstaat haften? Eine vernachlässigte Frage der Föderalismusreform II, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Band 10, Heft 1, 2009, S. 39–59. Ch. B. Blankart und A. Klaiber, Was folgt aus „Leukerbad“? Wider faule Kompromisse in der Gemeindeautonomie, Neue Zürcher Zeitung, Internationale Ausgabe, Nr. 216, 18. September 2003, S. 17. Ch. B. Blankart und A. Klaiber, Subnational Government Organization and Public Debt Crises, Economic Affairs, Vol. 26, Nr. 3, 2006, S. 48–54. Ch. B. Blankart und A. Klaiber, Wer soll für die Schulden von Gebietskörperschaften haften? in: Chr. A. Schaltegger und St. C. Schaltegger, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Zürich (vdf Hochschulverlag AG an der ETH), 2004, S. 137–150. L. P. Feld, Braucht die Schweiz eine materielle Steuerharmonisierung? Zürich (economiesuisse) 2009. Eidg. Finanzdepartement EFD und Konferenz der Kantonsregierungen, Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen – NFA, Bern (EFD) 2007. Eidgenössische Finanzverwaltung, Entwicklung der Staatsfinanzen: Erste Resultate 2009 und Prognosen 2010–2014, Bern (EFD) 2011. B. S. Frey, Macht Demokratie glücklich? Neue Zürcher Zeitung 8.3.2013 E. His, Geschichte des Schweizerischen Staatsrechts, 1. und 2. Band, Basel (Helbing & Lichtenhahn) 1920 und 1929. Historisch-Biographisches Lexikon der Schweiz, Bd. 2, 4 und 5, Neuenburg (Administration des HBL) 1924, 1927, 1929. Historisches Lexikon der Schweiz online (2002 ff.) Meyers Konversations-Lexikon, 1888; Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885–1892; 18. Band: Jahres-Supplement 1890–1891, S. 887 [www = 18.903]. A. T. Peacock und J. Wiseman, The Growth of Public Expenditure in the United Kingdom, Princeton (Princeton Univ. Pr.) 1961. Chr. Schaltegger, Finanzausgleichsreform in der Schweiz aus Prozesssicht, Universität Luzern 2011. Chr. Schaltegger und M. Weder, Die Bundesfinanzen im Spiegel der Geschichte, Die Volkswirtschaft, ½-2010, S. 27–31. G. von Schanz, Die Steuern der Schweiz in ihrer Entwicklung seit Beginn des 19. Jahrhunderts, V Bände. Stuttgart (Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger) 1890. M. Spoerer, Wann begannen Fiskal- und Steuerwettbewerb? Eine Spurensuche in Preußen, anderen deutschen Staaten und der Schweiz, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2, 2002, S. 11–35.

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Föderalismus: Die vertikale Dimension der Gewaltenteilung

30. Kapitel US­Föderalismus und deutscher Föderalismus im Vergleich A. Die Vereinigten Staaten und Deutschland: Zwei Bundesstaaten im Vergleich Die Vereinigten Staaten und Deutschland sind in ihrer äußeren Erscheinung sehr ähnliche Bundesstaaten. Die staatlichen Aufgaben sind in den USA wie in Deutschland auf drei staatliche Ebenen: Bund, Länder/Bundesstaaten und Gemeinden verteilt. Aufgaben mit zunehmenden Skalenerträgen (wie militärische Verteidigung) finden sich vorwiegend beim Bund, solche mit konstanten bis abnehmenden Skalenerträgen (wie Schulen und Universitäten) bei den Ländern/Bundesstaaten oder Gemeinden. So gesehen scheinen keine großen Unterschiede zwischen beiden Staaten zu bestehen. Unterschiede bestehen jedoch in der Finanzierung, insbesondere der Finanzierung im Krisenfall.

B. Das Verwaltungsprinzip in Deutschland In Deutschland ist der Föderalismus nach dem „Verwaltungsprinzip“ organisiert. Der Bund hat das letzte Wort über die Zuteilung der Steuern und Staatsausgaben auf die Gebietskörperschaften. Der gesamte Haushalt von Staatseinnahmen und -ausgaben der Gebietskörperschaften (von etwa 700 Mrd. Euro) wird auf Bund und Länder aufgeteilt. Davon erhält jede der beiden Ebenen etwa die Hälfte (ohne Zahlungen an die EU). Der Anteil der Länder wird so aufgeteilt, dass jedes Land nach Finanzausgleich etwa die gleich hohen ProKopf-Ausgaben tätigen kann und bei gleichen Stückkosten etwa auf das gleiche Leistungsniveau kommt. Der Bund garantiert auf diese Weise „gleichwertige Lebensverhältnisse“ in allen Teilen der Bundesrepublik unabhängig von deren aktueller Finanzlage. So schreibt es das Grundgesetz in Art. 72 Abs. 2 vor. Reichen diese Mittel in einem Bundesland nicht aus, so nimmt es Kredite auf, für die subsidiär die Gesamtheit von Bund und Ländern haftet, welche die Garantie ausgesprochen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat den Anspruch auf „gleichwertige Lebensverhältnisse“ in seinem Berlin-Urteil vom 19. Oktober 2006 grundsätzlich bestätigt (2 BvF 3/03). Die Bundesländer erhalten dadurch eine finanzielle Beistandsgarantie.

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30. Kapitel: US­Föderalismus und deutscher Föderalismus im Vergleich

C. Das Autonomieprinzip in den USA Die USA sind nach dem „Autonomieprinzip“ organisiert. Der Bestand der einzelnen Bundesstaaten ist in der US-Verfassung (anders als der Bestand der Länder in Deutschland) nicht garantiert. Daher müssen US-Bundesstaaten finanzielle Notsituationen ohne Rückgriff auf andere Bundesstaaten und ohne den Bund bewältigen. Aus US-Sicht ist ein Bundesstaat einem Projekt vergleichbar, das ein Developer unternimmt, weil er hofft, dass sich viele Siedler dazu entschließen, in seinem Bundesstaat Wohnsitz zu nehmen und dass der Bundesstaat auf diese Weise zum Erfolg wird. Am finanziellen Erfolg lässt sich erkennen, ob der Bundesstaat nützlich ist. Daher liegen Kredite zugunsten eines US-Bundesstaates nicht in der Verantwortung des Bundes, sondern der Kreditgeber. Wer immer einem US-Bundesstaat oder einer US-Gemeinde Geld leiht, tut es auf eigenes Risiko. Der Bund hat damit nichts zu tun. Der Bund gewährleistet einem Bundesstaat auch nicht ein bundesdurchschnittliches Niveau der öffentlichen Leistungen. Er gibt ihm allenfalls zweckgebundene Kredite, die ihm erlauben, wohlfahrtsrelevante Leistungen (wie Bundesstraßen) preisgünstiger zu bauen als wenn er diese selbst finanzieren müsste. Daher besteht auch kein Anlass, dass der Bund einen Bundesstaat aus einem Finanznotstand durch einen Bailout befreit. An die Stelle des Finanzbeistands tritt die Vermittlung zwischen Gläubiger und Schuldner. In den USA sind die Gerichte mit der Vermittlung betraut. Es gibt keinen Retter der letzten Instanz, an den sich die Gläubiger oder der Schuldner wenden könnten. Es geht nicht um Hilfe in der Not (wie im Falle Deutschlands), sondern nur darum, die prekäre Situation für Gläubiger und Schuldner möglichst glimpflich zu bewältigen.

D. Gemeinden In Deutschland erfüllen Staatkredite häufig die Funktion eines Restpostens. Sie dienen dazu, einen Fehlbetrag im Landeshaushaushalt zu überbrücken (sogenannte Löcher zu stopfen). In den USA sind Staatskredite häufig zweckgebunden. Sie sollen dazu dienen, ein Projekt, z. B. eine Sporthalle oder ein Stadion, zu finanzieren. Sie werden dann der Standortgemeinde zugerechnet. Eine allfällige Zahlungsunfähigkeit bezieht sich dann nicht auf den Bundesstaat, sondern auf die Standortgemeinde. Diese kann dann ein GemeindeRestrukturierungsverfahren nach Chapter 9 des US Bankruptcy Code anrufen. Darin sucht das angerufene Gericht nach Mitteln und Wegen, wie die Gemeinde wieder finanziell stabilisiert werden kann. Bisher kam das Verfahren von Chapter 9 in mehr als 600 Fällen zur Anwendung. Prominente Beispiele sind Orange County 1994 und Detroit 2013. Am Anfang des US Chapter 9 steht die Erklärung des Schuldners, dass er zahlungsunfähig ist, wodurch zunächst einmal ein Moratorium ausgelöst wird. So wird Zeit gewonnen, während die Gemeinde einen Plan über die Restruktu-

D. Gemeinden rierung ihrer Schulden ausarbeitet, diesen mit den Gläubigern verhandelt und ihnen zur Abstimmung stellt. Die Gläubiger stimmen in Gruppen ab, wobei die Zuordnung zu einer Gruppe von den besonderen Rechten der Gläubiger vor dem Restrukturierungsverfahren und nach dem Restrukturierungsplan abhängt. So soll sichergestellt werden, dass die Interessen von Minderheitsgläubigern nicht verletzt werden und eine Koordination innerhalb einer relativ homogenen Gläubigergruppe stattfinden kann. Das Votum einer Gläubigergruppe wird als Zustimmung zum Plan gewertet, wenn im „headcount test“ eine einfache Mehrheit der Gläubiger in der Gruppe, die zwei Drittel der ausstehenden Forderungen hält, dem Plan zustimmt. Schließlich muss das Gericht den Plan sanktionieren. Dabei kann das Gericht die fehlende Zustimmung einer Gläubigergruppe auch durch sein Urteil ersetzen und so alle Gläubiger binden („cram-down“), wenn zumindest eine der anderen Gläubigergruppen, die durch den Plan betroffen ist, zustimmt und das Gericht den Plan als „nicht diskriminierend, fair und vernünftig“ bewertet. Dadurch sollen die Chancen für eine erfolgreiche Restrukturierung erhöht werden, denn auch wenn Probleme kollektiven Handelns durch ein Mehrheitsverfahren minimiert werden, gibt es gleichwohl Gründe, weshalb ein Plan, der „nicht diskriminierend, fair und vernünftig“ ist, nicht die Zustimmung aller Gläubigergruppen findet: In einigen Gruppen mögen Koordinationsprobleme fortbestehen; in anderen Gruppen mögen Gläubiger eine Restrukturierung des Schuldners verhindern und den Zahlungsausfall des Schuldners herbeiführen wollen, weil sie Kreditausfallversicherungen ohne unterliegende Kredite („naked credit default swaps“) realisieren wollen oder mit Leerverkäufen auf fallende Anleihekurse setzen. Da eine Liquidation der Gemeinde von Anfang an ausgeschlossen ist, stellt diese auch keine Drohkulisse vor den Augen des Schuldners dar. Bei einer Restrukturierung sind die Rechte der Gläubiger und die Befugnisse des Gerichts, sich in die Angelegenheiten des Schuldners einzumischen, begrenzt. Der öffentliche Schuldner kann unbeschränkt über sein Eigentum verfügen und über seine Einnahmen und Ausgaben selbst bestimmen. Die Gemeinde soll fortbestehen und ihre öffentlichen Aufgaben wahrnehmen. Nicht die Gläubiger, sondern die Bürger sollen repräsentiert durch ihre politischen Agenten über die Geschicke der Gemeinde entscheiden. Die Möglichkeit, nicht kooperationswillige Gläubiger zu binden und eine individuelle (egoistische) Forderungsdurchsetzung zu stoppen, stellt eine valide Chance für die Gemeinde dar, sich von einer erdrückenden Schuldenlast zu befreien und sich zu konsolidieren. Je eher sich der Schuldner kooperativ zeigt und je mehr das öffentliche Verfahren Werte zu erhalten verspricht, desto geringer ist der antizipierte Verlust für die Gläubiger und desto vorteilhafter stellt sich die Lage für die Gemeinden dar. Ein solches Verfahren wäre auch für Deutschland von Nutzen (Ch. B. Blankart und D. Ehmke 2014).

Literatur zum 30. Kapitel Ch. B. Blankart und D. Ehmke, Kostenkontrolle im Föderalismus, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Vol. 63, 2014, Heft 2, S. 173-184.

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„Unsere Verwaltung begünstigt die Vielen und nicht die Wenigen. Daher wird sie Demokratie genannt. … Unsere Stadt steht der Welt offen; wir vertreiben nie einen Fremdling. Wir sind frei genauso zu leben wie es uns gefällt“. Perikles von Athen, 431 v. Chr.

31. Kapitel Brauchen die Deutschen ein neues Grundgesetz? Für viele Zeitgenossen stellen Deutschland und sein Grundgesetz eine Einheit dar. Ohne das Grundgesetz gebe es kein Deutschland und ohne Deutschland kein Grundgesetz (vgl. Steinbeis 2011). Wer aber das Grundgesetz bis zu Ende liest, stößt am Schluss auf den Artikel 146 , nach welchem das derzeitige Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tage verliert, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Doch es herrscht Schweigen darüber, was die neue Verfassung beinhalten sollte. Wie durch ein Wunder steht die neue Verfassung eines Tages plötzlich da und kann dann abgerufen werden. Der Glaube an einen solchen „Deus ex machina“ ist aber nicht nur unrealistisch, sondern vor allem gefährlich. Denn wer weiß, was dann kommt? Daher ist es besser, die neue Verfassung rechtzeitig zur Diskussion zu stellen. In den Vereinigten Staaten von Amerika haben die Verfassungsväter von 1787 fast ein Jahr lang darüber diskutiert, was die US-Bundesverfassung beinhalten sollte. Erst danach legten sie den Verfassungsentwurf der Convention von Philadelphia zur Beschlussfassung vor. Eine solche Diskussion sollte auch in Deutschland stattfinden, damit Art. 146 nicht zu ungewollten Überraschungen führt. In diesem Kapitel sollen Vor- und Nachteile von fünf Verfassungsmodellen skizziert und diskutiert werden, die dereinst zur Debatte stehen könnten: Modell 1: Die reine repräsentative Demokratie Modell 2: Die kontinentaleuropäische repräsentative Demokratie Modell 3: Die Präsidialdemokratie der USA Modell 4: Die reine Zweiparteiendemokratie Modell 5: Das Westminster-Modell Modell 1: Die reine repräsentative Demokratie

Demokratie heißt Volksherrschaft. Aber in den meisten Demokratien der Welt wird die Regierungsgewalt vom Volk an gewählte Abgeordnete delegiert. Nur sie dürfen die Gesetze mitgestalten. Zwischen Volk und Abgeordneten besteht

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31. Kapitel: Brauchen die Deutschen ein neues Grundgesetz? also eine Kluft. Eine zentrale Frage lautet daher: Welche Demokratie minimiert die Kluft zwischen Wählern und Abgeordneten? Eine unmittelbare Antwort lautet: Die Zugangsschranken zur Politik werden durch die direkte Demokratie minimiert. In der direkten Demokratie ist jeder Mensch zugleich Wähler und Gesetzgeber. Doch Gesetze zu schreiben ist nicht einfach. Deswegen ist die direkte Demokratie nur in einfachen Verhältnissen praktikabel. Ein anderer Weg, die Schranke zwischen Bürgern und Abgeordneten zu beseitigen, besteht darin, sie erst gar nicht erst zu errichten. Die Wahl zum Parlament erfolgt nicht durch Separierung der Gewählten, sondern durch Einschluss aller Bürgerinnen und Bürger in das Gremium der Gewählten. Jeder Mensch wird geborenes Mitglied des Parlaments. Aber nicht jeder Mensch muss ins Parlament gehen. Er kann seine Stimme an eine Person seines Vertrauens übertragen, die dann zwei oder mehr Stimmen repräsentiert. Repräsentation durch Stimmübertragung ist möglich, wenn jeder Mensch, der nicht selbst ins Parlament möchte, einen Gleichgesinnten als Stellvertreter findet, der für ihn ins Parlament geht. So sind am Ende alle Ansichten der Bevölkerung im Parlament vertreten. Stellt sich dann heraus, dass das Parlament nach dem ersten Wahlgang noch zu groß ist, um funktionsfähig zu sein, so werden in einem zweiten Wahlgang aus allen Kandidaten die (beispielsweise hundert) Kandidat(-innen) gezogen, die im ersten Wahlgang die meiste Unterstützung für das Amt erlangt haben. Das antizipieren die Bürgerinnen und Bürger schon im ersten Wahlgang und wählen ihren Stellvertreter nach dessen Wahlchancen. Das Parlament ist am Ende nach den gleichen Präferenzen zusammengesetzt wie die Gesamtheit aller Bürgerinnen und Bürger. Es liegt eine wahrhaft repräsentative Demokratie (a true representative democracy) vor. Doch wie lässt sich sicherstellen, dass die ins Parlament Delegierten ihren Auftraggebern treu bleiben und nicht im Verlauf der Wahlperiode von den Versprechungen, die sie vor der Wahl vertreten haben, abweichen und eigene Ziele verfolgen? Hierzu dient das fakultative Referendum. Erscheint den Bürgerinnen und Bürgern ein im Parlament beschlossenes Gesetz im Widerspruch zu den Versprechen ihrer Abgeordneten, so verlangen sie mittels Unterschiften eine Volksabstimmung. Fällt das Gesetz dann bei den Wählern durch, so tritt es nicht in Kraft. Das nehmen die Abgeordneten wahr und richten sich in Zukunft wieder stärker nach den Präferenzen ihrer Wähler. Das Parlament bleibt repräsentativ. Abgeordnete und Wähler bleiben im Einklang. Auch in Deutschland wird derzeit die direkte Demokratie als Ergänzung zur repräsentativen Demokratie diskutiert. Doch im Vordergrund steht nicht das hier vorgeschlagene Referendum, sondern das Tripel von „Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid“ (vgl. ASJ-Bundesvorstand 2011). Dieses Tripel soll es den Bürgern erlauben, eigene Gesetzesvorlagen in den politischen Prozess einzubringen. Doch an Vorstößen für neue Gesetze besteht in der Regel kein Mangel. Neue Gesetze generiert der politische Wettbewerb von selbst. Jeder Abgeordnete muss neue Gesetze vorschlagen, damit er gewählt wird. Was fehlt, sind nicht neue Gesetze, sondern es fehlt ein Verfahren, mit dem die Bürger

31. Kapitel: Brauchen die Deutschen ein neues Grundgesetz? unerwünschte Gesetze eliminieren können. Hierzu dient das zuvor vorgeschlagene Referendum. Einer besonderen Volksinitiative bedarf es m. E. nicht. Modell 2: Repräsentative Demokratien in Kontinentaleuropa

In Deutschland wie in den meisten Staaten Kontinentaleuropas werden die Abgeordneten nach einem repräsentativen Verfahren gewählt. Das Parlament besteht somit aus Abgeordneten, die ein möglichst perfektes Abbild der Wählerschaft darstellen. Würden die Gesetze ebenfalls nach dieser Gewichtung verabschiedet, so würden diese genau den Präfenzen der Bürgerinnen und Bürger entsprechen. Doch dies ist meist nicht der Fall. In Deutschland bestimmt der Kanzler in eigener Autorität die Gesetze, ohne dass er selbst je von den Wählern gewählt worden ist. Hierin liegt ein oft vergessenes Dilemma der kontinentaleuropäischen repräsentativen Demokratie. Einerseits haben die Abgeordneten ein freies Mandat: Sie sind an Instruktionen nicht gebunden. Anderseits wird von ihnen doch erwartet, dass sie für sie für die von der Parteileitung vorgeschlagene Regierung stimmen. Dies geht nur, wenn die Parteileitung Druck auf die Abgeordneten ausübt, der bewirkt, dass diese den vorgeschlagenen Politiker als Kanzler oder Ministerpräsidenten wählen und dass sie diesem auch in der Folge auch die Treue halten. Das ist nicht selbstverständlich. Nur wenn es der Parteileitung gelingt, alle Abgeordneten auf Parteilinie zu bringen, entsteht eine stabile Regierung. Parteigehorsam ist nie ganz sicher. Denn Wahlen sind geheim und unkontrollierbar. Abgeordnete können eigenwillig stimmen, ohne dass dies überhaupt bekannt wird. Sachabstimmungen sind dagegen öffentlich und daher kontrollierbar. Abweichler werden entdeckt und zur Rechenschaft gezogen. Den 60 Neinsagern der CDU zu den Griechenlandkrediten von 2015 wurde deutlich gemacht, dass sie als nicht weiter Mitglieder wichtiger Bundestagsausschüsse sein könnten. Fügen sich die Abgeordneten nicht, so werden sie von der Parteileitung nach hinten versetzt, verlieren Amt und Dienstwagen und verschwinden schließlich ganz im politischen Abgrund. Nur Abgeordnete mit eigenem Wahlkreis lassen sich nicht ohne weiteres disziplinieren. Sie sind bei der Stimmabgabe unabhängig und stimmen daher dann und wann auch gegen die Regierung. Das Paradebeispiel für dieses Dilemma der Abgeordneten ist Frankreichs Vierte Republik (von 1944 bis 1957). Die damaligen Parteileitungen hatten nicht so viel Geld, um die Gefolgschaft ihrer Abgeordneten zu „kaufen“. Darum verloren die französischen Regierungen immer wieder die Unterstützung der Parlamentsmehrheit. Eine Regierung nach der anderen stürzte, wenn immer die Abgeordneten ihr die Unterstützung entzogen. Ein Regierungswechsel folgte dem anderen. Frankreich hatte von 1944 bis 1957 22 Regierungen, also 1,5 Regierungen pro Jahr, was demonstriert, dass das französische Regierungssystem eine eingebaute Instabilität aufwies. Stabilität kehrte erst wieder ein, nachdem dem Parlament in der 5. Republik das Recht entzogen worden war, den Präsidenten der Republik und den Premierminister zu wählen.

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31. Kapitel: Brauchen die Deutschen ein neues Grundgesetz? Auch in der Schweiz besteht diese Instabilität, weil die Bundesregierung vom Parlament, der Vereinigten Bundesversammlung, gewählt wird, die Bundesräte aber einzeln und für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt werden. Zu einem Misstrauensvotum ist es daher bislang nicht gekommen. Modell 3: Die Präsidialdemokratie der USA

Im amerikanischen Regierungssystem besteht diese Instabilität nicht, denn es herrscht strikte Gewaltenteilung. Die beiden Organe, Kongress und Präsident, werden getrennt voneinander und beide vom Volk gewählt und sind auch in der Folge voneinander unabhängig. Daher brauchen in diesem System die Abgeordneten nicht diszipliniert zu werden. Der Kongress kann den Präsidenten der USA nicht entlassen. Folglich sind die Abgeordneten nicht an eine Parteiparole gebunden. Sie können nach ihrem eigenen Dafürhalten stimmen. Auch in Deutschland würde eine Präsidialdemokratie Stabilität bewirken: a. Ein vom Volk gewählter Kanzler bräuchte sich nicht um die fortfolgende Unterstützung durch die Abgeordneten seiner Partei zu bemühen. Er wäre in seiner Stellung sicher und könnte es sich erlauben, auch einmal mit der Opposition ein Gesetz zu verabschieden. Die Opposition wäre nicht zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. b. Eine Fünfprozentklausel wäre nicht erforderlich. Beispielsweise gab es im Deutschen Kaiserreich (einem Präsidialsystem) 14 kleine Parteien (1907). Kleine Parteien waren als Stimmenbringer erwünscht. Je mehr kleine Parteien es gab, desto weniger konnte eine von ihnen den Erpresser spielen. c. Das Präsidialmodell würde neue Optionen für die Kanzlerwahl eröffnen. Die derzeit kleinere SPD bräuchte keinen Koalitionspartner, um den Bundeskanzler zu stellen. Sie könnte einen populären Kanzlerkandidaten durch Volkswahl durchsetzen, selbst wenn der Bundestag nachher eine CDUMehrheit aufweist. d. Volksabstimmungen sind in einer Präsidialdemokratie nicht ausgeschlossen, sondern erwünscht. Sie tragen zur Konkretisierung der Politik bei. e. Es wird wenig wahrgenommen, dass das deutsche Bürgermeister- und Oberbürgermeistermodell ein Präsidialmodell darstellt. Der (Ober-) Bürgermeister wird als Exekutive getrennt vom Gemeinderat (einer Art legislativer Gewalt) gewählt. Dieses beliebte Modell lässt sich ohne weiteres auf Länder und Bund übertragen. Verlieren würden nur die großen Parteiapparate, die die Abgeordneten nicht mehr disziplinieren könnten. f. Kritiker wenden ein, das Präsidialsystem sei in Israel 1992 gescheitert. Dieser Einwand trägt nicht. Das Scheitern lag dort nicht am Präsidialsystem, sondern am Parlament, das sich das Recht nahm, dem vom Volk gewählten Ministerpräsidenten einzelne Minister aufzudrücken und bei Bedarf zu entziehen. Was geschah? Ein funktionsfähiges Präsidialsystem wurde mit Elementen der repräsentativen Demokratie – der Nominierung von Ministern – vermischt und dadurch zu Fall gebracht. Der Grundsatz der Gewaltenteilung wurde auf grobe Weise verletzt. Statt das Parlament in die Gesetzgebung zu verweisen und dadurch das Präsidialsystem funktionsfähig zu gestalten, wurde dieses zugunsten einer Vermischung von legislativer und exekutiver Gewalt abgeschafft (vgl. Sezgin 2000).

31. Kapitel: Brauchen die Deutschen ein neues Grundgesetz? Modell 4: Die reine Zweiparteiendemokratie

In den bisher betrachteten Modellen wird das Regierungsprogramm nach den Wahlen aufgestellt. Im Falle von Koalitionsregierungen wissen die Wähler im Zeitpunkt der Wahl nicht genau, für welche Koalition sie stimmen. Das ist ein Nachteil. Vielfach sind die Wähler überrascht, wenn eine andere Koalition an die Macht kommt, als sie sich diese vor ihrer Stimmabgabe gedacht haben. Dieser entfällt dieser Nachteil, weil es einer Koalition nicht bedarf. In der reinen Zweiparteiendemokratie dagegen stellen die Parteiführer ihr Parteiprogramm vor der Wahl auf. Dann wählen die Wähler das bevorzugte Programm. Anschließend führt der Mehrheitsführer die von der Wählermehrheit präferierte Politik durch. Modell 5: Das Westminster-Modell

Das britische Westminster-Modell gleicht dem Modell der reinen Zweiparteiendemokratie. Der Leader unterbreitet sein Programm. Dann wählen die Wähler das bevorzugte Programm. Anders als in der reinen Zweiparteiendemokratie werden die Stimmen nicht im Gesamtstaat zusammengezählt, sondern in den Wahlkreisen. Wer die Mehrheit in einem Wahlkreis errungen hat, erhält einen Sitz in Westminster. Der Leader, der mit seiner Partei die meisten Wahlkreise erobert hat, wird Premierminister und bildet die Regierung. Die Regierungspartei hat in der Regel nicht die Mehrheit der Stimmen im ganzen Land hinter sich. In den Unterhauswahlen von 2015 erzielte die Konservative Partei 50,9 % der Wahlkreise und damit der Sitze in Westminster, aber nur 36,9 % der Stimmen im ganzen Land. Die anderen Parteien konnten kaum Wahlkreise erobern; sie gingen daher leer aus. Nur die schottischen Nationalisten konnten einige Wahlkreise erobern. Doch diese waren für die Mehrheitsbildung in Westminster nicht entscheidend. Parteien, die in Westminster nicht zum Zuge kommen, bilden eine außerparlamentarische Opposition. Sie drohen, wie beispielsweise die schottischen Nationalisten, mit der Sezession. Referenden zwischen den Wahlen sind im Westminster-System nicht unbedingt erwünscht; denn die Wähler haben mit ihrer Wahl über das Programm entschieden. Der Leader der siegreichen Partei hat von seinen Wählern den Regierungsauftrag. Ein Referendum zwischen den Wahlen bringt Verwirrung und trägt, wie BREXIT gezeigt hat, nicht zur Stabilität des Westminster-Systems bei. Zurück zur Ausgangsfrage: Brauchen die Deutschen ein neues Grundgesetz?

Die Antwort lautet: Ja, die Deutschen könnten ein besseres Grundgesetz haben. Sie sollten nicht warten, bis Art. 146 des Grundgesetzes aufgerufen wird und dann konkrete Ideen fehlen. Vielmehr sollte schon vorher eine Debatte über die Alternativen stattfinden. Ein stabiles Grundgesetz ist möglich, wenn Exekutive und Legislative wie in den USA getrennt voneinander gewählt werden und die Abgeordneten nicht gezwungen werden müssen, für die eigene Partei zu stimmen. Die deutsche Bürgermeisterwahl könnte als Modell dienen. Dieses ist eine Art Präsidialdemokratie ohne Disziplinierung der Abgeordneten. Eine solche Disziplinierung entfällt ebenfalls, wenn die Wähler wie in Großbritannien im reinen Zweiparteiensystem über Parteiprogramme statt über Kandidaten abstimmen. Sollen

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31. Kapitel: Brauchen die Deutschen ein neues Grundgesetz? Schranken zur Politik abgebaut werden, so eignet sich das Modell der reinen repräsentativen Demokratie.

Literatur zum 31. Kapitel ASJ-Bundesvorstand (2011), Einführung eines Verfahrens über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene durch Änderung des Grundgesetzes und Beschluss eines Ausführungsgesetzes. Blankart, Ch. B. und Mueller, D.C. (2004), The advantages of pure forms of parliamentary democracy over mixed forms, Public Choice, vol. 122, S. 431-453. Blankart, Ch. B. (2014), „Wer soll die Bürger im Staat repräsentieren?“ mit Dennis C. Mueller, in: ifo Schnelldienst 15/2014 – 67. Jahrgang – August 2014, S. 31-34. Mueller, D. C., Tollision, R. D. and Willett, Th. D. (1975), Solving the Intensity Problem in a Representative Democracy, in: R. D. Leiter and K. Sirkin (Hrsg.), Economics of Public Choice, New York: Cyro Press, repr. in: R. Amacher, R. Tollison and T. Willett (Eds.), Political Economy and Public Choice, Ithaca, N. Y.: Cornell University Press, 1976, 444-473. Sezgin, Y (2000), The Implications of Direct Elections in Israel, The Turkish Yearbook, Vol. XXX, S. 73-77.

Personenverzeichnis Aaron, H. 291, 303 Adams, M. XI Adenauer, K. 297, 474 Admati, A. 466 Akerlof, G. A. 58 Alesina, A. 100, 101, 102 Allingham, M. G. 167 Andel, N. 213, 344 v. Arnim, H. H. 128 Arrow, K. J. X, 90, 104, 339 Atkinson, A. B. 86, 163, 261 Ayres, I. 57 Baake, P. XI Backhaus, J. XI Baldwin, R. E. 487, 488, 489 Barro, R. J. 128, 273, 274, 283 Bauer, Chr. 357 Baumol, W. J. 48, 121, 130 Beck, B. 161 Beck, K. 322 Becker, G. S. 59, 227, 228 Bentham, J. 98, 104 Bergstrom, T. 140 Bernholz, P. 96 Besley, T. 443 Bird, R. 227, 228 v. Bismarck, O. 287, 293, 295 Black, D. 89 Blanchard, O. J. 268 Blankart, Ch. B. 17, 50, 101, 118, 173, 230, 238, 239, 326, 371, 423, 461, 480, 499 Blöndal, S. 61 v. Böhm-Bawerk, E. 278, 279 Boileau, N. 307 Bonus, H. 412 Borcherding, T. E. 123, 140 Borck, R. 434 Borrmann, J. 50 Börsch-Supan, A. 301 Bowen, H. R. 75 Bradford, D. F. 351 Brändle, Th. 397 Brecht, A. 122, 423, 440 Brennan, G. 22, 67, 69, 149, 164, 165 Breuer, M. 316 Breyer, Fr. 96, 289, 310, 330

Brown, E. C. 193, 194, 196, 198, 203 Brueckner, J. 182 Buchanan, J. M. 22, 25, 33, 34, 35, 39, 40, 41, 42, 67, 84, 86, 109, 139, 149, 164, 165 Buchholz, W. 230 Buck, F. C. 238, 239 Canard, N. F. 245 Canes, M. E. 389 Case, A. C. 443 Chirac, J. 462 Coase, R. 404, 406, 414, 431, 435, 437, 447, 448, 475 Colm, G. 189 Corlett, W. 162, 176, 230 Coughlin, P. 97 Cunha, F. 61 Damaschke, A. 183 Davis, J. R. 81 Deacon, R. 140 Delors, J. 460 Demandt, A. 20 De Palma, A. 390 Diamond, P. A. 26, 235 Diaz-Cayeros, A. 445 Dolega, St. XI Dollar, D. 62 Downs, A. 10, 92, 93, 100, 397 Draghi, M. 276 Duisenberg, W. 462 Dupuit, J. 341 Dyer, D. 375 Ehmke, D. 444, 461, 499 Eichenberger, R. 182, 399, 428 Endres, A. XI Engelberg, F. 293 Erzberger, M. 201 Faber, M. 344 Faccarello, G. 28 Fasten, E. R. 326, 480 Fehl, U. 386 Feld, L. P. 443, 489 Fenge, R. 289 Field, S. 61 Finsinger, J. XI, 50, 380, 382, 384 Fisher, H. W. 228

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Personenverzeichnis Fisher, I. 228, 265, 278 Forte, F. 109 Frey, B. S. 4, 100, 102, 103, 174, 350, 428 Friedman, M. 3, 59, 64, 117, 217, 220, 221, 225, 368 Fuest, C. 477 Galbraith, J. K. 114 Gandenberger, O. XII Gasser, A. 471 de Gaulle, Ch. 454 George, H. 183 Gerloff, W. 174 Gibbon, E. 18 Girouard, N. 61 Goethe, J. W. 395 Goodman, R. P. 140 Gossen, H. H. 7, 27 Gramlich, E. 435 Gresham, Th. 19 Gress, M. 229 Gundlach, E. 62 Güth, W. 386 Gutmann, P. M. 173, 174 Hague, D. C. 162, 176, 230 Haig, R. M. X, 191, 207 Hall, R. E. 213, 214 Harberger, A. C. 151, 152, 258, 261, 346 Hartz, P. 220 v. Hayek, F. A. 40, 41, 42, 83, 341, 420 Heckman, J. J. 61 Hellwig, M. 466 Herberg, H. 49, 80 Hesiod 174 Hettich, W. 207, 208, 209, 210, 211, 213, 215, 216 Hibbs, D. A. 100, 101, 102 Hicks, J. R. 150 Hilbert, D. 276, 277 Hildebrandt, G. G. 351 Hirshleifer, J. 49, 80 Hobbes, Th. VII, X, 32, 33 Hochman, H. 68 Holler, M. 96 Homburg, St. 223, 234, 236, 291 Höpker-Aschoff, H. 472, 473 Huber, E. R. 293 Huber, J. 275 Hume, D. 265 Ireland; Th. R. 68 Issing, O. 462 Jevons, W. St. X, 25, 75 Johansson, S.-E. 197 Johnson, D. B. 68

Kafka, F. 395, 396, 401 Kagel, J. H. 375 Kahneman, D. 12 Kahn, J. F. 458 Kaldor, N. 228 Kant, I. 368, 419 Kapodistria, I. A. 485 Kay, J. A. 193 Keen, M. J. 441 Kerber, M. C. 464 Kerber, W. 42 Keynes, J. M. 129, 282, 354 Kienast, L. 123 Kifmann, M. 310 King, M. A. 193 Kirchgässner, G. 120 Kirchhof, P. 216 Klock, K. 22 Knieps, G. XII, 50, 371 Koester, G. B. 101, 102, 128, 129 Kohl, H. 461 Kondratjew, N. 279, 280, 282 Kotsogiannis, Chr. 441 Kraay, A. 62 Kramer, G. H. 81, 92 Krämer, W. 13 Kremkow, L. P. 62 Krugman, P. 487, 488, 489 Kurz, H. D. 28 Küttel, D. 42 Kuznets, S. 72, 109 Kydland, F. E. 269 Laffer, A. B. 173, 174, 175, 176, 207, 208, 209, 210 Lancaster, K. 149 Lang, J. 246 Lauré, M. 240 Lausberg, M. 22 Lenz, U. 384, 387, 389 Leu, R. 322 Levin, D. 375 Lindahl, E. 86 Lindemann, G. 154 Lipsey, R. G. 149 Lochner, L. 60 Lockwood, B. D. 234 Lüchinger, S. 397 Ludwig XIV. 307 Mackenroth, G. 288 Mäler, K. G. 351 Mankiw, N. G. 49 Mann, F. K. 245

Personenverzeichnis Marshall, A. 150, 247 Meltzer, A. H. 123 Menger, C. X, 25 Merkel, A. 7 Meyer, St. 397 de Meza, D. 234 Michalopoulos, C. 222 Miezkowski, P. 440 Milgrom, P. 374 Miller, M. H. 198 Mill, J. St. X, 24, 25, 26, 28, 75, 109, 141, 142, 149 Mincer, J. 59, 61 v. Miquel, J. 200, 201 Mirlees, J. A. 26, 164, 235 v. Mises, L. 202, 274, 275, 276, 280, 281, 282 Mitterrand, F. 461, 462 de Montesquieu, C.-L. 179, 368 Moretti, E. 60 Mosca, G. 127 Mueller, D. C. 39, 80, 92, 93, 96, 97, 102, 104, 125, 338 Müller, W. 163 Mulligan, C. B. 227, 228 Musgrave, P. B. 84, 142, 143, 144, 247, 249, 251, 255, 354 Musgrave, R. A. 17, 25, 28, 75, 84, 109, 142, 143, 144, 247, 249, 251, 255, 354 Myles, G. D. 234 Niskanen, W. A. 396, 401 Nitzan, S. 97 Nordhaus, W. D. 99, 100, 101, 102, 403 North, D. C. 41 Oates, W. E. 48, 422, 423, 429 Olson, M. 126, 127 Ostrom, E. 54 Papst Leo XIII. 428 Pauly, M. V. 69 Peacock, A. T. 17, 25, 28 Perikles von Athen 501 Perschau, O. XI Petty, Sir W. 24 Phillips, A. 99, 100, 101 Pigou, A. C. 406, 407, 414, 435, 437, 438, 447, 448 Piketty, Th. 72, 73 Plautus, T. M. 31 Pommerehne, W. W. XII, 120, 123, 127, 140, 141, 167, 168, 169, 344, 345, 351 Popper, K. 12 Potrafke, N. 294 Prescott, E. C. 269

Priesmeier, Chr. 128, 129 Puviani, A. 127, 144 Qian, Y. 422 Rabushka, A. 213, 214 Raffelhüschen, B. 267 Ramsey, F. 161, 176, 362, 371 Rawls, J. 35 Reagan, R. 214 Reding, K. 163 Reiter, M. 123 Ricardo, D. 52, 53, 272, 273, 283 Richard, S. F. 123 Richter, W. F. 59 Riester, W. 298, 302 de Rochemont, Ch. P. 485 Rodgers, J. D. 68 Rose, M. 229 Rosen, H. S. 151, 163, 167 Rosenthal, H. 102 Rothbart, M. 275 Rothschild, M. 309, 313 Saez, E. 164 Samuelson, P. A. X, 75, 78, 79, 82, 83, 197, 277, 413 Sandmo, A. 167 Sauga, M. 461 Sax, E. 135 Schaltegger, Chr. 42, 490, 494 v. Schanz, G. X, 191, 207, 225 Scharpf, E. 474 Schefold, B. 22 Schelker, M. 399, 400 Schlesinger, H. 457 Schmidt, K. 126 Schneider, F. XII, 100, 102, 103, 127, 169, 171, 172 Schnellenbach, J. 57 Schön, W. 194 Schramm, Chr. 373 v. d. Schulenburg, J. M. 324 Schultz, U. 207 Schulz, W. 349 Schumpeter, J. A. 107 Schwintowski, H. P. 326 Shiller, R. J. 58 Simons, H. G. 191, 207 Simons, S. 461 Sinn, H. W. XII, 42, 158, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 257, 289, 461 Smith, A. X, XIII, 3, 10, 23, 24, 27, 93 Spermann, A. 217, 219 Stadelmann, D. 182

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Personenverzeichnis Steiner, P. O. 366, 368 Stern, N. H. 163 Stigler, G. 368 Stiglitz, J. E. 86, 163, 261, 309, 313 Stoetzer, M. W. XI Stutzer, A. 123, 350, 397 Stutz, M. XII Swift, J. 174 Taylor, M. P. 49 Thaler, R. H. 3, 375 Thomas, R. P. 41 Thöne, M. 477 Tiebout, Ch. M. 173, 348, 438, 439, 440, 441, 443, 447, 448 Tipke, K. 246 Tobin, J. 217, 218, 220, 221, 225 de Tocqueville, A. 47 Trichet, J. C. 462 Tsebelis, G. 330, 331, 332, 333 Tullock, G. 25, 33, 34, 35, 39, 40, 41, 42, 55, 67, 124, 125, 126, 396, 425 Tversky, A. 12, 13 Vanberg, V. 40, 42, 434 Vaubel, R. 455 Vickrey, W. 384, 385, 386, 387, 391, 392 Volckart, O. 21 Wagner, A. 107, 108, 117, 128, 129, 130 Wagner, R. E. 420

Walras, L. X, 25 Weber, M. 17, 20, 395, 396, 401 Weck-Hannemann, H. 167, 168, 169, 174 Weichenrieder, A. 123 Weigel, H. 485 Weingast, B. R. 422, 443 Weitzman, M. L. 410 v. Weizsäcker, C. C. 6, 129, 276, 277, 278, 280, 281, 383 Weizsäcker, G. 7 Wenger, E. 192 Wicksell, K. X, 25, 34, 36, 37, 90, 137, 337, 338, 434 Wiegard, W. XII, 230 Wiegrefe, S. 461 Wieswesser, R. 229 Williamson, O. E. 376 Wilson, C. 309, 313 Winch, D. M. 352 Winer, St. L. 207, 208, 209, 210, 213, 215, 216 Winistörfer, M. 173, 490 Witt, U. 40 Wolf, M. 282 Wolf, S. 314 Wolfstetter, E. 388 Wössmann, L. 62, 348 Zenhäusern, P. 50, 371 Zodrow, G. R. 440 Zweifel, P. XI, 310, 316

Sachverzeichnis A Abstimmung mit den Füßen 348, 438 Abstimmungszyklus 89 abstrakte Regeln 40 Abwicklungsfonds 465 Adenauer-Fernsehen 474 Adipöse 57 Agenda Setter 91 Ägypter 18 aktueller Rentenwert 297 allgemeines Wahlrecht 25 Allmendegut 52, 54 Allowance for Corporate Equity (ACE) 194 Alpen 54 Alte Steuern 245 Anarchie 31 angebotsinduzierte Nachfrage 308, 311 Anreizverträge 388 anschlussfähig 493 Äquivalenzprinzip 135 Äquivalenzprinzip und Umverteilung 141 Arbeitseinkommen 158 Arbeitswertlehre 24, 28 Armut und Krankheit 308 Arrow-Paradoxon 90 asymmetrische Information 8 Aufdeckungswahrscheinlichkeit 168 automatische Stabilisatoren 271 B Baumolsche Kostenkrankheit 121 Beinahe-Einstimmigkeitsregel 36 Benchmarking 409 Bestimmungslandprinzip 235 Binnenmarktprinzip 236 Bonusprämien 9 Brechtsches Gesetz 440 Brownsteuer 193 Bruttoeinkommenstyp 232 Bundesbeiträge 492 Bundeswohnbaugesetz 473 Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgaben 474 Bürgerversicherung 327 C Career Concept 63

Cashflow-(CF-)Systeme 191 Choice among rules 67 Choice within rules 67 Clearing-House-System 238 Co-Co-Bond 466 Common pool-Güter 52 Common value 374 Corlett-Hague-Regel 162 D Demokratie – direkte 117 – repräsentative 117 Deutschlands Kapitalmarktdoktrin der Währung 458 Dezentralisierungstheorem 422 Diäten 128 Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse 428 Dienstverpflichtung 58 Differenzialinzidenz 272 direkte Demokratie 88, 502 Dissipation of rents 475 DM-Block 457 Dotationsauflagen 473 Dreißigjähriger Krieg 21 duale Einkommensteuer 194 E Earned Income Tax Credit (EITC) 222 Ehegattensplitting 223 einfache Mehrheitsregel 36 eingesparte Faktoren 345 Eingipfligkeit 89 Einheit der Materie 37 Einkommensbesteuerung 211 Einkommenselastizität 138 Einkommensteuer VIII, 156 Einkommensteuerreformen 213 Einmalbesteuerung 229 Einpersonenregel 35, 42 Einstimmigkeit 25 Einstimmigkeitsregel 42 Einzelhandelsteuer 232 Elastizität des Steuersystems 139 Emissionsauflagen 411

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Sachverzeichnis Entscheidung – innerhalb von Regeln 34 – über Regeln 34 Erbschaftsteuer 230 Erzbergersche Steuerreform 201 Eschatologie der Besteuerung 173 Europäisches Währungssystem EWS 457 excess burden 151 Experten 397 F Familienbesteuerung 223 Feldexperimente 349 Festnahme 38 Finanzkraft pro Kopf 477 Finanzwirtschaft 472 First mover advantage 240 Fischgründe 53 Fiskalillusion 127 Fiskallast 150 Flat Tax 213 Fliegenpapiereffekt 437 Flüchtlinge 71 Förderalismus als Entdeckungsverfahren 420 Frankreichs Instrumentaldoktrin der Währung 458 Freifahrer 49, 86 freizeitkomplementäre Güter 162 G Geldpolitik 464 gelockerte Schuldenbremse 270 gemeinsamer Wert (common value) 373 Generationenbilanz 266 Generationenvertrag 288 gesellschaftliche Rangfolge 90 Gesetz der wachsenden Staatsausgaben 117 Gesetzgebungshoheit 473 Gesundheitsfonds 326 Gewerbeertrag 184 Gipfel von Straßburg 461 Glorious Revolution 23 goldene Zügel 474 gold plating 382 Grandfathering 409 Grenzen des Kontrahierens 425 Güter – inferiore 120 – superiore 120 Gute Steuern 245 Gutscheine 59

H Habitat-III-Konferenz 413 Haftungskaskade (Bail-in) 465 Halbeinkünfteverfahren 193 Hannover 460 Härteausgleich 494 Hartz IV 220, 480 Haushaltsautonomie 472 Health Maintainance Organization 314 Homer 270 I implizite Staatsschuld 289 im Verkehr erforderliche Sorgfalt 405 individuelle Wohlfahrtsfunktionen 350 Inputauflagen 412 institutionelle Kongruenz 86, 431, 440 Instrumentaldoktrin der Währung 457 Inzidenz im Monopol 253 Inzidenz im Oligopol 253 J Johansson-Samuelson-Theorem 197 K Kameralismus 22, 27 Kapazitätsmärkte 369 Kartelle 455 Keil 150 klassisches System 192 kleine Gruppen 126 kleine und mittlere Unternehmen 383 Kollektivkonsum (joint consumption) 48 Komplementaritätsbeziehungen 350 Kondratjew-Zyklen 280 Konstruktivismus 40 Konsumentenrente 150 Konsumsteuer 156 – selektive 156 Kontrakte 58 Kopfsteuer 136, 140, 155 Körperschaftssteuersysteme, Bemessungsgrundlagen 191 Körperschaftssteuersysteme, Steuersätze 192 Kosten-Wirksamkeits-Analyse 355 Kurven der marginalen Zahlungsbereitschaft 76 Kuznetskurve 72 L Laffer-Kurve 207 Lehrereinstellungen 433

Sachverzeichnis Leistungsfähigkeitsprinzip 135, 141 Lenkungssubvention 435 Leviathan 32 Leviathanregierung 164 Limits of Liberty 39 lineare Einkommensteuer 163 Logrolling 125 Lohnsteuer 152 „lump sum“-Transfers 436 M marginale Zahlungsbereitschaft 344 Marktkosten 353 Matrikularbeiträge 182 Mautgüter 49, 50 Medianwähler 95 Medianwähleransatz 348 Medianwählermodell 87 Mehrdimensionale Parteiprogramme 95 mehrheitsfähig 493 Mehrwertsteuer VIII Mehrwertsteuerspiel 239 Mehrwertsteuer vom Konsumtyp 233 Merkantilismus 22 Mindestsozialstandards 383 Mischsystem von H. W. Sinn 198 Mitverschuldensklausel 406 Mitwirkungsregeln 461 Modell der Zweiparteienkonkurrenz 93 moralisches Risiko 9 Münzverschlechterungen 19 N Nachwuchsgeneration 288 Nettoertragsteuern (Allowance for Corporate Equity) 192 Nichtausschlussprinzip 48 Nichteinstimmigkeitsregel 35 Niederlassungsfreiheit 454 Nullpreis 380 O Objektsteuern 246 Odysseus 270 öffentliche Güter VII, 34 Opfer – gleiches absolutes 143 – gleiches marginales 143 – gleiches proportionales 143 optimale Besteuerung 159 optimale Steuern 26 Orchideenfächer 61 Österreich 433

P Pareto-Set 96 Pauschalsteuer 155, 158 Pay-as-you-use-Prinzip 231 pekuniäre Vorteile 357 Phillips-Kurve 104 physisches Opfer 404 Pigou-Steuer 406 politisches Einkommen 128 Präambel des Grundgesetzes 471 Preisgrenze 384 private Güter 47 privater Wert (private value) 373 Q Qualitätswettbewerb 454 R Ramsey-Regel 161 Rationalitätsprinzip 6 Rechnungshöfe 398 Rechtsstaat 33 Regressions-Diskontinuitäten-Ansatz 348 Rentensparen 229 Rentensystem – beitragsbezogenes 296 – leistungsbezogenes 296 Rentnerquotienten 295 Ressourcenpotential 492 Reverse-Charge-Verfahren 238 Ricardo-Barro-Äquivalenztheorem 273 Riesterfaktor 298 risiko-orientierte Beiträge 312 Risikoproblem 307 Risikostrukturausgleich 320 Rivalität 122 Römer 18 römisches Kaiserreich 27 S Sachwalter 313 Schädlinge 55 Schanz-Haig-Simons (SHS-)System 191 Schattenwirtschaft 166, 169 Schleier der Unwissenheit 35 Schleiers der Ungewissheit 39 schlüsselfertig 390 Schuldenbremse 117, 129, 269 Schuldenklemme 268 Schulobstprogramm 154 Schweigekartell der Oberingenieure 412 Selbstbeteiligung 9 sharing economies 122

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Sachverzeichnis Sicherheitsaufschlag 374 Solvenzaufsicht 464 Sozialhilfe 217 Sozialstaatsgebot 70 Sozialversicherungsbeiträge 251 Spardreieck 278 spontane Ordnung 40 Sprungstellen 96 Staatsschulden VIII Stellvertretertheorie 273 Steuer – progressive 139 – proportionale 139 – regressive 139 Steuerflucht 173 Steuerhinterziehung 166 Steuerinzidenz im allgemeinen Gleichgewicht 258 Steuermoral 168 Steuerpreiselastizität 139 Steuerreformbewegung in Deutschland 215 Steuerverfassung 37 Stimmentauschkoalitionen 129 Strafsteuern 168 strikte Budgetdeckung 270 Subjektsteuern 246 Subsidiaritätsprinzip 428 Subvention 152 Subventionsmentalität 52 Süßigkeiten 57 synthetisches System 191 T Tax Cut cum Base Broadening 214 Teilhabeäquivalenz 292 Teilhabersteuer 192 Theorie der sozioökonomischen Evolution 43 Transferierbare Altersrückstellungen 316 Transferunion VIII Transitivitätsannahme 90 Treibhausgase 413 Trinkwasser 429 U Überfüllung 122 Übergangsregelung 236

Überschussbelastung 150 Umverteilung – intergenerationelle 296 – intragenerationelle 296 Universaldienst 370 Unteilbarkeit 48 Updating 409 Ursprungslandprinzip 235 V Verflüchtigung der Renten 475 vergabefremde Ziele 382 Verhandlungen 84 Verschuldenshaftung 405 Versicherungen 8 Vertragstheorie 43 Vertrauensgut 311 Verwaltungspaket 19 Vetospieler 330 Volksabstimmungen 349 Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid 502 Vollanrechnung 193 Vorsteuerabzugsverfahren 233 Vorumsatzabzugsverfahren 233 W Weltraum-Hotel 276 Westfälischer Frieden 21 Wettbewerbsföderalismus 438 Whigs 24 Wohnsitzpreise 438 Z zeitinkonsistent 269 Zielgebietskörperschaften 441 Zielsteuersatzverfahren 193 Zinseinkommen 157 Zinsschranke 185 Zollfreiheit 454 zunehmende Skalenerträge – in der Nutzung 122, 423 – in der Produktion 423 Zuschlag zum zweitgünstigsten Preis 384 zweckgebundene Subventionen 435 Zweigütermodelle 155 zweiter Satz der Thermodynamik 278

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