Öffentlich-rechtliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet [1 ed.] 9783428409587, 9783428009589

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Öffentlich-rechtliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet [1 ed.]
 9783428409587, 9783428009589

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NIKLAS

LUHMANN

öffentlich-rechtliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet

S c h r i f t e n r e i h e der Hochschule Speyer Band 24

Öffentlich-rechtliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet

Von

Niklas Lahmann

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten © 1965 Duncker & Humblot. Berlin Gedruckt 1965 bei Albert Sayffaerth, Berlin 61 Printed in Germany

Vorwort des Herausgebers Probleme der öffentlich-rechtlichen Entschädigung sind nach dem Erlaß des Bonner Grundgesetzes wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen gewesen, wie das am Schluß dieses Bandes abgedruckte umfangreiche Literaturverzeichnis ausweist. Die Regelung der Enteignungsentschädigung i n A r t . 14 Abs. 3 GG und des Schadenersatzes aus Amtspflichtsverletzung i n Art. 34 GG, vor allem aber die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, durch die m i t Hilfe des sogenannten enteignungsgleichen Eingriffs die dogmatischen Grenzen zwischen Enteignungsentschädigung und Schadenersatz aus Amtspflichtverletzung weitgehend niedergelegt worden sind, haben ein kaum noch übersehbares Schrifttum hervorgerufen. Auch die Frage, ob es an der Zeit sei, die verschiedenen Pflichten des Staates zur Entschädigungsleistung aus der Wahrnehmung von Hoheitsrechten nach Grund, Inhalt und Geltendmachung gesetzlich neu zu regeln, hat die deutschen Juristen i n diesem Zeitraum beschäftigt, wie sich aus der Thematik des 41. Deutschen Juristentages in Berlin (1955) ergibt. Bisher hat diese Frage allerdings noch keinen Widerhall beim Bundesgesetzgeber gefunden, obwohl sich auch die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer auf ihrer Freiburger Tagung (1961) dem Problem der Gefährdungshaftung i m öffentlichen Recht zugewandt hatte. Das Problem einer gesetzlichen Regelung der öffentlich-rechtlichen Entschädigung, für die gewisse Ansätze i n den neueren Polizei- und Ordnungsgesetzen der Länder — seit dem Pr. Polizeiverwaltungsgesetz von 1931 — vorliegen, mußte jedoch i n den Ländern an Bedeutung gewinnen, die sich den Erlaß eines umfassenden Landesverwaltungsgesetzes zum Ziel gesetzt haben, i n dem neben Organisation und Verfahren der Landesverwaltung auch allgemeine Fragen des materiellen Verwaltungsrechts geregelt werden sollen. Für diese Länder mußte sich die Frage ergeben, ob auch das Recht der öffentlich-rechtlichen Entschädigung i n die geplante Kodifikation einzubeziehen sei. Aus dieser Lage einiger Landesgesetzgeber ergab sich die an die Hochschule für Verwaltungswissenschaften gerichtete Anregung, die Möglichkeiten einer gesetzlichen Regelung der Entschädigungsprobleme durch den Landesgesetzgeber einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, gegebenenfalls Vorschläge für eine solche gesetzliche Regelung zu machen. Allerdings stellte sich bald heraus, daß die von der Hochschule

6

V o r w o r t des Herausgebers

übernommene Untersuchung nicht auf die Erörterung einer landesgesetzlichen Regelung beschränkt werden konnte. Das Problem der öffentlich-rechtlichen Entschädigung ist ein gemeinsames Problem des Bundes- und des Landesrechts, das sich einer isolierten landesrechtlichen Behandlung entzieht. So kommt der Verfasser der i n dem Forschungsinstitut der Hochschule entstandenen Arbeit, Oberregierungsrat Niklas Luhmann, auch zu einem Gesetzgebungsvorschlag, der nicht für ein einzelnes Land gedacht ist. Aber er könnte zum Inhalt landesgesetzlicher Regelung i n einem umfassenden, auch die öffentlich-rechtliche Entschädigung einschließenden Landesverwaltungsgesetz werden. Den Gedanken, i n den Entwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes, der i n diesem Jahr der Öffentlichkeit übergeben worden ist, das Recht der öffentlich-rechtlichen Entschädigung aufzunehmen, eine Möglichkeit, die von Luhmann eingehend erörtert w i r d und der er grundsätzlich positiv gegenübersteht, halte auch ich nicht für opportun. I m gegenwärtigen Zeitpunkt, i n dem die Diskussion u m diesen Entwurf schon i n vollem Gange ist, sollte man ihn nicht noch m i t weiteren Problemen belasten, zumal diese von dem Bund-Länder-Ausschuß, der den Entwurf des Verwaltungsverfahrensgesetzes i n fast dreijähriger Tätigkeit ausgearbeitet hat, erst gründlich beraten werden müßten. Der richtige Weg zu einer gesetzlichen Lösung scheint m i r nur über umfassende Landesverwaltungsgesetze oder über besondere Staatshaftungsgesetze zu führen. Es ist zu wünschen, daß die vorliegende Arbeit, die die rechtspolitische Problematik der öffentlich-rechtlichen Entschädigung vor dem Hintergrund der bestehenden Rechtslage i n umfassender Weise behandelt, dem Gesetzgeber i n Bund und Ländern dazu Veranlassung gibt, eine i n sich geschlossene Konzeption der öffentlich-rechtlichen Entschädigung zu entwickeln und nach ihr das geltende Recht umzugestalten. Speyer, den 15. November 1964 Prof. Dr. Carl Hermann Ule

Inhaltsverzeichnis

Einführung

9

I . Teil: Grundlagen 1. K a p i t e l : F u n k t i o n der Entschädigung

16

2. K a p i t e l : Programmierung v o n Entscheidungen

29

3. K a p i t e l : Geschichtliche Lösungsversuche

37

4. K a p i t e l : Der Gleichheitsgedanke

52

5. K a p i t e l : Uberblick u n d Ausblick

. .

68

I I . Teil: Rechtspolitische Einzelprobleme 6. K a p i t e l : Die H a f t u n g für Rechtswidrigkeit u n d ihre Grenzen . . . 7. K a p i t e l : Rechtswidrigkeitshaf tung u n d gerichtlicher Rechtsschutz

76 .

91

8. K a p i t e l : Umfang u n d Fallgruppen der Rechtswidrigkeitshaftung

. .

103

9. K a p i t e l : H a f t u n g Gesetzgebung

der .

121

für

Hoheitsakte

der Rechtsprechung u n d

10. K a p i t e l : Haftung f ü r rechtswidrige Folgen rechtmäßigen Handelns .

131

11. K a p i t e l : Eigentum, klausel

143

Entscheidungsprogramme

und

die

Junktim-

12. K a p i t e l : Schutzwürdigkeit des Betroffenen

160

I I I . Teil: Gesetzgebungsmöglichkeiten 13. K a p i t e l : Das Gesetzgebungsklima u n d die Macht von Wissenschaft u n d Rechtsprechung

189

8

Inhaltsverzeichnis

14. K a p i t e l : Verfassungsrechtliche Bedenken

204

15. K a p i t e l : Regelungszusammenhänge

221

16. K a p i t e l : E i n Gesetzgebungsvorschlag

232

Schluß

244

Literaturverzeichnis

251

Sachverzeichnis

260

Einführung Die gegenwärtigen Bemühungen, Teile des allgemeinen Verwaltungsrechts, namentlich das Verwaltungsverfahrensrecht und damit zusammenhängende Sachgebiete, i n Gesetzesform zu bringen, haben unter anderem auch das Recht der öffentlich-rechtlichen Entschädigung i n den Aufmerksamkeitsbereich des Gesetzgebers gebracht. Handelt es sich i m ganzen oder zum Teil um ein regelungsreifes Rechtsgebiet? Manche Züge der neueren Rechtsentwicklung, vor allem die zentrale Stellung, die der Aufopferungsanspruch als allgemeine, übergesetzliche Entschädigungsgrundlage durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes gewonnen hat, scheinen zu einer großzügigen, konstruktiven Gesamtlösung zu befähigen. Dafür spricht auch, daß es sich auf diesem Gebiet u m durchdachte, bis zur Ermüdung diskutierte Rechtsinstitute handelt. Überraschungen, neuartige Rechtserfindungen, sind i n absehbarer Zeit kaum zu erwarten. Kein Neuland, sondern beackertes Feld liegt vor dem Gesetzgeber, obwohl man zugeben muß, daß manche Furchen nicht ganz gerade gezogen und an anderen Stellen Grenzsteine umgepflügt worden sind. Aber i m großen und ganzen fügen die Anspruchsgrundlagen, welche die Geschichte uns überlierfert hat, sich zu einem verständlichen B i l d zusammen. Aus einer Reihe von verschiedenen Gründen kann der Staat verpflichtet sein, Folgen hoheitlichen Handelns, die den Bürger unzumutbar belasten, i n Geld a b z u gleichen. Literatur und Judikatur befassen sich i n kaum noch zu überblickendem Umfange m i t dem Verhältnis dieser Anspruchsgrundlagen: Enteignung, Aufopferung, Gefährdungshaftung, Folgenbeseitigung, Erstattung, Amtshaftung, zueinander und zu dem Bereich derjenigen belastenden Eingriffe, die ohne Entschädigung hingenommen werden müssen. Alle erdenkliche Mühe ist darauf verwandt worden, Entscheidungsregeln zu konstruieren, welche die Fallentscheidung erleichtern, die vorkommenden Fälle möglichst zweifelsfrei auf Anspruchstypen verteilen bzw. abweisen sollen. M i t h i n läge es nahe, die besten dieser Formeln zu rezipieren und i n Gesetzesform verbindlich zu machen. So einfach liegen die Dinge indes nicht. Eine brauchbare Abgrenzung der entschädigungspflichtigen von den nicht-entschädigungspflichtigen Eingriffen, eine Formel, die umfassend wäre und doch klare Hinweise für die Einzelentscheidung gäbe, hat sich nicht entwickeln lassen. Und w e i l diese Außengrenze des Entschädigungsrechts unklar geblieben ist,

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Einführung

hat sich auch i m Innern, i m Verhältnis der einzelnen Anspruchsarten zueinander, keine Klarheit erzielen lassen. Nach wie vor besteht das Recht der öffentlichen Entschädigung aus verschiedenen Anspruchstypen mit je eigenen Anspruchsvoraussetzungen, deren Abgrenzung umstritten ist. Wenn diese Kontroversen um die richtige Abgrenzung der einzelnen Rechtsinstitute auch ohne wesentliche praktische Bedeutung sind, so spiegeln sie doch jene Unsicherheit wieder, die daraus fließt, daß man nicht genau weiß, von welchen Tatbestandsmerkmalen man Entschädigung überhaupt abhängig machen w i l l . Die Neigung der Rechtsprechung, nur noch eine Abgrenzungsformel, das „Sonderopfer", gelten zu lassen, führt zwar i n ihrer Konsequenz zu einer klaren Konzeption: zum Zusammenschrumpfen aller Anspruchsarten auf eine einzige, den Aufopferungsanspruch, der nur „zufällig" als Enteignungsanspruch i n der Verfassung eine Teilregelung gefunden hat. Ob aber damit eine wirklich instruktive, auslegungsfähige Rechtsgrundlage gefunden wurde, ist sehr die Frage. Deshalb geht das Urteil der Sachkenner überwiegend dahin, daß eine gesetzliche Gesamtregelung der Materie zur Zeit nicht möglich oder jedenfalls nicht sehr sinnvoll sei.1 Auch damit w i r d man sich jedoch nicht ohne weiteres zufrieden geben können. Der Horizont jener Kontroversen, die i m An schluß an gewisse Anhaltspunkte i m positiven Recht und an bewährte Gerichtspraxis geführt werden, ist für ein solches Urteil zu eng. Jedenfalls w i r d der Gesetzgeber genauer wissen wollen, worin, abgesehen vom Dogmatischen, die eigentlichen Schwierigkeiten der Materie bestehen, und weshalb sie unlösbar sind. Und außerdem steht er vor regelungsbedürftigen Detailfragen, bei der Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte etwa, oder i m Polizeirecht, für deren Beantwortung i h m die Stichworte einer allgemeinen Konzeption fehlen. Bewegt er sich m i t Sonderregelungen, ζ. B. denen des Bundesbaugesetzes, aus einer allgemeinen Linie heraus? Schafft er durch neue Bestimmungen über Entschädigungen i m Polizeirecht Präzedenzfälle, die ihm i m Bereich der Wirtschaftslenkung entgegengehalten werden können? Kann er den Folgenbeseitigungsanspruch gesetzlich fixieren, ohne ins Recht des enteignungsgleichen Eingriffs überzugreifen oder unversehens eine neue Rechtskrafttheorie i n die Welt zu setzen? Schon vom akuten Anlaß, vom Orientierungsbedarf des Gesetzgebers her gesehen, dürfte es daher lohnend sein, das Problem der öffentlichrechtlichen Entschädigung einmal unter rechtspolitischen Aspekten 1 Siehe ζ. B. Scheuner 1955a S. 546, 548; Schäfer 1956; Fischer 1956; Forsthoff 1961 S. 286. Weitere Ausführungen zum Gesetzgebungsklima bleiben dem 13. K a p i t e l vorbehalten. Z u r Zitierweise hier u n d i m folgenden vgl. die Vorbemerkung zum Literaturverzeichnis.

Einführung

anzugehen. Die rechtspolitische Betrachtung ist jedoch nicht nur, vielleicht nicht einmal i n erster Linie, Gesetzgebungsberatung, steht doch keineswegs fest, daß sie i n Gesetzgebungsvorschläge ausmündet. Sie bringt jenen besonderen Erkenntnisgewinn ein, der sich ergibt, wenn man Gegenstände als variabel ansieht und auf die Bedingungen ihrer Veränderung h i n analysiert. So trägt sie auf besondere A r t und Weise auch zur Erkenntnis der Rechtsinstitute bei, deren Sinn sich nie allein durch „Auslegung" ermitteln läßt, sondern i m Grunde erst durch Einsicht i n andere Ordnungsmöglichkeiten, i n Alternativen, i n gleichwertige Problemlösungen erhellt. Allerdings hat die Rechtswissenschaft bisher, wenn man von gewissen Ansätzen zu einer Methodenlehre der Rechtsvergleichung absieht, keine rechtspolitische Methode hervorgebracht 2 . Man findet zwar nicht selten, daß juristische Konstruktionen, die i m positiven Recht anecken, „de lege ferenda" aufrecht erhalten werden. Das ist aber gewöhnlich nicht mehr als eine Begriffs Verlängerung über das geltende Recht hinaus und kein abgewogenes legislatives Programm. Eine sorgfältige Analyse des sozialen Problems, das es i n Rechtsform zu lösen gilt, liegt solchen Thesen i m allgemeinen nicht zu Grunde. Aus Mangel an lernbaren Methoden und übertragbarem Wissen gilt Gesetzgebung als hohe „Kunst" 8 . Das ist kein Wunder, denn für eine solche Aufgabe haben sich bisher weder die Jurisprudenz noch die empirisch ausgerichteten Sozialwissenschaften interessiert. Der begriffliche Bezugsrahmen und die methodischen Hilfsmittel, welche die Soziologie für die Analyse sozialer Systeme entwickelt hat, sind für die Erfassung der speziellen Probleme, die den Juristen interessieren, wenig geeignet. Gerade am Entschädigungsrecht läßt sich das gut verdeutlichen. Der Stand der modernen Soziologie gestattet es ohne besondere Schwierigkeiten, über die Funktion der öffentlich-rechtlichen Entschädigung i n der modernen Sozialordnung gewisse Aussagen zu machen. W i r werden zur allgemeinen Orientierung unserer Untersuchungen mit einer solchen Analyse beginnen. Dieser Forschungsansatz bleibt jedoch an allgemeinen Problemen 2 Besonders nachdenklich stimmt, daß die ältere Diskussion u m Regeln der guten Gesetzgebung ausgerechnet durch den Rechtspositivismus zum V e r stummen gebracht worden ist. Vgl. dazu auch Hans Schneider, Über den Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung, N J W 15 (1962) S. 1273—1279 (1278). M a n könnte daraus schließen, daß unsere Wissenschaft der Positivität des Rechts noch nicht gewachsen ist. 5 So etwa René Marcie, V o m Gesetzesstaat zum Richterstaat, Wien 1957 S 231 ff. Vgl. auch Walther Burckhardt, Die Aufgabe des Juristen u n d die Gesetze der Gesellschaft, Zürich 1937 S. 37 ff., der auf schöpferische I n t u i t i o n des Gesetzgebers abstellt.

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Einführung

der Systemerhaltung orientiert. Er führt, da diese Probleme stets auf vielerlei Weise lösbar sind, notwendig zu unscharfen Ergebnissen, die juristisch nicht unmittelbar brauchbar sind. Der Sinn einer solchen Analyse liegt i m Aufblättern von Alternativen, i n der Eröffnung eines weiten Horizontes m i t einer Vielzahl von Möglichkeiten, abstrakt gestellte Ordnungsprobleme zu lösen. Er gibt damit eine fruchtbare Distanz zum Thema. Aber seine Kriterien sind eben deshalb auf Mehrdeutigkeit angelegt und somit keine Grundlage, aus der sich einzigrichtige Resultate deduzieren lassen 4 . Die Ausarbeitung und Verdichtung der soziologischen Fragestellung geschieht durch Einbeziehung immer weiterer Aspekte des faktischen Handelns konkreter Aktionssysteme i n die Betrachtung 5 . Diese Ausrichtung auf empirisch verifizierbare Analysen, die sich notgedrungen an Kleinsysteme halten muß, dürfte jedoch für rechtspolitische Zwecke ein Abweg sein. Das Recht muß, wenn es seine integrative Funktion i n sozialen Großsystemen, heute: i n staatlich verwalteten Sozialordnungen, erfüllen w i l l , i n bezug auf die volle Wirklichkeit sozioloaisch unspezifisch formuliert werden 6 . E i n und dieselbe Rechtsnorm soll auf ganz verschiedenartige Situationen Anwendung finden, und nur wenn sie das tut, kann sie ihre integrative Funktion erfüllen. Eine Rechtsnorm öffentlicher Entschädigung kann und muß vielleicht völlig indifferent dagegen sein, ob sie auf Beerensträucher i n einem Schrebergarten oder auf Unfälle bei einem Schulausflug Anwendung findet, ob sie der Milderung einer Enttäuschung wegen Kürzung einer falsch berechneten Rente oder der Erleichterung eines Flurbereinigungsverfahrens dient. Das schärfere Einstellen der soziologischen Optik w i r d daher leicht rechtspolitisch irrelevante Details i n den Blick bringen, wenn nicht von vornherein ein hochabstraktes, selektives Analyseschema zugrunde gelegt wird. Ein solches Schema fehlt uns jedoch. Es klafft, wie i n etwas anderem Sinne auch Riesman 7 festgestellt hat. gegenwärtig eine Lücke zwischen den sozialwissenschaftlichen 4 D a r i n sieht K a r l W. Deutsch, The Nerves of Government, N e w Y o r k London 1963 S. 49 f., eine Schwäche der funktionalen Analyse schlechthin. Ä h n l i c h Georges Gurvitch, Déterminismes sociaux et liberté humaine, 2. Aufl. Paris 1963 S. 56 ff.; W. G. Runciman, Social Science and Political Theory, Cambridge England 1963 S. 40, 109 ff. I n Wahrheit spiegelt sich darin jedoch n u r die Tatsache, daß allein die Analyse konkreter Systeme zu konkreten Lösungsvorschlägen führen kann. 5 Vgl. dazu Niklas L u h m a n n , Funktionale Methode und Systemtheorie, Soziale Welt 15 (1964) S. 1—25 (10 f.). β So auch Talcott Parsons, The L a w u n d Social Control, i n : W i l l i a m M . Evan (Hrsg.), L a w and Sociology: Exploratory Essays, New Y o r k 1962 S. 56—72 (57). 7 Siehe D a v i d Riesman, T o w a r d an Anthropological Science of L a w and the Legal Profession, The American Journal of Sociology 57 (1951) S. 121—135

Einführung

Methoden und den traditionellen Denkmitteln der Rechtswissenschaft, die i n einer Jahrhunderte währenden Isolierung auf sich selbst geschaffen worden sind, aber seit langem den Kontakt m i t den empirischen Wissenschaften verloren haben. Dieser Mangel w i r d sich nicht von heute auf morgen beheben lassen. Rechtspolitik muß i m Grunde Rechtssoziologie sein. Doch dafür sind, trotz der programmatischen Ansätze eines Eugen Ehrlich, Max Weber, Theodor Geiger oder Georges Gurvitch und trotz der amerikanischen Vorarbeiten zu einer Berufssoziologie des Juristen, kaum nennenswerte Grundlagen geschaffen. Daß rechtspolitische Forschungen den Kontakt zu den empirischen Wissenschaften suchen müssen, und daß die Ufer der Jurisprudenz und der Soziologie dafür noch viel zu weit auseinanderliegen, leuchtet sofort ein. Eine andere Schwierigkeit erschließt sich deutlich erst beim Durchdenken rechtspolitischer Fragestellungen: daß nämlich außerdem die übliche Subsumtionslogik der Rechtswissenschaft mitsamt ihren Hilfstechniken der Normauslegung versagt, wenn man beginnt, Normen selbst als variabel zu behandeln. Ob ein Tatbestand unter eine Norm gebracht werden kann und ob eine bestimmte Auslegung dieser Norm m i t anderen Normen harmoniert oder nicht, das sind Fragen, die sich m i t den gebräuchlichen Denkmitteln i m menschlichen Kopfe lösen lassen. Die möglichen Kombinationen sind durch die Konstanz der Normen des positiven Rechtes begrenzt. Diese Grenzen fallen jedoch bei rechtspolitischen Untersuchungen. Man könnte i m Prinzip alles ändern. Und selbst wenn man nicht so voreilig ist, dem Rate Voltaires zu folgen, die alten Gesetzbücher zu verbrennen, um alles aus der Vernunft neu zu konstruieren; selbst wenn man i n einem bestimmten Zeitpunkt nur ein Einzelproblem aufgreift, wachsen die Kombinationsmöglichkeiten sehr rasch ins Ungeheure 8 . Rechtspolitik ist nur an Tatsachen gebunden, und es liegt an ihr, zu entscheiden, wie weit sie Normen als Tatsachen behandeln w i l l 9 . Es fehlt eine Methode, die es erlaubte, das B i l d sinnvoll zu vereinfachen und doch die Konsistenz bestimmter Lösungsvorschläge i n sich selbst und m i t dem übrigen Recht sowie ihre Überlegenheit über das bisher geltende Recht u n d ders., L a w and Sociology: Recruitment, Training, and Colleagueship, i n : Evan (Einf. A n m . 6) S. 12—55. 8 Siehe als Beispiel die Analyse der Interessenkonstellation beim Widerruf rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte, i n : Becker/Luhmann 1963 insb. S. 110 ff. 9 Bei dieser Entscheidung k a n n sie natürlich nicht beliebig verfahren, da Rechtsetzung n u r i n bezug auf eine vorgegebene Ordnung Sinn hat. Vgl. dazu die Erörterung des überlieferten Rechts als das „Reale" der Gesetzgebung bei Eugen Huber, Recht u n d Rechts Verwirklichung: Probleme der Gesetzgebung u n d der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. Basel 1925 S. 319 ff.

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Einführung

eindeutig nachzuweisen. Eine verwissenschaftlichte Rechtspolitik und Rechtsetzung w i r d an einer maschinellen Kalkulation ihrer Entscheidungsunterlagen auf die Dauer nicht vorbeikommen. Einstweilen ist ein Argumentieren auf gut Glück die einzige Möglichkeit. Die folgenden Untersuchungen sind nicht dazu bestimmt, diese Grundsatzfragen zu vertiefen. Aber sie können m i t ihren Mängeln das Bewußtsein für den Umfang und die Komplexität der Aufgabe schärfen. Sie nehmen den Titel „rechtspolitisch" nicht auf Grund bestimmter methodischer und sachlicher Konzeptionen i n Anspruch, sondern nur deshalb, weil sie das geltende Recht nicht auf seinen Inhalt, sondern auf seine Änderungsmöglichkeiten h i n überprüfen. Die Arbeit gliedert sich i n drei Teile. Da das Entschädigungsrecht i n viele Grundfragen der Staatsordnung hineinreicht, müssen w i r einen ersten Teil auf die Ausarbeitung der Anknüpfungsgesichtspunkte verwenden. Dazu gehören einige allgemeine Vorstellungen über die soziologische Funktion, die dem Entschädigen für Eingriffe der öffentlichen Hand i n einer differenzierten Sozialordnung zufällt (1.1), und ein Überblick über Grundformen und Grundprobleme der juristischen Programmierung von Staatsentscheidungen, die Entschädigungspflichten auslösen bzw. Entschädigungen zusprechen (I. 2). Weiter darf i n einer Arbeit, die nicht rein deduktiv und zwingend argumentieren kann, eine Darstellung der geschichtlich hervortretenden Problemlösungen nicht fehlen (I. 3). I h r schließt sich eine K r i t i k des Endresultates der Rechtsentwicklung, der Aufopferungstheorie bzw. des Gleichheitsgedankens an, den die heute vorherrschende Auffassung, besonders die Rechtsprechung, als dogmatische Grundkonzeption anbiebietet (I. 4). Die Erörterung der Aufopferungstheorie führt i n so starke Bedenken, daß eine legislative Rezeption dieser Auffassung nicht empfohlen werden kann. Die weiteren Untersuchungen bleiben zwar i n enger Fühlung m i t ihr, sind aber als Ausarbeitung einer Alternative angelegt. Der erste Teil endet mit einem zusammenfassenden Überblick und mit der Ausarbeitung der Fragestellung für die rechtspolitischen Einzeluntersuchungen (I. 5). Der zweite Teil befaßt sich m i t der Ausarbeitung einer rechtspolitischen Konzeption. Sein Leitgedanke ist: daß das Entschädigungsrecht grundsätzlich auf die Abwicklung rechtswidriger Folgen des Staatshandelns beschränkt werden kann und daß das wichtigste Regelungsbedürfnis darin besteht, das Verhältnis des Entschädigungsrechtes zum unmittelbar abwehrenden Rechtsschutz zu ordnen. Vom Grundsatz der Staatshaftung für jede Rechtswidrigkeit ausgehend, werden zunächst die Möglichkeiten der Eindämmung einer uferlosen Staatshaftung besprochen (II. 6). Als wichtigste und grundsätzlich aus-

Einführung

reichende Schranke ergibt sich der unmittelbar abwehrende gerichtliche Rechtsschutz, i n dessen Reichweite keine Entschädigung vorgesehen zu werden braucht (II. 7). Dann folgt eine Erörterung der Einzelprobleme, die bei der Planung einer lückenlosen Verzahnung von Rechtsschutz und Entschädigung auftreten (II. 8). Als nächstes w i r d die Möglichkeit der Ausdehnung dieses Gedankens auf Akte der Rechtsprechung und der Gesetzgebung erwogen — und verworfen (II. 9). Eine Ausdehnung ist dagegen möglich auf Fälle der sogenannten Gefährdungshaftung, wenn rechtmäßiges Staatshandeln rechtlich mißbilligte Folgen hat (II. 10). Das Enteignungsrecht erscheint i n dieser Konzeption als Randproblem. Es ordnet sich ein durch die Junktimklausel, die vorschreibt, daß bei Enteignungen entweder nach spezialgesetzlicher Regelung freiwillig entschädigt werden muß, oder die Enteignung rechtswidrig ist, also wie rechtswidriges Handeln abgewickelt werden kann (II. 11). Der zweite Teil schließt m i t einer Behandlung der Einschränkung von Entschädigungsansprüchen aus Gründen, die der Betroffene zu vertreten hat (II. 12). Der dritte Teil wendet sich den mehr praktischen Fragen einer Verwirklichung der ausgearbeiteten Konzeption zu. Ein einleitendes Kapital tastet Eigentümlichkeiten des gegenwärtigen Gesetzgebungsklimas ab; es endet mit der Vermutung, daß die Übernahme der Grundlinien des Aufopferungsanspruchs i n ein Gesetz vielleicht mehr Freunde und Förderer finden könnte, als die hier erwogene A r t der Staatshaftung (III. 13). Dann kommen eine Reihe von verfassungsrechtlichen Bedenken zur Sprache, die unseren Vorschlägen entgegengehalten werden könnten (III. 14). Außerdem verdient bei allen Gesetzgebungsvorlagen die Frage des Regelungszusammenhanges Interesse und sorgfältige Prüfung. Die Überlegungen hierzu reichen von Fragen einer Kodifikation des Allgemeinen Verwaltungsrechts über die i m Entstehen begriffenen Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder bis zu der Möglichkeit einer spezialgesetzlichen Regelung der Staatshaftung (III. 15). Schließlich w i r d der Versuch unternommen, einen Gesetzgebungsvorschlag zu formulieren und kurz zu begründen, der die Ergebnisse unserer Überlegungen zusammenfaßt (III. 16). Die Schlußerörterungen rücken nochmals die Alternative des Aufopferungsprinzips auf der einen Seite, einer rechtsschutzsubsidiären Staatshaftung für Rechtswidrigkeit auf der anderen Seite i n den Blick.

I. T e i l

Grundlagen 1. Kapitel

Funktion der Entschädigung Daß das „System der öffentlich-rechtlichen Entschädigungspflichten 1 " überhaupt ein logisch zusammenhängendes System sei, versteht sich nicht von selbst. Für den ersten Hinblick handelt es sich nur u m Geldzahlungen oder Sachleistungen, m i t denen Nachteile ausgeglichen werden, welche durch hoheitliches Handeln verursacht worden sind. Der Ausgleichsleistung liegt die Auffassung zugrunde, daß [es bei dem Schaden nicht bleiben soll. Läßt sich aber diese Auffassung auf einen einheitlichen Grund zurückführen? Müssen alle Einzelfälle nach einheitlichen, konsistenten Regeln entschieden werden? Kann, wer durch einen Polizisten verletzt wird, sich darauf berufen, daß Grundstücke nur gegen Entschädigung enteignet werden dürfen oder daß überhobene Steuern zurückgezahlt werden müssen? A u f welchen Linien können solche Rückschlüsse und Analogien laufen und wie stark und überzeugungskräftig ist der durch sie gestiftete Zusammenhang? Solchen Fragen kann man sich nicht allein m i t den Hilfsmitteln juristischer Auslegung eines schon konstituierten Normgebäudes nähern. Auch die Verfassung gibt keinen Aufschluß. Ihre Beantwortung setzt eine Orientierung über das soziale Problem voraus, das durch die Rechtsregeln und Rechtsentscheidungen gelöst werden soll. W i r müssen daher bedenken, i n welchem Sinne und auf welcher Abstraktionsebene dem Entschädigungsrecht ein einheitliches Ordnungsproblem zugrunde liegt. Daß menschliches Handeln überhaupt Folgen hat, welche als ausgleichsbedürftig empfunden werden, hängt mit der begrenzten Ordnungskraft der Handlungszwecke zusammen. Alle Zwecksetzung erfolgt relativ auf bestimmte Handlungssysteme und hat die Funktion, einige 1

So der T i t e l einer A b h a n d l u n g von Haas 1955.

1. Kap.: F u n k t i o n der Entschädigung

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systemwichtige Folgen des Handelns auszuzeichnen, um das Handeln durch Hinblick auf sie zu instruieren, zu motivieren oder auch nur zu rechtfertigen. Aus der Fülle der faktischen Folgen des Handelns werden um dieser Funktion w i l l e n einige zum Brennpunkt des Interesses gemacht. A l l e übrigen werden dagegen zu bloßen Nebenfolgen oder „Kosten" neutralisiert 2 . Der Zweck erlaubt es, ihnen gegenüber indifferent zu sein. Damit erhält der umfassende Bereich aller Folgen des Handelns eine relativ einfache Struktur, die das Handlungssystem entscheidungsfähig macht. Einer solchen Orientierungsleistung liegt demnach stets ein systemeigenes Relevanzschema zugrunde, das von anderen Handlungssystemen nicht geteilt wird, ja nicht geteilt werden kann, wenn sie sich als Systeme unabhängig erhalten wollen. Sie haben ihre eigenen Zwecke. Wenn Handlungsfolgen i n fremde Systeme hineinwirken, so haben diese Folgen dort nicht ohne weiteres den Sinn von Zwecken, M i t t e l n oder Kosten. Vielmehr treten sie, wenn es sich i m dortigen Relevanzschema u m nachteilige Folgen handelt, als „Schäden" i n Erscheinung. Das Problem der wechselseitigen Schädigung t r i t t immer dann auf, wenn eine Sozialordnung aus mehreren Aktionssystemen besteht, die nicht an einem einheitlichen Zweck ausgerichtet, also nicht zu einer kooperativen Organisation zusammengeschlossen werden können. Die Heterogenität der Zwecke und Relevanzschemata verschiedener Handlungsyssteme ist ein unvermeidliches Kennzeichen größerer Sozialordnungen und w i r d m i t dem Fortschreiten der Rationalisierung aller Aspekte des menschlichen Zusammenlebens umso unausweichlicher. Der Staat selbst kann, wenn er sich unter dem Gesichtspunkt von Zwecken oder anderen Relevanzkriterien als Handlungssystem organisiert und rationalisiert, nicht länger i m alten und umfassenden Sinne res publica bleiben. Er w i r d als System, und zwar als Organisation zur Fertigung von verbindlichen Entscheidungen 3 , durch eine spezielle politische Formel rational legitimiert. Damit w i r d er zum steuernden Teilelement einer differenzierten Sozialordnung, t r i t t neben andere Systeme und * Vgl. dazu Herbert A . Simon / Donald W. Smithburg / Victor A . Thompson, Public Administration, New Y o r k 1950 S. 488 ff. 3 Z u dieser Auffassung des Staates vgl. D a v i d Easton, A n Approach to the Analysis of Political Systems, W o r l d Politics 9 (1957) S. 383—400; Gabriel A. Almond, Introduction: A Functional Approach to Comparative Politics. I n : Gabriel A . A l m o n d / J a m e s S. Coleman, The Politics of Developing Areas, Princeton N. J. 1960 S. 3—64, S. N. Eisenstadt, The Political Systems of Empires, London 1963 S. 5 ft. u n d die i n Kürze erscheinende A r b e i t von Talcott Parsons, Society and Polity. I n der deutschen Staatslehre k o m m t dieser Auffassung am nächsten Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934 insb. S. 228 ff.

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Speyer 24

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I. T e i l : Grundlagen

muß sich i n der einen oder anderen Weise mit ihnen arrangieren 4 . Der Bürger seinerseits t r i t t i n dem Maße, als er seine Interessen artikuliert, aus der Gehorsamsperspektive heraus und kann sich, wenn er rational handeln w i l l , nicht mehr als Glied eines Ganzen fühlen. Unter diesen Umständen werden die Beziehungen zwischen Handlungssystemen verschiedenster Art, vor allem aber die zwischen Staat und Bürger, problematisch; und die Problematik verschärft sich, wenn die Kontaktdichte zunimmt und wenn die interne Rationalisierung der Systeme zunimmt. Denn je bewußter und schärfer das Handeln durchkalkuliert und je stärker es auf mitwirkende Ursachen oder konstant bleibende Handlungskulissen i n der Umwelt angewiesen ist, desto größer werden die Schäden, die Systeme einander wechselseitig zufügen können, wenn nicht spezifische Einrichtungen des Spannungsausgleichs i n Funktion treten. N i m m t die wechselseitige Interdependenz zu, dann muß die Rechtsordnung vom archaischen „Nichtinterventionsprinzip 5 " umgestellt werden auf das Spezifikationsprinzip, die immer feinere Ausarbeitung subjektiver Rechte i n ihrer wechselseitigen Bedingtheit und, wo das nicht ausreicht, auf den Ausgleich unumgänglicher Rechtsverletzungen i n Geld. Damit ist — vorläufig i n schärfster Abstraktion — das Bezugsproblem und die Funktion des Entschädigungsrechts bezeichnet. Entschädigungszahlungen dienen dazu, i n einer Sozialordnung mit starker innerer Differenzierung und starker wechselseitiger Wirkungsverflechtung unvermeidbare Spannungen abzubauen und so allen Beteiligten ein höheres Maß an Erwartungssicherheit und eigener Zweckrationalität zu erlauben, als es ohne eine solche Einrichtung möglich wäre. Das geschieht, indem das Schaden verursachende System unter gewissen Voraussetzungen ersatzpflichtig gemacht und dadurch genötigt wird, Außenwirkungen seines Handelns wie Kosten eigener M i t t e l zu behandeln und i n die eigene rationale Planung einzubeziehen. Die Funktion einer solchen Institution läßt sich nur auf einer generellen Ebene der Betrachtung behandeln und würdigen. Sie kann nicht aus der Perspektive des Einzelfalls, i n dem spezifische gegensätzliche Interessen aufeinandertreffen, und deshalb auch nicht aus der Sicht des Richters angemessen beurteilt werden. Selbst die Verallgemeinerung dieser 4 Als theoretisch gut fundierten Vergleich von Sozialordnungen m i t und ohne ein herausdifferenziertes funktionalspezifisch organisiertes V e r w a l tungssystem siehe Fred W. Riggs, Agraria and Industria, i n : W i l l i a m J. Siffin, T o w a r d the Comparative Study of Public Administration, Bloomington Ind. 1957 S. 23—116 u n d ders., The Ecology of Public Administration, London 1961. 5 Siehe diesen Begriff bei Gerhart Husserl, Rechtssubjekt und Rechtsperson, A r c h i v für civilistische Praxis 127 (1927) S. 129—209 (147), neugedruckt i n ders., Recht u n d Welt; Rechtsphilosophische Abhandlungen, F r a n k f u r t (Main) 1964 S. 1—66. Z u r Sache vgl. auch Roscoe Pound, New Paths of L a w , ο. Ο. (The University of Nebraska Press) 1950.

1. Kap.: F u n k t i o n der Entschädigung

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Perspektive zu einem Gegensatz von Staat und Bürger reicht nicht aus. Von diesem Ausganspunkt her kommt man lediglich zu Vorstellungen der Interessenabwägung und der Schadensverteilung, trotz aller bisherigen Bemühung aber nicht zu Kriterien für die Beurteilung solcher Vorrangs- und Verteilungsfragen. Der Sinn des Entschädigungsrechts als Institution reicht darüber hinaus. Das Entschädigungsrecht soll eine Ordnung garantieren, i n der trotz intensiver wechselseitiger Verflechtung des Planens und Wirkens Staat und Bürger relativ unabhängig voneinander eigene Zielsetzungen verfolgen können. Daß eine solche Frage überhaupt zur Disposition steht und durch bessere Organisation besser gelöst werden kann, bedarf allerdings einer besonderen Erläuterung. Zunächst müssen die Begriffe „Stabilität der Ordnung" i m Sinne einer Äquilibrierung des Handelns und „Interdependenz des Handelns" getrennt werden. Die Möglichkeit ungestörter Fortsetzung des eigenen Handelns und das Ausmaß an Interdependenz sind zwei verschiedene Variablen einer Sozialordnung, die sich unabhängig voneinander ändern können. Ältere Theorien, die Systeme als rationale Ordnung von Teilen zu einem Ganzen, also als rational geordnete Interdependenz definierten, hatten diese Unterscheidung nicht machen können, und noch heute fällt sie der Soziologie schwer 6 . Die Stabilisierung des Handelns ist aber durch das Ausmaß an Interdependenz keineswegs vorgegeben. Wenn Interdependenz zunimmt, stabilisieren sich die Verhaltenserwartungen damit nicht von selbst; es müssen vielmehr neue Formen wechselseitiger Orientierung gesucht werden 7 . Jeder Interdependenzgrad hat seine eigenen Probleme, Organisationsformen und Rationalkriterien 8 . β Vgl. dazu A l v i n W. Gouldner, Reciprocity and A u t o n o m y i n Functional Theory, i n : L l e w e l l y n Gross (Hrsg.), Symposium on Sociological Theory, Evanston 111. 1959 S. 241—270, insbes. S. 252 ff. Auch Sozialanthropologen haben sich i n kritischer Auseinandersetzung m i t dem älteren, allzu u n i t a r i schen Funktionalismus dieser Vorstellung der Interdependenz als Variable genähert. Vgl. J. C. Mitchell, T r i b a l i s m and the P l u r a l Society, London 1960, und Pierre L. v a n den Berghe, Dialectic and Functionalism: T o w a r d a Theoretical Synthesis, American Sociological Review 28 (1963) S. 695—705 (702). Als Beispiel aus der Organisationswissenschaft siehe D. S. Pugh u. a. A Scheme for Organizational Analysis, A d m i n i s t r a t i v e Science Quarterly 8 (1963) S. 289—315 (312). 7 E i n gutes Beispiel dafür bietet die Untersuchung der Stabilisierungsbedingungen früher bürokratischer Reiche durch Eisenstadt (Kap. 1 A n m . 3). Einer der Gründe für i h r häufiges Scheitern w a r eben der: daß sie die m i t der Etablierung von relativ selbständigen politischen Entscheidungsgewalten verbundenen neuartigen Interdependenzprobleme i n der Gesellschaft nicht adäquat zu lösen vermochten. 8 E i n Beispiel aus der amerikanischen Forschung ist die Einsicht, daß j e nach dem Interdependenzgrad der A r b e i t konkurrenzfördernde bzw. kooperationsfördernde Organisationsformen vorteilhafter sind. Vgl. Harold J. Lea-

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I. Teil: Grundlagen

W i r werden zum Beispiel sehen, daß das Rechtsprinzip „ q u i iure suo utitur, neminem laedit", welches Entschädigung für rechtmäßiges Handeln ausschließt, relativ weit auseinandergezogene Handlungssphären voraussetzt und i n stärker verdichteten Sozialordnungen unangemessen wird. Ein weiterer Gesichtspunkt ist: daß m i t wachsender Interdependenz die Macht i m System zunimmt, ohne daß deswegen notwendig die Handlungsfreiheit abnehmen muß 9 . Die ältere politische Theorie und besonders die liberale Staatslehre hatten das Verhältnis von Staat und Bürger stets unter der Prämisse der Machtsummenkonstanz i n sozialen Systemen behandelt. Das heißt: Staat und Bürger wurden als (mindestens: potentielle) Gegner angesehen, die sich i n eine konstante Machtsumme teilten. Was dem Staat an Macht und Handlungsfreiheit anwuchs, schien somit dem Bürger i n entsprechender Menge verloren zu gehen, und vice versa. Von diesem Denkansatz her erscheinen dann die zunehmenden Verflechtungen als Aufhebung der Trennung von Staat und Gesellschaft 10 — während gerade das Gegenteil richtig ist: daß die Intensivierung des wechselseitigen Einflusses nur durch grenzziehende Systembildungen i m staatlichen und gesellschaftlichen Bereich möglich wird. Die Konstanzprämisse sollte die Auswirkung sozialer Veränderungen oder taktischer Maßnahmen auf Machtrelationen berechenbar machen. Sie gleicht insofern einer „ceteris paribus"-Klausel. Obwohl sie selten ausdrücklich diskutiert und widerlegt worden ist 1 1 , liegt ihre Anfechtbarkeit auf der Hand. v i t t , Managerial Psychology, Chicago—London 1962 S. 176 ff.: L. K e i t h M i l l e r / R o b e r t L . Hamblin, Interdependence, Differential Rewarding, and Productivity, American Sociological Review 28 (1963) S. 768—778. 9 Dazu trägt Riggs (Kap. 1 A n m . 4) wichtige Einsichten bei. 10 Diese oft gehörte Ansicht findet man z. B. bei K a r l Mannheim, Freedom, Power, and Democratic Planning, N e w Y o r k 1950 S. 42 ff.; A r n o l d Gehlen, Industrielle Gesellschaft u n d Staat, W o r t u n d Wahrheit 11 (1956) S. 665—674 (669); Hans Freyer, Das soziale Ganze u n d die Freiheit des Einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters, Göttingen—Berlin—Frankfurt 1957; Ernst Rudolf Huber, Rechtsstaat u n d Sozialstaat i n der modernen Industriegesellschaft, Oldenburg 1962 S. 13. 11 Besonders hat sich die neuere Industrieforschung an dieser These gestoßen. Eine der Hauptthesen der sog. "human relations"-Bewegung ist nämlich, daß durch Mitbestimmung ein besseres Betriebsklima u n d höhere Produktion erreicht werden könne. I m Zusammenhang damit w a r sie an dem Nachweis interessiert, daß der Einfluß, welcher der Belegschaft eingeräumt werden sollte, nicht etwa der Betriebsleitung verloren gehe. Siehe dazu Rensis L i k e r t , New Patterns of Management, New York—Toronto— London 1961 S. 55 ff., 179 ff.; A r n o l d S. Tannenbaum, Control and Effectiveness i n a V o l u n t a r y Organization, The American Journal of Sociology 67 (1961) S. 33—46 (35 f.); ders., Control i n Organization, I n d i v i d u a l Adjustment and Organizational Performance, A d m i n i s t r a t i v e Science Quarterly 7 (1962)

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Zwar hängen These wie K r i t i k i m Ungewissen, weil es keine exakten Methoden gibt, Macht zu messen. Aber es dürfte keinem Zweifel unterliegen, daß der Staat heute mehr Einfluß auf die Wirtschaft und zugleich die Wirtschaft mehr Einfluß auf den Staat ausübt als etwa vor hundert Jahren. Welche Intensität wechselseitigen Einflusses i n einer Sozialordnung erreichbar ist und damit: welches Ausmaß an Freiheit trotz wechselseitiger Abhängigkeit, ist zum Teil eine Frage der Organisation, der strukturellen Differenzierung, und muß deshalb, anders als i n der klassischen Theorie, als variationsfähig behandelt werden. Freiheit und Abhängigkeit lassen sich i n gewissen Grenzen durch Organisation gleichzeitig steigern, wenn jeder Teilnehmer die Zwecke genau spezifiziert, die er durchsetzen w i l l , und damit zugleich den Bereich seiner Indifferenz vergrößert, i n dem er fremden Einfluß hinnehmen kann. Zu einem großen Teil werden die Folgen wachsender Interdependenz durch eine immer feinere Differenzierung der Hollen, der Sozialbeziehungen und der Rechtsvorstellungen und durch die Grundformen rationaler Entscheidungsprogrammierung, die w i r i m nächsten Kapitel behandeln werden, aufgefangen 12 . Differenzierung erlaubt, worauf schon Simmel 1 3 hingewiesen hat, eine Minimisierung der wechselseitigen Belastung, erlaubt genauere Unterscheidungen und Abgrenzungen und ermöglicht es deshalb, nachteilige Folgen auf das w i r k l i c h Unumgängliche, auf das zur Erreichung eines Zweckes Notwendige zu reduzieren. Damit zugleich steigert sich die Möglichkeit wechselseitiger Machtausübung, da unter der Bedingung der Differenzierung die Macht des A gegen Β die Macht des Β gegen A nicht aufhebt, sondern oft gerade verstärkt. I n weniger differenzierten Sozialordnungen werden den Beteiligten zumeist größere und häufig ganz unnötige Opfer fürS. 236—257 (247 ff.); Robert T. Golembiewski, C i v i l Service and Managing W o r k : Some Unintended Consequences, The American Political Science Review 56 (1962) S. 961—973 (964). Unabhängig davon haben auch die neueren Entwicklungen der mathematischen Spieltheorie zu K r i t i k an der klassischen Prämisse des Nullsummen-Spiels geführt, die der Machtsummenkonstanzthese vergleichbar ist. Dazu vgl. Thomas C. Schelling, The Strategy of Conflict, Cambridge Mass. 1960 S. 83 ff.; Deutsch (Einf. A n m . 4) S. 66 ff. Siehe ferner Talcott Parsons, On the Concept of Influence, Public Opinion Quarterly 27 (1963) S. 37—62 (59 ff.) u n d ders., On the Concept of Political Power, Proceedings of the American Philosophical Society 107 (1963) S. 231—262 (250 ff.) m i t Ausführungen darüber, daß i m Geldwesen w i e i n bezug auf Macht und Einfluß die Konstanzthese verkennt, daß Geld-, Macht- und E i n flußsummen v o m Funktionieren eines sozialen Systems abhängig sind. 12 Andere Auffangmechanismen, die hier n u r als Parallelerscheinungen interessieren, liegen z. B. i m zunehmenden Verhaltenstempo, besonders an den Knotenpunkten der Verflechtung, und i n der wachsenden Selbstdisziplin, Selbstrationalisierung u n d Ausdruckskontrolle, auf die Norbert Elias i n seinen viel zu wenig beachteten Untersuchungen: Über den Prozeß der Z i v i l i sation, 2 Bde., Basel 1939, aufmerksam gemacht hat. 13

Georg Simmel, Über sociale Differenzierung, Leipzig 1890 S. 25 f.

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I. Teil: Grundlagen

einander und für das Ganze abverlangt. Scharfe Kontraste und grobe Ungerechtigkeiten, Kollektivverantwortlichkeiten, irregulierbare Ängste, ungebändigte Gefühlsreaktionen und ein Übermaß an Konflikten zwischen kleinen Sozialsystemen zeichnen jenen Entwicklungszustand aus. Diesen Schwierigkeiten, denen man unmittelbar durch Zentralisierung der politischen Herrschaft beizukommen suchte, hilft auf lange Sicht wirksamer eine immer deutlicher werdende, immer feiner ausgearbeitete Rollentrennung und, als deren Folge, die Institutionalisierung der „Unpersönlichkeit" und Selbstdisziplinierung des Verhaltens i n immer weiteren Bereichen ab. Andererseits erzeugt eben diese Differenzierung neuartige Interdependenzen, und sie macht den Einzelnen umso empfindlicher gegen „Zufalls"-Belastungen, die hinzunehmen er weder durch verständliche Gründe noch durch institutionalisierte Rollenpflichten gehalten ist. Die zunehmende Differenzierung und Interdependenz des Verhaltens verlagern m i t h i n das Problem der wechselseitigen Belastung; sie lösen es jedoch nicht definitiv. Diese Einsichten weisen komplementären Institutionen der Entspannung von Systembeziehungen 14 , darunter dem Entschädigungsrecht, besondere Bedeutung zu. Sie ermöglichen eine Gesamtordnung, die, unabhängig davon, wer i m Einzelfall von ihr profitiert, besser ist, insofern als sie eine intensivere Interessenverflechtung ohne Konflikt und rationaleres Handeln auf beiden Seiten erlaubt. Insgesamt können auf diese Weise mehr partielle Interessen definiert und verfolgt, mehr Systembedürfnisse befriedigt werden, weil relativ generelle Mechanismen der Entspannung institutionalisiert sind. Wenn w i r diese allgemeinen Überlegungen, die zum Beispiel auch auf zivilrechtliche Institutionen der Gefährdungshaftung 15 oder etwa den § 26 GewO anwendbar wären, nun genauer auf das Verhältnis von Staat und Bürger zuschneiden, so kommt als Besonderheit dieser Beziehung zunächst der hoheitliche, für den Bürger verbindliche Charakter des Staatshandelns i n den Blick. Zugleich damit verdichtet sich die Struktur des Problems, es w i r d der institutionelle Rahmen seiner Lösung, es werden funktionale Alternativen deutlicher sichtbar. 14 Siehe dazu auch den Begriff der „adaptive structures" bei Talcott Parsons, The Social System, Glencoe III. 1951 S. 168 f. u. ö. u n d seine Übertragung auf die Organisationswissenschaft durch P h i l i p Selznick, T V A and the Grass Roots, Berkely — Los Angeles 1949 S. 252. I n Deutschland tauchen ähnliche Vorstellungen ζ. B. i n Schelskys Familiensoziologie auf. Vgl. H e l m u t Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie i n der Gegenwart, 4. Aufl. Stuttgart 1960 S. 347 ff. u n d ders., Schule und Erziehung i n der industriellen Gesellschaft, Würzburg 1957 S. 31 ff. 15 Z u neueren Reaktionen der Zivilrechtsdogmatik u n d Rechtsprechung auf das Problem zunehmender Kontaktdichte vgl. Josef Esser, Grundsatz und N o r m i n der richterlichen F o r t b i l d u n g des Privatrechts, Tübingen 1956, insb. S. 331 ff.

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Die Verbindlichkeit staatlichen Entscheidens und Handelns kann i n einem demokratischen Rechtsstaat oder, allgemeiner ausgedrückt: unter den komplizierten Lebensbedingungen des vollzivilisierten Industriestaates, nicht mehr als Ausdruck einer einfachen Unterordnungsbeziehung begriffen werden. Die staatlichen Entscheidungen müssen nicht deshalb verbindlich sein, weil der Staat kraft Natur oder Vertrag dem Bürger „über"-geordnet wäre. Ein solches B i l d ist zu einfach; es erklärt nicht genug. Und es ist außerdem falsch. Die Verbindlichkeit von Entscheidungen ist nicht Ausdruck einer Rangüberlegenheit des Bürokraten über den Bürger, sondern sie hat gerade umgekehrt den Sinn, solche Rangüberlegenheit als Einflußmittel überflüsssig zu machen. Die Standes- oder Klassenüberlegenheit des Bürokraten, die sich nur m i t gewaltigen sozialen „Kosten" dadurch erreichen ließe, daß die Verwaltung als ganzes über die Gesellschaft hinausgehoben würde 1®, läßt sich einsparen, indem man den Verwaltungsentscheidungen formale, sanktionierte Verbindlichkeit gibt. Formale Verbindlichkeit ist das rationellste Einflußmittel, w e i l sie sich funktional-spezifisch organisieren und programmieren läßt. Kompetenz w i r d nur i n bestimmter H i n sicht und aus bestimmten Gründen verliehen, während Rangüberlegenheit stets zur diffusen Generalisierung auf alle Beziehungen zwischen zwei Personen tendiert, also „persönlich" wird, und dadurch Überschuß1 asten m i t sich bringt, die eigentlich nicht benötigt werden 1 7 . Außerdem hat die Verbindlichkeit der Staatsentscheidungen die Funktion, die Frage ihrer Akzeptiert)arkeit zu generalisieren und auf die Ebene der politischen Willensbildung hinüberzutragen. Der Staat braucht nicht i m Einzelfall zu prüfen, ob sein Entscheiden und Handeln den Adressaten oder sonst Betroffenen genehm ist 1 8 . Diese Frage kann vielmehr i m Prinzip nur i n den dafür eigens bereitgestellten Verfahren der politischen Willensbildung, vor allem i n Wahlen, gestellt und 16 Als Beispiel für eine solche Ordnung läßt sich die Bürokratie des älteren Siam anführen, die aber, w e i l sie m i t Ä m t e r n zugleich allgemeinen sozialen Rang verlieh, nicht funktional-spezifische Verwaltungsbürokratie war, sondern „Sozialbürokratie": homogene Schichtung der Gesellschaft i n allen Beziehungen. Vgl. dazu James N. Mosel, Thai A d m i n i s t r a t i v e Behavior, i n : Siffin (Kap. 1 A n m . 4) S. 278—331; Riggs (Kap. 1 Anm. 4) 1961 S. 58 ff.; Edgar L. Shor, The T h a i Bureaucracy, A d m i n i s t r a t i v e Science Quarterly 5 (1960) S. 66—86; W i l l i a m J. Siffin, Personnel Processes of the T h a i Bureaucracy, i n : Ferrei Heady / Sybil L. Stokes, Papers i n Comparative Public Administration, A n n A r b o r Mich. 1962 S. 207—228. 17 Hier zeigt sich deutlich, daß formale Verbindlichkeit eine Qualität von Entscheidungen ist, die hochdifferenzierten Sozialordnungen entspricht, ein gutes Beispiel für die oben zitierten Bemerkungen von Simmel (Kap. 1 A n m . 13) über den genaueren Zuschnitt v o n wechselseitigen Belastungen i n differenzierten Sozialordnungen. 18 Daß gleichwohl mancherlei besondere Rücksichten auf die Betroffenen angebracht sind, u n d zwar auch dort, wo sie nicht vorgeschrieben sind, steht

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I. Teil: Grundlagen

weiterbehandelt werden. Die Trennung von Politik und Verwaltung hat nämlich diesen Sinn: daß Staat und Bürger sich auf zwei verschiedenen Ebenen begegnen, so daß die Übertragung von Konfliktstoff von der einen auf die andere zwar nicht ausgeschlossen ist, aber gewissen Regeln genügen muß, die beide Sphären vor einer funktionswidrigen Verschmelzung bewahren. Als Organisation zur Herstellung verbindlicher Entscheidungen w i r d der Staat von den Betroffenen nur auf dem allgemeinen Wege der politischen Willensbildung gesteuert. Dadurch ist er i n der Lage, im Einzelfall ziemlich unabhängig, ohne Ansehen der Person, relativ rational und nach Maßgabe langfristiger Programme zu entscheiden1®. Andererseits kann der Bürger seiner persönlichen Betroffenheit auf den politischen Wegen nicht unmittelbar, sondern nur i n sehr verallgemeinerter, fallabgelöster Form, ζ. B. durch Stimmabgabe oder durch öffentliche Kundgabe allgemeiner (insb. moralischer) Entrüstung Ausdruck geben. Er hat ein Ventil, dessen Benutzung aber das Abstreifen oder Verbergen der persönlichen Motive verlangt 2 0 . I m direkten Verkehr m i t der Verwaltung kann er seine Interessen genau spezifizieren, aber nicht entscheiden. A u f dem politischen Wege kann er i n Wahlen m i t entscheiden, aber seine Interessen nicht genau artikulieren. Er hat zwei Möglichkeiten von komplementärer Unvollkommenheit. Die Trennung und das Getrennthalten dieser beiden Kommunikationswege ist das Kennzeichen unserer politischen Ordnung nach dem Gesetz der Stabilisierung durch Differenzierung. Diese Grundordnung macht zahlreiche weitere Einzelheiten unserer Staatswirklichkeit verständlich. Sie gibt vor allem dem öffentlichen Recht seine Funktion. Die Spannung zwischen den Entscheidungen, die der Einzelne persönlich akzeptieren muß, und seinen Möglichkeiten zu minimaler, allgemeiner und nicht sehr treffsicherer Einflußnahme auf die politische Willensbildung ist zu groß, um zu befriedigen. Deshalb außer Frage. Daß solche Rücksichten häufig geboten erscheinen, u m politische Stürme zu verhindern, bestätigt i m Grundsätzlichen unsere Analyse. Die Staatsverwaltung braucht sich über die Rechtsbedingungen hinaus nicht noch u m die Bedingungen der Akzeptierbarkeit ihrer Einzelentscheidungen zu kümmern. Wenn sie es tut, dient dies zur Entlastung der politischen Sphäre. 19 Z u m Zusammenhang von organisatorischer Rationalität, funktionaler Spezifikation u n d relativer Umweltunabhängigkeit des organisatorischen Systems vgl. ζ. B. Stanley H. Udy, Jr., A d m i n i s t r a t i v e Rationality, Social Setting, and Organizational Development, The American Journal of Sociology 68 (1962) S. 299—308. 20 Z u den Formen und Systembedingungen dieser „Generalisierung" p o l i t i scher Unterstützung durch Wahlen vgl. Talcott Parsons, „ V o t i n g " and the E q u i l i b r i u m of the American Political System, i n : Eugene Burdick / A r t h u r J. Brodbeck (Hrsg.), American V o t i n g Behavior, Glencoe 111. 1959 S. 80—120.

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gehören zur Abrundung dieser Ordnungen weitere Einrichtungen, die der Herstellung eines generalisierten Vertrauens und der wechselseitigen Interessenabstimmung dienen. Das ist vor allem der Sinn des öffentlichen Rechts 21 . Zwar hat der Staat, seit er die Möglichkeit, Recht zu setzen, an sich gezogen hat, die Möglichkeit, sich auf Recht zu berufen, eingebüßt 22 . Der uralte Bund von Recht und Frieden hat dadurch seine K r a f t verloren. Ein gewisser Ersatz für diese Befriedungsfunktion des Rechts kann aber durch eine eingehende Programmierung des Staatshandelns mittels zentraler, das heißt: politisch kontrollierbarer Rechtssetzung und durch eine ausgebaute Gerichtsbarkeit in Angelegenheiten des öffentlichen Rechts geschaffen werden, welche die Einhaltung der Rechtsvorschriften überwacht und zugleich dem Bürger ein zweites, komplementäres Ventil bietet. Er kann Entscheidungen, die nicht auf den politisch kontrollierten Prozeß der Rechtssetzung zurückzuführen sind, aufheben lassen 23 . So dient das öffentliche Recht, unter diesem Aspekt betrachtet, dazu, die politischen Entscheidungsprozesse funktional zu entlasten. Neben dem Recht und außerhalb seiner Reichweite erfüllen Einrichtungen informaler A r t die gleiche Funktion, vor allem die relativ dauerhaften Kontaktsysteme zwischen Interessenten und den gesetzgeben21 Andere Verwaltungsysteme kennen daneben ganz andersartige aber funktional äquivalente Institutionen der Entspannung. Z u m Beispiel sieht die amerikanische öffentliche Verwaltung, die das Prinzip der Eingliederung aller Behörden i n eine einzige Hierarchie nicht so streng n i m m t , zuweilen die Leitung von Dienststellen durch einen „Board" ehrenamtlich tätiger Bürger vor, der formell die wichtigsten Entscheidungen trifft, praktisch aber mehr als Puffer zwischen der Behörde u n d ihrem P u b l i k u m der wechselseitigen Verständigung dient. Siehe die Studie von James L. Price, The Impact of Governing Boards on Organizational Effectiveness and Morale, A d m i n i s t r a tive Science Quarterly 8 (1963) S. 361—378. Auch i n Deutschland gibt es diesen T y p von Vermittlung, zum Beispiel i m Krankenhauswesen. 22 Es sei angemerkt, daß keine der großen Staatsbürokratien der W e l t geschichte bis ins 19. Jahrhundert hinein die volle Verfügung über das Recht besessen hat. W i r stehen i m Nachdenken über das Verhältnis von Recht u n d P o l i t i k am Anfang, i n einer v ö l l i g neuen Lage. 28 Allerdings muß davor gewarnt werden, die Befriedungs- u n d Entspannungsleistung der Gerichtsbarkeit zu überschätzen. Denn i m Vergleich zu anderen Institutionen der Konfliktslösung hat sie infolge ihrer strengen B i n dung an das Recht a) eine relativ hohe Enttäuschungsquote von r u n d 50°/©, w e i l jedem Gewinnen ein entsprechendes Verlieren gegenübersteht; b) keine institutionalisierten Formen des Auskühlens der Enttäuschung, des Wiederbelebens, Tröstens, Erklärens; c) keine institutionalisierten Formen des langfristigen Lernens, d. h. der H i l f e bei der U m s t r u k t u r i e r u n g der Persönlichkeit i n Anpassung an den Gerichtsspruch; obwohl die Anwaltschaft einiges dazu tut, u m diese Mängel der I n s t i t u t i o n zu mildern.

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I. Teil: Grundlagen

den bzw. verwaltenden Staatsorganen, oft auch „gute" oder „persönliche" Beziehungen genannt, die beiden Seiten gewisse Rücksichten auferlegen 24 . Die Macht, die eine Seite gegen die andere ausüben könnte, wenn man sich nur ein einziges Mal begegnete, w i r d dadurch neutralisiert, daß die Beziehungen Dauercharakter annehmen und i n sich selbst erhaltungswürdig werden 2 5 . Beide Seiten werden dadurch gehindert, ihre Machtposition, aber auch ihre Rechtspositionen, voll auszunutzen, weil sie damit rechnen müssen, daß der Kontakt darunter leidet und daß i n künftigen Fällen bei anderer Verteilung der Macht- und Rechtschancen die andere Seite rücksichtslos werden oder gar Rache nehmen könnte. Auch das Entschädigungsrecht w i r d auf diese Weise überall dort, wo Interessen organisiert sind, so daß sich Dauerbeziehungen zum Staat bilden können, durch andere Rücksichten mediatisiert, erhält dafür aber neue Funktionen als „Argument" bei „freundschaftlichen" Verhandlungen i m Rahmen dieser Kontaktsysteme 26 . Außer diesen am Rande der Legalität sich bewegenden Einrichtungen sind, w i l l man ein vollständiges B i l d gewinnen, auch latent wirksame Institutionen der Entspannung zu berücksichtigen. Dazu darf man das vorherrschende Negativbild des Staates i m allgemeinen und der staatlichen Bürokratie i m besonderen rechnen. Es dient zur Erklärung von Enttäuschungen und zur Absorption von Protesten 27 , ist aber zugleich 24 Über „persönliche Beziehungen" als Komplementärerscheinungen i n den Routineverwaltungen westlicher Industriestaaten vgl. Fritz Morstein M a r x , Control and Responsibility i n A d m i n i s t r a t i o n : Comparative Aspects, i n : Heady / Stokes (Kap. 1 A n m . 16) S. 145—171 (165 ff.). 25 Z u dieser Unterscheidung der Machtlage bei einmaligen und bei Dauerbeziehungen vgl. L e a v i t t (Kap. 1 A n m . 8) S. 113 und 131; ferner auch Schell i n g (Kap. 1 A n m . 11) 83 ff. 26 Als eine soziologische Untersuchung der Verzerrung des offiziellen Programms einer Behörde durch Kontakte m i t lokalen Interessenten vgl. Selznick (Kap. 1 A n m . 14). Auch der deutschen Rechtsliteratur sind diese Erscheinungen nicht verborgen geblieben. Sie blickt jedoch begreiflicherweise m i t M i ß b i l l i g u n g auf sie, w e i l die Vorkehrungen des offiziellen Rechtsschutzes dadurch teilweise außer K r a f t gesetzt werden. Vgl. z. B. Huber 1954 S. 200 f.; Forsthoff 1961 S. 70; Hans Peter Ipsen, öffentliche Subventionierung Privater, B e r l i n — K ö l n 1956 S. 14 A n m . 23 und S. 16; den Diskussionsbeitrag von H e r bert K r ü g e r zum Thema: die staatliche Intervention i m Bereich der W i r t schaft, W D S t R L 11 (1954) S. 138 f.; Ehlermann 1957 S. 146 ff. I n W i r k l i c h k e i t handelt es sich aber u m ein funktional äquivalentes Mittel, das m i t dem Rechtsschutz k o n k u r r i e r t u n d i m Einzelfall dort vorgezogen w i r d , wo es bessere Ergebnisse verspricht. Die Beteiligten lernen i n solchen Kontaktsystemen, ihren Horizont über die Rechtsverfolgung i m Einzelfall hinaus zeitlich auszuweiten u n d den vorhandenen und stetig wachsenden Interdependenzen langfristig Rechnung zu tragen. 27 Feststellungen dieser A r t begegnet m a n i n der neueren L i t e r a t u r häufig — z. B. bei T. W. Adorno / Else F r e n k e l - B r u n s w i k / Daniel J. Levinson / R. Nevitt Sanford, The A u t h o r i t a r i a n Personality, New Y o r k 1950 S. 693 ff. oder bei Francis X . Sutton / Seymour E. Harris / Carl Kaysen / James Tobin. The American Business Creed, Cambridge Mass 1956 S. 368 ff.

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so allgemein gehalten, daß es die Beziehungen i m Einzelfall nicht stört, da jeder bereitwillig Ausnahmen konzediert 28 . Die nachteiligen Auswirkungen des negativen Staatsbildes ergeben sich nicht i m aktuellen Kontakt mit der Verwaltung, sondern erst auf der politischen Ebene, wo der Bürger nach Allgemeinurteilen handeln sollte und deshalb durch das negative Cliché zu Resignation und Passivität verleitet wird. Von Entschädigungsprogrammen w i r d man, selbst wenn sie großzügig sind, eine Änderung dieses Negativbildes und damit tiefreichende politische Wirkungen kaum erwarten können, da es zu vielfältige Erfahrungen i n sich aufgenommen hat und symbolisiert 2 9 . Ein weiteres wichtiges Moment, welches das gewonnene B i l d abrundet, bringt uns wieder i n die Nähe des Entschädigungsrechtes. Die moderne, i n sich stark differenzierte Leistungsbürokratie arbeitet unter sehr spezialisierten Problemaspekten. Es fällt ihr typisch schwer, eine sachliche Gesamtkonzeption des öffentlichen Interesses zu projizieren und zu vertreten 8 0 . Aus diesem Grunde und auch, weil sie es politisch leichter hat, wenn sie Konsens vorweisen kann, neigt sie dazu, ihre Programme weniger durch Befehl als m i t Hilfe von Geld oder geldwerten Zuteilungen durchzusetzen. Zuteilungsentscheidungen brauchen keine über ihren Zweck hinausgehenden Begründungen. Sie sind intern leichter zu koordinieren, weil ihre Kosten i n der Verwaltungsentscheidung sichtbar werden, also vom Knappheitsproblem her gesteuert werden können, während der Befehl auf Revolten warten muß, u m seine Grenzen zu erkennen. Geld ist somit zum großen Ent28 Das Fortführen eines ungestörten und wirksamen Kontaktes des P u b l i kums zur Bürokratie trotz negativer AllgemeinvorStellungen läßt sich v i e l fach beobachten. Vgl. dazu Morris Janowitz / Deil W r i g h t / W i l l i a m Delany. Public A d m i n i s t r a t i o n and the Public — Perspectives T o w a r d Government i n a Metropolitan Community, A n n A r b o r 1958 S. 38 f., 50 ff.; Sidney J. Levy, The Public Image of Government Agencies, Public A d m i n i s t r a t i o n Review 23 (1963) S. 25—29 und, etwas resignierter, D. M., Refléxions sur l'impopularité de l'administration, Revue A d m i n i s t r a t i v e 16 (1963) S. 128—130. Siehe auch die Feststellung über negative Einstellungen der Belegschaft zum Betrieb von Rainer M. Lepsius, Strukturen u n d Wandlungen i m Industriebetrieb, M ü n chen 1960 S. 54: „Das abstrakte System w i r d dann zum Sündenbock, die personalen Beziehungen aber von Spannungen befreit." I m übrigen w i r d das Negativbild gerade dadurch stabilisiert, daß man Ausnahmen einräumt und das Cliché damit gegen Widerlegung durch günstige Erfahrungen sichert. 29 I m m e r h i n ist die allgemeine Forschung über die Beeinflußbarkeit von sog. „images", die von der M a r k t - und Konsumforschung angeregt wurde, erst i n den Anfängen begriffen, so daß endgültige Feststellungen zur Zeit nicht verantwortet werden können. Vgl. hierzu Hans Peter Dreitzel, Selbstb i l d u n d Gesellschaftsbild, Wissenssoziologische Überlegungen zum ImageBegriff, Europäisches A r c h i v f ü r Soziologie 3 (1962) S. 181—228, m i t weiteren Hinweisen. 30 Siehe hierzu Fritz Morstein M a r x , The Higher C i v i l Service as an Action Group i n Western Political Development, i n : Joseph LaPalombara (Hrsg.), Bureaucracy and Political Development, Princeton Ν . J. 1963 S. 62—95.

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I. T e i l : Grundlagen

lastungsmechanismus für den politisch „kostspieligeren", eine ideologische Staatskonzeption voraussetzenden unmittelbaren Gebrauch öffentlicher Macht geworden. Dem Verwaltungsstil, der sich daraus ergibt, w i r d es naheliegen, auch seine Schäden i n Geld abzugleichen. Eine Gesamtordnung dieser Art, für welche sich die Bezeichnung demokratischer Rechtsstaat oder rechtsstaatliche Demokratie eingebürgert hat, gehorcht gewissen Funktionsbedingungen. Sie läßt sich nicht i n beliebige Richtung ausbauen und abwandeln. Sie zeichnet den Rahmen vor, i n den auch die besonderen Rechtsinstitutionen der Entspannung, vornehmlich des Entschädigungsrechts 31 , sich fügen müssen. Entschädigungsleistungen haben, wie w i r sahen, allgemein die Funktion, ein relativ freies, „rücksichtsloses", gegenüber nichtbezweckten Folgen indifferentes Handeln zu ermöglichen, das trotzdem keine wesentlichen Konflikte erzeugt. Auf hoheitliches Handeln i m demokratischen Rechtsstaat angewandt, bedeutet dies: 1. daß die Entschädigungsleistungen die politischen Entscheidungsprozesse entlasten und deren generelle, sachliche Ausrichtung tragen helfen, indem sie Proteste aus persönlicher Betroffenheit absorbieren; 2. daß die Entschädigungsleistungen einen Spielraum rechtlicher Programmierung des Staatshandelns erträglich machen, zum Beispiel i m Wirtschaftslenkungsrecht oder i m Recht der Stadtplanung, dessen Ausfüllung nicht an der konkreten Rechtssituation der betroffenen Bürger bizarre und unübersteigbare Schranken findet, also unter spezifischen Zweckgesichtspunkten rationalisiert und zentral gesteuert werden kann — eine Planungsfreiheit, die rechtlich darin ihren Ausdruck findet, daß legale Eingriffe i n Rechte, also rechtmäßige Rechtsverletzungen, zugelassen werden; 3. daß das Staatshandeln eingehend und i m Detail programmiert werden kann selbst auf die Gefahr hin, daß gelegentliche Fehler i n der Programmdurchführung dann unvermeidlich werden; denn Fehlerfolgen können durch Geldentschädigung ausgeglichen werden. Diese verschiedenen Sinnbeziehungen der öffentlich-rechtlichen Entschädigung sind Aspekte einer einheitlichen soziologischen Funktion: relativ eigensinnig-rationales Handeln trotz starker Interdependenz aller Handlungssysteme zu ermöglichen. M i t der Einheit des soziolo31 Daneben gibt es eine Vielzahl andersartiger Rechtsinstitutionen, die der gleichen F u n k t i o n dienen. M a n denke etwa an Vorschriften über den Schutz von Privatgeheimnissen (ζ. B. das Steuergeheimnis), die m i t hoheitlicher Gew a l t aufgebrochen werden, dann aber i m Staatsbereich isoliert w e r den müssen, soll der Bürger nicht bloßgestellt oder geschädigt werden. Dazu siehe Peter Düwel, Das Amtsgeheimnis, B e r l i n 1965.

2. Kap. : Programmierung von Entscheidungen

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gischen Bezugsproblems ist natürlich noch keine Einheit der juristischen Konstruktion, keine Kohärenz der verschiedenartigen Anspruchsgrundlagen i n einem geschlossenen dogmatischen System gegeben. Die Funktion einer Institution ist noch kein Rechtsanspruch. Dazu bedarf es einer Transformation von soziologischer Einsicht i n geltendes Recht, die sich teils durch ausdrückliche Rechtssetzung, teils durch dogmatische Besinnung i n Lehre und Rechtsfindung vollzieht. Aber w i r gewinnen aus der soziologischen Analyse die Erkenntnis einer Problemeinheit, der die juristische Begriffsbildung durch innere Konsistenz Rechnung zu tragen hat. Zwar kann die juristische Dogmatik sich kaum als geschlossenes Axiomensystem für zwingende logische Schlüsse vollenden. U m so mehr muß sie auf die met a juristischen Grundlagen der Überzeugungskraft ihrer Argumente achten. Sie w i r d Lücken und Anspruchsüberschneidungen nicht begründen, Analogien nicht überzeugend abwehren können, wenn i m Grunde m i t allen Anspruchsformen dieselbe soziale Funktion erfüllt wird. Darüber hinaus bleibt die funktionale Verzahnung des Entschädigungsrechtes m i t den Verfahren der politischen Willensbildung und ihrer begrenzten Befriedigungskapazität, m i t einer Reihe von latent wirksamen kompensatorischen Einrichtungen, mit den Formen rechtlicher und finanzieller Kontrolle des Staatshandelns, vor allem aber mit dem Ausmaß an Spannung zwischen Staat und Bürger, das eine politische Ordnung ertragen kann, zu beachten. Sie macht deutlich, daß der Ordnung staatlicher Entschädigungsleistungen eine zentrale Stellung i n der politischen Verfassung zukommt. Schon deshalb läßt sie sich i n der rechtspolitischen Betrachtung nicht isolieren und allein unter dem Leitstern einer inneren Harmonie von Rechtsregeln behandeln. Wir müssen nicht allein eine abgestimmte Konsistenz verschiedener Anspruchstypen, sondern darüber hinaus eine Regelung suchen, die i n dem sorgfältig ausbalancierten System des demokratischen Rechtsstaates die ihr zugedachte Funktion erfüllen kann.

2. Kapitel

Programmierung von Entscheidungen Wenn es zutrifft, daß das Ausgangsproblem der öffentlich-rechtlichen Entschädigung i n der Selbstrationalisierung des Staates als System der Anfertigung von verbindlichen Entscheidungen liegt, dann dürfte eine nähere Analyse der Rationalstruktur von Entscheidungen weitere Aufschlüsse vermitteln. Denn ganz unabhängig davon, ob man i n der

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I. Teil: Grundlagen

Gewährung von Entschädigungen großzügig sein w i l l oder nicht und ob man ihr primär den Standpunkt des Staates oder den des Bürgers zu Grunde legen w i l l , w i r d das Bedürfnis nach Entschädigung überhaupt erst durch staatliches Handeln ausgelöst und bekommt so von dort her seine erste Prägung. Staatliches Handeln, wie alles Handeln, gewinnt Rationalität dadurch, daß es als Kausalvorgang, als Bewirken einer Wirkung ausgelegt wird. Durch diese Auslegung w i r d es auf ein Netz unendlicher Verweisungen projiziert 1 . Es gibt, wenn man auf die Ursachen des Handelns zurückblickt, stets eine unendliche Fülle von mitdeterminierenden Faktoren, und wenn man auf die Folgen vorausschaut, gleichfalls eine Unzahl von Wirkungen. Wenn man außerdem berücksichtigt, welche anderen Möglichkeiten des Handelns bei gegebenen M i t t e l n oder für bestimmte Zwecke bestehen, kommt eine Vielzahl neuer Verweisungshorizonte hinzu. Das reine Kausalschema dient dazu, einen vorgestellten Ablauf mit anderen Möglichkeiten zu konfrontieren, aber es ermöglicht für sich allein keine sinnvolle Orientierung, keine Wahl, keine rationale Entscheidung. Es muß durch gewisse Vereinfachungsregeln strukturiert werden, die w i r i n Anlehnung an eine aus der automatischen Datenverarbeitung stammende Terminologie als Entscheidungsprogramme bezeichnen wollen. Das Kausalschema selbst eröffnet zwei — und nur zwei — Möglichkeiten der Programmierung von Entscheidungen. Entweder w i r d eine bestimmte Wirkung (oder eine begrenzte Anzahl von bestimmt vorgestellten Wirkungen) als Zweck des Handelns ausgezeichnet. Dem Handelnden w i r d dann erlaubt oder geboten, die übrigen Folgen seines Handelns zu ignorieren bzw. i n Kauf zu nehmen. Sie werden, wie w i r oben schon andeuteten, als wertneutral behandelt. Diese Einengung des Horizontes der relevanten Folgen strukturiert zugleich den unendlichen Bereich der Ursachen so, daß nur noch wenige Ursachenkombinationen als geeignete M i t t e l i n Frage kommen. Zwischen ihnen kann man dann nach Wertgesichtspunkten wählen. Oder es w i r d auf gleiche, aber entgegengesetzte Weise eine bestimmte Ursache isoliert, und es w i r d dem Entscheidenden erlaubt oder geboten, jedesmal wenn eine solche Ursache gleichsam als Signal auftritt, i n vorher festgelegter Weise zu entscheiden bzw. zu handeln. Während man Zweckprogramme immer schon kannte, ist dieser Gegentyp der konditionalen Programmierung erst kürzlich entdeckt worden 2 . Konditionalprogramme vereinfachen die 1 Dazu näher Niklas Luhmann, Wahrheit und Ideologie, Der Staat 1 (1962) S. 431—448 (436 ff.). 2 Vgl. James G. March / Herbert A . Simon, Organizations, N e w Y o r k London 1958, insb. S. 141 ff., die jedoch den Begriff des „Programmes" auf diesen F a l l der konditionalen Programmierung zuschneiden u n d sich dadurch

2. Kap. : Programmierung von Entscheidungen

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Entscheidungssituation ähnlich, aber entgegengesetzt, wie Zweckprogramme. Sie setzen i m Ursachenhorizont an und gestatten es dem Handelnden, seine Aufmerksamkeit auf bestimmte, programmauslösende Informationen zu konzentrieren und alles andere als irrelevant zu behandeln. Zweckprogramme und Konditionalprogramme haben für das Außenverhältnis der entscheidenden Staatsverwaltung, für ihr Verhältnis zum Bürger, analoge Funktionen. Sie ermöglichen eine gewisse unschädliche „Rücksichtslosigkeit" des staatlichen Planens gegenüber den unübersichtlich verknäulten und rasch wechselnden konkreten Interessen der Umwelt. I m Rahmen solcher Programme kann die Verwaltung sich i n hohem Maße Indifferenz leisten und sich deshalb spezifischen Aufgaben widmen 3 . Dadurch läßt sich, gesamtgesellschaftlich gesehen, das Potential zu nicht-koordinierter Interessenverfolgung erhöhen. Dieser Funktion dienen Zweckprogramme und Konditionalprogramme i n je verschiedener Weise. Zwecke können i m Rahmen von sehr allgemeinen Zweckkategorien, zum Beispiel: Sicherheit und Ordnung zu wahren, gewählt werden und lassen außerdem zumeist mehrere M i t tel alternativ als geeignet erscheinen. So entsteht ein Planungsspielraum, der es der Verwaltung erlaubt, ein allgemein organisiertes Handlungspotential den gegebenen Verhältnissen von Fall zu F a l l anzupassen. Die Konditionalprogramme haben dagegen die Eigenschaft, von „außen" auslösbar zu sein. Wer über die Symbole und Informationen verfügt, die als programmauslösende Zeichen definiert sind, kann durch Kommunikation eine entsprechende Entscheidung erwirken. Trotz dieser Abhängigkeit kann die Verwaltung ihr Repertoire an Programmen allgemein formulieren, ohne den Entscheidungsbedarf und vor allem: ohne die Zeitpunkte, i n denen er auftritt, und die Reihenfolge der relevanten Kommunikationen genau zu kennen. Durch Konditionalisierung der Programme ist eine Leistungsplanung möglich, die von den konkreten Interessenlagen i n der Umwelt und ihren vielfältigen, unvorhersehbaren Verschiebungen relativ unabhängig ist. Die Verwaltung kann zuverlässig i n Aussicht stellen, daß, wenn immer sich eine bestimmte Situation ergibt, i n vorherbestimmter Weise entschieden wird. Nur jenes Mindestmaß an Ordnung i n der Umwelt muß sie voraussetzen, das

die Möglichkeit verbauen, den Gegensatz von Zweckprogrammen und K o n d i tionalprogrammen auszuarbeiten. Siehe ferner Niklas L u h m a n n , Lob der Routine, VerwArch. 55 (1964) S. 1—33. 3 A u f typische Folgeprobleme dieses Gewinns an Rationalität sind w i r oben S. 26 f. bei Besprechung des Negativbildes der V e r w a l t u n g schon gestoßen. W i r kommen später, w e n n w i r die unvermeidliche Inkongruenz von E n t scheidungsprogrammen der V e r w a l t u n g und Rechtsbesitz des Bürgers behandeln (S. 147 f.), nochmals darauf zurück.

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I. Teil: Grundlagen

sie braucht, um typmäßig definierte Informationserwartungen bilden zu können. Schon durch das Schema der Entscheidungsprogramme ist demnach für die Verminderung des Konfliktstoffes und für ein hohes Maß an unabhängiger Interessenverfolgung i n verschiedenen, autonomen Aktionszentren gesorgt. Gleichwohl läßt sich nicht vermeiden, daß wichtige und schutzwerte Interessen des Bürgers der Verwaltung i n die Quere kommen. I n solchen Fällen kann eine Entschädigungsleistung zu weiterer Spannungsverminderung dienen. Die beiden Grundtypen von Entscheidungsprogrammen definieren zugleich die Ausgangssituation des Entschädigungsproblems, den Übergriff des Handelnden i n fremde Interessen. Im Rahmen von Zweckprogrammen werden fremde Interessen in der Form der Wahl von Mitteln verletzt, bei Konditionalprogrammen dagegen durch Fehler in der Interpretation der auslösenden Informationen. Es gibt m i t h i n zwei — nur zwei — verschiedene Grundtatbestände, an welche eine Entschädigungspflicht anknüpfen kann: die Wahl von M i t t e l n und Interpretationsfehler. Aus diesen zwei Grundfarben können sehr verschiedenartige und kompliziert gebaute Bilder entstehen. Denn Entscheidungsprogramme sind nicht undurchdringliche Sinnkörper. Sie lassen sich vielfältig kombinieren und ineinander verschachteln. Man kann zum Beispiel i n Konditionalprogramme Zweckprogramme einbauen, indem man das, was auf ein Signal h i n zu geschehen hat, nur durch Angabe eines Zwecks und nicht durch genaue Vorzeichnung einer konkreten Handlung vorschreibt. Und umgekehrt kann man zur Ausführung von Zweckprogrammen Konditionalprogramme entwerfen und diese dann als M i t t e l auf ihre Eignung für den Zweck prüfen, wenn man zum Beispiel i m Rahmen eines Wohnungsförderungsprogramms gewisse Bedingungen formuliert, bei deren Vorliegen jeder, der kommt, routinemäßig programmierte Hilfeleistungen erhält. Jede Programmierung von Entschädigungsentscheidungen setzt eine solche Programmverschachtelung voraus; denn Entschädigungen werden, wie w i r sahen, nur gezahlt, wenn bei der Durchführung von Primärprogrammen gewisse Probleme auftreten. Sie haben ein Anecken der Primärprogramme zur Voraussetzung. Daher bietet sich für die Programmierung der Entschädigungsleistungen selbst die konditionale Form als gegebener Typus an: Wenn das Primärprogramm i n näher definierten Hinsichten, sei es mit der Wahl seiner Mittel, sei es durch Fehler, Interessen verletzt, muß eine Entschädigung gezahlt werden. Auf diese Weise können Entschädigungsregelungen allgemein getroffen werden, ohne daß man dabei genau vor Augen haben müßte, wann und wo Primärprogramme i n die bezeichneten Schwierigkeiten geraten.

2. Kap.: Programmierung von Entscheidungen

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So ist die konditionale Programmform die Bedingung für die juristische Isolierbarkeit des Entschädigungsrechtes. Die Unterscheidung von Zweckprogrammen und Konditionalprogrammen ist an sich unabhängig von der Frage der Juridifizierung der Entscheidungsprogramme zu verstehen. Beide Programmformen können als frei gewählte und zu nichts verpflichtende Planungstypen einer Verwaltung i n Gebrauch sein. Sie können aber auch als Rechtsprogramme formuliert werden. Wenn das geschieht, ist damit i n aller Regel die Einflechtung eines Zweitprogramms für den F a l l der Rechtsverletzung verbunden, das die Form eines Konditionalprogramms annehmen muß: Wenn die Vorschriften des Primärprogramms verletzt werden, muß diese oder jene Folgerung gezogen werden, zum Beispiel eine Sanktion verhängt oder eine Entschädigung gezahlt werden. Denn nur i n Form eines Konditionalprogramms kann ein bestimmtes Handeln als strikte Konsequenz fest an einen Tatbestand montiert werden. Sanktionsprogramme und Entschädigungsprogramme sind als angehängte Konditionalprogramme nahe miteinander verwandt, ohne daß daraus jedoch die Folgerung gezogen werden könnte, daß Entschädigung nur für rechtswidriges Handeln „möglich" sei. Entschädigungsprogramme können demnach als reines „KonsequenzRecht 4 " an die juristische Beurteilung von Primärentscheidungen angeknüpft werden. Sie können aber auch durch eine eigene Auslösungsformel verselbständigt werden, die nicht darauf Bezug nimmt, ob und unter welchen Bedingungen das Primärprogramm rechtmäßig bzw. rechtswidrig ist. So hängt die französische Staatshaftung zu großen Teilen vom Tatbestand einer „faute de service" ab, ohne daß eine solche faute stets schon Rechtswidrigkeit des Staatshandelns 5 oder Rechtswidrigkeit stets schon faute 6 bedeutet. Es setzt eine eigenartige Fehlerprüfung voraus, ist also nicht strenges Konsequenzrecht 7 . Dagegen würde es dem prinzipiellen Rechtsstaat deutscher Prägung mehr entsprechen, die juristische Beurteilung der Primärentscheidungen konsequent auf die Entschädigungsprogramme zu übertragen. Die verfassungsrechtliche Junktimklausel ist der deutlichste Ausdruck dieser Ten4

E i n Ausdruck von Leisner 1963 b S. 15. Vgl. als grundsätzliche Ausarbeitung des Themas Delbez 1932, u n d an weiteren Stimmen ζ. B. D u e z / D e b e y r e 1952 No. 637; Vedel 1961 S. 252; Benoit 1954 No. 11; Chapus 1957 No. 343; A u b y 1955 S. 537; Sprecher von Bernegg 1921 S. I l l ff. Giacometti 1960 S. 520 A n m . 1. I n deutschen Berichten über französisches Recht w i r d dagegen die Haftung f ü r faute oft i r r i g m i t H a f t u n g für Rechtswidrigkeit gleichgesetzt, ζ. B. bei Stödter 1933 S. 16; richtig Leisner 1963 b S. 17. β Dazu siehe namentlich Duez 1938 S. 51 ff. 7 So auch Leisner 1963 b S. 15 f. 5

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Speyer 24

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I. Teil: Grundlagen

denz: Jede Klage auf Entschädigung muß i n dieser Ordnung auf die Behauptung einer rechtswidrigen Primärentscheidung gegründet werden. Diese Überlegungen lassen erkennen, daß Entschädigungsprogramme, obwohl sie als Sekundärprogramme stets Konditionalprogramme sein und daher deren Formbedingungen gehorchen müssen, i n ihrer A n knüpfung an Primärprogramme doch sehr unterschiedlich geregelt sein können. Sie können an Zweckprogramme oder an Konditionalprogramme, an rechtmäßiges oder rechtswidriges Handeln angehängt werden. Hierin liegt der Spielraum für verschiedene „Systeme" des Entschädigungsrechts. Welche dieser Möglichkeiten i n einer Rechtsordnung bevorzugt werden und wie ihr Verhältnis zueinander und zu anderen Formen des Rechtsschutzes geregelt wird, das ist eine Frage, die zur Disposition steht und sehr verschiedene Antworten gefunden hat. Nicht zuletzt hängt die Lösung davon ab, ob ein Staat als Primärprogramme Zweckprogramme oder Konditionalprogramme bevorzugt und i n welchem Ausmaß er überhaupt seine Entscheidungsprogramme juridifiziert. Die Juridifizierung der staatlichen Entscheidungsprogramme, der Kerngedanke dessen, was man Rechtsstaat nennt, bedeutet: daß ein Einzelprogramm nicht allein durch sich selbst gerechtfertigt ist, nicht isoliert aufgestellt, nicht nur als Reaktion auf elementare Bedürfnisse und aktuelle Probleme praktiziert werden kann; sondern daß es m i t anderen Programmen ausgeglichen werden muß, u m an der Verbindlichkeit des Staatshandelns teilnehmen zu können. Soziologisch gesehen ist das Rechtsstaatsprinzip eine Form der Generalisierung, der Entbindung, der umweghaften Determination der Beziehung von Bürger und Staat. Es besagt, daß der Bürger vom Staat nicht allein nach Maßgabe gerade auftretender Bedürfnisse i n partikularen Beziehungen behandelt wird, sondern daß Überlegungen der Programmkonsistenz, der juristischen Konstruierbarkeit, der „Gleichheit 8 " und der Grundsatzmäßigkeit dazwischengeschaltet sind, so daß nicht nur die aktuelle Bedürfnislage die Staatsentscheidung steuert. Unmittelbare Handlungsimpulse, elementare Bedürfnisse und die besonderen Verhaltenserwartungen partikularer Kontaktsysteme werden gleichsam durch eine zweite Schicht von Problemverarbeitungsproblemen gefiltert. A u f diese Weise lassen sich die Vorteile und die Entlastungswirkungen indirekter Motivation erzielen 9 . 8

Die sich hier einfügende Interpretation des Gleichheitssatzes w i r d i m 4. K a p i t e l nachgeholt. 9 Dieser Gedanke des Gewinns durch I n d i r e k t h e i t läßt sich vielfältig belegen. Unter dem Gesichtspunkt der Entlastung findet man i h n bei A r n o l d Gehlen, Der Mensch; seine N a t u r u n d Stellung i n der Welt, 6. A u f l . Bonn 1958, insb. S. 68 u n d ders., Urmensch u n d Spätkultur, Bonn 1956. Die klas-

2. Kap.: Programmierung von Entscheidungen

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Indirekte Beanspruchung dient der Entspannung. Sie kann jedoch i m Einzelfall zum Vorteil wie zum Nachteil des Staatsbürgers ausschlagen; und die Behauptung, daß der Rechtsstaat der Freiheit des Staatsbürgers diene, setzt voraus, daß man zuvor die Freiheit als Schutz gegen unmittelbar motivierten Zugriff definiert hat. Die soziale Funktion des Rechtsstaates liegt nicht i n der Richtung seiner ideologischen Rechtfertigung, sondern darin, daß er ein hohes Maß an indirekter Problemverarbeitung und damit eine starke Differenzierung der Sozialordnung ermöglicht. Dieser Aufgabe dient i n der östlichen Welt die ideologisch-doktrinäre Steuerung der Staatsprogramme. W i r verwenden i n gleicher Funktion die sehr viel unprätentiösere traditionelle Problembehandlungstechnik der Juristen. Daher tendieren das dortige Staatswesen zum Zweckprogramm, w i r zum Konditionalprogramm. Hinter diesem Gegensatz werden leicht divergierende Vorstellungen von Rationalität erkennbar. I n unserer rechtsstaatlichen Ordnung, die Programmkonsistenz — wenn nicht allein, so doch immer auch — auf juristischem Wege zu erreichen sucht, obliegen dem Juristen nicht nur Programmanwendungsaufgaben. Seine Kunst der abstrahierenden Argumentation, der Harmonisierung von Widersprüchen, der Formelformulierung, der Gesetzesauslegung und Fallbehandlung und des Verbergens echter Entscheidungselemente i n Entscheidungen, sein geschulter Orientierungssinn sowie der gelernte, berufsmäßig wenn nicht standesmäßig institutionalisierte Moralkodex des guten und schlechten, vernünftigen und unvernünftigen, eleganten und grobschlächtigen, i n jedem F a l l nachprüfbaren Begründens, das alles t r i t t i n den Dienst der Programmformulierung durch Rechtsfortbildung. Die juristische Dogmatik und Rhetorik bekommen dadurch mitsamt den sie tragenden sozialen Institutionen eine relat i v autonome Entscheidungsaufgabe zugewiesen 10 . I n der Durchführung dieser Aufgabe läßt sich die Rechtsetzung nicht ganz von der Rechtsanwendung trennen, nicht voll zentralisieren; dafür sind die Verhältnisse zu komplex und die juristischen Methoden des Herausziehens, Erprobens und Modifizierens allgemeiner Rechtsgedanken zu sehr an

sische wirtschaftswissenschaftliche Formulierung bietet die Kapitaltheorie von Eugen B ö h m - B a w e r k , K a p i t a l u n d Kapitalzins, 4. A u f l . Jena 1921, insb. Bd. I I S. 105 ff. F ü r die Organisationstheorie siehe ζ. B. die Auffassung der Organisation als „Umweghandeln" bei Erich Kosiol, Grundlagen und Methoden der Organisationsforschung, B e r l i n 1959 S. 18 und als eine soziologische Stellungnahme Louis Schneider, The Role of the Category of Ignorance i n Sociological Theory: A n Exploratory Statement, American Sociological Review 27 (1962) S. 492—508 (500 f.). 10

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Dazu grundlegend Heller (Kap. 1 A n m . 3) S. 259 ff.

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I. Teil: Grundlagen

die Fallbearbeitung gebunden11. Die Aufgabe der Rechtspositivierung i s t a u f L e g i s l a t i v e , E x e k u t i v e u n d J u s t i z v e r t e i l t 1 2 . D a r i n l i e g t eine S i c h e r u n g des p r i m ä r a r g u m e n t a t i v e n „ t o p i s c h e n 1 3 " S t i l s der j u r i s t i s c h e n Positivierung u n d ihrer eigentümlichen Rationalität. R e c h t s p o s i t i v i e r u n g i s t d e r soziale V o r g a n g , d e r d e m Recht v e r b i n d liche G e l t u n g g i b t . E r v o l l z i e h t sich i n d e r j u r i s t i s c h e n E n t s c h e i d u n g s p r a x i s 1 4 , setzt also eine E n t s c h e i d u n g s o r g a n i s a t i o n voraus, d e r i m p o l i tischen S y s t e m d i e B e d i n g u n g e n g e n a n n t w e r d e n , u n t e r d e n e n sie ü b e r das Recht v e r f ü g e n k a n n . I n n e r h a l b dieser E n t s c h e i d u n g s o r g a n i s a t i o n h a t d i e A u f t e i l u n g i n rechtsetzende u n d r e c h t s a n w e n d e n d e I n s t a n z e n 11 Dazu vgl. besonders Josef Esser, Grundsatz und N o r m i n der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 1956, m i t reicher D o k u mentation, aber ohne jedes Verständnis für die politischen Grundlagen der Rechtsbildung. 12 Diese A r t der zwangsläufigen Dezentralisierung der Rechtsentwicklung ist für politische Systeme bezeichnend, die p r i m ä r unter Konditionalprogrammen arbeiten. Wenn, wie i m sowjetischen Bereich, Zweckprogramme v o r herrschen, t r i t t eine f u n k t i o n a l äquivalente Dezentralisation durch Widersprüche i n den Planzielen ein. Sie können nicht alle zugleich optimal erfüllt werden. Dadurch erhalten die unteren Instanzen eine mehr oder weniger illegale Freiheit der Auswahl, die ebenso uneingestanden praktiziert werden muß wie die Interpretationsfreiheiten der Rechtsanwendung i m System des Gesetzespositivismus. Die juristischen Darstellungsprobleme, die daraus erwachsen, sind seit der E n t l a r v u n g der Begriffsjurisprudenz v i e l erörtert worden. Z u den Darstellungs- u n d Absicherungsstrategien des Sowjetbürokraten i n der entsprechenden Situation vgl. A n d r e w G. Frank, The Organization of Economic A c t i v i t y i n the Soviet Union, Weltwirtschaftliches Archiv 78 (1957 I) S. 104—156; ders., Goal A m b i g u i t y and Conflicting Standards: A n Approach to the Study of Organization, H u m a n Organization 17 (1958-59) S. 8—13. Gerhard W. Ditz, I n d u s t r i a l A d m i n i s t r a t i o n i n Communist East Europe, A d m i n i s t r a t i v e Science Quarterly 4 (1959) S. 82—96. Manches auch bei D a v i d Granick, Management of the Industrial F i r m i n the USSR, New Y o r k 1954; Joseph S. Berliner, Factory and Manager i n the USSR, Cambridge Mass. 1957; Janos Kornai, Overcentralisation i n Economic A d m i nistration, A Critical Analysis Based on Experience i n Hungarian L i g h t Industry, London 1959, insb. S. 117 ff. Z u r Gegenbewegung einer „ a m t lichen" Dezentralisierung vgl. Carl Beck, Bureaucracy and Political Development i n Eastern Europe, i n : Joseph LaPalombara (Hrsg.) Bureaucracy and Political Development, Princeton Ν. J. 1963 S. 268—300 (285 if.). 13 Siehe Theodor Vieh weg, Topik u n d Jurisprudenz, 2. A u f l . München 1963. 14 Das ist eine nicht n u r soziologisch gemeinte Feststellung, w i e Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, Neudruck München—Leipzig 1929, sie verstand. Vielmehr geht auch die juristische Grundlagenforschung heute zunehmend dazu über, die S t r u k t u r der Jurisprudenz, ihren A r g u m e n tationsstil, die Stellung ihrer Probleme u n d die F u n k t i o n ihrer Grundsätze an H a n d des juristischen Entscheidungsprozesses offenzulegen. Vgl. außer den soeben genannten Arbeiten von Viehweg und Esser Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963) S. 53—102 (54 f.) m i t w e i teren Hinweisen. B e i m Ausbau dieser Blickweise verlieren die alten Dichotomien von Naturrecht u n d positivem Recht und von Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht ihre Bedeutung, da sie von einem dogmatischen Rechtsquellendenken her bestimmt sind, das dem w i r k l i c h e n Geschehen der Rechtsbildung nicht gerecht w i r d .

3. Kap. : Geschichtliche Lösungsversuche

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sekundären Rang, da keine Rechtsetzung ohne Rücksicht auf das geltende Recht erfolgen kann und keine Rechtsanwendung geschieht, ohne daß das geltende Recht angepaßt, modifiziert und umgewandelt wird. Gleichwohl kann es sinnvoll sein und die politische Lenkbarkeit des Systems unterstreichen, wenn man an der Fiktion festhält, daß das Recht zentral gesetzt und i m übrigen nur angewandt wird, und wenn man die institutionelle Aufteilung des Rechtsentscheidungsprozesses entsprechend modelliert. Andererseits ergeben sich aus dieser Aufteilung die besonderen Schwierigkeiten einer realistischen Rechtspolitik. Sie muß entscheiden, ob sie sich an den Gesetzgeber, an die Verwaltung oder an den Richter wenden w i l l , und muß i n jedem Falle mit einer begrenzten Kapazität zur Rechtspositivierung rechnen. Eine durchgreifende Reform des deutschen Entschädigungsrechtes, das i n seiner gegenwärtigen Gestalt ein Gemenge aus Ablagerungen von legislativen und justiziellen Positivierungsprozessen darstellt 1 5 , hat unter solchen Systembedingungen charakteristische Hemmungen zu gewärtigen. A u f Einzelheiten werden w i r i m dreizehnten und vierzehnten Kapitel eingehen. Strukturbedingte Schwierigkeiten dieser A r t dürfen, wenn sie einem auch manchen Seufzer entlocken, nicht als unsinnige Last verstanden werden. Sie zeigen uns die Folgeprobleme unserer rechtsstaatlichen Verfassung und darüber hinaus Strukturen der politischen Ordnung des neuzeitlichen Staatswesens. Und sie beleuchten damit zugleich die besonderen Anforderungen, denen w i r genügen müssen, um unser politisches System zu verdienen.

3. Kapitel

Geschichtliche Lösungsversuche Die Skizze des sozialen Problems, das durch staatliche Entschädigungsleistungen zu lösen ist, war nicht dazu bestimmt, als Ausgangspunkt für eine Kette logischer Folgerungen zu einem einzig-richtigen, präzise ausgemeißelten Rechtssetzungsvorschlag zu führen. Das käme der Behauptung eines Naturrechts gleich, die uns fern liegt. Auch die Erörterung der Programmtypen hat zwar zu der Einsicht geführt, daß gewisse Programmstrukturen unserem Problem vorgezeichnet sind, hat aber nicht erkennen lassen, wie Entschädigungsleistungen programmiert werden sollen. Probleme, die auf jener Ebene der Abstraktion 15 I m Vergleich dazu ist das französische Staatshaftungsrecht ganz durch die Rechtsprechung des Conseil d'Etat aufgebaut worden.

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I. Teil: Grundlagen

formuliert werden, können zumeist auf sehr verschiedene Weise befriedigend gelöst werden. Und es besteht kein Zweifel, daß das gegenwärtig i n der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht eine solche Lösung darstellt. Es sind nicht eklatante Mißstände oder Schwierigkeiten, die den Ruf nach dem Gesetzgeber motivieren, sondern mehr das Bedürfnis nach einer klaren Konzeption für das stark zersplitterte, teils gesetzlich fixierte, teils gewohnheitsrechtlich geltende, teils auf anerkannte Formeln gebrachte, teils umstrittene positive Recht. Eine solche Konzeption läßt sich jedoch nur gewinnen, wenn man eine Vorstellung der Ordnungsaufgabe mitbringt, die dem Gesetzgeber gestellt ist. Deren Analyse hat ergeben, daß das Problem nicht einfach i n der Antinomie von Staat und Bürger besteht 1 , sondern darin, ein möglichst autonomes, nach je eigenen Zwecken rationalisierbares Verhalten beider zu ermöglichen, das trotz starker Wirkungsverflechtungen nicht zu Konflikten und wechselseitiger Behinderung führt. Wir müssen nun i m Lichte dieser Problemstellung uns zunächst das Repertoire an geschichtlichen Problemlösungen m i t ihren jeweiligen Vorzügen und Schwächepunkten vor Augen führen. Ein solcher Rückblick, der auch die gegenwärtige Rechtslage einbeziehen soll, h i l f t uns am besten, die einzelnen Lösungsmöglichkeiten m i t ihren Voraussetzungen und ihren Konsequenzen gegeneinander zu isolieren. Obwohl man die Institution öffentlich-rechtlicher Entschädigung in ununterbrochener Tradition bis i n die mittelalterlichen Rechtsschulen Italiens zurückverfolgen kann 2 , ist eine uns interessierende durchdachte Gesamtlösung erst geraume Zeit nach der Ausbildung des neuzeitlichen Staatswesens zu erwarten. Sie findet i m 18. Jahrhundert ihre Formulierung m i t Hilfe des neuzeitlichen, subjektiven Natur rechts (Vernunftrechts). Der moderne Staat, das w i r d i n jener Zeit deutlich, kann nicht mehr wie das mittelalterliche Staatswesen als Gefüge von partikularen, auf besondere Gründe zurückzuführenden Rechtsbeziehungen zwischen Fürst und Untertan begriffen werden. Er kann i m öffentlichen Interesse rationaler und wirksamer organisiert werden, wenn er von allzu genau definierten Handlungsbeschränkungen freigestellt wird, welche historische Gründe haben mögen, die gegenwärtige Planung aber mit zu vielen Fesseln und Rücksichten belasten. Die hauswirtschaftliche Auffassung des Staatswesens, die sich i m Mittelalter gegen die antike 1 Den meisten heutigen A u t o r e n scheint dies die letzterreichbare Problemfassung zu sein; vgl. ζ. B. Haas 1955 S. 7 f. oder Kaiser 1960 S. 9 f. 1 Als rechtsgeschichtliche Darstellungen dieser älteren Lehren vgl. namentlich Meyer 1868 S. 9 ff.; G r ü n h u t 1873 S. 12 ff.; Gierke 1958 insb. S. 268 ff.; Anschütz 1897 S. 36 ff.

3. Kap.: Geschichtliche Lösungsversuche

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Unterscheidung von Oikos und Polis durchgesetzt hatte, kann die neuen Wirklichkeiten nicht mehr fassen. Die Leistungen der Bedarfsdeckung und des politisch-rechtlichen Entscheidens haben sich institutionell getrennt 8 . Zwar konstruiert Grotius, hier wie i n anderen Fällen nicht Vater der Neuzeit, sondern K i n d des Mittelalters, das Enteignungsrecht noch mit einem hauswirtschaftlichen Begriff als „dominium supereminens 4 ". Und die zeitgenössische Theorie der Beamtenhaftung hätte sich gerne an das antike Sklavenrecht angelehnt, wenn sie eine Möglichkeit gefunden hätte, den schuldigen Beamten i m Wege der noxae datio an den Geschädigten auszuhändigen 5 . Die juristische Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts ringt sich jedoch von diesen Vorstellungen los 6 . Die politische Herrschaft verliert langsam den Charakter eines Familienunternehmens. Die hauswirtschaftlichen Begriffe werden durch „politische" Begriffe ersetzt, die aber den antiken Sinn der Politeia nicht mehr treffen und unversehens zu „polizeilichen" Begriffen werden. Das dem Fürsten konzedierte spezifische ius eminens, ursprünglich ein Sonderrecht für Notfälle, w i r d deshalb zu einem allgemeinen „Polizeyrecht" fortentwickelt, das den Landesherrn ermächtigt, nach eigenem vernünftigen Ermessen das öffentliche Wohl zu fördern 7 . Praktisch ist hiermit vor allem eine Befreiung aus den Fesseln der Gerichtsbarkeit erreicht, die den status quo zu schützen hat. Sie kann s Von der Wirtschaft her gesehen erscheint diese Trennung als Ausbildung von funktional-spezifischen Institutionen des Wirtschaftens, die nicht zugleich politische Funktionen miterfüllen, z. B. als Institutionalisierung des Marktes. Siehe dazu die grundsätzliche Ausarbeitung dieses Problems bei Talcott P a r s o n s / N e i l J. Smelser, Economy and Society: A Study i n the Integration of Economic and Social Theory, Glencoe III. 1956; vgl. ferner K a r l Polanyi / Conrad M. Arensberg / H a r r y W. Pearson, Trade and Market i n the Early Empires, Glencoe III. 1957 insb. S. 237 ff. u n d Riggs (Kap. 1 A n m . 4 — 1957 —). 4 1720 lib. I I , cap. X I V § 7. Siehe dazu auch Pufendorfs Bedenken gegen das Wort „ d o m i n i u m " i n diesem Zusammenhang: 1744, lib. V I I I , cap. V § 7; ferner die berühmte Kontroverse zwischen H o r n u n d Leyser u m diese Frage — dazu Meyer 1868 S. 125 ff. Weitere Hinweise bei Gierke 1958 S. 295 f. 5 Siehe Stryk 1698 S. 35. Weitere Nachweise bei Loening 1879 S. 40 ff. β E i n blasses Nachspiel findet diese Diskussion i n der Erörterung der Zuordnung des Entschädigungsrechts zum öffentlichen oder privaten Recht, die das 19. Jahrhundert bewegt u n d erst i n unserer Zeit zur Ruhe kommt. Die hauswirtschaftliche Staatskonzeption des Mittelalters erscheint i n den Augen des historisch gebildeten Juristen n u n als Unfähigkeit des germanischen Rechts, zwischen öffentlichem u n d p r i v a t e m Recht richtig zu u n t e r scheiden. 7 Vgl. dazu Stödter 1933 S. 57 ff. Auch Autoren, die das ius eminens nach w i e vor als Notrecht ansahen, das n u r bei Gefahr für die Erhaltung des Staates angewandt werden durfte, ζ. B. Achenwall 1774 T e i l I I § 146, kamen auf eine abschüssige Bahn, da sie einräumen mußten, daß auch Gefahr f ü r „Teile" des Staatswesens genügte. Schon damals bekam man zu spüren, was der soziologische Funktionalismus i m 20. Jahrhundert neu entdecken mußte: daß der Bestandsbegriff k e i n eindeutiges K r i t e r i u m abgibt.

I. Teil: Grundlagen

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jetzt nicht mehr dem Handeln selbst i n den A r m fallen, sondern nur noch zur Entschädigung verurteilen. Die Rechte des Bürgers schrumpfen für das staatliche K a l k ü l zu finanziellen Größen zusammen. Sie verwandeln sich aus festen Hindernissen i n Kosten, und damit w i r d Ellbogenraum für zwar nicht ungehemmtes, aber bewegliches staatliches Planen geschaffen. Unter dem alten Etikett eines subjektiven, wohlbegründeten Rechtes des Landesherrn findet sich also die Tatsache anerkannt, daß der Staat eine Fülle von Entscheidungen treffen muß, die nicht i m einzelnen vorausgesehen, daher auch nicht auf genau bestimmte Rechtsbeziehungen zurückgeführt werden können, und daß der Staat für diese Aufgaben generell stabilisiert werden muß. Die Staatsräson, die Rationalität einer beständigen, langfristigen Förderung des öffentlichen Wohls, fordert einen Spielraum zur Kombination unvorhersehbarer Entscheidungskomponenten, eine allgemein definierte Befugnis, so wie das neu geordnete, zentral verwaltete Finanzwesen ein vielseitig verwendbares Instrumentarium bereitstellt. Die Staatsräson fordert i n diesem Sinne Macht als generalisiertes M i t t e l par excellence, und alle Strategien der Machterhaltung und -entfaltung sind damit rational zu rechtfertigen. Die alten Doktrinen vom Staatsvertrag und vom Notrecht des Fürsten bekommen die neue Aufgabe, diese generelle Entscheidungsbefugnis rechtlich zu begründen und das heißt für jene Zeit: sie mit den angeborenen Rechten des Menschen i n Einklang zu bringen. I n nie wieder erreichter Weise w i r d die Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Staat dem rechtlichen Argument anvertraut. Wenn man sich den so konstituierten Planungsspielraum des Staates auf seine Programmstruktur hin ansieht, dann zeigt sich, daß ganz eindeutig Zweckprogramme — und nicht die von außen auslösbaren Konditionalprogramme — bevorzugt werden. Gerade darin findet die neu gewonnene Unabhängigkeit ihren überzeugendsten Ausdruck. Die gesellschaftliche Autonomie des Staates w i r d i n der Autonomie seiner Zwecksetzung gesehen. Die zeitgenössische Literatur denkt Rationalität überhaupt nur i m Zweck/Mittel-Schema, ohne andere Möglichkeiten der Rationalisierung zu kennen, und versucht daher, die Rechtsbindung des Staates i n einer allgemeinen Dachformel für all seine Zwecke zum Ausdruck zu bringen: Die Ausübung des Polizeirechts sei an den „Zweck" gebunden, dem Gemeinwohl zu dienen 8 . Demgemäß werden die Rechte des Bürgers i n der Form verletzt, daß der Staat für seine Zwecke M i t t e l wählt, die den Bürger ungleich belasten. Dessen Rechte erscheinen, wie schon gesagt, als Kosten der M i t t e l des Staates. Das Fehlerproblem, wie es bei konditionaler Programmierung auftaucht, spielt keine Rolle und 8

Vgl. ζ. B. Pütter 1782 § 119; von Berg 1802 Bd. I S. 86 ff.

3. Kap.: Geschichtliche Lösungsversuche

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w i r d nur i n bezug auf den weisungswidrig handelnden Staatsdiener diskutiert. A u f Seiten des Bürgers werden — i n Übereinstimmung mit dem Menschenbild der Zeit — definierbare angeborene und wohlerworbene Rechte vorausgesetzt. Nachdem schon die christliche Religion die antike Zentrierung des Menschenverständnisses um das Politische aufgelöst und ins Jenseits verlegt hatte, bewirkt die neuartige Systembildung i m politischen Bereich, die man jetzt „Staat" nennt, ein übriges. Sie besetzt den Platz des öffentlichen Lebens — so jedenfalls i m deutschen Staatsdenken 9 . Der Mensch kann nun nicht mehr als i n seinen besten Möglichkeiten politisches Wesen verstanden werden, sondern nur noch als Privatmann, als Individuum, das der durch den Staat konstituierten und vertretenen Öffentlichkeit m i t bestimmten Rechten gegenübertritt. Ein Umdenken der Stellung des Menschen zu einer generalisierten Systemkonzeption wie auf Seiten des Staates unterbleibt auf Seiten des Bürgers. Es gibt noch keine wissenschaftliche Anthropologie und keine Möglichkeit, von ihr aus den allgemeinen Sinn des Rechts und der Politik für den Menschen zu bestimmen 10 . Für den Bürger scheint zu genügen, was für den Staat nicht ausreichte: Die Wahrung eines Bestandes an spezifischen Rechten. Immerhin w i r d seine Rechtsposition soweit generalisiert, daß der Schutz wohlerworbener Rechte von einer mindestens naturrechtlichen Begründung, wie sie i m Mittelalter erforderlich war, abgelöst w i r d 1 1 . Obwohl dies i n der juristischen Problemdogmatik und Falldiskussion zunächst kaum sichtbar wird, stellen die politische Theorie und das Rechtsdenken sich unter dem Druck neuzeitlich-methodischer Wahrheitsanforderungen vom alten ethischen Bindungsdenken auf ein Denken i n berechtigten Ansprüchen um 1 2 . Die Rechtsquellenfrage w i r d für 9 I m angelsächsischen Staatsdenken bleibt die Tradition durch die F o r t führung des Begriffs der societas civilis (civil society) sehr viel stärker lebendig, so daß von dort entscheidende Impulse für die Anerkennung v o r staatlicher Menschenrechte ausgehen können. 10 Siehe dazu die Anregungen von Hans Ryffel, Der Mensch als politisches Wesen — philosophisch-anthropologische Grundlagen einer Philosophie der P o l i t i k —, Festschrift Emge, Wiesbaden 1960 S. 56—71; ders., Der Mensch als politisches Wesen (Gegenwartsaspekte), Der Staat 2 (1963) S. 25—39. 11 Z u Einzelheiten siehe Gierke 1958 S. 268 ff. Vgl. besonders Grotius' Polemik gegen die Unterscheidung von n a t u r - u n d positivrechtlicher Rechtsbegründung als K r i t e r i u m des Enteignungsschutzes, 1720 lib. I l e 14 § V I I I ; ferner auch Crusius 1668 Cap. X I I I , 5. 12 Vgl. Leo Strauss, The Political Philosophy of Hobbes: Its Basis and its Genesis, 2. Aufl. Chicago 1952 S. 155 ff. u n d ders., Naturrecht u n d Geschichte. Stuttgart 1956, insb. S. 188 f. zur Bedeutung von Hobbes für diese Wandlung. Pufendorfs Betonung des Pflichtgedankens (siehe besonders, De officio h o m i nis et ci vis j u x t a legem naturalem l i b r i duo, benutzte Ausgabe: Cambridge 1735) ist i n ihrer bewußten Schärfe schon Reaktion.

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I. Teil: Grundlagen

unser Problem irrelevant, besonders seit Locke das Eigentum als solches zum unzerstörbaren Menschenrecht des Individuums erklärt und es dadurch gegen die alte Grundlagendiskussion abschirmt. Ganz allgemein steuert man — was mit der Ausbildung des modernen Staates als Handlungssystem zusammenhängt — vom legeshierarchischen Denken weg auf die Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft zu 1 3 . Des weiteren fällt die alte Einschränkung der Entschädigungsfälle auf enteignungsartige Tatbestände: Entziehung oder Zerstörung von Sachgütern 14 , dem Zug zum Allgemeinprinzip zum Opfer. So w i r d das i m Mittelalter bald nach der Enteignung entstandene und seither kontinuierlich geltende Entschädigungsprinzip, zu jener klassisch-einfachen Regel 15 erweitert, welche die §§ 74, 75 Einl. A L R uns überliefert haben: Der Staat ist berechtigt, nach Maßgabe des öffentlichen Wohls i n die wohlerworbenen Rechte des Bürgers einzugreifen. Er hat aber, wenn er damit ein besonderes, den Einzelnen ungleich treffendes Opfer verlangt, den Betroffenen zu entschädigen1®. I n diesem Grundsatz verbinden sich wie i n einer Zauberformel die neuen Entscheidungsfreiheiten des Staates mit einer Garantie des alten Bestandes an individuellen Rechten 17 . I h m liegt das Prinzip der Lastengleichheit zugrunde, das ebenfalls diese zwei Seiten hat: Es schützt die individuelle Rechtsposition des Bürgers, indem es i h m nur jenes Minimum an öffentlichen Lasten aufbürdet, das sich bei einer Umlegung auf alle ergibt; und es erfordert und rechtfertigt auf Seiten des Staates eine zentralisierte Finanzverwaltung, die sich nicht von Fall zu Fall, sondern 13 Zur Dogmengeschichte dieser Übergangszeit vgl. unter diesem Aspekt Adalbert von Unruh, Doçmenhistorische Untersuchungen über den Gegensatz von Staat u n d Gesellschaft vor Hegel, Leipzig 1928 u n d Horst Ehmke, „Staat u n d Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, Festgabe für Rudolf Smend, Tübingen 1962 S. 23—49. 14 Vgl. dazu Anschütz 1897, der allerdings nicht zugesteht, daß diese E i n schränkungen jemals aufgegeben wurden u n d A r t . 75 E i n l . A L R als aus dem Rahmen fallende Vorschrift ansieht. Siehe als Gegenbeweis die Angaben unten A n m . 16. 15 Wenn eine, so ist diese Lösung — u n d nicht der unvollkommene u n d enge Enteignungsbegriff des 19. Jahrhunderts — als klassisch zu bezeichnen. Vgl. dazu auch Scheuner 1954 a S. 84 f. 16 Daß diese Lösung nicht n u r preußisches Gesetz war, sondern allgemein akzeptiert wurde, zeigt ein Blick i n das zeitgenössische Schrifttum. Vgl. ζ. B. bereits i n sehr allgemeiner F o r m van Bynkershoek 1930 lib. I I cap. 15 S. 290 ff.; Achenwall 1774 § 147; Heineccius 1758 lib. I I § 172; Pütter 1782 S. 119 u n d ausführlicher 1777 Bd. I S. 351 ff.; Frhr. von M a r t i n i 1791 § 184; de Vattel 1959 S. 156 f.; Haeberlin 1794 Bd. I S. 368; Leist 1805 § 102; von Berg 1802 S. 91. 17

Das Schloß nicht aus, daß man bald gewissen historisch überholten oder „reprobierten" Rechten, wie der Patrimonialjurisdiktion, gewissen Steuerexemtionen und anderen Privilegien den Schutz versagte, w e i l der Staat sie nicht den Einzelnen ungleichmäßig entzog, sondern sie an sich mißbilligte.

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regelmäßig, generell und nach einheitlichem Plan die notwendigen M i t t e l beschafft 18 . So ist das Entschädigungsrecht für den Staat ein Ausdruck der Exklusivität des Rechts der öffentlichen Abgaben: Außerhalb des Abgabenrechtes sind keine Gründe für staatliche Vermögensmehrung zugelassen. Alle Einnahmen und Ausgaben werden i n einem einheitlichen Haushaltsplan ausgewiesen und nach rationalen Grundsätzen gegeneinander abgewogen. Daß diese i n ihrer Abstraktheit überzeugende und einfache Lösung unseres Problems i m 19. Jahrhundert ziemlich rasch aufgegeben wurde, ohne daß bis heute ein gleichwertiger Ersatz gefunden werden konnte, überrascht zunächst, so wie auch das abrupte Ende des philosophischen Idealismus zur gleichen Zeit überrascht. Allgemeine Veränderungen des geistigen Klimas, der Vorlieben und Empfindlichkeiten, auf die w i r hier nicht näher eingehen können, werden diesen Umschlag bewirkt haben. Sie ließen die Mängel der allgemeinen Aufopferungsformel, namentlich ihre überzogene Abstraktion, spürbar werden. So suchen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft neue Wege, ohne indes die Aufopferungslehre zu widerlegen und endgültig zu überwinden. Diese A r t des Reagierens hat ihre eigenen Gründe sich nicht voll bewußt gemacht, vermutlich deshalb, weil es sich um eine Übergangszeit handelt, die noch zu viele Komponenten des Denkens der Aufklärung mit sich führt, vor allem die einfache Entgegensetzung von Staat und Bürger mit je eigenen Rechtssphären. Deshalb konnte es nicht zu einer konsequenten neuen A n t w o r t auf das Problem kommen. Diese Aufgabe ist erst unserer Zeit gestellt. Doch lassen sich die Schwächen der Aufopferungslehre bereits an der Reaktion des 19. Jahrhunderts ablesen. Sie liegen letztlich i n der Voraussetzung eines rechtlich ganz unbestimmten Staatshandelns und eines rechtlich genau definierten Bürgerrechtes verborgen, einer Voraussetzung, die i n ihrer merkwürdigen Asymetrie den Sonderopfergedanken trägt und, wie w i r i m nächsten Kapitel eingehend begründen werden, den Gleichheitsgedanken anwendbar erscheinen läßt. Zunächst fesselte jedoch nicht diese Eigenart der Beziehung, sondern die Rechtslage auf Seiten des Staates und die Rechtssituation des Bürgers nebeneinander die Aufmerksamkeit. Die inhaltliche Unbestimmtheit des ius eminens und eines allgemeinen Zweckprogramms, dem gegenüber man sich nur auf ein „dulde und liquidiere" zurückziehen 18 Die Vorstellung der Regelmäßigkeit auferlegter öffentlicher Abgaben (im Gegensatz zu außerordentlichen Bewilligungen für den Fall, daß das Staatsvermögen nicht reicht) setzt sich allerdings erst i m 19. Jahrhundert vollends durch. U n d erst damit w i r d das Abgabenrecht v o m Recht sonstiger Notstandsmaßnahmen getrennt. Vgl. dazu Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1964 S. 73 f.

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konnte, ist der Stein des Anstoßes. Dieses „traurige sogenannte Recht 1 9 " läßt sich jedoch, nachdem politische Veränderungen ein neues Vertrauen i n die Gesetzgbeung rechtfertigen, juristisch wieder einschnüren, indem man es auf die Exekutive begrenzt, es als ein Notstandsrecht ansieht und die Normalregelung von Eingriffen i n Privatrechte dem Gesetzgeber zuweist 2 0 . Daß dieses Recht der letzten Entscheidung damit seine juristische Traurigkeit nicht verlor, sondern nur i n andere Hände gegeben wurde, konnte der Frühliberalismus nicht sehen. Diese vorläufige Lösung bringt nun den Unterschied von rechtmäßigem und rechtswidrigem Handeln schärfer ins Bewußtsein. I m Zeitalter des Absolutismus, wo alle Entschädigungsforderungen einheitlich auf Verletzung von wohlerworbenen Rechten gestützt werden mußten und i n diesem Sinne stets als Rechtsverletzung aus höherem Recht gesehen wurden, hatte der Unterschied von rechtmäßigem und rechtswidrigem Staatshandeln keine Bedeutung erlangen können 2 1 . Es gab eigentlich nur das Sonderproblem der Haftung des Landesherrn für ungehorsame oder fahrlässig ausgleitende Staatsdiener 22 . Damals galt der Beamte nach herrschender Ansicht als Mandatar des Landesherrn, dessen Haftung damit auf Verschulden bei Auswahl und Beaufsichtigung beschränkt, also praktisch eliminiert wurde 2 3 . 19

So K l ü b e r 1831 § 552. Z u dieser Wiedereinführung der Unterscheidung von ius eminens und Gesetzgebung siehe Pfeiffer 1831 Bd. I I S. 290 f. Siehe auch bereits Frhr. von M a r t i n i 1768 Kap. I V u n d V u n d Gönner 1804 § 275. A n sich w a r diese U n t e r scheidung schon Grotius auf G r u n d älterer Tradition bekannt (vgl. 1720 lib. I I I cap. X I X § 7), w a r bei i h m jedoch m i t dem Begriff des dominium supereminens verbunden gewesen u n d m i t dessen K r i t i k i m Zuge der späteren Ausweitung zum allgemeinen Polizeirecht verloren gegangen, zumal das Gesetzgebungsrecht damals als Gesetzesänderungsrecht diskutiert wurde und insofern auf dieselbe Wurzel w i e das Polizeirecht, die potestas legibus soluta, zurückführte. Als Beispiel vgl. von Justi 1782 § 382 u n d 1760 §§ 271 ff. I m 19. Jahrhundert w i r d es dagegen zur Selbstverständlichkeit, daß ein iVotrecht niemals Maßnahmen der normalen Gesetzgebung rechtfertigen kann. Vgl. Zoepfl 1863 Bd. I I § 489 S. 697. A . M. Bischof 1860 S. 48 ff. Siehe ferner Stein 1868 Bd. 7 S. 342 ff. m i t einer guten Darstellung der Verlegenheit, i n die das alte ius eminens geriet, als das Enteignungsrecht i m 19. Jahrhundert gesetzlich geregelt wurde. Gesetzgebung w i r d n u n nicht mehr als ein Hoheitsrecht unter anderen, sondern als Staatsfunktion u n d damit als Ausfluß einer einheitlichen Staatsgewalt begriffen und i n dieser Eigenschaft m i t der Regelung von Eingriffen i n Rechte u n d Freiheiten des Bürgers betraut. Z u r E n t w i c k l u n g dieses Gedankens vgl. Böckenförde 1958. 21 Insofern ist die These, § 75 Einl. A L R sei unsprünglich auf rechtmäßiges Handeln beschränkt gewesen u n d erst durch die Rechtsprechung eigenmächtig erweitert worden — so z. B. K r e f t 1955 —, kein überzeugendes Argument. Vgl. auch Janssen 1961 S. 40 ff. 22 und i n dieser Begrenzung auch eine gewisse Rechtskontrolle des Staatshandelns durch Gerichte. Dazu Wolfgang Rüfner 1962 S. 51 ff. 23 Vgl. die zeitgenössische Darstellung bei M y l e r ab Ehrenbach 1678 c. X §20, 21, S. 525 ff. u n d bei S t r y k 1698 S. 27 ff. Gegen die Mandatstheorie erst20

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Die verfassungsmäßige Institutionalisierung der Gewaltenteilung erlaubt es dagegen, durch Gesetzgebung das Handeln der Exekutive verbindlich zu regeln. Die Möglichkeit der konditionalen Programmierung des Staatshandelns kommt — wenn auch natürlich nicht unter diesem Etikett — i n den Blick. Es werden „subjektive öffentliche Rechte" konzipiert als Ausdruck der Möglichkeit, konditionale Entscheidungsprogramme auslösen zu können. Als Adressat solcher Rechte w i r d der Staat zur „juristischen Person". Nun kann die Rechtmäßigkeit des Staatshandeln an den eigenen Entscheidungsprogrammen überprüft und unabhängig von den Eigenschaften des verletzten Einzelrechtes beurteilt werden. Das Enteignungsrecht w i r d gesetzlich geregelt, und zugleich w i r d deutlich, daß gesetzlich erlaubte Eingriffe (Enteignungen) und gesetzwidriges Handeln des Beamten zwei ganz verschiedene Tatbestände sind, die unter verschiedenen Voraussetzungen und mit verschiedenen Folgen behandelt werden müssen, eine Trennung, die sich über Art. 153 bzw. 131 WRV und A r t . 14 bzw. 34 GG bis i n unser Recht erhalten hat 2 4 . Das enteignende Handeln i m Rahmen von Zweckprogrammen und die Staatshaftung bei Verstoß gegen konditionale Programme werden als zwei ganz verschiedenartige Auslöser von Entschädigungsleistungen begriffen, die nichts miteinander zu tun haben: als selbständige juristische Tatbestände. Das Entschädigungsrecht w i r d nun von den Qualitäten des Eingriffs 2 5 und nicht mehr von den Qualitäten der betroffenen Einzelrechte her aufgebaut. Eben deshalb findet sich keine einheitliche juristische Formel mehr, welche den Aufopferungsgedanken ersetzen könnte. Die Rechtsschutzgarantien des Bürgers werden primär i n politischen Institutionen der Beteiligung an der Legislative und i n gerichtlichem Schutz vor rechtswidrigem Handeln, den i m ersten Kapitel erörterten beiden „Ventilen" gesucht, und nicht mehr i n seinem wohldefinierten guten Recht. Damit verliert auf Seiten des Bürgers die alte Voraussetzung wohldefinierter Rechte ihre tragende Bedeutung. Sie hat ihre Rechtsschutzmals Pfeiffer 1828 Bd. I I S. 361 ff. Rückblickend: Zachariä 1863 und Loening 1879 S. 41 ff. 24 Die Frage, ob u n d unter welchen Umständen der Staat für gesetzwidrige Handlungen seiner Beamten einzustehen habe, blieb i m ganzen 19. J a h r h u n dert umstritten u n d wurde erst zu Beginn dieses Jahrhunderts gesetzlich geklärt. Vgl. dazu die gegensätzlichen Stellungnahmen der i n der vorigen A n merkung zitierten Autoren, ferner die zeitgenössische Darstellung des Streitstandes von Piloty 1888 u n d rückblickend Scheuner 1955 b S. 337 f. m i t weiteren Nachweisen. 25 Daß dieses Umdenken bereits vor der förmlichen Einführung der Gewaltenteilung einsetzte, zeigt sehr typisch die Uminterpretation des § 75 Einl. A L R durch die berühmte preußische Kabinettsordre v o m 4. Dez. 1831 (GS S. 255), welche die Anwendung des Aufopferungsanspruchs auf die V e r w a l t u n g beschränkt. Vgl. auch § 37 der Hannoverschen Verfassung von 1833.

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funktion eingebüßt 26 . Und sie hat kaum noch praktische Bedeutung, weil nach dem Abbau aller Privilegien und Sondergerechtigkeiten als Zugriffsobjekt des Staates nur noch Grundeigentum, ein ohnehin klar tituliertes Recht, i n Frage kommt. Es beginnt ein Prozeß der begrifflichen Auflösung 2 7 , der, von der Rechtswissenschaft i m 19. Jahrhundert vorbereitet 28 , i n der Rechtsprechung des Reichsgerichts seinen Abschluß findet. Zuerst verschiebt sich die Problematik der wohlerworbenen Rechte durch die neue Frage des Bestandsschutzes gegenüber Gesetzen: A n die Stelle der Unterscheidung von wohlerworbenen Rechten und angeborenen Menschenrechten w i r d der Gegensatz von subjektiven Rechten und bloßen Rechtsreflexen, welche die jeweilige Gesetzeslage widerspiegeln, zum Angelpunkt der Diskussion 29 . Die wohlerworbenen Rechte büßen dadurch zunächst ihre Schutzwirkung gegenüber dem Gesetzgeber ein. Der Aufbau einer neuartigen Verwaltungsgerichtsbarkeit zwingt zur Generalisierung der Rechtsposition des Einzelnen als Klagegrundlage. I m Laufe der Zeit geht dabei auch jenes wichtige Merkmal des wohlerworbenen Rechtes, die spezielle Erwerbscausa, verloren, weil sie für die Frage der Schutzbedürftigkeit des Bürgers keine entscheidende Bedeutung mehr besitzt. I m Soge dieser Fragestellung verliert das subjektive Recht schließlich jede feste Kontur und w i r d so seinerseits zu einem traurigen, sogenannten Recht. Diese Entdifferenzierung und Generalisierung der rechtsschutzbedürftigen Position des Bürgers entspricht der Tatsache, daß als Schutzgrund letztlich nur noch der Geldwert von Gütern, nicht aber mehr ihre individuelle Eigenart, anerkannt wird. Eben deshalb sind alle anderen Dif28

Anschütz 1897 S. 55 f. Vgl. auch Fleiner 1925. Eine vorübergehende gegenläufige Bewegung der Einengung i n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte den Sinn, die Kontrolle der Justiz über das Staatshandeln einzuschränken. Dazu vgl. Rüfner 1963. M a n sah damals die wohlerworbenen Rechte als bestandskräftig gegenüber der V e r waltung, nicht aber gegenüber der Gesetzgebung an, eine Halbheit, die sich nach Durchsetzung des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der V e r w a l t u n g nicht mehr halten ließ. Vgl. die K r i t i k von Anschütz 1897 insb. S. 57 ff. D o r t h i n zurückzukehren, empfiehlt K r ü g e r (Kap. 3 A n m . 18) S. 72 ff. 28 Als wichtige Stationen vgl. Christiansen 1856; Lassalle 1861 u n d Meyer 1895. Siehe dazu auch Becker 1950 S. 13 ff., ferner für die Überzeugungskraft der Argumentation die Entscheidung des Reichsgerichts v o m 28. 6. 1898 RGZ 41 S. 191 ff. (193): „Der Anspruch (auf Entschädigung) beruht auf der zwangsweisen Aufopferung des Einzelrechts i m Interesse der öffentlichen Wohlfahrt, u n d es ist k e i n innerer G r u n d ersichtlich, weshalb n u r einzelne bestimmte Kategorien von Privatrechten die Grundlage eines Entschädigungsanspruchs bilden könnten." 29 Dieser Diskussion, welche die Situation des Spätliberalismus auf halbem Wege zum Rechtsstaat gut kennzeichnet, w i r d wiederum durch den konsequenten Ausbau des Rechtsstaates das Fundament entzogen, nämlich dadurch, daß A r t . 19 Abs. 4 GG jedem rechtlich geschützten Interesse Rechtsmacht und damit den Status eines subjektiven Rechts gewährt. Vgl. dazu Bachof 1955. Weitere Hinweise unten S. 79 A n m . 13. 27

3. Kap.: Geschichtliche Lösungsversuche

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ierenzierungen, ζ. B. die des Mittelalters nach Quellen der Rechtsbegründung (göttliches Recht, ewiges Recht, Naturrecht, positives Recht) für den Rechtsschutz heute rein zufällig und belanglos geworden. A u f einem anderen Nenner als dem Geldwert läßt sich sozialer Konsens über die Einschätzung von Gütern nicht erzielen, auf einem anderen Nenner läßt sich das Prinzip der Gleichbehandlung nicht verwirklichen. Daher droht die Gefahr, daß alle Rechtsschutzeinrichtungen durch Veränderungen des Geldwertes politisch unsichtbar unterlaufen werden können. Doch ist diese Möglichkeit i m liberalen Rechtsstaat noch unbekannt und bis heute kein tragendes Motiv der Rechtsentwicklung geworden 30 . Die Problemlösung des liberalen Rechtsstaates zeigt demnach die Tendenz zu einer genauen Umkehrung der absolutistischen Lösung: Während die Aufklärungszeit i n wohldefinierten Rechten eine Grenze des i m übrigen unbestimmt zugelassenen Staatseingriffs sah, w i r d der Rechtsschutz jetzt von einer genaueren Durchzeichnung des politisch beeinflußbaren Staatseingriffs erwartet, demgegenüber die Rechtslage des Bürgers hochgradig unbestimmt bleiben kann 3 1 . Immer noch beherrscht die Antinomie von Staat und Bürger die Problemstellung; nur daß sich die politische Macht verlagert zu haben scheint und daß damit sich ändert, was rechtlich unbestimmt bleiben kann. Die kritische Stelle der liberalen Konzeption ist ihr Gesetzesbegriff, mit dem sie das ius eminens getötet zu haben glaubte, dem aber nun seinerseits die Problematik der letztverbindlichen Entscheidung anhaftet. Und so w i r d die weitere Entwicklung durch das Schwinden des Vertrauens i n den Gesetzgeber ausgelöst. Das heißt vor allem: durch das Schwinden des Vertrauens i n die Rechtsschutzfunktion der Gesetzesform 32 . Die Gesetzesform garantiert nicht von selbst, daß individuelle Rechte geschont und alle Bürger gleich behandelt werden 3 3 . Wachsende Anforderungen an immer mehr, immer 30 Vgl. jedoch den Vorschlag von Hans-Joachim A r n d t , P o l i t i k und Sachverstand i m Kreditwährungswesen, B e r l i n 1963 S. 195 ff., Geld als „ K o l l e k tives Grundrecht" zu betrachten. 31 D a m i t vollzieht sich zugleich der Übergang v o m Vernunftrecht zum Rechtspositivismus. Besonders deutlich läßt sich dieser Zusammenhang erkennen, wenn man den triumphierenden Sieg des jungen Anschütz 1897 über das Naturrecht verfolgt. 32 Siehe ζ. B. Gerhard Leibholz, Die Bedrohung der Freiheit durch die Macht des Gesetzgebers, Universitas 14 (1959) S. 459—470. 33 Ob das liberale Staatdenken h i e r w i r k l i c h dem Trugschluß zum Opfer gefallen war, daß die Allgemeinheit der Gesetzesformulierung stets Gleichheit der Behandlung bedeute, w i e heute gern gerügt w i r d , ist m i r zweifelhaft. Siehe ζ. B. Pfeiffer 1831 Bd. I I I S. 282 ff. Es w a r w o h l mehr ein Vertrauen i n den politischen Prozeß der Gesetzgebung, das es erlaubte, ungleiche A u s w i r k u n g e n als nichtgewollt u n d zufällig zu behandeln. U n d gegenüber Z u fallsschäden, die den Einzelnen unbeabsichtigt treffen, w a r das 19. J a h r h u n dert bei weitem nicht so empfindlich wie man es heute ist. Siehe dazu Josef

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I. Teil: Grundlagen

dichter gewebte und immer wieder zu ändernde gesetzliche Regelungen, kurz: die Umformung der Gesetzgebung zum Planungsinstrument, lassen dieses Problem unabweisbar werden. Also muß der Gesetzgeber durch die Verfassung unter den Gleichheitssatz gebeugt und durch Gerichte daraufhin kontrolliert werden. Das geschieht nicht nur durch die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz, wie sie zu A r t . 109 WRV von der Wissenschaft gefordert und heute nach A r t . 1 Abs. 3, 3. Abs. 1 GG geltendes Recht ist. Daneben t r i t t eine auf den ersten Blick harmlose, für das Entschädigungsrecht i n der Tat aber revolutionierende Rechtsprechung: Die Interpretation der Enteignungsentschädigung als Aufopferungsanspruch und damit als Entschädigung für Ungleichbehandlung 34 . Als juristische Theorie hat die Sonderopferlehre ihre Verdienste, besonders das eine: nicht neu zu sein. Ihre Argumentation kann sich auf Traditionen und auf justizielle Erfahrungen stützen. Andererseits verdeckt diese traditionelle Legitimation des Arguments weitreichende Veränderungen seines Gebrauchs. Der Motor der neueren Rechtsprechung, der gegenüber die vieldiskutierte Auflösung des „klassischen" Enteignungsbegriffs zur Weimarer Zeit nur mehr als ein Vorspiel erscheint, ist die expansive K r a f t des Gleichheitsarguments, das, ohne feste Bindung an eine vorgegebene Ordnung gebraucht, jede Struktur einzuebnen tendiert 3 5 . Sie führt zum Abbau aller aus dem 19. Jahrhundert überlieferten Anspruchskriterien außer dem des Sonderopfers; und wo diese Konsequenz noch nicht gezogen ist, handelt es sich um Bastionen aus Vorsicht, die der Logik des Arguments zuwider errichtet sind. A m deutlichsten und ausdrücklich formuliert ist der Verzicht auf die Eingriffskoordinaten Rechtmäßigkeit und Verschulden. Für den Entschädigungsanspruch ist es heute unerheblich, ob der Schaden durch rechtmäßiges, schuldlos-rechtswidriges oder schuldhaft-rechtswidriges Handeln verursacht worden ist 3 6 . Denn, so lautet das tragende Argument, Esser, Grundlagen und E n t w i c k l u n g der Gefährdungshaftung, München— B e r l i n 1941 S. 50 ff. I m übrigen ist die These, daß bei allgemeinen Gesetzen der Eingriff keiner besonderen Begründung und keiner Entschädigung bedürfe, kein Spezifikum des liberalen Staatsdenkens, sondern eine m i t t e l alterliche Doktrin. Vgl. die Hinweise bei Gierke 1958 S. 270 u n d bei Anschütz 1897 S. 40 f. 34 So die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs v o m 12. 6. 1952 B G H Z 6 S. 270 ff. 35 G r u n d für diese oft bemerkte radikalisierende Tendenz des Gleichheitssatzes ist seine Abstraktheit (und nicht etwa: ein Wert Vorurteil). Vgl. dazu Gerhard Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl. München—Berlin 1959 S. 25 m i t weiteren Hinweisen. 36 Vgl. die schon erwähnte Entscheidung B G H Z 6 S. 270 ff. u n d O r t h 1961 S. 34 ff. als typische Beispiele f ü r diese Argumentation; ferner die Entschei-

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3. Kap. : Geschichtliche Lösungsversuche

w e n n d e r Betroffene schon b e i r e c h t m ä ß i g e r U n g l e i c h b e h a n d l u n g e n t schädigt w e r d e , so müsse dies schuldhafter

erst recht b e i r e c h t s w i d r i g e r oder g a r

Ungleichbehandlung

geschehen.

sprechung als „ e n t e i g n u n g s g l e i c h " . Wenn als Entschädigunsgrund

ankommt,

Sie

es auf

gilt

der

Rechts-

Ungleichbehandlung

s i n d diese E i n g r i f f s q u a l i t ä t e n i n d e r

T a t i r r e l e v a n t u n d k ö n n e n d u r c h e i n „ e r s t recht " - A r g u m e n t ausgelöscht werden87. M a n mochte d i e R ü c k w i r k u n g e n i n d e m a u f d e n b e i d e n S ä u l e n d e r E n t e i g n u n g u n d d e r A m t s h a f t u n g r u h e n d e n Gesamtgebäude zunächst b a g a t e l l i s i e r e n ; b l i e b doch n e b e n e i n i g e n w e n i g e r w i c h t i g e n M o d a l i t ä t e n e i n U n t e r s c h i e d i m U m f a n g des A n s p r u c h s bestehen: A l s E n t eignungsausgleich k a n n „ n u r " E n t s c h ä d i g u n g v e r l a n g t w e r d e n ; b e i A m t s h a f t u n g g i b t es Schadensersatz. D o c h auch diesen U n t e r s c h i e d b e g i n n t d i e Rechtsprechung n i e d e r z u f e i l e n 3 8 . W e n n n ä m l i c h der S i n n d e r E n t s c h ä d i g u n g i m A u s g l e i c h einer Ungleichbehandlung liegt 39, k a n n d e r A u s g l e i c h n u r i n d e r E n t s c h ä d i g u n g f ü r a l l e F o l g e n des E i n g r i f f s bestehen, w e i l n u r d a d u r c h d i e G l e i c h h e i t w i e d e r h e r g e s t e l l t w i r d , u n d das h e i ß t p r a k t i s c h : i m Schadensersatz. So w i r d , w e n n m a n v o n e i n i g e n P a u s c h a l i e r u n g s r e g e l n 4 0 absieht, d i e d e m U m s t a n d R e c h n u n g t r a g e n ,

dung v o m 16. 10. 1952 B G H Z 7 S. 296 ff., die auch das Verschuldensmoment neutralisiert. Seitdem ständige Rechtsprechung. I m Schrifttum ist vor allem die Aufgabe des Merkmals der Schuldlosigkeit k r i t i s i e r t worden, w e i l dadurch die Grenzen zum Amtshaftungsanspruch verwischt werden. Vgl. ζ. B. K r e f t 1955; Stödter 1953 S. 141; Scheuner 1955 a S. 547; D ü r i g 1955; Forsthoff 1961 S. 309 ff.; Maunz 1963 S. 149. Aber man wagt doch nicht recht zu behaupten, daß die positivrechtliche Regelung der Amtshaftung i n § 839 B G B u n d A r t . 34 GG diese Erweiterung des Enteignungsrechts verbiete, u n d scheint heute angesichts der „Ständigkeit" der Rechtsprechung mehr u n d mehr zu resignieren. 37 Wenn sich allerdings die i n der Entscheidung des Bundesgerichtshofs v o m 25. 4. 1960 B G H Z 32 S. 208 ff. angedeutete Auffassung durchsetzen sollte, daß jede Rechtswidrigkeit eo ipso ein Sonderopfer auferlege, würde die Unterscheidung von rechtmäßigem u n d rechtswidrigem Handeln damit eine neue Bedeutung gewinnen: Der Nachweis der Rechtswidrigkeit könnte dann den Nachweis eines Sonderopfers ersparen. 38 Vgl. dazu K n o l l 1956 S. 168; M a u r y 1958; Schack 1959; Jaenicke 1963 S. 145. Vgl. auch die Rechtsprechungsübersicht bei Kröner 1961 S. 63 ff., die allerdings, wie die Rechtsprechung selbst, davon ausgeht, daß es trotz aller Überschneidungen w e i t e r h i n Sinn hat, an der Unterscheidung von Entschädigung und Schadensersatz festzuhalten. I m übrigen ist i n der K o m m e n t a r l i t e r a t u r zu § 70 P V G schon i m m e r die Auffassung vertreten worden, daß die polizeirechtliche Variante des Aufopferungsanspruchs auf Schadensersatz und nicht auf Entschädigung laute. Vgl. die Nachweise bei Schack 1956 S. 670 m i t H i n weis auf gegenläufige neuere Tendenzen. 39 Der Bundesgerichtshof versteht i n ständiger Rechtsprechung die E n t eignungsentschädigung als Ausgleich einer Ungleichheit. Vgl. ζ. B. die Ent— Scheidung v o m 8. 11. 1962, N J W 16 (1963) S. 1492 ff. Siehe dazu auch D ü r i g 1954 S. 5 f. 40 Z u m Beispiel die: daß entgangener Gewinn, den man m i t einem Gegen4

Speyer 24

I. Teil: Grundlagen

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daß die Entschädigung i m voraus berechnet und ausgezahlt werden soll und ihr daher nicht eine detaillierte Aufstellung des wirklichen Schadens zugrunde gelegt werden kann, heute i m Ergebnis auch bei der Enteignung oder enteignungsgleichen Eingriff Schadensersatz gewährt. Die Vorschrift des A r t . 14 Abs. 3 Satz 3 GG, daß die Höhe der Entschädigung durch eine Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu ermitteln sei, w i r d als Fehlgriff des Parlamentarischen Rates wie nicht geschrieben behandelt 41 . M i t der Unterscheidung von rechtmäßigem und rechtswidrigem Handeln fällt notwendig ein weiteres Tatbestandsmerkmal: daß der die Entschädigung auslösende Eingriff dem Gemeinwohl dienen müsse — jene alte Bedingung der Rationalität absoluter Herrschaft und später der liberalen, von bürgerlichem Knappheitsbewußtsein getragenen Sparsamkeit. Als Beleg für die Aufgabe dieses Kriteriums genügt ein Zitat aus der Entscheidung des Bundesgerichtshof es vom 12. A p r i l 1954 42 : „Ob das dem Einzelnen auferlegte Sonderopfer tatsächlich dem Wohle der Allgemeinheit gilt, was bei rechtswidrigen Eingriffen zweifelhaft sein kann, ist für die Opferlage des Betroffenen, die nach rechtsstaatlichen (sie!) Grundsätzen allein für den Entschädigungsanspruch maßgebend sein kann, unerheblich." Schließlich läßt sich, wenn man konsequent auf das Gleichbehandlungsinteresse des Betroffenen abstellt, auch das Eingriffskriterium nicht mehr beibehalten. Die Rechtsprechung zögert verständlicherweise noch, auch diesem Merkmal endgültig den Laufpaß zu geben und verwickelt sich dadurch i n mancherlei Widersprüche 43 . Schon w i r d jedoch für nichtgewollte Auswirkungen von Eingriffen, für unmittelbare Auswirkungen des Eingriffs auf Redite dritter Personen, gegen die der Eingriff nicht gezielt war, ja sogar für Schäden, die nur mittelbar durch Hoheitshandeln verursacht worden sind (zum Beispiel dadurch, daß einem Bürger ausnahmsweise erlaubt wird, etwas zu tun, was andere ungestand hätte erzielen können, normalerweise durch dessen Verkaufswert abgegolten w i r d . 41 Siehe dazu Weber 1954 S. 389; Scheuner 1954 a S. 128 ff.; Diester 1953 insb. S. 180 ff.; a. M. K n o l l 1956 S. 345 ff. u n d von T u r e g g / K r a u s 1962 S. 205. D a r i n liegt an sich eine gesunde, dem Rechtsstaat angepaßte E n t w i c k l u n g von der billigerweise i n Würdigung des Einzelfalles zugesprochenen Entschädigung weg zum juristisch durchgeformten, genau berechenbaren, i n der Höhe begründungsfähigen Schadensersatz, angetrieben durch die Schwierigkeit, eine Entschädigung bei der Urteilsformulierung anders als m i t Schadensberechnungen zu begründen, ein deutlicher F a l l der allgemeinen Tendenz zur prägnanteren Form. 42 43

B G H Z 13 S. 88 ff. (92 f.).

Vgl. dazu Schack 1960; ders. 1961; W i l k e 1960 S. 77 ff., 92 ff.; Lerche 1961 a S. 239 f. u n d ders. 1961 b insb. S. 490; Weimar 1963; M o n d r y 1964 S. 7 ff.

3. Kap. : Geschichtliche Lösungsversuche

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wollt schädigt) 44 , Entschädigung gezahlt. Es ist dann kaum noch sinnvoll, i m Eingriffskriterium mehr zu sehen als die Voraussetzung absichtlichen Hoheitshandelns schlechthin. Vom Standpunkt des sonderbelasteten Bürgers aus kann es keinen Unterschied machen, auf welche Weise er zu seinem Schaden gekommen ist 4 5 . Damit fällt zuletzt auch die Möglichkeit, zwischen staatlichem Handeln und Unterlassen zu differenzieren. Diese beunruhigende — oder befreiende? — Rechtsentwicklung zu einem einzigen Anspruch h i n — „einer für alle, alle für einen" — wie D ü r i g 4 6 das nannte — hat zur Auflösung aller i m 19. Jahrhundert gewonnenen Tatbestandsfestigkeit geführt. Sie bringt uns vor die Grundfrage, die dem Gesetzgeber heute gestellt ist: Kann er sich mit einer Kodifikation des Prinzips dieser Rechtsprechung, des Sonderopfergedankens, begnügen, oder ist i h m i m Gegenteil die Aufgabe gestellt, eine Fehlentwicklung zu korrigieren? Eignet sich der Gleichheitssatz zur Klärung des Entschädigungsrechts, oder ist er vielleicht dunkler als das Entschädigungsrecht selbst? Liegt i n der geschilderten Entdifferenzierung aller Einzeltatbestände eine glückliche Generalisierung, ein Fortschritt zu einem einheitlichen, systematisch tragfähigen Grundgedanken, oder handelt es sich lediglich u m eine geschichtlich deplacierte Wiederbelebung des Leitgedankens der Aufklärungszeit, der i n die rechtsstaatliche Gesamtordnung nicht hineinpaßt und darum alle Anspruchsstrukturen zerstört? Korrespondiert die allgemeine Sonderopferregel und die durch sie getragene Ausweitung des Entschädigungsgedankens sinnvoll m i t dem wachsenden Staatsdruck, der zunehmenden Abhängigkeit des Bürgers, handelt es sich um einen komplementären Vorgang, wie mancher Kommentar zur Enteignungsrechtsprechung der Weimarer Zeit meinte? Oder müssen ganz andersartige, sehr viel komplizierter angelegte Ausgleichsmechanismen ersonnen werden, damit sich ein Höchstmaß an Entspannung trotz starker Verflechtung widerspruchsvoller Interessen i n der Gesamtordnung erreichen läßt? Um einen Standpunkt zu gewinnen, von dem aus diese Fragen beantwortet werden können, müssen w i r zunächst den Gleichheitssatz analysieren und sodann i m übernächsten Kapitel auf die oben skizzierte funktionale Theorie der Entschädigung zurückgreifen und die Rechtsentwicklung mit deren komplizierter Problemsicht konfrontieren.

44 Siehe die Entscheidung des Bundesgerichtshofes v o m 28.1. 1957, B G H Z 23 S. 157 ff. = M D R 11 (1957) S. 670 ff. m i t A n m . Bettermann. Dazu auch Thomä / Wolter 1958. 45 So argumentiert auch O r t h 1961 S. 78 ff. 46 D ü r i g 1955 S. 524 u n d vor i h m schon allen Ernstes Giese 1936 S. 30.

4*

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I. Teil: Grundlagen

4. Kapitel

Der Gleichheitsgedanke Wenn jemand irrtümlich durch einen Polizeibeamten erschossen wird, widerfährt i h m eine ungleiche Belastung i m Verhältnis zu anderen Mitmenschen, die lebend davonkommen. Unterhaltsberechtigte haben analog § 844 Abs. 2 BGB einen Anspruch auf Entschädigung 1 . Wenn jemand i m Gefängnis durch einen Mithäftling getötet wird, aktualisiert sich jedoch nur eine Gefahr, die alle Mithäftlinge gleichermaßen trifft, und es gibt keine Entschädigung 2 . Gesundheitsschäden nach Impfung werden heute 3 als Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes angesehen, nicht dagegen Gesundheitsschäden infolge Ansteckung i n der Schule oder infolge einer Blutgruppenuntersuchung nach § 372a ZPO 4 , wohl aber Gesundheitsschäden infolge von Unfällen auf Schulausflügen 5 , nicht dagegen bei Veranlassung durch Wehrdienst 6 . Wenn der Kundenstrom für einen Laden durch ein Straßengitter behindert wird, erlegt das dem Ladeninhaber keine Sonderopfer auf 7 . Das kann jedem passieren. Wenn aber vor einer Wirtschaft auf der Straße eine Baracke errichtet wird, welche den Blick auf die Stätte der Erholung versperrt, darf der W i r t seinen Schaden liquidieren 8 . Das Leerstehenlassen einer beschlagnahmten Wohnung zwingt die Behörde zur Entschädigung für den Mietausfall 9 , das Einweisen eines zahlungsunfähigen Mieters dagegen nicht, weil diese Gefahr alle Hauseigentümer gleichermaßen trifft 1 0 . 1 So die Entscheidung des Bundesgerichtshofes v o m 16. 2. 1956, B G H Z 20 S. 81 ff. 2 So die Entscheidung des Bundesgerichtshofes v o m 2. 5. 1955, B G H Z 17 S. 172 ff. 3 Seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofes v o m 19. 2. 1953, B G H Z 9 S. 83 ff. 4 Vgl. die Entscheidung B G H Z 9 S. 83 ff. (92). 5 Vgl. die Entscheidung des Bundesgerichtshofes v o m 3. 11. 1958, B G H Z 28 S. 297 ff. 6 So die Entscheidung des Bundesgerichtshofes v o m 13. 2. 1956, B G H Z 20 S. 64 ff. 7 Siehe die Entscheidung des Bundesgerichtshofes v o m 22. 12. 1952, B G H Z 8 S. 273 ff. 8 So die Entscheidung des Bundesgerichtshofes v o m 28. 1. 1957, B G H Z 23 S. 157 ff.; dazu auch T h o m ä / Wolter 1958. 9 Vgl. ζ. B. die Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg v o m 30. 3. 1950, M D R 4 (1950) S. 495. 10 So die Entscheidung des Bundesgerichtshofes v o m 11. 2. 1954, B G H Z 12 S. 273 ff.; siehe dazu auch Ehlermann 1957 S. 130 ff.

4. Kap.: Der Gleichheitsgedanke

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Rechtsanwendungsfehler durch die Verwaltung können für den Betroffenen ein Sonderopfer bedeuten, Rechtsanwendungsfehler durch Gerichte dagegen nicht, weil diesem Risiko alle Staatsbürger i n gleicher Weise ausgesetzt sind 1 1 . I n der Ungleichbehandlung soll das Wesen der entschädigungspflichtigen Enteignung liegen 12 . Aber auch die nicht-entschädigungspflichtige Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums kann zur Ungleichbehandlung führen 1 3 . Diese Beispiele aus der neueren Rechtsprechung könnten dazu verleiten, die Entscheidungspraxis als widerspruchsvoll zu kritisieren. Damit würde man das Problem jedoch verfehlen. Es kann nämlich sein, daß jede einzelne Entscheidung durch sehr gute Gründe getragen wird, die sich — als besondere Gründe — keineswegs widersprechen. Nur ist ganz offensichtlich, daß diese Gründe in der Gleich/Ungleich-Argumentation nicht eingefangen sind. Die Entscheidungen verschweigen, soweit sie sich nur auf diese Argumentation stützen, ihre wahren Gründe. Das hängt mit der Logik des Gleichheitsbegriffs zusammen und bedarf näherer Darlegung. Gewisse Schwierigkeiten des Gleichheitsbegriffes waren bereits antiken Denkern bei ihren Bemühungen u m den Seinsgehalt des Gleichen bewußt geworden. Daß die Feststellung von Gleichheiten einen übergeordneten Gesichtspunkt voraussetzt, eine Idee, unter welche das Verglichene gestellt wird, spricht Piaton 1 4 verschiedentlich aus. Dennoch scheint man nicht daran gezweifelt zu haben (es sei denn: i m Rahmen des allgemeinen Durchspielens skeptischer Grundeinstellungen), daß wahre Feststellungen über gleich und ungleich an Dingen, Sachverhalten und Begriffen möglich sind. Nur deshalb konnten Aussagen über Gleichheit und Ungleichheit auch i n das Rechtsdenken übernommen und als Anknüpfungspunkte für rechtliche Beurteilungen vorgeschlagen werden, ohne die Grundkonzeption des Rechts als Naturrecht: daß nämlich das Rechte ein wahres Seiendes sei, zu sprengen. Nur deshalb konnten antike Denker jenen kühnen Schritt wagen, der die Rationalisierung des Rechts einleitete und noch heute unser Rechtsbewußtsein bestimmt: das Umdenken der Gleichheit der Norm i n die Norm der Gleichheit. 11 Vgl. die Entscheidung des Bundesgerichtshofes v o m 19. 2. 1962, B G H Z 36 S. 379 ff. (393 f.). 12 So namentlich B G H Z 6 S. 270 ff. 18 So die Entscheidung des Bundesgerichtshofes v o m 20. 12. 1956, B G H Z 23 S. 30 ff. (33 f.); vgl. ferner Kröner 1961 S. 48, 53 m i t weiteren Hinweisen. 14 Vgl. Phaidon 74 A ff. u n d Parmenides 132 D ff.

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I. Teil: Grundlagen

Die differenzierenden Kriterien, unter denen Aristoteles 1 5 zu ermitteln sucht, ob und wann Gleiches gleich bzw. Ungleiches ungleich zu behandeln sei, die berühmte Unterscheidung zweier Arten der Gerechtigkeit, gehen ebenfalls davon aus, daß die richtigen Gesichtspunkte der Feststellung von Gleichheiten oder Ungleichheiten m i t den überall sonst angewandten Methoden der Wahrheitsforschung an den Tag gebracht werden können. Es handelt sich u m Gesichtspunkte des die Wahrheit offenbarenden Logos — und nicht um Funktionsbedingungen der selbstbewußten subjektiven Vernunft des Menschen. I n jenem und nur in jenem Sinne sollte man von Naturrecht sprechen. Ganz anderen Sinn hat es, wenn heute die scheinbar „gleiche" These als unausweichlich gilt; daß alle Feststellung von Gleichheiten oder Ungleichheiten feststehende (identisch gehaltene) Vergleichsgesichtspunkte voraussetze 16 . Damit ist jetzt gesagt, daß sich das Gleichsein lediglich aus den subjektiven Bedingungen des Vergleichens ergibt und so i n den Gestaltungsbereich menschlichen Bewußtseins, wenn nicht menschlicher Freiheit, einrückt, für dessen Ausfüllung w i r keine festen, allseits anerkannten Wahrheitskriterien mehr besitzen. Die Aussage, daß etwas gleich oder ungleich sei, ist für sich genommen nun nicht nur unvollständig, w e i l sie erst durch Angabe der Hinsicht des Vergleichs verständlich wird. Es müssen darüber hinaus noch Gründe produziert werden, welche diese Hinsicht i n bestimmten Zusammenhängen als relevant oder sogar als allein relevant ausweisen. Gründe können nur i m legitimierenden Zusammenhang einer wissenschaftlichen Theorie wahrheitsfähig werden. So ist es physikalisch wahr, daß das Flackern der Lampe und das Knacken i m Radio die „gleiche" Ursache i n einer elektrischen Störung haben und daß zehn Fußgänger einem Automobil gleichen, wenn es u m die Konstruktion einer Brücke geht. Aber w i r haben keine Theorie des Rechts, die i n ähnlicher Weise Gründe der Gleichheit des Verschiedenen zur Gewißheit aller zu beweisen vermöchte. Das Rechtsdenken ist durch die Subjektivierung der Gleichheit an der Wurzel getroffen und von den Quellen möglicher 15 Vgl. N i k . E t h i k Buch V ; P o l i t i k Buch I I I , K a p i t e l 12; vgl. auch Piaton, Gesetze V I , 757. 16 Vgl. z. B. E d m u n d Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I I 1. Teil, 3. Aufl. Halle 1922 S. 112 f.; Ernst Cassirer, Substanz u n d Funktion, 2. A u f l . B e r l i n 1923 S. 33; W i l l i a m Stern, Person u n d Sache. System des kritischen Personalismus, Bd. I 2. Aufl. Leipzig 1923 S. 349 f. Zahlreiche weitere Hinweise bei Rolf W. Göldel, Die Lehre von der Identität i n der deutschen L o g i k - W i s senschaft seit Lotze, Leipzig 1935 passim. Neuerdings vgl. etwa Georg Pichts Analyse des Satzes der Identität, i n : Clemens M ü n s t e r / G e o r g Picht, N a t u r wissenschaft u n d Bildung, Würzburg 1957. Unter denen, die diese Problemat i k i n die Rechtsphilosophie übertragen haben, ist vor allem Hans Nef, Gleichheit u n d Gerechtigkeit, Zürich 1941, zu nennen. Siehe ferner K a r l Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. A u f l . Heidelberg 1963 S. 22 ff.

4. Kap.: Der Gleichheitsgedanke

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Wahrheit i m Sinne der neuzeitlichen Wissenschaft abgeschnitten worden. Und doch ist die Gleichheit formeller Faktor allen Rechts 17 geblieben. Wie haben w i r dies zu verstehen? I m Gleichheitspostulat meldet sich ein Bedarf an Gründen für alle Rechtsbehauptung, ein Bedarf, der, wie der allgemeine Satz vom Grunde, letztlich der Trennung von Sein und Denken entspringt 1 8 . U n d zugleich enthält die spezifisch neuzeitliche Formel der „Gleichheit vor dem Gesetz" einen Hinweis darauf, was solche Gründe leisten sollen (nicht jedoch darauf, was sie sind und wie sie begründen können!). Die Formel gebietet, von der Gleichheit aller Menschen auszugehen und daher: jede Ungleichheit zu begründen. Der Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz erspart die Begründung der Gleichheit aller Menschen und gibt dadurch der Frage nach Gründen i m Recht eine bestimmte Richtung: Nur die Ungleichbehandlung bedarf der Begründung. Dadurch w i r d für die Suche nach Gründen ein Anlehnungspunkt geschaffen, ähnlich wie das Trägheitsprinzip i n der Physik dazu dient, das Erfordernis einer Ursache für jede Veränderung (nicht aber für das Gleichbleiben) zu postulieren. Gerade w e i l der Gleichheitssatz als Leerformel 1 9 nichts darüber aussagt, was als gleich oder ungleich anzusehen ist, kann er die spezifische Funktion übernehmen, die Begründung jeder Ungleichheit zu verlangen: Es gibt dann keine Ungleichheit, die sich aus der Natur der Sache von selbst verstände. Diese Regel, die jedes Einführen von Ungleichheiten, das heißt: jedes Ausschneiden engerer Gruppen zur Sonderbehandlung, als begründungsbedürftig erschwert, korrespondiert m i t dem aktiven Gleichheitsprinzip: der gleichen Beteiligung aller Bürger am Prozeß der politischen Entscheidung. Der Gedanke ist: daß jede Ungleichbehandlung mit ihren Gründen expliziert und i m Gesetzgebungsvorgang politisch ausgewiesen werden muß, daß also auf der Basis allgemeiner Gleichheit über Ungleichheiten ausdrücklich entschieden wird. Hiermit ist nicht gesagt, daß Gleichheit die Regel und Ungleichheit die Ausnahme (und nur deshalb begründungsbedürftig) sei 20 . Der 17 Eine Formulierung von Paul Achatius Pfizer, Gedanken über Recht, Staat und Kirche, Stuttgart 1842 Bd. I S. 57 f., auf die ich durch Stödter 1933 S. 83 aufmerksam wurde. 18 Als Versuch, die Denkvoraussetzungen der Suche nach zureichenden Gründen zum Thema des Denkens zu machen, siehe M a r t i n Heidegger, Der Satz v o m Grund, Pfullingen 1957. 19 I m Sinne von Ernst Topitsch, Über Leerformeln, i n : Probleme der W i s senschaftstheorie: Festschrift für Victor K r a f t , Wien 1960 S. 233—264. D o r t Näheres über die metaphysische H e r k u n f t u n d Dekomposition solcher F o r meln, aber leider nicht genug über ihre positive Funktion. 20 Diese Vorstellung älterer schweizerischer Autoren — vgl. Eugen Curti, Das Princip der Gleichheit vor dem Gesetze (Art. 4 der Schweizerischen B u n -

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I. Teil: Grundlagen

Gleichheitssatz i m p l i z i e r t k e i n e H ä u f i g k e i t s v e r t e i l u n g ; er m e i n t n i c h t , daß G l e i c h h e i t h ä u f i g e r sei als U n g l e i c h h e i t . E r e n t h ä l t ü b e r h a u p t k e i n empirisches U r t e i l . U n d er e n t h ä l t auch k e i n e V o r z u g s r e g e l i n d e m Sinne, daß G l e i c h h e i t i m Z w e i f e l besser sei als U n g l e i c h h e i t 2 1 . E r postuliert lediglich den Grenzfall absoluter Gleichheit, u m die Forder u n g der S p e z i f i k a t i o n v o n R e c h t s g r ü n d e n dagegen i n s R e l i e f z u setzen 2 2 . W a s g e w o n n e n ist, w e n n m a n d e n Gleichheitssatz als B e g r ü n d u n g s b e d ü r f t i g k e i t d e r U n g l e i c h h e i t v e r s t e h t , l ä ß t sich v o l l erst ermessen, w e n n m a n sich ü b e r l e g t , daß sonst das H a n d e l n n u r d u r c h Zwecke, das heißt: durch zu b e w i r k e n d e W i r k u n g e n begründet w i r d , die wegen i h r e s W e r t e s geschätzt w e r d e n . Z w e c k e s i n d aber, w i e w i r oben anged e u t e t haben, stets s y s t e m r e l a t i v z u v e r s t e h e n 2 3 . D i e zusätzliche B e g r ü n d u n g s n o t w e n d i g k e i t , d i e d e r Gleichheitssatz als R e c h t s p r i n z i p d e m H a n d e l n d e n a u f e r l e g t , s t e l l t i h n i m Interesse e i n e r ü b e r g r e i f e n d e n O r d n u n g u n t e r a l l g e m e i n e r e Rücksichten. E r k a n n sich n i c h t d a m i t b e g n ü gen, e i n e n W e r t zu finden, a n d e n er d i e a n g e s t r e b t e n F o l g e n seines desverfassung), St. Gallen 1888, u n d A l f r e d Silbernagel, Die Gleichheit vor dem Gesetz u n d die bundesrechtliche Praxis, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 43 (1902) S. 85—146 — hat berechtigte K r i t i k gefunden, ζ. B. von H e i n rich Aldag, Die Gleichheit vor dem Gesetz i n der Reichsverfassung, B e r l i n 1925 S. 24 f oder von Leibholz (Kap. 3 A n m . 35) S. 42 ff. Das Regel/AusnahmeSchema birgt nämlich die Gefahr i n sich, daß man die zulässigen Gründe der Ungleichbehandlung zu eng definiert. Andererseits w i r d der wertvolle K e r n jener älteren Theorie, daß nicht die Gleichbehandlung, sondern n u r die U n gleichbehandlung einer Begründung bedarf, von ihren K r i t i k e r n leider verkannt. 21 Z u dieser Annahme müßte allerdings die verbreitete Auffassung gelangen, daß Grundrechte „Werte" seien. N i m m t man das an, dann setzt man sich dadurch außerstande, jene wichtige Unterscheidung von Gleichheit und G r ü n den für Gleichsetzung zu vollziehen. Denn Werte sind unbegründbare Gründe des Handelns. M a n würde damit i n eklatanten Widerspruch treten zu dem, was das abendländische Denken über den Gleichheitsbegriff ermittelt hat, und sollte seine Methode besser nicht als „geisteswissenschaftlich" bezeichnen. Der typische Ausweg ist: den Wertaspekt heimlich aus dem Grundrecht der Gleichheit weg i n eine vorausgesetzte Rechtsmoral zu verlagern, ohne darüber Aufschluß zu geben, weshalb die Werte dieser Rechtsmoral sich gerade in Urteilen über Gleich u n d Ungleich auszudrücken haben. Vgl. ζ. B. Reinhold Zippelius, Wertungsprobleme i m System der Grundrechte, München—Berlin 1962, insb. S. 30 ff. " Nahestehend, aber nicht weiter ausgearbeitet, ist die Auffassung von Talcott Parsons, On the Concept of Political Power (Kap. 1 A n m . 11) S. 247, daß der Gleichheitssatz eine Regel der Beweislastverteilung zum Nachteil der Ungleichheit enthalte i n dem Sinne, daß f ü r Ungleichbehandlung spezifische u n d universell anwendbare Gründe angegeben werden müssen. 28 Das gilt, i n gewissem Sinne, natürlich auch f ü r die Gleichsetzungsperspektiven. Siehe dazu A l f r e d Schutz, Equality and the Meaning Structure of the Social World, i n : L y m a n Bryson u. a. (Hrsg.), Aspects of H u m a n Equality, 15th Symposium of the Conference on Science, Philosophy and Religion, New Y o r k 1956 S. 33—78. Aber, u n d das ist das Entscheidende, die Gleichheitsperspektiven sind i n anderem Sinne generalisiert als die Zweckperspektiven und reichen dadurch über den Horizont der unmittelbaren Aktionsplanung hinaus.

4. Kap.: Der Gleichheitsgedanke

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Handelns anknüpfen kann; er muß außerdem die Ungleichheiten, die sein Handeln unter Menschen voraussetzt oder i n sie hineinträgt, eigens rechtfertigen. Er muß sich um Rechtfertigungsvorstellungen kümmern, die gleichsam quer zu seiner Handlungsintention liegen und andere Fälle betreffen, mit denen sein Handeln konsistent bleiben soll. Das Gleichheitsprinzip dient so als Korrektiv des technischen Kausalprinzips i m Sinne einer übergeordneten Konsistenz, die nicht mehr durch einen einheitlichen und gemeinsamen Zweck gerechtfertigt werden kann 2 4 . Nach all dem ist es kein Zufall, daß der Gleichheitssatz seine heutige Fassung i n einer Epoche erhält, i n welcher die Gefahren eines selbständig planenden und wirksam handelnden Staatsapparates sich ankündigen, i n welcher zugleich das Naturrecht als Vernunftsrecht seine letzte, problematische Form findet, i n welcher der Satz vom Grunde allgemein anerkannt wird, das Kausalgesetz durch Hume und Kant endgültig aus den antik-mittelalterlichen Zeit- und Bewegungsvorstellungen herausgelöst wird, und das Verhältnis von Sein und Zeit demzufolge i n Hegels Philosophie neu formuliert werden mußte. Und es ist kein Zufall, daß das Rechtsprinzip der Gleichheit i n merkwürdiger Einengung nun als Grundrecht des Individuums gegen den Staat formuliert w i r d und als solches die nachweisbaren wohlbegründeten Rechte des Einzelnen überlagert. Aber diese Formulierung der Gleichheit als subjektives Recht ist, obwohl i n der Verfassung verankert, vordergründig und unzureichend. Denn die Korrektur des reinen Wirkungsdenkens durch das Gleichheitsprinzip wendet sich nicht nur gegen einen Mißbrauch der Macht. Sie dient zwar auch, aber nicht nur dazu, dem schon konstituierten Staat nachträglich ein ethisches Wertpostulat entgegenzuhalten. Sie hat vor allem den Sinn einer Entzeitung des Rechts und ist insofern als Vorbedingung jeder Positivierung des Rechts i m Aufbau einer staatlichen Rechtsentscheidungsorganisation schon vorausgesetzt. Entzeitung des Rechts heißt: Der Zeitpunkt des Handelns oder Entscheidens w i r d für das rechtliche Urteil i m Prinzip irrelevant, weil in gleichen Fällen gleiches Recht gelten soll. Gleiche Fälle werden, m i t 84 Dieser Gedanke steht w o h l auch hinter der These M a x Webers, daß es zwei A r t e n der rationalen Rückführung des Handelns auf Gründe gibt: Die Bezugnahme auf Normen und die Abwägung von Zwecken u n d Mitteln. Vgl. Wirtschaft u n d Gesellschaft, 4. Aufl. Tübingen 1956 S. 573. Dadurch k o m m t Weber auf die bekannte Unterscheidung von Wertrationalität und Zweckrationalität, die freilich ihre Wurzeln i m Gegensatz von Gleichheit u n d K a u salität nicht mehr erkennen läßt. Auch die Unterscheidung zweier Konzeptionen des Maßvollen, des Gleichheitssatzes u n d des Erforderlichkeitsgebotes, die sich bei Lerche 1961 c S. 30 f., 51 ff. u. ö. findet, hat letztlich diese beiden Möglichkeiten der Begründung i m Sinn.

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I. Teil: Grundlagen

anderen Worten, nicht allein schon dadurch ungleich, daß sie sich zu verschiedenen Zeitpunkten ereignen. Die Zeit selbst ist kein zureichender Grund zur Differenzierung 25 , so wie sie nach neuzeitlicher Auffassung auch kein Kausalfaktor mehr ist. Auf diese Weise w i r d der Gleichheitsgedanke, obwohl er i n Form eines sachlichen Vergleichs praktiziert wird, zugleich zur zeitlichen Stabilisierung des Rechts benutzt. Zeitliche Stabilisierung von Verhaltenserwartungen aber ist die Funktion des normativen Erlebens schlechthin 26 . Insofern ist das Gleichheitsmoment eine wichtige funktionale Komponente jeder positiven Rechtsnorm. Entzeitung heißt jedoch nicht: ewige, ideale Geltung 2 7 , sondern: Geltung bis auf weiteres. Die strukturelle Bedeutung des Gleichheitsprinzips für das Recht einer Sozialordnung liegt darin, daß sie die Spezifikation der Kompetenzen zur Rechtsänderung abstützt und damit die Zentralisierbarkeit der Rechtsentscheidung ermöglicht. Der Gleichheitssatz bedeutet, unter diesem Blickwinkel formuliert, daß eine Ungleichbehandlung nur als Änderung des geltenden Rechts zulässig ist, daß Einzelfälle nur dann ungleich entschieden werden dürfen, wenn das Recht geändert worden ist. Wenn man den Gleichheitsgedanken aus dem Recht wegdächte, wäre überhaupt nicht feststellbar, ob und wann das Recht sich ändert; und infolgedessen wäre es auch nicht möglich, das Recht durch Überantwortung an eine zentral organisierte Entscheidungsgewalt zu positivieren. Diesen Zusammenhang des Gleichheitsprinzips mit der Kompetenzenordnung müssen w i r i m Blick behalten; denn er erklärt, daß mit der Verteilung von Zuständigkeiten zur Feststellung von Gleichheiten immer auch Rechtsetzungskompetenzen verteilt werden. Das Gleichheitsprinzip verlangt dem staatlichen Planen ein Höchstmaß an Rationalität ab, nicht nur i m Sinne einer technischen Perfektionierung des Staatsapparates um bestimmter Wirkungen willen, sondern i m Sinne eines konsistent geordneten Zusammenlebenkönnens verschiedener Interessensphären und Aktionszentren. Gleichheit vor dem 25 D a m i t ist natürlich nicht geleugnet, daß die Zeit, ζ. B. i n F o r m der Bestimmung von Fristen, als Schema der Differenzierung verwendet werden kann. 26 Dazu näher Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, B e r l i n 1964 S. 56 f. 27 Obwohl w i r den Ausdruck von Gerhart Husserl verwenden, meinen w i r also nicht seinen Begriff, der platonische Züge trägt. Vgl. Gerhart Husserl, Recht und Welt, i n : Festschrift Edmund Husserl, Halle 1929 S. 11—158, neu gedruckt i n ders., Recht u n d W e l t : Rechtsphilosophische Abhandlungen, F r a n k f u r t (Main) 1964 S. 67—114, und ders., Recht u n d Zeit, F r a n k f u r t 1955. W i r schließen vielmehr an die kritischen Bemerkungen von Heller (Kap. 1 A n m . 3) S. 190 an u n d benutzen den Begriff nicht i n einem erkenntnistheoretischen, sondern i n einem soziologischen Sinne.

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Gesetz heißt: Individualität des Menschen und Zentralisierung der Rechtsentscheidung; heißt, daß der Mensch vom Staat nur unter begründbaren, spezifischen Gesichtspunkten i n Pflicht genommen werden darf, was i n der Sozialordnung ein hohes Maß an Rollentrennung und Differenzierung voraussetzt und, wie w i r oben gesehen haben, ein hohes Maß an Interdependenz ermöglicht. I n dieser Bedeutung t r i t t der Gleichheitssatz heute als Prinzip höchsterreichbarer Spezifikation und Konsistenz des Handelns neben das Prinzip des demokratischen Rechtsstaates (der zentralen, politisch kontrollierten, verfassungskonformen Programmierung aller Staatsentscheidungen) und neben das Prinzip des Sozialstaates (der Verantwortlichkeit für alle Folgen des Staatshandelns). Zusammengesehen findet i n diesen Grundsätzen Ausdruck, was eine der stärksten sozialen Tendenzen der Zeit ist: ein Höchstmaß an Rationalität i n allen öffentlichen Institutionen zu erreichen. Für die Auslegung des Art. 3 Abs. 1 GG können w i r dieser Analyse zunächst den Hinweis entnehmen, daß Gegenstand der Norm die Begründung des Rechts ist. Das bedeutet i m Rechtsstaat, der das Recht als Entscheidungsprogramm formuliert, ein Zweifaches: Für den, der nach vorgezeichneten Programmen zu entscheiden hat, besagt der Gleichheitssatz, daß er lediglich programmäßig differenzieren darf und begründet handelt, wenn er das tut. Darin liegt vor allem eine Regel der Indifferenz ähnlich der, die i n Form des Verkaufs nach festgesetzten Preisen den Markt industrialisierter Staaten beherrscht: Der Handelnde w i r d von der Beachtung aller Informationen außer spezifisch relevanten entlastet. I n diesem Sinne ist der Gleichheitssatz Vorbedingung konsistenter, rationaler, voraussehbarer, sparsamer und kontrollierbarer Entscheidung nach Programmen; er fällt m i t dem oben gekennzeichneten Wesen des Konditionalprogrammes zusammen. Erst i m anderen Falle, für den unprogrammiert Entscheidenden, w i r d die Frage nach Gründen eigentlich problematisch. I h m gibt der Gleichheitssatz eine Rechtsbegründung auf, die sich nicht nur i n den Kategorien Ursache und Wirkung (Mittel und Zweck), sondern auch i n den Kategorien Gleich und Ungleich explizieren muß. Ungleichheiten (nicht aber Gleichheiten) müssen begründet werden 2 8 . Dieser Auftrag enthält in sich jedoch keine Festlegung auf bestimmte Gründe oder auf einen 28 So auch K a r l August Bettermann, Rechtsgleichheit u n d Ermessensgleichheit, Der Staat 1 (1962) S. 79—92 (91 f.). Ä h n l i c h bereits C u r t i (Kap. 4 A n m . 20) und Silbernagel (Kap. 4 A n m . 20). Anders u r t e i l t die Rechtsprechung des B u n desverfassungsgerichts, vgl. ζ. B. die Entscheidung v o m 16. 3. 1955 BVerfGE 4 S. 144 ff. (155). Danach sei auch die Gleichbehandlung unter W i l l k ü r v e r b o t zu stellen, eine Konsequenz des Willkürbegriffs, die zugleich an den Tag bringt, daß er m i t dem Gleichheitsbegriff gar nichts zu t u n hat. Richtig ist allerdings,

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K r e i s zulässiger G r ü n d e 2 9 . D i e F e s t l e g u n g solcher G r ü n d e ist eine Sache des p o l i t i s c h k o n t r o l l i e r b a r e n Prozesses der Gesetzgebung. S i e k a n n durch die Verfassung nicht inhaltlich programmiert, sondern n u r durch K a u t e l e n d e r öffentlichen S i c h t b a r k e i t u n d der p o l i t i s c h e n V e r a n t w o r t l i c h k e i t i n S c h r a n k e n g e h a l t e n w e r d e n . D e s h a l b w ä r e es b e d e n k l i c h , die letzte Entscheidung über Gründe der Ungleichbehandlung durch eine sachlich beschränkende u n d doch u n b e s t i m m t e V e r f a s s u n g s n o r m , d i e d e n Gesetzgeber b i n d e t , d e m p o l i t i s c h u n v e r a n t w o r t l i c h e n R i c h t e r zuzuspielen — b e d e n k l i c h besonders deshalb, w e i l der R i c h t e r i m K r ä f t e s y s t e m u n s e r e r S t a a t s o r d n u n g m i t E r f o l g e i n e n Rest v o n A u t o r i t ä t i n A n p r u c h zu n e h m e n s c h e i n t 3 0 . E i n e solche B i n d u n g des Gesetzgebers hieße: d i e G l e i c h h e i t des B ü r g e r s als F r e i h e i t des R i c h t e r s zu i n t e r p r e t i e r e n . V i e l m e h r d a r f die r i c h t e r l i c h e K o n t r o l l e sich n u r a u f die F r a g e erstrecken, ob e i n G r u n d f ü r U n g l e i c h b e h a n d l u n g v o r h a n d e n i s t u n d ob er v o r d e m g e l t e n d e n Verfassungsrecht bestehen k a n n . Sie b l e i b t auch i n diesem S i n n e noch g e f ä h r l i c h genug, w e i l ü b e r das Wesen u n d die T r a g k r a f t v o n G r ü n d e n u n d ü b e r d i e L o g i k des B e g r ü n d e n s 3 1 k e i n ausreichender K o n s e n s besteht.

daß die Gleichbehandlung i n engeren Gruppen einer Begründung b e d a r f , aber n u r insofern, als die Ungleichheit dieser Gruppe i m Verhältnis zu anderen gerechtfertigt werden muß. 29 Demgegenüber trennt die herrschende Meinung leider nicht hinreichend zwischen der vorgeschriebenen Verwendung des gleich/ungleich-Schemas als Rationalisierungsmittel einerseits u n d der Annahme bestimmter Gründe andererseits. W e i l diese beiden grundverschiedenen, wenn auch zusammenhängenden Fragen verquickt werden, w i r d i n A r t . 3 Abs. 1 GG eine Festlegung auf Gründe hineingelesen: sei es auf solche, die der Volksgeist den Richtern souffliert, sei es aaf ein Minimalethos i m Sinne eines Restnaturrechts. Vgl. Konrad Hesse, Der Gleichheitsgrundsatz i m Staatsrecht, Archiv des öffentlichen Rechts 77 (1951/52) S. 167—224 für die eine und Leibholz (Kap. 3 A n m . 35); Günther Küchenhoff, Gleichheit u n d Ungleichheit i m Verfassnngsrecht, JR 1959 S. 281—285 u n d Hans Justus Rinck. Gleichheitssatz, W i l l k ü r verbot und N a t u r der Sache. J Z 18 (1963) S. 521—527 für die andere Version. Dabei ist f ü r die politische Situation i n Deutschland besonders bezeichnend, daß der Volksgeist oder das Volksbewußtsein gegen den Besrhluß der Volksvertreter ins Feld geführt w i r d . — Ferner trägt die unglückliche Unterscheidung von formeller u n d materieller Gleichheit — materielle Gleichheit ist solche „ m i t Gründen" — zu dieser V e r w i r r u n g bei. Wenn die Frage so gestellt ist, w i l l natürlich niemand auf Gründe verzichten u n d sich m i t formeller Gleichheit begnügen. Diese Unterscheidung von „ A r t e n " der Gleichheit sollte ersetzt werden durch eine Unterscheidung, die sich aus der Analyse des Gleichheitsbegriffs ergibt, nämlich die zwischen Vergleichshinsichten (als logischer Voraussetzung des Vergleichens überhaupt) u n d den Gründen für die W a h l solcher Hinsichten. 30 Siehe dazu die bekannten Ausführungen von Werner Weber, Spannungen und K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, 2. A u f l . Stuttgart 1958 S. 96 ff., ferner Otto Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, Tübingen 1959. 31 Die allgemeine Auffassung i n der Rechtswissenschaft, daß hinter dem Gleichheitsbegriff eine eindeutige Logik stehe, die anwendbar w i r d , sobald man die Hinsichten des Vergleichs festlegt, ist irrig. Der Gleichheitsbegriff ist

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A n diese A u f f a s s u n g , d e r e n E r g e b n i s sich i m w e s e n t l i c h e n m i t d e r Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts decken d ü r f t e 3 2 , h a t sich d i e Rechtsprechung z u m Entschädigungsrecht, unser eigentliches T h e m a , riicht a n g e l e h n t . Sie g e h t a n d e r aufgezeigten P r o b l e m a t i k des G l e i c h heitsbegriffs, d i e doch g e i s t i g e r Besitz u n s e r e r Z e i t ist, v o r ü b e r u n d f ä l l t i h r deswegen z u m O p f e r . Sie h a t e i n sehr v i e l naiveres, gleichsam vorneuzeitliches V e r h ä l t n i s z u m G l e i c h h e i t s b e g r i f f 3 3 . W ä h r e n d der W i l l k ü r b e g r i f f des Bundesverfassungsgerichts w e n i g s t e n s eine B e z i e h u n g z u r G e f a h r sucht u n d sie i m A u g e b e h ä l t , i s t d i e Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs l e d i g l i c h v o n d e r A b s i c h t getragen, G l e i c h h e i t e n u n d U n g l e i c h h e i t e n a n S a c h v e r h a l t e n u n m i t t e l b a r abzulesen u n d sie d a n n als E n t s c h e i d u n g s g r u n d l a g e z u v e r w e r t e n 3 4 . Sie b e g r ü n d e t i h r e E n t -

nicht n u r relativ i n bezug auf die W a h l von Vergleichsgesichtspunkten, sondern auch relativ auf die W a h l einer Logik. Dazu vgl. ζ. B. Heinrich Scholz / Hermann Schweitzer, Die sogenannten Definitionen durch B i l d u n g von Gleichheitsverwandtschaften, Leipzig 1935 S. 45 ff. Die umwälzenden Entwicklungen der modernen Logistik haben gezeigt, daß die traditionelle juristische A r g u mentierkunst m i t L o g i k recht wenig zu t u n hat. 32 Allerdings nicht i n der Begründung u n d deshalb auch nicht i n allen E i n zelheiten. Siehe bereits oben A n m . 28. Das Bundesverfassungsgericht v e r wendet i n ständiger Rechtsprechung den W i l l k ü r - B e g r i f f als normativen L e i t begriff zur Interpretation des Gleichheitssatzes. Das ist n u r sinnvoll, wenn man davon ausgeht, daß durch den Gleichheitssatz eine Aussage über Gründe der Gleichheit bzw. Ungleichheit m i t n o r m i e r t sei. W e i l diese Gründe jedoch inhaltlich nicht angegeben werden können, muß zu ihrer Kennzeichnung eine Negativdefinition benutzt werden, ein auch sonst zuweilen vorgeschlagener Ausweg aus ähnlichen Schwierigkeiten. Z u m Beispiel hat K a r l Popper, Logik der Forschung, Wien 1935, versucht, sich dem Problem der wissenschaftlichen Wahrheit durch den Begriff der „Falsifikation" von Theorien zu nähern, u n d G. L. S. Shackle, Expectation i n Economics, Cambridge, England 1949 hat vorgeschlagen, den wirtschaftswissenschaftlichen Begriff der Erwartungsstärke durch das Ausmaß der Überraschung i m Enttäuschungsfalle meßbar zu machen. I m übrigen hatte schon Schopenhauer den Einfall, das Recht als Negation des Unrechts zu bestimmen. Vgl. Die Welt als W i l l e und Vorstellung Bd. I § 62, Sämtl. Werke (Hrsg. Frhr. von Löhneysen) Darmstadt 1961 Bd. I S. 463. A l l diesen Versuchen ist jedoch gemeinsam, daß sie keine positive S t r u k t u r i n den eigentlich gemeinten Bereich hineintragen können und deshalb als Ausgangspunkt für logische Folgerungen nicht tragfähig genug sind. So erhellt auch der Willkürbegriff nicht, welche Gründe zulässig sind. Er dient lediglich als — freilich gut gewählte u n d sehr nützliche — Schreckvorstellung, m i t der die Richter sich selbst i m Zaum u n d zugleich den Gesetzgeber i m Schach zu halten suchen. Als zusammenfassende Würdigung dieser Rechtsprechung vgl. Ernst-Werner Fuss, Normenkontrolle u n d Gleichheitssatz, JZ 17 (1962) S. 565—570, 595—602, 737—744. 33 Deshalb stellt Kaiser 1960 S. 34 A n m . 140 m i t Recht die Frage, ob der Gleichheitsbegriff der Sonderopfertheorie des Bundesgerichtshofs sich überhaupt auf A r t . 3 Abs. 1 GG beziehe. 34 Dieser Gefahr scheinen m i r auch jene A u t o r e n zu erliegen, welche die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts u n d des Bundesfinanzhofs m i t dem Begriff der „ N a t u r der Sache" aus ihrer vorsichtigen Zurückhaltung herauslocken wollen. Siehe ζ. B. Gerhard Laule, Der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) i n der Rechtsprechung der Steuergerichte, Düsseldorf 1961, und

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Scheidungen m i t Feststellungen über Gleich und Ungleich, obwohl diese Begriffe keine Gründe, sondern nur das für das Recht charakteristische Schema der Frage nach Gründen bezeichnen. Ihre Begründungen bleiben daher i m Vordergrund stehen. Denn Gleichheit und Ungleichheit selbst sind nicht Grund genug. „Der Grund fällt, zufolge des bloßen Denkens eines Grundes, außerhalb des Begründeten 3 5 ". Für diese Schwäche des reinen Gleichheitsarguments haben sich die Rechtsprechung und eine verbreitete Auffassung i m juristischen Schrifttum durchaus nicht unempfindlich gezeigt. Man reagiert darauf jedoch nur durch Beigaben, durch Häufung von zusätzlichen Argumenten, die die Zuerkennung einer Entschädigung auch auf andere Gesichtspunkte stützen. Die vielen Theorien über die richtige Abgrenzung der entschädigungspflichtigen Enteignung von der Sozialbindung des Eigentums, die außer der Sonderopfertheorie noch aufgestellt worden sind: die Einzeleingriffstheorie, die Substanzverletzungstheorie, die Schutzwürdigkeitstheorie, die Zumutbarkeitstheorie, die Zweckentfremdungs- oder Privatnützigkeitstheorie usw. finden sich deshalb heute kaum noch isoliert, sondern zumeist i n Kombinationen oder sehr oft sogar alle miteinander vertreten, so daß der Streit zwischen ihnen zu einem Turnier geworden ist und nur noch zeremoniell um die Frage geführt wird, welche zuerst genannt zu werden verdient. Daß durch bloße Anhäufung die Mängel jeder Theorie für sich nicht behoben werden können, liegt auf der Hand. Vor allem gewinnt das Gleichheitsargument dadurch kaum an Präzision 36 . Dessen Unzulänglichkeit darf nun allerdings nicht als bloßer I r r t u m oder gar Nachlässigkeit gebucht werden. Durch unsere bisherige Analyse ist die Frage, ob man diese Rechtsprechung samt ihren Anforderungen an die Entscheidungspraxis der Verwaltung durch Gesetzgebung legitimieren soll oder nicht, noch nicht entschieden. Es könnte sein, daß angesichts der unermeßlichen Schwierigkeit rationaler Begründung der Gebrauch einer vordergründigen Entscheidungsformel unvermeidlich oder zumindest auf der Ebene der Einzelfallentscheidung durchaus sinnvoll ist. Es wäre vorstellbar, daß man angesichts der Unerreichbarkeit einer rationalen Begründung, die alle Entscheidungen

H. J. Rinck (Kap. 4 A n m . 29). Die Annahme, daß eine „ N a t u r der Sache" Gleichheiten bzw. Ungleichheiten eindeutig vorzeichne, ist unvereinbar m i t den neuzeitlichen Erkenntnissen über die Relativität des Gleichheitsbegriffs, von denen auch die genannten Autoren ausgehen. 35 Johann Gottlieb Fichte, Erste Einleitung i n die Wissenschaftslehre, § 2 Ausgew. Werke (Hrsg. Medicus) Darmstadt 1962 Bd. 3 S. 8. 36 Siehe ζ. B. die zirkelhafte Argumentation von Stödter 1933: N u r der wesentliche Eingriff belastet materiell ungleich (S. 208). Wann ein substantieller Eingriff vorliegt, ist durch Vergleich zu ermitteln (S. 209).

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i n einen konsistenten Zusammenhang brächte, es den Verwaltungen und Gerichten erlauben muß, m i t plausiblen Annahmen über gleich und ungleich als letzten Bezugspunkten ihrer Orientierung zu operieren 37 . Der Gleichheitsbegriff bzw. der Begriff des Sonderopfers diente dann als eine A r t zulässiger Daumenregel, um die Entscheidungsfindung und -begründung zu erleichtern. Indessen weiß man heute bereits zuviel über die Notwendigkeit und die Problematik solcher Entscheidungsvereinfachungen, als daß man sie aufs Geratewohl einführen dürfte. Sie sind nur i n bestimmter Form und unter bestimmten Umständen sinnvoll, und darüber lassen sich Erkenntnisse beibringen. Sie müssen m i t der Struktur der Entscheidungsprogramme und m i t den organisatorischen Bedingungen des Entscheidens i n Einklang stehen. Sinn und Gebrauch von „unteroptimalen" Entscheidungsregeln ist i n der neueren Organisationswissenschaft ein viel diskutiertes Thema 3 8 . Manches spricht dafür, daß die älteren Rationalmodelle, die zu perfektrationalen Entscheidungen anleiten sollten, überholt sind, ja nicht einmal mehr als rational gelten können, w e i l sie den faktischen Entscheidungsbedingungen nicht hinreichend Rechnung tragen. Es wäre verfehlt, diese Einsichten auf ihren Ursprungsbereich, die Theorie des Wirtschaftsbetriebs, zu beschränken. Sie gelten i m Prinzip für jedes Entscheidungssystem. Bisher standen der Forschung jedoch überwiegend die Vereinfachungsmöglichkeiten vor Augen, die i m Zweck/Mittel-Schema angelegt sind. Das Prinzip der Optimierung von Zweck/Mittel-Relationen soll durch realistischere Modelle m i t nur „befriedigenden" Kombinationen ersetzt werden. Diese Überlegungen beziehen sich auf Zweckprogramme. Für den ganz andersartigen Programmtypus der konditio37 Auch W i l h e l m Wertenbruch, Grundgesetz u n d Menschenwürde: E i n k r i tischer Beitrag zur Verfassungswirklichkeit, K ö l n — B e r l i n 1958 S. 96, weist beiläufig auf die Möglichkeit hin, daß man durch Berufung auf A r t . 3 G G es sich ersparen könne, den eigentlichen G r u n d der Pflicht zu Gleichbehandlung anzugeben. 38 Vgl. aus der umfangreichen L i t e r a t u r : Charles H i t c h / R o l a n d McKean, Suboptimization i n Operations Research, i n : Joseph F. McCloskey /Florence Ν. Trefethen (Hrsg.), Operations Research for Management, Bd. I Baltimore 1954 S. 168—186; Herbert A . Simon, Models of Man. Social and Rational. M a thematical Essays on Rational H u m a n Behavior i n a Social Setting, New Y o r k 1957; ders., Theories of Decision M a k i n g i n Economics and Behavioral Science, The American Economic Review 49 (1959) S. 253—283; Charles E. Lindblom, The Science of „ M u d d l i n g Through", Public A d m i n i s t r a t i o n Review 19 (1959) S. 79—88; James G. March / Herbert A . Simon, Organizations, New Y o r k — London 1958, insb. S. 137 ff.; Thornton B. Roby, Commitment, Behavioral Science 5